Sprache und Identität
Eine Einführung
0925
2023
978-3-8233-9468-6
978-3-8233-8468-7
Gunter Narr Verlag
Anke Werani
10.24053/9783823394686
Auf die Frage "Wer bin ich?" finden Individuen durch Narrationen und Reflexionen Antwortmöglichkeiten. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen Sprache und Identität wird in dieser Einführung aus psycholinguistischer Sicht systematisch beleuchtet. Es werden terminologische Aspekte der Phänomene Sprache und Identität erläutert und auch Entwicklungsaspekte sowie neurowissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen. Zentrale Fragen sind, wie über Narrationen Identität dargestellt sowie hergestellt wird und wie Identitätsmerkmale in Sprache ausgedrückt werden. Mit den Forschungsaspekten zum Komplex Sprache und Identität in den Bereichen Gender, Mehrsprachigkeit und soziale Medien wird aufgezeigt, wie umfassend und weitreichend diese Thematik ist.
Das Buch richtet sich an Studierende und Lehrende in den Bereichen Linguistik, Psychologie, Soziologie, Kommunikationswissenschaften, Pädagogik und Lehramt sowie an alle, die in wissenschaftlichen Kontexten Antworten auf die spannende Frage suchen: "Wie hängen Sprache und Identität zusammen?"
<?page no="0"?> Sprache und Iden�tät Eine Einführung Anke Werani <?page no="1"?> Prof. Dr. Anke Werani lehrt und forscht als Psycholinguistin am Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung an der Ludwig-Maximilians-Universtät München. <?page no="2"?> narr STUDIENBÜCHER <?page no="4"?> Anke Werani Sprache und Identität Eine Einführung <?page no="5"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823394686 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-8468-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9468-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0483-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="6"?> 7 1 9 1.1 9 1.2 11 1.3 15 1.4 17 2 21 2.1 22 2.2 26 2.3 28 3 41 3.1 42 3.2 46 3.3 50 3.4 52 4 59 4.1 60 4.2 64 4.3 66 5 81 5.1 84 5.2 89 5.3 92 6 99 6.1 100 6.2 107 6.3 112 6.4 115 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Denkimpulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziel und Aufbau des Buchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Forschungsdisziplin Psycholinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität als Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität als Balanceakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität als Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität als Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangspunkte der sozialen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Stile in Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Identität und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Formen der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrationen - erzählen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dialogische Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Facetten des Nichterzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 7 121 7.1 124 7.2 132 8 141 8.1 142 8.2 149 8.3 153 8.4 158 9 165 9.1 168 9.2 175 9.3 178 9.4 181 9.5 182 10 187 10.1 187 10.2 193 10.3 198 11 205 11.1 208 11.2 211 11.3 216 11.4 220 12 227 12.1 228 12.2 238 13 249 13.1 250 13.2 253 13.3 259 13.4 261 267 297 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbaler Ausdruck der Ich-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Extraverbaler Ausdruck der Ich-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personennamen - Etiketten der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fundament des Namenhabens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte zur Vielfalt der Namensgebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur identitätsstiftenden Funktion von Vornamen . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensänderung-= Identitätsänderung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ur-Wir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung der Sprache und des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beginn der Individuation von Sprache und Person . . . . . . . . . . . . Der Übergang zur Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Identitätskrise der Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität . . . . . . . . . . Grundlagen für die Betrachtung des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurowissenschaftliche Aspekte der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurowissenschaftliche Aspekte der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlecht, Sprache und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtsstereotype . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdruck von Geschlechtsidentität in der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachige Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache, Identität und soziale Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Medien - eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen der Kommunikation durch soziale Medien . . . . . . . . . Virtuelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich-Identität in der Digitalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="8"?> Vorwort Das Schreiben dieses Buchs über den psycholinguistischen Themenkomplex Sprache und Identität setzt meine wissenschaftlichen Forschungen zur sprachlichen Tätigkeit im kulturhistorischen Sinne, insbesondere zur Kommunikation und zum inneren Sprechen, konsequent fort (Werani 2014, Anselm/ Werani 2017, Werani 2011). Es handelt sich um ein Einführungsbuch, das versucht, verschiedene Perspektiven auf Zusammenhänge von Sprache und Identität zu öffnen und einen Überblick zu schaffen. Zugleich soll es eine Einladung sein, diesen Forschungsbereich noch zu vertiefen, da viele Fortschreibungen und Vertiefungen vorstellbar sind. Die Prägung meines eigenen Sprechens und Denkens durch Vygotskijs Arbeiten wird an vielen Stellen dieses Buchs deutlich werden, sodass folgendes Zitat den Charakter eines Mottos bekommt: Die Sprache, die anfangs Mittel der Kommunikation, Mittel des Verkehrs, Mittel der Orga‐ nisation des kollektiven Verhaltens ist, wird später zum Hauptmittel des Denkens und aller höheren psychischen Funktionen, zum Hauptmittel des Aufbaus der Persönlichkeit. (Vygotskij 1931/ 1987, S.-628) Die sprachliche Tätigkeit nimmt eine Schlüsselrolle im menschlichen Dasein ein. Das für mich Faszinierende ist, dass sie zwischen sozialem Austausch und höheren psychologischen Prozessen vermittelt, dass sie Kommunikations-, Kognitions- und Individuationsräume schafft und dass sie nicht nur dazu dient, andere zu verstehen, sondern vor allem auch dazu, sich selbst zu verstehen. Im Kern bleibt eine soziale Wesenhaftigkeit der sprachlichen Tätigkeit, die sie dialogisch und dynamisch macht. Insofern ist auch die Identitätsbildung unter sprachlicher Beteiligung bewegt und es ist über die gesamte Lebensspanne ein eindrückliches Phänomen, dass die einzige Konstante der Identitätsbildung die stetige Veränderung ist. Die Beschäftigung mit dem Thema Sprache und Identität führt neben der wissen‐ schaftlichen Auseinandersetzung auch zu ganz persönlichen Fragen, wie die eigene Identität konstruiert ist. Der Blick auf die eigene Identitätsarbeit durch die tägli‐ chen Narrationen und die Wahrnehmung der sprachlichen Tätigkeit als kraftvolles, gegenstandkonstituierendes Mittel führen zu neuen Perspektiven auf sich selbst. Perspektiven und Perspektivwechsel sind möglich, weil über sprachliche Tätigkeit die Bewegung der Identitätsentwicklung mitgestaltet werden kann, sodass die lebenslange Identitätsbewegung als offene Form mittels sprachlicher Tätigkeit ständig aktualisiert werden kann. Es wird also im ganz persönlichen Sinn deutlich, wie sich die eigene Biografie durch die autobiografischen Narrationen formen lässt. Das Bewusstsein über die eigene Identität und die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks bleiben in Relation, sodass auch zur Kenntnis genommen werden muss, dass nicht alle Erlebnisse <?page no="9"?> und Erfahrungen sprachlich mitgeteilt werden können oder auch nicht mitgeteilt werden wollen. Vygotskij beschreibt diese Relation folgendermaßen: Das Bewusstsein spiegelt sich im Wort wider wie die Sonne in einem kleinen Wassertropfen. Das Wort verhält sich zum Bewusstsein wie eine kleine Welt zur großen, wie die lebende Zelle zum Organismus, wie das Atom zum Kosmos. […] Das sinnerfüllte Wort ist der Mikrokosmos des menschlichen Bewusstseins. (Vygotskij 1934/ 2002, S.-466) Sprachliche Tätigkeit dient folglich der Spiegelung der Sozialität im Individuum und formt damit das Individuum. Aus tiefer kulturhistorischer Überzeugung ist das Buch in Sozialität entstanden und spiegelt diese. Ich danke allen herzlich, die sich durch ihre Spiegelungen meiner Tätigkeit an diesem Buch beteiligt haben. Insbesondere jenen, die auch lesend und schreibend ihre Meinungen spiegelten, und Michael Ramsperger danke ich für die geduldige Spiegelung meiner Grafikideen in ein einheitliches Format. Gewidmet ist dieses Buch meinen beiden Söhnen Niklas und Nepomuk. München, im August 2023 Anke Werani 8 Vorwort <?page no="10"?> 1 Einleitung und Überblick Dieses Kapitel enthält die Einleitung in das Thema Sprache und Identität sowie einen Überblick über den Aufbau des Buchs. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Inwiefern hängen Sprache und Identität zusammen? ▢ Wie bin ich? oder Wer bin ich? ▢ Welche Forschungszugänge gibt es zum Thema Sprache und Identität? Thema dieses Buchs ist es, Zusammenhänge zwischen Sprache und Identität darzu‐ stellen und zu reflektieren. Im Alltagsgebrauch gilt es als selbstverständlich, dass Individuen eine Identität haben. Unter Identität wird gemeinhin eine (vermeintlich) unveränderliche, vollkommene, innere und als Selbst erlebte Einheit eines Individuums verstanden. Ebenso selbstverständlich wird mit einer Identität gelebt, ohne ständig über die eigene Identität nachzudenken. Vielmehr können Bemerkungen und Fragen, die von außen herangetragen werden, wie man ist oder wer man ist, durchaus irritieren und es ist oftmals auch gar nicht einfach, diese Fragen zu beantworten (Zirfas 2010). Mit der Sprache verhält es sich ähnlich, sodass sprechen zu können ebenfalls als selbstverständliche Fähigkeit des Individuums angenommen wird. Individuen sind von Lebensbeginn an in Sprache getaucht und die Aneignung einer Sprache ist ein selbstverständlicher Teil der menschlichen Ontogenese. Außerdem wird ein sprach‐ licher Stil in der Regel unbewusst angeeignet und nicht zwangsläufig reflektiert. Das Buch greift die Selbstverständlichkeit in den Auffassungen von Sprache und Identität auf und möchte zur Diskussion anregen. Es wird gezeigt werden, dass nicht alles so selbstverständlich ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag, insbesondere wenn der Stellenwert der Sprache bei der Herausbildung von Identität analysiert wird. Zunächst werden Sie in diesem Kapitel mit zwei Denkimpulsen zum Einstieg in das Thema Sprache und Identität ganz persönlich angesprochen. Dann wird auf grundlegende Aspekte der Terminologie eingegangen. Anschließend wird ein Überblick über den Aufbau des Buchs erfolgen und es werden ein paar Hinweise zur Lektüre des Buchs gegeben. 1.1 Zwei Denkimpulse Bevor Sie weiterlesen, möchte ich Sie bitten, sich auf zwei Denkimpulse einzulassen und sich ein wenig Zeit dafür zu nehmen: <?page no="11"?> Suchen Sie ein Babyfoto von sich heraus und überlegen Sie, wie Sie als Baby waren. Woher wissen Sie, dass das auf dem Bild Sie sind? Woher wissen Sie, wie Sie als Baby waren? Hatten Sie als Baby schon eine Identität? Erzählen Sie sich selbst, wer Sie in fünf Jahren sein werden, und notieren Sie einige Stichpunkte, wie Sie sich in fünf Jahren vorstellen. Wenn Sie das gemacht haben, überlegen Sie noch einmal, wer Sie in fünf Jahren sein werden. Gibt es noch eine weitere Möglichkeit, wie es werden könnte? Bei Denkimpuls 1 - das Babyfoto - ist es so, dass Sie sich selbst nur erkennen, weil Bezugspersonen Ihnen diese Narration mitgegeben haben und bestätigen, dass Sie es tatsächlich sind auf dem Bild. Auch die Frage nach der Lebenswelt als Baby kann nur durch andere beantwortet werden, d. h., die Frage Wie bin ich als Baby gewesen? kann folglich ohne die Narrationen anderer selbst nicht beantwortet werden. Sie selbst können sich also voraussetzungslos auf dem Bild nicht erkennen und es ist offensichtlich, dass Identität durch Narrationen anderer konstruiert wird. Die Narration anderer wird damit ein wesentlicher Faktor für diese erste Identitätsbildung, und es kann ein erster Zusammenhang zwischen Identität und Sprache festgestellt werden. Es wird an diesem Beispiel auch deutlich, dass Identität von außen durch andere Individuen zugeschrieben wird. Identität bildet sich folglich dadurch, wie andere Individuen einen wahrnehmen und beschreiben. Diese Aspekte fließen in die Identitätsbildung mit ein. Bei Denkimpuls 2 - die eigenen Narrationen - wird Ihnen vermutlich gelungen sein, sich zwei zukünftige Szenarien auszudenken und sich diese zu erzählen. Ihre Identität kann folglich von Ihnen selbst hergestellt werden, sogar in verschiedenen Varianten. Kraus (2000), auf den dieser Denkimpuls zurückgeht, hat sich mit dem erzählten Selbst auseinandergesetzt. Beim erzählten Selbst geht es einerseits darum, sich selbst in der Gegenwart als mehr oder weniger kohärent erlebtes Individuum zu erzählen, und andererseits darum, sich in die Zukunft entwerfen zu können. Mit autobiografischen Narrationen zu unterschiedlichen Themenbereichen wird ein Patchwork der eigenen Identität entwickelt und Identitätsbildung wird dadurch ein unabschließbares Projekt. Dazu kommt, dass Sie sich vielleicht gefragt haben, welche Facette Ihrer Identität im Kontext dieses Buchs interessant und relevant sein könnte: Ihre Familiensituation? Ihr Beruf ? Ihr Geschlecht samt sexueller Orientierung? Ihre Religion? Ihre Persönlichkeitsmerkmale? Solche Fragen machen deutlich, dass Identität zwar von innen heraus narrativ konstruiert wird, jedoch die Identitätskonstruktion auch den Blick der anderen einbezieht, indem passende Identitätsfacetten ausgewählt und präsentiert werden. Beide Denkimpulse zeigen, dass Narrationen eine Schlüsselrolle bei der Darstellung und Herstellung von Identität spielen. Narrationen bilden Facetten der Identität 10 1 Einleitung und Überblick <?page no="12"?> sprachlich ab, wobei die Veränderbarkeit der Identität durch die jeweilige Narration zu betonen ist. Auch wenn Identität über Selbstnarrationen erzeugt wird, spielt der Einfluss von außen in Form von Spiegelungen durch andere eine wichtige Rolle. Zirfas (2010, S.-12) fasst diese Aspekte folgendermaßen zusammen: Wer sich die Frage nach der Identität stellt, wird feststellen, dass sein Selbstbild der Veränderung und Entwicklung unterliegt, dass es immer auch anders sein könnte, und dass es einen Unterschied macht, ob ich mich selbst im Spiegel oder aus dem Blickwinkel der anderen betrachte. Veränderung und Entwicklung haben mit Aushandlungsprozessen zu tun. Aushand‐ lungsprozesse können explizit und implizit gestaltet sein, d. h., sie können bewusst und unbewusst ablaufen. Auch bei der Betrachtung von sprachlichen Aushandlungsprozes‐ sen der Identität zwischen Selbstbild und Fremdbild können bewusste und unbewusste Prozesse beschrieben werden. Ein Teil der Identitätsarbeit wird folglich als bewusster Prozess betrachtet, der Aufmerksamkeit und Reflexion erfordert. Zu einer expliziten Aushandlung von Identität kommt es beispielsweise dann, wenn sogenannte Krisen eintreten, und die Fragen Wie bin ich? und Wer bin ich? neu ausgehandelt werden müssen (Marcia 1980). Zu den unbewussten oder impliziten Aushandlungsprozessen zählt beispielsweise die Bildung von Stereotypen, denn bei einem ersten Eindruck von einer Person werden auch unbewusst und unreflektiert persönliche Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben, es werden Gruppenzugehörigkeiten und soziale Rollen mitassoziiert, ebenso wie politische und moralische Werte. Identitätsbildung hängt mit Narrationen zusammen, denn mit Narrationen be‐ steht die Möglichkeit, verschiedene Facetten der eigenen Identität darzustellen und herzustellen. Zu den Narrationen zählen gleichermaßen Zuschreibungen von außen und von innen. Die Aushandlungsprozesse dieser Zuschreibungen haben bewusste und unbewusste Anteile. 1.2 Ausgangspunkte Der Forschungsbereich Sprache und Identität ist interdisziplinär verortet, weshalb es zum Teil zu sich überschneidenden Begriffen kommt und die Terminologie somit nicht eindeutig ist. Allein der Begriff Identität ist in seiner Etymologie vieldeutig (Mumm 2018), sodass zunächst einmal formale Definitionen, wie a = a, ausgeschlossen werden und von einer sozialwissenschaftlichen Definition ausgegangen wird. Der sozialwissenschaftliche Ausgangspunkt des Identitätsbegriffs beinhaltet, dass es sich bei Identität um einen intersubjektiven und dynamischen Prozess handelt. Intersubjektivität impliziert, dass Identität gewissermaßen über einen Spiegel erzeugt 1.2 Ausgangspunkte 11 <?page no="13"?> wird (Lacan 1949/ 1991). Zu unterscheiden ist ein Spiegel, in den selbst geblickt wird, um sich zu erkennen, und ein Spiegel der anderen, die in der sozialen Gemeinschaft die Identität jedes Einzelnen kommentieren. Identität hat demnach sowohl etwas mit persönlichen Kompetenzen zu tun, Identität mit sich selbst auszuhandeln, als auch mit sozialen Kontexten, Identität mit anderen auszuhandeln (Zirfas 2010). Bei allen Fragen zur Begrifflichkeit kann als Grundannahme der Identitätsbildung gelten, dass Individuen ein grundsätzliches Interesse daran haben, sich selbst als eine Einheit zu erleben (Breger 2013). Diese Annahme hat sich in den Sozialwissenschaften bis heute gehalten. Identität ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ein intersubjektives, dyna‐ misches Konstrukt, das Aspekte des Selbst- und Fremdbilds integriert. Unter chronologischen Gesichtspunkten kann der Identitätsbegriff ab dem 20. Jahr‐ hundert in Auffassungen der Moderne und der Postmoderne unterteilt werden (s. Kapitel 3). Zur Moderne zählen Ansätze, die aus der Psychoanalyse stammen und sich mit Fragen auseinandersetzen, was das Ich ist (Freud 1923/ 2005) oder wie sich Selbstkonzepte entwickeln (Lacan 1949/ 1991). Ausgehend vom Begriff der Rolle (Mead 1934/ 1968) beginnt bereits in der Moderne die Auseinandersetzung darüber, wie sich persönliche und soziale Anteile der Identität in Einklang bringen lassen (Erikson 1973, Goffman 1967, Krappmann 1971, Habermas 1973). Die neuere Debatte, die mit Postmoderne betitelt wird, betrachtet Identität als Pluralität und fragt nach der Integration verschiedenster Facetten der eigenen Identität (Zirfas 2010). Dies wird aus spezifischen Blickwinkeln gemacht, sodass Gender Studies oder auch Cultural Studies zur Identitätsforschung beitragen. Den Übergang zu dieser Wende von der Moderne zur Postmoderne markieren Überlegungen von Foucault, der sich mit Normierung oder Normalisierungsprozessen der Identität auseinandergesetzt hat, oder auch Derrida, der die Alterität in der Identitätsbildung noch stärker in den Blick nimmt (Zirfas 2010). Eine chronologische Perspektive auf Identität unterscheidet moderne und post‐ moderne Ansätze der Identitätsforschung. Terminologisch finden sich im Bereich der Identitätsforschung Begriffe, die einerseits voneinander abzugrenzen sind und andererseits in manchen Fällen auch synonym verwendet werden. Die Verwendung all dieser im Folgenden genannten Begriffe ist mit den Bezügen zur jeweiligen Literatur unumgänglich. Die folgende Ordnung dient der Orientierung. 12 1 Einleitung und Überblick <?page no="14"?> Zentral ist der Begriff der Ich-Identität, der zunächst auf die psychoanalytische Betrachtung von Erikson (1973) zurückgeht, der unter Ich-Identität den Zuwachs an Persönlichkeitsreife versteht und damit die Entstehung von Kontinuität und Kohärenz betont. Kontinuität bezieht sich auf das zeitliche Erleben der eigenen Identität und Kohärenz auf verschiedene Rollen- und Selbstbilder, die zu einer gesamten Identität integriert werden (s. Kapitel 3). Goffman (1967) hat den Begriff der Ich-Identität in die amerikanische Sozialpsychologie übernommen und ihn dahingehend ausgeweitet, dass persönliche und soziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigt werden, wenn Identi‐ tätskonzepte ausgearbeitet werden. Von Habermas (1973) wurde diese Auffassung dann vor allem im deutschsprachigen Raum rezipiert. Der Begriff der Ich-Identität spannt damit eine soziologische und eine psychologische Dimension auf. ▶ In der soziologischen Dimension ist in den Sozialwissenschaften, vor allem der Soziologie, der Begriff Identität gebräuchlich. Es findet sich hier auch der Begriff soziale Identität, da insbesondere die sozialen Voraussetzungen für die Identitäts‐ bildung von Interesse sind. ▶ In der psychologischen Dimension wird der Begriff persönliche Identität benützt, der auch soziologisch geprägt ist. Betont werden körperliche Aspekte der physischen Identität und die psychische Identität, die sich inhaltlich mit dem in der Psychologie verwendeten Begriff Persönlichkeit oder auch Selbstbildung überschneidet. Diese Begriffe sind vor allem in der Sozialpsychologie und der narrativen Psychologie zu finden. Der Begriff Ich wird ebenfalls in der Persönlichkeitsforschung und bei psychoanalytischen Ansätzen verwendet. Terminologisch umfasst Identität im Sinne der Ich-Identität eine soziologische und eine psychologische Dimension. Bei der Betrachtung von Sprache kann ebenfalls die Unterscheidung in eine psycholo‐ gische und eine soziologische Dimension getroffen werden. Durch die Institutionalisie‐ rung der Bereiche Psycholinguistik und Soziolinguistik in den 1950er-Jahren kam es zu einer getrennten Erforschung der psychologischen und der soziologischen Dimension von Sprache. In der (europäischen) Psycholinguistik wird Sprache dem Individuum zurechnet und das Interesse an dem individuellen Sprachschatz ist ungebrochen (Knob‐ loch 2003). Die Soziolinguistik befasst sich mit der Sprache als einem gesellschaftlich geprägten und auf die Gesellschaft rückwirkenden Phänomen (Ammon et al. 2004, XVIII). Auch der Versuch von Fasold (1984, 1990), einerseits von einer Soziolinguistik der Gesellschaft und andererseits einer Soziolinguistik der Sprache zu sprechen, erhält die Trennung der soziologischen und der psychologischen Dimension aufrecht. Diese Trennung ist durchaus erstaunlich, denn die Forschungsgeschichte der Psy‐ cholinguistik und der Soziolinguistik weist auch Parallelen auf (Knobloch 2003, Dittmar 2004). Steinthal wird beispielsweise als Gründungsfigur sowohl für die Psycholinguis‐ 1.2 Ausgangspunkte 13 <?page no="15"?> tik als auch für die Soziolinguistik herangezogen. Für die Psycholinguistik ist vor allem die Psychologisierung der Humboldt’schen Sprachauffassung zentral, während sich die Soziolinguistik auf Steinthals Auffassung beruft, dass Sprache der „gesamte Inbegriff des Sprachmaterials eines Volkes“ ist (Steinthal 1855, S. 138). Nach der institutionel‐ len Gründung haben beide Disziplinen verschiedene Phasen durchlebt. Neben der grundsätzlichen methodischen Auseinandersetzung in beiden Disziplinen, zwischen naturwissenschaftlich formalen Theorien und kultur- und sozialwissenschaftlichen Konzepten, ist eine terminologische Problematik entstanden. Dies betrifft sowohl die Elterndisziplinen Psychologie und Linguistik als auch Soziologie/ Sozialpsychologie und Linguistik. Die kulturhistorische Psycholinguistik, die ihren Ausgangspunkt im kulturhistori‐ schen Ansatz der 1930er-Jahre nimmt, legt einen Sprachbegriff zugrunde, der die soziologische und die psychologische Dimension als stets verbunden auffasst. Als eine Prämisse kann formuliert werden, dass das sprechende Individuum nur in Sozialität vorkommt, sodass es sich bei aller sprachlicher Tätigkeit sowohl um ein psychologisches als auch ein soziologisches Phänomen handelt. Der kulturhistorisch fundierte Sprachbegriff, der den Terminus sprachliche Tätigkeit verwendet, wird als Ausgangspunkt in Kapitel 2 eingeführt. Die Zuordnung der Begriffe im Themengebiet Sprache und Identität erfolgt anhand der Unterteilung in eine soziologische und eine psychologische Dimension. Einen zusammenfassenden Überblick gibt Abbildung 1. Abbildung 1: Terminologie unter Berücksichtigung einer soziologischen und psychologischen Dimension 14 1 Einleitung und Überblick <?page no="16"?> Es gibt einige sprachliche Idiome im alltäglichen Gebrauch, die mit dem Selbst bzw. der Identität zu tun haben, wie zum Beispiel: - sich selbst treu bleiben, - sich selbst nicht wiedererkennen, - unter falscher Flagge segeln, - sich mit fremden Federn schmücken. Überlegen Sie, was diese Idiome bedeuten, und überlegen Sie weitere Idiome, die auf das Selbst bzw. die Identität hinweisen. 1.3 Ziel und Aufbau des Buchs Ziel dieses Buchs ist es, die dynamischen Zusammenhänge zwischen Sprache und Identität im Sinne der kulturhistorischen Psycholinguistik zu untersuchen. Hierfür erfolgen u. a. Spezifizierungen, sodass von sprachlicher Tätigkeit und Ich-Identität gesprochen wird. Mit dem Begriff der sprachlichen Tätigkeit wird in der kulturhistori‐ schen Psycholinguistik ebenso wie mit dem Begriff der Ich-Identität eine soziologische und eine psychologische Dimension der Betrachtung des Forschungsgegenstands aufgespannt (s. Abbildung 1). Die Untersuchung der Verwobenheit von sprachlicher Tätigkeit und Ich-Identität hat im Sinne der kulturhistorischen Psycholinguistik also stets zwei Dimensionen: ▶ Die soziologische Dimension rückt die interpsychischen Aspekte zwischen den Individuen in den Mittelpunkt. Es handelt sich um die erste Funktion sprachlicher Tätigkeit, die vor allem die kommunikative Funktion der Sprache zur Regelung des sozialen Verkehrs untersucht. Im sprachlichen Ausdruck der Ich-Identität werden interpsychische sprachliche Interaktionen betrachtet. ▶ Die psychologische Dimension beleuchtet die intrapsychischen Aspekte, d. h. die höheren psychologischen (kognitiven) Funktionen, mittels derer das auf das Individuum selbst gerichtete Sprechen zum Mittel des Denkens wird. Die Formung von Ich-Identität erfolgt mittels intrapsychischer sprachlicher Attribuierungen auch in Form von Erwartungen und Bewertungen von anderen. Angenommen wird ferner, dass sich die Ich-Identität einerseits in der sprachlichen Tätigkeit ausdrückt und andererseits die sprachliche Tätigkeit an der Formung der Ich-Identität beteiligt ist. Die Formungen der Ich-Identität und der sprachlichen Tätigkeit sind gewissermaßen dynamische Prozesse zwischen den Aktanten. Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf die Verknüpfung von inter- und intraindividu‐ ellen Aushandlungsprozessen, die den Zusammenhang von sprachlicher Tätigkeit und Ich-Identität als Bewegung konstituieren. 1.3 Ziel und Aufbau des Buchs 15 <?page no="17"?> Aus der Perspektive der kulturhistorischen Psycholinguistik werden sprach‐ liche Tätigkeit und Ich-Identität aus psychologischer und soziologischer Sicht betrachtet. Der Aufbau des Buchs umfasst vier thematische Überordnungen (Abbildung 2): ▶ Sprache. Zunächst wird ein Sprachbegriff aus Perspektive der kulturhistorischen Psycholinguistik dargelegt, der sowohl soziologische als auch psychologische Aspekte der sprachlichen Tätigkeit verbindet (Kapitel 2). Des Weiteren werden sprachliche Formen der Identität thematisiert, indem über die Identitätsdarstellung und -herstellung durch Erzählungen diskutiert wird (Kapitel 6). Wie sich Ich-Iden‐ tität im sprachlichen Ausdruck zeigt, wird anhand verbaler und extraverbaler sprachlicher Mittel erörtert (Kapitel 7). ▶ Identität. Verschiedene Konzepte von Identitätsauffassungen werden referiert und es wird versucht, das Konstrukt Identität fassbar zu machen. Aus kulturhistorischer Sicht wird Ich-Identität als Bewegung im Sinne einer offenen Form aufgefasst (Kapitel 3). Zentrale Identitätskonzepte sind die soziale Identität, die vor allem die Identitätsstiftung in Gruppen thematisiert (Kapitel 4), und die persönliche Identi‐ tät, die das Individuum auffordert, eine einzigartige Individualität zu entwickeln (Kapitel 5). ▶ Entwicklung. Personennamen dienen der Identifizierung von Individuen und damit steht das Namenhaben am Anfang aller Entwicklung (Kapitel 8). Es wird gezeigt, wie eng verzahnt die sprachliche Entwicklung und die Entfaltung der Ich-Identität sind (Kapitel 9) und wie deutlich sich diese Verzahnung auch in neurowissenschaftlichen Befunden zeigt (Kapitel 10). ▶ Forschungsaspekte. Der Zusammenhang von Sprache und Identität wird anhand einzelner Forschungsbereiche illustriert. Ausgewählt wurde ein Blick auf die Ge‐ schlechtsidentität (Kapitel 11), die Identitätsbildung bei Mehrsprachigkeit (Kapitel 12) und die Veränderung von Identitätsbildungsprozessen durch soziale Medien (Kapitel 13). Die Ausarbeitung dynamischer Zusammenhänge zwischen Sprache und Identität, als Ziel dieses Buches, erfolgt anhand der thematischen Überordnungen Sprache, Identität, Entwicklung und Forschungsaspekte. 16 1 Einleitung und Überblick <?page no="18"?> Abbildung 2: Übersicht über die thematische Ordnung der Buchkapitel 1.4 Hinweise zur Lektüre Das Buch ist von der Kapitelgliederung für die Bearbeitung in einem Seminar innerhalb eines Semesters gedacht, es kann jedoch selbstverständlich auch im Selbststudium bearbeitet werden. Es wurde versucht, einen gut zu lesenden Text zu erstellen, indem zum Teil sehr komplexe Sachverhalte verständlich dargestellt werden. Die Verwendung der einzelnen Kapitel pro Sitzung kann durch die Auswahl einzelner Autor: innen oder Themenschwerpunkte vertieft werden. Als Klammer jedes Kapitels werden am Anfang Leitfragen des Kapitels genannt, die am Ende jedes Kapitels pointiert zusammengefasst werden. Leitfragen am Kapitelanfang Zusammenfassung am Kapitelende Zur Gliederung und Auflockerung der Kapitel werden Merkboxen eingesetzt, um wichtige Aspekte einzelner Kapitelabschnitte zu kennzeichnen. Zudem wurden Info‐ boxen eingefügt, die einzelne Themen exkursartig erläutern. Kurzbiografien wurden verwendet, um wichtige Persönlichkeiten zu den Themenschwerpunkten kennenzu‐ lernen. 1.4 Hinweise zur Lektüre 17 <?page no="19"?> Merkbox Infobox Kurzbiografie Da es sich um ein Studienbuch handelt, gibt es auch Aufgaben zu bewältigen. Es handelt sich einerseits um Nachdenkaufgaben, die sachorientiert sind und in denen Inhalte reflektiert werden sollen. Andererseits gibt es auch Fragen, die die persönliche Selbst‐ reflexion anregen sollen, da es sich beim Thema Sprache und Identität selbstredend auch um ein ganz persönliches Thema handelt. Nachdenkaufgabe Selbstreflexion Das jeweilige Kapitel abschließend, finden sich an den Kapitelenden Literaturangaben zur Vertiefung sowie Filmvorschläge, die sich eignen, um über einen künstlerischen Zugang eine Diskussion anzustoßen. Literaturempfehlung Filmempfehlung ▢ Inwiefern hängen Sprache und Identität zusammen? Mit dem Leitgedanken von Humboldt (1820/ 1994, S. 20) „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ ist der Zusammenhang von Sprache und Identität offensichtlich. Im Zentrum steht die Frage, wie über Narrationen Identität dargestellt und auch hergestellt wird und wie Identitätsmerkmale in Sprache ausgedrückt werden. Narrationen stellen folglich eine zentrale Verbindung zwischen Sprache und Identität dar. ▢ Wie bin ich? oder Wer bin ich? Auf diese Fragen finden Individuen durch Narrationen und Reflexionen eine Antwort. Die Frage Wie bin ich? reflektiert vor allem psychologische Aspekte, die Frage Wer bin ich? bezieht soziologische Aspekte mit ein. ▢ Welche Forschungszugänge gibt es zum Thema Sprache und Identität? Die Forschungszugänge sind vielfältig, weshalb der Forschungsgegenstand interdisziplinär ist. In diesem Buch wird die Sicht der kulturhistorischen Psycholinguistik gewählt, um systematisch den Zusammenhang zwischen Sprache und Identität zu betrachten. Maßgeblich beteiligt sind die soziologi‐ sche und psychologische Dimension. 18 1 Einleitung und Überblick <?page no="20"?> Gümüşay, Kübra (2021). Sprache und Sein. München: btb. Kresic, Marijana (2006). Sprache, Sprechen und Identität. München: Iudicium. Master Cheng in Pohjanjoki. Mika Kaurismäki (Regie, 2019), Finnland und China. Mit großer Erzählkunst wird in diesem Film eine Geschichte darüber entfaltet, wie ein chinesischer Koch in Finnland ein neues Leben beginnt. Diese Culture-Clash-Komödie erzählt Identität in Lebensbiografien, die vielschichtig zum Nachdenken über Sprache und Identität anregen. 1.4 Hinweise zur Lektüre 19 <?page no="22"?> 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff In diesem Kapitel wird dargelegt, was im Zusammenhang von Sprache und Identität unter Sprache verstanden wird. Mit dem Begriff sprachliche Tätigkeit wird der Sprachbegriff der kulturhistorischen Psycholinguistik entfaltet. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Was ist unter Psycholinguistik zu verstehen? ▢ Was ist der Forschungsgegenstand der kulturhistorischen Psycholinguistik? ▢ Inwiefern ist ein Sprachbegriff aus der Perspektive der kulturhistorischen Psycholinguistik hilfreich für die Betrachtung von Sprache und Identität? Grundsätzlich wird das Phänomen Sprache in unterschiedlichen Disziplinen betrachtet, wie der Sprachphilosophie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Psychologie, Neurologie, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Informatik und Neurobiologie (Trabant 2009). Sprache kann im Sinne eines Forschungsgegenstands als Objekt aufgefasst und in einem naturwissenschaftlichen Sinn betrachtet werden. In vielen Bereichen der Linguistik geht es darum, Elemente und Strukturen einer Sprache zu beschreiben (Hoffmann 2019). So ist es beispielsweise in der strukturalistischen Tradition üblich, Sprache auf verschiedenen Ebenen - Phonetik, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik - zu betrachten und darzustellen (Dipper et al. 2018). Auch in der Psychologie bekommt die Sprache - wenn sie überhaupt betrachtet wird - einen objekthaften Charakter zugeschrieben, sodass sie in der Regel als Begleiterscheinung kognitiver Prozesse erachtet und ihr vor allem eine Transportfunktion zugeschrieben wird (Messing/ Werani 2011). In der Neurobiologie besteht das Interesse an Sprache maßgeblich darin, die neuronale Basis von Sprachverstehens- und Sprachproduktions‐ prozessen herauszufinden, oder allgemeiner gesprochen darin, verstehen zu wollen, wie das Gehirn Sprache und Sprechen generiert (Friederici 2012). Die Objekthaftigkeit von Sprache wird auch in vielen Kommunikationstheorien verfolgt, indem davon ausgegangen wird, dass Sprache ein Mittel ist, um Informationen auszutauschen (Röhner/ Schütz 2020). In diesem Kapitel wird der kulturhistorisch fundierte psycholinguistische Sprach‐ begriff sprachliche Tätigkeit herausgearbeitet und positioniert. Sprachliche Tätigkeit fokussiert die Subjektseitigkeit der Sprache und betont damit stärker die individuellen Sinngehalte in Form von Interpretationen und Introspektionen. Dieser Sprachbegriff ist konsequent vom sprechenden Individuum aus gedacht und stellt die Funktionen der Sprache in den Vordergrund der Betrachtung. Um diesen subjektseitigen Sprachbegriff deutlich zu machen, ist zunächst ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung und die damit verbundene traditionelle Debatte in der Psycholinguistik notwendig. Daran an‐ <?page no="23"?> schließend wird auf die Phänomene Sprache und Sprechen eingegangen. Abschließend wird eine Begriffsbestimmung der sprachlichen Tätigkeit dargelegt. 2.1 Die Forschungsdisziplin Psycholinguistik Die Psycholinguistik ist - wenn die institutionelle Gründung in den 1950er-Jahren datiert wird - eine noch relativ junge Forschungsdisziplin, die allerdings aufgrund verschiedenster Einflüsse eine enorm bewegte Entstehungsgeschichte aufweist (Knob‐ loch 1994, 2003). Im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Linguistik galt und gilt es, einen psycholinguistischen Sprachbegriff zu konkretisieren und dabei die Polarität der Elterndisziplinen zu überwinden. Im Folgenden wird die Geschichte der Psycholinguistik nachgezeichnet, indem das Augenmerk auf unterschiedliche Betonungen der im Wort Psycholinguistik zusammengesetzten Nomen gelegt wird. So kann Psycholinguistik als Psycholinguistik, mit Betonung psychologischer Einflüsse, oder als Psycholinguistik, mit der Betonung linguistischer Einflüsse, gelesen werden (Abbildung 3). Abbildung 3: Strömungen in der Psycholinguistik Heymann Steinthal (1823-1899) wird als Begründer der Sprachpsychologie angesehen, da er sich mit der Psychologisierung der Sprachauffassung Humboldts (1767-1835) beschäftigte, d. h., er versuchte, sprachphilosophische Überlegungen auf psychologi‐ sche Prozesse zu übertragen. Diese Idee entfachte um 1900 eine Debatte über die Bedeutung der Psychologie für die Sprachauffassung (und andersherum) und die behandelten Themen umfassten die Erforschung sprachlicher Assoziationen (Thumb/ Marbe 1901), Versprecher (Meringer/ Mayer 1895), den Spracherwerb (Stern/ Stern 1907), das Sprach- und Redeverstehen (Bühler 1907) und auch den Zusammenhang von Sprechen und Denken (Vygotskij 1934/ 2002). Aufgrund dieser Vielfalt sprachpsy‐ chologischer Themen sprach Bühler (1927) sogar von einer Krisenpolyphonie und es können aus heutiger Sicht in diese Zeit psycholinguistische Ansätze hineininter‐ pretiert werden. Die Besonderheit dieser Zeit liegt folglich darin, dass das Interesse an Sprache in den 1920/ 30er-Jahren nicht rein linguistisch motiviert war, sondern ebenso sprachpsychologische Betrachtungen einschloss. Außerdem fand das soziale Eingebundensein im Rahmen der psychologischen Aspekte ebenfalls theoriebildend 22 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="24"?> Berücksichtigung, etwa handlungstheoretische Aspekte in Sprachprozessen (Wegener 1885), Strömungen der Völkerpsychologie (Wundt 1904) und die Grundlegung des Zweiersystems bei der Betrachtung von Sprache bei Bühler (1934/ 1999). Insbesondere durch die Völkerpsychologie wurde die psychologische Perspektive bereits zu diesem Zeitpunkt um eine soziologische Perspektive bereichert, in welcher Sprache nicht nur an das Individuum gebunden betrachtet wurde, sondern soziale und kulturelle Kontexte ebenfalls Beachtung fanden. Betont wurde bei diesen sprachpsychologischen Fragestellungen vor allem die Funktionalität von Sprache, beispielsweise bei der Betrachtung der Funktion des Zeichens im Organonmodell (Bühler 1934/ 1999), der Darlegung ihrer Steuerungsfunktion für höhere psychologische Prozesse (Vygotskij 1934/ 2002) und der Ausbildung der Identität (Mead 1934/ 1968). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag es im Interesse der Sprachpsychologie, sprachwissenschaftliche, psychologische und soziologische Aspekte in Zusam‐ menhang zu bringen. Durch den Zweiten Weltkrieg und die vorausgehenden antiintellektualistischen Strö‐ mungen kam es wissenschaftsgeschichtlich zur Zerstörung wissenschaftlicher Traditio‐ nen und die sprachpsychologische Forschungsrichtung kam nahezu zum Erliegen. Sie wurde in der Folge nur bedingt aufgegriffen. Emigration oder Tod vieler Kolleg: innen führten zu einem abrupten Abbrechen einer regen Forschungsdiskussion (Ehlich/ Meng 2004). 1953/ 54 wurde die Psycholinguistik in den USA in einem interdisziplinären Kon‐ text von Psycholog: innen, Linguist: innen, Informations- und Kommunikationswissen‐ schaftler: innen, Mediziner: innen und Anthropolog: innen gegründet (Osgood/ Sebeok 1954). Es kam damit zur Institutionalisierung der Psycholinguistik und aus der Inter‐ disziplinarität heraus sollte ein umfangreicheres Verständnis für sprachliche Vorgänge resultieren. Vernachlässigt wurden bei diesem Gründungsakt (ost- und west-)europäi‐ sche Traditionslinien wie zum Beispiel Goldstein, Bühler und Vygotskij, sodass es zu keiner Fortsetzung dieser Tradition kam. Vielmehr gerieten die Forschungsergebnisse der 1920/ 30er-Jahren in Vergessenheit und die vielfältigen Perspektiven auf Sprache gingen verloren (Ehlich/ Meng 2004, Knobloch 2003). Das Hauptaugenmerk der neuen Disziplin Psycholinguistik lag zunächst darauf, die lerntheoretischen Konzeptionen der Psychologie (vor allem noch behavioristisch geprägt) mit den linguistischen Konzeptionen (vor allem strukturalistisch geprägt) zu verbinden und zudem infor‐ mationstheoretische Konzeptionen (vor allem in den Anfängen mathematisch und computertechnologisch orientiert) zu berücksichtigen. Diese Auffassung hat ihren Niederschlag auch in der Definition des Forschungsgegenstands der Psycholinguistik: Bei Osgood/ Sebeok (1954) stehen vor allem Prozesse der Kodierung und Dekodierung von Nachrichten im Mittelpunkt, die zwischen Kommunikationsteilnehmer: innen 2.1 Die Forschungsdisziplin Psycholinguistik 23 <?page no="25"?> vermittelt werden. Diese systematische und formalisierte Orientierung an Sprache vernachlässigt den Blick auf das sprechende Individuum. Die 1953/ 54 institutionell in den USA gegründete Psycholinguistik interessierte sich für die systematische und formalisierte Verwendung von Sprache. Unmittelbar nach der Gründung in den 1950er-Jahren wurde die Psycholinguistik Teilgebiet der Linguistik (nicht der Psychologie), sodass nun vor allem linguistische An‐ sätze Einfluss auf die Entwicklung der Psycholinguistik nahmen. Die vorherrschende strukturalistische Sprachauffassung von de Saussure (1916/ 2001), dass es sich bei Sprache um ein präzis erfassbares, formal exakt darstellbares relationales System von formalen Elementen handelt, war präsent und beeinflusste auch die Ausrichtung der psycholinguistischen Forschung. Dazu kam, dass Chomsky (1957) mit einer schock‐ artig eingeleiteten Abkehr vom behavioristischen Paradigma versuchte, die Realität der (theoretischen) linguistischen Strukturen in mentale Strukturen zu übersetzen. Die beginnende kognitive Ausrichtung psycholinguistischer Forschung bezeichnet Knobloch (2003, S. 23) auch als „Flucht in den Kopf “, da soziologische Aspekte der Sprache völlig in den Hintergrund rückten. Dadurch war die Psycholinguistik lange Zeit (lediglich) damit befasst, die psychologische Relevanz grammatischer Theorien zu prüfen (Knobloch 1994, Hörmann 1981). So kam es, dass die Psycholinguistik bis in die 1970er-Jahre regelrecht zur Hilfswissenschaft der Linguistik degradiert wurde (Hörmann 1981) und tatsächlich von einer Psycholinguistik gesprochen werden kann. Der Fokus des psycholinguistischen Interesses im Rahmen der linguistischen Tradition liegt folglich auf der Erforschung der competence, die ein einzelner sprechender Mensch innehat. Sprache ist das Objekt dieser Betrachtung und dient dem Transport von Informationen, was durch die Etablierung der Transportmetapher deutlich wird. Damit wird die nachrichtentechnisch ausgerichtete Auffassung von Informationsbzw. Zeichenübertragung betont, die sich bis heute fortsetzt (Rickheit/ Herrmann/ Deutsch 2003). Diese aktuell als europäische Psycholinguistik bezeichnete Schule findet ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung vor allem im Max-Planck-Institut für Psycholin‐ guistik in Nijmegen (Knobloch 2003, Cutler 2005). Die linguistisch orientierte Psycholinguistik nähert sich der Sprache als System und sucht psychologische Relevanz in grammatischen Theorien. 24 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="26"?> Lev S. Vygotskij (1896-1934) Vygotskij wurde in Orša (Weißrussland) geboren und starb mit 37 Jahren in Moskau an Tuberkulose. Er studierte in Moskau und war vielfältig interessiert an Kunst- und Literaturwissenschaften, Soziologie, Psychologie, Philosophie und Linguistik. Er hinterließ ca. 250 Schriften, die zunächst per Dekret verboten waren und daher erst sehr viel später (ab den 1980er-Jahren) Verbreitung fanden. Bis heute ist die Aufarbeitung von Vygotskijs Werk noch nicht abgeschlossen. Insbesondere durch die Übersetzung des Gesamtwerks ins Englische öffnete sich international eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Werk (Vygotskij 1987-1999). Vygotskij gilt als Begründer des sogenannten kulturhistorischen Ansatzes, aus welchem sich auch die Tätigkeitstheorie entwickelt hat. Die idealistische Ausrichtung seiner Theorie erschwerte die Verbreitung in der damaligen UdSSR. Für die Psycholinguistik ist zentral, dass er sich intensiv mit der Funktion von Sprache für höhere psychologische Prozesse auseinandersetzte. Seine Erkenntnisse hierzu sind vor allem in der Monografie Denken und Sprechen zusammengeführt (Keiler 2015). Die Formulierung einer kulturhistorischen Psycholinguistik basiert auf der sprachpsy‐ chologischen Tradition der 1920/ 30er-Jahre und bezieht vor allem die Forschungstra‐ dition des kulturhistorischen Ansatzes nach Vygotskij (1934/ 2002) mit ein (Bertau/ We‐ rani 2011). Dieser Entwicklung wird zugeschrieben, dass sie von Anfang an komplexer ist, da allgemein-psychologische Auffassungen von Psyche, Bewusstsein, Persönlich‐ keit und Tätigkeit mit Sprache verknüpft werden (Helbig 1988, A. A. Leont’ev 1975, Holzkamp 1983, 1993). Zudem werden auch Forscher: innen berücksichtigt, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Traditionslinie der psychologischen Annäherung an psycholinguistische Fragestellung fortgesetzt haben (Hörmann 1970, 1976; Knobloch 1994, 2003). Hörmann (1970) verwendet die Bezeichnung Psycholinguistik synonym zu Sprachpsychologie und betont, dass es nicht um eine wissenschaftliche Beschreibung der Sprache geht, sondern um die Betrachtung der Prozesse der Sprachbenutzung, d. h., die Funktionen der Sprache und der Sprachgebrauch stehen im Vordergrund (Hörmann 1970). Die kulturhistorische Psycholinguistik befasst sich mit einer subjektseitigen Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit und bezieht sowohl soziologische als auch psychologische Aspekte mit ein (Bertau/ Werani 2011, Bertau 2011, Werani 2011). Die kulturhistorische Psycholinguistik befasst sich mit der subjektseitigen Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit, die sowohl psychologische Aspekte als auch soziale Kontexte berücksichtigt. 2.1 Die Forschungsdisziplin Psycholinguistik 25 <?page no="27"?> Prüfen Sie Ihren Sprachbegriff. Welcher Sprachbegriff war Ihnen bisher geläufig? Ist für Sie eher eine Psycholinguistik oder eine Psycholinguistik plausibel? Wo positionieren Sie Ihren Sprachbegriff und wie begründen Sie ihn? 2.2 Sprache und Sprechen Unabhängig von der bewegten Geschichte der Psycholinguistik bleiben sprachliche Phänomene ihr zentraler Forschungsgegenstand. Knobloch (2003) betont die Doppel‐ existenz sprachlicher Phänomene. Es gibt seiner Auffassung nach gleichzeitig eine äußere, linguistische Realität, der sich der Sprecher annähert, und eine innere, lingu‐ istische Realität, also ein im Sprecher angeeigneter Vorrat an geteilten sprachlichen Mustern und Einheiten. Diese Unterscheidung beruht auf der Tradition, die sich bereits in der Trennung von langue und parole bei Saussure (1916/ 2001) findet. Auch Bühler (1934/ 1999) geht davon aus, dass das Produkt des Sprecherereignisses zwei Gesichter hat: einerseits ein subjektentbundenes, welches die an linguistischen Phänomenen interessierte Forschung anschaut, und andererseits ein subjektbezogenes, das vor allem die psychologische Forschung betrachtet. Chomsky (1957) unterscheidet zwischen Kompetenz und Performanz: Der Kompetenz wird die allgemeine Sprachfähigkeit zu‐ geschrieben und der Performanz die Sprachverwendung. Allen diesen Betrachtungen von sprachlichen Phänomenen liegt folglich eine Differenzierung von Sprache und Sprechen zugrunde. ▶ Sprache ist ein abstraktes Werkzeug an Zeichen und kann als System aufgefasst werden. Es wird angenommen, dass sie exakt beschreibbar ist und damit for‐ mal eindeutig repräsentiert werden kann. Es handelt sich um ein abstrahiertes Phänomen, das in den meisten Fällen unabhängig von Situation und Kontext ist. Die Untersuchung eines Systems impliziert ein abstrahiertes linguistisches Produkt, das Zentrum einer systematischen Analyse ist. Die Unterscheidung von Einzelsprachen wie Deutsch, Englisch, Spanisch oder Isländisch wäre ein Beispiel für das Verständnis von Sprache. ▶ Sprechen ist der Gebrauch von sprachlichen Zeichen in jeweiligen kulturellen Kontexten und stellt einen Prozess dar. Es handelt sich also um je einzigartige Momente, in welchen sich ein Individuum aktiv an ein anderes Individuum in einem je spezifischen Kontext richtet. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Sprechen besteht darin, dass aus den immer wieder erlebten sprachlichen Tätigkeiten Gestalten erfasst und diese zu Typen und Mustern verallgemeinert werden können, d. h., Sprache entsteht damit aus den Mustern sich wiederholender sprachlicher Tätigkeit (Werani/ Messing 2014). Im Spre‐ chen bleiben die sozialen, bewertenden, affektiven Qualitäten beibehalten. Diese sind wiederum auch Bedingung für das Verstehen (vgl. Sinn bei Hörmann 1976). Überspitzt 26 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="28"?> formuliert bedeutet dies, gegenseitiges Verstehen resultiert aus dem Sprechen, nicht aus der Sprache (Messing/ Werani 2009). Beim Sprechen handelt es sich um sich wiederholende Muster sprachlicher Tätigkeit, die generalisiert werden und prozesshaft als Zeichensystem kondensie‐ ren. Das System Sprache wird folglich abgeleitet aus empirischen Daten - dem Sprechen - und kann dann als Objekt betrachtet werden. Ausgangspunkt aller Betrachtung ist die reiche sprachliche Tätigkeit, die kulturelle, soziale, bewertende und emotionale Qualitäten beinhaltet. Diese dynamische Prozess‐ haftigkeit des Sprechens muss vom Individuum ausgehend nachvollzogen, analysiert und beschrieben werden (Schürmann 2008). In diesem Sinne müssen Sprache und Sprechen - System und Prozess - zusammen und eng gefasst werden. Sprache kann nicht wie ein abstraktes und idealisiertes System als Ausgangspunkt angenommen werden, sondern es sind die Prozesse, aus denen das System abgeleitet wird. Daher ist es überaus problematisch, ein abstraktes System Sprache wieder auf den Sprecher zu projizieren, denn dem Sprecher kann aus linguistischer Sicht nicht etwas zugesprochen werden, „was als Ganzes nur die Sprachgemeinschaft besitzt“ (Knobloch 2003, S. 24). Knobloch kommt zu dem Schluss, dass sich Sprache nicht primär im Kopf befindet, sondern sich vielmehr der Kopf in einem extern realisierten Medium Sprache zeigt. Die Sprache kann somit nicht einem Einzelnen zugeschrieben werden, sondern ist das Produkt einer Sprechergemeinschaft (Knobloch 2003), in welcher sie ihre Funktionen im Sinne eines Gebrauchs erfüllt. Kurz gesagt handelt es sich bei Sprache um ein in einer Sprachgemeinschaft durch Sprechen realisiertes Medium, um mit anderen kooperieren zu können (Messing/ Werani 2009). Die Psycholinguistik hat damit die Aufgabe, einen Sprachbegriff zu definieren, der beide Aspekte - Sprache und Sprechen - berücksichtigt. Wesentlich für die kulturhistorische Psycholinguistik ist deshalb, Sprache und Sprechen einerseits zu differenzieren und andererseits gleichzeitig in einem holistischen Sprachmodell durch den Begriff sprachliche Tätigkeit in Beziehung zu setzen (Abbildung 4). 2.2 Sprache und Sprechen 27 <?page no="29"?> Abbildung 4: Sprachliche Tätigkeit umfasst Sprache und Sprechen In der kulturhistorischen Psycholinguistik´ wird ein Sprachbegriff zugrunde ge‐ legt, der mit sprachlicher Tätigkeit bezeichnet wird. Sprachliche Tätigkeit umfasst Sprache und Sprechen als eng zusammengehörenden Komplex. 2.3 Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung Die kulturhistorische Psycholinguistik versteht sich in der Tradition des kulturhisto‐ rischen Ansatzes und ihr Forschungsgegenstand ist die sprachliche Tätigkeit des Individuums (s. Infobox). Die Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit und damit die Grundlegung des in diesem Buch verwendeten Sprachbegriffs (Abbildung 5) erfolgt anhand ihrer soziologischen und psychologischen Dimension ( Jakubinskij 1923/ 2004, Vygotskij 1934/ 2002, Friedrich 1993). Der kulturhistorische Ansatz Der kulturhistorische Ansatz wurde in den 1920/ 30er-Jahren von einer Gruppe russischer Psychologen entwickelt. Als Kern dieser Gruppe gelten Lev S. Vy‐ gotskij, Alexander R. Lurija und Aleksej N. Leont’ev, die in unterschiedlichen Konstellationen Forschungsgruppen bildeten. Sie werden oftmals auch als Troika bezeichnet. Gemeinsam erarbeiteten sie sich zahlreiche psychologische Themen‐ bereiche wie zum Beispiel zur Sprache, zum Gedächtnis, zur Aufmerksamkeit und auch zur Motorik. In ihrem Interesse lagen auch westliche, idealistische psychologische Ansätze. Ihr Ziel war es, eine kulturelle Psychologie zu entwerfen, als deren Fokus die Erforschung des Übergangs von sozialen zu individuellen Verhaltensweisen angesehen wird, d. h., der kulturhistorische Ansatz setzt sich zentral damit auseinander, wie psychische Funktionen in ursprünglich sozialen Funktionen zu finden sind. Der in den 1930er-Jahren einsetzende Stalinismus und damit verbundene Pädologie-Dekrete führten dazu, dass vor allem psycho‐ 28 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="30"?> logisch-pädagogische Wissenschaften marginalisiert wurden. Viele kulturhisto‐ risch arbeitende Psychologen wurden entlassen. Leont’ev war in den 1930er-Jah‐ ren gezwungen, nach seiner Arbeit über die Entwicklung des Gedächtnisses seine Stellung in Moskau aufzugeben. Auch Vygotskij erlebte Anfeindungen und sein 1934 erschienenes Werk Denken und Sprechen wurde bereits 1936 per Dekret verboten, d. h., auch der Name Vygotskijs wurde zunehmend getilgt. Nach seinem frühen Tod ist es Lurija und Leont’ev zu verdanken, dass es zu einer Neuauflage kam. Aus dem kulturhistorischen Ansatz entwickelte sich dann unter Federführung Leont’evs die Tätigkeitstheorie. Die Rezeptionsgeschichte ist - da politische Vorbehalte mitschwangen - zögerlich und sehr unterschiedlich verlaufen, sodass die Rezeption und Weiterentwicklung des kulturhistorischen Ansatzes weiterhin anhält. Der kulturhistorische Ansatz findet sich in vielen Forschungs- und Anwendungsfeldern, so in den Bereichen Spracherwerb, Sprach‐ theorie und Sprachpsychologie/ Psycholinguistik, Entwicklungspsychologie, Ar‐ beitspsychologie und Pädagogik (Keiler 2015, Werani 2011). Abbildung 5: Dimensionen der sprachlichen Tätigkeit Die soziologische Dimension sprachlicher Tätigkeit Begonnen wird die Darlegung des Sprachbegriffs der kulturhistorischen Psycholin‐ guistik mit der soziologischen Dimension, die eng mit dem Begriff der Sozialität verknüpft ist. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass das menschliche Dasein grund‐ legend nur in Sozialität vorkommt, damit kulturell und sprachlich geprägt ist und folglich alle menschliche Tätigkeit gesellschaftlich gebunden ist. Alles menschliche Zusammenleben findet im Rahmen von Sprache und Kultur statt. Jede Kultur hat eigene Werte und Normen (Frey 2016). Insbesondere mittels Sprache werden die Werte einer Kultur tradiert und über die sprachliche Tätigkeit werden diese Werte benennbar und reflektierbar. Es entsteht also ein Wechselspiel, in dem die Gesellschaft mit ihren 2.3 Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung 29 <?page no="31"?> kulturellen Werten zunächst das Individuum prägt, dann jedoch auch das Individuum mit seinen ausgebildeten Werten auf die Gesellschaft einwirkt. Werte einer Kultur werden folglich auch ausgehandelt (Anselm, im Druck). Deutlich wird bereits hier, dass das Individuelle und die Gewordenheit von Individuen ein sozialer Prozess bleibt. Das Individuelle wird von den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten geformt, d. h., einzelne Gewohnheiten, Werte und Lebensbedingungen spezifizieren die jeweilige Kultur. Die gesellschaftliche Prägung bezieht sich dabei nicht nur auf sprachliche Tätigkeit, sondern auf den Gesamtstrom der Tätigkeit. Alle Erfahrungen, Wahrnehmungen und sprachlichen Wertungen eines Individu‐ ums sind kulturell und sprachlich geprägt und formen eine grundsätzliche Perspektive auf die Welt, d. h., Individuen betrachten die Welt aus ihrer jeweiligen Sprache und Kultur heraus. Menschliche Tätigkeit ist in der kulturhistorischen Tradition die grundlegende Form der Wechselbeziehungen zwischen Individuen und auch zwischen dem Individuum und der Welt (s. Infobox). Die Tätigkeit schließt die jeweilige Kultur mit ein und formt damit von Anfang an das menschliche Bewusstsein auf intensive und subtile Weise, ein Aspekt, der auch bei Hall (1981) zu finden ist. Da sich alle komplexen Tätigkeiten, so auch zu sprechen, zu denken und zu handeln, aus der Sozialität heraus entwickeln, wird über die Tätigkeit innerhalb der Struktur des gesellschaftlichen Lebens die Grundstruktur der menschlichen Psyche bestimmt. Die Betrachtung konkreter Formen der Tätigkeit eines Individuums führen folglich zu seinen psychischen Prozessen (Budilova 1967). Die sprachliche Tätigkeit ist eine besondere Form der Tätigkeit, die das Bewusstsein eines Individuums ermöglicht (Rubinštejn 1977). Tätigkeit Sprachliche Tätigkeit beinhaltet den Tätigkeitsbegriff, der ein Schlüsselbegriff der kulturhistorischen Tradition ist und folgende Aspekte umfasst: ▶ Jeder Tätigkeit liegen ein Motiv und ein Ziel sowie damit ein Bedürfnis zu‐ grunde, das erfüllt werden soll. Tätigkeiten haben somit einen zielgerichteten Charakter. Tätigkeiten ohne Motiv gibt es nicht, denn eine nicht motivierte Tätigkeit ist keine Tätigkeit. ▶ Tätigkeiten sind strukturiert und bestehen aus Handlungen und konkreten Operationen. Mit den Handlungen werden untergeordnete Ziele verfolgt und die Operationen dienen der Umsetzung der Ziele. ▶ Etappen, die zur Zielerreichung durchlaufen werden, sind Orientierung und Planung, Vollzug und Realisierung sowie Kontrolle der Zielerreichung. ▶ In ein Beispiel übertragen handelt es sich um eine Tätigkeit, einen Vortrag zu halten. Zu den Handlungen gehören dann, Rahmenbedingungen einzu‐ 30 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="32"?> schätzen, wie das Publikum zu imaginieren und eine Argumentationsfolge zusammenzustellen. Zur Ebene der Operationen zählen die Ausarbeitung der Argumente durch Literaturrecherche, das Zusammentragen von Beispielen und das Zusammenstellen der PowerPoint-Präsentation. Mit der sprachlichen Tätigkeit werden grundsätzlich Motive, Ziele und Be‐ dürfnisse kommuniziert, somit ist sie ein Spezialfall der Tätigkeit (Leont’ev/ Leont’ev/ Judin 1984). Der Fokus liegt auf der Prozesshaftigkeit, die im Fall der sprachlichen Tätigkeit durch eine dynamische sprachliche Wechselwirkung zwischen Individuen gekennzeichnet ist und auch intrapsychische Prozesse ein‐ bezieht. Neben der kommunikativen und der kognitiven Funktion der sprachli‐ chen Tätigkeit wird aus beidem interagierend die Persönlichkeit hervorgebracht (Leont’ev A.N. 1977/ 2012). Das Individuum wird als ein sozialer Mikrokosmos betrachtet und die wechselwirkenden Prozesse der (sprachlichen) Tätigkeit zwi‐ schen Individuen führen dazu, dass Persönlichkeit als Bewegung konstituiert wird. Alle menschliche Tätigkeit kommt ursprünglich nur in Sozialität vor, d. h., auch sprachliche Tätigkeit ist gesellschaftlich gebunden. Die Betrachtung der Tätigkeit lenkt den Blick auf die Intersubjektivität und damit wird auch die sprachliche Tätigkeit zwischen Individuen fokussiert. Jedes Individuum gehört durch seine Sozialisationsbedingungen (Herkunft, kulturelle Umwelt, Sprache, Erziehung und Bildung) zu einer bestimmten Gemeinschaft und damit auch zu einer bestimmten Sprachgemeinschaft. Sprechende Individuen werden folglich nicht isoliert betrachtet, sondern in interaktiven Zusammenhängen, d. h., die Untersuchung sprach‐ licher Tätigkeit umfasst immer mindestens zwei Beteiligte, wie es im Grundmodell in Abbildung 5 auch dargestellt ist. Sprachliche Tätigkeit vollzieht sich damit immer in einem soziokulturellen Kontext. In der Intersubjektivität erhält die sprachliche Tä‐ tigkeit ihre erste Funktion: Sprachliche Tätigkeit dient der Kommunikation zwischen Individuen und damit der Regelung des sozialen Verkehrs (Vygotskij 1934/ 2002). In der Kommunikation werden mit der sprachlichen Tätigkeit Motive, Ziele und Bedürfnisse des Individuums vermittelt, sodass es sich dabei stets um einen gerichteten, adressierten und aktiven Prozess handelt. Die Intersubjektivität ist die Voraussetzung dafür, dass sich psychologische Funktionen ausbilden können. Dazu zählt auch die Ausbildung des menschlichen Bewusstseins und der Persönlichkeit bzw. Ich-Identität. Die Betonung der Sozialität findet sich aktuell im Bereich der Intersubjektivitätsfor‐ schung, welche sich genau damit auseinandersetzt, was zwischen Individuen entsteht (Fuchs/ De Jaegher 2009). 2.3 Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung 31 <?page no="33"?> Die erste Funktion sprachlicher Tätigkeit ist die Kommunikation. d. h., über die sprachliche Tätigkeit werden Motive, Ziele und Bedürfnisse zwischen Individuen ausgehandelt. Die erste Funktion zeigt sich intersubjektiv in der soziologischen Dimension. Es gibt Berichte über sogenannte Wolfskinder, die unter unglücklichen Umständen ohne Sprache aufwachsen. Inwiefern ist Ihnen ein Nicht-in-Sprache-Sein vorstell‐ bar? Welche Konsequenzen hat es, ohne Sprache zu sein, für die beschriebenen soziologischen und psychologischen Dimensionen sprachlicher Tätigkeit? Die soziologische Dimension des kulturhistorischen Sprachbegriffs befasst sich mit dem Eingebundensein menschlicher Tätigkeit in Kultur und Sprache. Die intersubjektive Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit führt zur ersten Funktion der sprachlichen Tätigkeit, der Kommunikation. Die psychologische Dimension sprachlicher Tätigkeit Die psychologische Dimension sprachlicher Tätigkeit ist an die Körperlichkeit des Indi‐ viduums gebunden, d. h., Individuen werden als psychophysische Einheiten angesehen. Die Verbundenheit von Körper und Geist zu einer psychophysischen Einheit steht im Gegensatz zu Descartes’ Auffassung, die die Trennung von Körper und Geist betont (s. Infobox). Vygotskij leitet die psychophysische Einheit des Individuums aus der natür‐ lichen (biologischen) und der kulturellen Linie ab, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Ontogenese miteinander verschmelzen (s. Kapitel 9). Das heißt, jedes Individuum bringt eine biologische Disposition mit, die im Laufe der Entwicklung kulturell geformt wird. Dem kulturhistorischen Sprachbegriff liegt damit ein Menschenbild zugrunde, das den gesellschaftlichen Menschen ganzheitlich in den Mittelpunkt der Forschung rückt. Die Aneignung des Sprechens ist folglich nicht allein ein psychischer Vorgang, sondern ebenso ein körperlicher. Der Schatten eines abendländischen Menschenbildes Bis heute hält die Diskussion an, wie Sprechen, Denken und Handeln sowie die Ausbildung der Identität zusammenhängen. Diese Diskussion hat eine lange Geschichte und schlussendlich ist das heutige Menschenbild in unserer abendlän‐ dischen Kultur nach wie vor von der Auffassung Descartes’ (1596-1650) geprägt, der davon ausging, dass Körper und Geist ebenso wie Verstand und Gefühl getrennte Entitäten sind. Zudem vertrat er eine hierarchische Anordnung dieser 32 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="34"?> Entitäten, d. h., beispielsweise der Verstand war Gefühlen übergeordnet. Er prägte den Satz: Ich denke, also bin ich. Diese Unterordnung, insbesondere der Emotionen, gibt es in den Kognitionswissenschaften bis heute, indem Emotionen in der Regel als Störfaktoren aufgefasst werden, die wissenschaftlich nicht präzise definierbar sind. Seit der emotiven Wende in den 1990er-Jahren wird intensiver auf eine engere Verknüpfung der Entitäten Geist und Körper hingewiesen (Oatley/ John‐ son-Laird 1987) und es beginnt die Embodiment-Forschung, die den Körper stärker in den Mittelpunkt rückt. In Bezug auf Descartes ist es Damasio (2006), der die Einheit von Körper und Geist betont. Seine geradezu gegensätzliche These zu Des‐ cartes lautet: Die Vernunft hängt davon ab, körperlich Gefühle zu empfinden. Der Trend einer integrativen Auffassung von Sprechen, Denken, Fühlen und Handeln zeichnet sich daran anknüpfend in der neurowissenschaftlichen Forschung immer häufiger ab (Roth/ Heinz/ Walter 2020, Roth 2009, Gehde/ Emrich 2007, Zimmer 1999). In der aktuellen Forschung ist ein Body-Turn zu beobachten, der eine Thematisierung der Körperlichkeit in verschiedenen Disziplinen mit sich bringt (z. B. Philosophie, Psychologie, Soziologie) und teilweise an den psychophysischen Ansätzen von Rubinštejn (1977) oder Hebb (1949) anknüpft. In der sogenannten Embodiment-Bewegung wird davon ausgegangen, dass die Psyche immer in einen Körper eingebettet ist (Glenberg 2010, Tschacher/ Storch 2012, Storch, Cantieni, Hüther und Tschacher 2017). Für die Betrachtung sprachlicher Tätigkeit ist es unerlässlich, körperliche Aspekte mit einzubeziehen, was u. a. durch die Berücksichtigung paraverbaler und nonverbaler Aspekte deutlich wird. Zur Körperlichkeit kann auch die emotionale Gebundenheit aller Tätigkeit gezählt werden. Auch hier war eine emotionale Wende in der Forschung nötig, um auf die Rele‐ vanz der Emotionen im menschlichen Dasein deutlicher hinzuweisen (Schwarz-Friesel 2008), da diese in der sprach- und kognitionswissenschaftlichen Forschung insgesamt lange vernachlässigt wurden. Im kulturhistorischen Ansatz wird angenommen, dass Emotionen über die biologische Disposition verankert sind (Vygotskij 1996), was im Bereich der Emotionsentwicklung auch gezeigt wurde (Holodynski 2004, 2014, Holodynski/ Oerter 2008). Die Ausarbeitung der Verknüpfung von Emotionen und sprachlichen Prozessen ist dagegen noch in den Anfängen (Fossa/ Madrigal Pérez/ Mu‐ ñoz Marcotti 2020). Einen Fokus auf diesen Zusammenhang zwischen sprachlichen und emotionalen Prozessen zu legen, hat deshalb auch für das Thema Sprache und Identität eine hohe Relevanz, da in der Persönlichkeitsbildung oft von Identitätsgefühl oder Selbstgefühl die Rede ist. Die Betrachtung des Individuums als psychophysische Einheit schließt die Körperlichkeit und die Emotionen mit ein. Sprachliche Tätigkeit ist als psychophy‐ sischer Vorgang im Sozialen emotional eingebettet. 2.3 Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung 33 <?page no="35"?> Eine Besonderheit der sprachlichen Tätigkeit ist, dass sie intersubjektiv nach außen an andere und auch nach innen an den Sprechenden selbst gerichtet werden kann. Durch die Richtung der sprachlichen Tätigkeit nach innen, also intrasubjektiv, entfaltet sich die psychologische Dimension. Das Sprechen für andere wird zum Sprechen für mich und nach innen gerichtet zum Hauptmittel aller höheren psychologischen Funktionen. Es handelt sich dann um einen sprachlich verinnerlichten intrapsychischen Prozess. Diese zweite Funktion der sprachlichen Tätigkeit fasst Vygotskij (1931/ 1987) folgendermaßen zusammen: Die Sprache, die anfangs Mittel der Kommunikation, Mittel des Verkehrs, Mittel der Orga‐ nisation des kollektiven Verhaltens ist, wird später zum Hauptmittel des Denkens und aller höheren psychischen Funktionen, zum Hauptmittel des Aufbaus der Persönlichkeit. (Vygotskij 1931/ 1987, S.-628) Die zweite Funktion sprachlicher Tätigkeit ist die Vermittlung und Verflech‐ tung sprachlicher Tätigkeit mit höheren psychologischen Funktionen. Sie zeigt sich in der psychologischen Dimension. Trotz dieses intrapsychischen Blicks geht Vygotskij (1931/ 1987) davon aus, dass die Sozialität grundlegend ist und - damit verbunden - die sprachliche Tätigkeit für kommunikative und höhere psychische Funktionen vermittelnd ist. Er ist überzeugt, dass alle psychischen Prozesse zunächst soziale Prozesse waren, d. h., jede höhere Verhaltensform und damit alle höheren psychologischen Funktionen haben sich aus kollektiven, sozialen Verhaltensformen entwickelt. Vygotskij schreibt dazu: […] daß die Beziehungen zwischen den höheren psychischen Funktionen einmal reale Beziehungen zwischen Menschen waren. Die kollektiven, sozialen Verhaltensweisen werden im Entwicklungsprozeß zu Verfahren für die individuelle Anpassung, zu Verhaltens- und Denkformen der Persönlichkeit. (Vygotskij 1931/ 1987, S.-626) Der Ursprung der Entfaltung der psychologischen Dimension liegt damit in den äußeren Prozessen. Daher ist Kommunikation als ein Teil der Sozialisation für die Ausbildung psychischer Prozesse mitverantwortlich. Das gemeinsame Tun und die begleitende Verwendung von Sprache bilden neben kommunikativen auch psychische Fertigkeiten aus, wie Planungs-, Regulations- und Reflexionsprozesse. Faszinierend ist, dass gerade das Sprechen als ein hervorragendes, wenn nicht sogar einzigartiges Mittel gilt, bewusste und willkürliche psychische Funktionen auszuführen (Hildebrand-Nils‐ hon 2004). Die Wahrnehmung von sich selbst und die Möglichkeit zur Reflexion mittels sprachlicher Tätigkeit ermöglicht das menschliche Bewusstsein. Das Bewusstsein wird also einerseits auf soziokulturelle Aspekte bezogen betrachtet und andererseits auf psychologische Aspekte des Individuums selbst bezogen, die sprachliche, kognitive, körperliche und affektive Merkmale umfassen. 34 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="36"?> Jede psychische Funktion erscheint zweimal: zunächst in der soziologischen Dimension - interpsychisch, zwischenleiblich, zwischensprachlich, kollektiv - und dann in der psychologischen Dimension - intrapsychisch, innerleiblich, innersprachlich, individuell. Das heißt, auch wenn psychische Funktionen in der Regel dem Individuum zugeschrieben werden, bleiben sie bis zu einem gewissen Grad sozial. Sprachliche Tätigkeit als Schnittstelle Sprachliche Tätigkeit umfasst eine soziologische und psychologische Dimension und für Bachtin (1979) stellt sie einen Schnittpunkt zwischen Innen- und Außenwelt dar, d. h., sprachliche Zeichen konstituieren die Psyche und vermitteln damit zwischen dem biologischen Organismus und der sozialen Außenwelt. Der sprachlichen Tätigkeit kommt folglich die Rolle der Vermittlung zwischen soziologischer und psychologi‐ scher Dimension zu. Diese Auffassung ist das Besondere an der kulturhistorischen Psycholinguistik. In der soziologischen Dimension sind Zeichen zunächst das Mittel, um auf andere einzuwirken (erste Funktion der Sprache). In der psychologischen Dimension werden die Zeichen zum Mittel, um auf sich selbst einwirken zu können (zweite Funktion der Sprache). Der Übergang von interpsychischen (äußeren) zu intrapsychischen (inneren) Prozessen, also die Verinnerlichung von Zeichen, wird mit Interiorisierung bezeichnet. Interiorisierung ist eine dynamische Wechselwirkung zwi‐ schen äußerer und innerer Tätigkeit, sodass die Interiorisierung wichtig ist, damit über die erste Funktion die zweite Funktion der Sprache initiiert werden kann. Die zweite Funktion der Sprache, die für die Ausbildung höherer psychologischer Funktionen verantwortlich ist, bezieht auch die Ich-Identität mit ein. Der Begriff der Ich-Identität impliziert ebenfalls die Beteiligung von sozialen und psychischen Aspekten an der Ausbildung von Identität. Es bleibt hier festzuhalten, dass das Individuum samt der Ich-Identität in der kulturhistorischen Tradition ein soziales Wesen bleibt; es wird als sozialer Mikrokosmos betrachtet (Vygotskij 1931/ 1987). Die sprachliche Tätigkeit als Schnittstelle zwischen außen und innen hat verschiede‐ nen Erscheinungsmöglichkeiten, sodass die sprachliche Tätigkeit äußeres Sprechen, inneres Sprechen und schriftliches Sprechen umfasst. Äußeres Sprechen ist die ur‐ sprüngliche Form, schriftliches Sprechen zählt bereits zu den Kulturtechniken. Das innere Sprechen ist die reichhaltigste, häufigste und intimste Form der sprachlichen Tätigkeit und für eine Fülle an Funktionen verantwortlich, so für die Stabilisierung von Gedanken im Wort, die Selbstregulation und Reflexion (Werani 2011). Über Narrationen werden Außenwelt und Innenwelt verbunden, sie stellen den Kern der sprachlichen Tätigkeit als Schnittstelle dar (Kapitel 6). Aspekte, die kennzeichnend für diese Schnittstelle sprachlicher Tätigkeit sind, sind die Vermittlung von Ausdruck und Eindruck, Sprechen und Denken sowie Individuum und Weltsicht. 2.3 Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung 35 <?page no="37"?> ▶ Sprachliche Tätigkeit vermittelt zwischen Ausdruck und Eindruck, indem in den Narrationen Innerlichkeit zum Ausdruck gebracht wird und über Narrationen Eindrücke von anderen wahrgenommen werden. Die Rede ist Ausdrucksmittel, zugleich aber auch Mittel der Einwirkung. Die Einwirkung auf den anderen ist in der menschlichen Sprache eine ihrer ursprünglichsten und wichtigs‐ ten Funktionen. Der Mensch spricht, um zu wirken, wenn auch nicht unmittelbar auf das Verhalten, so doch auf das Denken und die Gefühle, auf das Bewusstsein anderer Menschen. (Rubinštein 1977, S.-514) Ausdruck und Eindruck erfolgen wechselseitig zwischen Sprechenden, sodass die Narrationen als gegenseitige Aushandlungsprozesse entstehen. Vygotskij (1931/ 1987) ist überzeugt, dass sich Individuen über die Prozesse der wechselsei‐ tigen Aushandlung sowohl mit anderen als auch mit sich selbst verständigen. Sprachliche Tätigkeit trägt damit im Ausdruck und Eindruck zur Selbstbildung bei. ▶ Sprachliche Tätigkeit vermittelt zwischen Sprechen und Denken und die kleinste gemeinsame Einheit von Sprechen und Denken ist die Wortbedeutung (Vygotskij 1934/ 2002). Das Wort trägt einen Begriff, der die Bedeutung des Wortes enthält. Bei der sprachlichen Tätigkeit werden mit Wörtern Bedeutungen herausgegriffen, die Gedanken ins Sprechen überführen, d. h., Gedanke und Wortbedeutung sind nicht identisch, sondern Bedeutungen vermitteln den Gedanken auf dem Weg zum sprachlichen Ausdruck. Wörter verweisen als Träger von Begriffen auf komplexere Strukturen, d. h., mit dem Sprechen werden wesentlich komplexere Strukturen transportiert als einzelne Wortformen vermuten lassen. Komplex sind diese Struk‐ turen, weil neben den denotativen Inhalten, also allgemeingültigen Definitionen, auch Konnotationen transportiert werden, die die subjektiven Erfahrungswelten mitbringen. Begriffe sind daher bis zu einem gewissen Grad immer individuell, lediglich die Wortform ist interindividuell dieselbe. Hierin liegt u. a. die Ursache für Missverständnisse, da dieselbe Wortform nicht zwangsläufig dieselbe Bedeutung trägt. ▶ Sprachliche Tätigkeit vermittelt zwischen Individuum und Weltsicht, weil die Gestaltung des Verhältnisses von Ich und Welt nur durch die Vermittlung von Sprache möglich ist (Humboldt 1830-35/ 1995). Im Rahmen des sprachlichen Relativitätsprinzips wird davon ausgegangen, dass die gleichen physikalischen Sachverhalte nicht zu einem gleichen Weltbild führen. Es gibt viele Bilder der Welt, die durch sprachliche Tätigkeit mitgestaltet werden. Je nach Sprache und Sprachgemeinschaft werden unterschiedliche Weltsichten erworben, denn die Weltsicht stellt jeweils eine individuelle Interpretation des Individuums dar (Wer‐ len 2002). Dieser Aspekt betont die Dynamik und Prozesshaftigkeit sprachlicher Tätigkeit in der Dar- und Herstellung von Weltsichten. Damit wird betont, dass alle Wahrnehmung des Individuums einem subjektiven Filter unterliegt, sodass es keine Wahrnehmungen außerhalb dieses Filters gibt. Dieser Filter beinhaltet von Anfang an Stereotype entsprechend der kulturellen Werte der jeweiligen Sozialität. 36 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="38"?> Diese Aspekte prägen die Identität des Individuums und verschaffen ihm im Laufe der Jahre eine Art biografischen Rucksack, das autobiografische Gedächtnis. Dieser sprichwörtliche Rucksack prägt die gesamte Identität maßgeblich und er besteht aus subjektiven Realitäten, die auch sprachlich geprägt werden. Sprachliche Tätigkeit ist von Anfang an durch die Sozialität gegeben und sie ist an der Ausbildung subjektiver Realitäten beteiligt. Die Betrachtung von sprachlicher Tätigkeit an dieser Schnittstelle zwischen innen und außen zeigt unweigerlich die Wirkmächtigkeit von sprachlicher Tätigkeit auf, die sich nicht nur in der Kommu‐ nikation, sondern auch in der Ausbildung höherer psychologischer Funktionen zeigt. Sprachliche Tätigkeit vermittelt als Schnittstelle zwischen innen und außen und verbindet Ausdruck und Eindruck, Sprechen und Denken sowie Individuum und Weltsicht. Welche sprachlichen Besonderheiten beobachten Sie bei sich selbst? Inwiefern wird durch Ihre Sprache Ihre Identität ausgedrückt? ▢ Was ist unter Psycholinguistik zu verstehen? Um zu verstehen, was die Disziplin Psycholinguistik umfasst, ist es notwendig, ihre bewegte Entstehungsgeschichte zur Kenntnis zu nehmen. Während in den 1920/ 30er-Jahren psychologische Aspekte und die Funktionen von Sprache betont wurden, sind es seit der institutionellen Gründung in den 1950er-Jah‐ ren eher formal linguistische Interessen, die verfolgt werden. Da es keinen allgemeingültigen Sprachbegriff gibt, ist es wichtig, die verschiedenen Positio‐ nierungen zum Sprachbegriff zu beachten, denn Sprache kann objektseitig und subjektseitig betrachtet werden. Bei der objektseitigen Betrachtung wird Sprache als Objekt von außen betrachtet und beschrieben. Hierbei spielen vor allem strukturelle Aspekte eine Rolle. Bei der subjektseitigen Betrachtung wird versucht, Sprache von innen, aus dem sprechenden Individuum heraus, zu erfassen. In der kulturhistorischen Psycholinguistik werden Form und Funktion sprachlicher Tätigkeit vom Individuum ausgehend untersucht. ▢ Was ist der Forschungsgegenstand der kulturhistorischen Psycholinguistik? Der Forschungsgegenstand der kulturhistorischen Psycholinguistik ist die sprachliche Tätigkeit. Sprachliche Tätigkeit kennzeichnet, dass Sprache und Sprechen als eng zusammengehörender Komplex definiert werden und dass sie gleichermaßen in einer soziologischen und einer psychologischen Dimension betrachtet werden muss. Ausgangspunkt ist dabei das sprechende Individuum, 2.3 Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung 37 <?page no="39"?> wobei das Hauptaugenmerk auf der Betrachtung von Prozessen der sprachli‐ chen Tätigkeit und ihren Funktionen liegt. ▢ Inwiefern ist ein Sprachbegriff aus der Perspektive der kulturhistorischen Psycho‐ linguistik hilfreich für die Betrachtung von Sprache und Identität? Sprachliche Tätigkeit und Ich-Identität haben ihre Entsprechung darin, dass beide Phänomene sowohl soziologisch als auch psychologisch betrachtet werden. In der soziologischen Dimension steht die kommunikative Funktion im Vordergrund, sodass es um Aushandlungsprozesse des Individuums mit seiner Umwelt geht, und in zweiter Funktion kommen der sprachlichen Tätigkeit höhere psychologische Funktionen zu, mittels derer das auf uns selbst gerichtete Sprechen Mittel des Denkens wird (psychologische Dimension). Zu den Aushandlungsprozessen mittels sprachlicher Tätigkeit zählt auch die Identitätsbildung, d. h., bei aller Selbstverständigung wird ein Ich über das Du erzeugt. Gemeinsames Sprechen umfasst sprachliche, emotionale, kognitive und soziale Aspekte, die das Individuum in der Totale seiner Ich-Identität zum Ausdruck bringt. Bei der sprachlichen Aushandlung handelt es sich nicht nur um den Austausch von sprachlichen Formen (soziologische Dimen‐ sion), sondern ebenso um Aktualisierungen des Denkens, der Identität, der Emotionen und der Haltungen zur Welt (psychologische Dimension). Jede sprachliche Tätigkeit stellt damit eine Aktualisierung des Individuums in seiner Ganzheitlichkeit dar. 1920/ 30er-Jahre Bühler, Karl (1934/ 1999). Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Lucius und Lucius. Vygotskij, Lev S. (1934/ 2002). Denken und Sprechen. Berlin: lehmanns media. 1950er-Jahre Chomsky, Noam (1957). Syntactic Structures. Den Haag: Mouton. 1970er-Jahre Hörmann, Hans (1970). Psychologie der Sprache. Berlin u.-a.: Springer. Hörmann, Hans (1976). Meinen und Verstehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Europäische Schule Levelt, Willem J. M. (1989). Speaking. Cambridge, MA u.-a.: MIT Press. Cutler, Anne (2005). Twenty-first century psycholinguistics. Mahwah: Lawrence Erlbaum. 38 2 Sprachliche Tätigkeit - ein Sprachbegriff <?page no="40"?> Kulturhistorische Schule Bertau, Marie-Cécile & Werani Anke (2011). Contribution to cultural-historical psycholin‐ guistics (Vol. 5). Berlin: lehmanns media. Bertau, Marie-Cécile (2011). Anreden, Erwidern, Verstehen. Berlin: lehmanns media. Werani, Anke (2011). Inneres Sprechen. Berlin: lehmanns media. Der Dialog. Francis Ford Coppola (Regie, 1974), Vereinigte Staaten. Ein sehr spannender Thriller, in welchem ein Dialog abgehört wird, dessen Bedeutung sich erst im Verlauf des Filmes ergibt. Spannend ist es, die Bedeutungswechsel desselben Dialogs - je nach Kontext und Perspektive - zu verfolgen. In Therapie. Olivier Nakache und Éric Toledano (Regie, 2021), Frankreich. Es handelt sich um eine Serie, in der es kammerspielartig um Dialoge zwischen einem Therapeuten und fünf seiner Patienten unmittelbar nach den Terroranschlägen in Paris am 13.11.2015 geht. Die Dialoge entfachen über das Zuhören des Therapeuten und die Entfaltung von Welten durch Sprache seitens der Klienten eine außergewöhnliche Spannung. 2.3 Sprachliche Tätigkeit - eine Begriffsbestimmung 39 <?page no="42"?> 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität Kern dieses Kapitels ist es, im Kontext von Sprache und Identität den Begriff der Identität zu erläutern und möglichst viele Facetten dieses Konzepts aufzuzeigen. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Welche Ausgangspunkte sind für das Verständnis von Identitätskonzepten zentral? ▢ Inwiefern unterscheiden sich Auffassungen von Identität hinsichtlich Konti‐ nuität, Balance, Kohärenz und Bewegung? ▢ Wo findet sich Sprache in den Identitätskonzepten? Es gibt viele Möglichkeiten, sich dem Begriff Identität zu nähern, und folglich ist die Beschreibung der Identität mit unterschiedlichsten Begrifflichkeiten konfrontiert (Mumm 2018). Zudem werden Identitätsauffassungen von jeweiligen gesellschaftspo‐ litischen Konstellationen beeinflusst (Zirfas 2010), d. h., es spielen auch normative kulturelle Erwartungen an die Identität der einzelnen Individuen eine Rolle. Während in der Moderne traditionelle Rollenbilder präsent sind und Identität als geschlossene Form angesehen wird, wird in der Postmodere eine plurale Identität angenommen, sodass pro Individuum eine Fülle an verschiedenen Rollen integriert werden muss. Einen Überblick über die historische Einordnung der in diesem Kapitel vorgestellten Theorien mit Nennung relevanter Autoren zeigt Abbildung 6. Es geht um die Betrach‐ tung der Identitätsaspekte Kontinuität, Balance, Kohärenz und Bewegung. Abbildung 6: Einordnung von Identitätskonzepten Aus der Perspektive der Moderne wird der Identitätsbegriff vor allem unter den Aspekten Kontinuität und Balance betrachtet. Ausgangspunkte der Identitätsforschung sind in der Psychoanalyse, im symbolischen Interaktionismus und in der Soziologie zu finden. <?page no="43"?> Unter dem Aspekt der Kontinuität wird untersucht, wie ein beständiges Selbstkonzept oder Selbstbild entsteht. Der Aspekt der Balance betrachtet, wie sich Ich-Identität an der Schnittstelle entfaltet, möglichst einzigartig und gleichzeitig ein gut angepasstes Mitglied der Gesellschaft zu sein (Liebsch 2016). In postmodernen Ansätzen zeigt sich insgesamt eine Entwicklung von der Ich-Psy‐ chologie zur Sozialpsychologie (Gödde 2010) und es geht um das Thema, wie Individuen Kohärenz herstellen, denn ein Kennzeichen der Identitätsforschung in der Postmo‐ derne ist, dass Identität dezidiert im Plural steht (Zirfas 2010). Es wird folglich die Identitätsarbeit betrachtet, d. h., wie ein Individuum trotz verschiedener Rollen ein Kohärenzgefühl für sich erzeugt (Keupp et al. 1999). In der Postmoderne kommen zu den Forschungsbereichen der Moderne die Genderforschung oder Cultural Studies dazu. Aus kulturhistorischer Perspektive wird Identität als Bewegung aufgefasst, ein As‐ pekt, der bereits im Zeitraum der Moderne formuliert wurde. Diese Betrachtung fokussiert ein völlig anderes Moment, nämlich die Dynamik der Identitätsbildung. Die sprachliche Tätigkeit ist als soziale Praxis daran beteiligt, dass die eigene Identität in der soziologischen und der psychologischen Dimension ausgehandelt wird. Bei allen Aspekten in diesem Kapitel kann mehr oder weniger impliziert werden, dass die Bildung der Ich-Identität eine Bewegung enthält, explizit findet sich dieses Konzept im kulturhistorischen Ansatz (Leont’ev 1977/ 2012, Vygotskij 1931/ 1987). Auch wenn mit dem Begriff Identität zunächst eine geschlossene Einheit antizipiert wird, wird gezeigt werden, dass es sich um eine sich bewegende, offene Form handelt. Die Identitätsforschung spiegelt auch gesellschaftspolitische Perspektiven, sodass in der Moderne traditionelle Rollenbilder und in der Postmoderne plurale Rollenbilder die Voraussetzung für die Identitätsbildung sind. Folglich werden verschiedene Konstruktionsleistungen von Identität angenommen. Die kulturhis‐ torische Tradition stellt eine weitere Auffassung, die der Identität als Bewegung und offene Form, zur Diskussion. 3.1 Identität als Kontinuität Der Begriff Kontinuität bezieht sich auf das zeitliche Erleben von Identität und ist durchaus paradox, da sich Individuen trotz äußerlicher Veränderungen im Lauf des Lebens dennoch in ihrer wahrgenommenen Identität als kontinuierlich und einheitlich erleben. Diese Zeitlichkeit spiegelt sich in der Tatsache, dass Individuen in der Gegenwart eine aktuelle Sicht auf sich haben können, sich an sich selbst in der Vergangenheit erinnern und sich selbst auch in der Zukunft konstruieren können. Diese zeitliche Identitätsperspektive wird auch dann als Kontinuität empfunden, wenn 42 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="44"?> es Krisen oder gar Brüche in der Biografie gab. Narrationen werden dann angepasst, um das biografische Erleben wieder in eine Kontinuität zu bringen (s. Kapitel 6). Der Kontinuitätsaspekt der Identität wird vor allem in Struktur- und Stufenmodellen beschrieben (s. Infobox). Es wird thematisiert, wie sich die Identität entwickelt und wie die sich in den einzelnen Lebensphase ergebenden Entwicklungsaufgaben bewältigt werden, um die Kontinuität der Identität aufrechtzuerhalten. Das Strukturmodell von Freud In Das Ich und das Es (Freud 1923/ 2005) arbeitet Freud sein drittes, auch struk‐ turell genanntes, Modell aus (Gödde 2010). Bislang stand die Erforschung des Unbewussten im Vordergrund, sodass eine Unterscheidung zwischen bewusst, vorbewusst und unbewusst zentral war. In seinem Strukturmodell werden nun das Ich, das Über-Ich und das Es und somit auch bewusste Aspekte thematisiert. Es geht Freud um die Herleitung der Abhängigkeit des Ich von den Trieben. Klar ist, dass auch in diesem Modell das Unbewusste, also hier das Es, als Grundvoraus‐ setzung angenommen wird. Dem Ich werden dabei zwar Bewusstseinsprozesse zugeschrieben, es wird jedoch nicht als Gegenpol mit dem Bewusstsein gleichge‐ setzt. Grund dafür ist, dass sich seiner Auffassung nach das Ich auch äußern kann, ohne dass das Bewusstsein beteiligt sein muss. Dies zeigt Freud anhand der verschiedenen Abwehrmechanismen und schlussfolgert, dass, wenn sich das Ich der Verdrängung bewusst wäre, die Verdrängung gar nicht mehr möglich wäre, d. h. folglich, dass auch ein Teil des Ich unbewusst ist. Eine Hauptaufgabe des Ich ist dennoch die Regulierung des Einflusses der Umwelt auf das Es, denn das Es repräsentiert Lust und Leidenschaft und das Ich Vernunft und Besonnenheit (Freud 1923/ 2005). Freud verwendet hier die Metapher des Reiters (= Ich), der versucht, das Pferd (= Es) zu zügeln. Das Über-Ich als eine Stufe des Ich übernimmt drei Funktionen: die Selbstbeobachtung, die Idealbildung und das Gewissen. Die Entwicklung des Ich wird sowohl vom Es als auch von Über-Ich maßgeblich geprägt. Zum einen ist es die Triebregulation, die den Charakter formt, zum anderen ist es die Ausprägung des Über-Ich. Den Einfluss des Über-Ich beschreibt Freud insbesondere an klinischen Phänomenen wie Zwangsneurosen oder der Melancholie (Freud 1923/ 2005). In Bezug auf den Begriff Identität grenzt Freud seinen Begriff der Identifizierung davon ab. Mit diesem eigenen Begriff betont Freud den selbstgesteuerten Prozess der Identitätsbildung (Breger 2013). Eine einflussreiche Identitätstheorie, die an die Freud’sche psychoanalytische Auffas‐ sung anknüpft und die Kontinuität in der Identitätsentwicklung betont, ist das viel diskutierte Stufenmodell von Erikson (1973). Dieses Stufenmodell weist sehr eindeutig auf die Gleichheit und Kontinuität von Identität hin. Das Wachsen der Identität im Laufe des Lebens wird in Analogie zum biologischen Wachstum des Organismus betrachtet, d. h., es wird angenommen, die Identität eines Individuums wächst aus einem Grundbauplan heraus, womit es sich um ein epigenetisches Prinzip handelt. 3.1 Identität als Kontinuität 43 <?page no="45"?> Erikson betont jedoch auch den psychosozialen Aspekt bei der Identitätsbildung, indem er die Umwelt in das Modell mit einbezieht. Die persönliche Identität betrifft somit nicht nur die Wahrnehmung der Kontinuität vom Individuum selbst, sondern auch, dass andere Individuen diese Kontinuität ebenfalls wahrnehmen können. Erikson fasst diesen Aspekt folgendermaßen zusammen: Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. (Erikson 1973, S.-18) Erikson (1973) bezeichnet die Ausbildung einer Identität als Entwicklungsaufgabe jedes Jugendlichen. Insbesondere die Adoleszenz ist eine wichtige Phase der Identitätsbil‐ dung. Seiner Auffassung nach gehören zu dieser Identitätsbildung Komponenten wie die Entwicklung eines realistischen Körperbilds, zu dem auch die Geschlechtsidentität gehört, die Erfahrung von Selbstkonstanz, die sich auch im Konstantbleiben von Meinungen und Einstellungen zeigt, sowie eine zeitliche Kontinuität im Selbsterle‐ ben. Der Ausformungsprozess der Identität ist eine Art Organisationsprinzip, das zwischen dem Selbst und dem anderen unterscheidet, und wird im Rahmen des Entwicklungsmodells in acht Phasen beschrieben. Erikson verweist jedoch darauf, dass es sich bei der Identitätsbildung um einen lebenslangen Prozess handelt. Alle Stufen sind durch psychosoziale Krisen gekennzeichnet. Phase 1 im Säuglingsalter beschreibt beispielsweise die Bewältigung der psychosozialen Krise Urvertrauen vs. Urmisstrauen. In Phase 5, der Adoleszenz, soll die Krise zwischen Identität vs. Identitätsdiffusion ausgehandelt werden. Durch diese Aushandlung in Phase 5 wird die Identitätsbildung zu einem bewussten Prozess. Identitätsdiffusion steht dagegen für das Nichtgelingen der Integration von eigenen Identifikationen und den neuen Anforderungen der Erwachsenenwelt. In allen Phasen geht es um das Schwanken und Aushandeln von Identität, deren jeweiligen Stärken Erikson alltägliche Namen gegeben hat. So entwickelt das Individuum im Laufe der Entwicklung die Stärken „Hoffnung, Wille, Entschlusskraft, Kompetenz, Treue, Liebe, Fürsorge und Weisheit“ (Noack 2010, S. 44). Alle Stärken der früheren Stufen werden in einer Gesamtheit integriert. Die Bildung der Identität ist die letzte psychosoziale Entwicklungsstufe dieses Ich-Prozesses. Das Jugendalter wird im Rahmen der Kontinuitätsannahme auch deshalb themati‐ siert, weil das Bewusstsein in diesem Altersabschnitt überhaupt erst so weit entwickelt ist, dass es eine Auseinandersetzung zwischen dem Selbst und der Umwelt in Form von Selbstreflexion geben kann (Oerter 2006). Zu dieser Voraussetzung zählt die Reifung des Gehirns, insbesondere des Frontalhirns, das neuronal die Grundlage für selbstregulierende Prozesse schafft, wodurch sich Funktionen wie die Impulskontrolle erst in der Pubertät ausbilden können (Meyer 2012). Hiermit geht dann einher, dass sich die Sprachfähigkeit in der Pubertät immer weiter ausdifferenziert und sowohl das 44 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="46"?> intensive und oft extreme emotionale Erleben als auch die extremen Schwankungen zwischen verschiedenen Emotionen besser reguliert werden können. Um die Komplexität dieses Entwicklungsprozesses der Identität deutlich zu machen, beschreibt Marcia (1980) vier Formen des Identitätsstatus. Marcia fasst Identität als dynamische Entität auf, zu der Elemente hinzugefügt oder von der auch Elemente verworfen werden können (s. Kapitel 9.5). Die Identitätsstruktur kann sich mit diesen dynamischen Prozessen im Laufe des Lebens zwar verschieben, eine Kontinuität bleibt dennoch erhalten (Marcia 1980). Die Identitätsstatus, die Marcia herausarbeitet, sind angelehnt an Eriksons Auffassung der Identitätskrise im Jugendalter und konzentrieren sich folglich auf die Aushandlung zwischen Identitätsfindung und Identitätsdiffusion. Marcia unterscheidet folgende Formen: ▶ Übernommene Identität. Es besteht keine Krise, denn es werden zunächst die (idealisierten) Werte der Eltern (unreflektiert) übernommen. ▶ Diffuse Identität. Die Reflexion über sich selbst und eigene Werte ist sehr gering ausgeprägt. Es beginnt zwar die Distanzierung von den Eltern, jedoch gibt es noch keine berufliche oder ideologische Ausrichtung. ▶ Moratorium. Es kommt zu einer offensichtlichen Identitätskrise, die eine offene Auseinandersetzung mit Wertefragen spiegelt und eine neue Werteorientierung beinhaltet. ▶ Erarbeitete Identität. Das Überwinden der Krise führt zu einer reflektierten Identi‐ tät. Es werden Werte vertreten, die selbst ausgewählt wurden und selbstbewusst vertreten werden. Eine Ausweitung des Modells ist notwendig, da Identitätskrisen nicht nur in der Adoleszenz, sondern auch im späteren Leben auftreten können. Insbesondere die diffuse Identität wird im Zusammenhang mit der Patchwork-Identität diskutiert und die Frage aufgeworfen, inwiefern eine solche Identitätsorientierung mit den neuen Rollenerwartungen der postmodernen Gesellschaft zusammenhängt und wie Indivi‐ duen trotz verschiedener Rollen in der Lage sein können, Kohärenz zu bilden. Die Rolle der sprachlichen Tätigkeit wird in den Modellen zur Kontinuität zwar nicht explizit formuliert, kann jedoch vor allem in der Darstellung der eigenen Identität in Narrationen und in der damit verbundenen Möglichkeit der Reflexion der eigenen Identität angenommen werden. Bei der narrativen Darstellung von Identität liegt die Besonderheit darin, dass gegenwärtige, vergangene und zukünftige Identität erzählt werden kann (s. Kapitel 6). Die Auffassung von Kontinuität der eigenen Identität ist stark psychoanaly‐ tisch geprägt und fokussiert das zentrale zeitliche Kriterium der Identitätsentwick‐ lung. Es besteht ein Art Kernselbst, das trotz lebenslanger Veränderungen als kontinuierlich und konstant wahrgenommen wird. Psychosoziale Aspekte spielen für die Identitätsbildung eine wichtige Rolle, sodass es auch um die Aushandlung 3.1 Identität als Kontinuität 45 <?page no="47"?> zwischen innerlichen und äußerlichen Prozessen geht. Ein zentraler Aspekt ist der Begriff der Identitätskrise, die im Sinne eines Reflexionsanstoßes die bewusste Identitätsformung in Gang setzt. Kontinuierliche Identitätsentwicklung bezieht sich auf die gesamte Lebensspanne, sodass es sich hier um einen offenen Prozess handelt. 3.2 Identität als Balanceakt Die Auffassung, Identität zwischen innerlichen und äußerlichen Aspekten auszuba‐ lancieren, lässt sich auf die Beschreibung des Selbst von James (1890) zurückführen. Diese Annahme ist nach wie vor aktuell und findet sich in vielen späteren Ansätzen in unterschiedlichen Ausdifferenzierungen wieder. James ging davon aus, dass sich das Selbst aus dem persönlichen Selbsterleben und der objekthaften Betrachtung des Selbst konstituiert, d. h., bezeichnend ist seine Unterscheidung zwischen dem Selbst als Subjekt (I oder Ich) und dem Selbst als Objekt (Me oder ICH) (Abbildung 7). Abbildung 7: Das Selbst bestehend aus I and Me nach James (1890) ▶ Das Selbst als Subjekt ist der wissende, aktive Part des Selbst, d. h., dieses Selbst beschreibt das Erlebnis, das mit den verschiedensten Tätigkeiten verbunden ist, in denen sich das Individuum als Subjekt erlebt. Es ist der Bewusstseinsstrom, mit dem das Ego gekennzeichnet wird, und kann auf die Formel gebracht werden: Ich weiß, dass ich bin. ▶ Das Selbst als Objekt ist das Gewusste über das Selbst, umfasst also die Über‐ zeugungen und Gefühle, die Individuen in Bezug auf sich selbst haben. Die Wahrnehmung des eigenen Selbst kondensiert darin, was als Selbstbild, Selbstwert oder Selbstdarstellung bezeichnet wird. Auch auf eine Formel gebracht heißt dies: Ich weiß, wie und wer ich bin. Beide Konzepte gehören zu einer einheitlichen Wahrnehmung des Selbst. Das Selbst kann sich in unterschiedlichen Facetten zeigen, es ist variabel und abhängig vom Kontext, in welchem es entfaltet wird. Das Selbst und seine Darstellung stehen eng im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Beurteilung der eigenen Person. 46 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="48"?> James (1890) geht davon aus, dass das Selbst aus zwei Teilen besteht, dem Selbst als Subjekt, das den aktiven Bewusstseinsstrom des Selbst umfasst, und dem Selbst als Objekt, das alles Gewusste über das Selbst repräsentiert. Bei Mead (1934/ 1968) setzt sich dieser Grundgedanke von James fort, wobei Mead die Interaktion mit der Umwelt für die Bildung von Bewusstseinsprozessen betont, d. h., dass bei den Aushandlungsprozessen der Identität die sozialen Interaktionen als zentral angenommen werden. Mit dieser gesellschaftlichen Bindung werden auch die unterschiedlichen Rollen, die Individuen gesellschaftlich einnehmen können, in den Blick genommen. Das zentrale Mittel für die gesellschaftlichen Aushandlungs‐ prozesse der Identität stellt die Sprache dar, weshalb Mead auch als Wegbereiter des symbolischen Interaktionismus gilt. Die Sprache ist schlussendlich das Mittel zur Reflexion und stellt nach Mead somit die Grundlage für die Herausbildung von Identität dar, d. h., die Sprache ermöglicht überhaupt erst, die eigene Identität durch Reflexion zu bilden. Er geht davon aus, dass sich der genuine Dialog zwischen Kind und Erwachsenem zu einem inneren Dialog zwischen dem Ich (I) und ICH (Me) fortentwickelt. Mit der Entwicklung des ICH, also dem Blick auf sich selbst als Objekt, findet die Verinnerlichung verschiedener Rollen statt, die zugleich eine Generalisierung oder Konstituierung des Anderen verinnerlicht ermöglicht. Dieser generalisierte Andere (generalized other) bildet u. a. die gesellschaftlichen Normen und Regeln ab, die das Individuum verinnerlicht hat. Dieser Aspekt eines generalisierten Anderen in Form des Gewissens (Über-Ich) findet sich auch in der Theorie von Freud (1923/ 2005). Die Generalisierungen von verinnerlichten Normen und Regeln finden zunächst unbewusst statt. Für die Abgrenzung des Begriffs Identität ist wichtig, dass sich Identität erst durch Reflexion des Selbst herausbildet, wobei die Sprache das Mittel der Reflexion ist. Während James ein gegliedertes ICH beschreibt, geht Mead von einem generalisierten oder verallgemeinerten ICH aus, das die Erwartungen einer Gesellschaft gebündelt an den einzelnen heranträgt. Die Auseinandersetzung mit dem generalisierten Anderen trägt zur Bildung der persönlichen Identität und somit zur individuellen Biografie bei. Dies ist allerdings erst möglich, wenn der generalisierte Andere verinnerlicht wurde und für Aushandlungsprozesse zur Verfügung steht. Bei Mead (1934/ 1968) spielt die sprachliche Interaktion mit der Umwelt als Grundlage für die Selbstbildung eine wesentliche Rolle. Aus dieser Interaktion entwickelt sich der verinnerlichte, generalisierte Andere, der Voraussetzung für die Identitätsbildung ist. 3.2 Identität als Balanceakt 47 <?page no="49"?> Der Soziologe Goffman (1975, 2008) teilt mit Mead das Interesse an der Interaktion zwischen Individuen und setzte sich mit den vielfältigen Interaktionsformen ausein‐ ander, die Individuen in verschiedensten Rollen in spezifischen sozialen Kontexten einnehmen. In diesem Zusammenhang interessierten ihn soziale Regeln, die Individuen anwenden, um ihre Ich-Identität auszubilden. Den Begriff der Ich-Identität übernahm er von Erikson (1973) und bezeichnete damit die Ausbalancierung zwischen Selbst- und Fremdidentität. Aus dieser Unterscheidung entwickelte Goffman (1975, 2008) die Konzepte persönliche und soziale Identität. ▶ Die persönliche Identität bezieht sich auf das eigene Selbsterleben und betont die Einzigartigkeit des Individuums. Mit Einzigartigkeit ist die unverwechselbare Bio‐ grafie gemeint, die all jene Persönlichkeitsmerkmale enthält, die das Individuum von anderen Individuen unterscheidet. Gemeint sind beispielsweise Persönlich‐ keitsmerkmale und körperliche Merkmale. ▶ Die soziale Identität umfasst die Fremdzuschreibung bestimmter vorgegebener gesellschaftlicher oder rollenspezifischer Eigenschaften. Sie bezieht sich auch auf die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen und die damit verbundenen normativen Erwartungen, wie zum Beispiel berufliche und private Rollenerwar‐ tungen. ▶ Die Ich-Identität hat die Aufgabe, reflexiv eine Balance zwischen der Anforderung des Einmaligseins (persönliche Identität) und der Teilhabe an gesellschaftlichen Rollensystemen (soziale Identität) herzustellen. Es handelt sich um die komplexe und lebenslange Entwicklungsaufgabe des Individuums, sich einerseits von den anderen zu unterscheiden, d. h. so zu sein wie kein anderer, und sich andererseits allgemeinen Erwartungen unterzuordnen, d.-h. sich gesellschaftlich anzupassen. Die Ausbildung der Ich-Identität stellt eine durchaus widersprüchliche Erwartung dar, denn sie wird nicht nur vom Individuum aus konstruiert, sondern sie wird auch durch soziale Zuschreibungen von anderen maßgeblich mitbestimmt. Die sozialen Aushandlungsprozesse mit Blick auf die persönliche Identität sind für das Individuum komplex und Goffman vermutet, dass die Stabilisierung von Persönlichkeitsmerkmalen die Anpassung an spezifische Rollenerwartungen erleichtert und dass das Individuum auf diesem Weg zu einer authentischen Wirkung kommt. Negative Abweichungen der Identitätsbildung bespricht Goffman (1975) in seinem Buch Stigma. Die Auseinander‐ setzung mit der Abweichung bringt stets die Frage nach der Norm mit sich. In seinem Buch Interaktionsrituale, das auch als linguistische Wende in seiner Arbeit gilt, widmet sich Goffman (2008) der Rolle der Sprache. Von den kommunikativen Prozessen interessieren ihn allerdings vor allem die nonverbalen Interaktionen. Verbale Mittel bleiben für ihn lediglich ein Indikator für die soziale Dimension (Knoblauch 2001). Sprachliche Elemente werden folglich verwendet, um die soziale Dimension deutlicher herauszustellen und den Kontext, das Vorwissen und die sozialen Regeln stärker zu betonen, da diese Hinweise auf eine Interaktionsordnung geben. Anzumer‐ ken ist hier, dass Goffman vermutlich die gestaltende Kraft der Sprache und damit 48 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="50"?> ihre realitätskonstituierende Funktion unterschätzt, denn diese spezifische, in einem bestimmten Kontext wahrgenommene Ich-Identität tritt bei allen Interaktionen und damit auch bei der Kommunikation hervor und kann somit vor allem im Sprachlichen ihren Ausdruck finden. Erving Goffman (1922-1982) Goffman war ein kanadischer Soziologe, der 1922 in Alberta (Kanada) geboren wurde und 1982 bereits im Alter von 60 Jahren an Krebs starb. Er studierte zunächst in Toronto, dann in Chicago und Edinburgh. Die Ergebnisse seiner Dis‐ sertation, die auf einem Forschungsaufenthalt auf den Shetlandinseln basieren, flossen in seinem ersten Buch Wir alle spielen Theater ein. Goffman zeigte von Beginn an wissenschaftliche Eigenständigkeit und vor allem Unabhängigkeit. Diese äußerte sich auch darin, dass sich Goffman keiner Schule zuordnen lassen wollte und seinerseits auch keine eigene Schule gründen wollte. Als innovativ galt an seinen Schriften die Alltagswende in der Soziologie und das grundlegende Interesse an jedweder sozialen Interaktion. Wissenschaftlich produktiv war seine Zeit in Berkeley, was ihm viel Aufmerksamkeit von Kolleg: innen und Student: innen einbrachte, ihn jedoch dazu bewog, an einen weniger turbulenten Ort (Pennsylvania) zu wechseln, um intensiv seine Forschung verfolgen zu können (Engelhardt 2011). Das von Goffman entwickelte Identitätsmodell wurde im Wesentlichen in der Identi‐ tätstheorie von Habermas (1973) und auch von Krappmann (1971, 2000) fortgeführt und verbreitet. Habermas (1973) versteht unter persönlicher Identität die für die Kontinuität stehende Biografie des Individuums, d. h. verschiedene Zustände der Lebensgeschichte des Individuums. Zur sozialen Identität gehören alle rollenspezifischen Elemente, d. h. alle Rollen, die gleichzeitig gekonnt werden. Auch hier wird unter Ich-Identität die Balance zwischen diesen beiden Dimensionen verstanden. Im Gegensatz zu Goffman betont Habermas (1973) die Sprache als zentrales Element für die Herausbildung von Identität. Sprache ist nicht nur Medium der Darstellung, sondern auch Mittel der Reflexion, sodass Identität sich überhaupt erst durch Sprache konstruieren lässt. Eine Betonung sprachlicher Aspekte zur Herausbildung von Ich-Identität findet sich auch bei Krappmann (1971, 2000), der davon ausgeht, dass sich Identität durch Interaktion und Interpretation manifestiert und Ich-Identität sprachlich dargestellt wird. Die Aktualität dieser Auffassung findet sich ebenfalls in Ausführungen von Abels (2017) und Müller (2011). Die Grenzen dieser Auffassung sowie Perspektiven der Fortsetzung beschreibt Veith (2010). 3.2 Identität als Balanceakt 49 <?page no="51"?> Die Ich-Identität stellt eine Balance zwischen persönlicher und sozialer Iden‐ tität her. Sie vermittelt zwischen den Erwartungen an das Individuum, einmalig und gleichzeitig gesellschaftlich angepasst zu sein. Welche Faktoren sind an der Bildung Ihrer Ich-Identität beteiligt? Welches sind persönliche, welches soziale Einflussfaktoren? 3.3 Identität als Kohärenz Der Übergang von der Moderne in die Postmoderne hat auch die Auffassung von Identität maßgeblich verändert. In der Moderne war ein Universalismus präsent, der dem Individuum eine einheitliche Identität mit einer entsprechenden Rolle zuschrieb, während in der Postmoderne dieser einheitlichen Identität durch den Relativismus die Identitätsdifferenz entgegengesetzt wurde und die Betonung auf der gesellschaftlichen und individuellen Pluralität lag (Klika 2010). Folglich wird in der Postmoderne die Auffassung eines einheitlichen Ich durch die Auffassung eines pluralen Ich verdrängt. Die Annahme eines autonomen, einheitlichen und rationalen Subjekts erschien zuneh‐ mend als Illusion und wurde von der Annahme eines dezentrierten Subjekts ersetzt. Dezentrale (Teil-)Identitäten müssen nun im Sozialen über den anderen konstruiert werden (Danzer 2017). Als Ursache für die Pluralisierung des Ich wird die gleichzeitige Teilhabe an verschiedenen Rollensystemen genannt. Fraglich ist nun, wie es möglich ist, dass ein plurales Ich vom Individuum dennoch als kohärente Identität empfunden wird. Keupp et al. (1999) fassen Identität als ein Patchwork auf, das durch Identitätsar‐ beit zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt wird. Identitätsarbeit wird als offener Prozess aufgefasst, der nach einer Passung zwischen innerer und äußerer Welt sucht. Diese Passung ist notwendig, damit die pluralen Herausforderungen der unter‐ schiedlichen Rollen, die Individuen zu bewältigen haben, unterschiedlich ausgeformt werden können und kohärent erlebt werden. Die pluralen Herausforderungen können nur gelingen, wenn Identität prozesshaft im Sinne einer Identitätsarbeit aufgefasst wird. Diese Prozesse verknüpfen verschiedene Perspektiven, sodass Vergangenes mit Zukünftigem in Verbindung gebracht werden kann (zeitliche Perspektive) und genauso Erfahrungen aus unterschiedlichen Kontexten mit den damit verbundenen Rollen (le‐ bensweltliche Perspektive). Die Bildung einer kohärenten Identität bezieht zudem die Zuschreibungen von außen mit ein, d. h., zur Selbsteinschätzung kommt hier auch ganz deutlich die plurale Fremdeinschätzung hinzu. Die Fremdeinschätzung potenziert sich, wenn die virtuelle Welt in Form von sozialen Medien in den Aushandlungsprozessen mitberücksichtigt wird. 50 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="52"?> Als Ziel dieser Identitätsarbeit nennen Keupp et al. die Konstruktionen von Iden‐ titätsgefühl, Selbstgefühl und Kohärenzgefühl. Das Identitätsgefühl entsteht aus der Verdichtung aller biografischer Erfahrungen, die ein Individuum gemacht hat. Dazu gehört, welche biografischen Erfahrungen im Laufe eines Lebens erinnert werden, was wiederum mit der Bewertung der Erfahrungen zu tun hat und mit der Wahrnehmung der Dichte der Beziehung zu sich selbst. Diese Wertungen stehen in engem Zusam‐ menhang zum Selbstgefühl, welches ebenfalls aus verdichteten Bewertungen besteht. Nach Keupp et al. führen positive Bewertungen der eigenen Person zu Selbstakzeptanz, Selbstwertschätzung und auch zu Zufriedenheit, während im negativen Fall Selbsthe‐ rabsetzung und sogar Selbsthass entsteht. Das Kohärenzgefühl bezieht sich auf die Möglichkeiten der Alltagsbewältigung des Individuums, d. h., es geht um die Strategien, die ein Individuum entwickelt, um im Alltäglichen einen positiven Bezug zu sich selbst herzustellen. Hierfür ist insbesondere wichtig, individuelle Identitätsbedürfnisse zu erfüllen und eine grundlegende Einschätzung zu haben, spezifischen Lebensbedin‐ gungen gewachsen zu sein. Keupp et al. (1999) betonen, dass die Komplexität der verschiedenen Rollen, die Individuen einnehmen, inzwischen von der Identitätsarbeit zu einem Identitätsmanagement geführt hat. Auch Antonovsky (1997) befasst sich mit der Entstehung des Kohärenzgefühls und interessiert sich dafür, welche Persönlichkeitsmerkmale den Gesundheitszustand (oder Krankheitszustand) eines Individuums bedingen. In seinem salutogenetischen Modell kommt er zu dem Schluss, dass es die allgemeine Grundhaltung des Individuums ge‐ genüber der Welt und dem eigenen Leben ist (Bengel et al. 2001), die Individuen gesund erhält. Die Entwicklung eines positiven Selbstgefühls ist nach Antonovsky (1981) der Ausgangspunkt dafür, dass Individuen Werte entwickeln und diese auch verwirklichen können. Dazu gehört, wie die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens abgeschätzt wird, wie die Machbarkeit im Sinne der Lebensbewältigung eingeschätzt wird und wie weit Zusammenhänge in der Welt verstanden werden. Je kohärenter sich ein Individuum also fühlt, desto besser wird es mit seiner Umwelt interagieren können. Die innere Kohärenz wird wiederum durch die verschiedenen Interaktionen hergestellt. Ein wichtiges Moment in den Interaktionen wird der Sprache zugeschrieben, die durch Selbstnarrationen wesentlich zur Identitätskonstruktion beiträgt. Mit der sprachlichen Tätigkeit wird Identität nicht nur dargestellt, sondern überhaupt erst hergestellt, wodurch ihr eine zentrale Rolle zukommt (s. Kapitel 6). In der Postmoderne gilt die Herausforderung, trotz Rollenpluralität, verschiedens‐ ter Teilidentitäten und zum Teil widersprüchlicher Selbstbilder durch Identitätsar‐ beit eine als kohärent erlebte Identität zu konstruieren. Sprachliche Tätigkeit spielt eine Rolle bei der Identitätsherstellung in Form von Narrationen. 3.3 Identität als Kohärenz 51 <?page no="53"?> 3.4 Identität als Bewegung Terminologisch ist zunächst anzumerken, dass in der kulturhistorischen Tradition vor allem der Begriff Persönlichkeit verwendet wird (Vygotskij 1931/ 1987, Leont’ev 1977/ 2012). Auch wenn der Begriff Persönlichkeit den Aspekt der persönlichen Iden‐ tität betont, wird aus kulturhistorischer Perspektive davon ausgegangen, dass alle persönlichen Formen aus der Sozialität entstehen. Vygotskij betont das Zusammen‐ wirken von sozialen und psychologischen Prozessen als Quelle des Bewusstseins und auch der Entwicklung der Persönlichkeit (Keiler 2015). Aus kulturhistorischer Perspektive wird der Aspekt der Bewegung bei der Heraus‐ bildung der Persönlichkeit thematisiert (Vygotskij 1931/ 1987, Chaiklin 2001, Werani 2011), d. h., es wird nicht nur die Struktur, sondern die Dynamik und Formung der Persönlichkeit in ihrer Entwicklung betont (Vygotskij 1931/ 1987). Originär ist Persön‐ lichkeit sozialer Natur und entwickelt sich dynamisch in Aushandlungsprozessen, sodass das Ich über das Du erzeugt wird. Als Referenz muss die Ich-Funktion im Individuum verankert sein, d. h., das Selbsterkennen ist eine Voraussetzung für die Persönlichkeitsbildung. Die Relevanz der psychosozialen Aspekte des Selbsterkennens beschreiben auch schon Mead (1934/ 1968) und Erikson (1973). Ferner setzt sich Lacan (1949/ 1991) mit Spiegelungen zur Bildung der Ich-Funktion auseinander (s. Infobox). Das Phänomen, sich selbst zu erkennen, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt, der in sozialen Prozessen gelingt, denn „wir erkennen [uns selbst], weil wir andere erkennen […]“ (Vygotskij 1925/ 1985, S. 305). Mit dem Selbsterkennen gehen Prozesse der Selbstverständigung einher, sodass sprachliche Aspekte von Beginn an eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der Persönlichkeit spielen. Sprache, die zunächst Mittel der Kommunikation ist, wird zum Hauptmittel der Herausbildung der Persönlichkeit. Sprache ist damit „nicht nur ein Mittel, andere zu verstehen, sondern auch eines, sich selbst zu verstehen“ (Vygotskij 1930/ 1985, S. 328). In dieser Auffassung bleiben die dynamischen Aushandlungsprozesse mit anderen Individuen im Mittelpunkt, wofür ein sich zunehmend entwickelnder Sprachgebrauch nötig ist, damit Reflexionsprozesse einsetzen können. Dazu gehört auch die Verinnerlichung des Sprechens und die Ausbildung höherer psychischer Funktionen durch die sozialen, kollektiven Verhaltensweisen. Die zentrale Rolle des inneren Sprechens bei der Ausbildung von Persönlichkeit greift Anan’ev (1963) auf, der davon überzeugt ist, dass sich die inneren Zusammenhänge der Persönlichkeit im inneren Sprechen manifestieren. So betrachtet ist das innere Sprechen ein Mechanismus des Bewusstseins und es verändert sich auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der Persönlichkeit. Der Entwicklungsschub, der den Beginn der Persönlichkeit markiert, ist bei Vygotskij (1925/ 1985) mit 11 bis 12 Jahren relativ spät angesetzt. Er geht jedoch davon aus, dass die sprachlichen und kognitiven Voraussetzungen für die Persönlichkeitsentwicklung erst dann gegeben sind. Bei der Persönlichkeitsentwicklung sind es allerdings nicht nur sprachliche und kognitive, sondern ebenso emotionale Aspekte, die betrachtet werden müssen (Elkonin 1972, Bozhovich 1977). 52 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="54"?> Spiegelstadium Das Spiegelstadium bildet einen Ausgangspunkt der Ich-Funktion und betont die dynamische Bewegung der Identitätsbildung in der Aushandlung zwischen dem Ich und dem Du bzw. innen und außen (Lacan 1949/ 1991). Lacan hebt das Fiktive der menschlichen Identitätskonstruktion hervor, denn das Ich konstituiert sich seiner Auffassung nach - vereinfacht gesagt - über das Spiegelbild. Erst wenn das Individuum den eigenen Körper im Spiegelbild erkannt und bewusst wahrgenommen hat, bildet sich über diese Wahrnehmung die Identität heraus, d. h., erst das antizipierte fiktive Bild macht die Entstehung des Ich möglich. Es handelt sich bei der Identitätskonstruktion über den Spiegel nach Lacan um eine konstitutive Spaltung, denn das Individuum ist niemals identisch mit dem Spiegelbild, da das Spiegelbild bereits entfremdet wahrgenommen wird. In die Wahrnehmung des Spiegelbilds werden bereits persönliche Wünsche und soziale Erwartungen (hinein)projiziert. Identität ist also bis zu einem gewissen Grad eine Illusion, die vor allem auch sprachlich konstruiert und anderen über sprachliche Narrationen mitgeteilt wird. Mit der Kategorisierung durch Sprache erfolgt zugleich eine Anpassung an die Norm(ativität). Die Wahrnehmung, zu groß oder zu klein, zu dick oder zu dünn zu sein, transportiert einen eigenen Wunsch, der mit einer gesellschaftlichen Norm zusammenhängt. Dabei muss das im Spiegel gesehene Bild nicht zwingend mit der Realität übereinstimmen. Das Ich im Spiegel wird zum Objekt der eigenen Wahrnehmung und ist Ausgangspunkt der Inszenierung der eigenen Identität. Aber nicht nur das Ich im Spiegel, auch der Blick der anderen führt zur Ausbildung von Identität, indem das Individuum über den Blick der anderen gespiegelt wird. Identität existiert also nicht als Konstrukt für den Einzelnen, sondern konstruiert sich auch und vor allem über die Anerkennung der anderen. Leont’ev (1977/ 2012) fasst Persönlichkeit ebenfalls als eine Bewegung auf und setzt den Strukturmodellen der Persönlichkeit einen tätigkeitstheoretischen Ansatz entgegen. Während bei den Strukturmodellen die Beschreibung der Summe von Merkmalen oder Attributen die Persönlichkeit ergeben, handelt es sich aus tätigkeitstheoretischer Per‐ spektive bei der Persönlichkeit um eine Sammlung von Tätigkeiten, d. h., Persönlichkeit formt sich durch die Tätigkeiten in sozialen Beziehungen. Leont’ev spezifiziert dabei nicht, was er mit Persönlichkeit meint, sondern stellt Bezüge her, wie sie geformt wird. Dies ist ein wesentlicher Punkt, da Persönlichkeit damit nicht als Struktur, sondern als Bewegung konstruiert wird. Leont’ev geht davon aus, dass „[man als] Persönlichkeit nicht geboren [wird], [sondern] zur Persönlichkeit wird“ (S. 153). Das Werden der Persönlichkeit vollzieht sich in den sozialen Beziehungen der Tätigkeiten zwischen verschiedenen Individuen. Der beständige Teil der Persönlichkeit, d. h., sich selbst in einer Kontinuität zu erkennen, erfolgt über die Wahrnehmung des Ich. Dieses Erkennen der eigenen Persönlichkeit bezieht sich auf Tätigkeiten und damit nicht auf bestimmte Merkmale, die zu einem Menschen gehören. Durch die Gesamtheit der 3.4 Identität als Bewegung 53 <?page no="55"?> mannigfaltigen Tätigkeiten, die in Beziehung zur Welt realisiert werden, entstehen Persönlichkeitscharakteristika, die veränderlich und zum Teil auch diskontinuierlich sind. Chaiklin (2001) betont die Relevanz der Kategorie Persönlichkeit in der kulturhis‐ torischen Tradition und stellt Überlegungen an, wie dieses Konzept ausgearbeitet werden kann. Ein Hauptproblem sieht er darin, dass die Persönlichkeitsforschung einen zu individualistischen Fokus setzt und sozialkonstruktivistische Aspekte zu kurz kommen. Deshalb ist es umso wichtiger, die Aushandlung zwischen soziologischen und psychologischen Prozessen zu betonen. In der Fortsetzung der kulturhistorischen Tradition wird im Folgenden der Be‐ griff Ich-Identität anstelle von Persönlichkeit bevorzugt, da damit die Betonung der Bewegung als Aushandlungsprozess zwischen psychologischen und soziologischen Aspekten stärker gekennzeichnet ist. Die Aushandlungsprozesse umfassen die gesamte Lebensspanne, weshalb Ich-Identität auch als dynamische, offene Form bezeichnet wird. Die Aushandlung der Ich-Identität ist eng mit sprachlichen Prozessen verbunden, denn mit der sprachlichen Tätigkeit wird Ich-Identität im interpersonalen, kommunikativen Austausch als soziale Identität ausgehandelt und ausgedrückt sowie im intrapsychi‐ schen sprachlichen Aushandlungsprozess als persönliche Identität reflektiert. Mit dem zentralen Mittel der sprachlichen Tätigkeit als Schnittstelle zwischen außen und innen wird sowohl die soziologische als auch die psychologische Dimension bei der Betrachtung von Ich-Identität berücksichtigt. Ich-Identität konstruiert sich damit im Zwischen - an der Schnittstelle von außen und innen. Der enge Zusammenhang zwischen sprachlicher Tätigkeit und Ich-Identität besteht deshalb, weil der Bewusst‐ seinsbegriff im kulturhistorischen Paradigma, wie alle höheren psychischen Prozesse, eng an die sprachliche Tätigkeit gebunden ist (Vygotskij 1931/ 1987). Die sprachliche Ausformung der Ich-Identität wird in den Kapiteln-6 und-7 vertieft. Aus kulturhistorischer Perspektive resultiert die Ich-Identität aus einer Bewe‐ gung, die aus der Tätigkeit in sozialen Beziehungen und sozialen Praktiken ent‐ steht und individuell geformt wird. Die Ich-Identität hängt eng mit der sprachlichen Tätigkeit zusammen, die das zentrale Mittel ist, um sowohl kommunikativ als auch kognitiv Ich-Identität auszuhandeln. Es handelt sich bei der Ich-Identität um eine dynamische, offene Form. Wo gibt es Ihrer Meinung nach Grenzen der theoretischen Konstruktion von Identität als Bewegung? 54 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="56"?> In Tabelle 1 sind pointiert die Aspekte der modernen und der postmodernen Iden‐ titätstheorie zusammengefasst. Überlegen Sie, welche Auffassung Ihnen persönlich näherliegt, und versuchen Sie, Ihre Auffassung zu begründen. Identitätsdimensionen der Moderne Identitätsdimensionen der Postmoderne Subjekt Quasi-Subjekt Identität Patchwork-Identität singuläre Identität plurale Identität traditionell enttraditionalisiert Rollenannahme Rollenreflexion Normen und Werte bewahren Normen und Werte entwickeln Tabelle 1: Moderne und Postmoderne pointiert gegenübergestellt ▢ Welche Ausgangspunkte sind für das Verständnis von Identitätskonzepten zen‐ tral? Das Verständnis für Identitätskonzepte wird durch die Berücksichtigung gesellschaftspolitischer Konstellationen beeinflusst, d. h., die jeweiligen normativen gesellschaftlichen Erwartungen haben einen Einfluss auf die Be‐ schreibung der Identität. Ansätzen der Moderne liegen traditionelle Rollen‐ bilder zugrunde und unter Identität wird eine geschlossene Form verstanden. In Ansätzen der Postmoderne wird dagegen von einer pluralen Identität ausgegangen, die mit einem völlig anderen Verständnis als in der Moderne Rollen reflektiert. ▢ Inwiefern unterscheiden sich Auffassungen von Identität hinsichtlich Kontinuität, Balance, Kohärenz und Bewegung? Identität kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden (Abbil‐ dung 8): Identität als Kontinuität (a) fokussiert auf das zeitliche Kriterium der Identitätsentwicklung und die Konstanz eines Kernselbst. Die Balance der Identität (b) befasst sich mit der Aushandlung von persönlicher und sozialer Identität, d. h., es geht um die Vereinbarung sowohl der psychischen Einzigartigkeit als auch der sozialen Rollenerwartung. Identität als Kohärenz (c) ist Thema der Postmoderne und bezieht sich auf die Defrakturierung von Identität entsprechend den verschiedenen Rollen und der Herstellung eines 3.4 Identität als Bewegung 55 <?page no="57"?> Kohärenzgefühls. Identität als Bewegung (d) betont als eigenes Moment der Identität den lebenslangen Aushandlungsprozess von Identität. Die Bewegung der Identitätsentwicklung spielt sich im Zwischen ab, d. h. im Wechselspiel zwischen innerlichen und äußerlichen Prozessen. Die Identität entsteht somit aus der Interaktion zwischen dem Selbst und dem anderen, sie ist gleicherma‐ ßen ein psychologisches und ein soziales Konstrukt. a - Kontinuität c - Kohärenz b - Balance d - Bewegung Abbildung 8: Identitätsmodelle a-d ▢ Wo findet sich Sprache in den Identitätskonzepten? Traditionell ist die Sprache in der Psychoanalyse verankert und auch einzelne Identitätstheorien weisen auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Identität hin: Mead (1934/ 1968) betont die Sprache als Mittel der Interaktion zur Herausbildung von Identität. Goffman (1975, 2008) versteht die Sprache als Indikator für die soziale Dimension und betont das Soziale zur Herausbildung der Identität. Krappmann (1971, 2000) knüpft an Goffman an, auch für ihn ist die Sprache ein zentraler Aspekt zur Herausbildung von Ich-Identität. Ebenso betrachten Keupp et al. (1999) die Selbstnarrationen als wesentlich für die Identitätskonstruktion. Jörissen, Benjamin & Zirfas, Jörg (2010). Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Leont’ev, Aleksej N. (1977/ 2012). Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Berlin: lehmanns media. 56 3 Theoretische Annäherungen an das Konzept Identität <?page no="58"?> Vygotskij, Lev S. [Wygotski, Lev S.] (1987). Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. In Joachim Lompscher (Hrsg.), Lew Wygotski. Ausgewählte Schriften. Bd.-2. Köln: Pahl-Rugenstein. Babys. Thomas Balmès (Regie, 2010), Frankreich. Ein französischer Dokumentarfilm, in dem vier Säuglinge im ersten Jahr begleitet werden. Es handelt sich um Babys aus Namibia, der Mongolei, Japan und den USA. Ohne Worte zeigt der Film einen Einblick in die Vielfältigkeit von Kulturen als Voraussetzung von Identitätsentwicklungen. Schachnovelle. Philipp Stölzl (Regie, 2021), Deutschland und Österreich. Die Neuverfilmung der gleichnamigen Novelle von Stefan Zweig legt den Hauptaspekt auf die psychologi‐ sche Zerrüttung des Protagonisten und zeigt diese Veränderungen der Identität durch Isolationshaft als äußeren Einfluss in einer Intensität, dass sogar für den Zuschauer Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. 3.4 Identität als Bewegung 57 <?page no="60"?> 4 Soziale Identität Die soziale Identität ist Mittelpunkt dieses Kapitels und fokussiert die sozialen Einflussgrößen auf die Ausbildung der Ich-Identität, insbesondere die Frage, welche Rolle dem Aspekt der Gruppenzugehörigkeit zukommt. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Inwiefern ist Identität sozial? ▢ Welche Rolle nimmt die Sprache in Gruppen ein? ▢ Welche Beispiele gibt es für die Darstellung sozialer Identität mit sprachlichen Mitteln? Die soziale Identität bildet mit der persönlichen Identität die Ich-Identität (s. Kapitel 3), wobei die soziale Identität die sozialen Einflussgrößen betont, die an der Herausbildung der Ich-Identität beteiligt sind. Es wird grundsätzlich angenommen, dass die Sozialität und damit interpsychische Prozesse in Gruppen notwendig sind, damit sich überhaupt eine Identität herausbilden kann (Abbildung 9). Abbildung 9: Soziale Identität als interpsychischer Aushandlungsprozess in Gruppen Auf die zentrale Rolle der Interaktion in Gruppen für die Identitätsbildung weist bereits Mead (1934/ 1968, S.-207) hin. Er schreibt dazu: Der Prozeß, aus dem heraus sich Identität entwickelt, ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der die gegenseitige Beeinflussung der Mitglieder der Gruppe, also das vorherige Bestehen der Gruppe selbst voraussetzt. Zur sozialen Identität gehört grundsätzlich die Wahrnehmung des Individuums, zu einer bestimmten Gruppe zu gehören (Fischer et al. 2018). Angenommen wird, dass eine Gruppe bereits ab zwei Personen besteht und dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu den elementaren Grundbedürfnissen von Individuen zählt (Nijstad/ Van Knippen‐ <?page no="61"?> berg 2014). Für die Wahrnehmung einer Gruppenzugehörigkeit sind u. a. Vergleiche mit anderen relevant, sodass gleichzeitig Ähnlichkeiten zu Gruppen festgestellt und individuelle Merkmale wahrgenommen werden (Festinger 1954). Folglich beinhaltet die sich aus dem Sozialen herausbildende Identität sowohl Merkmale im Sinne einer Gruppenzugehörigkeit als auch die Identifikation individueller Merkmale. Eine grund‐ sätzliche Frage ist, wie soziale Beziehungen in Gruppen in psychische Funktionen des Individuums umgewandelt werden (Keiler 2015, Werani 2011), d. h., es ist zu klären, wie sich soziale Einflüsse und soziale Identitäten von Gruppen auf den Einzelnen auswirken. Für die Herausbildung der sozialen Identität spielen affektive, soziale und kognitive Aspekte sowie die sprachliche Tätigkeit eine zentrale Rolle (Eßer 1983, Bruner 2002, Vygotskij 1934/ 2002). Insbesondere die sprachliche Tätigkeit als vermittelndes Medium zwischen Individuen wirkt über kommunikative Prozesse auf Gruppenbildungen ein. Die kommunikative Funktion der Sprache ist folglich ein zentrales Mittel, wie über interpsychische Aushandlungsprozesse soziale Identität gebildet wird. Da sprachliche Tätigkeit nicht nur ein Mittel ist, auf andere einzuwirken, sondern auch auf sich selbst, stellt sie ein Bindeglied zwischen sozialen und psychologischen Prozessen dar (Bachtin 1979). Sprachliche Mittel verweisen damit gleichzeitig sowohl auf Aspekte der Gruppenzugehörigkeit als auch individuelle Aspekte. Im Folgenden werden zunächst Ausgangspunkte sozialer Identität aufgezeigt und dann wird darauf eingegangen, wie je nach Gruppe unterschiedliche sprachliche Stile entwickelt werden, um Zugehörigkeit zu kennzeichnen. Diese Tatsache wird anschließend an Beispielen illustriert. Der Blick auf die soziale Identität fokussiert den Einfluss verschiedener sozialer Gruppen auf die Herausbildung von Ich-Identität. Sprachliche Tätigkeit spielt insbesondere in ihrer kommunikativen Funktion, also der interpsychischen Aus‐ handlung, eine Rolle für die Bildung sozialer Identität. 4.1 Ausgangspunkte der sozialen Identität In sozialen Identitätstheorien wird häufig die Metapher eines Netzwerks verwendet, womit die dynamische Modellierung sozialer Identität betont wird (White 1992). Individuen werden als Knotenpunkte solch eines Interaktionsnetzwerks dargestellt, sie können über Relationen mit mehreren sozialen Gruppierungen in Verbindung stehen und prozesshaft ihre Identität aushandeln (Neuland/ Schlobinski 2018). Zu den Aushandlungsprozessen gehören auch sprachliche Prozesse, sodass punktuell soziale Gruppen auch hinsichtlich ihres Sprachgebrauchs untersucht werden können. Netzwerke können sich verändern, indem Beziehungen dazukommen oder aufgelöst 60 4 Soziale Identität <?page no="62"?> werden, und je nachdem, wie sich diese Netzwerke verändern, verändert sich auch das Individuum (Mies 2014). In der Sozialpsychologie werden genau diese Interaktionen zwischen Individuen betrachtet und der Einfluss von Gruppen auf das Individuum daraus abgeleitet (Fischer et al. 2018). Als Beispiele möglicher Ausgangspunkte der sozialen Identität wird im Folgenden auf die soziale Identitätstheorie, die Selbstkate‐ gorisierungstheorie und auf Selbstkonzepte eingegangen. Die soziale Identitätstheorie geht auf Tajfel (1982, S. 102) zurück, der „soziale Identität als den Teil des Selbstkonzepts eines Individuums [ansieht], der sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, mit der diese Mitgliedschaft besetzt ist“. Das Individuum weiß also, dass es zu einer bestimmten Gruppe gehört, hat einen emotionalen Bezug zu dieser Gruppe und kennt ihren Status. Tajfel und Turner (1986) gehen davon aus, dass sich die Identität auf einem Kontinuum bewegt, und diese Wahrnehmung des Individuums der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bildet den Pol der sozialen Identität. Es erfolgt eine Differenzierung zwischen einem Wir und die anderen, d. h. zwischen verschiedenen Gruppen. Den anderen Pol bildet die persönliche Identität, die in Form eines Selbstkonzeptes das Wissen bündelt, das eine Person über sich selbst hat. An diesem Pol findet eine Differenzierung zwischen dem Ich und dem Du statt, d. h. zwischen einzelnen Individuen. Die Identität bildet sich nach Tajfel und Turner aus der Identifizierung mit Gruppen heraus, sodass die Gruppenzugehörigkeit wesentlich für die Ausbildung des Selbstkon‐ zeptes ist. Fischer et al. (2018) beschreiben in diesem Zusammenhang den Wir-Modus, der für eine hohe soziale Identität steht, d. h., die wahrgenommene, eigene Gruppen‐ zugehörigkeit ist hoch und die Gruppe wird als sehr homogen wahrgenommen. Es genügen zudem wenige Merkmale, um ein Individuum einer Gruppe zuzuordnen, die Handlung des Individuums wird dann sogleich der gesamten Gruppe zugeschrieben. Gleichzeitig rückt die Individualität in den Hintergrund, sodass die persönliche Identi‐ tät und die damit verbundenen individuellen Persönlichkeitseigenschaften (Ich-Modus) an Einfluss verlieren. „In diesem Sinne schließt die soziale Identität die personale Identität aus“ (Fischer et al. 2018, S. 145). Als Angehöriger einer Gruppe ist es demnach nicht möglich, gleichzeitig im Ich- und Wir-Modus zu sein. Tajfel und Turner stellen selbst keine Bezüge zur Sprache her, obwohl es offensicht‐ liche Anknüpfungspunkte gibt. Kresic (2006) weist darauf hin, dass die zentralen Konzepte von Tajfel und Turner, also soziale Kategorisierung, soziale Identität, so‐ zialer Vergleich und soziale Distinktheit, allesamt sprachliche Prozesse beschreiben. Insbesondere die soziale Identität wird auch über die Sprechweisen geteilt, wie in der Jugendsprache oder in Dialekten. Kresic hebt dazu hervor: „Anders zu sprechen bedeutet gemeinhin auch anders zu sein, einer anderen sozialen, regionalen oder national-ethnischen Gruppe anzugehören“ (op. cit., S. 103). Deutlich wird, dass die sprachliche Aushandlung der sozialen Identität im jeweiligen Kontext sowohl den dynamischen Aspekt der Identität als auch den dynamischen und gegenstandskons‐ tituierenden Aspekt der sprachlichen Tätigkeit unterstreicht. Es wird akzentuiert, 4.1 Ausgangspunkte der sozialen Identität 61 <?page no="63"?> dass es sich bei der sozialen Identität und der entsprechenden Sprechweise nicht um fixe, sondern um dynamische Gebilde handelt. Diese dynamischen Wechsel sind auch deshalb notwendig, weil sie soziale Mobilität ermöglichen, d. h., es ist damit realisierbar, Teil verschiedener sozialer Gruppen zu sein und zwischen diesen zu wechseln. Die soziale Identitätstheorie befasst sich mit dem Wissen über eine Gruppenzu‐ gehörigkeit durch die Differenzierung zwischen einem Wir und die anderen. Diese Differenzierung beinhaltet Bewertungen der Gruppen und emotionale Bedeutun‐ gen. Der Frage, wie Individuen überhaupt Teil einer Gruppe werden, wird in der Selbst‐ kategorisierungstheorie nachgegangen (Fischer et al. 2018). Diese Theorie stellt eine Weiterentwicklung der Theorie der sozialen Identität dar, indem sie psychologische Prozesse bei der Ausbildung von sozialer Identität stärker berücksichtigt. Die Selbst‐ kategorisierung setzt voraus, dass zunächst Gruppenkategorien mit Gruppennormen wahrgenommen werden müssen, um sich diesen zugehörig fühlen zu können (oder nicht). Bei der Zuordnung zu einer Gruppe, und damit der Verstärkung der sozialen Identität, findet gleichzeitig eine Depersonalisierung statt. Mit Depersonalisierung ist gemeint, dass die Individualität in der Gruppe verschwindet und dem Individuum stattdessen Merkmale der Gruppe zugeschrieben werden, d. h., das Individuum wird ein (austauschbarer) Teil einer Gruppe. In der Regel werden auf alle Gruppenmitglieder dieselben Merkmale übertragen, was zu Stereotypenbildung und auch Diskriminierung führen kann (Fischer et al. 2018). Die Selbstkategorisierungstheorie befasst sich damit, wie Individuen Teil einer Gruppe werden, und thematisiert die Depersonalisierung als Voraussetzung, um Teil einer Gruppe zu werden. Aus mentalen Wissensstrukturen, die ein Individuum von sich selbst hat (Mummendey 1995, 2006), entstehen Selbstkonzepte. Aufgrund der kulturellen Einbettung von Indivi‐ duen enthalten diese Selbstkonzepte auch kulturelle Aspekte, zu denen beispielsweise auch Gesellschaftsformen gehören. Die Gesellschaftsformen werden relativ grob in westliche und östliche unterteilt. Westlichen Kulturen wird zugeschrieben, dass sie eher abstrakt orientiert sind, dass effizientes Handeln erwartet wird und dass die Selbstverwirklichung der eigenen Person im Mittelpunkt steht. Östliche Kulturen stehen für Werte, die auf soziale Beziehungen ausgerichtet sind, und es ist wichtig, zum Wohle der Gruppe zu handeln (Heringer 2017, Hofstede 1983). Die Selbstkonzepte, die daraus resultieren, können in ein vom sozialen Kontext unabhängiges und ein 62 4 Soziale Identität <?page no="64"?> abhängiges Selbst unterteilt werden (Markus/ Kitayama 1991). Ein unabhängiges Selbst (Abbildung 10) hat Kernkonzepte derart verinnerlicht, dass sie leicht zugänglich und kommunizierbar sind. Die Einzigartigkeit des Individuums wird dadurch betont, dass dem Individuum Eigenschaften und Fähigkeiten zugerechnet werden. Ein abhängiges Selbstkonzept (Abbildung 10) ist durch viele Schnittstellen mit anderen Individuen gekennzeichnet, d. h., das Individuum ist nicht ich-zentriert, sondern fokussiert auf Aspekte der anderen. Teil einer Gruppe zu sein, ist hier wesentlich offensichtlicher als bei einer unabhängigen Auffassung des Selbst bei einem Individuum. Abbildung 10: Unabhängiges Selbstkonzept (links), abhängiges Selbstkonzept (rechts) Denken Sie über die Entstehung von Selbstkonzepten nach und überlegen Sie ungeachtet der zugrunde liegenden Gesellschaftsform, ob ein unabhängiges Selbst‐ konzept überhaupt möglich ist. Solche westlichen und östlichen Kulturstandards spiegeln sich auch in Sprache. Meyer (2018) hat sich damit befasst und interkulturelle Profile zu folgenden Fragen erstellt: Wie wird kommuniziert (situativ unabhängig oder situativ abhängig)? Wie wird bewertet (direktes oder indirektes Feedback)? Wie ist der Führungsstil (egalitär oder hierarchisch)? Wie werden Entscheidungen gefällt (konsensorientiert oder hier‐ archisch bestimmt)? Worauf basiert Vertrauen (auf Fakten oder auf Beziehungen)? Wie ist das Konfliktverhalten (konfrontierend oder konfliktmeidend)? Wie werden Termine eingehalten (pünktlich oder zeitlich flexibel)? Wie ist die Argumentation, um zu überzeugen (spezifisch oder ganzheitlich)? Als Normen für den deutschen Kulturstandard zeigt sich, dass eher situativ unabhängig und direkt kommuniziert wird, dass Vertrauen eher sachorientiert basiert ist, dass Konflikte konfrontativ ausge‐ handelt werden und dass Pünktlichkeit wichtig ist. Kontrastiv dazu ist das japanische Kommunikationsverhalten stark situativ abhängig und eher indirekt, Konflikte werden konsensorientiert ausgetragen oder ganz vermieden. Es zeigt sich hier deutlich, dass die kommunikative Aushandlung von kulturellen Standards geprägt ist. 4.1 Ausgangspunkte der sozialen Identität 63 <?page no="65"?> Die Betrachtung der Selbstkonzepte schließt die grundsätzliche Einwirkung der Kultur mit ein. Unter Berücksichtigung westlicher und östlicher Gesellschaftsfor‐ men kann zwischen unabhängigen und abhängigen Selbstkonzepten unterschie‐ den werden. Diese Unterschiede zeigen sich u. a. in unterschiedlichen kommuni‐ kativen Stilen. 4.2 Sprachliche Stile in Gruppen Die Gruppenzugehörigkeit ist für die Ausbildung der sozialen Identität zentral und je nach Gruppe werden verschiedene sprachliche Stile benutzt. Es stellen sich Fragen dazu, wie sprachliche Interaktionen beschrieben werden können und wie sich über spezifische Interaktionsmuster kommunikative Stile in Gruppen ausbilden. Zur Beschreibung sprachlicher Interaktionen gibt es eine Fülle von Ansätzen, die sich mehr oder weniger mit dem sprachlichen Handeln auseinandersetzen (Auer 1999). Nach Auer besteht das Problem darin, dass unter linguistischer Pragmatik in der Regel Sprechaktlinguistik verstanden wird und damit eine umfassende Theorie, wie Sprache im sozialen System funktioniert, nach wie vor noch aussteht. Es fehlt eine dezidierte Auseinandersetzung mit der sprachlichen Tätigkeit zwischen Individuen, die eine Ableitung einer Interaktionssystematik über die Analyse tatsächlich geäußerter sprachlicher Stile ermöglicht. Es wird dennoch sowohl in der Varietätenlinguistik als auch in der Soziolinguistik versucht, spezifische sprachliche Interaktionsmuster zu klassifizieren, um Gruppensprachen als Soziolekte darzustellen (z. B. Dittmar 1997, Nabrings 1981). Den Klassifikationsversuchen liegt oftmals die linguistische Untertei‐ lung von Coseriu (2007) zugrunde, die das Sprachsystem in drei Typen unterscheidet: Die diatopische Varietät bezieht sich auf verschiedene Regionen und befasst sich mit Dialekten, die diastratische Varietät befasst sich mit verschiedenen soziokulturellen Sprachschichten bzw. gesellschaftlichen Gruppen, und die diaphasische Varietät bezieht sich auf die Sprachstile in verschiedenen Kommunikationssituationen. Problematisch ist an dieser Einteilung, dass sich die diaphasische Varietät auf allen Ebenen zeigt, da spezifische Kommunikationssituationen der Ausgangspunkt jeder sprachlich-interak‐ tiven Betrachtung sind. Mit der Grundannahme, dass alles Sprechen in sozialen intersubjektiven Kontexten vorkommt, wird in der Soziolinguistik das Interesse auf gruppenspezifische sprachliche Repertoires gerichtet. Es kommt zu einer Differenzierung zwischen den Begriffen Varietät und Stil. Die Betrachtung von Varietäten erfolgt systemorientiert und sieht die Berücksichtigung aller möglicher sprachlicher Variationen vor. Es wird hier versucht, ein System von sprachlichen Variabilitäten abzubilden, das abgelöst von Kommunikati‐ onssystemen ist. Stile werden dagegen sprecherorientiert betrachtet und es wird davon ausgegangen, dass sie nur prozesshaft in konkreten Situationen erfassbar sind. Es geht 64 4 Soziale Identität <?page no="66"?> beim Stil also darum, Formen und Funktionen sprachlicher Variabilität in spezifischen kommunikativen Kontexten zu beobachten. Damit steht die Betrachtung von Gruppen im Vordergrund (Androutsopoulos/ Spreckels 2010). Der Bezug zur Identität ist dann folgendermaßen: Die Relation zwischen Identität und Varietät wird eindimensional gesehen - jede Varietät „steht für“ eine soziale Identität, beispielsweise Jugendsprache für die Jugend, und ähnlich verhält es sich mit Männer-, Frauen-, Arbeitersprachen etc. Soziale Stilanalysen gehen hingegen von einem Verständnis von (sozialer) Identität aus, das pluralistisch, situativ flexibel und überlappend ist. Identitäten werden in erster Linie ethnografisch, innerhalb von Situationen und aus der Perspektive der Beteiligten festgestellt. (Androutsopoulos/ Spreckels 2010, S.-200-f.) Für den Zusammenhang von sprachlicher Tätigkeit und (sozialer) Identität rückt somit der Stilbegriff der interaktionalen Soziolinguistik in den Mittelpunkt. Damit ist der Begriff der Varietät jedoch nicht entkräftet, sondern weist in eine andere Richtung. Merkmale von Varietäten können nämlich als Eigenschaften von Stilen her‐ angezogen werden. Zu überlegen ist folglich, inwiefern sich Stile aus Variablenbündeln zusammenfassen lassen. Denn der eigene sprachliche Stil ist immer Einflüssen des jeweiligen Kontextes unterworfen und stellt gewissermaßen eine Zusammenstellung einzelner Varietäten dar, in welchen Region, Alter, Bildung oder soziale Zugehörigkeit erkannt und festgemacht werden können. Dabei ist zu beachten, dass es nicht die Varietäten sind, die den sozialen Identitäten 1: 1 zugeordnet werden können, sondern dass es sich um die komplexe Stilkategorie handelt, die vom Sprechenden ausgehend betrachtet wird (Androutsopoulos/ Spreckels 2010). Auf den individuellen Sprechstil wird in Kapitel 7 eingegangen. Sprachliche Interaktionen in Gruppen sind sehr variabel und können anhand von sprachlichen Stilen beschrieben werden. Sprachliche Stile können über Varie‐ tätenbündel erfasst werden. Keim/ Schütte (2002) beziehen den sprachlichen Stil auf verschiedene kommunikative Gruppen und fassen ein Konzept des kommunikativen Stils zusammen. Der kommu‐ nikative Stil markiert explizit die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, indem soziale Posi‐ tionierungen vorgenommen werden. Dadurch kennzeichnet der kommunikative Stil soziale und kulturelle Identität und erhält gesellschaftliche Relevanz. Kommunikative Stile sind dynamische Gebilde, die sich in sozialen Strukturen und vor allem im Rahmen der jeweiligen Kommunikationszusammenhänge entwickeln und zu Katego‐ rien zusammengefasst werden können. Für die Ausgestaltung kommunikativer Stile kommen mehrere Aspekt in Betracht, wie sprachliche Ressourcen (d. h. verschiedene Sprachen der Sprecher: innen), bestimmte Kommunikationsformen und Genres, rheto‐ 4.2 Sprachliche Stile in Gruppen 65 <?page no="67"?> rische Mittel, eine bevorzugte Sprachästhetik oder auch die Bevorzugung bestimmter Kleidung. Wie sich Gruppen konstituieren, ist vielfältig, sodass unzählige sprachliche Variationen beobachtet werden können. Bedeutsam ist die Wechselwirkung, denn kommunikative Stile entwickeln sich aus den sozialen Strukturen heraus und formen gleichzeitig die Kommunikation. Kommunikative Stile spielen eine wichtige Rolle beim Phänomen Ingroup und Outgroup, also der Zugehörigkeit zu einer Eigengruppe oder der Nichtzugehörigkeit zu einer Fremdgruppe. In der Postmoderne werden Individuen über verschiedene Rollen unterschiedli‐ chen Gruppen zugeordnet. Wo etablieren sich Ihrer Meinung nach relativ stabile Gruppenstrukturen, in denen sich spezifische kommunikative Stile herausbilden können? Die Komplexität sprachlicher Stile in Gruppen besteht darin, dass Individuen mehreren Gruppen angehören können und daher auch mehrere sprachliche Stile beherrschen (Neuland/ Schlobinski 2018). Außerdem gibt es nicht die Gruppensprache, wie beispiels‐ weise die Jugendsprache, sondern Jugendsprache weist bereits ein sehr heterogenes Spektrum auf, das vom Alter, der Herkunft, der Schicht oder der Bildung beeinflusst ist (Neuland 2018). Die über die sprachlichen Stile mitgeprägten sozialen Identitäten sind daher dynamisch zu konstruieren und beschreiben eine Bewegung zwischen den einzelnen Gruppen, Situationen und Rollen. Es ist somit eine herausfordernde Forschungsaufgabe, kommunikative Stile für Gruppen herauszuarbeiten. Kommunikative Stile kennzeichnen die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität In Bezug auf die sprachliche Tätigkeit ist von Interesse, in welchem Zusammenhang soziale Gruppen und sprachlicher Stil stehen. Daher wird im Folgenden anhand von fünf Beispielen die Rolle der sprachlichen Tätigkeit für die Identitätsbildung von Gruppen aufgezeigt. Beispiel 1: Sprachen und Dialekte als Kennzeichen nationaler, ethnischer und geografischer Identität Im ersten Beispiel geht es darum, inwiefern Einzelsprachen und Dialekte an der Bildung von Identität beteiligt sind. Die Nationalität eines Individuums ist eng mit der Sprache verknüpft, die das Individuum spricht, sodass bereits die Sprache an sich 66 4 Soziale Identität <?page no="68"?> ein Identitätsmerkmal darstellt; beispielsweise wird die deutsche Nationalität mit der deutschen Sprache verknüpft, mit Italienisch die italienische Nationalität. Die Sprache repräsentiert folglich die nationale Identität (Crystal 1995). Die nationale Identität spiegelt auch politische Aspekte in der Identität des Individuums wider und wird als Identitätsnachweis beispielsweise im Personalausweis vermerkt. Auch über den Akzent kann bei nicht muttersprachlichen Sprecher: innen die eigentliche Herkunft identifiziert werden, wenn der Akzent der Muttersprache auf die Fremdsprache übertragen wird. Über den Akzent können dann eine nationale oder ethnische Identität zugeordnet werden. Die ethnische Identität definiert sich durch die Gemeinschaft, in die Individuen durch ihre Vorfahren eingebunden sind. Auch wenn beispielsweise bei Italo-Amerikaner: innen nur noch geringe Italienischkenntnisse bestehen, wird dennoch die italienische Sprache als ein Merkmal ihrer ethnischen Identität betrachtet (Crystal 1995). Ethnische und nationale Identität müssen nicht übereinstimmen. So kann beispielsweise die ethnische Zugehörigkeit zu einer Minderheit die Identität stärker prägen als die nationale Identität des Landes, in welchem die Minderheit lebt. Dann kann es auch zu Konflikten kommen, welche der Sprachen die Ich-Identität stärker prägt. Der Übergang von ethnischer zu nationaler Identität wird deutlich, wenn sich eine ethnische Gruppe ihrer ethnischen Eigenständigkeit bewusst wird und der Wunsch entsteht, diese Eigenständigkeit durch politische Anerkennung und Autonomie zu festigen. Im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung wurde disku‐ tiert, ethnische Identität sprachlich zu markieren. Ähnlich der Genderdebatte und der damit einhergehenden sprachlichen Markierung maskuliner und femininer Formen, wie Dozent: innen, Künstler*innen, BäckerInnen (s. Kapitel 11), wird auch in Bezug auf Rassismus überlegt, ob eine veränderte Schreibweise ein anderes Bewusstsein für diese Problematik eröffnen kann. Marc Lacey begründete den journalistischen Versuch, das B in black großzuschreiben, um an die Geschichte von Rassismus und Widerstand zu erinnern. Es wird davon ausgegangen, dass der veränderte Sprachgebrauch die Weltsicht verändern kann. Denken Sie darüber nach, wie die Wortwahl geändert werden könnte, wenn der Ethnie-Aspekt alltagssprachlich markiert werden soll. Welche Ideen haben Sie grundsätzlich, um Gleichberechtigung als Normalität sprachlich zu markieren? Regionale Dialekte stellen ein Merkmal der geografischen Identität dar, da sie auf eine Gruppenzugehörigkeit geografischer Herkunft hinweisen, obwohl auf dasselbe Schriftsprachsystem referiert wird (Crystal 1995). Dialektale Färbungen der Ausspra‐ che, ein eigener Wortschatz und grammatische Eigenheiten geben zum Teil eindeutige Anhaltspunkte darüber, woher ein Individuum stammt. Wird beispielsweise nach der Bezeichnung für kleine längliche Weizenbrote gefragt, so findet sich im Norden Deutschlands die Bezeichnung Brötchen, im Südwesten Weck(er)le und im Südosten 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität 67 <?page no="69"?> Semmel (König/ Elspaß/ Möller 2015). So kann über den dialektalen Wortschatz der Sprecher: innen die geografische Herkunft identifiziert werden (s. Infobox). Dialektologie Die Dialektologie gehört zu den Sprachwissenschaften und befasst sich mit der systematischen Erforschung regionaler Dialekte, indem auch soziale Faktoren wie Alter, Geschlecht und Ethnizität berücksichtigt werden (Crystal 1995). Die sprachlichen Variationen werden also sowohl unter geografischen als auch so‐ zialen Gesichtspunkten untersucht, wobei in der modernen Dialektologie der sozioökonomische Status einen großen Stellenwert einnimmt. In Sprachatlanten werden Verteilungen dialektaler Formen erfasst. Anhand sogenannter Isoglossen werden Grenzlinien zwischen verschiedenen Dialekten definiert. Zentrale Dia‐ lektgebiete, also homogene sprachliche Gebiete, haben wenige Isoglossen, viele Isoglossen weisen auf Übergangszonen mit größeren sprachlichen Variationen hin. Ein Beispiel ist der rheinische Fächer, der ein Kontinuum von Übergängen von Niederdeutsch zu Hochdeutsch beschreibt. Mit Sprachatlanten wird versucht, auch Mundart anhand einer Sprachgeografie zu verorten (König/ Elspaß/ Möller 2015). Auch in der aktuellen Dialektforschung werden mit der Dialektlexikografie Dialekte des Deutschen gesammelt und in Dialektwörterbüchern dargestellt (Lenz/ Stöckle 2021). Der Dialekt erzeugt Zugehörigkeit zu einer Gruppe und steht zudem für Heimat- und Traditionsverbundenheit. Neben der Sprache sind es auch örtliche Faktoren, die eine Gruppe bezüglich ihrer Herkunft definieren, wie Landschaft, Wetter, Musik und Kultur, Speisen und Ökonomie, sodass ein Dialekt die regionale Herkunft in einer kulturellen Gesamtheit umfasst. Mit den sprachlichen Markern des Dialekt-Sprechens gehen oftmals auch Statusaspekte einher, denn eine dem Standarddeutschen ähnlicher klingende Aussprache wird in der Regel als statushöher eingestuft als das Dialektsprechen. Dialekte unter‐ einander sind unterschiedlich beliebt, so werden beispielsweise Norddeutsch und Bayerisch als sympathischer bewertet als Sächsisch (Adler/ Plewnia 2020). Allen Dia‐ lekten im Deutschen liegt dieselbe Schriftsprache zugrunde, die den Referenzpunkt für die Standardaussprache darstellt (Crystal 1995). Die gesprochene Sprache verweist auf die nationale und ethnische Identität. Dialekte verweisen auf die geografische Identität. Versuchen Sie, die Zusammenhänge von nationaler, ethnischer und geografischer Identität grafisch in einem Modell darzustellen. 68 4 Soziale Identität <?page no="70"?> Beispiel 2: Soziolekte sozialer Schichten Das zweite Beispiel befasst sich mit Soziolekten, also dem Zusammenhang zwischen sprachlichen Merkmalen und der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht. Zu den Wegbereitern der Untersuchungen von Soziolekten zählt Bernstein (2004), der sich in den 1950er-Jahren mit der Frage auseinandersetzte, ob Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten auch unterschiedliche Fähigkeiten im sprachlichen Umgang zeigen. Er beschrieb den restringierten und den elaborierten Code und ordnete diese Codes der Unterschicht und der Oberschicht zu. Der restringierte Code, der auch als Unterschichtssoziolekt bezeichnet wird, ist gekennzeichnet durch kurze, grammatisch einfache und zum Teil unvollständige Sätze, außerdem ist der Wortschatz kleiner. Der elaborierte Code, der als Mittelschichtsbzw. Oberschichtssoziolekt bezeichnet wird, weist dagegen Ausführlichkeit und Detailtreue auf, außerdem ist er durch den häufigen Gebrauch von Fach- und Fremdwörtern gekennzeichnet. Eine ebenfalls in den 1950er-Jahren durchgeführte Studie zum Zusammenhang von Sprache und Schichtzugehörigkeit im Englischen (Ross 1954) führte zur Einführung der Begriffe U für „zur Oberschicht gehörend“ und Non-U für „zu anderen Schichten gehörend“. Untersucht wurden sprachliche Unterschiede und Besonderheiten in Aussprache, Wortschatz und Konventionen. Einige Beispiele finden sich in Tabelle 2 (zitiert nach Crystal 1995, S.-39). U Non-U have a bath take a bath ein Bad nehmen riding horse riding reiten sick ill krank looking-glass mirror Spiegel pudding sweet Nachspeise Tabelle 2: Wortpaare für U und Non-U im Englischen Den beiden Untersuchungen aus den 1950er-Jahren liegt das traditionelle Modell der sozialen Schichten zugrunde, d.-h., es werden pro Schicht eine Gruppe von Menschen mit ähnlichen sozialen oder wirtschaftlichen Merkmalen zusammengefasst (Geißler 2014, Pollak 2016). Die Sozialstruktur eines Landes zu beschreiben, ist die Aufgabe der Soziologie und nach wie vor nicht gelöst, da Gesellschaften komplex sind (Geißler 2014). In vielen Ländern erfolgt eine Anordnung von Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht. Auch das Kastensystem, das sich in Indien, Sri Lanka, Bali und Mada‐ gaskar findet, sieht klare Abgrenzungen von sozialen Gruppen vor. Schichtmodelle betonen genau diese vertikale Betrachtung von sozialen Strukturen und es fehlen dadurch Aspekte, die nicht nur die ökonomische Sicht wie das Einkommen, sondern 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität 69 <?page no="71"?> den gesamten sozioökonomischen Status berücksichtigen (s. dazu ausführlich Geißler 2014). Zu den neueren Ansätzen der Sozialstrukturanalyse zählt die Milieuforschung, die seit den 1980er-Jahren entwickelt wird. Die Sinus-Milieus finden vor allem in der kommerziellen Markt- und Wahlforschung Anwendung und basieren auf empiri‐ schen Untersuchungen (Geißler 2014). Das Sinus-Institut fasst mit Milieus Individuen zusammen, die ähnliche Lebensauffassungen und Lebensweisen haben, sie bilden also subkulturelle Einheiten ab (Geißler 2014, Barth/ Flaig/ Schäuble 2018). Über einen Fragebogen gehen Aspekte wie Werteorientierung, Lebensziele, Einstellung zu Arbeit, Freizeit und Konsum, Familie und Partnerschaft sowie politische Überzeugung in die Zuordnung zu einem Milieu mit ein. Abgebildet werden zehn Milieus anhand der Achsen soziale Lage und Grundorientierung. Zu den drei sozialen Lagen zählen die Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht, zu den Grundorientierungen gehören Tradition, Modernisierung/ Individualisierung und Neuorientierung. Im Folgenden werden die Bezeichnungen der Milieus pro soziale Lage genannt und jeweils ein Beispiel pro Lage exemplarisch beschrieben (Geißler 2014, S.-116). ▶ Zu den sozial gehobenen Milieus zählen Konservativ-Etablierte, Liberal-Intellektu‐ elle, Performer und Expeditive. Bei den Liberal-Intellektuellen handelt es sich z. B. um die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung. Wesentlich ist der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben, das durch vielfältige intellektuelle Interessen gekennzeichnet ist. ▶ Milieus der Mitte umfassen die Bürgerliche Mitte, Adaptiv-Pragmatische und Sozialökologische. Die Bürgerliche Mitte umfasst z. B. leistungs- und anpassungs‐ bereite Individuen, die grundsätzlich die gesellschaftliche Ordnung akzeptieren. Der zentrale Wunsch besteht in beruflicher und sozialer Etablierung, verbunden mit sicheren und harmonischen Lebensverhältnissen. ▶ Die Milieus der unteren Mitte / Unterschicht setzen sich aus den Gruppierungen Tra‐ ditionelle, Prekäre und Hedonisten zusammen. Ein Kennzeichen der Hedonisten ist z. B. die Spaß- und Erlebnisorientierung im Hier und Jetzt. Normative Erwartungen der Leistungsgesellschaft, wie Konventionen und Verhaltenserwartungen, werden verweigert. An der Einteilung der Gesellschaftsstruktur in Milieus kann gezeigt werden, wie kom‐ plex es ist, Gruppen zu definieren. In der praktischen Anwendung der Sinus-Milieus wird Sprache dahingehend betrachtet, wie einzelne Gruppierungen dieser Milieus angesprochen werden sollen, um beispielsweise potenzielle Käufer: innen zu identifi‐ zieren (Flaig/ Barth 2018). Die Beantwortung der Frage, ob den einzelnen Milieus spezifische sprachliche Stile und folglich soziale Identitäten zugeordnet werden kön‐ nen, steht noch aus. 70 4 Soziale Identität <?page no="72"?> Der Begriff Soziolekt wird für den Sprachgebrauch verwendet, der in Zusammen‐ hang mit der gesellschaftlichen Sozialstruktur steht. Über den Soziolekt wird die gesellschaftliche Stellung abgeleitet und es werden damit Aspekte der sozialen Identität assoziiert. Kann es gelingen, den zehn Sinus-Milieus relativ eindeutige sprachliche Stile zu‐ zuordnen? Skizzieren Sie in einem Untersuchungsdesign, wie Sie diese Zuordnung untersuchen würden. Beispiel 3: Register in spezifischen Situationen Der Begriff sprachliche Register ist Thema dieses dritten Beispiels und er wird seit Halliday (1978) für bestimmte Formen des Sprachgebrauchs in Verbindung mit ver‐ schiedenen Rollen und dem gesellschaftlichen Status verwendet. So ist im Sprachge‐ brauch nicht nur relevant, wer mit wem spricht, sondern vor allem auch, in welchem sozialen Kontext sich die Interaktionspartner: innen befinden und welche Funktion erfüllt werden soll. Das Individuum passt den Sprachgebrauch je nach situativem Kontext und je nach Funktion an. Hieraus entstehen spezifische sprachliche Register und es zeigt sich soziale Identität. Soziale Situationen sind immer mit bestimmten sozialen Rollen verbunden, an welche wiederum soziale (normative) Erwartungen gestellt werden. Je nach Rolle und Status werden sich Interaktionspartner: innen anders identifizieren und unterschiedliche Fa‐ cetten ihrer Identität zeigen. Auch die Themenwahl ist von dieser Situierung betroffen, da nicht in allen Rollen über alle Themen gesprochen wird bzw. die normativen Erwartungen derart sind, dass bestimmte Themen ausgespart werden. Das heißt folglich, dass von einem sprachlichen Register gesprochen wird, wenn Sprache in einer spezifischen Situation mit bestimmten Personen in zugeschriebenen Rollen gebraucht wird. Zum Beispiel nimmt eine Frau, die als Ärztin arbeitet, eine Tochter hat, gerne einkaufen geht und Volleyball spielt, verschiedene Rollen ein, je nachdem, in welcher Situation sie sich befindet. Sie wird im Ärztin-Patient-Gespräch anders sprechen als mit ihrer Tochter und wieder anders, wenn sie die Rolle der Käuferin einnimmt oder als Spielerin von ihrem Trainer Anweisungen entgegennimmt. Die sprachlichen normativen Erwartungen sehen vor, dass sie sich in der Rolle der Ärztin professionell ihrem Patienten zuwendet und nicht mit ihm die Erziehungsprobleme mit ihrer Tochter bespricht. Weder mit dem Patienten noch dem Verkäufer wäre es passend zu besprechen, dass sie mit der Mannschaftaufstellung des Trainers nicht einverstanden ist. In den anderen Rollen sieht die normative Schweigepflicht vor, dass sie als Ärztin in keinem der anderen Kontexte über ihre Patient: innen sprechen darf. 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität 71 <?page no="73"?> Mit den jeweiligen Rollen ist ein Status verknüpft, den eine Person innehat (Crystal 1995). Unter Status versteht Crystal die Position, die eine Person im Sozialgefüge einer Gemeinschaft einnimmt und die durch ein Machtgefälle gekennzeichnet ist. Minderheitengruppen wird beispielsweise ein niedriger Status zugeschrieben. Einen hohen Status haben weltliche und geistliche Herrscher: innen, wie Führungskräfte, Priester oder König: innen. Gesellschaftlicher Rang wird des Weiteren über Titel oder Ämter zugesprochen und gesellschaftlich auch mit Statussymbolen markiert. Innerhalb sozialer Gruppen kann eine soziometrische Struktur Aufschluss über den Status einzelner Gruppenmitglieder geben (Asendorpf 2019). Folglich werden auch allein durch den Status eines Individuums spezifische Rollen und gesellschaftliche Normen assoziiert. So wird, wie oben im Beispiel bereits angedeutet, einer Ärztin ein bestimmter Status zugeschrieben und von ihr eine gewisse Rolle erwartet. Angenommen wird weiter, dass den jeweiligen Status- und Rollenzuschreibungen sprachliche Merkmale zugeordnet werden können. In diesem Beispiel ist in der Rolle und im Status als Ärztin ein gewählter Wortschatz mit entsprechenden Fachwörtern erwünscht, während im Gespräch beim Einkauf eher ein umgangssprachlicher Wortschatz erwartet würde. Beispiele für spezifische sprachliche Register sind nach Ferguson (1977, 1981) der Baby Talk und der Foreigner Talk. Der Baby Talk, also das Gespräch zwischen Bezugsperson und Baby, erfüllt die Funktionen der gegenseitigen Verständigung, um den Spracher‐ werb zu ermöglichen und die emotionale Sozialisation zu unterstützen (Ferguson 1977). Der Foreigner Talk findet zwischen Muttersprachler: in und Nichtmuttersprachler: in statt und dient vor allem dazu, sich verständlich zu machen (Ferguson 1981). Die Register des Baby Talks und des Foreigner Talks stellen beide eine Sprachanpassung dar und haben vorrangig die Funktion der Verstehenssicherung, indem Wortschatz und Grammatikkenntnis angepasst werden. Die Anwendung des Registers bezieht sich auf die jeweilige soziale Situation, d. h., ein Baby Talk Register wird tatsächlich nur mit Babys gesprochen. Biber/ Conrad (2019) befassen sich mit den alltäglichen Registern und betonen auch hier die Aspekte Situation und Funktion. Sie gehen davon aus, dass die Konversation das grundlegendste Register menschlicher Sprache ist. Das Gespräch ist ein natürliches Element menschlichen Zusammenlebens, sodass es zum Spracherwerb gehört, dass Kinder auch erlernen, wie Gespräche geführt werden (s. Kapitel 9). Das Erzählenkön‐ nen spielt eine zentrale Rolle für die Identitätsbildung, worauf eigens in Kapitel 6 eingegangen wird, wenn die Identitätsdarstellung und Identitätsherstellung über Narrationen thematisiert wird. Biber/ Conrad weisen auf die Selbstverständlichkeit hin, wie alltägliche Register der Konversation gelernt und beherrscht werden. Andere Register zu erwerben, kann beschwerlicher sein, wie beispielsweise das Verfassen von Prosa oder von Rechtsgutachten. Auch wenn diese Beispiele ausgefallene schriftliche Register sind, sind auch Beispiele im Gesprochenen zu finden. So können politische Reden oder Nachrichten als spezifische Register wahrgenommen und verstanden, jedoch nicht unbedingt produziert werden. Verschiedene sprachliche Register bedienen 72 4 Soziale Identität <?page no="74"?> zu können, bedeutet, dass sich über die damit verbundenen Rollen soziale Identitäten herausbilden. Sprachliche Register sind Formen des Sprachgebrauchs, die mit der jeweiligen Situation und Person sowie deren Rolle und Status verknüpft sind. Sie verweisen auf die soziale Identität. Beispiel 4: Jugendsprache in der HipHop-Kultur Im vierten Beispiel wird ein Aspekt der Jugendsprache aufgezeigt. Die Jugendsprach‐ forschung blickt auf eine lebhafte Entwicklung zurück und die Idee einer homogenen Einheit von Jugendsprachen gilt inzwischen als aufgehoben (Neuland 2018), denn jede Jugendsprache hat ihre eigene Spezifik. Mit dem Fokus auf kommunikative Stile und Identitätsbildung bietet sich ein Blick auf die populäre Jugendkultur HipHop an. Die in den 1970er-Jahren im New Yorker Stadtteil South Bronx entstandene Subkultur erreicht in den 1990er-Jahren in Deutschland ihren Durchbruch (Zeise 2006). Die Vielfalt in der HipHop-Kultur zeigt sich in den vier Elementen Rap, DJ-ing, Breakdance und Graffiti (Androutsopoulos 2003a). Insbesondere der kommunikative Stil im HipHop, der auch in Foren oder Guestbooks gepflegt wird, wirkt sich auf Identifikationsprozesse aus (Zeise 2006). Ein zentrales Element im HipHop ist, selbst Akteur zu sein, d. h., HipHop wird als Kultur nicht konsumiert, sondern in den verschiedenen Ausdrucks‐ möglichkeiten produziert, sodass HipHop eine kulturelle Praxis darstellt. Mit der Aufforderung zum eigenen Ausdruck unterstützt HipHop die Selbstverwirklichung und die Identitätsbildung, wobei der Ausdruck des eigenen Lebensgefühls eine zentrale Rolle spielt (Zeise 2006). Obwohl sich die performativen Techniken der Rapmusik Außenstehenden (zumeist Eltern) nicht zwangsläufig erschließen, stellen sie für die Jugendkultur einen wichtigen kommunikativen und gruppenkonstituierenden Faktor dar. Es steht also der Prozess im Vordergrund, nicht zwingend ein Ergebnis (Frith 1996). Inwiefern die sprachlichen Inhalte in den Raptexten kommunikative und identi‐ tätskonstituierende Funktion haben, wurde schon vielfach untersucht (Androutsopou‐ los/ Scholz 2002). Es geht unter anderem um die Frage, ob es sich bei HipHop um ein Importphänomen handelt, also eine Imitation eines US-amerikanischen Vorbilds, oder ob davon auszugehen ist, dass es sich um ein Phänomen der Rekontextualisie‐ rung handelt. Rekontextualisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass zwar eine abstrakte HipHop-Auffassung übernommen wird, diese jedoch je nach Kultur unterschiedlich interpretiert und ausgedrückt wird. Androutsopoulos/ Scholz vergli‐ chen in ihrer Studie französische, italienische und deutsche Formen von Rap und konnten Unterschiede feststellen, sodass von einer Rekontextualisierung ausgegangen werden kann. An den Unterschieden ist bemerkenswert, dass in französischen Texten 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität 73 <?page no="75"?> Sozialkritik am häufigsten thematisiert wird, im Deutschen und Italienischen ist die Selbstrepräsentation am zentralsten. Zeise (2006) betont als herausragendes Merkmal der HipHop-Kultur ihre eigene Sprache, die verwendet wird, um eine Positionierung innerhalb der Kultur als eigene Gruppe zu signalisieren. Mit der Sprache wird in der HipHop-Kultur damit eine Ein- und Ausgrenzung der Gruppe erzeugt. Verstärkt wird die Gruppenzugehörigkeit dadurch, dass diese Sprache nicht nur für Raptexte verwendet wird, sondern ebenso im Alltag Anwendung findet. Wie die Gruppenzugehörigkeit erzeugt wird, wird über die Auseinandersetzung mit Primärtexten untersucht. Betrachtet werden vor allem Gattungskonventionen, die in vier Hauptdimensionen eingeteilt werden können. Mit dieser Einteilung werden die folgenden sprachlichen Analysekriterien angeboten (Androutsopoulos 2003b, S.-116-f.): ▶ Songthemen. Die Wahl der Themen kreist u. a. um „Selbstdarstellung, Szenediskurs, Sozialkritik, Nachdenklichkeit, Liebe/ Sex, Party/ Fun, Drogen“ (op.-cit., S.-116). ▶ Sprechhandlungen. Zur kulturellen Praxis des HipHops zählen ritualisierte Formen wie das „Boasting (Selbstlob) [und] Dissing (rituelle Herabsetzung)“ (op. cit., S. 116), die Sprechhandlungen darstellen. ▶ Rap-Rhetorik. Spezifische Stilmittel werden semantisch oder formal genutzt, um den ästhetischen Ausdruck zu verstärken. Beispiele für Stilmittel wären Metaphern und Metonymien oder auch Homophoniespiele und Vergleiche. ▶ Sprachliche Orientierung. Die Wahl der Ausgangsprache sowie die Verortung zwi‐ schen Standard und Nonstandard nimmt eine sprachliche Positionierung vor. Diese kann genauso über die Vermischung von Varietäten der Sprache und dialektalen Elementen erfolgen. Alle genannten Dimensionen eignen sich für eine sprachliche Analyse individueller sprachlicher Stile, sodass (biografische) Identitätsbildungsprozesse betrachtet werden können. Einen Bezug zwischen HipHop und Identität stellt Menrath (2003) heraus. In Analogie, dass es sich beim HipHop um eine kulturelle Praxis handelt, geht sie davon aus, dass jeder Identität ein performativer kultureller Prozess zugrunde liegt. Identität wird also durch die wiederholten Darstellungen jeweils aktualisiert und konstruiert. Die Auffassung der Identitätskonstruktion spiegelt eine Bewegung, wie das folgende Zitat verdeutlicht: Die Identität des einzelnen HipHoppers ist ein dynamischer Prozess, eine Abfolge von wiederholt dargebotenen künstlerischen Inszenierungen des persönlichen Styles. Der indivi‐ duelle Style macht den HipHopper zur Person innerhalb einer Gruppe. Jeder persönliche Style steht jedoch vor dem Hintergrund der Stile verschiedenster Epochen und unterschiedlichster HipHop-Künstler. Kreative HipHop-Akteure referieren auf die tradierten Styles und verleihen ihnen im Zitat neuen Flavour. (Menrath 2003, S.-218) Die HipHop-Kultur spiegelt das Ausbalancieren zwischen dem Einmaligsein in der Entwicklung des individuellen Stils (style) und gleichzeitig dem deutlichen Aufzeigen 74 4 Soziale Identität <?page no="76"?> der Gruppenzugehörigkeit, d. h., es zeigt sich eine ausbalancierende Bewegung zwi‐ schen persönlicher und sozialer Identität. „Die künstlerische Praxis kristallisiert die Persönlichkeit eines HipHoppers“ (op. cit., S. 218). Der individuelle Stil kann folglich als Werkzeug aufgefasst werden, um Identität zu konstruieren. Das Besondere ist die Bewegungsperspektive, wodurch versucht wird, starre Positionierungen aufzulösen oder gar nicht erst zu ermöglichen. Das Individuum und die Gruppe aktualisieren sich ständig durch die kulturelle Praxis und die damit verbundene Performativität. Es gibt in diesem Sinne kein fixiertes Innen und Außen, sondern ein stetiges Aushandeln von Gemeinschaftlichkeit, das sich gerade an den Grenzen verschiebt. Die Gruppenzuge‐ hörigkeit der HipHopper: innen resultiert also aus einer stetigen Auseinandersetzung mit der Welt. Menrath (2003) verweist in diesem Zusammenhang auf Touraine (1981), der sich mit sozialen Bewegungen auseinandergesetzt hat, und betont, dass „Bewegung das Herzstück sozialen Lebens“ ist (Menrath 2003, S. 233). Diese Sichtweise bestätigt die Annahme, den Kern sozialer Identität als Bewegung aufzufassen. Die Jugendkultur HipHop ist eine kulturelle Praxis, an der sich die ausbalancie‐ rende Bewegung zwischen persönlicher und sozialer Identität aufzeigen lässt. Mit der Betonung des Akteurs findet eine Bewegung zwischen der Entwicklung eines eigenen Stils und der Kennzeichnung der Gruppenzugehörigkeit statt. Die Sprache ist insbesondere in den Raptexten ein identitätsstiftendes Mittel. Beispiel 5: Sprachliche Tätigkeit in Verschwörungstheorien und bei Radikalisierungsprozessen Das fünfte Beispiel befasst sich damit, welche Rolle die sprachliche Tätigkeit bei der Erstellung und Aufrechterhaltung von Verschwörungstheorien spielt und wie sprachliche Tätigkeit auf Radikalisierungsprozesse einwirkt, d. h., wie soziale Identität in diesem Sinne gebildet wird. In beiden Fällen werden soziale Gruppen über eine spezifische Weltsicht formiert und in vielen Fällen wird die Weltsicht eines Individuums grundlegend verändert. Der Zusammenhang zwischen Individuum und Weltsicht konstituiert sich über das Sprechen und Denken (s. Kapitel 2). Sprechen und Denken hängen eng zusammen, sodass der Sprachstil einerseits Hinweise auf den Denkstil geben kann: Je nach sprachlichem Stil kann auf offene und komplexe oder geschlossene und eher reduzierte Denkstile geschlossen werden (Ertel 1972, Werani 2011). Anderer‐ seits wird mit der sprachlichen Tätigkeit die Weltsicht konstruiert. Es kann folglich davon ausgegangen werden, dass mit sprachlichen Mitteln auf das Denken und damit die Weltsicht eingewirkt werden kann. In Verschwörungstheorien werden Inhalte mit sprachlichen Mitteln glaubhaft gemacht und somit wird eine eigene Weltsicht generiert (Römer/ Stumpf 2018). Seidler (2016) geht mit Bezug auf Goffman (1980) davon aus, dass die Plausibilität 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität 75 <?page no="77"?> von Verschwörungserzählungen durch das sogenannte Framing erzeugt wird. Eine Ausgangserzählung im Sinne eines externen Plots, der sich auf Faken bezieht (Frame Fakten), wird in einen Rahmen der Verschwörungserzählung (Frame Verschwörung) gesetzt, d. h., die ursprünglichen Fakten erhalten dann eine Bedeutung innerhalb der Verschwörung. Dies führt dazu, dass eine eigene Erzählung mit falschen Bezügen auf die Tatsachen zu erfundenen Tatsachen, Lügen und/ oder eigenen Meinungen führen. Als Beispiel kann die Entstehung der Coronapandemie unter Bezug auf Fakten erzählt werden, indem nachgezeichnet wird, wo und wann sich die Pandemie entwickelt hat. In Bezug auf den Frame Verschwörung sind viele erfundene Tatsachen der Verursachung im Umlauf, wie die Entstehung der Pandemie interpretiert werden kann. Dies war bei der Erzählung um Bill Gates der Fall, weil er als Verursacher der Pandemie verunglimpft wurde (Römer 2021). Die Verschwörungserzählung wird folglich nicht in Relation auf die Fakten konstruiert, sondern in Relation auf falsch interpretierte Informationen. Eine weitere These ist, dass in Verschwörungstheorien Ängste aufgegriffen werden (Raab/ Carbon/ Muth 2017), womit dem Entstehen von Verschwörungstheorien auch ein emotionaler Aspekt zugeschrieben wird. Die Ängste sind vielfältig und betreffen „Big Pharma, Big Data und Big Government“ (op.-cit., S.-270). Von linguistischem Interesse ist, wie Verschwörungstheorien sprachlich konstruiert sind, damit sie glaubhaft werden. Neben dem Augenmerk auf die Argumentationstech‐ niken zeigen sich exemplarisch Hinweise, dass sich Verschwörungen in Wortwahl, Phrasemen und Topoi zeigen (Stumpf/ Römer 2018, Römer/ Stumpf 2022). Es ist aller‐ dings noch ein offener Forschungsbereich, ob sich Verschwörungstheorien anhand basislinguistischer Kriterien aufdecken lassen. Die Betrachtung der Argumentation, also wie Relationen zu Fakten oder zu Verschwörungen hergestellt werden, wurde schon näher untersucht, und es zeigt sich, dass bei einer Verschwörungstheorie in der Regel mit niedrigerem Abstraktionsniveau argumentiert wird, was die Plausibilität der Erzählung erhöht (Römer 2021). Verschwörungserzählungen werden wie alle anderen Erzählungen sprachlich ausgehandelt (Stumpf/ Römer 2018). Die sprachlichen Aushandlungen bei Verschwörungserzählungen sind jedoch größtenteils postfaktisch, d. h., in Verschwörungstheorien werden Tatsachen ignoriert sowie Lügen akzeptiert und verbreitet (Raab/ Carbon/ Muth 2017). Bis zu einem gewissen Grad paradox ist die Tatsache, dass Sprache der Konstruktion sozialer Wirklichkeit dient (Berger/ Luck‐ mann 1966) und dass es sich bei Verschwörungserzählungen (wie bei allen anderen Erzählungen auch) um konstruierte Realitäten handelt. Aus konstruktivistischer Sicht ist es schwierig, diese Realitäten abzuerkennen, da sich der Konstruktivismus auch mit der Frage beschäftigt, ob es unwirkliche Wirklichkeiten überhaupt geben kann (Anton 2011). Verschwörungstheorien sind folglich ebenfalls gesellschaftlich konstruierte Wissensbestände, die für wahr gehalten werden können (zumindest von Verschwö‐ rungstheoretiker: innen). Der Übergang von Verschwörungstheorien zur Radikalisierung ist sicherlich ein fließender, sodass in den Verschwörungstheorien auch eine Grundform von Radika‐ lisierung steckt. Eine Gemeinsamkeit ist darin zu sehen, dass Anhänger: innen von 76 4 Soziale Identität <?page no="78"?> Verschwörungstheorien und Individuen, die sich radikalisieren, argumentativ mit Tatsachen und Fakten nicht mehr erreichbar sind, sondern eine Plausibilität der Argu‐ mente ausreicht, auch wenn diese auf falschen Tatsachen, Lügen oder Einzelmeinungen basieren. Mit dem Blick auf die Argumentation zieht eine Radikalisierung der Sprache auch eine Radikalisierung des Denkens nach sich. Eine Analyse kommunikativer Praktiken religiöser Radikalisierung ergab beispielsweise, dass die Sprache und das Erzeugen eines Wir-Gefühls zentral im Radikalisierungsprozess sind (Hagmann/ Kot‐ thoff/ Liebert/ Potysch 2017). Das Wir-Gefühl stärkt die soziale Identität und fördert die Gruppenzugehörigkeit. Zunächst ist ein persönlicher Kontakt zu einer bereits radika‐ lisierten Person wichtig, dann genügt die Vernetzung über das Internet. Insbesondere soziale Medien als Informations- und Verbreitungsplattformen spielen dann eine wichtige Rolle. Als potenzielle Ursachen für die Radikalisierung wird vermutet, dass ein Individuum eine instabile Lebenssituation durchlebt und die radikalen Gruppen Antworten geben in dieser Krise. Sie bieten Halt und Struktur an, wodurch eine Ge‐ meinschaft erzeugt und ein Wir-Gefühl vermittelt wird. Auch wenn Aussteiger die Ver‐ mutung äußern, dass Personen mit einer gefestigten Identität nicht radikalisiert werden können, gehen Präventionsmitarbeiter: innen davon aus, dass Radikalisierung jeden treffen kann, unabhängig von der Herkunft, der sozialen Schicht, der Bildung oder dem Geschlecht. Es gibt somit keine kausale Erklärung, was Radikalisierung verursacht. So können sich bei vergleichbaren Sozialisationserfahrungen Individuen radikalisieren oder eben auch nicht (Hagmann et al. 2017). Die Sprache ist in ihrer vermittelnden Funktion zentral für Radikalisierungsprozesse, da sie für die Wissensvermittlung und die kommunikative Vernetzung verwendet wird. Wesentliche sprachliche Kennzeichen sind zudem, dass die sogenannten Heilsideologien leicht verständlich und in sich stimmig sind. Insbesondere junge Menschen fühlen sich aufgrund der Erzeugung eines Gemeinschaftsgefühls angesprochen, wenn eine gewisse Empfänglichkeit für radikales Gedankengut besteht, sodass eine emotionale Komponente eine zentrale Rolle einnimmt. Auch hier geht es um die weitere Erforschung von Narrationen, um verschiedene Stile der Radikalisierung aufzeigen zu können (Hagmann et al. 2017). Vermutet werden kann, dass diese Narrationen einerseits zur Selbstaufwertung des eigenen Ich verwendet werden oder andererseits gar zur Selbstaufgabe des eigenen Ich führen können. Sprachliche Tätigkeit hat einen Einfluss auf Denkprozesse und auf die Sicht auf die Welt. In Verschwörungstheorien oder bei Radikalisierungsprozessen werden über Narrationen erstrebenswerte Wirklichkeiten erzeugt, in denen Fakten durch Verschwörungs- oder Radikalisierungsgedanken ersetzt werden. Sprachli‐ che Merkmale drücken sich in der Argumentation aus, die auf die Erzeugung eines Wir-Gefühls bedacht ist und Ängste zur Erzeugung einer emotionalen Konnotation aufgreift, damit sich Individuen angesprochen fühlen. 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität 77 <?page no="79"?> Machen Sie eine Liste, welchen sozialen Gruppen Sie angehören. Notieren Sie dann sprachliche Merkmale, die die jeweilige Zugehörigkeit zu den Gruppen charakterisieren. ▢ Inwiefern ist Identität sozial? Identität entsteht in sozialen Kontexten, deshalb ist der Blick auf verschiedene soziale Gruppen und deren soziale Interaktionen relevant. Zu den sozialen Interaktionen zählen sprachlich vermittelte Prozesse (Abbildung 11). Abbildung 11: Ich-Identität entsteht aus der Sozialität ▢ Welche Rolle nimmt die Sprache in Gruppen ein? Mit der Sprache und insbesondere mit kommunikativen Stilen kann die Zugehörigkeit zu einer Gruppe deutlich gemacht werden. Sprache ist damit je nach sozialer Gruppierung identitätskonstituierend. Komplex ist, dass je nachdem, welche Kontexte sozialer Gruppierungen betrachtet werden, beim selben Individuum unterschiedliche sprachliche Stile und Identitätsaspekte betont werden können. Soziale Gruppen zu bestimmen und entsprechende sprachliche Stile zu analysieren, ist nach wie vor eine offene Forschungsauf‐ gabe. ▢ Welche Beispiele gibt es für die Darstellung sozialer Identität mit sprachlichen Mitteln? Soziale Welten umfassen alltägliche Gesellschaftsbereiche, in welchen Indivi‐ duen bestimmten Gruppen und verschiedene sprachliche Stile zugeordnet werden können. Allein die gesprochene Sprache spiegelt eine nationale und ethnische Identität und bezieht auch politische Aspekte mit ein, Dialekte beleuchten die geografische Identität, Soziolekte stellen Beziehungen zu gesell‐ schaftlichen Strukturen her und Register kennzeichnen verschiedene Rollen und Status in spezifischen Situationen. Jugendsprache hat eine eigene Spezifik hinsichtlich der Gruppierungsmöglichkeiten. Besonders in der HipHop-Kultur zeigt sich Sprache in der dialogischen Aushandlung von Ich-Identität als kul‐ turelle Praxis. Die Raptexte haben sowohl unter dem Aspekt der Themenwahl als auch der Rhetorik eindeutig sprachliche Bezüge zu identitätsstiftenden Aspekten. Das Paradox, dass Verschwörungserzählungen und Radikalisierungs‐ 78 4 Soziale Identität <?page no="80"?> prozesse ein Beispiel für Narrationen sind, die in sich stimmig und verständlich sind und damit Individuen als Wirklichkeit erscheinen, obwohl das Fundament der Erzählung nicht auf Fakten basiert, machen die Macht der Sprache deutlich, Gruppenzugehörigkeit zu erzeugen. Auer, Peter (1999). Sprachliche Interaktion. Tübingen: Max Niemeyer. Kopp, Johannes & Steinbach, Anja (2016). Grundbegriffe der Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Neuland, Eva & Schlobinski, Peter (2018). Handbuch Sprache in Gruppen. Berlin, Boston: de Gruyter. I’m No Longer Here. Fernando Frías de la Parra (Regie, 2019), Mexiko, Vereinigte Staaten. In diesem Film geht es um die Cumbia-Kultur, die eine stark identitätsstiftende Funktion innehat. Cumbia ist eine Musikrichtung, die verschiedenste Musikrichtungen (Rock, Dub, Pop, HipHop) vereint und auch Tanz und Kleidungsstil beinhaltet. Der Film lädt ein, vielschichtig über Gruppenzugehörigkeit nachzudenken. Nell. Michael Apted (Regie, 1994), Vereinigte Staaten. Nell wächst abgeschieden von der Zivilisation mit ihrer Mutter auf, die an einer Aphasie leidet. Nell erlernt die Sprache ihrer Sozialisation, d.-h. die aphasische Sprache der Mutter. Nach dem Tod der Mutter wird versucht, Nell in der Gesellschaft zu sozialisieren. Deutlich wird die Rolle der Sprache für die Sozialisation des Menschen. 4.3 Beispiele sprachlicher Aspekte sozialer Identität 79 <?page no="82"?> 5 Persönliche Identität In diesem Kapitel geht es um die persönliche Identität, die physische und psychi‐ sche Aspekte der Identität umfasst. Es stehen Merkmale im Vordergrund, die ein Individuum einzigartig machen. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Welche Rolle spielen physische Faktoren für die persönliche Identität? ▢ Welche psychologischen Aspekte werden in Bezug auf die persönliche Identität diskutiert? ▢ Inwiefern hängen persönliche Identität und Sprache zusammen? Die persönliche Identität ist, wie die soziale Identität, ein Aspekt der Ich-Identität, denn die Ich-Identität entfaltet sich in der wechselseitigen Aushandlung von sozialer und persönlicher Identität. Unter persönlicher Identität werden alle Merkmale einer Person, wie körperliche Erscheinung, Verhalten und Erleben, zusammengefasst, d. h. alle Merkmale, die zu einem Gesamtbild des Individuums beitragen (Asendorpf 2019). Im Laufe der Entwicklung kommt es zur Reflexion der persönlichen Identität, die sowohl physische als auch psychische Aspekte umfasst, d. h., der Blick richtet sich auf das Individuum selbst (s. Abbildung 12). Zu betonen ist, dass sich die persönliche Identität im Sozialen herausbildet, d. h., die Grundannahme bleibt bestehen, dass das Ich über das Du erzeugt wird, wobei der sprachlichen Tätigkeit in den Aushandlungsprozessen eine besondere Rolle zukommt (Vygotskij 1931/ 1987, Buber 1979). Die soziale Dimension ist folglich immer präsent, auch wenn der Fokus auf die persönliche Identität gelegt wird. Die persönliche Identität kann auch als Minisozialität aufgefasst werden (Hermans/ Gieser 2012), sodass sich die soziale Dimension im Individuum spiegelt. Das Wissen, das ein Individuum von sich und seiner persönlichen Identität hat, entsteht also durch die Reflexion von Persönlichkeitsmerkmalen in Form von Aushandlungsprozessen mit anderen im Sozialen und ist durch kontextuelle und gesellschaftliche Elemente sowie durch die Zugehörigkeit zu Gruppen beeinflusst. <?page no="83"?> Abbildung 12: Persönliche Identität in der wechselseitigen Aushandlung zwischen sozialer und psycho‐ logischer Dimension Die persönliche Identität umfasst physische und psychische Aspekte der Iden‐ tität. Sie bildet sich im Sozialen heraus. Als wegweisend für die Betrachtung der Gesamterscheinung des Individuums mit der Betonung sowohl der physischen als auch psychischen Aspekte kann das Habi‐ tuskonzept angesehen werden (Bourdieu 1987). Der Habitus ist ein Grundbegriff für die nicht reflektierte Gesamterscheinung eines Individuums, mit der es seine grundsätzliche Haltung zur Welt zeigt (s. Infobox). Es handelt sich beim Habitus um ein unbewusstes System von Dispositionen des Individuums, das sein Denken, Wahrnehmen, Empfinden, Bewerten und Handeln umfasst. Der Habitus wird bereits in der Kindheit und Jugend erworben bzw. übernommen und es sind vor allem die Handlungen anderer Individuen, an denen sich Aufwachsende orientieren (Rehbein 2016). Es wird folglich angenommen, dass sich der Habitus aus der Sozialisation des Individuums heraus entwickelt (Elias 1980). Bourdieu (1987) geht davon aus, dass im Habitus das Soziale verinnerlicht wird, weshalb er den Habitus auch als das inkorporierte Soziale bezeichnet. Das inkorporierte Soziale äußert sich wiederum in individuellen Gewohnheiten, Haltungen, dem Erscheinungsbild, dem Lebensstil, der Lebensgestaltung sowie verschiedenen Fähigkeiten des Individuums. Alle diese Äußerungen zusammengenommen machen den Habitus dadurch beschreibbar. Da die Sprache zu den inkorporierten Fähigkeiten zählt, drückt sich der Habitus auch sprachlich aus. Zentral ist, dass es äußere Strukturen sind, die unbewusst verinnerlicht und damit einverleibt werden, wodurch sie zu mentalen Dispositionen werden, die der persönlichen Identität zugeschrieben werden können. Bourdieu (op. cit., S. 135) formuliert dies folgendermaßen: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.“ Der Habitus wird also gekonnt, jedoch nicht unbedingt gewusst. Bourdieu geht davon aus, dass der Habitus einen 82 5 Persönliche Identität <?page no="84"?> stabilen Charakter hat und im Wesentlichen nicht veränderbar ist, was aus heutiger Perspektive durchaus kritisch zu betrachten ist. Habitus Rehbein/ Saalmann (2009) verfolgen den Habitusbegriff bis in die Antike zurück. In der Antike ist es der griechische Begriff hexis und er verweist im aristote‐ lischen Sinn auf die Haltung eines Individuums und bezieht sich auf relativ dauerhafte Eigenschaften. Im Mittelalter wurde der Begriff dann lateinisch mit habitus übersetzt und der Bedeutungskern betont hier bereits Gewohnheiten und Dispositionen. Husserl war es dann, der unter Habitualität die mentale Einstellung zusammenfasste. Seine Auseinandersetzung mit dem Habitusbegriff gilt als Bezugsgröße für die sich im 20. Jahrhundert ausbildenden Theorien. Auch wenn diese Theorien unterschiedliche Aspekte fokussieren, wie zum Beispiel bei Norbert Elias oder Pierre Bourdieu, bleibt der Konsens, dass es sich beim Habitus um die Einübung einer kulturellen Praxis handelt, die unbewusst stattfindet. Dabei geht es um Ausdruck und Eindruck dieser Praxis, also gleichermaßen um die Anwendung dieser Praxis und die mit der Praxis verbundenen Empfindungen. Mit dem Begriff Habitus wird die Gesamterscheinung eines Individuums bezeich‐ net, die vor allem in Form des inkorporierten Sozialen die unbewusste Geworden‐ heit des Individuums akzentuiert. Mit dem Habitusbegriff wird vor allem die unbewusst ablaufende körperliche Gebun‐ denheit kultureller Praktiken fokussiert. Bei der Bewusstmachung des Habitus handelt es sich um den Übergang zur Wahrnehmung der eigenen Identität. Der Identitätsbegriff, insbesondere der Ich-Identitätsbegriff, beinhaltet folglich bewusste Prozesse der In‐ teraktion und hebt die Reflexion hervor (Liebsch 2016). Ein reflektierter Teilaspekt des Habitus kann folglich als Bewusstwerdung eines Identitätsaspekts bezeichnet werden. Bei der Reflexion des Habitus spielt die sprachliche Tätigkeit eine wichtige Rolle, denn sie ist sowohl Ausdruckmittel (Bühler 1933) als auch Reflexionsmittel (Vygotskij 1934/ 2002). Die sprachliche Tätigkeit ermöglicht somit, Teilaspekte des eigenen Habitus in Narrationen zu fixieren und somit Identitätsaspekte reflektieren zu können. Dadurch, dass sich Individuen Aspekte des eigenen Habitus in Form von Teilidentitäten bewusst machen können, besteht die Möglichkeit, auf Verhaltensweisen einzuwirken und den Habitus im Laufe der Zeit, entgegen der Annahme von Bourdieu (1987), über die Identitätsarbeit zu verändern. 5 Persönliche Identität 83 <?page no="85"?> Durch die Reflexion von Aspekten des Habitus bildet sich die Ich-Identität heraus. Diese Reflexion wird durch sprachliche Tätigkeit ermöglicht, indem sie das Bewusstsein für die Identität schafft. Im Folgenden wird die persönliche Identität zunächst hinsichtlich physischer und psychischer Aspekte betrachtet, um dann mit der sprachlichen Tätigkeit in Zusam‐ menhang gebracht zu werden. 5.1 Physische Identität Die physische Identität als Teil der persönlichen Identität bezieht sich auf alle äußerlich wahrnehmbaren Merkmale eines Individuums. Dazu gehören die Gesamterscheinung (Körpertypus, Größe, Statur, Gesichtsform, Haut- und Haartyp etc.), der Gesundheits‐ zustand, das Alter und das Geschlecht (Crystal 1995). Bezogen auf die sprachliche Tätigkeit spiegelt sich die physische Identität auch in der Stimme wider. So wird über die Stimme identifiziert, welches Geschlecht und Alter ein Individuum hat, wie der Gesundheitszustand ist und auch wie es aussehen könnte (s. Kapitel 7). Die Prozesshaftigkeit und Bewegung der Identitätsentwicklung im Laufe eines Lebens zeigt sich sehr deutlich in der Körperlichkeit, da der menschliche Organismus im gesamten Lebenszyklus einem ständigen Wandel unterworfen ist (Danzer 2017). Bei der Betrachtung einer Fotogalerie eines Individuums von der Geburt über die frühe Kindheit, die Jugendzeit, das Erwachsenenalter bis hin zur Greisenzeit wird das Paradox der Identitätswahrnehmung sehr offensichtlich, denn trotz der deutlichen optischen Unterschiede nimmt sich die abgebildete Person dennoch als dieselbe war. Die Wichtigkeit der Körperlichkeit findet zunehmend Berücksichtigung in der psychologi‐ schen Forschung und wird unter dem Begriff Embodimentforschung zusammengefasst (z.-B. Alloa et al. 2019, Glenberg 2010) (s. Infobox). Embodimentforschung Mit der Embodimentforschung gelingt es, einen zentralen Akzent auf die Wich‐ tigkeit der Körperlichkeit des Individuums zu legen. Durch den kartesischen Dualismus - Körper und Geist - lag der Fokus lange Zeit auf der Betrachtung des Verstands. Obwohl auch psychophysische Ansätze vereinzelt vertreten waren, setzen sich diese jedoch nicht durch (Hebb 1949, Damasio 2006). In der Embo‐ dimentforschung wird davon ausgegangen, dass der Körper an jeder Art von sprachlicher, kognitiver und emotionaler Verarbeitung beteiligt ist (Weber 2017, Tschacher/ Storch 2012). Bei der sprachlichen Verarbeitung wird angenommen, dass beispielsweise Metaphern körperlich verankert sind (Lakoff/ Johnson 1980), und die Forschung zu embodied cognition fasst kognitive Prozesse ebenfalls als 84 5 Persönliche Identität <?page no="86"?> körperlich repräsentiert auf (Gallagher 2019). In der kulturhistorischen Theorie wird von einem psychophysischen Organismus ausgegangen, sodass hier die Körperlichkeit von vorneherein mitgedacht wird, theoretisch jedoch noch weiter ausdifferenziert werden muss (Vygotskij 1934/ 2002). Die Embodimentforschung bietet sich an, diese Forschungslücke zu schließen, denn deutlich gemacht wird, dass psychische Phänomene körperlich eingebettet sind und dass diese Einheiten von Psyche und Körper wiederum in kulturelle Kontexte eingebunden sind (Storch et al. 2017, Tschacher/ Storch 2017, Shaules 2019). Über die physische Erscheinung wird innerhalb von wenigen Millisekunden ein erster Eindruck von einem Individuum erzeugt (Willis/ Todorov 2006) und dieser erste Ein‐ druck hat Auswirkungen auf die Einschätzung weiterer Persönlichkeitseigenschaften. Wird ein Individuum als schön bewertet, so führt der sogenannte Halo-Effekt zu der Vermutung, dass es sich zugleich um einen zufriedenen, sympathischen und intelligenten Menschen handelt (Asendorpf 2019). Es gilt das Motto: „Wer schön ist, ist auch gut“ (op. cit., S. 82). In der Forschung zur physischen Attraktivität spielt insbe‐ sondere die Schönheit des Gesichts eine wesentliche Rolle bei der Bildung des ersten Eindrucks, sodass über den Gesichtsausdruck beispielsweise wahrgenommen wird, ob die Person angesprochen oder gemieden werden soll. Über das Gesicht finden folglich Generalisierungen statt, die zur Unterstellung von Absichten oder auch Fähigkeiten des Individuums führen (Oosterhof/ Todorov 2008). Eine Studie zur Selbsteinschätzung der eigenen Attraktivität des Gesichts, die in den Bereich Selbstaufwertung fällt und damit eng mit Identitätsbildung verknüpft ist, stammt von Epley/ Whitchurch (2008). In ihrer Studie manipulierten sie mit einem Morphing-Verfahren Fotos von Gesichtern, indem sie diese attraktiver und weniger attraktiv aussehen ließen. Bei der Beurteilung der Gesichter zeigte sich, dass die meisten Versuchsteilnehmer: innen sich selbst schneller auf der manipulierten attraktiveren Version erkannten als auf dem originalen Foto. Es ist folglich eine Tendenz zu beobachten, dass Individuen ihr Gesicht als attraktiver einschätzen, als es tatsächlich ist. Die Studie von Epley/ Whitchurch (2008) liegt zeitlich noch am Beginn der flächendeckenden Nutzung sozialer Medien und inzwischen ist eine Nutzung von Fotofiltern fast schon Gewohnheit geworden. Überlegen Sie, wie sich die Körperwahrnehmung dadurch vermutlich verändert hat. Würde der Effekt, den Epley/ Whitchurch in ihrer Studie herausgefunden haben, bei einer Wiederholung des Experiments gleich bleiben, verstärkt oder abgeschwächt werden? 5.1 Physische Identität 85 <?page no="87"?> Das gesamte körperliche Erscheinungsbild eines Individuums entspricht der phy‐ sischen Identität und vermittelt einen ersten Eindruck des Individuums. Anhand der Einschätzung der Attraktivität, insbesondere anhand des Gesichts, werden weitere Persönlichkeitseigenschaften abgeleitet. Die zentrale Rolle der physischen Identität wird auch darin deutlich, dass die Körperer‐ fahrung und damit das Körpererleben am Anfang aller Entwicklung steht. Die besondere Bedeutung der Haut für das Körpererleben thematisiert Anzieu (1991), indem er die Wichtigkeit der Körperoberfläche für die Bildung einer Vorstellung von sich selbst betont. Das Haut-Ich steht seiner Auffassung nach in engem Zusammenhang mit der psychischen Entwicklung, da es die Haut ist, die alle Körperteile zusammenhält. Sprache kann nach Anzieu als zweite Haut aufgefasst werden, die das Individuum umhüllt. Die Hüllen haben allerdings keine eindeutige Entsprechung, da nicht alles körperlich Erlebte in Sprache gefasst werden kann. Es besteht folglich eine Diskrepanz zwischen körperlich Erlebtem und Erzähltem, die nicht aufgelöst werden kann. Es ist also paradox, dass, obwohl sprachlich das Körpererleben nicht vollständig abgebildet werden kann, Sprache die Voraussetzung darstellt, um Körpererleben bewusst zu machen und zu reflektieren. Das Körpererleben ist auch der Ausgangspunkt für die Herausbildung des Körper‐ selbst (Küchenhoff/ Agarwalla 2013), d. h., verschiedene Teilaspekte des Körpererlebens werden zu einer dynamischen Struktur verdichtet, die dann mit Körperselbst bezeich‐ net wird. Das Körperselbst bezieht sich darauf, den Körper als Selbst zu erleben, und besteht aus bewussten Anteilen des Körperbilds und unbewussten Anteilen des Körperschemas. ▶ Das Körperbild umfasst alle mehr oder weniger bewussten körperbezogenen Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen und Werturteile in Bezug auf den eigenen Körper (Danzer 2017). Zu betonen ist, dass diese subjektiven Erlebnisse auch Bewertungen von außen miteinschließen, d. h., auch das Körperbild entsteht aus der Interaktion. Das Körperbild entwickelt sich analog zur Sprachentwicklung aus den intersubjektiven Erfahrungen mit anderen Individuen, somit haben auch Körperrepräsentationen - wie die sprachliche Tätigkeit - ihren Ursprung in Interaktionserfahrungen. Das Körperbild kann durchaus auch imaginäre Anteile vom eigenen Körper enthalten (Küchenhoff/ Agarwalla 2013). ▶ Das Körperschema besteht aus den unbewussten Sinneseindrücken des Körpers, sodass unbewusste Orientierungen und Bewegungen im Raum möglich sind. Das Körperschema schafft ein Bewusstsein für die Aktivitätszustände des eigenen Körpers in Raum und Zeit (Danzer 2017, Küchenhoff/ Agarwalla 2013). Folglich beinhaltet das Körperselbst alle bewussten und unbewussten Vorstellungen und Gefühle zum eigenen Körper. Für die Wahrnehmung des Körperselbst ist es 86 5 Persönliche Identität <?page no="88"?> günstig, wenn sich Körperbild und Körperschema kongruent entwickeln, denn bei Dissonanzen können hier Identitätsstörungen ihren Anfang haben. Ein Beispiel ist die Anorexia nervosa, bei der eine verzerrte Wahrnehmung des Körperselbst besteht. Dies betrifft die Wahrnehmung des bewussten Körperbilds ebenso wie unbewusste Aspekte des Körperschemas. Das Körperbild ist dahingehend verzerrt, dass sich an Anorexia Erkrankte dicker und plumper wahrnehmen, als sie sind (Danzer 2017). Auch das Körperschema wird falsch eingeschätzt: In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass Patient: innen mit Anorexia beim Durchschreiten von verschieden breiten Türöffnungen wesentlich früher die Schulter seitlich drehten, um sicher durch die Tür zu passen, als gesunde Testpersonen. Die Personen mit Anorexia schätzen also ihr eigenes Körpervolumen unbewusst größer ein, als es tatsächlich ist (Beckmann et al. 2021). Das Körpererleben ist zentral für die Entwicklung des Körperselbst. Das Körper‐ selbst umfasst das bewusst wahrgenommene Körperbild und unbewusste Anteile des Körperschemas. Die Sprache ist ein Mittel der Reflexion des Körperselbst. Aufgrund der körperlichen Verankerung kann auch das emotionale Empfinden zur physischen Identität gezählt werden. Damasio (2006) geht davon aus, dass es sich bei Emotionen um Körperzustände handelt und bei Gefühlen um die kognitive Wahrneh‐ mung und sprachliche Bezeichnung von Emotionen. Eine seiner wichtigsten Thesen dreht sich darum, dass die Fähigkeit zur Vernunft von der Fähigkeit abhängt, Gefühle zu empfinden. Die Wahrnehmung der Körperzustandsveränderungen oder somatischer Marker bildet folglich die Grundlage der Entscheidungen, sodass Handlungsalternati‐ ven nicht nur rational erwogen werden, sondern immer auch emotionale Erwägungen in die Handlungsentscheidung mit einfließen. Schwarz-Friesel (2013) folgt dieser Trennung und bezeichnet Gefühle sogar als kognitive Emotionen, womit auch hier gezeigt wird, dass die physischen Aspekte eine Art Basis für die Ausbildung psychischer Aspekte bilden. Nummenmaa et al. (2014) konnten anhand von Körperkarten dokumentieren, dass sich emotionales Erleben körperlich unterschiedlich ausdrückt. Mit einer introspekti‐ ven Methode konfrontierten sie Proband: innen mit Stimulusmaterial, das unterschied‐ liche Emotionen auslöste. Aufgabe der Proband: innen war es, in Körpersilhouetten diejenigen Körperregionen zu markieren, die beim Betrachten des Stimulusmaterials aktiviert worden sind. Es zeigte sich in der Summe der angegebenen Körperregionen, dass unterschiedliche Emotionen durchaus unterschiedliche Körperempfindungen auslösten. So ist bei Glück der gesamte Körper bis in die Hand- und Fußbereiche als aktiviert gekennzeichnet, während bei Überraschung nur die Kopf- und Herzregion repräsentiert ist. 5.1 Physische Identität 87 <?page no="89"?> Emotionen sind körperlich verankert, weshalb ihre Repräsentation zur physi‐ schen Identität zählen kann. Im Bereich der ästhetischen Chirurgie zeigt sich, dass die Identifikation mit dem eigenen Körper nicht unbedingt selbstverständlich ist, denn diese ermöglicht, den Körper - aufgrund einer Nichtidentifikation - an gewünschte Vorstellungen und Erwartungen an die eigene Identität anzupassen (Danzer 2017). Die Aushandlung der Ich-Identität findet in solchen Fällen zwischen persönlichem Wunsch und normativem gesellschaft‐ lichem Denken statt. Auch wenn Klient: innen der ästhetischen Chirurgie angeben, die Operationen für sich selbst, vor allem zur Steigerung des Selbstwertgefühls, durchzuführen, so sind es dennoch zugrunde liegende normative gesellschaftliche Vorstellungen, wie Männer und Frauen auszusehen haben, die zu solchen Eingriffen führen (Ach 2006). Es handelt sich daher auch um eine Art Gruppenidentität, die hier ein bestimmtes Schönheitsideal propagiert, das unter anderem dazu führt, dass sich junge Mädchen immer ähnlicher sehen. In Zusammenhang mit dem Haut-Ich fallen Tattoos auch in den Bereich der phy‐ sischen Identität, sie gelten als Zeichen der Identifizierung oder Individualisierung, kennzeichnen jedoch gleichzeitig auch Gruppenzugehörigkeit. Bei der geschichtlichen Betrachtung der Verwendung von Tattoos fällt auf, dass es Phasen der Stigmatisierung gab, wie bei den Römern, wo Urkundenfälscher und Falschmünzer mit Tattoos gekenn‐ zeichnet wurden, oder in der NS-Zeit, in der die Häftlingstätowierung stigmatisierend verwendet wurden (Lobstädt 2011). Tattoos waren jedoch auch Kennzeichen von Gemeinschaften und dienten der Wiedererkennung. So wurde in der frühen Neuzeit über das Tattoo die Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften markiert, beispielsweise tätowierten sich bosnische Katholiken, armenische Christen oder ägyptische Kopten in Abgrenzung zum Islam. Während in den 1960er-Jahren vermehrt spekuliert wurde, dass Tattoos völlig verschwinden werden, ist dagegen eine stärkere Verbreitung von Tattoos seit den 1970er-Jahren zu verzeichnen. Tattoos finden sich zunehmend in jugendkulturellen Stilgruppierungen und haben auch die Funktion der Kennzeich‐ nung von Gruppenzugehörigkeit. Die Gruppierungen sind sehr breit gefächert und umfassen beispielsweise „Skinheads, Punks, Gothics, Metalfans, Hip-Hopper[.] und Technoanhänger[.]“ (op. cit., S. 116). Die Kennzeichnung der Zugehörigkeit zu einer Protest- oder Alternativkultur ist spätestens seit den 2000ern liberalisiert. Tattoos gelten als normal und sind Zeichen eines neuen Körpergefühls, d. h., neben der Kennzeichnung einer Zugehörigkeit wird das Tattoo zu einem Individualitätszeichen oder gar Prestigezeichen. In dieser Phase der Liberalisierung lassen sich die Fragen aufwerfen, ob Tätowierungen den Beginn einer Identitätskrise oder bereits den Ausweg aus einer Identitätskrise darstellen, da sie das Selbstwertgefühl durchaus steigern können (Lobstädt 2011). Durch die eigene Gestaltung des physischen Selbst durch Tattoos erfolgt die Demonstration der Exklusivität und der Erhöhung des Selbst. Es 88 5 Persönliche Identität <?page no="90"?> zeigt sich an diesem Beispiel, dass physische Merkmale und Ich-Identitätsbildung ineinandergreifen. Die Identifizierung mit dem eigenen Körper ist nicht zwingend selbstver‐ ständlich, sodass Veränderungen durch chirurgische Eingriffe oder Tattoos die Wahrnehmung des Körperselbst verbessern sollen. Bei Tattooträger: innen werden gleichermaßen Strategien der Selbstdarstellung und der Verhüllung beobachtet. Wenn das soziale Umfeld tolerant ist, wird das Tattoo gezeigt, wenn das soziale Umfeld intolerant ist, wird das Tattoo verborgen. Sind diese Strategien für Sie nachvollziehbar? Und gibt es auch andere Persönlichkeits‐ merkmale, auf die es zutrifft, dass sie gezeigt oder verborgen werden? Ist die persönliche Identität so formbar, dass vor allem Merkmale von sich gezeigt werden, von denen geglaubt wird, dass andere sie akzeptieren? 5.2 Psychische Identität Während die physische Identität die körperlichen Aspekte der persönlichen Identität umfasst, werden mit der psychischen Identität die psychischen Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Individuums zusammengefasst, die das Individuum einzigartig machen. Die Betrachtung der psychischen Identität fällt in den Forschungsbereich der Persönlichkeitspsychologie, sodass es im Bereich der psychischen Identität folglich zu Überlappungen mit den Begriffen Persönlichkeit, Selbst und Ich kommt. Die Begriffe Persönlichkeit und psychische Identität werden im Folgenden oft synonym verwendet. Zur Persönlichkeit - und damit zur psychischen Identität - zählen Temperamente, verschiedene Fähigkeiten, wie Intelligenz, Kreativität sowie soziale und emotionale Kompetenzen, Einstellungen und Handlungsdispositionen, wie Bedürfnisse und Motive, Interessen oder Handlungsüberzeugungen (Asendorpf 2019). Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Persönlichkeit um eine kontinuierliche und relativ stabile Größe handelt, die auch in verschiedenen Situationen gleich bleibt. Anhand der Persönlichkeit ist ein Individuum folglich identifizierbar. Das Interesse der Persönlichkeitsforschung ist auch psychodiagnostisch geprägt, d. h., es wird versucht, Messinstrumente zu entwickeln, die Persönlichkeitseigenschaften eindeutig beschreiben (Hannover/ Greve 2018). Innerhalb der Persönlichkeitspsychologie gibt es verschiedene Herangehensweisen, die Persönlichkeit zu erforschen (s. Infobox). 5.2 Psychische Identität 89 <?page no="91"?> Theorien der Persönlichkeitsforschung Persönlichkeit setzt sich aus Merkmalen zusammen, die charakteristische Denk- und Verhaltensmuster eines Individuums umfassen. Nach Myers (2014) gibt es vier grundlegende Herangehensweisen, um die Persönlichkeit zu erforschen: - In psychodynamischen Theorien wird davon ausgegangen, dass sich die Per‐ sönlichkeit im Rahmen der psychosozialen Entwicklung in der Kindheit und unter Einfluss unbewusster Triebe herausbildet. Diese Ansätze basieren auf Sigmund Freud (1923/ 2005). - In humanistischen Theorien wird vor allem das Wachstumspotenzial der Individuen in den Mittelpunkt gerückt, d. h., es geht um das Herausarbeiten individueller Stärken, die zur Entwicklung der Selbsterfüllung beitragen. Vertreter dieses Ansatzes sind beispielsweise Abraham H. Maslow (1970) und Carl Rogers (1973). - In sozial-kognitiven Ansätzen werden vor allem Interaktionen zwischen Indi‐ viduen und sozialem Umfeld betrachtet. Entsprechend wird davon ausgegan‐ gen, dass sich die Persönlichkeit aus diesem wechselwirkenden Zusammen‐ spiel heraus entwickelt. Ein Vertreter dieser Richtung ist Albert Bandura (1976). - In Typen- und Trait-Ansätzen stehen Persönlichkeitseigenschaften im Fokus, von den angenommen wird, dass sie die Basis der Persönlichkeit bilden. Vermutet wird, dass sich im Laufe des Lebens stabile und zeitüberdauernde Eigenschaften ergeben, die mit Tests gemessen werden können. Gordon W. Allport und Henry S. Odbert (1936) gelten als Begründer dieses Ansatzes. Unter Persönlichkeit werden alle Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Individuums zusammengefasst, die es einzigartig und unverwechselbar machen. Bei der Erforschung des Selbst wird die Frage gestellt, „warum Menschen die Personen oder Persönlichkeiten sind oder werden, die sie sind“ (Hannover/ Greve 2018, S. 560). Um das eigene Selbst zu erkennen und zu entwickeln, finden Aushandlungsprozesse zwischen dem unmittelbaren Selbsterleben und dem Gewussten über das Selbst statt ( James 1890, vgl. Kapitel 3.2, Abbildung 7). Die Aushandlung betrifft folglich individuelle Repräsentationen mit eigenen Wahrnehmungen und Bewertungen sowie soziale Repräsentationen aus der Perspektive der anderen in Form von Interaktion und Kommunikation. Bei einem Selbstkonzept handelt es sich um eine mentale Wissensstruktur, die alles Wissen und alle Beurteilungen umfasst, die ein Individuum von anderen auf sich bezieht und die es von sich selbst hat; das können Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten sein (Mummendey 1995, 2006). Wesentlich bei der Bildung von Selbstkonzepten ist das Moment der Bewertung von den universellen Anteilen (außen) 90 5 Persönliche Identität <?page no="92"?> und den individualtypischen, autobiografischen Anteilen (innen) (Asendorpf 2019). In diesem Zusammenhang kann das looking-glass self nach Cooley (1922) diskutiert werden, das die Spiegelung des Selbst durch die anderen fokussiert und damit die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die Selbstbildung betont. Offen bleibt, wie aus Aushandlungsprozessen außen die dynamische innere Struktur des Selbstkonzepts entstehen kann, denn die Zuschreibungen von Persönlichkeitsmerkmalen von außen müssen nicht mit den eigenen Selbstwahrnehmungen übereinstimmen, d. h., die von außen beschriebenen Aspekte der Persönlichkeit können sich von den eigenen bewertenden Aspekten des Selbst unterscheiden (Hannover/ Greve 2018). Zudem kann es bei einem Selbstkonzept auch zu einer Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Selbst und der Vorstellung eines idealen oder Wunsch-Selbst des Individuums kommen, was ebenso zu Diskrepanzen bei der Selbst- und Fremdwahrnehmung führen kann. Es können die folgenden verschiedene Strukturen und Funktionen des Selbstkonzepts unterschieden werden (Mummendey 1995): ▶ körperbezogene Selbstkonzepte, die vor allem die körperliche Attraktivität und auch gesundheitliche Faktoren betreffen, ▶ emotionale Selbstkonzepte, die sich auf emotionales Erleben und bestimmte Gefühle beziehen, ▶ soziale Selbstkonzepte, die Relationen zur Familie, zu Partner: innen, zu Fremden und auch Freund: innen und Kolleg: innen berücksichtigen, ▶ leistungsbezogene Selbstkonzepte, die alle Arten von Leistungen betreffen, also berufliche, sportliche und auch künstlerische Leistungen. All diese Aspekte von Selbstkonzepten spiegeln im James’schen Sinne die Wahrneh‐ mung des Selbst als Objekt wider. Sich selbst als Objekt wahrzunehmen, beinhaltet eine Reflexion auf sich selbst und führt zu einer Ablösung von dem Selbst als Subjekt. Die Ablösung und das Erreichen einer Sicht auf sich selbst wird auch mittels sprachlicher Tätigkeit vollzogen, da dieser bewusst betrachtete Anteil des Selbst meist sprachlich vermittelt wird bzw. überhaupt erst durch Sprache ins Bewusstsein tritt. Es ist bei den Selbstkonzepten folglich mit vielfältigen sprachlichen Anteilen zu rechnen, da diese Aspekte in der Regel auch mit anderen kommuniziert werden (interpsychisch) und auch im regulatorischen Sinn vermittels Sprache für sich selbst umgesetzt werden (intrapsychisch). Die Selbstforschung befasst sich auch damit, wie über Selbstkonzepte die Selbst‐ darstellung erfolgt und damit das Selbstbild entsteht. Damit werden Fragen nach der Selbstbewertung, dem Selbstwertgefühl und auch der Selbstaufmerksamkeit oder Selbstwahrnehmung aufgeworfen (Asendorpf 2019, Simon/ Trötschel 2007, Mummen‐ dey 1995, 2006). Weitere Forschungsthemen sind die Selbsterinnerung, das soziale Spie‐ geln und Vergleichen, die Selbsterkenntnis und auch die Frage, wie sich motivationale und regulatorische Funktionen des Selbst etablieren und wie es zu Selbstüberschätzung kommen kann (Asendorpf 2019, Morf/ Koole 2014). 5.2 Psychische Identität 91 <?page no="93"?> Die Erforschung des Selbst steht in engem Zusammenhang mit Selbstkonzepten, die das Selbst als Objekt wahrnehmbar und beschreibbar werden lassen. Sich selbst zu erkennen, erfolgt in der sozialen Aushandlung. Wird im Rahmen der Persönlichkeitstheorien das Ich thematisiert, findet sich das Ich als evidenter Bewusstseinsinhalt zunächst bei Wundt (1911). Wundt geht davon aus, dass das Gefühl eines Zusammenhangs aller selbst erlebter, also individueller Erlebnisse als Ich wahrgenommen wird. Das Ich ist seiner Auffassung nach ein Gefühl, das an Empfindungen und Vorstellungen gebunden ist, jedoch keine Vorstellung an sich darstellt. In Freuds Strukturmodell erscheint das Ich als die letzte, oberste Struktur, gleichsam als die Spitze eines Eisbergs (Myers 2014). Das Ich wird zum wesentlichen Charakteristikum der Struktur der Persönlichkeit, da es zwischen dem unbewussten, triebhaften Es und der Außenwelt vermittelt. Das Ich, dem Vernunft und Besonnenheit zugeschrieben wird, vermittelt folglich zwischen dem triebhaften Es, das auf Lust und Leidenschaft basiert, und der Außenwelt, die die kulturellen Werte- und Nor‐ menvorstellungen repräsentiert. Das sich aus diesen Aushandlungen herausbildende Über-Ich stellt die verinnerlichten moralischen Forderungen dar (Freud 1923/ 2005), das Gewissen. Die Thematisierung des Ich findet sich vor allem in psychoanalytischen Paradigmen wieder (Neyer/ Asendorpf 2018). Das Ich im Sinne Freuds hat die Aufgabe, zwischen Es, Außenwelt und Über-Ich zu vermitteln. Denken Sie darüber nach, welche zugeschriebenen Persönlichkeitsmerkmale von außen nicht mit ihrem eigenen Selbstkonzept übereinstimmen. Die psychische Identität umfasst die beschreibbaren Merkmale der Persönlich‐ keit und die empfundenen Beurteilungen des Selbst. 5.3 Persönliche Identität und Sprache In der kulturhistorischen Psycholinguistik wird davon ausgegangen, dass die sprach‐ liche Tätigkeit zentral an der Ausbildung aller höheren psychologischen Prozesse beteiligt ist. Daraus kann gefolgert werden, dass die persönliche Identität, also alle 92 5 Persönliche Identität <?page no="94"?> Fähigkeiten, Einstellungen, Handlungsdispositionen und Selbstkonzepte, mit sprach‐ lichen Fähigkeiten in Zusammenhang steht. Gefragt wird nun danach, inwiefern die sprachliche Tätigkeit die persönliche Identität beeinflusst. Stellen Sie eine Adjektivsammlung zusammen, um die persönliche Identität von Individuen zu beschreiben. Unterscheiden Sie in Ihrer Beschreibung zwischen der äußeren Gestalt (Körperstatur, Gesicht, Gliedmaßen etc.) und den psychischen Eigenschaften (positive, negative und neutrale Eigenschaften). In Trait-Ansätzen wird mit dem lexikalischen Ansatz eine direkte Verbindung zwischen Sprache und persönlicher Identität hergestellt (s. Infobox). Es wird angenommen, dass Merkmale der Persönlichkeit direkte sprachliche Entsprechungen haben. Dieser Ansatz geht auf Allport und Odbert (1936) zurück, die sich mit den dynamischen mentalen Strukturen und den Benennungsmöglichkeiten von Gewohnheiten, Bedürfnissen und Eigenschaften befassten. Auf der Basis von ca. 18.000 Adjektiven wurde der Grundstein gelegt, unterschiedliche Klassifizierungen von Persönlichkeitstypen zu entwickeln. Allport/ Odbert (op. cit., S. 38 ff.) stellten zunächst verschiedenste Gebrauchslisten zusammen, wie die neutrale Liste zur Bezeichnung von Persönlichkeitseigenschaften, die sensorisch-bewertende Liste zur Beschreibung vorübergehender Stimmungen und Tätigkeiten sowie die bewertend-charakterisierende Liste zur sozialen oder charakter‐ lichen Beurteilung des persönlichen Verhaltens. Die Listen von Allport/ Odbert waren der Ausgangspunkt, um verschiedenste Skalen zur Klassifizierung von Persönlichkeits‐ typen mit dem Ziel zu entwickeln, die Anzahl von Persönlichkeitseigenschaften auf ein Beschreibungssystem mit weniger Faktoren zu reduzieren, u. a. um Persönlichkeit dadurch quantifizierbar zu machen. Zum Beispiel schlugen Eysenck/ Eysenck (1963) eine Zwei-Faktoren-Theorie vor, in welcher sich anhand der Achsen Extraversion - Introversion und Stabilität - Labilität (Neurotizismus) Persönlichkeit beschreiben lässt. Durch die Verfeinerung der Faktorenanalyse erfolgten weitere Vorschläge, die Viel‐ zahl an Persönlichkeitseigenschaften auf zugrunde liegende Faktoren zu reduzieren (Asendorpf 2019). Das Big-Five-Modell ist ein aktuelles Modell, das von fünf Persön‐ lichkeitsfaktoren bzw. Persönlichkeitsdimensionen ausgeht (Satow 2012, Asendorpf 2007, Simon 2006, Myers 2014). Gordon Willard Allport (1897-1967) Geboren wurde Gordon Willard Allport 1897 in Montezuma (Indiana, USA) und er starb 1967 in Cambridge (MA, USA) an Krebs. Er studierte in Harvard Psycho‐ logie und war dort von seinem deutsch-amerikanischen Psychologieprofessor Hugo von Münsterberg stark beeinflusst, der ehemals Assistent von Wilhelm Wundt war. Mit einem Stipendium nach seiner Promotion 1922 verbrachte er zwei Jahre in Europa. Seine Stationen waren Hamburg, Berlin und Cambridge. In dieser Zeit wurde er von dem Psychologen William Stern unterstützt. 5.3 Persönliche Identität und Sprache 93 <?page no="95"?> Seine Deutschkenntnisse ermöglichten ihm, sich mit der Gestaltpsychologie zu beschäftigen, deren Inhalte er jedoch nur teilweise übernahm. Vor allem im Bereich der Persönlichkeit war er ein anerkannter Psychologe und hielt erste Vorlesungen über Persönlichkeitspsychologie. Sein Klassiker Personality: A Psychological Interpretation verhalf schließlich dem Thema Persönlichkeit zu einer eigenen Disziplin innerhalb der Psychologie. Allport lehrte bis zu seinem Tod Psychologie in Harvard (Schmitt/ Altstötter-Gleich 2010). Mit den Big Five können fünf unabhängige Persönlichkeitsdimensionen beschrieben und getestet werden (Abbildung 13). Im Folgenden werden diese zusammengefasst (Satow 2012): ▶ Die Dimension Neurotizismus verweist darauf, wie ein Individuum mit negativen Informationen umgeht, d. h., wie ängstlich und nervös es ist und wie es mit Selbstzweifeln behaftet ist. Individuen mit hohem Neurotizismuswert sind emo‐ tional labil, ängstlich und unsicher, während Individuen mit einem niedrigen Neurotizismuswert emotional stabil, wenig ängstlich und ausgeglichen sind. Der Gegenpol von Neurotizismus ist emotionale Stabilität. ▶ Unter Extraversion werden Eigenschaften zusammengefasst, die das zwischen‐ menschliche Verhalten beschreiben, also ob Individuen eher nach außen oder nach innen orientiert sind. Individuen mit hohen Extraversionswerten sind nach außen orientiert, sie sind gesellig, gesprächig und kontaktfreudig. Individuen mit niedri‐ gen Extraversionswerten sind nach innen orientiert, sie sind nachdenklich und in sich gekehrt. Der Gegenpol von Extraversion wird mit Introversion bezeichnet. ▶ Offenheit für neue Erfahrungen beschreibt, wie sich Individuen mit neuen Eindrü‐ cken und Erlebnissen auseinandersetzen. Bei hohen Werten handelt es sich um neugierige, wissbegierige und fantasievolle Individuen, die sich in vielen Fällen auch für Musik, Kunst und Literatur interessieren. Der Gegenpol der Offenheit gegenüber Neuem ist Konservatismus oder Beharrlichkeit, d. h., Individuen mit niedrigen Offenheitswerten sind wenig tolerant und in der Regel wünschen sie, dass alles so bleibt, wie es ist. ▶ Bei der Dimension Gewissenhaftigkeit stehen Selbstdisziplin und Zielstrebigkeit des Individuums im Mittelpunkt. Hohe Werte kennzeichnen pflichtbewusste, ordentliche und planvolle Individuen. Der Gegenpol zur Gewissenhaftigkeit ist Nachlässigkeit. Individuen mit niedrigen Werten in dieser Dimension stören sich nicht an Nachlässigkeiten und sind wenig zielorientiert. ▶ Unter Verträglichkeit findet sich die soziale Einstellung zu anderen, wie beispiels‐ weise Höflichkeit und Zuvorkommenheit. Individuen mit hohen Verträglichkeits‐ werten sind beliebt, höflich und setzen sich für andere ein. Der Gegenpol zur Verträglichkeit ist die Reaktivität oder Konkurrenz, d. h., bei niedrigen Werten handelt es sich um Individuen, die leicht in Streit geraten und wetteifernd sind. 94 5 Persönliche Identität <?page no="96"?> Zu diesen fünf Dimensionen werden auch drei Grundbedürfnisse erfasst. Diese sind das Bedürfnis nach Anerkennung und Leistung, das Bedürfnis nach Macht und Einfluss sowie das Bedürfnis nach Sicherheit (Satow 2012). Bei der Testung mit dem Big Five-Persönlichkeitstest erfolgt eine Momentaufnahme der Persönlichkeitsstruktur, die als Profil dargestellt wird. Abbildung 13: Big Five: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit Diesen fünf Persönlichkeitsdimensionen können beschreibende Adjektive zugeordnet werden. Beispiele sind in Tabelle 3 jeweils für niedrige und hohe Ausprägung der jeweiligen Dimension gesammelt (Satow 2012). 5.3 Persönliche Identität und Sprache 95 <?page no="97"?> Dimension Dimension Neurotizis‐ mus ängstlich, unsicher, unruhig, besorgt, grüblerisch, ange‐ spannt, labil, nervös entspannt, ungezwungen, stabil, ausgeglichen, angst‐ frei, zufrieden, selbstsicher, stressresistent Emotionale Stabilität Extraver‐ sion kontaktfreudig, unterneh‐ mungslustig, gesellig, aktiv, gesprächig, spontan zurückhaltend, still, in sich gekehrt, ernst, schüchtern Introversion Offenheit neugierig, wissbegierig, fan‐ tasievoll, intellektuell traditionell, konservativ, be‐ wahrend Konserva‐ tismus/ Beharrlich‐ keit Gewissen‐ haftigkeit pflichtbewusst, genau, or‐ dentlich, planvoll, zuverläs‐ sig, organisiert, achtet auf Regeln, zielstrebig, selbstdis‐ zipliniert unvorsichtig, sprunghaft, wenig genau, leichtfertig, chaotisch, achtet nicht auf Regeln, unachtsam gegen‐ über anderen Nachlässig‐ keit Verträglich‐ keit freundlich, höflich, hilfsbe‐ reit, kooperativ, gutmütig, di‐ plomatisch, beliebt, umgäng‐ lich, mitfühlend direkt, wenig auf Umgangs‐ formen bedacht, wettbe‐ werbsorientiert, aggressiv, stur, feindselig, streitlustig Reaktivität/ Konkurrenz Tabelle 3: Adjektivzuordnungen zu den Big-Five-Dimensionen Der Big Five ist einiger Kritik ausgesetzt. Roth/ Strüber (2020) kritisieren, dass durch diese Selbsteinschätzungen der Proband: innen die Bewertung der eigenen Persön‐ lichkeit subjektiv gefärbt ist. Außerdem wenden sie ein, dass der Big-Five-Test zu stark der Alltagspsychologie entnommen ist. Ein weiteres Problem stellen die wenig trennscharfen Dimensionen dar, sodass die Big Three diskutiert werden, die auch in anderen Sprachen und Kulturen (z. B. Englisch, Deutsch, Türkisch, Ungarisch) zu eindeutigeren Ergebnissen führen (Neyer/ Asendorpf 2018). Zu den Big Three zählen Extraversion, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Als Weiterentwicklung der Big Five wird diskutiert, ob es möglich ist, von der Merk‐ malsebene zu Typen zu gelangen, sodass mit Clusteranalysen Persönlichkeitstypen bestimmt werden können. Neyer/ Asendorpf (2018) beziehen sich auf repräsentative Studien, nach denen drei oder fünf Persönlichkeitstypen unterschieden werden können. Es handelt sich um den unterkontrollierten Typ, den überkontrollierten Typ und den resilienten Typ (3) sowie den zuversichtlichen Typ und den reservierten Typ (5) (Neyer/ Asendorpf 2018, S. 115). Beispielsweise sind für den unterkontrollierten Persönlichkeitstyp niedrige Werte im Faktor Gewissenhaftigkeit typisch, für den überkontrollierten Persönlichkeitstyp sind es hohe Neurotizismuswerte und niedrige Extraversionswerte. 96 5 Persönliche Identität <?page no="98"?> Der Big-Five-Persönlichkeitstest basiert auf sprachlichen Attributen zur Be‐ schreibung von Persönlichkeit. Insofern besteht hier ein sehr enger Zusammen‐ hang zwischen Sprache und persönlicher Identität. Ein weiterer sprachlicher Aspekt in Bezug auf Persönlichkeitszuschreibungen ist die Art und Weise der Attribuierung. Mit den Auswirkungen sprachlicher Attribuierung hat sich bereits Asch (1946) beschäftigt und damit eine grundlegende Forschung zur Eindrucksbildung vorgelegt (Parkinson 2014). Diese inzwischen klassisch gewordene Studie zeigt den Einfluss von bewertenden Adjektiven auf die Wahrnehmung des ersten Eindrucks von Individuen. Asch präsentierte seinen Proband: innen die Eigenschaften intelligent - geschickt - fleißig - warm - entschlossen - praktisch - vorsichtig und bat sie, sich eine Person dazu vorzustellen. Daran anschließend sollten die Proband: innen ihrer imaginierte Person auf einer Skala weitere Eigenschaften zuschreiben, also beispielsweise, wie emotional, vergnügt und fantasievoll sie die Person einschätzen würden. Eine zweite Proband: innengruppe bekam dieselbe Aufgabe mit der Liste intelligent - geschickt - fleißig - kalt - entschlossen - praktisch - vorsichtig gestellt. Die Gruppen unterschieden sich also nur darin, dass auf den Listen das Wort warm durch kalt ersetzt wurde. Die erste Gruppe, die das Wort warm auf ihrer Liste hatte, stellte sich die imaginierte Person emotionaler, optimistischer, ungezwungener, vergnügter und fantasievoller vor, während sich die zweite Gruppe mit dem Wort kalt auf der Liste die Person hauptsächlich dünn und blass vorstellte. Dieses Ergebnis betont, wie einflussreich Sprache auf die Wahrnehmung von Persönlichkeitszuordnungen ist. Weitere Experimente von Asch zeigten, dass auch die Reihenfolge der Adjektive einen Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung von Personen hat. Die Art und Weise der sprachlichen Attribuierung hat einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Persönlichkeitseigenschaften. ▢ Welche Rolle spielen physische Faktoren für die persönliche Identität? Die physische Identität umfasst Aspekte wie Gesamterscheinung, Gesund‐ heitszustand, Alter und Geschlecht. Sie vermittelt den ersten Eindruck des Individuums, mit welchem dann (automatisch) psychische Eigenschaften ver‐ bunden werden (Halo-Effekt). Zur physischen Identität zählt das Körpererle‐ ben, das in der Interaktion mit anderen gebildet wird und wiederum den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Körperselbst darstellt. Im Körperselbst sind das Selbstbild und Emotionen verankert. Mit der sprachlichen Tätigkeit kann die physische Identität reflektiert werden. 5.3 Persönliche Identität und Sprache 97 <?page no="99"?> ▢ Welche psychologischen Aspekte werden in Bezug auf die persönliche Identität diskutiert? Die psychische Identität umfasst das angeborene Temperament und die Fähig‐ keiten, Einstellungen und Handlungsdispositionen, die ein Individuum einzig‐ artig machen. Über Selbstkonzepte werden diese Attribute zusammengefasst und dargestellt. ▢ Inwiefern hängen persönliche Identität und Sprache zusammen? In den Trait-Ansätzen wird ein enger Bezug zwischen Persönlichkeit und Sprache hergestellt. Persönlichkeitstests wie der Big Five verwenden Adjektive für die Darstellung von persönlicher Identität, sodass allein dadurch ein sprachlicher Bezug besteht. Ferner haben Attribuierungen einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Persönlichkeit. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von persönlicher Identität und Sprache im Sinne der Darstellung und Herstellung von Ich-Identität finden sich in den Kapiteln 6 und 7. Asendorpf, Jens B. (2019). Persönlichkeitspsychologie für Bachelor. Berlin: Springer. Küchenhoff, Joachim & Agarwalla, Puspa (2013). Körperbild und Persönlichkeit. Berlin: Springer. Die Haut, in der ich wohne. Pedro Almodóvar (Regie, 2011), Spanien. Ein Melodram, in welchem ein Schönheitschirurg besessen davon ist, eine perfekte Haut und damit verbunden eine perfekte Frau zu kreieren. Shutter Island. Martin Scorsese (Regie, 2009), Vereinigte Staaten. Ein spannender Thriller, der in den 1950er-Jahren spielt und an dessen Ende die Frage offen bleibt, welche Persönlichkeit des Protagonisten „wahr“ ist. 98 5 Persönliche Identität <?page no="100"?> 6 Sprachliche Formen der Identität Kernthema dieses Kapitels sind sprachliche Formen der Identität, also jene Facetten der Identität, die über Erzählungen mitteilbar gemacht werden. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Was ist eine Narration im Rahmen der Identitätsbildung? ▢ Was wird unter narrativer Identität verstanden? ▢ Ist die Ich-Identität eine dialogische Einheit? ▢ Was passiert mit nicht erzählten Identitäten? Individuen werden in kulturspezifische Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften hin‐ eingeboren, weil sie von Anfang an in Sprache und Kultur eingebunden sind (vgl. Kapitel 2). Das In-Sprache-Sein bedeutet, dass Individuen permanent mit Erzählungen konfrontiert und in diese verstrickt sind (Straub 2020). Die Erzählgemeinschaften bilden den Ausgangspunkt für den Erwerb von Erzählkompetenz und ermöglichen den Aufbau eines biografischen Bewusstseins (Engelhardt 2011). Erzählungen oder - im Folgenden synonym verwendet - Narrationen dienen dazu, Erlebtes sprachlich greifbar und damit mitteilbar zu machen, d. h., über Erzählungen wird Erlebtes kommuniziert und es besteht damit die Möglichkeit, über Erlebtes und Erfahrungen auch zu reflek‐ tieren (Werani 2011). Die reflektierte Erfahrung von Erlebnissen legt Bewertungen und Erwartungen offen, sodass die Betrachtung und Analyse von Narrationen neben der sozialen auch eine psychologische Bedeutung erhält (Straub 2020, Lucius-Hoene 2010). Es wird somit davon ausgegangen, dass Narrationen an der Identitätsbildung im Sinne einer Identitätsarbeit beteiligt sind und dass die Narrationen Einblick in die Identitätsarbeit ermöglichen (Keupp et al. 1999). Im Folgenden werden Selbstnarratio‐ nen thematisiert, literarisches und institutionelles Erzählen wird dagegen nicht in den Blick genommen. Wesentlich ist, dass Narrationen sozial verankert sind und keine isolierten Eigen‐ schöpfungen darstellen (Keupp et al. 1999), sie bleiben auch dann sozial verankert, wenn sie interiorisiert, also verinnerlicht, sind (Vygotskij 1934/ 2002, Werani 2011). Nar‐ rative Strukturen der Identität umfassen also sowohl soziologische als auch psychologi‐ sche Dimensionen, sodass sie gewissermaßen eine Schnittstelle zwischen diesen beiden Dimensionen bilden (Bachtin 1979). An dieser Schnittstelle konstruieren Narrationen Wirklichkeit zwischen Individuen (Abbildung 14). Relevant für diese Betrachtung ist im Folgenden zunächst die Klärung, was unter Narrationen zu verstehen ist. Dann wird auf die Konzepte narrative Identität und dialogische Identität eingegangen. Abschließend sollen Facetten des Nichterzählens aufgezeigt werden. <?page no="101"?> Abbildung 14: Narrationen als Schnittstelle zwischen innen und außen Narrationen sind an der Identitätsbildung beteiligt und geben Einblick in die Identitätsarbeit des Individuums. Narrationen konstruieren Wirklichkeit zwischen Individuen, die soziologische und psychologische Dimensionen enthält. 6.1 Narrationen - erzählen können Narrationen oder Erzählungen gehören zu den alltäglichen, menschlichen Lebenswel‐ ten und sie werden in Kommunikationssituationen interaktiv ausgehandelt. Es handelt sich also beim Erzählen um Praktiken zur Herstellung von Sozialität (König/ Oloff 2018, Lucius-Hoene/ Deppermann 2004). Die Fähigkeit Erzählen-zu-können ist ein zentraler Baustein zur Gestaltung der menschlichen Lebenswelt und spiegelt die erste Funktion der sprachlichen Tätigkeit wider (Vygotskij 1934/ 2002). Orte, Gelegenheiten und Motive des Erzählens sind vielfältig. Erzählt wird beispielsweise, um zu informieren, zu unterhalten, zu amüsieren oder sich mitzuteilen, sich darzustellen, sich zu erinnern. Durch Erzählungen wird soziales Erleben ausgedeutet und interpretiert sowie sozialer Sinn hergestellt (König/ Oloff 2018, Mandelbaum 2013). Erzählen ist ein weit gefasster Begriff, zu dem auch das Beschreiben und das Berichten gezählt werden. Erzählt werden kann sowohl mündlich als auch schriftlich und wichtig zu betonen ist, dass es sich um eine zentrale Form menschlicher Tätigkeit handelt (s. Kapitel 2). Insbesondere die schriftlichen Formate der sozialen Medien zeigen eine neue Facette schriftlichen Erzählens auf. Die Wichtigkeit des Erzählens kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Wer gut erzählen kann, erfreut sich der Wertschätzung seiner Umgebung. […] wer schlecht erzählt, steht leicht abseits, und wer es ganz läßt, sieht seine sozialen Handlungsmöglichkei‐ ten erheblich eingeschränkt. (Ehlich 1984, S.-7) 100 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="102"?> In Narrationen können Erlebnisse und Erfahrungen sprachlich verarbeitet werden (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004). Das Erzählte ist also eine Geschichte darüber, was Individuen erlebt haben. Diese Geschichte kann an die biografische Entwicklung an‐ gepasst werden, sodass sich der Blick auf Erlebtes im Laufe des Lebens auch verändern kann, zumal Erinnerungsprozesse auch lückenhaft sein können. Die Verarbeitung von Erfahrungen in Geschichten enthält zudem bewertende, interpretierende und reflektierende Elemente. Die erzählten Geschichten können also mehr oder weniger dem tatsächlich Erlebten entsprechen. Das Repertoire aus immer wieder erzählten Geschichten dient der Selbstvergewisserung und der Kontinuität der Biografie, sodass sich im Rahmen der Identitätsarbeit „biografische Kernnarrationen“ herausbilden, die zu einer Art Verdichtung der eigenen Person führen (Keupp et al. 1999, S. 217). Das verdichtete Herausarbeiten der eigenen Identität vollzieht sich somit in erzählender Identitätsarbeit. Die Narration verleiht der eigenen Biografie Form und Bedeutung (Engelhardt 2011) und kreist um die Frage Wer bin ich? (Keupp et al. 1999). Wichtig ist, zur Kenntnis zu nehmen, dass eine Distanz zwischen dem tatsächlich erlebten Ereignis und dem erinnernden Erzählen besteht, denn Erzählungen bilden die Welt nicht ab, sondern konstruieren eine psychische Wirklichkeit (Lucius-Hoene 2010, Straub 2020, Berger/ Luckmann 1966). Auch Leont’ev (1977/ 2012, S. 117) betont diese Distanz, indem er schreibt: „Die realisierte Tätigkeit ist reicher, wahrer als das sie vorwegnehmende Bewusstsein.“ Da das Bewusstsein in der kulturhistorischen Theorie eng mit der sprachlichen Tätigkeit verknüpft ist, kann gefolgert werden, dass das Erleben damit auch reicher ist als die sprachliche Realisierung. Trotz dieser Distanz zur erlebten Wirklichkeit durch die sprachliche Transformation sind die Narrationen absolut notwendig für den gemeinsamen Austausch von Erlebtem. Die erzählte Wirklichkeit wird als reales Konstrukt angesehen, auch wenn Narrationen die Realität nicht abbilden und durchaus Fiktionen enthalten können. Erzählen-zu-können, ist zentral für menschliche Lebenswelten. Wesentlich ist die Distanz zwischen tatsächlich Erlebtem und Erzähltem. Das Erzählte ist eine Geschichte darüber, wie Individuen ihre subjektive Wirklichkeit und ihre eigene Identität konstruieren. Überlegen Sie sich drei Narrationen, die Sie zu Ihren biografischen Kernnarratio‐ nen zählen würden. Geben Sie diesen Kernnarrationen kurze Titel. Denken Sie darüber nach, welchen Stellenwert und welche Funktion diese Kernnarrationen in Ihrer Biografie haben. 6.1 Narrationen - erzählen können 101 <?page no="103"?> Die Funktionen des Erzählens können für eine systematische Analyse in drei Dimen‐ sionen unterteilt werden. Es handelt sich um die zeitliche, soziologische und psycho‐ logische Dimension, die im Folgenden charakterisiert werden. Die zeitliche Dimension umfasst linguistische Funktionen, die verantwortlich sind, Gedanken oder Erlebtes überhaupt erst einmal in Sprache zu übersetzen und damit eine sprachliche Ordnung von Gedanken zu erzeugen. Prozesshaft handelt es sich um den Übergang vom Gedanken zum Wort, d. h., der Gedanke vollzieht sich im Wort, ist mit diesem jedoch nicht identisch (Vygotskij 1934/ 2002, Werani 2011). Vygotskij verwendet die Metapher, dass der Gedanke einer Wolke entspricht, aus der es Wörter regnet. Der Gedanke wird damit als reichhaltiger beschrieben als das einzelne Wort und es ist nachvollziehbar, dass es manchmal länger dauert, einen Gedanken wirklich zu entfalten und in Worte zu fassen. Der Übergang vom Gedanken zum Wort ist überaus komplex, denn wenn Gedanken durch die Sprache linearisiert werden, werden sie präzisiert und sind dann an die Zeitachse gebunden. Engelhardt (2011, S. 44) nennt es „zeitlich-biografisches Selbstverhältnis“, worin - auch sprachlich markiert - Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges dargestellt und in Beziehung gesetzt werden kann. Als linguistische Funktionen werden hier die Konkretisierung und die Bedeutungszuweisung hervorgehoben: ▶ Konkretisierung bedeutet, dass durch die Narration das Erlebte mit Sprache fixiert und präzisiert wird. Segmente aus dem Erlebten, also aus dem Gedächtnis, werden ausgewählt und ein Erzählplot erstellt, der dann in eine sprachlich lineare Folge übersetzt wird. Durch die resultierende Narration können gedankliche Konstrukte mit anderen aushandelbar gemacht werden. ▶ Die Bedeutungszuweisung erfolgt je nach Narration unterschiedlich, denn sie steht in engem Zusammenhang mit der Auswahl der erinnerten Erlebnisse und den sprachlichen Formungen. Die Auswahl der Segmente und damit der Erzählplot können durchaus variieren und an unterschiedliche Gesprächspartner: innen und Gesprächskontexte angepasst werden, sodass durch die Anpassungen biografische Kontinuität und Kohärenz erzeugt wird. Der soziologischen Dimension werden kommunikative und sozial-interaktive Funktionen des Erzählens zugeordnet, zu denen alle Aspekte der Interaktion zwischen den Spre‐ chenden und Zuhörenden gehören (Straub 2020, Lucius-Hoene/ Deppermann 2004, Quasthoff 2008). In diesen Interaktionen wird das „soziale Selbst-Umwelt-Verhältnis“ hergestellt und es werden Beziehungen zwischen Individuen und Umwelt ausgehandelt (Engelhardt 2011, S. 44). Zu den hier abgeleiteten Aspekten der interaktiven Aus‐ handlung zählen Beziehungsstiftung, Realitätskonstruktion, Sprechwirkung, soziale Anerkennung und Gruppenbildung: ▶ Ausgangspunkt der interaktiven Aushandlung ist die Beziehungsstiftung, da eine emotionale, soziale Beziehung grundlegend für kooperative Handlungen ist. Die Klärung der Beziehungsebene gilt auch als Grundlage für gelingende Kommu‐ nikation (Rosenberg 2016). Adressierungsprozesse in Form von Anreden oder 102 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="104"?> auch Interessebekundung durch Fragen sind zentrale sprachliche Elemente zur Beziehungsstiftung (Anselm/ Werani 2017). ▶ Die gemeinsame Realitätskonstruktion resultiert ebenfalls aus Kommunikation und Interaktion, indem Realität geteilt und gemeinsame soziale Realität geschaffen wird. Aus diesen gemeinsam geteilten Realitäten entwickelt sich die eigene Welt‐ sicht in Form einer subjektiven Wirklichkeit. Narrationen schaffen also subjektive Wirklichkeiten, indem das gemeinsame Sprechen über die Welt gleichzeitig auch die Weltsicht prägt (Zielke 2007). ▶ Bei der Sprechwirkung ist es vor allem das Motiv des Sprechenden, das die Kommunikation beeinflusst und sich unterschiedlich auf die Narration auswirkt, je nachdem, ob der Sprechende informieren, überzeugen, überreden, lenken, amüsie‐ ren, beeindrucken oder erschrecken möchte. Zudem hat der individuelle Sprechstil eine Auswirkung auf die gemeinsame Gestaltung des Kommunikationsraums (Anselm/ Werani 2017). ▶ Die soziale Anerkennung in Interaktionen erfüllt die Grundbedürfnisse des Indivi‐ duums nach Anerkennung und Zugehörigkeit. In den Narrationen sind somit soziale Wahrnehmungen und Bewertungen verankert (Keupp et al. 1999), sodass Identitätskonstruktionen stets auf wechselseitiger Anerkennung basieren. ▶ Zur Gruppenbildung kommt es, wenn durch gemeinsames Erzählen und das Nutzen gemeinsamer sprachlicher Formen Gemeinschaft gestiftet wird. Soziale Gruppen stellen Instanzen dar, in welchen Kommunikationsformen gepflegt werden, die auf die soziale Identität des Individuums einwirken (Neuland/ Schlobinski 2018). Die psychologische Dimension umfasst alle intrapsychischen Aspekte des Erzählens und folglich die psychologischen Funktionen (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004, Straub 2020). Das erzählende Individuum kann sich über Narrationen selbst darstellen und über sich reflektieren, d. h., ein „psychisch-leibliches Selbstverhältnis“ wird in Form von narrativen Selbstbezügen des Individuums betont (Engelhardt 2011, S. 44). In dieser Dimension sind es auch Funktionen des inneren Sprechens, die einen Einfluss auf die Identitätsbildung nehmen (Werani 2011). Als Aspekte dieser Dimension werden selbstbezügliche Äußerungen, Selbststeuerung und Selbstregulation, Reflexion und Identitätsbildung gezählt: ▶ Mit selbstbezüglichen Äußerungen in einer Narration kann sich ein Individuum selbst beschreiben, d. h., es kann sich Attribute zuschreiben, Gruppenzugehörig‐ keiten markieren oder auch Rollen benennen. Es handelt sich bei den selbstbezüg‐ lichen Äußerungen also um eine Darstellung, wie sich ein Individuum verstanden wissen möchte (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004). ▶ Die Selbststeuerung und Selbstregulation sind grundlegende Funktionen der sprach‐ lichen Tätigkeit (Lurija 1982, Werani 2011). Auf die Narration übertragen, haben diese Funktionen einen steuernden und regulierenden Einfluss darauf, Narrationen an den Erzählkontext, also an die Person und die Situation, anzupassen. 6.1 Narrationen - erzählen können 103 <?page no="105"?> ▶ Für die Reflexion ist die sprachliche Tätigkeit das zentrale Mittel (Werani 2011). Die Erzählung wird genutzt, um Erlebtes zu verarbeiten, es kann sich beispielsweise darum handeln, Motive zu klären, sich im emotionalen Sinne selbst zu entlasten oder Angst abzubauen. Die Reflexion im Sinne von Nachdenken über und Bespre‐ chen von Narrationen ermöglicht, Klarheit über Ziele zu haben und emotionale Schwierigkeiten zu überwinden. Narrationen beeinflussen damit das Denken, da sie Einsichten vermitteln. ▶ Die Identitätsbildung wird durch das Erzählen ermöglicht. Auch wenn die Identität nicht ausschließlich über Narrationen geformt wird, kommt den Narrationen eine gesonderte Rolle zu, da Aspekte der Identität über Narrationen dar- und hergestellt werden (Keupp et al. 1999, Ricœur 2007). Aufgrund dieser vielfältigen Funktionen wird deutlich, dass Erzählen ein komplexes soziales Handeln ist. Die Funktionen des Erzählens umfassen linguistische Funktionen, die Gedanken oder Erlebtes überhaupt in Sprache übersetzen, kommunikative und sozial-interak‐ tive Funktionen, die interaktive Aushandlungen zwischen Individuen ermöglichen, und psychologische Funktionen, in welchen Sprache als Mittel der Identitätsbildung beschrieben wird. Neben der Funktion spielt die Form des Erzählens eine wichtige Rolle, denn die Zuhörer: innen haben ganz bestimmte Erwartungen an Aufbau, Verlauf und Inhalt einer Erzählung (s. Infobox). Beim Erzählen in Zusammenhang mit der Identitätsbildung rückt das autobiografische Erzählen in den Mittelpunkt, d. h. die Lebensgeschichte eines Individuums bzw. lebensgeschichtliche Fragmente. Beim autobiografischen Erzählen wird die Erzählform durch die Verdopplung des Ich geprägt (Lucius-Hoene/ Depper‐ mann 2004). Struktur von Erzählungen Eine Erzählung muss strukturell gewisse Standards erfüllen, wie Sachverhalte in einem zeitlichen und räumlichen Bezug dargestellt werden. Die zeitliche Ordnung der erzählten Ereignisse wird auch als kognitiver Leitfaden oder Plot bezeichnet. Das inzwischen als klassisch zu bezeichnende Strukturmodell von Labov/ Waletzky (1973) betrachtet die Erzählstruktur aus linguistisch orientierter Perspektive und fasst eine grundsätzliche Struktur aus Einleitungsphase, Mittel‐ teil und Schluss zusammen. Diese strukturierte Form mit der damit verbundenen Suche nach einer narrativen Syntax wird von der dynamischen Vorstellung abgelöst, dass es sich beim Erzählen um einen Prozess handelt. Quasthoff (2008, S. 1296) betont den „Prozess des Erzählens als einer bestimmten Form der gemeinschaftlich hergestellten und wechselseitig ratifizierten Interaktion“. Es 104 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="106"?> sind vor allem interaktionale Ansätze, die Erzählen als dialogischen Prozess modulieren (König/ Oloff 2018, Mandelbaum 2013). König/ Oloff (2018) unterschei‐ den Alltagserzählungen als big packages oder small stories. Big packages in der Interaktion sind längere Erzähleinheiten, die der grundlegenden Struktur von Labov/ Waletzky entsprechen (Beispiele wären Problemerzählungen oder Krankheitserzählungen), während small stories linear nicht abgeschlossen sein müssen und auch von mehreren Erzähler: innen erzählt werden können. Es bleibt bis zu einem gewissen Grad offen, wann eine Erzählung im strukturellen Sinne eine Erzählung ist. Die Verdopplung des Ich liegt darin begründet, dass das erlebte Ereignis und das erinnernde Erzählen zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfindet (Lucius-Hoene/ Dep‐ permann 2004). Das erzählende Ich in der Erzählsituation hat eine völlig andere Erkenntnisperspektive als das erzählte Ich, da das Ende der Geschichte oder die Folgen des erzählten Ereignisses bereits bekannt sind (Abbildung 15). Die Distanz zwischen Erlebtem und Erzähltem ist für die Konstruktion von Identität ein zentraler Punkt, denn ein Erlebnis wird mit Sprache strukturiert und ihm dadurch eine sprachliche Form und eine Bedeutung verliehen. Abbildung 15: Die Beziehung zwischen Erlebtem und Erzähltem Die Linearisierung der Erzählstruktur verleiht der Erzählung eine Form und unterliegt sprachverarbeitenden Prozessen: Auf die Konzeptbildung, was gesagt werden soll, folgt die Formulierung und schließlich die Artikulation (Levelt 1989). Bezogen auf die Konstruktion eines Erzählplots sind folgende Aspekte hervorzuheben: ▶ Durch die Segmentierung wird der Ereignisfluss von Erlebtem unterteilt, d. h., der Strom des Erlebten wird in einzelne Elemente zerlegt und damit gegliedert. Dann folgt die Selektion, d. h., aus den gegliederten Elementen des erlebten Ereignisstroms werden Elemente ausgewählt, die erzählenswert erscheinen. Für die Prozesse der Segmentierung und Selektion spielt die Fähigkeit, sich erinnern zu können, eine zentrale Rolle. ▶ Die Linearisierung durch Sprache bringt die ausgewählten Elemente des Erlebten in eine explizite zeitliche Folge. Dabei stellt sich die Frage, wie das Erlebte sprachlich geformt werden soll. Es geht also um die sprachliche oder rhetorische Darstellung des Erlebten und um die Perspektive, die der Erzählende einnimmt, denn Erlebtes kann mittels Sprache in unterschiedliche Formen gebracht werden. 6.1 Narrationen - erzählen können 105 <?page no="107"?> ▶ Die Bedeutungszuweisung hängt von der Segmentierung, der Auswahl der Seg‐ mente und der linearisierten, sprachlichen Formung ab. Die Bedeutung der Erzäh‐ lung kann sich folglich je nach Wahl der Elemente und sprachlicher Formung verändern. Diese Aspekte sollen an einem Beispiel verdeutlicht werden. In einer Urlaubserzählung können alle negativen Erlebnisse ausgewählt (Segmentierung und Selektion) und diese sprachlich dramatisch dargestellt werden (Linearisierung). Die Bedeutung, die hier transportiert wird, ist, dass der Urlaub voller negativer Erfahrungen war. Werden al‐ lerdings alle positiven Erlebnisse sprachlich humorvoll dargestellt, wird die Bedeutung positiv gewendet. Deutlich wird an diesem Beispiel sowohl die Distanz zwischen dem erlebten Ereignis und der Erzählung als auch die Möglichkeit der Variation in der Narration. Das Erlebte kann mit einer Narration also nicht 1: 1 abgebildet werden, sondern die Narration konstruiert eine Sicht auf das erlebte Ereignis. In dieser Sicht auf das Ereignis werden eigene Erwartungen, Bedürfnisse und auch Erfahrungen mit eingeflochten, sodass die selbstbezogenen Erinnerungen mit allen Bewertungen für die Narration ausschlaggebend sind. Selbstbezogene Erinnerungen sind folglich für das Kontinuitätsgefühl wichtig und formen das Identitätsgefühl (Lucius-Hoene/ Dep‐ permann 2004). Zur Form des Erzählens zählt auch das Ungewöhnlichkeitskriterium, d. h., das erzählte Ereignis muss in irgendeiner Weise ungewöhnlich sein - zumindest für die Zuhö‐ rer: innen. Dass dieses Ungewöhnlichkeitskriterium manchmal nicht ganz so einfach zu erfüllen ist, wird bemerkt, wenn Zuhörer: innen den Sinn und die Relevanz der Erzählung infrage stellen. Es wird zum Beispiel die Frage Und, was wolltest du jetzt damit sagen? aufgeworfen oder es wird gar nicht auf das erzählte Thema eingegangen und stattdessen das Thema gewechselt. Es wird also erzähltheoretisch erwartet, dass sich das Erzählen durch Ungewöhnlichkeit auszeichnet. Ungewöhnlichkeit definiert sich aus dem Verhältnis zwischen erwartbaren und unerwartbaren Ereignissen (Quasthoff 1980). Erzählen hat damit etwas mit Unerwartetem zu tun und das Unerwartete stellt etwas Ungewöhnliches dar. Erzählen sieht eine sprachliche Form vor, die erfüllt werden muss, damit eine Erzählung gelingt. Vor allem das Ungewöhnlichkeitskriterium ist zentral für eine alltägliche Erzählung. Beim Erzählen handelt es sich um ein komplexes Handlungsmuster, das nicht voll‐ ständig im primären Erstspracherwerb erworben wird, sondern als Kompetenz erst in der Adoleszenz entfaltet wird; als literarische Form sogar noch später (Nelson 2006, Hausendorf/ Quasthoff 1996). Die Erzählenden müssen in der Lage sein, einen kohärenten Text produzieren zu können, d. h., der Text muss bestimmten strukturel‐ len sprachlichen Anforderungen gerecht werden. Die Komplexität liegt vor allem 106 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="108"?> darin, dass die Voraussetzungen für das Erzählen erkannt und beherrscht werden müssen, d.-h., zu Erzählendes muss als ungewöhnlich oder erzählenswert identifiziert werden. Dafür ist ein Perspektivwechsel nötig, denn die Erzählenden müssen sich zunächst in die Erwartungen und Annahmen des anderen hineinversetzen. Alltägliches Erzählen ist folglich eine komplexe kommunikative Aufgabe, die nur kooperativ in interaktiven Sequenzen bewältigt werden kann (Merkelbach 2004). Das Herausbilden der Erzählfähigkeit betrifft also sowohl die sprachlich-literarische Form als auch die psychisch-mentale Organisation (Echterhoff/ Straub 2004). Narrationen sind Miniaturen einer zeitlichen Ordnung von Erlebtem, Sozialbe‐ ziehungen und psychischen Selbstbezügen. Erzählen ist eine Form sprachlicher Tätigkeit und damit gleichzeitig eine Form psychisch-mentaler Organisation. 6.2 Narrative Identität Die narrative Identität setzt sich aus Narrationen zusammen, wobei sich die Bedeutung einer Narration aus der jeweiligen intersubjektiven Beziehungskonstellation ergibt, sodass Erzählungen des Selbst je nach situativem Kontext als Erfolgsgeschichte, als Misserfolgsgeschichte, als Erzählung vom ewigen Glück, als Heldengeschichte, als Tragödie oder als komödienhafte Romanze erfolgen können (Gergen 1998). Lu‐ cius-Hoene/ Deppermann (2004, S. 49) formulieren dazu passend: „Über sprachliche Kommunikation werden Identitäten entworfen, dargestellt, ausgehandelt, zurückge‐ wiesen, bestätigt.“ Die Narrationen, die im Sozialen ausgehandelt werden und die eine ganz persönliche Sicht auf Erlebtes aufzeigen, befinden sich damit genau an der Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt (Bachtin 1979). Über diese Schnittstelle finden folglich Wirklichkeitskonstruktionen statt (Gergen 2002). Obwohl Narrationen einen theoretischen Stellenwert im Rahmen der Identitätsbil‐ dung einnehmen, war die empirische Fundierung rein forschungspraktisch lange umstritten (Lucius-Hoene 2010). Deshalb setzte sich die Beschäftigung mit Narrationen als eigenes Paradigma erst in den 1980er-Jahren allmählich durch (Sarbin 1986, Bruner 2002). Es entstand die narrative Psychologie, zu deren Kernannahme zählt, dass Narrationen durchaus identitätsstiftend sind (s. Infobox). Inzwischen erfreut sich die Erforschung von Narrationen fächerübergreifender Wertschätzung, da erkannt wurde, dass die Narration jene Form ist, „in der Menschen die Erfahrung der Zeitlichkeit ihrer Existenz in Sprache umsetzen und mitteilbar machen […]“ (Lucius-Hoene 2010, S. 584). Zu betonen ist, dass es sich bei Narrationen sowohl um eine Herstellung als auch eine Darstellung von Identität handelt (Engelhardt 2011, Lucius-Hoene/ Deppermann 2004, Shiffrin 1996). Bei der Herstellung von Identität spiegeln die Erzählungen den Bewusstseinsstrom wider, sodass das Individuum als kontinuierliches Subjekt 6.2 Narrative Identität 107 <?page no="109"?> erscheint. Die Darstellung der eigenen Identität konstruiert Erzählungen derart, dass sich das Individuum als kohärent erlebt (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004). Narrationen sind identitätsstiftend. Sie dienen der Herstellung und Darstellung von Identität. Narrative Psychologie Die narrative Psychologie beschäftigt sich grundsätzlich mit dem Erzählen und Rezipieren von Geschichten, mit denen Wirklichkeit konstruiert wird (Straub 2020, Sarbin 1986). Ricœur (2007) befasste sich mit der Transformation von Erzählungen und ging davon aus, dass Erzählungen das Erlebte und Erinnerte ordnen und damit Grundsteine der Identität bilden. In der narrativen Psychologie wird versucht, über Narrationen herauszufinden, warum Individuen Dinge tun, was sie denken und wie sie ihre Identität in Geschichten konstruieren (McAdams 2018, Kraus 2000). Außerdem wird danach gefragt, welches die kulturellen, sozialen und psychischen Voraussetzungen für Narrationen sind sowie welche Implikationen und Folgen Narrationen haben (Echterhoff/ Straub 2004, Keupp et al. 1999). Kritisch ist an der narrativen Psychologie zu betrachten, welcher Sprachbegriff gewählt wird. Sprache spielt zwar eine zentrale Rolle und wird in Bezug zur Selbstbildung gesetzt (Kraus 2000, 2007), sie bleibt jedoch häufig lediglich Medium des Ausdrucks und wird wenig vermittelnd aufgefasst (Messing/ Werani 2011). Die vermittelnde Rolle der Sprache, so wie es mit dem Begriff sprachliche Tätigkeit postuliert wird, ist jedoch gerade für die Identitätsbildung zentral, denn es müssen soziokulturelle Aspekte berücksichtigt werden und die dialogisch gegenstands‐ konstituierende Kraft von Sprache (s. Kapitel 2). In aktuelleren Arbeiten sind in den Auffassungen der Komplexität von Narration Annäherungen an den Begriff sprachliche Tätigkeit zu finden, da zunehmend die psychologische und soziologische Dimension sowie die Dynamik von Narrationen beleuchtet werden (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004, Lucius-Hoene 2010, Straub 2020). Die narrative Psychologie ist heute weit verzweigt, wobei Straub (2020) zurecht anmerkt, dass der Begriff narrative Psychologie eigentlich irreführend ist, da sich die Psychologie nicht erzählend darstellt, sondern im Kern alle Arbeiten, die das Erzählen erforschen, an der Psychologie der Narrationen interessiert sind. Welche Geschichten erzählen Sie gerne von sich selbst? Schreiben Sie zwei davon auf. Wie stellt sich Ihre Identität in den Geschichten dar? 108 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="110"?> Der Begriff narrative Identität wurde von Ricœur (1987, 2007) geprägt. Er wies bereits darauf hin, dass mit den (autobiografischen) Narrationen Facetten der Identität hervorgehoben und dargestellt werden. Dabei spielt es nach Ricœur (1985, 1987) keine Rolle, ob Narrationen wahr oder falsch sind, d. h., auch falsche Narrationen können zu Wirklichkeiten werden. In Verschwörungstheorien werden beispielsweise Inhalte leicht verständlich und stimmig vermittelt, unabhängig vom Wahrheitsgehalt (Hagmann et al. 2017). Ebenso ist bei Selbsttäuschungen bekannt, dass die emotionale Bindung an Gruppen über Akzeptanz und Anerkennung sowie ein Gefühl von Zuge‐ hörigkeit stärker wirken als der Inhalt der Narrationen (Angehrn 2017, Sachse 2020). Auf diese Weise werden nicht nur wahre Narrationen geteilt, sondern eben auch Narrationen, die Irrtümer, Lügen oder eben Selbsttäuschungen enthalten. Insbesondere Selbsttäuschungen können die Funktion eines psychischen Stabilisators einnehmen, indem mit diesen Täuschungen das gewünschte Selbst aufrechterhalten bleibt. Mit diesem getäuschten, gewünschten Selbst wird dann eine fiktive oder nicht wahre Welt behauptet (Angehrn 2017, Sachse 2020). Mit den Narrationen entsteht folglich in der Aushandlungen zwischen Individuen eine gemeinsame soziokulturelle Wirklichkeit, die sich auf die eigene Identitätskonstruktion auswirkt. Paul Ricœur (1917-2005) Der französische Philosoph Paul Ricœur wurde 1913 in Valence geboren und starb 2005 in Châtenay-Malabry. Er studierte Philosophie in Rennes und an der Sorbonne in Paris. Aus der intensiven philosophischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Richtungen kristallisiert sich u. a. sein Interesse an Existen‐ zialismus, Phänomenologie und schließlich der Sprachphilosophie heraus. In der Zeit seiner Gefangenschaft während des zweiten Weltkriegs befasste er sich mit Husserl (er übersetzte Husserls Idee ins Französische) und Jaspers. Nach dem Krieg lehrte er u. a. an der Sorbonne und in Chicago. Insbesondere die Sprache ist für ihn ein Mittel, nicht nur Dinge beschreiben zu können, sondern etwas Lebendiges, das Wirklichkeit interpretiert. Dabei sind es wirkliche und unwirk‐ liche Tatsachen, die beiderseits Wirklichkeit zum Vorschein bringen. In seine Hermeneutik des Selbst integriert Ricœur Gedanken aus dem Strukturalismus und der Psychoanalyse, sodass sich Überlegungen zur narrativen Identität daraus ableiten lassen (Welsen 1999). Die narrative Identität bildet sich aus Narrationen. Die Narrationen können wahr oder falsch sein, sie erzeugen in jedem Fall konstruierte Wirklichkeiten und damit verbunden eine Identität. 6.2 Narrative Identität 109 <?page no="111"?> Lacan geht davon aus, dass das Selbstbild im Sinne eines „Bild im Spiegel“ eine Fiktion ist. Stellen Sie einen Bezug zu Lacans Auffassung her und überlegen Sie, wie echt die narrative Identität ist. Ist es so, dass die Geschichten auch fiktiv sind, die wir über uns selbst erzählen? Bereits im Kindesalter wird Identität über Narrationen ausgehandelt. Kinder werden von Beginn an in die Erzählgemeinschaft mit eingebunden und das autobiografische Erzählen erhält eine elementare Bedeutung für das Selbstverständnis der eigenen Person sowie für das Wahrnehmen und Verstehen der anderen Individuen (Engelhardt 2011). Die Entwicklung der Erzählfähigkeit ist ein komplexer Prozess, der Schritt für Schritt erlernt werden muss (Hausendorf/ Quasthoff 1996). Es geht zunächst um die Selbstdarstellung, indem Kinder lernen, sich kontinuierlich und kohärent in Bezug auf die Vergangenheit und in Bezug auf die Hörer: innen zu konstruieren (Quasthoff 2003). Um eine Anpassung der Erzählung an die Hörer: innen zu erreichen, ist ein Perspektivwechsel und damit auch eine Einschätzung der Erwartungen der Hörer: in‐ nen erforderlich, d. h., neben den sprachlichen sind auch kognitive und emotionale Entwicklungsschritte für die Entwicklung der Erzählfähigkeit relevant (s. Infobox). Die Adoleszenz oder Jugendphase fordert dann aufgrund der körperlichen, kognitiven und emotionalen Veränderungen identitätsthematisierende Fragen heraus (Mey 1999, Erik‐ son 1973, Marcia 1980). Es wird angenommen, dass die reflektierte Identitätsbildung als lebenslange Entwicklungsaufgabe ihren Ausgangspunkt in der Adoleszenz nimmt (Mey 1999) und dass dieser Entwicklungsschub ebenso die sprachliche Entfaltung beinhaltet, die zum Hauptmittel des Aufbaus der Identität wird (Vygotskij 1931/ 1987). Individuen lernen, im autobiografischen Erzählen eine biografisch-zeitliche Verbin‐ dung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen (Engelhardt 2011). In Bezug auf die Identitätsbildung stiften die Erzählungen gleichermaßen Kontinuität und Kohärenz (Straub 2000). Narration in der Adoleszenz Einen Zusammenhang zwischen Identität, Narration und Jugend stellt Mey (1999) her. Er weist darauf hin, dass es in der Pubertät gerade darum geht, aktuelle Selbstbilder zu prüfen, neu zu entwerfen und auszuprobieren. Somit beginnt erst in der Jugend die Ausbildung biografischer Narrationen, d. h. im engeren Sinn die Konstruktion der eigenen Identität. In seiner Studie interessierte sich Mey für das Ausbalancieren von Erinnerung und Erfahrung im Jugendalter, wofür er Interviews mit Jugendlichen zu zwei Zeitpunkten durchführte. Da die Fragen in beiden Interviews nahezu gleich gehalten wurden, konnte Mey aufzeigen, dass es nicht einfach zu einer neuen Zweiterzählung kam, sondern dass ein Bedeutungszusammenhang zu dem bereits Erzählten hergestellt wurde. Es wurde von den Jugendlichen also die Möglichkeit genutzt, Eindrücke aus der ersten Erzählung beim zweiten Zeitpunkt narrativ umzuarbeiten, indem neue Aspekte 110 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="112"?> hinzugenommen und alte Aspekte integriert, jedoch neu bewertet wurden. Mey (1999, S. 313) folgert daraus: „Das sich Selbst-Entwerfen, das sich Selbst-Erzählen ist ein kompositorischer Akt.“ Die (autobiografische) Gesamterzählung besteht aus einzelnen Episoden, die zu einem für das Individuum logischen Bedeutungsge‐ füge zusammengesetzt werden, wodurch diese Gesamterzählung gleichermaßen stabil und veränderlich erscheint. Ein erstaunliches Phänomen ist dabei auch das Aussparen von Episoden, um Unerwünschtes verschwinden zu lassen, d. h., Iden‐ titätsbildung hat somit auch viel mit Erinnerungsprozessen zu tun. Die Kohärenz der Biografie hängt jedoch damit zusammen, dass den Narrationen durch die Umbewertung und Umschreibung nachträglich Kausalität zugeschrieben werden kann. Je nachdem, welche Ereignisse im Leben auftreten, kann die Struktur der Geschichte verändert und angepasst werden. Deutlich wird an dieser Studie die Tatsache, dass es sich bei Identität um eine Bewegung und eine offene Form handelt. Autobiografisches Erzählen ist Teil des Erzählerwerbs und ermöglicht dem Individuum, Kontinuität und Kohärenz in biografisch-zeitliche Verbindungen zu bringen. Insbesondere in der Adoleszenz werden Selbstbilder geprüft, neu entwor‐ fen und ausprobiert. In den 1980er-Jahren spricht McAdams (1985) von Identität als life story, die gefüllt ist mit Schauplätzen, Figuren, Handlungen und Themen. McAdams geht davon aus, dass sich Individuen in dieser Lebensgeschichte in der Welt verorten. Bemerkenswert ist, dass Identität aus Erinnerungen der Vergangenheit über die Wahrnehmung der Gegenwart bis zur Imagination von Zukünftigem her- und dargestellt werden kann. So ist die narrative Identität eine konstruierte Lebensgeschichte, die aus der Rekon‐ struktion von autobiografischen Erinnerungen und einer imaginierten Zukunft besteht (McAdams/ McLean 2013). Die konstruierten Narrationen entsprechen jedoch durch die Darstellung von subjektiv Erlebtem nicht zwangsläufig dem Geschehenen. Ziel der Narration ist es vielmehr, der Lebensgeschichte zu einer Einheit und einem Sinn zu verhelfen. Vergangenes lässt sich kausal erzählen, weil zum Zeitpunkt der Erzählung das Ende des Ereignisses oder Ereignisfolgen bekannt sind, während dies für zukünftiges nicht der Fall ist. Kausalität ist folglich in rückblickenden Narrationen in Bezug auf Anpassung der Lebensgeschichte ein wichtiges Thema. Die Konstruktion der narrativen Identität kann auch als Identitätsarbeit bezeichnet werden (Kraus 2000, Keupp et al. 1999). Selbstdarstellung und -herstellung werden als Identitätsprojekte bezeichnet, die eine offene Struktur haben, d. h., Kontinuität und Kohärenz des Selbst müssen stets sprachlich neu geschaffen werden. Nach Keupp et al. (1999) geht es um die Konstruktion von Identitätsgefühl, Selbstgefühl und Kohärenzgefühl (s. Kapitel 3.3). Die Erzählformen narrativer Identität reichen von 6.2 Narrative Identität 111 <?page no="113"?> rudimentär bis hochkomplex und sind gesellschaftlich gebunden. Gesellschaftlich ist es auch unabdingbar, sich kontinuierlich und kohärent zu erzählen, da Brüche bemerkt und hinterfragt würden. Mit Lucius-Hoene/ Deppermann (2004, S. 75) kann zusam‐ menfassend festgehalten werden, dass unter narrativer Identität „die Art und Weise [aufgefasst werden kann], wie ein Mensch in konkreten Interaktionen Identitätsarbeit als narrative Darstellung und Herstellung von jeweils situativ relevanten Aspekten seiner Identität leistet“. Narrative Identität ist das Ergebnis der erzählenden Identitätsarbeit, die über die biografisch-zeitliche Abfolge der Narrationen sowohl Kontinuität als auch Kohärenz erzeugt. Stimmt es, dass Identität über Narrationen entsteht? Verfügen Sie über eine Identität, weil Sie sie erzählen? Sind Sie das, was Sie über sich erzählen? Überlegen Sie sich Narrationen, für die Ihre Identitätskonstruktion zutrifft! Gibt es Facetten Ihrer Identität, die nicht mit Narrationen erfasst werden können? 6.3 Das dialogische Selbst Das theoretische Konstrukt des dialogischen Selbst entwickelt Hermans seit den 1990er-Jahren, indem er Aspekte des amerikanischen Pragmatismus mit dialogisch ausgerichteten Theorien verbindet (Hermans/ Gieser 2012). Aus dem amerikanischen Pragmatismus werden vor allem (dialogische) Aushandlungsprozesse übernommen, wie die Aushandlung des Selbst zwischen dem Ich und dem generalisierten Anderen (ICH) ( James 1890, Mead 1934/ 1968). Weitere dialogische Aspekte werden aus der Theorie von Buber (1979) aufgegriffen, der davon ausgeht, dass der Mensch am Du zum Ich wird. Aus dem kulturhistorischen Ansatz werden vor allem die sprachliche Kon‐ kretisierung und Interiorisierung übernommen und damit verbunden die Annahme, dass aus interpsychischen dialogischen Aushandlungen intrapsychische dialogische Aushandlungen werden. Das Prinzip der Dialogizität Ausgangspunkt für die dialogische Identität ist das dialogische Prinzip, wie es beispielsweise Linell (2001) ausgearbeitet hat. Linell betont als Grundprinzip der Dialogizität (between process) die gegenseitige Bezogenheit der Individuen als Charakteristikum von sprachlichen Interaktionen in jeweiligen Kontexten. Es handelt sich bei Dialogizität also um ein wechselseitiges Prinzip unter Berück‐ sichtigung des anderen (other-orientedness). Bedeutung und Sinn entstehen in der 112 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="114"?> sprachlichen Interaktion, sodass die kontextuelle Ausrichtung von Interaktionen betont ist, wobei nicht nur situative, sondern auch soziokulturelle Kontexte berücksichtigt werden. Die kulturhistorische Psycholinguistik geht beim Konzept von Dialogizität davon aus, dass sich jede höhere psychische Funktion ursprünglich zwischen zwei Menschen ereignet hat (Bachtin 1979, Vygotskij 1934/ 2002). Der ursprünglich wechselseitige, interpsychische Prozess ist am Anfang sozial und kollektiv be‐ schaffen, er wird interiorisiert und dann zu intrapsychischen Prozessen (s. Kapitel 2). Es wird also angenommen, dass - wie alle höheren psychologischen Prozesse - auch die Ich-Identität aus der sprachlichen Interaktion mit anderen hervorgeht. Dies führt zur Annahme einer quasisozialen inneren Ebene des Bewusstseins. Die Kommunikation spielt eine wichtige Rolle, weil zunächst äußere Dialoge verinnerlicht werden, sodass äußerer und innerer Dialog eng verknüpft sind und sich wechselseitig beeinflussen (Werani 2011). Die Identität eines Individuums ist also schlussendlich auch sozial und damit dialogisch verankert, indem Selbst‐ verständigung über die Verständigung mit dem anderen verläuft. Der dialogische Aspekt ist verbunden mit Vielstimmigkeit und führt zu der Überlegung, ob meh‐ rere dialogische Stimmen verschiedene Identitäten repräsentieren, denn einzelne innere Stimmen können mit Tätigkeiten, Rollen oder Berufen verbunden sein (Wertsch 1991). Auch Taylor (1994) betont die Tatsache, dass Individuen nur in gesellschaftlichen Bezügen vorkommen, also in ihren Sozialsystemen und damit in ihrer Sprache, und sich folglich Identität nur aus diesen existierenden Bezügen heraus entwickeln kann. Er konzentriert sich auch auf den dialogischen Charakter der Identität und kommt zu dem Schluss, dass ein Selbst nur im sprachlichen Austausch besteht, also im Verhältnis zu anderen. Sprache ist damit in Summe ein ganz zentraler Faktor für die Ausbildung des Selbst, und mit Sprache wird Identität nicht nur beschrieben, sondern auch geschaffen (Taylor 2017). Sprachliche Interaktionen als Ausgangspunkt für die Identitätsbildung anzuneh‐ men, betont den dialogischen Aspekt der Identität. Hermans/ Gieser (2012) gehen davon aus, dass es sich beim dialogischen Selbst um eine Interiorisierung gesellschaftlicher Prozesse handelt, da es nur in gesellschaftlichen Prozessen vorkommt. Durch die Interiorisierung werden die quasigesellschaftlichen Prozesse eng mit Formen des Selbsterlebens verbunden und damit verkörpert. Die gesellschaftlichen Prozesse bestehen aus zahlreichen und verschiedensten Interaktio‐ nen mit Individuen, sodass das dialogische Selbst als eine Minisozialität (society-of-sel‐ ves) aufgefasst wird. Die Voraussetzung dafür, dass eine dynamische Pluralität als Minisozialität entsteht, ist, dass das Individuum verschiedene Ich-Positionierungen einnehmen kann. Das dialogische Selbst stellt folglich eine dynamische Vielfalt von 6.3 Das dialogische Selbst 113 <?page no="115"?> Ich-Positionen dar. Das Ich steht für eine bestimmte Position in Raum und Zeit und ermöglicht, dass sich bei Veränderungen von Raum und Zeit die Ich-Position bewegen kann. Je nach sozialem Kontext wechselt also das Ich seine Position und es kommt zu Positionierung, Neupositionierung und Gegenpositionierung, d. h., das Ich kann zwischen verschiedensten auch gegensätzlichen Positionen wechseln. Es kommt zu einem (innerlichen) dialogischen Austausch zwischen den Positionen. Es wird eine Polyphonie der Stimmen angenommen und einzelne Stimmen können für bestimmte Positionierungen oder auch interaktive Charaktere stehen. Entsprechend werden verschiedene Positionen beschrieben (Hermans/ Gieser 2012): ▶ Die Ich-Position erkennt die Vielfalt des Selbst an und ist dafür verantwortlich, die Kontinuität und Kohärenz des Selbst zu erhalten. Durch die Anbindung an Raum und Zeit muss die Ich-Position ständig neue Positionen einnehmen (Dezentralisierung) und gleichzeitig die Gestalt eines autonomen Selbst erhalten, die zum Selbst als passend erlebt wird (Zentralisierung). ▶ Die Promoter-Positionen spiegeln die Fülle an Stimmen von wichtigen, nahestehen‐ den Personen, die oftmals auch mit Leitsprüchen oder Überzeugungen erscheinen, wie beispielsweise Ich gebe nie auf! ▶ Die dritte Position versöhnt, wenn zwei Positionen in Konflikt geraten, oder mildert den Konflikt zumindest ab. Es sind oft sehr kreative Strategien, die aus widersprüchlichen Überzeugungen eine relative Selbstintegration ermöglichen. ▶ Aus der Metaposition heraus kann schließlich das Selbst über sich selbst reflektie‐ ren. Es benötigt etwas Distanz und es können aus dieser Position heraus mehrere Positionen gleichzeitig und deren Verknüpfungen untereinander betrachtet wer‐ den. Diese Möglichkeit der Betrachtung erleichtert die Organisation des Selbst. Aus den innerlichen Dialogen entsteht ein komplexes, narrativ strukturiertes Selbst. Die Interaktion von verschiedenen Ich-Zuständen wird auch in der Psychotherapie genutzt, beispielsweise wird von Ego-States gesprochen (Watkins/ Watkins 2008) oder das innere Team behandelt (Schulz von Thun 2019, Schulz von Thun/ Stegemann 2015). Das dialogische Selbst ist eine Minisozialität als Ergebnis zahlreicher verschie‐ denster Interaktionen mit Individuen. Das bedeutet, dass das dialogische Selbst ein verinnerlichter Teil des Sozialen ist und dass es sprachlich ist. Im dialogischen Selbst treten verschiedenste, auch gegensätzliche, Ich-Positionierung miteinander in Austausch. Versuchen Sie herauszufinden, ob Sie auch vielstimmig sind. Können Sie einzelne Stimmen identifizieren? Haben Sie eine Idee, wer mit wem spricht? 114 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="116"?> 6.4 Facetten des Nichterzählens Die narrative Identität umfasst die Darstellung und Herstellung der Identität über Erzählungen. Allerdings gibt es keine Narration, die Identität erschöpfend erfasst, sodass es durchaus Grenzen des Erzählens gibt (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004), d. h., es bleiben stets Aspekte übrig, die nicht erzählt werden, auf eine Art unerzählbar sind oder nicht mehr erzählt werden können. Dass das Leben eines Individuums in seiner Gesamtheit nicht erzählbar ist, ist eine gedächtnisbedingte Tatsache, da nicht alles Erlebte erinnert werden kann. Damit ist die Auswahl von Erlebtem, was erzählt wird, stets lückenhaft und außerdem eine Abstraktion des tatsächlich Erlebten. Über das Nichterzählte oder auch Nichterzählbare wird jedoch ebenfalls Wirklichkeit kon‐ struiert (Engelhardt 2011, Kraus 2007, 2014). Engelhardt fasst dies wie folgt zusammen: Das Erzählen grenzt ein und damit zugleich aus, es setzt thematische und zeitliche Schwerpunkte, rückt Nebensächliches in den Hintergrund, arbeitet mit Auslassungen, mit unterschiedlichen Graden der Detaillierung, mit Verdichtungen, Zusammenfassungen und Verallgemeinerungen. So gehört zu jeder Lebenserzählung als notwendiges Gegenstück ein Universum des Nicht-Erzählten. (Engelhardt 2011, S.-52) Es gehört zur Aushandlung von Identität dazu, dass nicht alles Erlebte erzählt werden kann und dass Geschichten von Erlebtem auch weggelassen werden können. Es kommt folglich zu einer Bewegung in der Identitätsbildung zwischen Erzähltem und Nichterzähltem. Zum lebensgeschichtlichen, autobiografischen Erzählen gehört stets das Nichter‐ zählte dazu. Zum Nichterzählen kommt es zwangsläufig, weil nicht alles Erlebte erzählt werden kann. Erzähltes und Nichterzähltes gehören gleichermaßen zur Identitätsbildung dazu. Die Auswahl, was erzählt wird und was nicht, wird in Zusammenhang mit den bestehenden gesellschaftlichen Normen getroffen. Normen regulieren, was und wie erzählt wird, und passen Erzählungen an den jeweiligen Kontext an. Engelhardt (2011) geht davon aus, dass Erzählnormen eine Art Schutz darstellen, z. B. einen Selbstschutz, um ungewollte Selbstentblößung zu vermeiden, und auch einen Schutz der anderen vor unpassenden Inhalten. Zu ausgeprägte Normen können die Erzählfähigkeit stark einschränken, sodass sich Erzählende aus Angst, Unpassendes zu sagen, gar nicht mehr trauen, irgendetwas zu erzählen. Die Übertragung von Erlebtem in Sprache wird umso schwieriger, je weiter das Erlebte von gewohnten Alltagsroutinen entfernt ist. Gerade Außergewöhnliches, Schrecken oder auch größtes Glück lassen sich schwer in Worte fassen. Insbesondere der Schrecken führt aufgrund der Stresshormone zu einem Verstummen oder zu unzusammenhängenden Äußerungen (s. Kapitel 10). 6.4 Facetten des Nichterzählens 115 <?page no="117"?> Erzählnormen regulieren, was erzählt wird und was nicht. Sie dienen dem Selbstschutz oder dem Schutz anderer. Je nachdem, welche Identitätsmodelle angenommen werden, ändert sich die Bedeutung von autobiografischem Erzählen. Bei geschlossenen Identitätsmodellen besteht die Idee, das Leben als eine große, geschlossene Geschichte aufzufassen, in welcher Episoden des Lebens passend eingefügt werden. D. h., wenn etwas passiert, das nicht in das Erzählskript passt, dann besteht ein Problem bei der Integration des Erlebten. Dies ist auch der Fall, wenn sich gesellschaftlich konventionalisierte Erzählskripte ändern. Bei offenen Identitätsmodellen steht die lebenslange Identitätsarbeit und die damit verbundene Auffassung einer Patchwork-Identität im Vordergrund. Dann sind es kleinere Erzähleinheiten, die zusammengefügt werden. Kürzere Selbsterzählungen ermöglichen die Dynamik verschiedener Ich-Positionierungen und lassen Raum für Aushandlungsprozesse der Identität. Identität bleibt mit dieser Auffassung ein offenes und unabgeschlossenes Konstrukt in diskursiver Praxis (Bamberg/ Georgakopoulou 2008, Kraus 2006, Keupp et al. 1999). Bei geschlossenen Identitätsmodellen wird versucht, eine Lebensgeschichte zu erzählen. Bei dynamischen Aushandlungsprozessen der Identität werden kürzere Erzähleinheiten mit vielfältigen Ich-Positionierungen verwendet. Die narrative Identitätsarbeit spielt im medizinischen Bereich eine Rolle, denn bei‐ spielsweise hirnschädigende Ereignisse werden aus der Perspektive der Betroffenen als Identitäts- oder Biografiebruch erlebt (Lucius-Hoene/ Nerb 2010). Um diesen Identi‐ tätsbruch zu verarbeiten, ist die Identitätsarbeit mit den Prozessen der Kontinuität und Kohärenz als zentrale Integrationsleistung nach hirnschädigenden Ereignissen unerlässlich (Keupp et al. 1999, Straub 1998). Die Kontinuität, die durch ein hirnschä‐ digendes Ereignis unterbrochen wurde, muss über Narrationen wieder hergestellt werden, ebenso das kohärente Erleben, um die neuen vieldeutigen und zum Teil auch widerstrebenden Identitätsaspekte zu integrieren (Lucius-Hoene/ Nerb 2010). Die Identitätsarbeit nach hirnschädigenden Ereignissen kann auf die zeitliche, sozio‐ logische und psychologische Dimension bezogen werden und wird mit Beispielen von Lucius-Hoene/ Nerb (2010) illustriert: Die zeitliche Dimension umfasst die Verknüpfung der Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsperspektive, die den Eindruck von Vertrautheit und Kontinuität mit der eigenen Lebensgeschichte vermittelt. Ursachen für einen Kontinuitätsbruch nach einer akuten Hirnschädigung sind beispielsweise körperliche Beeinträchtigungen aufgrund von Lähmungen einzelner Gliedmaßen, sprachliche Beeinträchtigungen oder auch Aufmerksamkeitsstörungen, die die berufli‐ 116 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="118"?> chen Wiedereingliederungsmaßnahmen erschweren. Gedächtnislücken können diesen Bruch zudem verstärken und es kommt in den Narrationen zur Markierung dieser Diskontinuität, indem die Lebensgeschichte vor und nach dem Ereignis unterschieden wird. Manche Erzählungen beginnen mit dem hirnschädigenden Ereignis und möchten das davor gewesene negieren, da es dieses in der bekannten Form nicht mehr gibt. Andere Erzählungen enden mit dem hirnschädigenden Ereignis, sodass das eigentliche Leben vor dem hirngeschädigten Ereignis stattgefunden hat. Die soziologische Dimension betrifft die Aushandlung von Identität mit anderen, also sowohl die kommunikativen als auch die sozial-interaktiven Aspekte. Es gibt je nach Hirnschädigung unterschiedliche Schwierigkeiten, die diese Aushandlungsprozesse erschweren können. Es kann beispielsweise eine beeinträchtigte Kommunikationsfä‐ higkeit sein, eine generelle kognitive Verlangsamung oder Gedächtniseinbuße. Es treten beschämende Situationen ein, in welchen soziale Aushandlungsprozesse das Selbstbild nicht stärken, sondern es im Gegenteil zu Kränkungen und Konflikten kommt. Insbesondere bei Aphasien ist mit der Beeinträchtigung der Sprache die Aushandlung der Identität erschwert (Werani 2008). Die psychologische Dimension beleuchtet Aspekte der Identität als Selbstverhältnis und Selbstvergewisserung und lenkt das Augenmerk auf die Vorstellung, die das Indi‐ viduum von sich selbst hat. Das Selbstbild ist eine Art Triebfeder der Identitätsarbeit, da im Selbstbild auch Vorstellungen von einem Ideal-Selbst enthalten sind, und durch die Reflexion des Individuums wirkt es auf die Identitätsbildung ein. Insbesondere bei der Selbstwahrnehmung werden bei Identitätsbruch unterschiedliche Phasen unterschie‐ den: In der Anfangsphase, also unmittelbar nach dem hirnschädigenden Ereignis, bestehen in der Regel noch keine Identitätsprobleme, da die Veränderung noch nicht wahrgenommen wird und sich zunächst in der Akutphase noch Veränderungen, in der Regel Verbesserungen, ergeben. Es folgt eine Phase, in welcher ein Bemühen besteht, die (alte) Identität zu wahren, gefolgt von einer Phase zunehmender Störungseinsicht. Die letzte Phase hat einen erheblichen Einfluss auf die Identität, da aufgrund der Störungseinsicht der Identitätsbruchs erlebt wird. Dies kann beispielsweise dazu führen, dass sich Individuen Teilidentitäten vor und nach dem Ereignis zuschreiben. Diese dramatische Kluft zwischen der alten und neuen Identität kann in vielen Fällen nicht mehr integriert werden (Lucius-Hoene/ Nerb 2010). Im Rahmen der Biografiearbeit mit Patient: innen mit hirnschädigenden Ereignissen zeigen sich in narrativen Interviews verschiedene Biografiemuster (Nerb 2008), d. h., die Narrationen können sich auf einen Vorher/ Nachher-Vergleich beziehen, wobei das frühere Leben in manchen Fällen sehr positiv dargestellt wird im Gegensatz zum negativen gegenwärtigen Leben; jedoch kann dies auch genau andersherum erlebt werden, dass im gegenwärtigen Leben positive Erfahrungen wertgeschätzt werden und das frühere Leben mit negativen Erfahrungen behaftet ist. Auch wenn der Identitätsbruch als Selbstwertkrise dargestellt wird, zeigt sich in den Narrationen der Interviews, dass in irgendeiner Form versucht wird, zumindest in einem Lebensbereich (wieder) eine Kontinuität herzustellen (Nerb 2008). 6.4 Facetten des Nichterzählens 117 <?page no="119"?> Erschwert ist diese Identitätsarbeit bei Aphasien, also sprachsystematischen Beein‐ trächtigungen nach Hirnschädigung, bei denen das gesamte Sprachsystem betroffen ist (Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben). Daraus resultiert in unterschiedlichen Ausprägungen ein Nicht-mehr-erzählen-Können, d. h., bei Aphasie ist die zusätzliche Herausforderung der Identitätsarbeit, dass die erlebte Krise nicht mehr ohne Weiteres erzählt werden kann. Die Betroffenen haben u. a. Wortfindungsstörungen und das Sprachverständnis ist beeinträchtigt. Da Individuen sprechend in einen soziokulturel‐ len Kontext eingebunden sind, ist bei Aphasie damit nicht nur die Sprache betroffen, sondern die Sprachgemeinschaft im Sinne einer Sprech-Handelnden-Gemeinschaft, die auch die Identitätsbildung umfasst (Werani 2008). Mit dem Fehlen der Sprache hängt eine enorme Einbuße der Lebensqualität zusammen (Corsten/ Hardering 2015). Der Zusammenhang zwischen der sprachlichen Beeinträchtigung und der Identitätsarbeit ist noch wenig erforscht. Die wenigen Arbeiten dazu zeigen jedoch, wie eklatant der Identitätsbruch für die Betroffenen und wie wichtig die Identitätsarbeit durch sprachliche Unterstützung biografischer Narrationen bei Aphasie ist (Corsten/ Harde‐ ring 2015, Shadden/ Hagstrom 2007, Shadden 2005). Gezeigt werden konnte bereits, dass Identitätsarbeit mit Individuen mit Aphasie zu einer besseren Lebensqualität und zudem zu einer Verbesserung der allgemeinen Gemütslage führt (Corsten/ Hardering 2015). Bei Individuen mit hirnschädigendem Ereignis muss Identität nach einem Iden‐ titätsbruch neu ausgehandelt werden. Bei Aphasie, also beeinträchtigter sprach‐ licher Fähigkeit, ist die Unterstützung der Identitätsarbeit erschwert, für die Lebensqualität jedoch unabdingbar. Überlegen Sie, welche Facetten Ihrer Ich-Identität Sie nicht erzählen. Welche Bedeutung hat das Nichterzählen für Ihre Biografie? Findet das Nichterzählen eher absichtlich oder unabsichtlich statt? ▢ Was ist eine Narration im Rahmen der Identitätsbildung? Unter einer Narration werden im Rahmen der Selbstbildung alle Erzählungen von alltäglich Erlebtem zusammengefasst. Es sind autobiografische Elemente, die für die Identitätsbildung elementar sind, da durch die biografisch-zeitliche Abfolge der Narrationen Kontinuität und Kohärenz erzeugt wird. Wesentlich an den Narrationen sind Aspekte der Funktion und der Form. ▢ Was wird unter narrativer Identität verstanden? Die narrative Identität ist jener Aspekt der Identität, der aus Erzählungen zusammengestellt wird. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlich 118 6 Sprachliche Formen der Identität <?page no="120"?> Erlebten und dem Erzählten, sodass Narrationen wahr und auch falsch sein können. In beiden Fällen konstruieren sie Wirklichkeit und dienen der Selbst‐ darstellung und Selbstherstellung. Damit kommt der narrativen Identität auch eine klärende Funktion zu, da mittels Sprache die eigene Identität reflektiert werden kann. ▢ Ist die Ich-Identität eine dialogische Einheit? In der Argumentation der Theorie des dialogischen Selbst wird davon ausge‐ gangen, dass die zunächst äußere dialogische Bezogenheit zu einem inneren Dialog wird. Das dialogische Selbst stellt eine Minisozialität dar, in welcher verschiedene Ich-Positionierungen miteinander interagieren. Selbsterzählun‐ gen sind dynamische, dialogische Aushandlungsprozesse, die maßgeblich an der lebenslangen Identitätsarbeit beteiligt sind. ▢ Was passiert mit nicht erzählten Identitäten? Nichterzähltes resultiert allein daraus, weil nicht alles Erlebte erzählt werden kann. Über das Nichterzählen wird ebenfalls eine subjektive Wirklichkeit konstruiert. Erzählnormen sind verantwortlich dafür, was erzählt werden kann, d. h., Inhalte des Erzählens und Nichterzählens sind gleichermaßen vom Kontext abhängig und werden ausgehandelt. Im Fall von Aphasie kommt das Nicht-mehr-erzählen-Können dazu, womit aufgezeigt werden kann, dass die sprachlichen Anteile bei der Identitätsarbeit zentral sind. Hermans, Hubert, & Gieser, Thorsten (2012). Handbook of dialogical self theory. Cambridge: Cambridge University Press. Lucius-Hoene, Gabriele & Deppermann, Arnulf (2004). Rekonstruktion narrativer Identitä‐ ten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 24 Hours - Two Sides of a Crime. Gilles Coulier und Dries Vos (Regie, 2018), Belgien. Bei dieser Serie handelt es sich um einen Banküberfall mit Geiselnahme. Das Erzählen dieser Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln ergibt erst am Ende ein großes Ganzes. Abbitte. Joe Wright (Regie, 2007), Vereinigtes Königreich. Der Film zeigt eine Romanver‐ filmung des gleichnamigen Romans von Ian McEwan. Es geht um Liebe, Krieg und eine Lüge, die sich die Erzählerin erträglich macht, indem sie eine eigene Geschichte erfindet. 6.4 Facetten des Nichterzählens 119 <?page no="122"?> 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck Dieses Kapitel befasst sich damit, wie sich Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck zeigen. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Gibt es einen sprachlichen Stil, der ein Individuum einzigartig macht, sodass es sprachstilistische Merkmale gibt, an denen wir Personen erkennen? ▢ Welche verbalen Aspekte werden in linguistischen Analysen thematisiert, die Einblick in die Identität gewährleisten? ▢ Welche Rolle haben die Stimme und die Körpersprache beim Ausdruck von Identität? Die Erforschung der Ich-Identität befasst sich damit, welche Merkmale ein Individuum einerseits einzigartig machen und welche Merkmale andererseits die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe signalisieren. Sowohl der Part der Einzig‐ artigkeit der persönlichen Identität als auch die soziale Identität, die die Anpassung an normative gesellschaftliche Erwartungen beinhaltet, konstituieren sich aus einer Reihe von Merkmalen, die sich im Verhalten, Handeln, Fühlen und der sprachlichen Tätigkeit zeigen. Ich-Identität fasst folglich die für ein Individuum charakteristischen Sprach-, Denk- und Verhaltensmuster zusammen. Es wird angenommen, dass diese Muster beständig sind, d. h., dass sich ein Individuum in unterschiedlichen Situationen ähnlich verhält (Myers 2014). Von Interesse ist nun, welche Merkmale des sprachlichen Ausdrucks das Individuum im Sinne eines individuellen Sprechstils wiedererkennbar machen, obwohl sowohl Einzigartigkeit als auch Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ausgedrückt werden kann. Der individuelle Sprechstil steht damit in einem Spannungsfeld, einerseits vom Individuum selbst erzeugt und andererseits von unterschiedlichsten, facettenreichen Situationen geformt zu werden. Herausfordernd sind in der mündlichen Kommunika‐ tion insbesondere die polyrelationalen Form-Funktions-Beziehungen (Bose 2010), die in jedem Kommunikationsakt einzigartig und flüchtig sind. Trotz unterschiedlicher sprachlicher Kontexte wird angenommen, dass der individuelle Sprechstil bis zu einem gewissen Grad unverwechselbar und stabil bleibt und dass er neben den linguistischen Aspekten von Inhalt und Form um die sozialwissenschaftlichen Ergänzungen von Stilabsicht und Stilwirkung ergänzt wird (s. Infobox). Sprachstil und Sprechstil Die Auseinandersetzung mit Sprachstilen ist Teil der Linguistik. Die linguistische Stilistik unterscheidet Inhalt (was) und Form (wie), d. h., sie konzentriert sich auf die Funktion sprachlicher Mittel in spezifischen Kontexten. Dieses Interesse hat <?page no="123"?> sich dahingehend weiterentwickelt, dass nicht nur verschiedene Verpackungen von Äußerungen betrachtet werden, sondern verstärkt der stilistischen Bedeutung nachgegangen wird. Androutsopoulos/ Spreckels (2010) benennen Eckpfeiler in der Diskussion um das Stilverständnis, dies sind die pragmatische Stilistik (Sandig 1986), die Ethnografie der Kommunikation (Hymes 1979), die konversationelle Stilistik (Tannen 2005), die interaktionale Soziolinguistik (Gumperz 1982, Sel‐ ting/ Hinnenkamp 1989) und in Deutschland auch die Soziostilistik (Kallmeyer 1994). Gemeinsam ist diesem Stilverständnis, dass Stil nicht mehr nur als linguis‐ tische Norm betrachtet wird, sondern dass Aspekte der Stilabsicht (warum) und der Stilwirkung (wozu) mitberücksichtigt werden. Stil ist damit kein statisches Konstrukt, sondern ein dynamisches, das aus der Wechselwirkung zwischen Sprecher: in-Hörer: in-Bezügen in spezifischen Kontexten entsteht (vgl. Gadet 2004). Die Erforschung von Sprachstilen erfordert damit neben der linguistischen Auseinandersetzung ebenso eine Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Auf‐ fassungen. In den Sozialwissenschaften wird der Stilbegriff aus der Kunst über‐ nommen und auf menschliches Handeln (physisch und psychisch) übertragen. Der Stilbegriff kann hier recht weit gefasst werden, indem Eigentümlichkeiten als charakteristische Merkmale zusammengefasst werden, die in gewisser Weise typisch für ein Individuum, eine Gruppe oder gar eine Kultur sind. Unter dem Begriff individueller Sprechstil können also alle Arten und Weisen des Sprechens eines Individuums verstanden werden. Der Sprechstil ist bis zu einem gewissen Grad habitualisiert und bleibt unbewusst, bis er aktiv bewusst gemacht wird (Reflexion). Der Sprechstil verändert sich je nach Kontext, Situation, Rolle und Interaktionspartner: in, wobei in einem Kern des Stils die Persönlichkeit wieder‐ erkennbar bleibt oder auch soziale Zugehörigkeit abgelesen werden kann. Die Herausbildung des individuellen Sprechstils erfolgt aus der wechselseitigen Bezo‐ genheit von Individuen, sodass der Sprechstil den dialogischen Schnittpunkt zwischen der sozialen Außenwelt und der einzigartigen Innenwelt darstellt. Er lebt gleicherma‐ ßen von der kontextuellen Bezogenheit und dem individuellen Ausdruck (Bachtin 1979, Coupland 2007). Facetten der Ich-Identität können also in der sprachlichen Interaktion deutlich gemacht werden (oder auch nicht), indem das Individuum Identitätszuschrei‐ bungen von außen annimmt und sich über Prozesse der Gestaltung sprachlicher Rahmungen selbst positionieren kann. Zunächst ist es ein Prozess der Habitualisierung, über den sich das Individuum in sprachlichen Interaktionen sprachliche Formen aneignet, die im Bourdieu’schen Sinne einverleibt und nicht bewusst sind. Nur durch Reflexion des eigenen Sprechstils kann dieser bewusst gemacht werden und durch den Einsatz von selbstregulativen Prozessen können Veränderungen des Sprechstils angestoßen werden (Anselm/ Werani 2017). Die unverwechselbaren Stilmerkmale stellen inzwischen eine wichtige Variable bei der Betrachtung der Persönlichkeit dar (Hirsh/ Peterson 2009). Der individuelle Sprechstil dient folglich dem Ausdruck von Ich-Identität und ist gleichzeitig ein prozesshafter Akt der Identitätsbildung, denn 122 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="124"?> Sprecher: innen haben eine Selbstaufmerksamkeit, wie sie sich sprachlich selbst oder im Rahmen einer Gruppenzugehörigkeit präsentieren wollen (Coupland 2007). Der individuelle Sprechstil ist Träger von Ich-Identitätsmerkmalen und verweist auf Aspekte der persönlichen und der sozialen Identität des Individuums. Als Ausgangspunkt dieser Betrachtung wird von einem Zusammenhang zwischen der Dynamik der Ich-Identitätsmerkmale und der Vielfalt der sprachlichen Variatio‐ nen ausgegangen (Coupland 2007). Zu den sprachlichen Variationen zählen verbale, paraverbale und nonverbale Aspekte der sprachlichen Tätigkeit (Abbildung 16), aus deren Kombinationen sich individualisierte Stile ableiten lassen (Anselm/ Werani 2017). Im Folgenden werden Studien zusammengefasst, die den verbalen Ausdruck mit Ich-Identitätsmerkmalen in Zusammenhang bringen, dann wird auf den extraverbalen Ausdruck eingegangen. Abbildung 16: Sprachliche Tätigkeit drückt Ich-Identität auf verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ebene aus Welche Erwartungen haben Sie an einen individuellen Sprechstil? (1) Wenn Sie davon ausgehen, dass ein Individuum einen Persönlichkeitskern hat (Erikson 1973), welche Stilmerkmale assoziieren Sie? Was wären Merkmale dieses Stils? (2) Wenn Sie an eine Patchwork-Identität mit dem Fokus auf Identitätsarbeit denken (Keupp et al. 1999), welche sprachlichen Merkmale eines Individuums würde es dann geben? 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck 123 <?page no="125"?> 7.1 Verbaler Ausdruck der Ich-Identität Verbale Aspekte des individuellen Sprechstils in Zusammenhang mit der Ich-Identität finden sich vor allem in Trait-Ansätzen der Persönlichkeitsforschung (vgl. Kapitel 5). Der lexikalische Ansatz stellt eine direkte Verbindung zwischen Sprache und Persön‐ lichkeitsmerkmalen her (Semin/ Krahé 1992), d. h., es geht im Folgenden vor allem um Aspekte der persönlichen Identität, weshalb auch häufig der Begriff Persönlichkeit verwendet wird. Zu Beginn der Persönlichkeitsforschung wurden vor allem Adjektive gesammelt, um spezifische Persönlichkeitsmerkmale von Sprecher: innen zu beschreiben (Albert/ Od‐ bert 1936). Weitere linguistische Kategorien, die Persönlichkeit markieren, sind Perso‐ nalpronomen und Verben (Semin/ Krahé 1992). ▶ Mit Adjektiven kann sehr direkt auf die Persönlichkeit einer Person verwiesen werden, da mit ihnen beschrieben wird, wie eine Person ist. Im Alltagswortschatz finden sich viele Grundbegriffe, die Persönlichkeitseigenschaften beschreiben. Einer Statistik im Duden zufolge handelt es sich bei Adjektiven um die zweithäu‐ figste Wortart im Deutschen. Bezogen auf 148.000 Stichwörter im Duden kann von ca. 19.000 Adjektiven ausgegangen werden. Die personenbeschreibenden Adjektive werden auf ca. 5.000 geschätzt (Ostendorf 1990). Allport/ Odbert (1936) kommen im Englischen auf ca. 18.000 Wörter, die Persönlichkeitseigenschaften beschreiben. Es gibt also eine Fülle von, oft auch synonymen, Eigenschaftsbegriffen zur Beschreibung von Individuen. ▶ Bei den Personalpronomen wird das Wort ich als die wichtigste Markierung des Selbst betrachtet. In der kindlichen Entwicklung findet mit der Verwendung des Pronomens ich, wenn diese die Selbstbenennung mit dem eigenen Namen ablöst, die Abgrenzung nach außen statt und damit eine Markierung in der Zeitachse (Zollinger 2010). Mit der Verwendung des Wortes ich wird außerdem Ichzentriert‐ heit zum Ausdruck gebracht. Eine häufige Verwendung von ich-Pronomen steht beispielsweise in Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsfaktor Verträglichkeit (Mehl/ Gosling/ Pennebaker 2006), der sich darin äußert, freundlich, kooperativ und mitfühlend zu sein. ▶ Über Verben werden Tätigkeiten ausgedrückt, aber auch interpersonal Beziehun‐ gen markiert. In Zusammenhang mit der Persönlichkeit ist es die Beschreibung von Tätigkeiten von Individuen, über die auf das Verhalten rückgeschlossen werden kann. Beispiele wären Verben wie singen, küssen, schreiben oder lachen, von denen dann Persönlichkeitsmerkmale abgeleitet werden können. Ebenso verhält es sich bei Zustandsverben, die sich auf Situationen oder eben Zustände beziehen, die (auch kurz) anhaltend sind, und über die folglich Rückschlüsse auf emotionale und kognitive Relationen gezogen werden können. Beispiele sind die Verben schlafen oder liegen, über die abgeleitet werden kann, dass die Person müde oder erschöpft ist. 124 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="126"?> Bei den Wortarten werden vor allem Adjektive verwendet, um die Persönlichkeit eines Individuums zu beschreiben, und über Personalpronomen wird der Egozent‐ rismus des Individuums vermittelt. Verben lassen Rückschlüsse auf Beziehungen zwischen Individuen oder allgemeiner der Umwelt zu und ermöglichen damit auch, Persönlichkeitsmerkmale abzuleiten. Die Frage, wie über die Wortverwendung Persönlichkeitsmerkmale eines Individuums zum Ausdruck gebracht werden, wurde umfassend von Pennebaker und seinem Team erforscht (Pennebaker/ King 1999, Tausczik/ Pennebaker 2010, Pennebaker et al. 2015). Die Entwicklung des computergestützten Textanalyseprogramms Linguistic Inquiry and Word Count (LIWC), das mit einem integrierten Wörterbuch arbeitet und die Wörter aus beforschten Texten vordefinierten sprachlichen Kategorien zuordnen kann, stellt die methodische Grundlage dar (Pennebaker/ Francis 1996, Pennebaker et al. 2015). Das Besondere ist, dass mit diesem Analyseprogramm neben linguistischen Basiskategorien psychologische Prozesse, Relativität und persönliche Belange erfasst werden können. Eine erste Version des Programms LIWC wurde für das Englische ausgearbeitet (Pennebaker/ Francis 1996) und stetig verfeinert (Pennebaker et al. 2007, Pennebaker et al. 2015, Boyd et al. 2022). Wolf et al. (2008) haben eine vergleichbare deutsche Fassung adaptiert, die von Meier et al. (2018) weiterentwickelt wurde. Im Folgenden soll zunächst ein Eindruck der Analysekategorien gegeben werden (Wolf et al. 2008): ▶ Die basislinguistische Kategorie enthält Gesamtwortzahl, den Prozentsatz der vom Wörterbuch erfassten Wörter, Satzlänge, Anteil der Fragesätze sowie Verneinung, Artikel, Präpositionen, Zahlen und Pronomina. ▶ Unter psychologische Prozesse fallen drei Kategorien affektive/ emotionale Prozesse, also positive Emotionen wie Optimismus oder negative Emotionen wie Angst, Ärger oder Traurigkeit; kognitive Prozesse, wie Einsicht, Vorläufigkeit oder Gewiss‐ heit; soziale Prozesse wie Kommunikation oder Familie. ▶ Aspekte zur Relativität umfassen die drei Kategorien Zeit (Vergangenheit, Gegen‐ wart, Zukunft), Raum (aufwärts/ abwärts) und Bewegung. ▶ Psychologische Belange fasst Aspekte von körperlichen Zuständen und Funktionen zusammen wie Körperzustände, Essen oder Träumen sowie metaphysische As‐ pekte wie Sterben und Tod. In der weiterentwickelten Variante von Meier et al. (2018) sind zudem zusammenfas‐ sende Variablen enthalten, die weitere Analysen der Texte ermöglichen: Die Variable analytisches Denken (analytical thinking) ermöglicht eine Differenzierung zwischen analytischem oder narrativem Denkstil, die Variable sozialer Status (clout) drückt die soziale Bezogenheit zu anderen Individuen aus, die Variable Authentizität bemisst den 7.1 Verbaler Ausdruck der Ich-Identität 125 <?page no="127"?> unverstellten Sprachgebrauch (authentic) und die Variable Emotionen (tone) drückt das Verhältnis von positiven und negativen emotionalen sprachlichen Ausdrücken aus. LIWC unterstützt psycholinguistische Analysen, da neben basislinguistischen Kriterien auch Einblicke in sprachpsychologische Kriterien gewährleistet werden. Mit LIWC wurden inzwischen eine Fülle von verschiedenen Genres untersucht und Ergebnisse in den Bereichen Persönlichkeit, Sozialpsychologie oder auch Politik erbracht (eine Übersicht geben Tausczik/ Pennebaker 2010, Pennebaker 2017). Die Tabelle-4 enthält als Angebot der vertiefenden Lektüre eine Auswahl über die Vielfalt der Themen im Zusammenhang von sprachlichem Stil und Persönlichkeit. Jahr Autor: innen Thema 1996 Pennebaker/ Francis Auswirkungen des Tagebuchschreibens auf die Gesundheit nach einem traumatischen Erlebnis 1999 Pennebaker/ King Sprachlicher Stil als Persönlichkeitsmerkmal 2001 Stirman/ Pennebaker Sprachgebrauch bei suizidalen und nicht sui‐ zidalen Dichtern 2003 Newman/ Pennebaker/ Berry/ Richards Authentizität beim Lügen 2003 Pennebaker/ Stone Veränderungen im Sprachgebrauch über die Lebensspanne 2004 Cohn/ Mehl/ Pennebaker Emotionen im Sprachgebrauch 09/ 11 2006 Mehl/ Gosling/ Pennebaker Persönlichkeit im alltäglichen Sprachge‐ brauch 2007 Lee/ Kim/ Seo/ Chung Persönlichkeit und Sprachgebrauch im Ko‐ reanischen 2009 Hirsh/ Peterson Persönlichkeit und Sprachgebrauch in Selbst‐ erzählungen 2010 Tausczik/ Pennebaker Überblick über die soziale und psychologische Bedeutung von Wörtern 2012 Beukeboom/ Tannis/ Vermeulen Sprachgebrauch beim Persönlichkeitsmerk‐ mal Extraversion 2012 Mehl/ Robbins/ Holleran Persönlichkeit und Sprachgebrauch in ver‐ schiedenen Kontexten 2013 Schwartz et al. Persönlichkeit, Geschlecht und Alter in sozia‐ len Medien 126 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="128"?> 2013 Kacewicz/ Pennebaker/ Davis/ Jeon/ Graesser Pronomengebrauch als Spiegel sozialer Hier‐ archien 2014 Pennebaker/ Chung/ Frazee/ Lavergne/ Beaver Analyse des Merkmals analytisches Denken 2017 Pennebaker Überblick über Facetten des alltäglichen Sprachgebrauchs in sozialen und psychologi‐ schen Prozessen 2017 Jordan/ Pennebaker Zusammenhang von Sprachgebrauch und analytischem Denken anhand politischer Re‐ den 2017 Hawkins/ Boyd Sprachgebrauch in Traumerzählungen in Be‐ zug auf Gender und Persönlichkeit Tabelle 4: Überblick über Themen, die mit LIWC in Zusammenhang mit dem Thema Sprache und Persönlichkeit untersucht wurden Das Interesse der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Per‐ sönlichkeit ist offensichtlich und birgt nach wie vor Forschungspotenzial. Zur Illustration werden einige Studien aus Tabelle 4 unter den zwei Themenbereichen Spra‐ che und Persönlichkeit sowie sprachlicher Stil, Denkstil und Persönlichkeit zusammengefasst. Begonnen wird mit Studien, die einen Zusammenhang zwischen Sprache und Persönlichkeit anhand der fünf Dimensionen des Big Five aufzeigen konnten (vgl. Kapitel 5). Anzumerken ist, dass in den drei hier zusammengefassten Studien jeweils verschiedene Methoden zur Datenerhebung verwendet wurden. Pennebaker/ King (1999) verwendeten Tests und Sprachproben aus den Eingangstests von Studierenden. Mehl/ Gosling/ Pennebaker (2006) versuchten eine möglichst authentische Datenerhebung im alltäglichen und natürlichen Umfeld, indem sie Proband: innen zwei Tage lang mit einem elektronisch aktivierbaren Recorder (EAR) ausgestattet hatten, der alle 12,5 Minuten für 30 Sekunden eine Aufnahme machte. Diese Aufnahmeschnipsel waren die Grundlage der Auswertung, d. h., alle Schnipsel sprachlicher Äußerungen wurden mit LIWC kodiert und u. a. mit Persönlichkeitsmerkmalen korreliert. In der Studie von Hirsh/ Peterson (2009) wurden Selbstnarrationen und Persönlich‐ keitsmerkmale in Zusammenhang gebracht. Hierfür wurden Studierende gebeten, sowohl Erlebnisse aus der Vergangenheit als auch Planungen für die Zukunft aufzuschreiben. Eine Zusammenschau dieser drei Studien ergibt für die fünf Persönlichkeitsdimensionen des Big-Five-Tests folgende sprachliche Zuordnungen: ▶ Einen hohen Wert im Faktor Extraversion haben gesellige, gesprächige und enthu‐ siastische Individuen. Im Sprachgebrauch zeigt sich, dass diese Individuen mehr Gespräche führen, was mit einer umfangreicheren Wortproduktion einhergeht (Mehl/ Gosling/ Pennebaker 2006). Außerdem verwenden sie mehr ausschließende 7.1 Verbaler Ausdruck der Ich-Identität 127 <?page no="129"?> Wörter, wie obwohl oder weder (Pennebaker/ King 1999). Inhaltlich beziehen sich die verwendeten sprachlichen Ausdrücke auf Menschen, soziale Prozesse und Familie, d. h., Extravertierte zeigen sich mit einer enthusiastischen Komponente sprachlich stärker mit der sozialen Welt verbunden (Hirsh/ Peterson 2009). ▶ Bei hohen Werten im Neurotizismus, also eher emotional labilen, ängstlichen und unsicheren Individuen, konnten Hirsh/ Peterson (2006) feststellen, dass die sprachlichen Ausdrücke vor allem negative Emotionen und den Körper betref‐ fen. Beispiele für negative Emotionen sind Wut, Angst und Trauer, sodass sich Wörter wie hassen, aufregen oder einsam im Wortschatz finden. Die häufigen Körperbezüge werden von Hirsh/ Peterson als Hinweise auf bestehende körperli‐ che Probleme bei eher neurotischen Personen interpretiert, sodass Wörter wie schmerzen oder erschöpft sein verwendet werden. Dies ist ein Ergebnis, das auch von Mehl/ Gosling/ Pennebaker (2006) erwartet worden wäre, jedoch nicht bestätigt wurde. ▶ Individuen mit hohen Werten im Faktor Offenheit sind neugierig und haben ein breites Interessensspektrum. Sprachlich schlägt sich dieser hohe Faktor in der geringen Verwendung von Pronomen der dritten Person Singular und Verben in der Vergangenheitsform nieder (Mehl/ Gosling/ Pennebaker 2006). Je niedriger der Wert für Offenheit ist, desto weniger Pronomen, erste Person Singular, und desto mehr Verwendung von Artikeln sowie von Präsens wird beobachtet (Pennebaker/ King 1999). Typisch im sprachlichen Ausdruck sind Äußerungen, die mit Wahrnehmungsprozessen (Hören und Sehen) in Verbindung stehen, und ausschließende Wörter (Hirsh/ Peterson 2006), d. h., der Zusammenhang zwischen Offenheit und Wahrnehmungsprozessen weist auf eine Sensibilität hin, die sich auf die Wahrnehmung von Welt konzentriert. ▶ Individuen mit hohen Werten im Faktor Verträglichkeit tendieren dazu, Sympathie und Wärme auszudrücken, und sie meiden Konfrontationen. Sprachlich ist dieses Maß korreliert mit der Verwendung von wenig Schimpfwörtern und einer häufigen Verwendung von Pronomen der ersten Person Singular (Mehl/ Gosling/ Pennebaker 2006). Es zeigen sich vermehrt sprachliche Ausdrücke der Bestimmtheit, wie grundsätzlich oder deutlich, einschließende Ausdrücke, wie auch und insgesamt, und Ausdrücke, die die Familie betreffen. Verträgliche Menschen zeigen in ihren sprachlichen Mustern Empathie (Hirsh/ Peterson 2009). ▶ Der Faktor Gewissenhaftigkeit drückt sich in verantwortungsvollem und selbstdis‐ zipliniertem Verhalten aus. Es zeigen sich auch hier wenige Schimpfworte und bei Männern eine positive Korrelation mit der Verwendung von Pronomen der zweiten Person Singular (Mehl/ Gosling/ Pennebaker 2006). Die sprachlichen Ausdrücke betreffen bei gewissenhaften Menschen Leistungsorientierung und Arbeitsmoral (Hirsh/ Peterson 2009). Mit diesen Studien kann gezeigt werden, dass sich Persönlichkeitsmerkmale im sprach‐ lichen Stil ausdrücken (Pennebaker/ King 1999, Mehl/ Gosling/ Pennebaker 2006, Hirsh/ Peterson 2009). Abschließend ist anzumerken, dass es noch weiterer Forschung bedarf, 128 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="130"?> um die einzelnen Persönlichkeitsdimensionen noch differenzierter und umfassender zu beschreiben. Der Blick auf das Wort erscheint reduziert und eine Bereicherung der Analyseeinheit sprachlicher Merkmale durch paraverbale und nonverbale Aspekte unerlässlich. Mit dem Analyseprogramm LIWC lassen sich Zusammenhänge zwischen sprachlichem Stil und Persönlichkeit aufzeigen. Auch sprachlicher Stil, Denkstil und Persönlichkeit können in Zusammenhang gebracht werden, da über sprachliche Merkmale auch auf den Denkstil geschlossen werden kann und davon wiederum Persönlichkeitsmerkmale abgeleitet werden können. Insgesamt hat die Frage nach den Zusammenhängen von Sprech- und Denkstilen eine lange Tradition und es gibt einige Studien, die darauf hinweisen, dass über den Sprechstil Rückschlüsse auf den Denkstil gezogen werden können. Eine Zusammenfassung und eine Studie, die Sprech-Denktypen aufzeigt, findet sich in Werani (2011). Hervorzu‐ heben ist bei der Erforschung des Zusammenhangs von sprachlichem Stil, Denkstil und Persönlichkeit die Auseinandersetzung mit der dogmatischen Persönlichkeit (Ertel 1972). Mit dem Begriff dogmatisch wird auf ein geschlossenes System referiert, das stark von Überzeugungen geleitet wird und sich scharf von Gegenüberzeugungen abgrenzt. Die Dominanz des dogmatischen Kernbereichs ist dafür verantwortlich, dass starre mentale Einstellungen bleiben, auch wenn logische Argumente dagegensprechen. Der Dogmatismus kann sich auf vielerlei beziehen, er kann politisch oder religiös motiviert sein und ist umso höher, je extremer die Organisation ist (Ertel 1972). Ertel entwickelte von der dogmatischen Persönlichkeit ausgehend ein sprachanalytisches Verfahren, um anhand der Sprache den Grad der Offenheit bzw. Geschlossenheit der kognitiven Struktur zu erfassen, die dieser dogmatischen Ausrichtung zugrunde liegt. Er ermittelte hierfür einen sprachlichen Dogmatismusquotienten, der auf kognitive Tendenzen der Individuen hinweist. Sprachlich ist der Dogmatismus gekennzeichnet durch eine häufige Verwendung von geschlossenheits- und komplexitätsreduzierenden Begriffen, das sind Generalisierungen (wie alle, immer und nie), Ausschlüsse (wie ausschließlich und weder … noch), Betonungen der Gewissheit (wie ausgeschlossen und natürlich) und der Notwendigkeit (wie müssen und nicht dürfen). Es kann folglich mittels sprachlicher Marker festgestellt werden, ob ein eher geschlossener und komplexitätsreduzierter oder ein offener und komplexitätstoleranter Denkstil vorliegt. Der offene Denkstil führt zudem dazu, dass Problemlösungen besser gelingen (Werani 2011). Diese Beziehung zwischen sprachlichen Markern und Denkstil wurde auch in LIWC-Studien erforscht und zugleich wurden Persönlichkeitsaspekte einbezogen. Pennebaker et al. (2014) waren an der Frage interessiert, ob Funktionswörter darüber Aufschluss geben können, wie Individuen denken. Funktionswörter übernehmen die Aufgabe, dass Inhaltswörter verbunden und organisiert werden, während die Inhalts‐ 7.1 Verbaler Ausdruck der Ich-Identität 129 <?page no="131"?> wörter kulturell geteilte Bedeutungen tragen. In ihrer Studie verwendeten sie 50.000 Texte von 25.000 Studienanfänger: innen und korrelierten die analysierten LIWC-Werte mit den von den Studierenden im Laufe des Studiums erzielten Noten. Sie konnten zeigen, dass bessere Noten mit einer häufigeren Verwendung von Artikeln und Präpo‐ sitionen korrelieren, und bezeichneten dies als analytische Sprache. Interpretiert wurde dieser Befund dahingehend, dass mit analytischer Sprache die komplexe Struktur der mentalen Konzepte klarer organisiert ist und damit akademische Leistung begünstigt. Bei Studierenden mit schlechteren Noten zeigten sich stärkere Korrelationen mit Hilfsverben, Pronomen, Adverbien, Konjunktionen und Negationen, was als narrative Sprache interpretiert wurde. Diese erzählerische Sprache wirkt sich weniger günstig auf den akademischen Leistungserfolg aus. Pennebaker et al. vermuten ein Kontinuum von analytischer zu narrativer Sprache und einen Zusammenhang zwischen Sprache und kognitivem Stil. Implizierte Persönlichkeitsmerkmale sind, dass es sich eher um analytische oder intuitive Individuen handelt. Es bedarf hier jedoch weiterführender Forschung. An diese Studie anschließend interessierten sich Jordan/ Pennebaker (2017) für die Sprach- und Denkstile US-amerikanischer Präsidenten von George Washington bis Donald Trump. Der Analyse der politischen Reden legten sie das von Pennebaker et al. (2014) angenommene Kontinuum von analytischen zu narrativen sprachlichen Formen zugrunde. Insgesamt konnte ein Trend festgestellt werden, dass sich die Reden von einem formalen, analytischen und logischen Denken hin zu einem momentanen, informellen und narrativen Denken entwickelten, d. h., ältere Reden sind durch eine analytisch-kategorisierende Sprache gekennzeichnet, jüngere Reden zeigen eher Intuition und eine auf persönliche Erfahrung beruhende Sprache auf. Die Rede von Trump reiht sich in das Muster der zunehmend narrativer werdenden Reden ein, dennoch stellt sie nach Jordan/ Pennebaker (2017) eine grundsätzliche Abweichung von den anderen Kandidaten dar, mit sehr geringen Anteilen analytischen Denkens. Das Kontinuum von Pennebaker et al. (2014), dass analytische Sprache einen eher analytischen Denkstil und narrative Sprache einen eher intuitiven Denkstil unterstützt, wird durch diese Untersuchung bekräftigt. Denkstile können über sprachliche Äußerungen analysiert werden und es kön‐ nen Unterscheidungen getroffen werden, die auch Persönlichkeitsmerkmale kennzeichnen, beispielsweise ob Individuen eher analytische oder intuitive Per‐ sönlichkeiten sind. Abschließend soll ein kritischer Blick auf die Methode LIWC geworfen werden. Obwohl es sicherlich ein großer Vorteil der LIWC-Analysen ist, dass kognitive und emotionale Prozesse in der Analyse Berücksichtigung finden und dass die maschinelle Analyse die Bearbeitung einer großen Datenmenge erlaubt, kann als problematisch angesehen 130 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="132"?> werden, dass es sich um eine rein lexikalische Analyse handelt, die sich auf manifeste Inhalte und lexikalische Bedeutungen bezieht. Nicht mitanalysiert werden folglich komplexere Bedeutungsstrukturen der Sprache, wie Grammatik, metaphorische Spra‐ che, Ironie und Sarkasmus (Tausczik/ Pennebaker 2010). Einen Vorschlag für eine Erweiterung der LIWC-Analyse geben Schwartz et al. (2013). Sie ergänzen die Analyse mit dem geschlossenen Analysesystem der LIWC-Ka‐ tegorien um ein offenes Verfahren, das ermöglicht, Kollokationen zu untersuchen. Mit diesen sogenannten Data-driven-Ansätzen können Kollokationen, oder allgemein n-Gramme, untersucht werden, indem auch der Kontext, in welchem das Wort steht, berücksichtigt wird. Schwartz et al. interessieren sich für Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit, Gender und Alter in sozialen Medien und konnten mit ihrem metho‐ dischen Ansatz Effekte zeigen, die über die LIWC-Analyse hinausgehen. Allein die Möglichkeiten der visuellen Analyse mit sogenannten Wortwolken geben einen tiefe‐ ren Einblick in Unterschiede des Sprachgebrauchs. So zeigen die Genderunterschiede in ihrer Studie beispielsweise, dass Männer mehr Schimpfwörter verwenden als Frauen. In Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale wurden ebenfalls Wortwolken zu den Big Five er‐ stellt und dargelegt, dass Extravertierte eher soziale Wörter (Party, Jungs) verwenden, während Introvertierte eher Wörter nutzen, die mit einsamen Aktivitäten (Internet, Computer) zusammenhängen. Der Faktor Offenheit ist gekennzeichnet durch Wörter, die auf Kreativität (Musik, Schreiben) oder Vorstellungskraft (Traum, Universum) hinweisen. Außerdem wurden in dieser Data-driven-Analyse Themen aufgenommen, wie beispielsweise das Thema Party bei Extraversion, das in der LIWC-Analyse nicht berücksichtigt worden wäre, weil das Wort nicht im integrierten Wörterbuch von LIWC hinterlegt ist. Auch bei den unterschiedlichen Altersstichproben waren in der Data-driven-Analyse alterstypische Alltagsbezüge in einer Abfolge der Themen Schule, Studium, Arbeit und Familie deutlich zu sehen. Altersunterschiede konnten Pennebaker/ Stone (2003) jedoch auch in einer Querschnittsmessung verschiedener Altersstichproben mit LIWC-Analyse untersuchen und zeigen, dass sich im sprachli‐ chen Stil Funktionswörter, emotionale und kognitive Prozesse mit dem Alter ändern. Auf diese Weise kann ein sprachlicher Wandel auch durch Querschnittsmessungen aufgezeigt werden. Zusammenfassend ist dennoch zu bemerken, dass die Kombination einer LIWC-Analyse mit Data-driven-Ansätzen und der Möglichkeit der Erweiterung durch die visuellen Analysen sehr gewinnbringend ist. Da es sich bei LIWC um eine lexikalische Analyse handelt, ist es gewinnbringend, die Analyse mit offenen Data-driven-Ansätzen zu ergänzen. Dadurch kann die Dynamik der sprachlichen Tätigkeit noch besser nachgezeichnet werden und eine neue Perspektive auf Zusammenhänge von Sprache und Ich-Identität geworfen werden. 7.1 Verbaler Ausdruck der Ich-Identität 131 <?page no="133"?> 7.2 Extraverbaler Ausdruck der Ich-Identität Zur sprachlichen Tätigkeit gehören neben dem verbalen Ausdruck auch extraverbale Aspekte, die ebenso daran beteiligt sind, Ich-Identität auszudrücken. Extraverbal ist der Oberbegriff für paraverbale und nonverbale Aspekte: Zu den paraverbalen Aspekten zählt vor allem die Stimme der Sprecher: innen, zu den nonverbalen Aspekten wird die äußerliche Gesamterscheinung des Individuums mit allen redebegleitenden Bewegungen gerechnet. Der extraverbale Ausdruck der Ich-Identität hängt stark mit der physischen Identität und damit auch mit den physischen Veränderungen zusammen und beeinflusst die Wahrnehmung des Gesamteindrucks eines Individuums erheblich (s. Kapitel 5). Bezogen auf das Verhältnis von extraverbalen und verbalen Aspekten der sprachlichen Tätigkeit gibt es Hinweise, dass die Einschätzung von Sympathie vor allem über extraverbale Aspekte erfolgt, also über Körper und Stimme (Mehrabian 1972). Die Beurteilung der Dominanz einer Person wird stärker durch die Stimme beeinflusst als durch das Aussehen (Rezlescu et al. 2015). Unter dem Begriff extraverbale Aspekte der sprachlichen Tätigkeit werden paraverbale und nonverbale Aspekte zusammengefasst. Zu den paraverbalen Aspekten der sprachlichen Tätigkeit zählt die Stimme, die gewis‐ sermaßen als Tonträger der sprachlichen Tätigkeit fungiert und zwischen physischen und psychischen Aspekten vermittelt. Relevante Parameter der Stimmgebung sind in der Infobox zusammengefasst. Die Stimme ruft bereits einen Gesamteindruck bei den Hörer: innen hervor (Bose 2010), denn über die Stimme werden Informationen über Geschlecht, Alter, Größe und Gewicht, Ethnie oder auch emotionale Zustände vermittelt (Babel/ McGuire/ King 2014). Im Folgenden werden drei Aspekte herausge‐ griffen, die sich mit dem Ausdruck von Ich-Identität über die Stimme befassen: diese sind der kulturelle Kontext, physiologische Merkmale und Persönlichkeitsmerkmale (Anselm/ Werani 2017). Parameter der Stimme Zur Betrachtung der Studien zum Zusammenhang von Stimme und Ich-Identität ist es hilfreich, Merkmalsbündel zusammenzufassen, um Stimme beschreiben zu können. Dazu zählen Lautstärke, Tonhöhe und Stimmqualität (Bose 2010, Laver 1980/ 2009). Eine ausführliche Beschreibung, auch der stimmlich-artikulatorischen Aspekte (Sprechtempo, Lautdauer, Akzent und Sprechrhythmus), findet sich in Anselm/ Werani (2017): - Die Lautstärke kann zwar in Dezibel (Schallpegel) gemessen werden, in der Regel handelt es sich jedoch in der Sprechwirkungsforschung um wahrge‐ nommene Lautheit, die die Angemessenheit in jeweiligen Kontexten berück‐ 132 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="134"?> sichtigt. Individuen mit lauteren Stimmen werden als dominanter, vitaler und extrovertierter beschrieben (Kreiman/ Sidtis 2011). - Die Tonhöhe ist abhängig von physiologischen Gegebenheiten im Kehlkopf, insbesondere von den Stimmlippen. Längere Stimmlippen erzeugen einen tieferen Stimmton als kürze. Abgesehen davon, eine hohe oder tiefe Stimme zu haben, kann auch hoch oder tief gesprochen werden (Miosga 2010). Tiefere Stimmen werden sowohl bei Männern als auch bei Frauen als extrovertierter und dynamischer interpretiert (Scherer 1978). - Die Stimmqualität beschreibt den Stimmklang. Ein normaler Stimmklang ent‐ steht dann, wenn die Atemluft die Stimmlippen ökonomisch in gleichmäßige Schwingungen versetzt. Dies ist nicht immer der Fall, sodass Stimmqualitäten existieren, die als knarrend, behaucht, flüsternd, rau, gespannt und gepresst bezeichnet werden (Laver 1980/ 2009, Eckert/ Laver 1994). Während behauchte Frauenstimmen als erotisch wahrgenommen werden, werden behauchte Männerstimmen eher als unsympathisch bewertet (Sendlmeier/ Heile 1998). Die Stimme im kulturellen Kontext verweist auf Sozialisationsprozesse und damit auf Gewohnheiten von Gruppen. Vor allem über die Tonhöhe der Stimme werden kulturelle Stereotype übertragen. Während Niederländerinnen fast 200 Hz tiefer sprechen als deutsche oder italienische Frauen, sprechen Amerikanerinnen und Japanerinnen ca. 200 Hz höher (Kiese-Himmel 2016). Es kann vermutet werden, dass je nach Kultur folglich hohe oder tiefe Frauenstimmen bevorzugt werden. Dazu kommen auch von der Kultur geprägte Klangideale, was sich in den Stimmmoden bei Sänger: innen und auch bei Schlagern nachverfolgen lässt (Kiese-Himmel 2016, Eckert/ Laver 1994). Diese Klangideale sind auch ein wichtiger Aspekt in der Synchronisation von Filmen, denn die Wahl der Synchronstimme ist sehr relevant für die Charakterdarstellung, die natürlich auch kulturelle Stereotype enthält. In sehr wenigen Fällen handelt es sich um regelrechte Stimmäquivalente, da - je nach Kultur - mit dem Charakter bestimmte Stimmtypen assoziiert und zum Teil auch erwartet werden. Bei Synchronisation kommt es daher dazu, dass Stimmen je nach Sprache sehr unterschiedlich sein können, um den entsprechenden Charakter der Person zu treffen (Trägler 2014). Die Erwartung an die Stimme ist folglich mit dem Charakter verknüpft. Im Synchronbereich werden berühmte Schauspieler: innen in der Regel auch mit derselben Stimme synchronisiert, was deutlich spiegelt, dass Individuen an ihren Stimmen erkannt werden. Wechsel der Stimmen stellen ein Eingriff in die Charakterdarstellung dar, wie es zum Beispiel mit Jonny Depps Stimme in Fluch der Karibik 4 der Fall war, als er gewissermaßen nach den ersten drei Teilen - synchronisiert von Marcus Off - wieder von seiner deutschen Originalstimme - David Nathan - synchronisiert wurde. In den unterschiedlichen Wahrnehmungen wurde deutlich, dass mit David Nathan der Schauspieler Jonny Depp verbunden wurde, mit der Stimme von Marcus Off der Filmcharakter Captain Jack Sparrow. 7.2 Extraverbaler Ausdruck der Ich-Identität 133 <?page no="135"?> In der Stimme spiegeln sich kulturelle Gewohnheiten und auch Stimmge‐ schmack wider. Zu den physiologischen Merkmalen der Stimme zählen vor allem die Einschätzungen von Geschlecht, Alter und Gesundheit (Crystal 1995). Die Geschlechtsidentität ist ohnehin unter der biologischen Perspektive auch an physiologische Merkmale gebunden. Diese Merkmale zeigen sich auch in der Stimme relativ deutlich, da sich weibliche und männliche Stimmapparate vor allem in ihrer Größe und damit der Dicke und Länge der Stimmlippen unterscheiden (Sendlmeier 2012, Ko et al. 2006). Männerstimmen mit einer Grundfrequenz von ca. 120 Hz können relativ eindeutig von Frauenstimmen, die durchschnittlich bei 230 Hz liegen, unterschieden werden (Pompino-Marschall 2009). Das trifft auch für Kinderstimmen zu, die um 400 Hz Grundfrequenz liegen. Zudem haben die tieferen Männerstimmen aufgrund der Körpergröße und der Beschaffenheit des Vokaltrakts in der Regel mehr Resonanz. Anhand der Stimme kann also abgeleitet werden, ob es sich um ein männliches oder weibliches Individuum handelt und entsprechend werden Geschlechtsstereotype aktiviert (Ko et al. 2006). Ein Beispiel für Veränderungen im paraverbalen Ausdruck ist in der Adoleszenz der Stimmbruch bei den Jungen, der durch das Wachstum des Kehlkopfes und der damit verbundenen Verlängerung der Stimmlippen zu einer tieferen Stimme führt. Mit der physischen Veränderung geht also auch die Veränderung der Stimme einher. Ebenso tritt im Alter aufgrund des Alterungsprozesses eine Veränderung der Stimme ein. Die nachlassende Elastizität und Beweglichkeit der Sprechwerkzeuge, insbesondere der Muskulatur des Kehlkopfes, führt zu einer in Umfang und Qualität veränderten Stimmqualität (Crystal 1995). Diese physischen Veränderungen betreffen natürlich nicht nur die Stimme, sondern alle anderen körperlichen Erscheinungen ebenso, sodass sich die körperliche Beweglichkeit insgesamt im Verlauf des Lebens verändert. Auch gesundheitliche Aspekte können an der Stimme abgelesen werden. Heiserkeit kann auf verschiedene Entzündungserkrankungen im Rachenraum hindeuten, eine raue Stimme kann durch eine Zyste in der Schleimhaut der Stimmlippen entstehen und eine zittrige Stimme kann auf neurologische Erkrankungen wie Parkinson hindeuten (Kiese-Himmel 2016). Anhand der Stimme können Individuen hinsichtlich Geschlecht, Alter und Gesundheit eingeschätzt werden. Die Betrachtung von Stimme und Persönlichkeitsmerkmalen steht im Zusammenhang mit Assoziationen persönlicher Erfahrungswerte und auch Klischees. Eine erste Suche nach einem Zusammenhang zwischen physiologischen und psychischen Merkmalen findet sich vor allem in der Physiognomik (s. Infobox). 134 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="136"?> Physiognomik der Stimme Im Rahmen physiognomischer Studien wurde der Versuch unternommen, anhand der Stimme auf physische und psychische Phänomene zu schließen (Meyer-Kal‐ kus 2001). Diesen Schlussfolgerungen liegt ein grundsätzlicher Erfahrungswert zugrunde, der aus dem alltäglichen Umgang mit anderen Menschen entsteht. An‐ hand von Stimmen werden beispielsweise physische Merkmale wie Körpergröße und Statur assoziiert. Insbesondere in der Ausdruckspsychologie Anfang des 20. Jahrhunderts war die Physiognomie der Stimme ein eigenes Interessensgebiet, indem eben jener Zusammenhang zwischen körperlichen Merkmalen und Gefüh‐ len sowie Persönlichkeitseigenschaften erforscht wurde. Bühler (1933) war sich bewusst, dass bei der akustischen Wahrnehmung viele bewusste und unbewusste Prozesse ablaufen. Er führte Radio-Experimente durch, in welchen konkret der Frage nachgegangen wurde, inwiefern die Stimme Ausdruck der Persönlichkeit ist. In einem dieser Radioexperimente, an welchem 2.700 Hörer: innen beteiligt wa‐ ren, wurden die Stimmen von Sprecher: innen physiognomisch gedeutet (Herzog 1933). Es zeigte sich, dass der akustische Höreindruck durchaus zu Rückschlüs‐ sen auf die körperliche Erscheinung führte, zum Teil sogar auch zu sonstigen Assoziationen, die die Kleidung oder Haarfarbe betrafen. Eine Eindeutigkeit der Zuordnung von Stimmen zu äußeren Erscheinungen im wissenschaftlichen Sinne gibt es jedoch nicht. Einen Einblick in Zusammenhänge von Stimme und Persönlichkeit geben die im Folgenden zusammengefassten Studien: ▶ In der Sprechwirkungsforschung wird u. a. untersucht, wie Stimmen wahrge‐ nommen werden und welche Persönlichkeitsmerkmal assoziiert werden. Tiefere Frauenstimmen wirken angenehm, kompetent und vertrauenswürdig (Sendlmeier 2012, Babel/ McGuire/ King 2014). Außerdem werden Frauen mit tieferen Stim‐ men als dominanter wahrgenommen, dann jedoch auch als weniger attraktiv (Borkowska/ Pawlowski 2011). Behauchte Frauenstimmen wirken sympathisch und angenehm und werden in Zusammenhang mit einem positiven Gesamteindruck gebracht (Sendlmeier 2012). Behaucht und zudem auch nasal klingende Frauen‐ stimmen werden sogar als erotisch beurteilt (Sendlmeier 2012). ▶ Korrelationen zwischen Persönlichkeitsmerkmalen des Big-Five-Persönlichkeits‐ tests und Stimmmerkmalen ergab für Extravertierte, dass deren Stimmen lauter sind und sie eine höhere Tonlage, breitere Tonhöhenbereiche und stärkere Intona‐ tionsvariationen haben (Payá Herrero 2009). Für Introvertierte wurde gezeigt, dass sie leise und verhalten, mit wenig Dynamik und Variation in der Grundfrequenz sprechen (Scherer et al. 2001). Die Stimmen haben bei Introversion zudem meist eine tiefere Tonlage, engere Tonhöhenbereiche und fehlende Intonationsvariatio‐ nen (Payá Herrero 2009). ▶ Werden Selbstkonzepte ausführlicher betrachtet, dann ist es vor allem der Bereich der Attraktivität, der in Zusammenhang mit der Stimme beforscht wurde. Ba‐ 7.2 Extraverbaler Ausdruck der Ich-Identität 135 <?page no="137"?> bel/ McGuire/ King (2014) geben einen Überblick über Studien zur Attraktivität der Stimme und stellen fest, dass behauchte Frauenstimmen als attraktiver wahrge‐ nommen werden. Knarrende Stimmen werden dagegen mit übermäßigem Rauchen oder Trinken in Verbindung gebracht und als weniger attraktiv bewertet. Balasu‐ bramanium et al. (2012) fanden mit Cepstralanalysen heraus, dass die Attraktivität von Stimmen in einer wohldefinierten Struktur der Harmonischen begründet liegt. Dies spiegelt Ergebnisse von Zuckerman/ Miyake (1993) wider, dass Stimmen dann umso attraktiver bewertet werden, je durchschnittlicher die stimmlichen Merkmale sind. Beispielsweise werden Stimmen mit mittlerer Tonhöhe und mit mittlerem Tonhöhenumfang als attraktiv wahrgenommen. Dazu passt die Fest‐ stellung, dass zu tiefe und zu hohe Stimmen sowohl bei Frauen als auch bei Männern als unattraktiv empfunden werden (Kiese-Himmel 2016). Des Weiteren wird der Stimme zugeschrieben, dass sie Attraktivität, Vertrauenswürdigkeit und Dominanz als zusammenhängend vermittelt, d. h., eine erste Einschätzung dieser Merkmale en passant erfolgt, ohne den Inhalt des Gesagten zu berücksichtigen (Mahrholz/ Belin/ McAleer 2018). ▶ Persönlichkeitsmerkale finden sich auch im stimmlichen Ausdruck von Emotionen. Eckert/ Laver (1994) verweisen darauf, dass sich auch Stimmungen und Emotionen in der Stimme zeigen. Ein schlafferer Tonus bei Trauer wirkt sich auch auf die Sprechmuskulatur aus, sodass die Stimme tiefer und kraftloser klingt, die Tonhöhenvariation monotoner und die Stimme insgesamt leiser ist. Bei Wut ist die Stimme sehr viel höher und auch lauter. Etwas höher ist die Grundfrequenz der Stimme bei Freude und dann auch etwas lauter (Kreiman/ Sidtis 2011). Die Stimme transportiert Persönlichkeitsmerkmale, die auch mit Stereotypen oder Klischees verbunden sind. Die nonverbalen Aspekte der sprachlichen Tätigkeit sind eng mit der physischen Identität verwoben (vgl. Kapitel 5). Bei der Zuordnung von Ich-Identitätsmerkmalen zu physiognomischen Aspekten handelt es sich vor allem um Erfahrungswerte, und die Interpretation von Erfahrungswerten kann durchaus zu fehlgeleiteten Schluss‐ folgerungen führen. Beispielsweise kann einem Gesichtsausdruck Müdigkeit oder Desinteresse zugeschrieben werden. Worum es sich handelt, kann nur vom Individuum selbst beschrieben werden, da die zugrunde liegende Motivation des Ausdrucks stets beim Individuum selbst bleibt (Anselm/ Werani 2017). Im Folgenden können also nur wenige nonverbale Aspekte der sprachlichen Tätigkeit zusammengefasst werden, von denen angenommen wird, dass sie Ich-Identitätsmerkmale direkt ausdrücken. Zum nonverbalen Ausdruck der sprachlichen Tätigkeit zählen physische Charakteristika, Proxemik (räumliches Verhalten) sowie haptische Signale und Körpersprache (Röhner/ Schütz 2020). 136 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="138"?> ▶ Zu den physischen Charakteristika gehört die Gesamterscheinung des Individuums und damit verbunden eine erste Wahrnehmung von Attraktivität (vgl. Kapitel 5.1). Die körperliche Attraktivität ist nur teilweise beeinflussbar, so zählen Körperbau, Haut- oder Augenfarbe zu den wenig wandlungsfähigen Aspekten, während Haare, Kleidung oder Accessoires durchaus veränderbar sind. Kleidung wird mit der Gesamterscheinung betrachtet, da durch sie Gruppenzugehörigkeit signalisiert oder auch Persönlichkeit ausgedrückt werden kann (Argyle 2013). Gruppenzu‐ gehörigkeit wird über Kleidungsvorschriften einzelner Berufe oder Religionen erzeugt, während Persönlichkeit durch Modebewusstsein ausgedrückt wird. Klei‐ dung kann auch verwendet werden, um Alter und Geschlecht zu markieren, oder es können über Kleidungsfarben Persönlichkeitsakzente oder Stimmungen ausgedrückt werden. ▶ Die Proxemik beschäftigt sich mit dem Raumverhalten von Individuen in bestimm‐ ten Situationen. Dazu zählt beispielsweise, wie die räumliche Distanz zwischen Individuen ist und wie sie im Raum interagieren. Allein über räumliche Nähe oder Distanz werden persönliche Bezüge zwischen Individuen deutlich, oder auch Persönlichkeitseigenschaften wie offene Zugewandtheit oder Zurückhaltung werden ausgedrückt (Hall 1966). ▶ Unter haptischen Signalen werden alle Formen der Körperberührung (Kopf, Hand, Arm, Rumpf, Bein, Fuß) zusammengefasst. Barnlund (1975) konnte interkulturelle Unterschiede zwischen Japaner: innen und Amerikaner: innen in Bezug darauf ausmachen, welche Körperstellen von wem berührt werden dürfen. Auch Sta‐ tusunterschiede zeigen sich in haptischen Signalen, sodass sich Individuen mit Hochstatus erlauben, andere viel häufiger zu berühren (Argyle 2013). Auch zeigt sich in der Körpersprache, also Körperhaltung, Blickkontakt, Mimik und Gestik, relativ schnell und deutlich, ob es sich um eine Person mit eher offenem oder ver‐ schlossenem Temperament handelt, d. h., aus dem körpersprachlichen Verhalten können Eindrücke zu einer Person abgeleitet werden. Insbesondere Argyle (2013) weist darauf hin, dass eine wesentliche Funktion der Körpersprache ist, sich emo‐ tional auszudrücken. Für den Emotionsausdruck spielt die Mimik wiederum eine zentrale Rolle (Ekman/ Friesen 1975/ 2003). So kann über die Mimik Freundlichkeit oder Feindseligkeit ausgedrückt werden. Inwiefern über haptische Signale und Körpersprache tatsächlich auf Persönlichkeitsmerkmale geschlossen werden kann, ist noch offen, da sich unter diesen Aspekten vor allem das Temperament des Individuums zeigt. Bei den nonverbalen Aspekten der sprachlichen Tätigkeit werden zwar Persön‐ lichkeitsmerkmale mit übertragen, eine eindeutige Zuordnung kann jedoch nicht gewährleistet werden. 7.2 Extraverbaler Ausdruck der Ich-Identität 137 <?page no="139"?> Denken Sie über Ihren eigenen individuellen Sprechstil nach. Machen Sie zu Abbildung 16 Notizen zu verbalen, paraverbalen und nonverbalen Aspekten. Worin liegen die Stärken Ihres sprachlichen Stils? ▢ Gibt es einen sprachlichen Stil, der ein Individuum einzigartig macht, sodass es sprachstilistische Mittel gibt, an denen wir Personen erkennen? Es kann davon ausgegangen werden, dass der individuelle Sprechstil Ich-Iden‐ titätsmerkmale trägt, die sowohl auf die Persönlichkeit als auch die Gruppen‐ zugehörigkeit rückschließen lassen. Zu den sprachstilistischen Merkmalen gehören verbale, paraverbale und nonverbale Aspekte. Forschungsaufgabe ist es, die einzelnen Aspekte zusammengefasst zu untersuchen und ganzheitlich‐ ere Analyseeinheiten zu überlegen, um den Gesamtausdruck der sprachlichen Tätigkeit noch besser zu erfassen. ▢ Welche verbalen Aspekte werden in linguistischen Analysen thematisiert, die Einblick in die Ich-Identität gewährleisten? Der verbale Ausdruck bietet die Möglichkeit, insbesondere anhand der Wort‐ wahl auf Persönlichkeitsmerkmale rückzuschließen. Eine mögliche Methode ist Linguistic Inquiry and Word Count (LIWC), womit Zusammenhänge sowohl zwischen der Wortwahl und Persönlichkeitsmerkmalen der Big Five als auch zwischen Sprachstil, Denkstil und Persönlichkeitsmerkmalen aufgezeigt wer‐ den können. Zu überlegen bleibt, ob die reduzierte Betrachtung der Wortwahl ausreicht, um auf Persönlichkeitsmerkmale zu schließen, oder ob die Methodik vielmehr durch offene Analyseverfahren wie beispielsweise Data-driven-An‐ sätze erweitert werden sollte. ▢ Welche Rolle haben die Stimme und die Körpersprache beim Ausdruck von Ich-Identität? Der nonverbale Gesamtausdruck eines Individuums drückt zum einen die Ich-Identität eines Individuums aus und zum anderen führt er zu Assoziationen der Wahrnehmenden, die auf Erfahrungswerten basieren. Beim paraverbalen Aspekt gibt es deutliche Korrelationen zwischen der Stimme und Persönlich‐ keitsmerkmalen, während bei den nonverbalen Aspekten diese eindeutigen Zuschreibungen fehlen. Pennebaker, James W., Boyd, Ryan L., Jordan, Kayla N. & Blackburn, Kate (2015). The Development and Psychometric Properties of LIWC2015. Austin, TX: University of Texas. Meier, Tabea, Boyd, Ryan L., Pennebaker, James W., Mehl, Matthias R., Martin, Mike, Wolf, Markus, Horn, Andrea B. (2018). „LIWC auf Deutsch”: The Development, Psychometrics, and Introduction of DE-LIWC2015. Retrieved from https: / / osf.io/ tfqzc/ . 138 7 Identitätsmerkmale im sprachlichen Ausdruck <?page no="140"?> Kreiman, Jody, Sidtis, Diana (2011). Foundations of Voice Studies: An Interdisciplinary Approach to Voice Production and Perception. Malden, MA u.-a.: Wiley-Blackwell. The King’s Speech. Tom Hooper (Regie, 2010), Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten, Australien. Die Rede des britischen Königs Georg VI. ist von seiner stotternden Sprache gezeichnet. Der Film zeigt unkonventionelle Therapiemethoden und das Feilen am Sprechstil, um den aufkommenden Massenmedien standzuhalten. Der Film endet in der eindrucksvollen Rede des Königs. My Fair Lady. George Cukor (Regie, 1964), Vereinigte Staaten. In der berühmten Musical‐ verfilmung um den Phonetiker Professor Higgins geht es direkt um das Thema, ob mit dem Sprechstil auch die persönliche Identität verändert werden kann. Higgins wettet mit einem Freund, dass er aus einer einfachen Blumenverkäuferin eine Dame der Gesellschaft machen kann. Kann dieses Vorhaben gelingen? 7.2 Extraverbaler Ausdruck der Ich-Identität 139 <?page no="142"?> 8 Personennamen - Etiketten der Identität In diesem Kapitel geht es um Personennamen, die Individuen als sprachliches Etikett von Geburt an anhaften und die ein Leben lang mit der Identifizierung des Individuums zu tun haben, da Selbstkonzepte auch an den Namen geknüpft werden. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Inwiefern sind Personennamen ein Thema der Identitätsforschung? ▢ Wie kommt es zur Namensgebung? ▢ Sind Personennamen identitätsstiftend? ▢ Verändert sich mit einer Namensänderung auch die Identität? Es ist eine fundamentale Tatsache, dass Menschen, sobald sie geboren sind, einen oder sogar mehrere Namen bekommen. Menschen ohne Namen sind nicht vorstellbar (Gerhards 2010, Debus 2003, Bering 1987) und Namenslosigkeit bedeutet Anonymi‐ tät. Der Name gestattet die Identifikation mit sich selbst (Debus 2003), denn die Kombination von Vornamen und Nachnamen bildet eine Identitätsmarke, die in der Regel ein Leben lang anhaftet. Namen ermöglichen eine Unterscheidung von anderen und machen Individuen ansprechbar. Ein Name kennzeichnet jedoch nicht nur ein Individuum selbst, sondern ebenso die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, sodass der Rufname auch das Geschlecht, die Ethnie, die Religion oder die Schicht des Individuums markiert (Schmidt-Jüngst 2020). Die Namenkunde oder Onomastik (s. Infobox) befasst sich mit Eigennamen und unter anderem mit der sozialen Verankerung von Personennamen und ihrer gesellschaftlichen Verortung (Debus 1995). Onomastik Unter Onomastik wird ganz allgemein die Namenforschung oder Namenkunde zusammengefasst, deren Forschungsgegenstand Eigennamen sind. Bei der Glie‐ derung von Eigennamen werden grundsätzlich Personennamen (Anthroponyme) und Örtlichkeitsnamen (Toponyme) unterschieden (Debus 2012), in manchen Taxonomien werden zudem noch sonstige Namen wie Objektnamen (Ergonyme), Ereignisnamen (Praxonyme) und Phänomennamen (Phänonyme) als weitere Ka‐ tegorie hinzugefügt (Kunze 2004, S. 10 f.). Auch wenn die Namenetymologie eine Vorrangstellung hat, zählen zwei weitere sprachwissenschaftliche Disziplinen zur Onomastik dazu, es handelt sich um die Sozioonomastik, die die Namenforschung in Bezug zur Gesellschaft untersucht, und die Psychoonomastik, die die Namen‐ forschung hinsichtlich der Mentalität des einzelnen betrachtet (Debus 1995, 2012). Vertreter von Namenforschungszentren im deutschen Sprachraum sind beispielsweise Wilfried Seibicke und Jürgen Udolph (Leipzig), Albrecht Greule <?page no="143"?> (Regensburg), Konrad Kunze (Freiburg), Damaris Nübling (Mainz) und Friedhelm Debus (Kiel). Das alltägliche Interesse an Vornamen ist ungebrochen, was zum Beispiel verschie‐ denen Listen an beliebtesten Vornamen zu entnehmen ist. Das wissenschaftliche Interesse an der Namenkunde ist dagegen eher zurückgegangen (Seibicke 2008) und die Betrachtung des psychologischen Teils der Namenkunde, die Psychoonomastik, ist insgesamt sehr gering. Es folgt in diesem Kapitel eine Erkundung, was das Fundament des Namenhabens bildet, wie vielfältig Namensgebungen sind und welche identitäts‐ stiftende Funktion Namen zukommt. In diesem Zusammenhang wird thematisiert, ob eine Namensänderung tatsächlich zu einer Identitätsänderung führt. Erkunden Sie Ihren eigenen Namen: Notieren Sie Ihren Rufnamen und ggf. alle weiteren Vornamen! Was bedeuten diese Namen? Inwiefern identifizieren Sie sich mit Ihrem Namen? Können Sie herausfinden, warum Sie diesen Vornamen bekommen haben? Welchen anderen Vornamen fänden Sie für sich passend? Haben Sie einen Spitznamen? 8.1 Das Fundament des Namenhabens Individuen haben Namen und die offensichtliche und spezifische Funktion des Namens ist die Kennzeichnung einer Person zur Identifizierung. Diese Kennzeichnung führt zu einer Individualisierung, die die Kommunikation erleichtert, da umständliche und ausführliche Beschreibungen durch kürzere Einheiten ersetzt werden (Seibicke 2008), zum Beispiel der schwarze Kater des Nachbarn A → der Blacky und die rote Katze des Nachbarn B → die Chili. Wenn es keine Namen geben würde, wäre folglich eine Fülle an Informationen nötig, um ein Individuum zu kennzeichnen. Wenn jedoch im eigenen Umfeld Individuen mit denselben Vornamen unterschieden werden sollen, dann wird eine zusätzliche Kennzeichnung benötigt. Es werden zum Beispiel zusätzlich die Nachnamen zur Identifizierung verwendet oder andere Zusätze gewählt, wie die Maria vom Yoga, Kurtis Maria oder die Grundschulmaria. Dieses Fundament des Namenhabens wird im Folgenden aus linguistischer, psychologischer, soziologischer und juristischer Perspektive beleuchtet. Individuen werden über den Namen identifiziert und gesellschaftlich verortet. Aus linguistischer Perspektive betrachtet können Substantive grundsätzlich in Eigen‐ namen (nomina propria) und Gattungsnamen (nomina appellativa) unterteilt werden 142 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="144"?> (Müller/ Kutas 1997). Eigennamen werden einer einzelnen Person, einem individuellen Ort oder sonstigen Objekten zugeschrieben, während Appellativa für eine Klasse oder Gattung von Objekten oder Mitglieder einzelner Klassen verwendet werden (vgl. Abbildung 17). Appellativa stellen die Mehrheit aller Substantive dar, die Eigennamen eine Minderheit, womit sie eine Sonderstellung im Wortschatz einnehmen (Hentschel 2010, Seibicke 2008, Kunze 2004). Eigennamen gehen aus Appellativa hervor, haben also eine appellativische Wurzel (Debus 2012). Andersherum können auch Eigennamen in Appellativa übergehen, „so wurde beispielsweise der Eigenname des Grafen Zeppelin zum Appellativum für ein Typ von Luftschiff “ (Hentschel 2010, S.-349). Abbildung 17: Unterscheidung von Eigen- und Gattungsnamen Eine weitere linguistische Besonderheit von Personennamen findet sich in der Namen‐ grammatik. Die Pluralbildung bei Personennamen sieht lediglich den s-Plural vor (Kolde 1995), beispielsweise wird der Familiennamen Erdmann als die Erdmanns in den Plural gesetzt und nicht *die Erdmänner. Insbesondere markiert der s-Plural die Familienzugehörigkeit, die beiden Schmidts würde auf zwei Personen einer Familie referieren, während die beiden Schmidt auf zwei Personen aus unterschiedlichen Familien hinweist. Die Semantik von Personennamen rückt in der Regel in den Hintergrund, sodass die Funktion des Namens vor allem in der Bezeichnung von Individuen liegt und nicht darin, ihnen auch eine Bedeutung zuzuschreiben (Van Langendonck 2007). Deutlich wird das an dem Beispiel von Boesch (1957, S. 32), dass im Sprachgebrauch bezüglich eines fremden Namens geäußert würde: Ich kenne diesen Namen nicht. und nicht Ich verstehe diesen Namen nicht. Die Bedeutung von Zeichen ist dennoch auch bei Eigenna‐ men gegeben und stellt ein weiteres linguistisches Phänomen dar. Sprachliche Zeichen besitzen nach Saussure (1916/ 2001) ein Lautbild und eine Vorstellung, also einen lautsprachlichen Ausdruck und eine Vorstellung, die mit einer Bedeutung verknüpft ist. Hier kommt nochmals die Unterscheidung von Eigennamen und Gattungsnamen zum Tragen, denn auch wenn beide Typen Lexikoneinträge haben, sind diese für den 8.1 Das Fundament des Namenhabens 143 <?page no="145"?> Sprachgebrauch unterschiedlich relevant. Dies soll am Beispiel in Tabelle 5 erläutert werden: Gattungsnamen (Appellativa) Eigennamen hier Personennamen Blume Pflanze, die größere, ins Auge fallende Blüten hervorbringt Emil Der männliche Vorname Emil bedeutet über‐ setzt der Eifrige, der Nachahmende und der Fleißige. Jasmin (zu den Ölbaumgewächsen gehörender) Zier‐ strauch mit gelben, weißen oder rosa, selten duftenden Blüten; Winterjasmin Jasmin Der weibliche Vorname Jasmin bedeutet über‐ setzt die Blume, die Unschuldige und Sinnbild der Liebe. Quelle: www.duden.de Quelle: www.vorname.com Tabelle 5: Beispiel für Bedeutungsdefinitionen (wörtlich aus den angegebenen Quellen übernommen) Den Gattungsnamen kann eine erläuternde, relativ stabile Bedeutung zugeschrieben werden, die auf abstrakter Ebene die Bedeutung von Sachverhalten und Gegenständen behält. So ist es in diesem Beispiel bei der Blume das Merkmal der Blüte, welches als cha‐ rakterisierendes Element betont wird, das auch in der taxonomischen Unterkategorie Jasmin erhalten bleibt und dort mit spezifischeren Merkmalen der Blütenbeschreibung ergänzt wird. Bei der Bedeutungszuschreibung von Eigennamen, hier insbesondere Personennamen, verhält es sich etwas anders, weil sich Personennamen auf eindeutig identifizierbare Referent: innen beziehen, d. h. also auf Einzelpersonen, die in diesem Sinne nicht verallgemeinerbar sind. Das Beispiel Emil zeigt, dass die Namensbedeu‐ tungen der Eifrige, der Nachahmende und der Fleißige lauten. Sollte sich ein Kind mit dem Namen Emil im Laufe seines Lebens als nicht eifrig, nicht nachahmend und nicht fleißig herausstellen, dann wird es den Namen dennoch behalten. Die Namensgebung entspricht damit eher einem guten Wunsch für das Leben, als dass dem benannten Individuum tatsächlich die Bedeutung des Namens zugeschrieben würde (Seibicke 2008). Bedeutungen von Personennamen gehören außerdem schon zum Fachwissen und werden im Rahmen von Alltagsbegriffen nicht unbedingt gewusst. Bedeutungen von Gattungsnamen sind dagegen in der Regel als Alltagsbegriffe bekannt. Personen‐ namen haben damit zwar im engeren Sinn eine (lexikalische) Bedeutung, in Bezug auf das benannte Individuum haben sie jedoch vielmehr eine Bedeutsamkeit (Kunze 2004). In ihrer Bedeutsamkeit spiegeln sich mit dem Namen und der Person verbundene Assoziationen, auch wenn andere Individuen mit dem gleichen Namen gekannt werden (Nübling et al. 2015). Dies ist wohl ein Grund, weshalb Namen nicht einfach durch Nummern ersetzt werden können, denn einer Nummer würde die Bedeutsamkeit fehlen, die der Name enthält, und damit würde es keine Vorstellungen und Gefühle geben, die mit einem Namen verbunden werden (Kunze 2004). Ein weiteres Beispiel der Bedeutsamkeit von Namen zeigt sich in einer Fülle von Sprichwörtern und Redensarten (Franz 1999), wovon einige Beispiele in Tabelle 6 zusammengetragen sind. 144 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="146"?> Sprichwörter Redensarten • Geliebtes Kind trägt viele Namen. (aus Russland) • Namen zu nennen ist heikel. (Cicero) • Der Name ist Schall und Rauch. • Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. • Nomen est omen. • seinem Namen alle Ehre machen • einen Namen in den Schmutz ziehen • seinen guten Namen bewahren • seinen guten Namen verlieren • mit seinem Namen für etwas gerade stehen • die Dinge beim Namen nennen • dem Kind einen Namen geben Tabelle 6: Sprichwörter und Redensarten zum Thema Namen Entschlüsseln Sie die Bedeutung der Sprichwörter und Redensarten und suchen Sie nach weiteren Sprichwörtern und Redensarten, die die Bedeutsamkeit von Namen betonen. Aus linguistischer Perspektive gehören Personennamen zu den Eigennamen (nomina propria), haben eine eigene Namengrammatik und eine eigene Semantik. Die Funktion des Namens liegt in der Bezeichnung eines Referenten, ohne eine spezifische Wortbedeutung zu transportieren, d. h., Individuen entsprechen in der Regel nicht der Bedeutung ihres Namens. Dennoch wird der Bedeutsamkeit im psychologischen Sinn eine wichtige Rolle zugesprochen. Zur psychologischen und soziologischen Perspektive des Fundaments des Namenhabens zählt die Namensvergabe, bei der es sich um einen wechselseitigen Aushandlungspro‐ zess zwischen individuellem und sozialem Mehrwert des Namens handelt. Entspre‐ chend werden Namenpsychologie und Namensoziologie unterschieden (s. Infobox). Namenpsychologie und Namensoziologie In der Namenpsychologie (Psychoonomastik) geht es um die Verbindung des Namens mit psychischen Prozessen (Debus 2012). Ziel dieser Forschungsrichtung ist es, die konnotativen Bedeutungen von Personennamen zu erforschen, sodass auch der Gefühlswert eines Namens untersucht wird (Hartmann 1984). Mit Na‐ mensoziologie (Sozioonomastik) ist die soziologisch orientierte Namenforschung gemeint, die darauf hinweist, dass Eigennamen sozial verankerte sprachliche Zeichen sind (Debus 1995, 2012). Eigennamen können dann auch als Sozionyme bezeichnet werden (Debus 2012, S. 67). Die Namenswahl oder Namensgebung stellt einen Bezug zur sozialen Zugehörigkeit her, verankert das Individuum folglich mit dem Namen in der Gesellschaft. Das Zusammenwirken beider Forschungsrichtungen zeigt sich in den Stereoty‐ pen, die zu Personennamen entstehen, die auch mit dem Terminus Namenphysi‐ 8.1 Das Fundament des Namenhabens 145 <?page no="147"?> ognomik verbunden sind (Krien 1973, Betz 1965). Es zeigt sich eine gesellschaft‐ liche Übereinkunft, welche Namen als schön empfunden werden. Dazu zählt, dass ein Name gut klingt und positive Assoziationen weckt. Die Wirkung von Namen spielt nicht nur bei Personennamen eine Rolle, sondern auch bei der Benennung von Produkten und Waren mit werbewirksamen Effekten (Debus 2012). Aus der psychologischen Perspektive auf das Namenhaben wird zunächst die individua‐ lisierende Kraft von Personennamen betrachtet. Die Individualisierung erzeugt der Name, indem er das Individuum als einzigartig und unverwechselbar kennzeichnet. Diese Funktion der Bezeichnung erfolgt, auch wenn die Wortbedeutung des Namens nicht bekannt ist (Boesch 1957). Den eigenen Vornamen hört ein Kind zunächst am häufigsten (Struck 1996) und der Name dient der Identifikation bereits, bevor das Ich-Bewusstsein des Individuums erwacht. Mit ca. vier Monaten erkennt das Kind seinen eigenen Namen aus dem Lautstrom heraus (Weinert/ Grimm 2018), wodurch der Name eine zentrale Rolle bei der Selbstidentifikation spielt. Die eigene Benennung mit dem Namen gelingt ab ca. 18-24 Monaten, dann, wenn sich das Kind auch im Spiegel erkennt. Auch in der Sprachproduktion wird zuerst der eigene Name im Rahmen der Individualisierung verwendet, die Verwendung des Pronomens ich erfolgt erst um den dritten Geburtstag (Zollinger 2010). Der eigene Name stellt damit einen Ausgangspunkt für die Identitätsbildung dar. Die soziologische Perspektive lenkt den Blick von der Individualisierung auf die Klassifizierung durch den Namen (Dutta 2020, Ewels/ de Sombre 2013), denn durch die Namensvergabe erfolgt auch die Zuordnung zu einer Gruppe. Namen stellen folglich auch soziale Marker dar (Debus 2012). Die soziale Aufladung des Namens ist enorm, da je nach Kultur „Hinweise auf Geschlecht, Ethnizität, Religion, Rasse, Alter, Verwandtschaftsverhältnisse, Nationalität, Regionalität und Schicht“ darin enthalten sind (Schmidt-Jüngst 2020, S. 101). Der Rufname verweist auf soziale Gruppen und kann auch auf mehrere Gruppen verweisen, womit es zu Mehrfachzugehörigkeiten kommt. Im deutschsprachigen Kulturraum können drei Bereiche der vorbildhaften Namensgebung nach Debus (2010, s. Tabelle 7 für Beispiele) unterschieden werden: dies sind der dynastisch-politische, der religiös-kirchliche und der literarische Bereich. Bereich Beispiele dynastisch-politisch Heinrich, Otto oder Luise, Margarethe religiös-kirchlich Johannes oder Elisabeth, Maria literarisch Hermann, Horst oder Emelie, Lotte Tabelle 7: Beispiele für Namen aus den drei Bereichen vorbildhafter Namensgebung nach Debus (2010) Aus den Erfahrungen, die Individuen mit Namen machen, entstehen Stereotype. Über die Stereotype erfolgen dann Zuordnungen zu Gruppen, sodass mit Namen 146 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="148"?> Assoziationen erzeugt werden, an die sich auch Erwartungen knüpfen. Beispiele für die Zuordnung von Namen zu sozialen Gruppen sind der sozioökonomische Status, die Ethnie und die Geschlechtergruppe. ▶ Namen können stereotyp mit einem sozioökonomischen Status assoziiert werden. Mit der bewussten Wahl eines Namens kann folglich ein Status markiert werden, der beispielsweise Bildung oder Reichtum transportiert. Die Namen Sophie oder Simon legen einen anderen sozioökonomischen Status nahe als Jaqueline oder Justin. Forschungen zu Rufnamen und Schicht finden sich auch im pädagogischen Bereich (Kaiser 2009, 2010) und es konnte gezeigt werden, dass Vornamen mit Schichtzugehörigkeit assoziiert werden. ▶ Durch die Vornamenswahl kann die Zugehörigkeit zu einer Ethnie betont und somit die Herkunft der sozialen Gruppe gekennzeichnet werden. Kleen/ Glock (2020) setzen sich mit Vornamen von Schüler: innen mit Migrationshintergrund auseinander und stellen fest, dass die Vornamen entsprechend der eigenen Ethnie ausgewählt und nicht an die ethnische Majorität angepasst werden, d. h., durch Namen findet eine Kennzeichnung der Ethnie statt. ▶ Eine weitere Gruppenzugehörigkeit, die zentral in der Identitätsbildung ist und über den Rufnamen kodiert und kategorisiert wird, ist die Geschlechtergruppe (s. dazu Kapitel 11). Nübling (2017, S. 326) bezeichnet den Namen sogar als „sprach‐ liche Genitalien“, da sich Männernamen durch Suffigierung in Frauennamen umwandeln lassen, zum Beispiel Karl wird zu Karl-a oder Christian zu Christian-e. Mit dem Vornamen wird sowohl eine psychologische Individualisierung als auch eine soziale Zugehörigkeit ausgedrückt, die auf die Familie, die Ethnie und das Geschlecht hinweisen kann. Der Name übernimmt in der Identitätsbildung die Aufgaben, einzigartig zu sein und sich gleichzeitig als Teil von Gruppen zu verorten. Aus juristischer Perspektive wird betont, dass der Name definiert ist „als die ständige Kennzeichnung einer Person zum Zwecke ihrer Unterscheidung von anderen“ (Dieder‐ ichsen 1987, S.-74), d.-h., der Name ist Ausdruck der Individualität und dient der Iden‐ tifikation (Seibicke 2008). Während die Nachnamen angeboren sind und in den Bereich des öffentlichen Rechts fallen, stehen die Vornamen bei der Geburt zur Disposition und sind privatrechtlicher Natur und damit durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt (Sacksofsky 2009). Das Namensrecht ist von Land zu Land unterschiedlich, sodass zum Beispiel Island ein völlig anderes Namenssystem hat, das dem Vornamen eine stärkere Bedeutung beimisst (s. Infobox). Das Vornamenbestimmungsrecht der Eltern im deutschen Namenssystem sieht vor, dass Eltern binnen einer Woche nach der Geburt dem Standesamt den oder die Vornamen anzeigen. Dann hängt es vom Standesamt ab, ob der Name als juristisch zulässig oder unzulässig befunden wird und 8.1 Das Fundament des Namenhabens 147 <?page no="149"?> ob dieser dann in das Geburtsregister eingetragen wird (Diederichsen 1987). Es gibt dazu folgende Regelungen: (1) Die Anzahl der Vornamen ist auf vier zu beschränken. (2) Zweigliedrige Vornamenskombinationen, wie Karl-Otto, sind zulässig, mehrgliedrige nicht. (3) Die Vornamen sollen geschlechtsbezogen sein, d. h., Jungen bekommen einen männlichen, Mädchen einen weiblichen Vornamen. (4) Bei geschlechtsneutralen Vornamen ist ein weiterer geschlechtstypischer Vorname hinzuzufügen, z. B. Kai Herbert oder Kai Helene. Ferner soll die Rechtsordnung Verantwortung tragen und Stigmatisierungen vorbeugen, indem Extreme der Vornamenswahl wie Sputnik, Jazz oder Verleihnix abgelehnt werden, irritierenderweise sind Namen wie Pumuckel, Pepsi-Carola oder Alpha jedoch zugelassen (Koß 2002, Kunze 2004). Diese Namen sind möglich, da das gesamte Namensrecht insgesamt liberaler geworden ist, sodass insbesondere bei der Vornamenswahl nur noch wenige Einschränkungen bestehen. Dutta (2020, S. 2) schreibt dazu jedoch: „Die Eltern dürfen mit ihrer Vornamenswahl weder Befremden noch Anstoß erregen, das Kind weder der Lächerlichkeit preisgeben noch in der Entfaltung seiner Persönlichkeit beeinträchtigen.“ Auch hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen dem Namen und der Persönlichkeitsausbildung und vor allem auch, dass durch die Vorgaben des deutschen Namensrechts Einfluss auf die Selbstdarstellung genommen wird (Dutta 2020). Was unter Kindeswohl verstanden wird, bleibt jedoch wage. Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) befasst sich da‐ mit, welche Namen zugelassen werden. Sie überprüfen, ob der Name bereits verwendet wurde, das Geschlecht aus dem Namen eindeutig erkennbar ist und ob das Kindswohl gesichert ist. Vornamen in Island In Island existiert ein völlig anderes Namenssystem. Es gibt kein Familienna‐ mensystem, das ermöglicht, dass Ehepaare denselben Nachnamen annehmen können oder die Kinder ebenfalls den Familiennamen tragen. Isländische Kinder bekommen als Nachnamen in der Regel den Vornamen des Vaters mit dem Suffix -son für Sohn oder -dottir für Tochter. Hier im Beispiel (Abbildung 18) heißen die Eltern Flóki Sigurdsson und Skadi Ericdottir. Bei den Kindern wird für den Nachnamen jeweils der Vorname des Vaters verwendet: Der Sohn wird Björn genannt und erhält den Nachnamen Flókisson (der Sohn von Flóki), die Tochter wird Lyra genannt und enthält entsprechend den Nachnamen Flókisdottir (die Tochter von Flóki). Abbildung 18: Isländische Namensgebung 148 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="150"?> Mit diesem Beispiel ist es nicht mehr erstaunlich, dass das isländische Telefonbuch nach Vornamen sortiert ist, da die Vornamen eine größere Bedeutung haben und der Familienname lediglich der genealogischen Verankerung dient (Nübling et al. 2015). Das isländische Namensrecht ist stark im Aufbruch begriffen, da die Geschlechtsbindung inzwischen wegfallen kann. Diese Änderung wird im Gesetz für Geschlechterautonomie festgehalten. Es gibt entsprechend zu den Endungen -son und -dottir auch die geschlechtsneutrale Endung -bur. Geschlechtsneutrale Namen können getragen werden, wenn auch die Geschlechtszugehörigkeit als geschlechtsneutral registriert wurde. In einigen Fällen wird der Nachname der Kinder auch aus dem Vornamen der Mutter abgeleitet (Nübling et al. 2015). Aus juristischer Perspektive wird die Individualität des Individuums betont, indem eine eindeutige (juristische) Kennzeichnung mit dem Namen erfolgt. Nach‐ namen sind von Gesetzes wegen festgelegt, während Vornamen frei wählbar sind. Die Wahl des Vornamens soll das Kindeswohl fördern und die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen. Betrachten Sie Ihren eigenen Namen unter den vier Perspektiven des Fundaments des Namenhabens. Gibt es linguistische Besonderheiten? Inwiefern dient Ihr Name Ihrer Individualität, inwiefern einer Gruppenzugehörigkeit? Ist Ihr Name aus juristischer Perspektive gut gewählt? 8.2 Aspekte zur Vielfalt der Namensgebungen Vornamen sind wechselnden Moden unterworfen und werden sogar als Schmuckstück bezeichnet, das dem Individuum bei der Geburt umgehängt wird (Franz 1999). Mit einem Namen kann auch ein Prestige verbunden sein, worüber ein sozialer Mehrwert erwartet wird (Debus 1995). Eine Mode Ende des 19. Jahrhunderts war, entweder Kurzformen, wie Frieda und Lotte oder Max und Willi, beim Standesamt eintragen zu lassen, oder Doppelformen zu wählen, wie Hannelore oder Karlheinz. Außerdem wurden für Jungen Doppelnamen mit Bindestrich aktuell, wie Klaus-Dieter oder Kai-Uwe (Kunze 2004). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden germanische Namen wie Helmut, Reinhold, Wolfgang, Hildegard und Gertrud beliebt, außerdem beginnt die Vielfalt an Namen zuzunehmen, womit die zunehmende Individualisierung durch den Namen betont wird. In den 1930er- und 1940er-Jahren waren es die Nationalsozialisten, die den Eltern nahelegten, germanische Namen zu bevorzugen (Kunze 2004), jedoch werden schon während des Zweiten Weltkriegs verstärkt biblische und antike Namen wie Andreas, Michael und Thomas oder Julia und Stefanie vergeben (Kunze 2004). 8.2 Aspekte zur Vielfalt der Namensgebungen 149 <?page no="151"?> Inspiriert von Struck (1996) lassen sich Namensvorlieben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in 10-Jahres-Schritten beobachten. Den Beginn modischer Namens‐ wellen verursachte die Reisewelle in den 1950er-Jahren, in denen zunächst italienische Vornamen wie Chiara oder Mario modern wurden. Dann kam in den 1960er-Jahren die französische Phase mit Namensvorlieben wie Nadine oder René. In den 1970er-Jahren waren skandinavische und friesische Namen wie Anke oder Ole modern. Typisch für die 1980er-Jahre war der angloamerikanische Einfluss mit Namen wie Pamela oder Patrick und in den 1990er-Jahren waren es biblische Namen wie Sarah oder David, die in Mode kamen. Dieser Trend hielt in den 2000er-Jahren an, was sich an den Namensvorlieben Anna und Lukas zeigte. In den 2010er-Jahren waren es dann globale, zeitlose Namen wie Emma oder Ben. Ein Name kann wie ein Schmuckstück betrachtet werden, das dem Individuum von Geburt an umgehängt wird. Die Namensvergabe ist verschiedenen Moden unterworfen, die jeweils dem herrschenden Zeitgeist entsprechen. Die Moden in der Vornamenswahl werden als Teil der Kulturgeschichte angesehen (Gerhards 2010, Seibicke 1999) und die Wichtigkeit der Namenswahl wird auch dadurch gestützt, dass es verschiedenste Bücher dazu gibt (Koß 2002). Die ersten deutschen Vornamenbücher entstanden bereits im 16. Jahrhundert. Es waren vor allem konfessionelle Gründe, die „protestantische Eltern zur Wahl von deutschsprachigen und katholische zur Wahl von Heiligennamen anregen“ sollten (Kunze 2004, S. 13). Die immer freier werdenden Möglichkeiten der Namenswahl führten nach Kunze dazu, dass sich auch Vornamenlexika immer größerer Beliebtheit erfreuten. Durchaus ambivalent ist bei den Moden der Namensvergabe, dass versucht wird, auf Modenamen zu verzichten (Franz 1999, Koß 2002). So zeigt ein Blick in die Statistik der Vornamen einerseits das Anhalten von Moden bestimmter Namen und andererseits die Suche nach Abwechslung und Außergewöhnlichkeit. Um einen Eindruck der beliebtesten Vornamen zu bekommen, werden in Tabelle 8 die jeweils fünf beliebtesten Vornamen von Mädchen und Jungen im Zehnjahresabstand seit 1980 abgebildet. Ein aktuelles Bild über die Vornamenentwicklung findet sich bei der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden. Die dargestellten Namenslisten berücksichtigen alle gegebenen Vornamen, d. h. auch Zweit- und Folgenamen. Dies kann eine Ursache dafür sein, dass bei den Mädchennamen der Name Maria in dieser Häufigkeit vertreten ist (Koß 2002). Allerdings ist es auch ein interessantes Zeichen, dass bei allem Vorzug für ausgefallene Namen zumindest im Falle eines Zweitnamens der Name Maria traditionell verhaftet bleibt. 150 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="152"?> Mädchen 2020 2010 2000 1990 1980 Emilia Sophie/ Sofie Marie Anna/ e Stefanie Hanna/ h Marie Sophie Christina/ e Sabrina Emma Maria Maria Katharina Christina/ e Sophia/ Sofia Sophia/ Sofia Anna/ Anne Lisa Melanie Mia Mia Laura Julia Kathrin Jungen 2020 2010 2000 1990 1980 Noah Maximilian Alexander Daniel Christian Leon Alexander Maximilian Christian Michael Paul Paul Lukas Alexander Stefan Matteo Leon Leon Patrick Daniel Ben Lukas/ Lucas Tim Tobias Markus Tabelle 8: Die häufigsten Vornamen von Mädchen und Jungen (https: / / gfds.de/ vornamen/ beliebteste-vornamen/ ) Namensmoden lassen sich bei der Betrachtung der beliebtesten Vornamen beob‐ achten, zu bemerken ist ein hoher Anteil von traditionellen Namen. Es zeigt sich über die Jahre ein Trend zunehmender Individualisierung, der sich auch an der Vergabe der Vornamen beobachten lässt. Diesen Prozess der Individualisierung über Vornamen zeigt Gerhards (2010) in seiner Erhebung auf: 1894 waren von 100 ver‐ gebenen Namen 38 % unterschiedliche Namen, während 1984, also 90 Jahre später, 81 % der Namen unterschiedlich waren. An der Wahl des Vornamens zeigt sich folglich, dass es Eltern zunehmend wichtig ist, den eigenen Kindern individualisierende Namen zu geben, damit sie sich von anderen Kindern unterscheiden. Zudem scheint die Vergabe von Vornamen auch eine Geschmacksäußerung im Sinne der Darstellung des eigenen Lebensstils der Eltern zu sein. Mit Bezug zu Bourdieu (1987) geht Gerhards davon aus, dass Geschmackspraktiken nicht natürlicher Art sind, sondern zur Erzeugung von Schichtungen benutzt werden, also um soziale Zuordnungen zu markieren. Eltern nehmen also mit der Vergabe von Vornamen auch eine Selbstdarstellung und eine Schichtzuordnung vor. 8.2 Aspekte zur Vielfalt der Namensgebungen 151 <?page no="153"?> Zu den identitätsstiftenden Funktionen gehört auch, dass bei der Namensvergabe auf die Individualisierung des Kindes geachtet wird. Obwohl Namen der Individualisierung dienen, kommt es dazu, dass sich in Jahrgängen oder auch benachbarten Jahrgängen dieselben Vornamen häufen. Wird der eigene Name gegoogelt, ist häufig festzustellen, dass es durchaus mehrere Individuen mit demselben Namen gibt. Wie ist also in diesem Punkt eine Identifi‐ kation überhaupt möglich? In einer Studie der Gesellschaft für deutsche Sprache wurde untersucht, welche Aspekte für Eltern bei der Namenswahl relevant sind (Ewels/ de Sombre 2013, S. 5 f.). Die fünf wichtigsten Aspekte können folgendermaßen zusammengefasst werden: ▶ Ästhetik (72-%), der Name klingt gut und hört sich schön an; ▶ Passung (52-%), Vor- und Familiennamen klingen gut zusammen; ▶ Vorteile (42 %), der Name soll dem Kind Vorteile und keine Nachteile, wie Hänseln, bringen; ▶ Alter (31-%), der Name soll sowohl in der Kindheit als auch im Alter gut passen; ▶ Kürze (27 %), der Name soll möglichst kurz sein, um Abkürzungen zu verhindern. Zu den weniger wichtigen Aspekte zählen, welche Bedeutung der Name hat (16 %), ob der Name gerade in Mode ist (14 %), ob es eine Sympathie zu Namensträgern gibt (13 %) oder ob es sich um die Vorliebe zu traditionellen Namen (11 %) oder biblischen Namen (7-%) handelt (Ewels/ de Sombre 2013). Der Klang in Form von Ästhetik und Passung spielt bei der Namenswahl also eine wichtige Rolle und es wird zudem darauf geachtet, dass der Name weder zu exotisch noch zu gewöhnlich ist (Franz 1999). Es zeigt sich damit eine Tendenz, eher unauffällige Namen zu wählen, da ein auffälliger Name zur Last und gar schädlich für die Entwicklung werden kann. Die eigentliche Bedeutung der Namen und damit verbundene Hoffnungen und Wünsche für das Kind finden kaum Erwähnung. Implizit schwingen bei der passenden Namenswahl Aspekte der Namensphysiogno‐ mik mit, da jeder Name eine bestimmte Assoziation und Erwartung weckt, welche Eigenschaften einer Person zugeschrieben werden (Betz 1965). Beispielsweise neigen Individuen bei Namensähnlichkeiten oder gleichen Namen dazu, andere Menschen mit dieser Namensähnlichkeit positiver zu bewerten (Garner 2005). Obwohl diese Assoziationen und Erfahrungen mit Namen rein subjektiv sind, bilden sich dennoch gesellschaftlich-normative Stereotype aus, die zwischen Individuen geteilt werden, sodass sich in den Stereotypen durchaus auch Geschmack und Status spiegeln. Folglich gibt es Namen, die als sympathisch und anziehend wahrgenommen werden, und andere, die hässlich und abstoßend erscheinen (Seibicke 2008). Beispielsweise wird mit 152 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="154"?> dem Vornamen Carmen eine typische Spanierin assoziiert (Seibicke 2008, S. 81 f.) und über die Nachnamen Bienzle, Schäufele oder Eberle werden schwäbische Stereotype geweckt, die sogleich mitassoziieren, aus welcher geografischen Region die Person kommen könnte. Der Klang spielt bei der Vornamenswahl eine wichtige Rolle, außerdem sollten Vorteile mit dem Namen verknüpft sein, sodass auch Stereotype berücksichtigt werden, die durch Namen vermittelt werden. In Abbildung 19 sind jeweils die zehn beliebtesten Vornamen von Mädchen und Jungen von 1977-2020 als Wordl zusammengestellt. Je größer die Vornamen dargestellt sind, desto häufiger wurden sie vergeben. Prüfen Sie, inwiefern sich die häufigen Namen mit den Namen Ihres Umfeldes decken. Ist ein Name dabei, den Sie potenziell Ihren Kindern geben würden oder gegeben haben? Tendieren Sie dazu, dem Trend zu folgen, oder haben Sie einen anderen Vornamen ausgedacht? Abbildung 19: Vornamen von 1977-2020 8.3 Zur identitätsstiftenden Funktion von Vornamen Bei der Betrachtung des Zusammenhangs von Vornamen und Identitätsbildung wird davon ausgegangen, dass „der Name als Eigennamen Identität [stiftet]“ (Debus 2003, S. 78). Diese Vorstellung einer Programmatik des Eigennamens für das Individuum findet sich seit der Antike und wird mit der Redensart nomen est omen auf den Punkt gebracht (Debus 2012). Der Name kann folglich als wesenshafte Einheit aufgefasst werden, die nach Goethe als „Heilswunsch“ besteht und wie eine Haut angewachsen ist (zitiert nach Debus 2003, S. 78, und Seibicke 2008, S. 80). Diese identitätsstiftende Wirkung des 8.3 Zur identitätsstiftenden Funktion von Vornamen 153 <?page no="155"?> Namens, der das Individuum sichtbar macht (Seibicke 2008), wird auch von juristischer Seite betont, indem auf das Recht am eigenen Namen hingewiesen wird (Sacksofsky 2009). In der Namenpsychologie wird beschrieben, dass sich das Kind zuerst mit dem Namen identifiziert, bevor das Ich-Bewusstsein erwacht. „Die Selbstidentifikation mittels des Namens macht diesen zu einem Kristallisationspunkt für die Ichfindung, die Entwicklung“ (Seibicke 2008, S. 79). Seibicke stellt hier eine Verbindung zur Identität her, da er den Rufnamen mit dem „Zentrum unseres Ichs“ (S. 79) verbindet. Der Name wird damit von Anfang an mit der Eigenheit des Wesens verwoben (Debus 2003). Es geht dabei nicht nur darum, einen Namen zu haben, sondern ebenfalls auch darum, wie die Umgebung - insbesondere bei Heranwachsenden - auf den Namen reagiert (Seibicke 2008). Die Benennung mit einem Namen spiegelt also auch das Verhältnis zum Benannten wider, was sich insbesondere in der Verwendung von Kosenamen zeigt. Ein Name kann durchaus auch ein Stigma transportieren (Bering 1987) und der Name kann somit auf den Namensträger zurückwirken (Seibicke 2008). Die enge Verbindung zwischen Individuum und Eigennamen wird auch deutlich in der Empfindlichkeit, die auftritt, wenn ein Name falsch ausgesprochen oder gar verunstaltet wird (Kunze 2004). Mit falschem Namen angesprochen zu werden, wird häufig mit einem Angriff auf die Person gleichgesetzt (Wimmer 1995). Auch die eigene Wahrnehmung des Namens spielt bezüglich der Identifikation eine wichtige Rolle. Bezüglich des Namensimages wird häufig auf den Maler Anselm Feuerbach verwiesen, der mit dem Namen Feuerbach das Feuer in seinen Adern verbindet, während Franz Grillparzer in Tagebucheinträgen vermerkt, wie scheußlich er seinen eigenen Namen findet. Diese psychische Bedeutung des Namens kann vor allem auch in der Pubertät beobachtet werden, wenn Phasen der Identifikation mit dem Namen und Phasen der Differenzierung vom eigenen Namen abwechseln (Seibicke 2008). Debus (2003, S. 77) schreibt zusammenfassend: „Erst durch die Benennung wird der Mensch nam-haft gemacht, unterscheidbar und identifizierbar, als Einzelwesen mit eigener Identität existent.“ Die identitätsstiftende Funktion der Vornamen besteht darin, dass der Name am Wesen des Individuums anhaftet und damit eine Ich-Identifikation stattfindet. Die Identifikation mit dem eigenen Namen ist das Fundament des Selbstkonzeptes. Eine weitere identitätsstiftende Funktion von Vornamen ist die Markierung des Ge‐ schlechts, sodass hier eine Gruppenzugehörigkeit mit dem Namen kodiert wird und damit auch ein Ich-Identitätsmerkmal festgelegt wird. Die Markierung des Geschlechts über den Vornamen geht u. a. mit juristischen Forderungen einher. Im deutschen System wird beispielsweise zwingend erwartet, dass über den Vornamen entweder das männliche oder weibliche Geschlecht eindeutig identifiziert werden kann, d. h., die 154 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="156"?> konventionellen Namensregister im Deutschen trennen strikt zwischen Männer- und Frauennamen. Einerseits gibt es eindeutige formale Kennzeichnung von Männer- und Frauennamen, wie zum Beispiel Michael - Michaela oder Daniel - Daniela, an denen das Geschlecht identifiziert werden kann. Andererseits gibt es Namen, wie zum Beispiel Doris und Boris, bei denen die Zuordnung, ob der Name weiblich oder männlich ist, gelernt werden muss (Schmidt-Jüngst 2020). Schmidt-Jüngst (2020) stellt einen Gender-Index für deutsche Rufnamen vor, der die Rufnamen dahingehend in eine Rangordnung bringt, welche Männer- und Frau‐ ennamen jeweils aufgrund der phonologischen Struktur prototypische Geschlechts‐ eindeutigkeit hervorrufen. Relevant für den Index sind die Silbenzahl, die Betonung und der Auslaut. Ihre Untersuchung der beliebtesten Frauen- und Männernamen erbrachte, dass Männernamen weniger Silben haben, der Hauptakzent v. a. auf der ersten Silbe liegt, der Konsonantenanteil höher ist und auch der Auslaut häufiger konsonantisch ist. Auf männlicher Seite haben entsprechend die Namen Max, Frank und Dietrich einen hohen männlichen Gender-Index, während die Namen Jeremia und Joachim einen sehr niedrigen männlichen bzw. hohen weiblichen Gender-Index haben. Frauennamen sind im Durchschnitt mit mehr Silben länger, selten sind sie initial betont und das Konsonant-Vokal-Verhältnis ist ausgewogener. Auf dieser Skala haben Namen wie Michaela, Emilia und Anette einen sehr hohen weiblichen Gender-Index, während die Namen Doris, Kerstin und Astrid eine sehr niedrigen weiblichen bzw. hohen männlichen Gender-Index aufweisen. Mit dem Gender-Index werden Namen folglich nicht polarisiert und männliche von weiblichen Namen unterschieden, sondern Namen werden entsprechend ihrer Maskulinität oder Feminität auf einem Kontinuum abgebildet. Zu den identitätsstiftenden Funktionen der Vornamen gehört auch die Ge‐ schlechtsidentität. Der Vorname kennzeichnet sowohl eine Zugehörigkeit zu einer Geschlechtergruppe also auch die geschlechtliche Ich-Identität. Bei den Vornamen kann über den Gender-Index ein Kontinuum der Maskulinität und Femininität von Vornamen berücksichtigt werden. Zur identitätsstiftenden Funktion von Namen zählt auch die soziale Spiegelung des Namens, d. h., der Name dient nicht nur zur Kennzeichnung der Person, sondern gibt gleichermaßen einen sozial vermittelten, kognitiven und affektiven Orientierungsrah‐ men vor (Ris 1977). Wie bereits aus linguistischer Perspektive beschrieben wurde, liegt die Besonderheit von Namen in der Begriffsbildung. Generell werden bezüglich der Bedeutung von Begriffen ein denotativer und ein konnotativer Anteil unterschieden (Hartmann 1984). Der denotative Anteil umfasst die Grundbedeutung eines Begriffes, während der konnotative Anteil die subjektiven und emotional assoziierten Bedeutun‐ gen umfasst. Beim Begriff Stuhl wäre das Denotat hat eine Sitzfläche und eine Lehne, 8.3 Zur identitätsstiftenden Funktion von Vornamen 155 <?page no="157"?> das Konnotat kann vielfältig sein, zum Beispiel: war mir immer zu hart zum Sitzen oder sollte leicht stapelbar sein, damit ich Platz spare. Namen und auch Namensstereotype beinhalten vor allem Konnotate, d. h., sie bestehen hauptsächlich aus subjektiven Assoziationen, weil das konventionalisierte Denotat im Sinne einer allgemeinen Bedeutung in der Regel nicht zwangsläufig gewusst wird, wie zum Beispiel, dass der Name Felix der Glückliche bedeutet. Das Konnotat von Personennamen umfasst folglich imaginative, emotive und assoziative Aspekte (Hartmann 1984), die in der sozialen Wahrnehmung entstehen. In der sozialen Wahrnehmung, die sich aus Erfahrungen, Einstellungen und eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten zusammensetzt, werden auch Namenstrends berücksichtigt (Gerhards 2010), d. h., beim Hören eines Vornamens werden automatisch bestimmte Merkmale einer Person assoziiert, zumindest solange noch wenig über den Namensträger bekannt ist. Über die Prozesse der sozialen Wahrnehmung kann beispielsweise der Frage nachgegangen werden, wie ein Namens‐ image entsteht (Frank 1980), d. h., alle mit einem Namen verbundenen Assoziationen werden eingeschlossen und über Rückkopplungsprozesse dann Passungen bezüglich des Namens vorgenommen. Diese assoziierten Merkmale können das Geschlecht sein, das Alter, die Intelligenz, aber auch ethnische Zugehörigkeit und soziale Klasse (Rudolph/ Böhm/ Lummer 2007, Rudolph/ Spörrle 1999, Kasof 1993). Namen provozieren Namensstereotype. In einem Rollentest erfolgte eine Zuord‐ nung von Namen zu Berufen (Kunze 2004). Wer heißt wie? Prüfen Sie selbst, welche Namen Sie zuordnen würden (Tabelle 9)! Beruf Name A Brauereibesitzer a Egon Judassohn B Oberleutnant b Uwe Hasselhorst C Schachmeister c Franz Joseph Ipfelkofer D Notar d Felix Behrendt E Portier e Wenzel Panofsky Tabelle 9: Rollentest zur Zuordnung von Namen und Berufen (nach Kunze 2004, S.-194) Der Name des Oberleutnants wurde mit 78 % Treffsicherheit zugeordnet, der Name des Brauereibesitzers mit 72 %. Die anderen Namen wurden mit einer Wahrscheinlichkeit von ca. 40-% richtig zugeordnet. (Lösung: Ac, Bb, Ce, Da, Ed) 156 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="158"?> Identitätsstiftend ist bei Vornamen auch, was ihnen von außen durch subjektive Assoziationen zugeschrieben wird. In Bezug auf die soziale Wahrnehmung von Vornamen wurden einige sozialpsychologi‐ sche Studien durchgeführt. Eine davon ist von Kleen/ Glonn (2020), die zeigen konnten, dass dieselben Schüler: innenessays lediglich durch die Veränderung der Vornamen anders bewertet wurden, d. h., alleine der Vorname kann durch Stereotypenbildung zu Benachteiligungen führen. Essays von Schülern mit häufigen Vornamen werden besser bewertet als von Schülern mit selteneren Vornamen. Bei Schülerinnen stellte es sich andersherum dar. Hier werden die Essays von Schülerinnen mit seltenen Vornamen, wie zum Beispiel Adele, besser bewertet als von Schülerinnen mit häufig vorkommenden Vornamen. Kleen/ Glonn stellten außerdem fest, dass Schüler: innen mit Vornamen, die der akademischen Wortnorm entsprechen oder die als attraktiv eingestuft werden, profitieren, während Vornamen, die mit einem niederen sozioöko‐ nomischen Status verknüpft werden, eher für weniger glaubwürdig gehalten werden. Ein weiteres Beispiel ist die Studie von Tobisch/ Dresel (2017), die Zusammenhänge zwischen Leistungsbeurteilungen von Schüler: innen und deren ethnischer und/ oder sozioökonomischer Herkunft aufzeigten. Träger von Vornamen wie Justin, mit denen ein niederer sozioökonomischer Status assoziiert wird, werden schlechter beurteilt als Träger mit Vornamen wie Julius, die mit einem hohen sozioökonomischen Status verbunden werden. Eine weitere Studie, in welcher lediglich der Vorname verändert wurde, um das Geschlecht zu variieren (Rudolph/ Spörrle 1999), zeigte ebenfalls Unterschiede. Es wurde derselbe Aufsatztext und Lebenslauf verwendet und lediglich der Name John McKay (männlich) durch Joan McKay (weiblich) ersetzt. Bei den Bewertungen zeigte sich, dass der Aufsatztext vom männlichen Autor positiver bewertet wurde. Auch beim Lebenslauf wurde der männliche Kandidat bevorzugt. Rudolph (2001) weist im Zusammenhang mit den Gendereffekten allerdings darauf hin, dass es nicht nur weibliche oder männliche Vornamen sind, die einen Einfluss auf die Wahrnehmung des Namensstereotyps haben, sondern dass es auch innerhalb der weiblichen und männlichen Vornamen starke Streuungen gibt, was die Attraktivität der Namen angeht. Es kann folglich in den Untersuchungsdesigns zu einem Effekt gekommen sein, weil attraktive männliche Vornamen mit unattraktiven weiblichen Vornamen verglichen wurden (Kasof 1993). Dieser Effekt geht verloren, wenn die Attraktivität der Namen in beiden Geschlechtern angeglichen wird, und damit verschwindet auch die Bevorzugung männlicher Kandidaten. Insgesamt werden die Effekte von assoziierten Stereotypen geringer, je mehr Informationen zusätzlich zum Vornamen existieren. Das heißt, mit zunehmender Bekanntschaft mit dem Namensträger schwindet der Einfluss des Namens auf die interpersonale Wahrnehmung (Rudolph/ Spörrle 1999, Rudolph 2001). 8.3 Zur identitätsstiftenden Funktion von Vornamen 157 <?page no="159"?> Für die Erforschung der sozialen Wahrnehmung von Personennamen ist es not‐ wendig, Wortnormen für Vornamen zu erstellen, um vergleichende Aussagen über Namenswahrnehmungen machen zu können (Rudolph 2001, Kröner/ Dickhäuser 2009). Auf der Grundlage einer normierten Vornamensliste zeigen Rudolph/ Böhm/ Lummer (2007) in ihrer Studie, wie die soziale Wahrnehmung den Zusammenhang von Vorna‐ men und Persönlichkeit prägt. Vornamen wurden hier hinsichtlich Alter, Attraktivität, Intelligenz und Religiosität eingeschätzt und gezeigt, dass Namensattraktivität und Personenattraktivität hoch miteinander korrelieren (op. cit., S. 21). Die untersuchten Haupteffekte zeigten, dass Träger moderner Vornamen, wie z. B. Lara oder Luca, als jünger eingeschätzt werden als Träger altmodischer Namen, wie Birgit oder Olaf. Mit modernen Vornamen, z. B. Julia oder Leon, wird eine höhere Attraktivität der Person assoziiert als mit altmodischen, z. B. Petra oder Dirk, oder zeitlosen Namen, wie z. B. Anna oder Alexander. Ähnlich verhält es sich mit der Intelligenzeinschätzung und auch mit der Einschätzung der Religiosität: Personen mit modernen oder zeitlosen Namen werden als intelligenter und religiöser eingeschätzt als Personen mit altmodischen Namen. Ein wichtiger Aspekt ist, dass Präferenzen für Vornamen einem stetigen Wandel unterzogen sind. So müsste die Studie in regelmäßigen Abständen wiederholt werden, um die Vornamen zu aktualisieren. Grundsätzlich unterstützt diese Studie die Vermutung, dass Personennamen Merkmale der Persönlichkeit und damit auch der Identität transportieren. Durch das Phänomen der sozialen Wahrnehmung werden bereits durch den Vornamen Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben, sodass dies einer identitäts‐ stiftenden Funktion gleichkommt. Der Vornamen spielt eine wichtige Rolle bei der Einschätzung des ersten Eindrucks von einer Person und ein Stereotyp des Vornamens kann zu Benachteiligung führen. Stimmen Sie folgender Äußerung zu? „Wissenschaft und Schule sollten dazu beitragen, den Sinn für den traditionsgebundenen Namen aus Familie, Landschaft und kirchlichem Bekenntnis wieder zu fördern“ (Boesch 1957, S. 43). Begründen Sie Ihre Antwort! 8.4 Namensänderung-= Identitätsänderung? Namen haben eine identitätsstiftende Funktion (Debus 2003, Seibicke 2008). Infolgedes‐ sen kann angenommen werden, dass mit einer Namensänderung eine Identitätsände‐ rung einhergeht. Mit einem neuen Namen werden neue Identitätsmerkmale verbunden und es wird eine neue Identität stabilisiert. Eine Namensänderung kann verschiedene 158 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="160"?> Gründe haben, wie die Änderung des Familiennamens bei Heirat, bei Stiefkindern, bei Adoption oder beim Erlangen eines Titels, die Änderung des Vornamens bei Geschlechtsanpassung und auch die Namensänderung unter Zwang (z. B. Zeugen‐ schutzprogramm). Namensänderungen sind in all diesen Fällen juristisch geregelt und Namen dürfen auch nicht ohne Angabe eines wichtigen Grundes geändert werden (s. Infobox). Ohnehin stellt eine falsche Namensangabe gegenüber einer Behörde oder einem Amt eine Ordnungswidrigkeit dar (gemäß § 111 OWiG). Namensänderungen müssen folglich triftige Gründe haben und diese müssen begründet werden. Ein Einfluss des Namens auf die Identität ist in jedem Fall bei jeder Änderung beinhaltet. Gerhards (2010) bezeichnet Namensänderungen sogar als eine geeignete Strategie der Identitätsänderung. Als Beispiel nennt er - im negativen Sinn - Sekten und andere totalitäre Institutionen, die bewusst Namensänderungen vornehmen, um Individuen von sozialen Kontexten oder Identitätsmerkmalen zu entfernen, die mit dem früheren Namen verbunden sind. Namensrecht bei Eheschließung Das Namensrecht bezogen auf den Nachnamen ist seit 1949 vielen Veränderungen unterworfen gewesen und eng verbunden mit Fragen der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Diesen Verlauf zeichnet Sacksofsky (2009) nach und es ist erstaunlich, dass auch heute das Namensrecht Frauen benachteiligt. Erhielt laut Gesetzgebung von 1949 die Frau bei Eheschließung den Familiennamen des Mannes, wurde das Gesetz 1957/ 58 dahingehend erweitert, dass die Frau an den gemeinsamen Familiennamen ihren Mädchennamen anhängen durfte. Ab 1976 mussten Ehegatten weiterhin einen gemeinsamen Ehenamen führen, es konnten jedoch die Geburtsnamen des Mannes oder der Frau als Ehename bestimmt werden - falls keine Bestimmung erfolgte, wurde automatisch der Name des Mannes zum Ehenamen. Zudem wurde festgelegt, dass im Falle von Doppelnamen der Geburtsname jeweils vorangestellt werden muss. Nach der Änderung des Namensrechts 1991 konnten Ehegatten auch bei Eheschließung den eigenen Namen behalten, d. h., der Zwang zum einheitlichen Ehenamen wurde aufgelöst, ein gemeinsamer Doppelname ist jedoch nicht zulässig, dafür kann ein Ehepartner den Geburtsnamen dem gemeinsamen Ehenamen voranstellen oder anhängen. Rechtlich problematisch wurde nun, welchen Namen eheliche Kinder bekommen sollten. Dies konnte der Name des Vaters, der Mutter oder ein Doppelname sein. Die Wahl des Doppelnamens für das Kind wurde allerdings 1993 wieder ausgeschlossen. Sacksofsky merkt hier an, dass mit der Aufhebung des Doppelnamens für das eheliche Kind indirekt ein einheitlicher Familienname eingefordert wird. Sie geht davon aus, dass - aufgrund nach wie vor bestehender traditioneller Rollenverteilung und gesellschaftlicher Akzeptanz - überwiegend wieder der Name des Mannes zum Ehebzw. Familiennamen gewählt wird. Sachsofsky stellt damit eine Benachteiligung der Frauen fest. 8.4 Namensänderung-= Identitätsänderung? 159 <?page no="161"?> Die identitätsstiftende Funktion von Namen führt dazu, dass eine Namensände‐ rung in Zusammenhang mit einer Veränderung der Identität steht. Können Sie sich vorstellen, Ihren Namen zu ändern? Unter welchen Umständen würden Sie es auf alle Fälle tun? In welcher Hinsicht würde sich dann Ihre Identität ändern? Eine Namensänderung kann auch mit einem Pseudonym vorgenommen werden. Die Besonderheit bei Pseudonymen ist, dass diese Namen zusätzlich zum bürgerlichen Namen angenommen werden können und selbst ausgewählt werden (Seibicke 2008). Da das Pseudonym zum bürgerlichen Namen dazukommt, handelt es sich nicht um eine Namensänderung im juristischen Sinne. Pseudonyme müssen dennoch registriert werden, ansonsten handelt es sich um illegale Zeitnamen, die beispielsweise bei Hei‐ ratsschwindlern zu finden sind. Im kriminologischen oder auch konspirativen Kontext wird von Decknamen gesprochen, wenn es um die Vertuschung der Identität geht (Kühn 1995). Pseudonyme finden sich vor allem bei Künstler: innen, also beispielsweise bei Schriftsteller: innen, Musiker: innen, Schauspieler: innen (Seibicke 2008). Pseudonyme werden genutzt, um eine neue Identität anzunehmen oder zu kenn‐ zeichnen. Sie ermöglichen eine Weiterentwicklung, indem mit alten Gewohnheiten gebrochen wird, sodass durch den neuen Namen tatsächlich ein Entwicklungsschritt gekennzeichnet werden kann. Sie werden jedoch auch genutzt, um die Privatsphäre zu schützen. Beispiele für Pseudonyme sind: ▶ Joachim Ringelnatz ist den meisten Menschen unter diesem Pseudonym bekannter als unter seinem bürgerlichen Namen Hans Bötticher (Seibicke 2008, S. 32), d. h., ein Pseudonym kann den bürgerlichen Namen sogar verdrängen. ▶ Pascal Mercier ist das Pseudonym des Philosophen Peter Bieri, der das Pseudonym zur Kennzeichnung seines literarischen Schaffens verwendet. ▶ Berthold Bürger, Melchior Kurz und Robert Neuner sind Pseudonyme des Schriftstel‐ lers Erich Kästner, der, um sein Schreibverbot zu umgehen, mehrere Pseudonyme verwendete. ▶ HipHopper: innen geben sich Pseudonyme, da es zur HipHop-Kultur gehört, sich einen neuen Namen zu geben. Diese neuen Namen werden auf unterschiedliche Weisen gebildet und haben auch unterschiedliche Bezüge. So können Namen auf politische oder ethnische Stereotype Bezug nehmen oder gar eine Programmatik kodieren (Streeck 2002). In jedem Fall handelt es sich bei der Namenswahl um einen künstlerischen Ausdruck und eine Erweiterung der Identität. 160 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="162"?> Pseudonyme werden selbst gewählt und auch amtlich festgehalten unter Beibe‐ haltung des bürgerlichen Namens. Mit einem Pseudonym kann eine Erweiterung der Identität verbunden sein. In welchem Fall würden Sie gerne ein Pseudonym benutzt und wie würden Sie sich nennen? Welche Möglichkeiten würden Ihnen das Pseudonym für Ihre Identitätsbildung eröffnen? Bei Transidentität spielt der Namenwechsel eine wichtige Rolle, um die Geschlechts‐ identität zu wechseln. Schmidt-Jüngst (2020) untersuchte mit einem Online-Frage‐ bogen und anhand von Leitfadeninterviews die Relevanz des Namenwechsels bei Transidentität und stellte fest, dass mit dem Namenwechsel für Transindividuen eine Kongruenz zwischen empfundenem Geschlecht und tatsächlichem Geschlecht hergestellt wird, sodass die Namensänderung einen wesentlichen Teil der Geschlechts‐ transition darstellt. Neben der Identifikation mit dem neuen Namen und der damit verbundenen Neupositionierung spielt die soziale Interaktion eine zentrale Rolle, da die Akzeptanz des neuen Namens durch das soziale Umfeld auch die Akzeptanz der Transgeschlechtlichkeit spiegelt. Der neu gewählte Name wird in der Regel innerhalb dieses binären Systems (Männer- oder Frauennamen) gewählt. Dies spiegelt den Aspekt wider, dass sich Transmänner und Transfrauen nach dem Transitionsprozess als Mann oder Frau wahrnehmen. Bei der Wahl des neuen Namens werden die Passung zur eigenen Identität und die zum sozialen Umfeld berücksichtigt. Transfrauen beachten dabei, kein Overdoing Gender zu leben, da insbesondere bei (Trans-)Frauen die normative Erwartung an das Frausein höher ist als bei (Trans-)Männern (Linde‐ mann 2011). Insgesamt besteht laut Schmidt-Jüngst (2020) die Tendenz, möglichst unauffällige Namen zu wählen, die der jeweiligen Alterskohorte entsprechen. Mit der Umbenennung kommt es nach Schmidt-Jüngst (2020) zu einem Doing Identity, d. h., der Name wird dafür eingesetzt, neue Aspekte der Identität zu markieren, in Fall von Geschlechtstransition die Geschlechtsidentität. Im Falle der Transidentität spielt der Namenwechsel eine wichtige Rolle im Transitionsprozess und für die Positionierung der Geschlechtsidentität. Der intensive Wunsch nach einem neuen Namen, weil der eigene Name als Stigma empfunden wird, berührt ein sehr dunkles Kapitel der Namensänderung. Gemeint ist der Zeitraum zwischen dem beginnenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, in welchem aufgrund der antisemitischen Grundstimmung und einem 8.4 Namensänderung-= Identitätsänderung? 161 <?page no="163"?> neu eintretenden Namensgesetz in Deutschland viele Namensänderungen gewünscht wurden (Bering 1987, 1989). Bering arbeitet in seiner Analyse sowohl die historisch-po‐ litische Entwicklung als auch die Zunahme der antisemitischen Aufladung bestimmter Vornamen und auch Familiennamen heraus. Seine Arbeit fußt auf zahlreichen Akten zu Namensänderungsanträgen aus Staatsarchiven und weiteren Quellen. Die Anträge auf Namensänderung betreffen sowohl Vornamen als auch Nachnamen. Er zeigt an vielen Beispielen in Form von Briefwechseln, dass markierte oder aufgeladene Namen als Stigma wirken. Stigma wird von Bering im Sinne von Goffman (1967) aufgefasst und betrachtet Namen hinsichtlich der persönlichen und der sozialen Identität. Der Ursprung des Stigmas liegt in der Diskrepanz zwischen den Erwartungen, einmalig zu sein (persönliche Identität) und in eine soziale Gruppe zu passen (soziale Identität). Der jüdische Name erweist sich in dieser Zeit als Identitätsmerkmal, woraus ein Stigma resultiert, da der Name aufgrund der antisemitischen Haltung nicht als zur sozialen Gruppe zugehörig erachtet und somit für die jüdischen Mitbürger: innen zum Überlebensproblem wurde. Die Namensänderung wird als die Beseitigung eines Stigma-Symbols angesehen und daher angestrebt. Zur Illustration folgt ein Beispiel. Es handelt sich um ein erneutes Gesuch eines Berliner Kaufmanns mit dem Namen Isidor Russ aus dem Jahr 1911, der seinen Vornamen ablegen und den Namen Oskar annehmen wollte. Ich bitte (dreimal unterstrichen, D.B. [Dietz Bering]) ganz unterthänigst meinem Gesuche in der vorliegenden Begründung die Genehmigung zu erteilen: Hohes Ministerium! Ich bin ein guter deutscher Staatsbürger, halte nichts vom Judentum, glaube an Gott und seinen Sohn. Gesellschaftlich verkehre ich in angesehenen kristlichen Familien und erziehe mein Kind im Sinne dieser Freunde. - Hohes Ministerium bitte bitte versagen Sie mir die Genehmigung nicht. Lassen Sie mich einen guten Deutschen aber auch einen braven Kristen werden. Mit meinem früheren Namen Isidor komme ich nicht ans Ziel meiner Wünsche! (Bering 1987, S.-295) Nach einer erneuten Ablehnung schickte Isidor Russ sein Gesuch direkt an den König, worauf der zuständige Minister ausnahmsweise einverstanden war. Bering (1987) weist darauf hin, dass die gesamten Vorgänge der Namensänderung in dieser Zeit Probleme aufzeigen. Die Namensänderungen wurden zum großen Teil so vorgenommen, dass sie erkennbar geändert blieben, und die Bestrebung, Deutschsein praktizieren zu wollen, auch nach der Namensänderung deutlich blieb. Zudem isolierten sich die Antragssteller: innen durch die Namensänderung von der jüdischen Gemeinschaft, denn insbesondere Zionisten nutzen die Namen bewusst, um das jüdische Erbe hervorzuheben. Im Dritten Reich wurde die Namensänderung folglich in doppelter Hinsicht gegen die Juden verwendet: Wollten sie sich dem Deutschsein annähern, wurden sie gleichzeitig als Delinquenten bezeichnet, die ihre eigene Herkunft verachten. 162 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="164"?> Ein Name kann ein Stigma darstellen, da es eine Diskrepanz zwischen der tatsächlich erlebten Identität und der Erwartung der sozialen Gruppe geben kann. ▢ Inwiefern sind Personennamen ein Thema der Identitätsforschung? Personennamen sind zentral für die Identitätsforschung, da es sich beim Na‐ menhaben um eine fundamentale Tatsache des menschlichen Lebens handelt. Namen dienen der Identifikation und gelten als wesenshafte Einheit, die linguistische, psychologische, soziologische und juristische Relevanz hat. ▢ Wie kommt es zur Namensgebung? Gründe für die Namensvergabe sind vielfältig. Es spielt eine Rolle, ob ein Name gut klingt und Vor- und Zuname gut zusammenpassen, ob der Name Vorteile bringt, ob er zu jedem Alter passt und ob er kurz ist, um Abkürzungen zu vermeiden. Ferner sind mit Namen Stereotype verbunden, d. h. Vorstellungen, welchen Charakter der Namensträger hat, sodass auch dies die Wahl beein‐ flusst. Zudem ist es der jeweiligen Mode unterworfen, welche Namen aktuell bevorzugt werden und welche nicht. ▢ Sind Personennamen identitätsstiftend? Personennamen sind in jedem Fall identitätsstiftend, da sie Individuen von Lebensbeginn anhaften. Eine Programmatik des Eigennamens wird zwar seit der Antike diskutiert, es muss aus heutiger Sicht jedoch zur Kenntnis genom‐ men werden, dass die Bedeutung der Namen insgesamt keinen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Daher bleibt an der persönlichen Identität v. a. der Name als Etikett anhaften. Dagegen ist die soziale Identität, die der Namen stiftet, viel ausgeprägter wahrnehmbar, da der Name stets eine Gruppenidentität vermittelt. Diese Gruppenzugehörigkeit kann das Geschlecht, die Ethnie, die Religion oder den sozioökonomischen Status betreffen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass mit dem Namen eine Ich-Identifikation stattfindet und er der Ausgangspunkt für die Bildung von Selbstkonzepten darstellt. ▢ Verändert sich mit einer Namensänderung auch die Identität? Durch den Namen findet eine gesellschaftliche Verortung statt, weshalb davon ausgegangen wird, dass der Name einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsbildung leistet. Somit ist zu erwarten, dass die Namensänderung zu einer Veränderung der Identifikation führt, wie es bei Transidentität und bei stigmatisierenden Namen der Fall ist. Auch bei der Verwendung von Pseudonymen kann von einem identitätserweiternden Aspekt ausgegangen werden. 8.4 Namensänderung-= Identitätsänderung? 163 <?page no="165"?> Debus, Friedhelm (2012): Namenkunde und Namengeschichte. Berlin: Erich Schmidt. Kunze, Konrad (2004): dtv-Atlas Namenkunde. München: dtv. Seibicke, Wilfried (2008): Die Personennamen im Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter. Der Vorname. Sönke Wortmann (Regie, 2018), Deutschland. Ein heiteres Stück, das sich um die Frage dreht, ob es Vornamen gibt, die nicht erlaubt sind. Lang lebe Ned Devine! Kirk Jones (Regie, 1998), Vereinigtes Königreich und Irland. Die so‐ ziale Gebundenheit von Personennamen wird mit britischem Humor deutlich gemacht. 164 8 Personennamen - Etiketten der Identität <?page no="166"?> 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität Bei der Entwicklung von Sprache und Identität lässt sich feststellen, dass beide Entwicklungsstränge eng miteinander verzahnt sind. Die sprachliche Tätigkeit trägt erheblich zur Bildung der Ich-Identität bei, da Narrationen einen wesentlichen Teil der Identitätsarbeit ausmachen. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Welche Entwicklungsphasen können unterschieden werden? ▢ Welche Rolle spielt die sprachliche Tätigkeit für die Entwicklung von Identität, Kognition, Emotion und Motorik? ▢ Ab wann kann von einer Ich-Identität gesprochen werden? Die Entwicklung der Sprache und der Identität zählt zum zentralen Werden und Dasein des Individuums (Erikson 1973). Der sprachlichen Tätigkeit wird zugeschrieben, dass sie maßgeblich an der Darstellung und Herstellung der Ich-Identität beteiligt ist (s. Kapitel 6). Insofern kann davon ausgegangen werden, dass sich sprachliche Tätigkeit gemeinsam mit der Identität ausdifferenziert, da sich Ich-Identität über die (sprachlichen) Interaktionen mit den anderen bildet (Buber 1979, Vygotskij 1931/ 1987). Ausgangspunkt ist die Sozialität in Form einer Wir-Wahrnehmung, in welcher sich die sprachlichen Funktionen der Kommunikation und der Kognition herausbilden und dazu führen, dass Individuen zu einem reichhaltigen Bewusstsein und zu einer Ausdifferenzierung der Ich-Identität gelangen. Für diesen Entwicklungsprozess ist der Spracherwerb folglich zentral, da beschrieben wird, wie das Kind überhaupt in die sprachliche Tätigkeit kommt (s. Infobox). Wird das Prinzip der Bewegung und damit vor allem die Prozesshaftigkeit der Entwicklung berücksichtigt (vgl. Kapitel 2 und 3), zeigt sich, dass sich sowohl die sprachliche Tätigkeit als auch die Identität ein Leben lang entwickeln. Auch wenn in diesem Kapitel die Betrachtung der Entwicklung von Sprache und Ich-Identität im Mittelpunkt steht, wird versucht, eine integrative Sicht auf die indivi‐ duelle Entwicklung zu werfen, d. h., die Darstellung der Entwicklung von Sprache und Ich-Identität berücksichtigt ebenso die zentralen Entwicklungsschritte der Kognitions- und Emotionsentwicklung sowie der motorischen Entwicklung und möchte auf die wechselseitigen Bezüge der einzelnen Entwicklungsaspekte hinweisen. Eingebettet ist diese Entwicklung in kooperatives Handeln, weshalb die Betrachtung des Dialogs besondere Berücksichtigung findet (Abbildung 20). <?page no="167"?> Abbildung 20: Relevante Entwicklungsaspekte von Sprache und Ich-Identität Spracherwerb Die Aneignung einer Sprache ist Teil der menschlichen Ontogenese und die grundlegenden phonologischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Kenntnisse der jeweiligen Muttersprache eignen sich Kinder in der Regel im Vorschulalter an (Weinert/ Grimm 2018, Klann-Delius 2016). Angesichts der Komplexität des grammatischen Regelsystems und des Umfangs des mentalen Wortschatzes stellt der Spracherwerb eine der beeindruckendsten mentalen Leis‐ tungen des Menschen dar. Zur Beantwortung der Frage, wie das Kind nun Sprache erwirbt, sind in den letzten Jahren eine Fülle von Erklärungsansätzen vorgelegt worden (Klann-Delius 2016). Behavioristische, kognitivistische, kon‐ struktivistische, nativistische oder interaktionistische Ansätze werden im Grunde zwei Theoriefamilien zugeordnet: Outside-in- und Inside-out-Theorien. Bei den Outside-in-Theorien werden vor allem Umweltfaktoren - wie Lernmechanismen - beleuchtet, die zum Spracherwerb führen, während bei Inside-out-Theorien angeborene Spracherwerbsmechanismen betont werden (Weinert/ Grimm 2018). Einigkeit besteht in allen Theorien in drei Grundüberzeugungen, die sich mit Weinert/ Grimm (2018, S.-460) folgendermaßen zusammenfassen lassen: (1) „Kin‐ der sind auf den Spracherwerb vorbereitet; Sprache ist humanspezifisch und hat eine biologische Basis.“ (2) „Ohne eine sprachliche Umwelt wäre der Erwerbs‐ prozess nicht möglich.“ (3) „Die inneren Voraussetzungen des Kindes und die äußeren Faktoren müssen im Sinne einer gelungenen Passung zusammenwir‐ ken.“ Bei den Voraussetzungen für einen erfolgreichen Spracherwerb werden sprachunspezifische, sozial-kognitive und sozial-kommunikative Voraussetzung 166 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="168"?> differenziert: Allgemeine sprachunspezifische Voraussetzungen umfassen die biolo‐ gische Disposition, die Menschen zum Spracherwerb befähigt, beispielsweise das Arbeitsgedächtnis. Sozial-kognitive Voraussetzungen schließen die Entwicklung der Aufmerksamkeit und die Entwicklung von Gesten ein. Sozial-kommunikative Voraussetzungen beschreiben die Sprechstile der Bezugspersonen, die sich mit der Entwicklung des Kindes intuitiv verändern, indem sie sich an das jeweilige Sprachniveau der Kinder anpassen. Das sogenannte Baby Talk Register ermöglicht trotz der noch eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeiten und Vokalisationsfä‐ higkeiten des Kindes die Verständigung, den Spracherwerb und die Sozialisation (Ferguson 1973). Auch wenn mit dem Schuleintritt die wesentlichen Meilensteine des Spracherwerbs erreicht sind, differenzieren sich sprachliche Fähigkeiten stetig weiter aus. Die Einteilung des kontinuierlichen Entwicklungsprozesses in fünf Entwicklungspha‐ sen in Abbildung 21 orientiert sich an den Arbeiten von Vygotskij (1987) und Berk (2020). Gefüllt werden die Abschnitte zudem mit aktuellen Forschungen, was zur Folge hat, dass es terminologisch verschiedene Verwendungen im Bereich der Ich-Identität gibt. Die Verwendung des Begriffs Ich-Identität betont die Aushandlung sozialer und persönlicher Identität. Forschungen, die auf das Selbst, das Ich und die Persönlichkeit referieren, fokussieren auf Aspekte der persönlichen Identität. Trotz dieser terminolo‐ gischen Herausforderung kann gezeigt werden, dass sich aus dieser Zusammenstellung eine neue Perspektive auf die Entwicklung von Sprache und Identität gewinnen lässt. Abbildung 21: Überblick über die fünf Entwicklungsphasen Überlegen Sie, ab wann sich Ihre Ich-Identität entwickelt hat. Ab welchem Alter würden Sie davon sprechen, dass Sie eine Ich-Identität haben? 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität 167 <?page no="169"?> 9.1 Das Ur-Wir Die erste hier betrachtete Entwicklungsphase umfasst die Zeitspanne von der Geburt bis ca. 1½ Lebensjahre und fokussiert das In-Sprache-getaucht-Sein als Ausgangspunkt der Entwicklung der Sprache und des Selbst. Der Säugling wird in eine sprachliche Welt geboren, ist von Geburt an aktiv und tritt in Dialog mit seiner Umwelt (Bühler, Ch. 1962). Beim Dialog ist er dabei zunächst auf die Kooperation der Bezugspersonen angewiesen, die die Verantwortung für die kooperative Interaktion und die dialogische Abfolge von Gesprächssequenzen übernehmen. Eingebettet in diese kooperative, dialogische Grundstruktur ergibt sich eine erste Form psychischer Gemeinschaft mit der Bezugsperson und der Säugling bildet ein Ur-Wir (Vygotskij 1987, S. 143), d. h., das Wir-Bewusstsein geht damit dem Ich-Bewusstsein voraus. Wesentlich für den Säugling ist das körperliche Erleben, da sensorische und propriozeptive Wahrnehmungen mit dem ganzen Körper gemacht werden, und diese frühen Formen des körperlichen Erle‐ bens bilden den Ausgangspunkt zur Bildung des Körperselbst (Küchenhoff/ Agarwalla 2013). Bereits Freud ging davon aus, dass die Körperlichkeit einen Einfluss auf die psychische Entwicklung hat (Ahrbeck/ Felder 2022, S. 18). Der Bezug zwischen sprach‐ licher Tätigkeit und Körperlichkeit findet sich in dieser frühen Phase im Schrei des Säuglings, da körperliches Unbehagen mit einem ersten stimmlichen und angeborenen Signal versehen ist, und in der Mimik, da über das angeborene soziale Lächeln des Säuglings Kontakt hergestellt wird. Der Säugling erlebt den eigenen Körper ebenso wie die Sprachlichkeit in der Interaktion, d. h. durch intersubjektive Aushandlungen bzw. durch intersubjektive Einschreibungen (Küchenhoff/ Agarwalla 2013). Körper, Emotion und Sprache kommen hier also schon in Zusammenhang. Das eindrücklichste kooperative, sprachliche Merkmal im ersten Lebensjahr ist der Baby Talk, d. h., der Dialog findet in einem an das Baby angepassten Sprachstil der Bezugspersonen statt (Weinert/ Grimm 2018, Papoušek 2001). Dieser Sprachstil ist durch eine Tonlage zwischen vorzugsweise 400-600 Hz gekennzeichnet und damit an die Hörfähigkeit des Säuglings angepasst. Weitere Kennzeichnen der sprachlichen Anpassung sind Sprachmelodik, Wortwahl und Syntax. ▶ Die Sprachmelodik ist charakterisiert durch eine überzogene Intonationskontur, eine insgesamt höhere Stimmlage, einen erweiterten Stimmumfang und verein‐ fachte Intonationsmustern, die auf prototypische Melodien beschränkt sind (z. B. Ausrufe oder Fragen) und sich häufig wiederholen. Außerdem werden längere Pausen an Phrasenstrukturgrenzen gemacht. ▶ Die Wortwahl ist einfach und redundant und besteht vor allem aus Ausrufen, Interjektionen, Kosenamen, Modelllauten und Nachahmungslauten. ▶ Die Syntax weist vor allem einfache und kurze Sätze auf. Die dialogische Grundstruktur wird auch in Spielen gestaltet, wie in Geben-und-Neh‐ men-Spielen von Gegenständen (ab 4-6 Monaten), wodurch mit vier Monaten die Sensibilität für die Rhythmik der Sprache verstärkt und die Struktur von Interaktionen 168 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="170"?> grundgelegt wird (Berk 2020, Reimann 2009). Aus diesen dialogischen Interaktionen entwickeln sich Zeigegesten, die zunehmend die Aufmerksamkeitslenkung beeinflus‐ sen. Gegen Ende des ersten Lebensjahres (ab 8-10 Monaten) kommen zu den nicht sprachlichen dialogischen Impulsen (Kopfbewegungen und Gesten) auch erste Sprech‐ versuche vonseiten des Kindes dazu. Um den 14. Monat können manche Kinder bereits die Intentionalität der Handlungen von Bezugspersonen beobachten, verstehen und voraussehen (Galliker 2013), was dem Verlauf des Dialogs eine weitere Perspektive verleiht. Angemerkt werden soll an dieser Stelle, dass sich die hier dargestellten frühkindlichen Interaktionen auf die monolinguale Sprachentwicklung aus westlicher Perspektive beziehen. Einen Einblick in kulturspezifische Unterschiede findet sich in der Infobox. Kulturspezifischer Spracherwerb Die jeweilige Sozialität hat einen zentralen Einfluss auf den kindlichen Sprach‐ erwerb. In der interkulturellen Sprachsozialisationsforschung konnte aufgezeigt werden, dass dieser Einfluss nicht universell ist, sondern dass es erhebliche Un‐ terschiede gibt, wie Kinder mit Sprache sozialisiert werden. Eindrücklich machten die Studien von Ochs/ Schieffelin (2017) aus den 1980er-Jahren hier den Anfang: Ochs befasste sich mit der Sprachsozialisation auf Samoa in Westpolynesien und konnte zeigen, dass die hierarchische Gesellschaftsstruktur auch regelt, wer überhaupt mit den Kindern spricht. So ist es nicht primär die Mutter, die mit den Kindern spricht, sondern es sind eher Helfer: innen und Geschwister. Das kindliche Handeln wird nicht entschlüsselt, sondern es werden Sprachmuster vorgegeben, die vom Kind wiederholt werden sollen. Schieffelin konnte bei den Kaluli in Papa-Neuguinea feststellen, dass die Gesellschaftsstruktur auf sozialer Gleichheit beruht und die Kinderbetreuung den Frauen vorbehalten ist. Interessant ist hier, dass es auch nicht zum Baby Talk kommt, sondern dass die Mütter über das Kind hinweg sprechen oder für das Kind sprechen. Spracherwerb erfolgt über Instruk‐ tionen, die vor allem aus Vorsprechen-Nachsprechen-Sequenzen bestehen. Einen vertiefenden Überblick über den kulturspezifischen Spracherwerb gibt Lin-Huber (1998). Deutlich wird, dass der kulturelle Einfluss, die Gesellschaftsstruktur und auch der Stellenwert der Sprache in der jeweiligen Kultur einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie sich der Spracherwerb gestaltet. Ausgangspunkt der Entwicklung von Sprache und Identität ist die dialogische Grundstruktur zwischen Säugling und Bezugsperson. In diesen ersten dialogischen Strukturen wird bereits das Temperament des Kindes sichtbar, also seine genetische vegetativ-affektive Grundausstattung, als Basis der Identitätsentwicklung. Es zeigt sich beispielsweise, ob das Kind eher neugierig-drauf‐ 9.1 Das Ur-Wir 169 <?page no="171"?> gängerisch oder vorsichtig-abwägend ist (Roth/ Strüber 2012). Die Bindungsqualität zu den Bezugspersonen stellt einen weiteren Einflussfaktor dar, denn aus der Bindung heraus entwickelt das Kind Wissen über die eigene Person (Bowlby 2018). Dieses Wissen ist stets beeinflusst von den Wahrnehmungen und Bewertungen der Umwelt (Hannover/ Greve 2018), d. h., das Selbst ist ein Konstrukt, das in der sozialen Interak‐ tion zunächst mit den engen Bezugspersonen geschaffen wird. Eine enge Verbindung zwischen dem kindlichen Spracherwerb und der Entwicklung des Selbst beobachtete Stern (1992) im Rahmen der psychoanalytischen Säuglingsforschung. Beschrieben wird die Entwicklung nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen oder Stufen, die vor allem auf Veränderungen der Hirnstrukturen beruhen. Entwicklungsstufen beschreibt auch Erikson (1973) und in der ersten psychosozialen Krise ist der Säugling mit der Überwindung des Konfliktes zwischen Urvertrauen und Misstrauen konfrontiert, d. h., die Identitätsentwicklung beginnt unmittelbar nach der Geburt mit der Ausformung des Selbst. Diese Entwicklung des Selbst kann in den ersten 1½ Jahren mit Meilensteinen beschrieben werden (Berk 2020): Die Selbstwahrnehmung in Form von kinästhetischen Erfahrungen in den ersten drei Monaten führt dazu, dass der Säugling lernt, sich von anderen zu unterscheiden (Hannover/ Greve 2018), sodass in dieser Zeit schon das Kernselbstempfinden entsteht (Stern 1992). Mit ca. sechs Monaten erlebt sich das Kind als Urheber seiner eigenen Handlungen (Oerter 2006), folglich beginnt hier das Wirksamkeitserleben und die Intentionalität (Hannover/ Greve 2018). Bereits ab acht Monaten beginnt das Kind, mit der Entwicklung der Objektpermanenz mentale Vorstellungen von anderen Personen zu bilden. Die Unterscheidung vom eigenen Selbst und dem des anderen beginnt und das subjektive Selbstempfinden entsteht (Stern 1992). Zu dieser Entwicklung gehört auch, dass das Kind zwischen dem 9. und dem 12. Monat das Prinzip des Spiegels begreift (Hannover/ Greve 2018). Die Entwicklung der Sprache trägt dazu bei, dass das Ich-Bewusstsein mit sprachli‐ chen Zeichen verbunden wird und sich sprachliche Selbstkonzepte zu bilden beginnen (Stern 1992). Die vegetativ-affektive Grundausstattung stellt einen Ausgangspunkt der Identitätsentwicklung dar. Durch die Selbstwahrnehmung und die Differenzierung von Ich und anderer sowie der Erfahrung, Urheber der eigenen Handlungen zu sein, beginnt sich die Identität über die Aushandlung mit den Bezugspersonen zu entwickeln. Diese erste Selbstwahrnehmung wird von der motorischen Entwicklung begleitet und unterstützt. Zentral für das Zusammenspiel von Motorik und Wahrnehmung ist in den ersten 1½ Jahren die Entwicklung vom Liegen zum Laufen und damit verbunden der Perspektivwechsel der Wahrnehmung aufgrund der unterschiedlichen Körperpo‐ 170 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="172"?> sitionen. Zudem leistet die Entwicklung der Motorik ihren Beitrag zur Loslösung des Kindes von der Bezugsperson, beginnend mit Rollen und Krabbeln (Zollinger 2010). Insbesondere das Laufenlernen kennzeichnet dann einen enormen Entwicklungsschritt um das erste Jahr (Vygotskij 1987). Im Einzelnen sind es Entwicklungsschritte wie sicheres Kopfheben in der Bauchlage, Abstützen auf Unterarmen (ab 2-4 Monaten), freies Sitzen mit geradem Rücken und guter Kopfkontrolle (ab 7-9 Monaten), Loslösung durch Krabbeln (ab 7-9 Monaten), sicheres Stehen mit Festhalten an Möbeln oder Wänden (ab 8-12 Monaten) und freies Laufen (ab 11-17 Monaten) (Berk 2020). Die motorische Entwicklung ist mit der kognitiven Entwicklung verbunden. Die motorische Entwicklung hat aufgrund der Perspektivwechsel der Wahrneh‐ mung und der Möglichkeit der Loslösung von der Bezugsperson einen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung. Bei der kognitiven Entwicklung wird aus kulturhistorischer Perspektive davon ausge‐ gangen, dass die Entwicklungslinien von Denken und Sprechen in dieser Zeitspanne noch getrennt voneinander verlaufen, d. h., Denken ist sprachlich noch nicht mitteilbar. Im Laufe des zweiten Lebensjahres kreuzen sich diese beiden Entwicklungslinien, fallen zusammen und bilden „den Anfang einer völlig neuen Verhaltensform, die so charakteristisch für den Menschen ist“ (Vygotskij 1934/ 2002, S. 153). Wichtig für die kognitive Entwicklung ist der äußerliche sprachliche Input der Bezugspersonen, da die Sprache von außen eine Regulationsfunktion für das Kind übernimmt. Zu den wichtigen Meilensteinen der kognitiven Entwicklung im ersten Lebensjahr zählen, dass sich bewegende Objekte mit den Augen verfolgt werden (ab 3 Monaten), dass die Hand-Auge-Koordination gelingt und dass Objekte zwischen den Händen gewechselt werden können (ab 6 Monaten) (Berk 2020). Zu diesen Wahrnehmungs‐ leistungen gehören erste Kategorisierungen, die sich auch bei der Entwicklung der Genderidentität zeigen. Es können beispielsweise weibliche und männliche Gesichter unterschieden werden (ab 3-4 Monaten) und das Geschlecht zwischen Gesichtern und Stimmen zugeordnet werden (ab ca. 6 Monaten). Mit 8 Monaten beginnt sich auch die Aufmerksamkeit auszudifferenzieren, sodass das Kind zunehmend in der Lage ist, der Aufmerksamkeit der Bezugsperson zu folgen (ab 11-14 Monaten) (Tomasello 2015). Die intensive Hand-Mund-Auge-Koordination (ab 9 Monaten) verfeinert den Umgang mit Objekten und die Objektpermanenz ermöglicht Kategorisierungen von Gegenständen nach Funktion oder Eigenschaft (ab 10-12 Monaten). Mit der Objektpermanenz geht auch einher, dass sich ab 10 Monaten erste einfache Genderstereotype bilden (Martin/ Ruble 2010). Diese ersten mentalen Vorstellungen sind eine wesentliche Vor‐ aussetzung, dass das Kind erkennen kann, dass es selbst auch eine beständige Entität besitzt. Diese Wahrnehmung der eigenen Permanenz ist wiederum die Voraussetzung für die Entwicklung des Selbst (Berk 2020). 9.1 Das Ur-Wir 171 <?page no="173"?> Bei der kognitiven Entwicklung ist die Objektpermanenz mit der Bildung mentaler Vorstellungen hervorzuheben, die zentral für den Spracherwerb und für die Identitätsentwicklung ist. Laura E. Berk Laura Berk ist eine bedeutende amerikanische Entwicklungspsychologin. Sie studierte Psychologie in Berkeley (Kalifornien) und an der University of Chicago. Gastaufenthalte führten sie u. a. an die Stanford Universität und die University of South Australia. Berk hat zahlreich publiziert, wobei das Standardwerk Entwicklungspsychologie hervorzuheben ist, in welchem sie die Entwicklung des Individuums unter verschiedensten Aspekten detailliert beleuchtet. In ihrer umfassenden Sicht auf die menschliche Entwicklung setzt sie sich auch mit den Werken Vygotskijs auseinander, womit der Blick auf die soziale Entwicklung eine eigene Qualität erhält. Bei der Betrachtung der Sprachentwicklung wird das innere Sprechen ebenso betrachtet wie die Rolle des Sprechens für die Selbstregulation. Neben den wissenschaftlichen Interessen setzt sich Berk auch für Belange traumatisierter Kinder und Jugendlicher ein, indem sie beispielsweise auf der ganzen Welt öffentliche Kunstprojekte fördert (Berk 2019). Bei der Sprachentwicklung wird die rezeptive und die produktive Entwicklung betrach‐ tet (Weinert/ Grimm 2018, Bockmann/ Sachse/ Buschmann 2020). Es ist zu bemerken, dass die Kinder in den ersten 1½ Jahren zunächst sprachlich mehr verstehen, als sie selbst produzieren können. Die Rezeption von Sprache wird in diesem frühen Stadium mit Habituierungs-/ Dis‐ habituierungsmethoden untersucht und es konnte gezeigt werden, dass Säuglinge mit sehr spezifischen Fähigkeiten ausgestattet sind. So ist ein Säugling in der Lage, unmittelbar nach der Geburt Satzmelodien verschiedener Sprachen zu unterscheiden, also beispielsweise Französisch und Russisch (Friederici 2013). Mit sechs Wochen zeigt sich, dass Säuglinge die Stimme der Mutter bevorzugen (Weinert/ Grimm 2018), und mit vier bis fünf Monaten kommt es dann bei Kindern zu Präferenzen bei den Wortbetonungsmustern der eigenen Muttersprache. Das deutet darauf hin, dass bereits in diesem Alter Wortformen in ihren Betonungsmustern gespeichert werden (Friederici 2013). Ab diesem Alter hören Babys auch ihren eigenen Namen aus dem Lautstrom heraus. Dieser Punkt wird auch als Einstieg in den frühen Worterwerb bezeichnet (Weinert/ Grimm 2018), denn jetzt beginnt das erste rezeptive Wortverständnis für eine begrenze Anzahl von Wörtern. Bei der sprachlichen Produktion wurde beobachtet, dass bereits bei den Schreien von Babys in den ersten Wochen die Wortbetonungsmuster der Muttersprache verwendet wurden (Friederici 2013). Zu den wesentlichen Entwicklungsetappen zählen Gurren 172 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="174"?> und Lachen (ab 2-4 Monaten), gefolgt vom Lallstadium (ab 4-9 Monaten) und den sich daran anschließenden ersten Wörtern (ab 10-14 Monaten). Phonologisch werden um das erste Jahr alle Vokale und von den Konsonanten Nasale und vordere Plosive gekonnt. Die Produktion der ersten Wörter markiert die semantisch-lexikalische Entwicklung und den frühen Worterwerb (ab ca. 10 Monaten) und es kommt ca. ab ei‐ nem Jahr zu Einwortäußerungen (Weinert/ Grimm 2018, Berk 2020, Bockmann/ Sachse/ Buschmann 2020). Mit ca. 1½ Jahren ist zu beobachten, dass rezeptiv ca. 100-250 Wörter verstanden und produktiv ca. 30-50 Wörter beherrscht werden (Weinert/ Grimm 2018, Bock‐ mann/ Sachse/ Buschmann 2020). Im Vordergrund steht ein pragmatischer Gebrauch, d. h., die ersten Wörter sind sogenannte soziale Wörter wie winke-winke oder stellen kontextgebundene Namen dar, wie Auto für ein ganz bestimmtes Auto (Weinert/ Grimm 2018). Für die Grammatikentwicklung ist zentral, dass die Einwortäußerungen, die bereits verschiedene Wortklassen der Erwachsenensprache aufzeigen, auch Satzstatus haben. Die kindliche Äußerung Mama! kann entsprechend dem Kontext Mama, nimm mich hoch! oder auch Mama, ich will mehr Saft! bedeuten. Die Sprachrezeption ist der Sprachproduktion voraus. Im Vordergrund steht der Sprachgebrauch im jeweiligen Kontext. Die Interaktion im Dialog, das Temperament, die Motorik, die Kognition und die sprachliche Entwicklung sind eingebettet in die emotionale Entwicklung des Säuglings. Emotionen sind sowohl biologisch als auch kulturell determiniert. Die biologische Determiniertheit bezieht sich in der Regel auf Basisemotionen, die sich bei Menschen aller Kulturen beobachten lassen (Ekman/ Friesen 1975/ 2003). Diese Basisemotionen genügen jedoch nicht, um die individuelle Emotionsvielfalt zu erklären, weshalb davon ausgegangen wird, dass Emotionen auch kulturell überformt werden (Holodynski 2004). Die Phasen der Emotionsentwicklung und der Aufbau eines Emotionsrepertoires stehen in engem Zusammenhang mit interpersonalen Regulationen (Holodynski/ Oer‐ ter 2008, Holodynski 2004). Das Kind ist folglich auch in der Emotionsentwicklung auf eine Bezugsperson angewiesen, die seine zunächst noch ungerichteten Ausdrucks‐ reaktionen angemessen interpretiert. Die ersten emotionalen Ausdrucksreaktionen des Neugeborenen werden als Vorläufer der Emotionen kategorisiert, da sie nicht auf Kon‐ texte abgestimmt sind. Es sind die fünf Vorläuferemotionen Disstress, Wohlbehagen, Interesse, Erschrecken und Ekel, die von Geburt an angelegt sind. Indem die Bezugs‐ person auf diese Emotionsausdrücke reagiert und sie dem Säugling spiegelt, erwirbt dieser Zusammenhänge und es beginnt die Ausdifferenzierung von Emotionssystemen (Holodynski/ Oerter 2008). Neben der Ausdifferenzierung der Ausdrucksreaktionen der Emotionssysteme entwickelt sich die Erlebens- und Eindrucksfähigkeit des Kindes. Un‐ 9.1 Das Ur-Wir 173 <?page no="175"?> ter emotionaler Eindrucksfähigkeit verstehen Holodynski/ Oerter (2008) die Fähigkeit, sich von den Emotionen anderer affizieren zu lassen. Die Entwicklungsschritte im ersten Lebensjahr können folgendermaßen zusammen‐ gefasst werden: Der erste Schritt wird als Gefühlsansteckung bezeichnet. Säuglinge ahmen den emotionalen Ausdruck ihres Gegenübers nach und dieser Ausdruck ruft die entsprechende emotionale Reaktion hervor, zum Beispiel ruft ein Lächeln der Bezugsperson beim Säugling (ab 2 Monaten) Freude hervor. Der zweite Schritt ist die Fähigkeit zum „Gedankenlesen“. Mit dem Fortschreiten der Aufmerksamkeitsentwick‐ lung zwischen dem 6. und 9. Monat beginnen Kinder, ihrem Gegenüber Absichten zu unterstellen, und es werden Handlungserwartungen damit verknüpft. Während dreimonatige Säuglinge beim Schreien die Augen noch geschlossen halten, öffnen sechsmonatige Säuglinge ihre Augen, um die Reaktionen der Bezugspersonen zu verfolgen. Ab 7 Monaten beginnt sich außerdem die Emotion Ärger zu entwickeln. Im dritten Schritt werden Emotionsanlässe mit sozialen Anlässen in Verbindung gebracht, d. h., ab dem 9. Monat erkennen Säuglinge den Zusammenhang zwischen Emotion und Emotionsanlass, d. h., das Kind beginnt das eigene Verhalten durch soziale Bezugnahme zur Bezugsperson zu regulieren, wie bei den Emotionen Trauer, Furcht und Überraschung. Liegt zum Beispiel ein Keks auf dem Tisch und das Kind ist unsicher, ob es diesen nehmen kann, blickt es zur Mutter. Lächelt die Mutter, wird das Kind den Keks nehmen. Gegen Ende des ersten Lebensjahres sind alle Voraussetzungen im Emotionsrepertoire des Säuglings grundgelegt. Das Kind ist in der Lage, die Emotionen bei anderen Menschen zu erkennen und bereits angemessen darauf zu reagieren (Berk 2020). Das kindliche Emotionssystem ist anfänglich ebenso zwischen Kind und Bezugs‐ person aufgeteilt, wie es beim Spracherwerb der Fall ist. Es handelt sich bei der Emotionsentwicklung zunächst um eine interpersonale Regulationsform. In der Phase von der Geburt bis 1½ Jahre steht die Kooperation im Sozialen im Vordergrund: Es sind die Bezugspersonen, die das Neugeborene dialogisch in Sprache tauchen. Es besteht das Ur-Wir als dialogische Grundstruktur und je nach Temperament wird der Säugling verschieden in die Interaktion eintreten. Die Bezugspersonen passen mit dem Baby Talk die Sprache an die Fähigkeiten des Kindes an. Diese sprachliche Anpassung ermöglicht den Spracherwerb und die emotionale Entwicklung durch die Vermittlung des Gefühlstons und durch Gefühlsansteckung. Die Referenz zur Welt (Triangulation) wird durch die Entwick‐ lung der Objektpermanenz möglich. Für die Entwicklung der Identität bedeutet das, dass die kinästhetischen Selbstwahrnehmungen zur Differenzierung zwischen dem Ich und dem anderen führen. Dadurch dass die Bezugspersonen mit dem Kind 174 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="176"?> Sprache und Emotionen teilen, befähigen sie es durch Spiegelungen, seine Identi‐ tät, Sprache, Kognition und Emotion zu entfalten. Die motorische Entwicklung, insbesondere das Laufenlernen, beschleunigt das Wahrnehmen und Begreifen der Welt. 9.2 Die Entdeckung der Sprache und des Selbst Die zweite Entwicklungsphase umfasst den Zeitraum von 1½ bis 3 Jahren, die soge‐ nannte Benennungsexplosion markiert als sprachlicher Meilenstein den Beginn dieser Phase. An diesem Meilenstein kommt es zur Verschmelzung von Sprache und Kogni‐ tion zu einem untrennbaren Ganzen, sodass eine neue Verhaltensform daraus resultiert: Das Sprechen wird intellektuell und das Denken kann sprachlich werden (Vygotskij 1934/ 2002). Es beginnt die Entdeckung der Sprache. Wenn die Marke von ca. 50 Wörtern erreicht ist, setzt der explosionsartige Wortzuwachs ein (Weinert/ Grimm 2018, Bock‐ mann/ Sachse/ Buschmann 2020). Auch phonologisch werden Wörter zunehmend stabil produziert und die Konsonantenproduktion differenziert sich aus (Bockmann/ Sachse/ Buschmann 2020). Der Wunsch, über bestimmte Ereignisse oder Objekte zu berichten, und die Feststellung, dass mit Sprache etwas bewirkt werden kann, beschleunigen den Spracherwerb erheblich. Kinder, die später mit dem Worterwerb beginnen und mit 2 Jahren die 50-Wort-Marke noch nicht erreicht haben, bezeichnet man als late talkers. Sie tragen ein Risiko, eine Sprachentwicklungsverzögerung auszubilden (Sachse/ Bockmann/ Buschmann 2020). Die Sprache ermöglicht es, auch das Selbst zu entdecken, d. h., die Identitätsentwick‐ lung macht während dieser Benennungsexplosion ebenfalls einen markanten Sprung. Zwischen 18 bis 24 Monaten erkennt sich das Kind selbst im Spiegel und wird sich dadurch seiner eigenen Person bewusst. Erste Selbstreferenzen bzw. Selbstbezüge äu‐ ßern sich in der Verwendung des eigenen Namens und der entsprechenden Pronomen, sodass die Kinder bereits jetzt beginnen, unterschiedliche Aspekte auf sich selbst zu beziehen (Lohaus/ Vierhaus 2019). Dieses Selbsterkennen wird mit dem Rouge-Test aufgezeigt. Dem Kind wird unbemerkt ein Rougefleck auf die Nase oder Stirn gemalt und es gelingt erst 18 Monate alten Kindern, bei der Betrachtung im Spiegel einen Bezug zu sich selbst herzustellen und den Fleck auf der Nase abzuwischen (Lohaus 2021). Jüngere Kinder suchen die Ursache des Flecks auf der Spiegeloberfläche oder hinter dem Spiegel. Mitte des zweiten Lebensjahres erkennen Kinder sich dann auch auf Fotografien wieder. Mit dem Selbsterkennen wird dem Kind im Sinne von James möglich, sich selbst als Objekt zu betrachten. Es findet eine Abstraktionsleistung statt, die in diesem Alter zudem durch die Sprache unterstützt wird und die für die Selbstdarstellung von Tätigkeiten oder äußeren Erscheinungen genutzt wird (Hannover/ Greve 2018). Stern beschreibt den Beginn der Entwicklung des narrativen Selbst im Alter von zwei bis drei Jahren. Das Abspeichern von Erfahrungen, das 9.2 Die Entdeckung der Sprache und des Selbst 175 <?page no="177"?> erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist, hat den Ursprung dennoch bereits in diesem frühen Stadium im Körpererleben und im Sprachlichen. Für die Integration und Vernetzung der Erfahrungen sind nach wie vor die Bezugspersonen wichtig (Küchenhoff/ Agarwalla 2013). Mit 1½ Jahren markiert die Benennungsexplosion einen bedeutenden Entwick‐ lungsschritt: Die Entwicklungsstränge Sprache und Kognition fallen zusam‐ men, sodass das Sprechen intellektuell und das Denken sprachlich wird. Dies kann als Basis dafür angesehen werden, dass Selbsterkennen möglich wird und die Identitätsentwicklung beginnt, sich zu entfalten. Die weitere und rasche Ausdifferenzierung der sprachlichen Tätigkeit führt dazu, dass Sprache eine Vermittlungsfunktion für alle höheren psychologischen Funktionen einnimmt, zu welcher auch die Entwicklung der Ich-Identität zählt. Das Wortver‐ ständnis nimmt stetig zu und wird kontextunabhängig. Das schnelle Wortlernen für Objekte und Objektmerkmale wird von den Prozessen der Übergeneralisierung und Überdiskriminierung begleitet (Weinert/ Grimm 2018). Mit Übergeneralisierung wird eine zu weite Bedeutungszuweisung bezeichnet, sodass zum Beispiel alle Tiere, die vier Beine haben, mit Hund bezeichnet werden (also auch Schafe, Kühe und Pferde). Bei der Überdiskriminierung dagegen handelt es sich um einen zu eingeengten Bedeutungsumfang, zum Beispiel wird nur das eigene Auto als Auto bezeichnet, alle anderen nicht. Diese Prozesse finden nicht mehr statt, wenn das Kind die hierarchische Organisation des jeweiligen semantischen Wortfeldes erkannt und damit auch erfasst hat, dass die gleiche Sache mit unterschiedlichen Wörtern bezeichnet werden kann. Außerdem gibt es für den Erwerb von Wortbedeutungen als theoretische Erklärung verschiedene Annahmen, worauf sich die neuen Wörter beziehen: auf das ganze Objekt (Ganzheitsannahme), auf kategoriale Relationen (Taxonomieannahme) und auf unbekannte Objekte (Disjunktionsannahme) (Weinert/ Grimm 2018). Wichtig ist, dass nach dem Erwerb der ersten Wörter der kindliche Wortschatz stetig umorganisiert wird. In der grammatischen Entwicklung kommt es zu ersten Wortkombinationen, den Zweiwortäußerungen (ab 18-27 Monaten), die durch Endstellung des Verbs gekenn‐ zeichnet sind und schon einzelne Flexionsmorpheme aufweisen. Dann wird die Grammatik komplexer, sodass Drei- und Mehrwortäußerungen produziert werden (ab 24-48 Monaten). In dieser Entwicklungsphase vollzieht sich der Erwerb der Genusmarkierung und der Verbkonjugationen schnell und fast fehlerlos. Die wesent‐ lichen Verbstellungsregeln des Deutschen sowie Vergangenheits- und Zukunftsformen werden erworben. Der Erwerb der Kasusmarkierung dagegen verläuft langsam und mit vielen Fehlern, Nominativ und Akkusativ werden noch am häufigsten übergeneralisiert (Weinert/ Grimm 2018, Sachse/ Bockmann/ Buschmann 2020). 176 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="178"?> Der sprachliche Fortschritt zeigt sich auch in den kognitiven Fähigkeiten, denn Sprache ermöglicht das So-tun-als-ob. Das Kind hat folglich mit der Sprache die Mög‐ lichkeit, sich in andere Rollen zu versetzen. Diese Versetzung zeigt sich insbesondere in kleinen Rollenspielen und im Symbolspiel, in denen das Kind erst über den Selbstbezug ein Verständnis für Wünsche und Erwartungen entwickelt (Berk 2020). Daher ist es dem Kind auch erst ab Mitte des zweiten Lebensjahres möglich, Folgsamkeit zu zeigen. Mit den sprachlichen Fortschritten beginnt das Kind auch, Kategorien auf sich selbst anzuwenden, denn Sprache wird zur Kategorisierung, Differenzierung und Generalisierung verwendet (Sodian 2008). Es erfolgen Zuordnungen nach Alter (Baby vs. Mann), Geschlecht (Junge oder Mädchen) oder auch diversen Eigenschaften (gut oder böse, groß oder klein) (Berk 2020). Dadurch beginnt sich zwischen 24 bis 30 Monaten die eigene Geschlechtsidentität zu entwickeln, da die Kinder durch die Fähigkeit der Kategorisierung wissen, zu welcher Geschlechtergruppe sie gehören (Martin/ Ruble 2010). Bei der emotionalen Entwicklung spielt ebenfalls der Fortschritt des Spracherwerbs eine Rolle, denn mit dem zweiten Lebensjahr kommt es zum Übergang von einer reinen Regulation der Bezugsperson zur Selbstregulation des Kindes. Die emotionale Ausdrucksfähigkeit wird durch die Sprache bereichert, indem erste Emotionen benannt werden. Bei den Emotionssystemen differenzieren sich Verlegenheit (ab 18 Monaten) und Stolz (ab 24 Monaten) im Emotionsausdruck heraus. Die emotionale Eindrucksfä‐ higkeit entwickelt sich dahingehend fort, dass die Fähigkeit zur Empathie entsteht. Ursprüngliche Gefühlsansteckung wandelt sich zu empathischen Reaktionen, sodass beispielsweise Traurigkeit eines anderen nicht mehr Disstress beim Kleinkind auslöst (Gefühlsansteckung), sondern das Kind empathisch reagiert, indem es versucht zu trösten (Holodynski/ Oerter 2008). Im Bereich der Emotionsregulation findet beim Kleinkind inzwischen der Übergang von der interpersonalen zur intrapersonalen Regulation statt, d. h., das Kleinkind benötigt nicht für jede Emotion eine Rückmeldung von einer Bezugsperson, sondern beginnt, die Emotionsregulation mit sich selbst auszuhandeln. Die Emotionsregulation ist wesentlich für die Entwicklung der Selbst‐ regulation, sodass es dem Kind erst jetzt möglich wird, Impulse zu unterdrücken, dadurch Emotionen zu steuern und sich in erwarteter Weise zu verhalten (Berk 2020). Als Emotionssystem bildet sich Scham (ab 30 Monaten) heraus (Holodynski/ Oerter 2008). Am Ende vom zweiten und vor allem im dritten Lebensjahr beginnt das Kind, erste Autonomie zu entwickeln, die es auch durchsetzen möchte. Um den zweiten Geburtstag erkennen die meisten Kinder sich selbst als eigenständige Wesen (Berk 2020). Insbesondere in den dialogischen Strukturen zeigt sich nun der Zusammenhang von Persönlichkeitsausdruck und sprachlichem Ausdruck. Zu bemerken ist, dass die Länge der Konversationseinheiten in diesem Altersabschnitt zunimmt und dass das Kind sich zunehmend auf Inhalte des Dialogs bezieht, wodurch erste Empathie möglich wird (Galliker 2013). Das Nein-Sagen und -Hören führt zur Differenzierung zwischen dem Ich und dem anderen und es kommt zu ersten Konflikten, die über die Trotzphase 9.2 Die Entdeckung der Sprache und des Selbst 177 <?page no="179"?> im dritten Lebensjahr zur Abgrenzung führen (Zollinger 2010). Diese Abgrenzung spiegelt sich auch in der motorischen Entwicklung wider, denn das freie Gehen ebenso wie das Rennen und Klettern tragen zur Autonomie bei. Die zunehmende motorische Unabhängigkeit unterstützt folglich das Autonomiestreben ebenso wie das Ich-Sagen (ab 30-34 Monaten), wodurch das Kind eine Markierung des eigenen Selbst in Raum und Zeit schafft (Zollinger 2010). Im dritten Lebensjahr führen die zunehmende Entfaltung der sprachlichen Fähigkeiten und das Erleben von Selbstwirksamkeit, d. h. der Erfahrung, mit den eigenen Handlungen etwas zu bewirken, zu einer Abgrenzung des Kindes von anderen und damit zur Selbstbildung (Stern 1992). Die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeit zwischen 1½ und 3 Jahren und die enge Verknüpfung mit kognitiven Fähigkeiten befördern eine erste Autonomie des Kindes. Autonomie bedeutet die Abgrenzung von anderen und Grundlegung der Selbstbildung. Die sprachlichen Fähigkeiten ermöglichen die emotionale Selbstre‐ gulation. Insbesondere das Ich-Sagen markiert die eigene Identitätswahrnehmung. Die Fähigkeit zur Kategorisierung, Differenzierung und Generalisierung ist Grund‐ lage für die Identitätsbildung. 9.3 Der Beginn der Individuation von Sprache und Person Die dritte Entwicklungsphase umfasst den Zeitraum von 3 bis 7 Jahren. Vygotskij (1987) bezeichnet den Beginn dieser Phase mit Krise der Dreijährigen und betont die Rolle der sprachlichen Tätigkeit und die damit einhergehende Umgestaltung der sozialen Beziehungen. Den Kindern ist es zunehmend möglich, mit sprachlicher Tätigkeit Wirklichkeit zu konstruieren und daraus Selbstkonzepte abzuleiten (Budwig 2000). Ab 3 Jahren findet eine intensive Verknüpfung zwischen Sprach- und Identitäts‐ entwicklung statt, da es durch die Weiterentwicklung der Sprachfähigkeit möglich wird, das Selbstkonzept auszudifferenzieren (Hannover/ Greve 2018). Diese ersten narrativen Selbstkonzepte, in Form von ersten verständlichen Geschichten, sind der Ausgangspunkt, die eigene Biografie zu gestalten, da sich auch das autobiografische Gedächtnis ab ca. 3 Jahren auszubilden beginnt (Nelson 2007). Zu diesen biografischen Narrationen zählt zunächst die Verortung der Geschlechtsidentität, die ab 3 Jahren als stabil und unveränderbar erkannt wird (Kohlberg 1966). Auch im Rollenspiel zeigt das Aushandeln vermehrt narrative Szenen und Abläufe, sodass ein neues Wir entdeckt wird, das Wir-der-Peers (Zollinger 2010). Diese Ausdifferenzierung steht in Zusammenhang mit dem stetig ansteigenden Wortschatz und den zunehmend komplexer werdenden Satzstrukturen, sodass Satzgefüge mit verschiedenen Arten von Nebensätzen und Passiv auftreten. Insbesondere kausale Bezüge werden durch Konjunktionen wie weil markiert und durch Warum-Fragen ausdifferenziert. Auch der 178 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="180"?> Gebrauch des Konjunktivs nimmt zu, da er bei der Planung des Rollenspiels Verwen‐ dung findet, wenn sich die Kinder auffordern, so zu tun, als ob. Die kommunikative Kompetenz zeigt sich darin, dass sich Kinder bereits ab 3 Jahren dem Alter und Status ihres Gesprächspartners anpassen können (Galliker 2013). Auch der Emotionsausdruck wird im Rahmen der emotionalen Entwicklung weiter ausdifferenziert, insbesondere die Entwicklung der Selbstregulation. So lernen Kinder ab diesem Alter, Gefühle vorzutäuschen oder auch zu verstecken, indem Impulse unterdrückt werden können (Berk 2020). Es handelt sich hierbei um die Übernahme kulturell tradierter sozialer Normen, sodass bereits in diesem Alter gewusst wird, welcher Emotionsausdruck in welchen Situationen erwartet wird. Allerdings wird dieser von den Bezugspersonen noch angeleitet, beispielsweise sich auch für ein langweiliges Geschenk freundlich zu bedanken. Als Emotionssystem bildet sich Schuld heraus (ab 36 Monaten), aber auch die Konzepte Stolz, Scham und Verlegenheit werden in dieser Altersspanne weiter entfaltet, was auch mit der sprachlichen Entwicklung zusammenhängt und vor allem auch der Möglichkeit, Selbstbezüge herzustellen (Holodynski/ Oerter 2008). Ab 4 Jahren erfahren Kinder ihre Selbstwirksamkeit bewusster und das Entstehen von Gütemaßstäben führt dazu, dass Vergleiche mit anderen möglich werden. Die Vergleiche haben einen Einfluss auf die Leistungsmotivation des Kindes und das Selbstbild wird dahingehend erweitert, dass Leistungsergebnisse dem eigenen Können zugeschrieben werden, was sich positiv auf das Selbstbewusstsein auswirkt (Oerter 2006). Diese Wahrnehmung der eigenen Subjektivität ist zugleich die Voraussetzung, dass sich die sogenannte Theory of Mind entwickeln kann (Hannover/ Greve 2018). Die Theory of Mind beschreibt vor allem die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, also einen Aspekt der sozialen Kognition, der ermöglicht, dass die mentalen Zustände anderer Individuen erkannt und verstanden werden können (Fischer et al. 2018, Fonagy et al. 2004). Die Gedächtnisentwicklung, die auch zur kognitiven Entwicklung gezählt wird, führt dazu, dass mentale Selbstkonzepte ausdifferenziert werden und eine Biografie entsteht (Hannover/ Greve 2018). Das Kind kann nun selbst Geschichten erzählen und Geschichten zu einer eigenen autobiografischen Geschichte verweben (Stern 1992). Mittels Sprache wird es möglich, über Vergangenes und Zukünftiges zu sprechen (Weinert/ Grimm 2018), Erfahrungen in eine kohärente Selbsterzählung zu integrieren und dadurch einen Zugang zum autobiografischen Selbst zu bekommen. Mit Bezug auf James (1890) kann bemerkt werden, dass eine erlebte Welt und eine Welt aus Geschichten unterschieden werden müssen. Im Rahmen der psychoanalytischen Entwicklungsmodelle ist dies natürlich ein zentraler Punkt, da die Narrationen einen Kern der Psychoanalyse darstellen und diese nicht zwingend mit der Wirklichkeit übereinstimmen müssen (Stern 1992). Die Entwicklung der Narrationsfähigkeit und vor allem des Perspektivwechsels ermöglichen dann die ersten Lügen, denn bei einer Lüge muss die Intention zugrunde liegen, absichtlich etwas Unwahres zu sagen (Knobloch 2014). Dies ist erst mit Perspektivwechsel möglich, da das Kind wissen muss, was die andere Person wissen kann oder nicht, damit eine Lüge entsteht (Lohaus 2021). 9.3 Der Beginn der Individuation von Sprache und Person 179 <?page no="181"?> Ab 5 Jahren entwickelt sich das implizite Sprachwissen, sodass ein korrekter Sprachgebrauch und eine zunehmend erfolgreiche Kommunikation möglich sind (Weinert/ Grimm 2018). Die sprachliche Tätigkeit wird als Mittel zur Kommunikation und zur Einflussnahme auf andere Personen immer relevanter, sie wird jedoch immer mehr ein Mittel zur Selbststeuerung (Werani 2011). Der Weg zur Selbststeuerung erfolgt über das egozentrische zum inneren Sprechen. Das egozentrische Sprechen ist ein geäußertes Sprechen für sich selbst, welches das Kind zunächst in der Regel zur Hand‐ lungsbegleitung äußert, zunehmend wird es jedoch auch zur Steuerung der eigenen Handlungen verwendet. Es wird also angenommen, dass das egozentrische Sprechen bereits eine selbststeuernde und selbstregulierende Funktion hat. Im Vorschulalter wird das egozentrische Sprechen privat in dem Sinne, dass es verinnerlicht und zum inneren Sprechen wird (Vygotskij 1934/ 2002). Die beiden Funktionen der sprachlichen Tätigkeit werden hier deutlich, da das Sprechen einerseits kommunikativ nach außen an andere gerichtet wird und sich andererseits als Mittel des Denkens an den Sprechenden selbst richtet. Das egozentrische Sprechen stellt folglich den Übergang von der sozialen zur individuellen Aktivität des Kindes dar (op. cit). Das Kind ist nun in der Lage, sein eigenes Verhalten mit Sprache zu steuern und zu regulieren, d. h., die sprachliche Tätigkeit bereichert sowohl die Wahrnehmung als auch das Bewusstsein (Lurija 1982). So bildet sich ab 6 Jahren der interne Reorganisationsprozess weiter aus, sodass Fehler auf Verhaltensebene nicht nur bemerkt, sondern auch selbst korrigiert werden können (Weinert/ Grimm 2018). Die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeit zwischen 3 bis 7 Jahren ermöglicht ein zunehmendes Aushandeln der Selbstkonzepte. Durch den Übergang vom ego‐ zentrischen zum inneren Sprechen werden sowohl Sprache als auch Selbstkonzepte privater. Zudem ist das innere Sprechen wesentlich für die Entwicklung der Selbstregulation verantwortlich. Mit den Selbstnarrationen beginnt sich das auto‐ biografische Gedächtnis zu entwickeln und die Möglichkeit, Perspektivwechsel vorzunehmen, erweitert den Blick auf das Selbst. Die Vermittlungsfunktion der Sprache für alle höheren psychologischen Prozesse wird elaborierter und Sprache beginnt somit auch, die Ich-Identität mitzugestalten. Zur kognitiven Entwicklung wird gezählt, dass das Kind im Vorschulalter Kopf‐ füßler zeichnet. Recherchieren Sie, welchen Zusammenhang es hier zwischen Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung geben kann. 180 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="182"?> 9.4 Der Übergang zur Autonomie Die vierte Entwicklungsphase zwischen 7 bis 12 Jahren beschreibt den Übergang zur Autonomie des Kindes im Sinne einer Entwicklung der Selbständigkeit. Mit dem Beginn des Schulalters findet in der Entwicklung ein weiterer Umbruch statt, der auch mit dem Begriff Krise der Siebenjährigen betitelt wird (Vygotskij 1987). Das körperliche Wachstum und auch der Zahnwechsel markieren die äußerliche Veränderung deutlich (Berk 2020). Mit der Ausdifferenzierung der Sprachfähigkeit intensiviert sich die Differenzierung zwischen innen und außen und der Einfluss der sprachlichen Tätigkeit auf höhere psychologische Prozesse, wie beispielsweise als Mittel der Abstraktion, bringt eine neue Qualität psychischer Prozesse mit sich (Bachtin 1979). Die Abstraktion ermöglicht den Verlust der Unmittelbarkeit, d. h., das tatsächlich Erlebte wird durch einen intellektuell-sprachlichen Moment ergänzt (Vygotskij 1987). Durch die beginnende Fähigkeit der Abstraktion entfaltet sich das emotionale Erleben und die Wahrnehmung des Sozialgefüges des Schulkindes, indem es neue Selbstbezüge erstellen kann. Das emotionale Erleben verändert sich dadurch, weil Emotionen eine neue konzeptuelle Bedeutung erlangen. So stellt das Kind beispielsweise eine Beziehung her zwischen dem mentalen Konzept Verärgertsein und dem Begreifen, dass es sich ärgert. Emotionen können auch zunehmend besser selbst reguliert werden (Berk 2020), denn solche konzeptuellen, affektiven Verallgemeinerungen ermöglichen einen logischen Zugang zu Gefühlen (Vygotskij 1987). Das Sozialgefüge wandelt sich dahingehend, dass Rangordnungen innerhalb der Peergroup stabiler werden und das Kind insgesamt selbstständiger und verlässlicher wird. Im Zuge dessen wird der Diskurs mit anderen elaborierter (Berk 2020). Der Zusammenhang von Sprechen und Denken intensiviert sich, denn der Wort‐ schatz nimmt enorm zu, das Begriffsverständnis wird umfangreicher und komplexer und auch Erzählungen werden systematischer und detaillierter, wodurch Gedanken ausführlicher mitteilbar werden. Auch die Denkprozesse werden logischer und die Aufmerksamkeit kann gezielter gelenkt werden. Zu dieser Systematisierung trägt auch der Schuleintritt bei und insbesondere der Schriftspracherwerb führt zu einer Erwei‐ terung von Sprachwissen und sprachlicher Bewusstheit. Es kommt dadurch zu einer bewussten Reflexion über Sprache (Berk 2020). Die Zunahme der Abstraktionsleistung zeigt sich auch in der Entwicklung der Fähigkeit, Metaphern und Witze zu verstehen. Ferner wird durch schulisches Lernen das Gedächtnis um Strategien bereichert und überhaupt das Bewusstsein für Strategien geweckt (Berk 2020). Die sprachlichen und kognitiven Abstraktionsleistungen führen dazu, dass sich auch die Ich-Identität weiter entfaltet. Die Weiterentwicklung der narrativen Fähigkeiten beeinflusst das autobiografische Gedächtnis und damit die Aushandlung der Ich-Iden‐ tität, da soziale Vergleiche als Informationen in die Selbstbildung mit einbezogen werden (Hannover/ Greve 2018). Narrationen stellen folglich eine entscheidende Form des menschlichen Bewusstseins dar, da gerade über autobiografische Erzählung eine Verankerung in der Welt vollzogen wird (Nelson/ Fivush 2020). Selbsteinschätzung und 9.4 Der Übergang zur Autonomie 181 <?page no="183"?> Selbstwertgefühl zeigen sich stärker, sodass Stolz oder auch Schuld als Emotionen deutlicher zum Tragen kommen. Der Perspektivwechsel differenziert sich weiter aus und damit auch die Entwicklung von Empathiefähigkeit (Berk 2020). Zwischen 3 und 12 Jahren gestaltet sich ein Übergang zu mehr Autonomie durch die Ausdifferenzierung der sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten. Diese äußern sich in Narrationen, die einen Einfluss sowohl auf Wahrnehmung und Einschätzung emotionaler Prozesse als auch auf die Entfaltung der Ich-Identität haben. 9.5 Die Identitätskrise der Adoleszenz Die fünfte Entwicklungsphase umfasst die Adoleszenz zwischen 12 und 18 Jahren. Diese Phase ist durch die Identitätskrise gekennzeichnet, die die Entwicklung einer stabilen Identität befördert (Erikson 1973). Vygotskij (1987) geht davon aus, dass der Entwicklungsschub im Alter von 11 bis 12 Jahren den Beginn der Persönlichkeit markiert, da nun das Bewusstsein die Voraussetzung schafft, sich selbst zu erkennen und damit bewusst Persönlichkeit zu entwickeln. Die Sprache gilt für ihn hierbei als das Hauptmittel zum Aufbau der Persönlichkeit. Betont werden die sozialen Wechselbeziehungen und die Peergroup rückt nun noch stärker in den Mittelpunkt. Die in der Peergroup wechselseitig geteilten inneren Welten basieren auf Vertrauen und Freundschaft und bilden den Ausgangspunkt für Zukunftsperspektiven im Sinne der Herausbildung eines persönlichen Lebenssinns. Die Übergänge in den Persönlich‐ keitsstrukturen sind fließend. Vygotskij schreibt dazu: „In der Persönlichkeitsstruktur des Jugendlichen gibt es nichts Beständiges, Endgültiges, Unbewegliches. Alles in ihr ist Übergang, alles fließt“ (op. cit., S. 658, Hervorhebung im Original). Diese Metapher kann darüber hinaus auf den gesamten Lebenslauf übertragen werden. Nach Erikson (1973, 1956) geht es in der Phase der Adoleszenz um eine Fülle von Themen, die sich auf eine Definition der eigenen Person im sozialen Kontext richtet, d. h., auch hier wird eine psychosoziale Komponente bei der Bildung der Ich-Identität betont. Die sich zunehmend formende Autonomie zeigt sich auch darin, dass der eigene Identitätsstatus stärker ins Bewusstsein kommt und gegenüber der Peergroup deutlicher vertreten wird (Berk 2020). Ein wesentlicher Faktor, der an den Aushandlungsprozessen beteiligt ist, ist die Veränderung des Körperkonzeptes in der Adoleszenz (Oerter 2006). Untersuchungen dazu belegen, dass Mädchen öfter ein nega‐ tives Körperselbstbild haben als Jungen. Im Fall der Überwindung der Identitätskrisen kommt es dazu, dass sich junge Erwachsene schließlich selbst Lebensziele setzen und sich das Selbstbewusstsein positiv entwickelt (Foelsch et al. 2010, S.-420). 182 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="184"?> Die Komplexität der Individuation zeigen Kroger/ Marcia (2011) anhand ihres Mo‐ dells verschiedener Identitätsstatus. Sie gehen davon aus, dass der Identitätsbildung zwei Kriterien zugrunde liegen: ▶ das Ausmaß an Exploration verschiedener Rollen und Lebenspläne, d. h., wie viele Alternativen zur eigenen Identität in Erwägung gezogen werden und wie von Adoleszenten realistische Ziele gewählt werden; ▶ die Höhe des Engagements, Identität auszudrücken, und die Bereitschaft, Krisen zu bewältigen. Aus der Kombination dieser Kriterien ergeben sich vier verschiedene Arten des Umgangs mit Identitätskrisen während der Pubertät (Tabelle 10), die auch als Identi‐ tätsstatus bezeichnet werden (Marcia 1980, Kroger/ Marcia 2011): - Exploration gering hoch Engagement gering diffuse Identität Moratorium (kritische Identität) hoch übernommene Identität erarbeitete Identität Tabelle 10: Die vier Identitätsstatus nach Marica (1980) Marcia (1980) entwickelte eine Interviewtechnik, um den Identitätsstatus zu erfassen und um die theoretischen Entwicklungsstufen von Erikson empirisch zu belegen. Die Interviewfragen bezogen sich auf unterschiedliche Bereiche, wie berufliche Ziele, moralische Einstellungen oder Familiensinn. Die Ergebnisse dieser Interviews unter‐ mauern die vier Identitätsstatus: ▶ Die diffuse Identität ist gekennzeichnet durch eine geringe Exploration verschie‐ dener Rollen und Lebenspläne sowie wenig Engagement, eigene Identität auszu‐ drücken. Es handelt sich insgesamt um einen instabilen Identitätsstatus, sodass in einem gewissen Sinn gar keine Verantwortung für die eigenen Identität über‐ nommen wird, d. h., das Leben wird nicht in die Hand genommen und auch keine Vision für die Zukunft erstellt. Das kann sich dann so äußern, dass diese Indivi‐ duen sehr anpassungsfähig sind und entsprechend von den äußeren Einflüssen geformt werden. Im ausgeprägten Fall definieren sich diese Individuen allein über äußere Zustände und haben gar keine Identitätsdefinition für sich. Resultat sind unreflektierte, chaotische und widersprüchliche Selbstbeschreibungen. ▶ Die übernommene Identität zeigt, wie die diffuse Identität, eine geringe Exploration von Rollen und Lebensplänen, jedoch ein hohes Engagement für den eigenen Identitätsausdruck. Diese Identität ist unreflektiert von den Eltern oder anderen 9.5 Die Identitätskrise der Adoleszenz 183 <?page no="185"?> Autoritätspersonen übernommen worden, d. h., die Identität hängt von einer an‐ deren Person ab und ist nicht selbst entwickelt. Im Gegensatz zur diffusen Identität wird die übernommene Identität als Identität wahrgenommen, allerdings werden die übernommenen Werte oder auch Ideologien nicht unbedingt reflektiert. ▶ Der Status Moratorium hat ein hohes Maß an Exploration von Rollen und Lebensplänen, jedoch ein geringes Engagement für eine direkte Umsetzung in Handlungen. Dieser Status wird auch als kritische Identität bezeichnet und bezieht sich auf eine Identitätskrise im engeren Sinne. Der Begriff Krise kennzeichnet, dass Identitätsaspekte realisiert und reflektiert werden. Ausgangspunkt kann also die diffuse oder übernommene Identität sein und nun wird mit dem Moratorium ein Übergang angestrebt, eine erarbeitete Identität zu erreichen. Das Interesse an Erkundung der Identität überwindet in der Regel die Angst, die eine Veränderung mit sich bringen kann. Es besteht das dringliche Ziel, sich selbst zu definieren, sodass den Fragen Wer bin ich? und Wer möchte ich sein? nachgegangen wird. Gelingt es nicht, die eigene Identität zu bilden, bleibt die Identitätsentwicklung in einem defensiven Stadium der Anpassung an den bestehenden Lebensentwurf verhaftet. Gelingt die Überwindung der Krise, ist der Identitätsstatus der erarbei‐ teten Identität erreicht. ▶ Die Kennzeichen der erarbeiteten Identität sind eine hohe Exploration von Rollen und Lebensplänen und ein hohes Engagement, Pläne umzusetzen, d. h., Individuen konstruieren ihre Identität durch aktive Entscheidungen und Kontrolle. Die Iden‐ tität ist im günstigen Fall so konstruiert, dass das Individuum ein realistisches Körperbild von sich hat, die Einstellung konstanter bleibt und das Selbsterleben zeitliche Kontinuität aufweist (Akhtar/ Samuel 1996). Insofern kann von einer gefestigten Identität gesprochen werden, die auch Erwartungen anderer standhält. Hier setzt dann die Identitätsarbeit zur Ausbildung der Ich-Identität an (Keupp et al. 1999). Die Adoleszenz zwischen 12 und 18 Jahren bildet den Übergang zur lebenslangen Identitätsarbeit an der Ich-Identität. Ausgangspunkt ist die Krise in der Konfronta‐ tion mit dem eigenen Selbstbild, wobei die Peergroup und damit das außerfamiliäre Umfeld verstärkt Einfluss gewinnt. Die sprachliche Herstellung von Identität durch Selbstnarrationen ermöglicht den Aushandlungsprozess und die Reflexion der eigenen Identität, womit der Ausgangspunkt der Identitätsarbeit gegeben ist. Erarbeiten Sie eine Entwicklungstabelle. Gehen Sie an den Anfang dieses Kapitels zurück und orientieren Sie sich an der Abbildung 20. 184 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="186"?> Machen Sie eine Skizze Ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung: Welche Persön‐ lichkeitsmerkmale wurden Ihnen als Kind zugeschrieben? Welche Persönlichkeits‐ merkmale lassen sich Ihnen heute zuschreiben? Inwiefern ist eine Entwicklung nachvollziehbar? ▢ Welche Entwicklungsphasen können unterschieden werden? Die Entwicklung der Ich-Identität wird unter den Einflüssen von Sprache und Dialog, Kognition, Motorik und Emotion betrachtet. Die zu betrachtenden Phasen können folgendermaßen aufgeteilt werden: ▢ Welche Rolle spielt die sprachliche Tätigkeit für die Entwicklung von Identität, Kognition, Emotion und Motorik? Das dialogische Ur-Wir ist der Ausgangspunkt aller Entwicklung und das Kind ist von Anfang an in Sprache getaucht. Das angepasste Sprachangebot der Be‐ zugsperson an den Säugling ist wesentlich für die Sprachentwicklung und die sich über sprachliche Tätigkeit herausbildenden Kognitionen und Emotionen. Das Erkennen des sprachlichen Bewirkens beschleunigt die Entwicklung von Sprachrezeption und Sprachproduktion. Die Möglichkeit der Selbstregulation durch Sprache betrifft ebenso motorische Aspekte. Die Erweiterung des Wort‐ schatzes, der Syntax und der Semantik ermöglicht der sprachlichen Tätigkeit ihre vermittelnde Funktion, auch im inneren Sprechen. Über sprachliche Mittel werden zunehmend Selbstkonzepte ausgehandelt und es kommt über Selbstnarrationen zur Ausbildung des autobiografischen Gedächtnisses. Ab der Adoleszenz wird die eigene Ich-Identität durch Sprache gezielter ausgedrückt und mittels Sprache ist es möglich, sie auch zu reflektieren. 9.5 Die Identitätskrise der Adoleszenz 185 <?page no="187"?> ▢ Ab wann kann von einer Ich-Identität gesprochen werden? Für die Identitätsentwicklung können Meilensteine vermerkt werden. Wesent‐ lich ist, dass die Ausformung des Selbst bereits mit der Geburt beginnt. Sprachliche Selbstkonzepte beginnen sich mit 1½ Jahren herauszubilden, ge‐ meinsam mit dem Selbsterkennen, und vollziehen eine besondere Markierung der eigenen Person mit dem Pronomen ich im dritten Lebensjahr. Eine reflexive Ich-Identität kann ab 12 Jahren angenommen werden, wenn die sprachliche Tätigkeit in Form von Narrationen das Hauptmittel der Ich-Identitätsentwick‐ lung wird. Sprachentwicklung Bruner, Jerome S. (2002). Wie das Kind sprechen lernt. Bern u.-a.: Huber. Sachse, Steffi, Bockmann, Ann-Katrin & Buschmann, Anke (2020). Sprachentwicklung. Berlin: Springer. Weinert, Sabine & Grimm, Hannelore (2018). Sprachentwicklung. In Wolfgang Schneider & Ulman Lindenberger (Eds.), Entwicklungspsychologie (445-470). Weinheim, Basel: Beltz. Denkentwicklung und Entwicklung allgemein Berk, Laura (2020). Entwicklungspsychologie. Halbergmoos: Pearson. Sodian, Beate (2008). Entwicklung des Denkens. In Leo Montada & Rolf Oerter (Eds.), Entwicklungspsychologie (436-476). Weinheim: Beltz. Persönlichkeitsentwicklung Hannover, Bettina & Greve, Werner (2018). Selbst und Persönlichkeit. In Wolfgang Schneider & Ulman Lindenberger (Eds.), Entwicklungspsychologie (559-577). Weinheim, Basel: Beltz. Küchenhoff, Joachim & Agarwalla, Puspa (2013). Körperbild und Persönlichkeit. Berlin: Springer. Emotionsentwicklung Holodynski, Manfred & Oerter, Rolf (2008). Tätigkeitsregulation und die Entwicklung von Motivation, Emotion, Volition. In Leo Montada & Rolf Oerter (Eds.), Entwicklungspsy‐ chologie (535-571). Weinheim: Beltz. Good Will Hunting. Gus Van Sant (Regie, 1997), Vereinigte Staaten. Eine außergewöhnliche Geschichte, die u.-a. die Veränderung der Persönlichkeit mit der Veränderung des Umfeldes thematisiert. Der seltsame Fall des Benjamin Button. David Fincher (Regie, 2008), Vereinigte Staaten. Eine Kurzgeschichte von F. Scott Fitzgerald wird modern adaptiert. Es geht um Benjamin Button, der als Greis geboren wird und im Laufe seines Lebens immer jünger wird. Ein Film, der vielschichtig zum Nachdenken anregt. 186 9 Entwicklungsaspekte von Sprache und Identität <?page no="188"?> 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität Dieses Kapitel setzt sich mit neurobiologischen und neuropsychologischen Grund‐ lagen von Sprache und Identität auseinander. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Haben Sprache und Identität vergleichbare hirnanatomische Verankerungen? ▢ Welche Perspektiven ermöglichen neurowissenschaftliche Erkenntnisse auf die narrative Dar- und Herstellung von Ich-Identität? Die kognitiven Neurowissenschaften haben zum Ziel, aus unterschiedlichen Blickwin‐ keln und mit unterschiedlichen Methoden die Struktur und Funktionsweise des Ge‐ hirns zu erforschen. Die Frage, wie die Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt im Sinne einer interaktiven Beziehung als Bedingung für die menschliche Entwicklung erfolgt, ist Thema der Nature-versus-Nurture-Debatte (Kaufmann/ Proksch/ Mrakotsky 2011). Angenommen wird, dass in der Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Anfor‐ derungen auch im Gehirn neue funktionelle Systeme entstehen (Lurija 2002). Die Grundhaltung dieses Kapitels knüpft an eine integrative Betrachtung von Spre‐ chen, Denken, Fühlen und Handeln an. Diese holistische Auffassung, den menschlichen Organismus als psychophysische Einheiten aufzufassen, hat in der Gehirnforschung bereits eine lange Tradition und findet sich zunehmend auch in neuerer Forschung (Goldstein 1934, Lurija 1966, Jantzen 2016). Daher soll versucht werden, die einzelnen referierten Studien neurowissenschaftlicher Forschung in eine ganzheitliche Sicht zu integrieren. Nach einem Überblick über strukturelle und funktionelle Grundlagen des Gehirns werden neurowissenschaftliche Aspekte der Sprache und der Identität dargelegt. 10.1 Grundlagen für die Betrachtung des Gehirns Die Komplexität des Gehirns kann im Folgenden nur in einfachen Grundzügen nachge‐ zeichnet werden, um die anschließenden neurowissenschaftlichen Betrachtungen von Sprache und Identität einordnen zu können. Aufgezeigt werden zunächst strukturelle und funktionelle Aspekte des menschlichen Nervensystems, entsprechend der Modelle der typischen Hirnentwicklung (Kaufmann/ Proksch/ Mrakotsky 2011). Abbildung 22 zeigt einen Überblick über die anatomischen und strukturellen Aspekte des Gehirns. Zu den strukturellen Aspekten zählt, dass das zentrale Nervensystem (ZNS) aus Gehirn und Rückenmark besteht und dass es sich sowohl aus genetischen Dispo‐ <?page no="189"?> sitionen als auch aus Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt entwickelt (Kaufmann/ Proksch/ Mrakotsky 2011). Für eine möglichst gute Verarbeitung von kom‐ plexen Informationen im Gehirn sind die Nervenzellen in Zellverbänden organisiert, von welchen viele schon so groß sind, dass sie bei oberflächlicher Betrachtung identifiziert werden können. Schon Hebb (1949) war überzeugt, dass Erfahrungen mit der Außenwelt die neuronalen Elemente morphologisch und somit die Hirnstruktur und -organisation auch funktionell permanent verändern. Es handelt sich beim Gehirn um ein dynamisches, selbstorganisierendes System, das die Anpassung an sich verän‐ dernde Umweltbedingungen erlaubt. Hebb formulierte damit einen psychophysischen Ansatz und betont vor allem die Reorganisation kortikaler Landkarten in sozialen Anpassungsprozessen. Abbildung 22: Überblick über das Gehirn; oben: anatomisch (mediale Ansicht), unten: strukturell (mit grauer Hervorhebung der primär relevanten Hirnstrukturen für die Sprachverarbeitung und Identitätsbildung) 188 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="190"?> In Bezug auf die Reizübertragung werden grundsätzlich elektrische von chemischen Prozessen unterschieden (Roth/ Strüber 2012). Über die elektrische Weiterleitung gelan‐ gen Impulse mehr oder weniger ungehindert über Aktionspotenziale von einer Zelle zur nächsten, sodass weite Entfernungen bewältigt werden können. Die chemische Weiterleitung beinhaltet vor allem das Neurotransmittersystem im synaptischen Spalt (Bear/ Conners/ Paradiso 2018), d. h., verantwortlich für die Reizweiterleitung sind Neurotransmitter wie Dopamin oder Serotonin. Im ZNS werden Eindrücke aus den Sinnesorganen verarbeitet und es wird das Ver‐ halten gesteuert. Die außerhalb des ZNS liegenden neuronalen Strukturen werden als peripheres Nervensystem bezeichnet und stellen die Verbindungen zu den Extremitäten her (z. B. Arme und Beine). Das viszerale Nervensystem umfasst die Nerven, die zu den Organen und von ihnen wegführen. Sie steuern die Tätigkeit des Herzens, der Drüsen und der glatten Muskulatur der inneren Organe (Birbaumer/ Schmid 2010). Für die Betrachtung der höheren psychologischen Funktionen ist vor allem das Vorderhirn (Prosencephalon) von Interesse. Es ist der größte und am höchsten ent‐ wickelte Gehirnabschnitt bei Menschen und höheren Tieren. Ein besonders ausge‐ dehntes und windungsreiches Vorderhirn besitzt der Mensch. Die Mittelhirn- und Rautenhirnstrukturen kontrollieren eher die automatischen und unbewussten Aspekte des Verhaltens. Dazu gehören lebenserhaltende Grundfunktionen wie das Atmen, der Wach-Schlaf-Rhythmus und die allgemeine Wachheit (Birbaumer/ Schmid 2010). Zum Vorderhirn gehören die durch den Balken verbundenen Großhirnhemisphären mit ihrer Rinde (Neokortex), die Basalganglien, die unterhalb des vorderen Neokortex liegen, und das limbische System. Strukturell ist am Vorderhirn bemerkenswert, dass es bilateral symmetrisch angelegt ist. Eine durch die Mitte des menschlichen Körpers führende Schnittebene spaltet das Nervensystem in zwei spiegelbildlich gleiche Teile. Die beiden spiegelbildlichen Großhirnhemisphären sind über Faserbündel - den Balken (Corpus callosum) - miteinander verbunden. ▶ Der Neokortex umfasst beinahe die gesamte Oberfläche der beiden Hemisphä‐ ren und besteht aus einer Ansammlung anatomisch abgegrenzter Gruppen von Nervenzellkörpern (Nuclei), die von myelinumhüllten Nervenfasern umgeben sind. Die Hirnrinde zeigt folglich keine einheitliche Oberfläche, sondern kann entsprechend der zytoarchitektonischen Unterschiede, also dem unterschiedlichen histologischen Aufbau, in ca. 52 Brodmann’sche Areale eingeteilt werden (Pro‐ siegel 2002). Der Neokortex zeigt ein typisches Relief von Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci), welches die Oberfläche erheblich vergrößert, d. h., er ist gefaltet und setzt sich aus mehreren Schichten komplex verschalteter Nervenzellen zusammen. Die entfaltete Großhirnrinde ergibt eine Fläche von ca. 2200 cm², das entspricht etwa der Seite einer größeren Tageszeitung bei einer Dicke von 3-4 mm (Birbaumer/ Schmid 2010). Jede Hemisphäre kann in vier Lappen eingeteilt werden (Prosiegel 2002): den Frontal- oder Stirnlappen (Lobus frontalis), den Temporal- oder Schläfenlappen (Lobus temporalis), den Parietal- oder Scheitellappen (Lobus parietalis) und den Occipital- oder Hinterhauptslappen (Lobus occipitalis). 10.1 Grundlagen für die Betrachtung des Gehirns 189 <?page no="191"?> ▶ Die Basalganglien sind ein Kerngebiet, das in enger Verbindung mit dem Thalamus steht. Sie sind verantwortlich für die Feinsteuerung der Motorik, die Feinabstim‐ mung der Kortexaktivierung bei selektiven Aufmerksamkeitsprozessen und sie sind bei kognitiven und emotionalen Prozessen beteiligt (Birbaumer/ Schmid 2010). ▶ Das limbische System ist eine weitere funktionelle Basis der emotionalen, sprach‐ lichen und kognitiven Verarbeitung. Zum limbischen System zählen im Groben die Kerngruppe der Amygdala im vorderen Temporallappen, der zinguläre Kortex, insbesondere die präfrontalen und orbitofrontalen Bereiche, sowie der Hippocam‐ pus (Birbaumer/ Schmid 2010, Bear/ Conners/ Paradiso 2018). In Abbildung 23 sind die wesentlichen Strukturen des limbischen Systems abgebildet. Aufgrund der intensiven Verbindungen zu vielen verschiedenen Gehirnarealen ist die Amygdala an vielen Verarbeitungsprozessen beteiligt und daher auch für den Zusammenhang von Sprache und Identität relevant. Abbildung 23: Mediale Ansicht auf das limbische System Strukturell sind die Hemisphären des Vorderhirns mit Neokortex, Basalganglien und limbischem System für die Betrachtung von Sprache und Identität relevant. Funktionell sind es die heteromodalen Assoziationsfelder des Vorderhirns, die für die Verarbeitung komplexer höherer Hirnleistungen verantwortlich sind. Dazu zäh‐ len Aufmerksamkeit, räumlich-konstruktive Leistungen, Zahlenverarbeitung, Musik‐ wahrnehmung, visuelle Wahrnehmung, Wahrnehmung des eigenen Körpers und Orientierung im Raum, Sensorik und Handeln, exekutive Funktionen, Gedächtnisleis‐ tungen und Sprache (Karnath/ Thier 2012). Die grundsätzliche funktionelle Verarbei‐ tung von eintreffenden Sinneseindrücken verläuft von den primären Rindenfeldern über die unimodalen zu den heteromodalen Assoziationsfeldern (Prosiegel 2002). 190 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="192"?> ▶ Primäre Rindenfelder sind die Kortexareale, die Informationen direkt von den Sinnesorganen erhalten oder die Bewegung bestimmter Körperteile steuern. Im Frontallappen findet die Willkürmotorik und auch die Sprechmotorik ihren Ausgang, im Parietallappen werden taktile Empfindungen aufgenommen, im Temporallappen liegt das primäre Hörzentrum und im Okzipitallappen liegt das primäre Rindenfeld des Sehens. ▶ Unimodale (sekundäre) Assoziationsfelder grenzen an die primären Rindenfelder an und sind schon für eine komplexere Verarbeitung von Informationen verantwort‐ lich. Allerdings beschränkt sich die Verarbeitung auf die Modalität des benach‐ barten primären Rindenfeldes. Das heißt, die modalitätsspezifische Information, beispielsweise des Hörens, wird zu einem bedeutungsvollen Ganzen integriert, indem einzelne sensorische Reize kombiniert und in zunehmend komplexere Muster eingebaut werden. Gesehenes oder Gehörtes wird also erkannt. ▶ Die heteromodalen Assoziationsfelder vermitteln zwischen den Modalitäten, die aus den unimodalen Assoziationsfeldern stammen, und sind für die komplexe Informationsverarbeitung verantwortlich. Ein Objekt - zum Beispiel einen Baum - zu sehen, zu erkennen und auch benennen zu können, ist eine Leistung, die nur durch die Verschaltung auf heteromodaler Ebene möglich ist. Auf dieser Ebene treten auch Hemisphärenasymmetrien zutage, die auch als Lateralisierung bezeichnet werden (s. Infobox). Die Sprachfähigkeit ist ein Beispiel für eine Hemi‐ sphärenasymmetrie, denn Sprache wird in der Regel in der linken Hemisphäre verarbeitet. Individualität lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass höhere psychologische Prozesse in den heteromodalen Assoziationsfeldern stattfinden und damit vergleichbare Lokalisationen zwischen Individuen nicht gegeben sind. Für die Betrachtung des Zusammenhangs von Sprache und Identität sind es folglich Prozesse der heteromodalen Assoziationsfelder, die relevant sind. Insbesondere für die Sprachverarbeitung sind Areale der linken Hemisphäre von Bedeutung und auch das Zusammenspiel mit dem limbischen System ist wesentlich. Lateralisierung Bei funktionellen Unterschieden zwischen den Hemisphären wird von Hemisphä‐ renasymmetrien gesprochen, die aus der Lateralisierung spezifischer Fähigkeiten entstehen. Lateralisierung bedeutet, dass obwohl sensorische Informationen beid‐ seitig aufgenommen werden, bestimmte Informationen dennoch vorwiegend auf einer Seite verarbeitet werden. Beim Hören von sprachlicher Information leitet das rechte Ohr in die linke Hemisphäre weiter und das linke Ohr in die rechte Hemisphäre. Die Weiterverarbeitung sprachlicher Information findet dann jedoch hauptsächlich in der linken Hemisphäre statt, d. h., es handelt sich um eine Veränderung der Verarbeitungspräferenz und es wird von der sprachdominanten Hemisphäre gesprochen ( Jäncke 2012). Erste Hinweise der Lateralisierung von Sprache und der linken Hemisphärendominanz stellte Broca fest, indem er den Sitz der artikulierten Sprache in der linken Hemisphäre erkannte. Wernicke 10.1 Grundlagen für die Betrachtung des Gehirns 191 <?page no="193"?> fand das Zentrum für Sprachverständnis, Sprachproduktion, Schreib- und Lese‐ zentrum ebenfalls in der linken Hemisphäre (Birbaumer/ Schmid 2010). Bedingt wird die Herausbildung der Dominanz linkskortikaler Sprachzentren zudem von der kontralateralen Hemmung, d. h., bei der Sprachverarbeitung werden die Verarbeitungszentren der rechten Hemisphäre grundsätzlich von der linken Hemisphäre unterdrückt. Die Dominanz der linken Hemisphäre für Sprache wird in Zusammenhang mit der Händigkeit gebracht. Bei Rechtshändigen ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass eine Linksdominanz der Sprache vorliegt, als bei Linkshändigen (Birbaumer/ Schmid 2010). Zudem gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich der Ausprägung der Lateralisierung. Bei Frauen ist die Linkslateralisierung leicht reduziert und hängt vom Hormonzyklus ab ( Jäncke 2012). Außerdem beruht die weniger ausgeprägte Lateralisierung bei Frauen für Sprache wahrscheinlich auf dem ausgeprägteren interhemisphärischen Informati‐ onsaustausch, der durch das bei Frauen meist dickere Corpus callosum ermöglicht wird. Zu den mit sprachlicher Tätigkeit und Identitätsbildung assoziierten Funktionen kön‐ nen die Emotionsverarbeitung, exekutive Funktionen und Gedächtnisprozesse gezählt werden, für die auch die Verarbeitung in den heteromodalen Assoziationsfeldern und im limbischen System zentral sind. Bei allen drei Hirnleistungen hat die sprachliche Tätigkeit eine vermittelnde Rolle und es zeigen sich Facetten der Ich-Identität eines Individuums: ▶ Bei der Emotionsverarbeitung spielt die Amygdala eine wichtige Rolle bei der ersten Bewertung von Umweltereignissen. Das heißt, eintreffende Sinneseindrücke wer‐ den dahingehend bewertet, wie relevant sie sind, ob sie bedrohlich erscheinen und eine Gefahr darstellen oder ob sie bekannt und angenehm sind. Es gehen mit der ersten Verarbeitung auch autonome Reaktionen einher, wie die Veränderung des Blutdrucks oder der Kortisolausschüttung. Auf sehr basaler Ebene kann auf Gefahr rasch reagiert werden, ohne Felder im Kortex zu aktivieren (LeDoux 1996). Die Emotionsverarbeitung kann als Fundament aller weiterer sprachlich-kognitiven Verarbeitung angesehen werden (Damasio 2006). ▶ Exekutive Funktionen setzen ein, wenn über die Amygdala eine Aktivierung insbesondere des präfrontalen Kortex stattgefunden hat. Bei der Verarbeitung von Emotionen führt die Verbindung zu orbitofrontalen Regionen zu einem bewussten Emotionserleben, d. h., die erste Bewertung und die damit verbundene Relevanzeinschätzung von Sinneseindrücken können unter Kortexbeteiligung auch sprachlich benannt werden und es entstehen Konstrukte von Emotionen wie Ärger, Zufriedenheit, Hilflosigkeit oder Glück. Über den präfrontalen Kortex kommt es folglich zu einer gründlicheren und bewussteren Verarbeitung eintref‐ fender Informationen, d. h., es wird abgewogen, was das Umweltereignis vor dem persönlichen Hintergrund des Individuums zu bedeuten hat. Das Ereignis wird folglich bewusst wahrgenommen, bewertet und auch interpretiert. Der präfron‐ 192 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="194"?> tale Kortex ist damit für die langsameren, rationalen, sogenannten vernünftigen Entscheidungsmechanismen zuständig und kann durch die Feinanalyse zu einer optimalen Problemlösung beitragen. Es schalten sich Aufmerksamkeitssteuerung, Handlungsplanung, -durchführung und -kontrolle sowie Impulskontrolle dazu (Adolphs/ Ackermann 2012). Diese Steuerungsfunktion des Frontalhirns hat Ein‐ fluss auf den Antrieb und auch auf metakognitive Bereiche, d. h., mit dieser Selbststeuerung werden Verhaltensweisen getätigt oder sein gelassen. ▶ Bei Gedächtnisprozessen sind die Verbindungen zum Hippocampus zu nennen (Adolphs/ Ackermann 2012). Der Hippocampus gilt als Speicher unseres Welt‐ wissens ebenso wie unserer persönlichen Erfahrungen. Emotionserleben und Erinnerungen können sich wechselseitig beeinflussen, d. h., Emotionen können Erinnerungen wachrufen und Erinnerungen können auch emotionsregulierend sein. Der Hippocampus sorgt zudem für eine Speicherung des Eigenempfindens und für eine lineare und damit zeitliche Strukturierung des Gedächtnisses. Erst dadurch sind Erinnerungen abrufbar und die Verknüpfung von Gedächtnisinhalten mit Gefühlen ist möglich. Der Hippocampus ist folglich beteiligt, wenn der Ge‐ danke an ein tragisches Erlebnis im eigenen Leben in der Folge zur Wahrnehmung von Traurigkeit führt. Gedächtnisinhalte werden über Narrationen mitgeteilt, insofern ist auch hier eine umfassende Beteiligung sprachlicher Tätigkeit gegeben. Insbesondere durch den Abruf von Erlebtem und auch bei der Darstellung und Herstellung von Identität über Narrationen. Funktionell ist bei der Betrachtung von Sprache und Identität neben den hete‐ romodalen Assoziationsfeldern das limbische System relevant, sodass auch die Emotionsverarbeitung, die exekutiven Funktionen und das Gedächtnis für die Verknüpfung sprachlicher Tätigkeit und Identitätsbildung einbezogen werden müssen. 10.2 Neurowissenschaftliche Aspekte der Sprache Die Sprachfähigkeit eines Individuums wird durch zwei Faktoren ermöglicht. Der erste Faktor ist die genetische Disposition und damit verbunden die biologische Reifung des Gehirns (natürliche Linie). Der zweite Faktor umfasst das sprachliche und emotionale Umfeld (kulturelle Linie), das zur Sprachentwicklung beiträgt und diese entfaltet (Friederici 2013, Vygotskij 1934/ 2002). Das Wissen über die neuronalen Grundlagen der Sprachfähigkeit hat mit den innovativen Methoden der Hirnforschung erheblich zugenommen, d. h., sowohl bezogen auf die Lokalisation als auch auf die zeitliche Verarbeitung von Sprache (Friederici 2011). 10.2 Neurowissenschaftliche Aspekte der Sprache 193 <?page no="195"?> Beim Blick auf die sprachlichen Funktionen wird deutlich, dass es um Zellensembles geht, die zur Erzeugung und zur Wahrnehmung von Sprache unterschieden werden. Der Neokortex ist vor allem in seinen assoziativen, heteromodalen Anteilen als riesiger Assoziativspeicher organisiert, sodass auch Semantik und Syntax in assoziativ verbundenen Zellensembles repräsentiert sind. Diese engen neuronalen Verbindungen entstehen durch gleichzeitige (assoziative) Aktivität (Hebb 1949) und ausgebildete Ensemblegruppen können an verschiedenen Stellen aktiviert werden. Friederici (2011) zeichnet ein detailliertes Bild des linken frontotemporalen Netzwerkes, das an der se‐ mantischen und syntaktischen Sprachverarbeitung beteiligt ist. In Abbildung 24 findet sich eine vereinfachte und gut orientierende Darstellung, die auf die primär beteiligten Areale der Sprachverarbeitung fokussiert (nach Friederici 2011, Birbaumer/ Schmidt 2010, Prosiegel 2002, Geschwind 1970). Dies sind ▶ im Frontallappen das Broca-Areal (BA 44/ 45) mit dem frontalen Operculum, die BA 47 und motorische Areale (BA 4), ▶ im Temporallappen der primäre und sekundäre auditorische Kortex (BA 41 und 42), das Wernicke-Areal (BA 22/ 42) und der Gyrus temporalis superior (BA 38/ 22/ 41/ 42) und medius (21/ 37), ▶ im Parietallappen die sensorischen Areale (BA 1/ 2/ 3), der Gyrus angularis (BA 39) und der Gyrus supramarginalis (BA 40) sowie ▶ im Okzipitallappen der primäre und sekundäre visuelle Kortex (BA 17/ 18). Abbildung 24: Hirnareale der Sprachverarbeitung Relevant sind neben den beschriebenen sprachrelevanten Arealen die Verbindungen zwischen diesen, sodass sich dann ein Netzwerk formieren kann (Friederici 2011, Weniger 2012). Es handelt sich um ventrale Verbindungen zwischen frontalen und temporalen Arealen sowie dorsalen Pfaden zwischen frontalen und temporoparietalen Arealen (Abbildung 25). 194 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="196"?> Abbildung 25: Verbindungen der sprachrelevanten Areale über ventrale (gepunktete Linie) und dorsale Pfade (gestrichelte Linie) ▶ Ventrale Verarbeitungspfade sind für die Aktivierung des gesamten linkslateralen, frontotemporalen Netzwerks verantwortlich und ermöglichen eine semantische und syntaktische Integration. Hierfür werden auditive Sprachreize mit den ent‐ sprechenden konzeptuellen Repräsentationen, also vor allem den Wortbedeutun‐ gen, verknüpft und es sind auch erste Phrasenstrukturbildungen möglich (Weniger 2012). ▶ Dorsale Verbindungspfade zwischen dem Broca- und Wernicke-Areal ermöglichen die Integration der sensorischen und motorischen Verarbeitung. Reziproke Verbin‐ dungen beeinflussen sowohl Sprachproduktionsals auch Sprachrezeptionspro‐ zesse. Hier wird auch das verbale Arbeitsgedächtnis lokalisiert (Weniger 2012). Das Zusammenspiel der einzelnen Areale für die vier grundlegenden Sprachfunktionen kann folgendermaßen vereinfacht zusammengefasst werden: Bei der Erzeugung von Sprache, also beim Sprechen und Schreiben (Abbildung 26), geht ein semantisches Motiv voraus, sodass für die Wortzuordnungen ein Zugriff auf den Wortspeicher im Temporallappen notwendig ist. Zentral für den Zugriff auf das semantische Lexikon ist das Wernicke-Zentrum, das auch dafür sorgt, dass selbst verstanden wird, was gesagt werden soll. Die syntaktische Verarbeitung findet in der linken perisylvischen Region statt, d. h. vor allem im Broca-Areal und dem BA 47 (Friederici 2012). Da das Broca-Areal im Bereich des präfrontalen-prämotorischen Kortex in der linken Hemisphäre liegt, ist es auch an exekutiven Prozessen der Sprachverarbeitung beteiligt, sodass hier auch die Sprechplanung, die Sequenzierung und Kontrolle verbaler Handlungen verortet wird (Heidler 2012). Das heißt, die geplante Äußerung wird bereits linearisiert und es passiert Folgendes: ▶ Beim Sprechen erfolgt die direkte Weiterleitung an die motorische Area 4 (ventral), die für die motorische Planung, Steuerung und Umsetzung des Sprechvorgangs verantwortlich ist. Im sensorischen Bereich dieses Areals finden sensorische Rückmeldungen zum Sprechvorgang statt. ▶ Beim Schreiben erfolgt die Vernetzung schreibmotorischer Prozesse in der motori‐ schen Area 4, dem Gyrus angularis und vor allem dem Gyrus supramarginalis. Im 10.2 Neurowissenschaftliche Aspekte der Sprache 195 <?page no="197"?> Gyrus angularis werden Informationen über die visuelle Form von Buchstaben und Wörtern lokalisiert. Auch wird angenommen, dass hier bereits eine Konvertierung des visuell-orthografischen Eingangssignals in eine auditorische Form beginnt. Der Gyrus angularis ist für die Verbindung von Laut-Buchstabe zuständig, d. h., er verbindet auditorische und visuelle Repräsentationen (Birbaumer/ Schmid 2010). Abbildung 26: Skizzierung der Verarbeitungswegen beim Sprechen (links) und Schreiben (rechts) Angela Friederici (*1952) Die kognitive Neurowissenschaftlerin Angela Friederici wurde 1952 in Köln geboren. Sie studierte die Fächer Germanistik, Romanistik und Sprachwissen‐ schaften sowie Psychologie; in Linguistik wurde sie promoviert und sie habili‐ tierte sich im Fach Psychologie. Nach zahlreichen Forschungsaufenthalten in den USA und beispielsweise am MPI für Psycholinguistik in Nijmegen (Niederlande) war sie 1994 Gründungsdirektorin und wissenschaftliches Mitglied des MPI für kognitive Neurowissenschaften in Leipzig, das heute MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften heißt. Ihr Kerninteresse gilt der Frage, wie Sprache im Gehirn entsteht, wie Kinder Sprache erwerben, wie Sprache wahrgenommen und verstanden wird und wie Gedanken in Worte gefasst werden. Die Ausarbeitung dieser grundsätzlichen Frage findet sich in zahlreichen Publikationen und die Würdigung ihrer Arbeit in vielen wissenschaftlichen Auszeichnungen (https: / / www.cbs.mpg.de/ mitarbeiter/ friederici, abgerufen am 28.08.2021). Bei der Wahrnehmung von Sprache, also beim Hören/ Verstehen und Lesen (Abbildung 27), sind es die jeweiligen primären Rindenfelder, in welchen die Verarbeitungsprozesse beginnen. ▶ Beim Hören/ Verstehen beginnt die Verarbeitung im primären auditorischen Kortex und im Planum temporale. Es handelt sich um eine hierarchisch aufgebaute Verschaltung von Neuronen (einfach bis hyperkomplex), die selektiv auf die verschiedenen Merkmale von Lauten reagiert. Das heißt, einzelne Zellen reagieren bevorzugt auf Tonhöhe, Beginn und Ende von Tönen und phonetische Merkmale von Silben und Konsonanten. Das Hörverstehen findet im Wernicke-Zentrum statt, über welches wiederum der Wortspeicher im Temporallappen aktiviert wird. 196 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="198"?> ▶ Beim Lesen wird die Schrift vom primären visuellen Kortex aufgenommen und an den Gyrus angularis geleitet, wo die Information über die visuelle Form von Buchstaben und Wörtern lokalisiert ist. Ferner wird angenommen, dass hier bereits eine Konvertierung des visuell-orthografischen Eingangssignals in eine auditori‐ sche Form beginnt. Im Wernicke-Areal, wo auditorisch-phonologische Wortbilder gespeichert sind, wird das zu lesende Wort erkannt, d. h., das visuell-orthografische Signal wird in die auditorische Form konvertiert und an das Wernicke-Areal weitergeleitet, wo die Bedeutung des Wortes aktiviert werden kann (mit entspre‐ chender Mitaktivierung des Temporallappens). Beim lauten Lesen erfolgt wie beim Sprechen die Aktivierung des Broca-Areals und der sprechmotorischen Areale. Abbildung 27: Skizzierung der Verarbeitungswege beim Hören/ Verstehen (links) und Lesen (rechts: leises Lesen (durchgezogene Linie), lautes Lesen (gestrichelte Linie)) Der mit dieser Beschreibung verbundene zeitliche Ablauf der Sprachverarbeitung wird durch Studien mit ereigniskorrelierten Hirnaktivitätsmessungen unterstützt (Friederici 1995, 2011). Wesentlich an dieser Betrachtung neurologischer Aspekte der Sprachverarbeitung ist, dass der dynamische Aspekt des Netzwerks und die Interaktion der funktionellen Komponenten zur Sprachverarbeitung betont wird (Alemi et al. 2018, Friederici 2011). Zu diesen funktionellen Komponenten gehören dann das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit (Hagoort 2013, Fuster 1999, Binder et al. 1997). Beide Aspekte sind zentral, um die hohe Flexibilität sprachlicher Anpassung an unterschiedlichste Kontexte zu ermöglichen. Zu den neuronalen Grundlagen der Sprachverarbeitung gehören zwar umschrie‐ bene Areale wie das Broca- und Wernicke-Areal, für die Sprachverarbeitung wird jedoch von einem interaktiven Netzwerk ausgegangen, das sich hoch flexibel an unterschiedlichste sprachliche Kontexte anpassen kann. 10.2 Neurowissenschaftliche Aspekte der Sprache 197 <?page no="199"?> 10.3 Neurowissenschaftliche Aspekte der Identität Die Betrachtung der Ich-Identität aus neurowissenschaftlicher Perspektive hat eben‐ falls den Ausgangspunkt, dass Persönlichkeit auf einem biologischen Fundament fußt. Es wird angenommen, dass Persönlichkeit in den Genen angelegt ist und durch frühe Erfahrungen geprägt wird (Roth/ Strüber 2012, 2017, Strüber/ Roth 2020). Zunächst wird im Folgenden eine Kernarchitektur der Persönlichkeit bestimmt. Dann wird anhand der neurobiologischen Entwicklung der Persönlichkeit das Wechselspiel zwischen limbisch-emotionalen und sprachlich-kognitiven Aspekten aufgezeigt, indem das Vier-Ebenen-Modell von Roth/ Strüber (2012, 2017) dargestellt wird. Abschließend wird überlegt, inwiefern sich Persönlichkeitstypen ableiten lassen. Bei der Betrachtung der Lokalisation der Persönlichkeit im Gehirn werden viele verschiedene Areale diskutiert (zum Beispiel Roth/ Strüber 2017, DeYoung et al. 2010, Adelstein et al. 2011, Sampaio et al. 2014, Oerter 2006). Im Unterschied zu den zentralen Arealen der Sprachverarbeitung manifestieren sich die Areale der Persönlichkeit sowohl auf der lateralen Kortexoberfläche als auch vor allem in medialen Arealen, d. h. auf den Innenseiten der Hemisphären. Zu einer Art anatomischer Kernarchitektur der Persönlichkeit können die Areale limbisches System, präfrontaler Kortex, Precuneus und Insula gezählt werden (Abbildung 28, Insula und Areale auf dem lateralen präfrontalen Kortex sind nicht abgebildet). Abbildung 28: Kerngebiete des Sitzes der Persönlichkeit ▶ Beim limbischen System wird angenommen, dass im zingulären Kortex durch die Kombination von Wahrnehmungseindrücken die Ich-Kohärenz entsteht (Oerter 2006). Auch wird vermutet, dass der hintere Anteil des zingulären Kortex an dem Persönlichkeitsmerkmal Verträglichkeit beteiligt ist (DeYoung et al. 2010) und der anteriore zinguläre Kortexbereich für das Merkmal Neurotizismus mitverantwort‐ lich ist (Blankstein et al. 2009, DeYoung et al. 2010, Rauch et al. 2005). Amygdala und Hippocampus werden mit der Bewertung und Speicherung von Erlebnissen 198 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="200"?> assoziiert (Strüber/ Roth 2020), d. h., alle autobiografischen Erinnerungen passieren zunächst den Hippocampus, bevor sie bleibend im Kortex gespeichert werden. Der Hippocampus ist vor allem auch am Abruf autobiografischer Information beteiligt (Markowitsch 2012), weshalb er für die Darstellung und Herstellung von Identität relevant ist. ▶ Dem präfrontalen Kortex werden die Persönlichkeitsmerkmale Extraversion, Ge‐ wissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen zugeordnet. Die Ausprägung der Extraversion korreliert mit der kortikalen Dicke in präfrontalen Regionen (Bjørnebekk et al. 2013), mit frontotemporalen Regionen (Kapogiannis et al. 2013), mit dem linken mittleren frontalen Gyrus (Blankstein et al. 2009) und mit dem Volumen der kortikal grauen Substanz im medialen orbitofrontalen Kortex (DeYoung et al. 2010). Gewissenhaftigkeit wird mit dem medialen präfrontalen Kortex in Verbindung gebracht (DeYoung et al. 2010). Offenheit für Erfahrungen wird mit dem dorsolateralen und anterioren präfrontalen Volumen der grauen Substanz assoziiert (DeYoung et al. 2010). Adelstein et al. (2011) fanden eine starke Verbindung zwischen Offenheit für Erfahrungen und dem dorsolateralen präfrontalen Kortex. Es wird vermutet, dass diese Region Integration, Abstraktion und Bewertung - auch in Bezug auf die eigene Person - unterstützt. ▶ Der Precuneus ist am Abruf autobiografischer Erinnerungen beteiligt und er spielt eine Rolle bei der Verarbeitung selbstbezogener mentaler Repräsentationen (Gar‐ dini/ Cloninger/ Venneri 2009), d. h., der Precuneus ist an der Dar- und Herstellung der Persönlichkeit beteiligt und für die Wahrnehmung von Kontinuität mitverant‐ wortlich. ▶ Die Insula wird mit der Fähigkeit zu Empathie in Zusammenhang gebracht, etwa beim Mitfühlen von schmerzhaften Ereignissen (Singer et al. 2004), außerdem ist sie bei der Selbstwahrnehmung, beispielsweise bei der Betrachtung des eigenen Spiegelbildes und auch bei der Identifikation eigener autobiografischer Erinnerungen aktiv (Blackmore et al. 2005). Zu den anatomischen Kernregionen der Persönlichkeit können das limbische System, Teile des präfrontalen Kortex, der Precuneus und die Insula gezählt werden. Das neurobiologische Vier-Ebenen-Modell zeigt einerseits Entwicklungszusammen‐ hänge dieser Kernarchitektur auf und andererseits wird die Entfaltung der Persön‐ lichkeit im Wechselspiel zwischen biologischer Anlage und Umweltfaktoren betont (Roth/ Strüber 2012, 2017, Strüber/ Roth 2020). Im Vier-Ebenen-Modell werden die untere, mittlere und obere limbische Ebene sowie die kognitiv-sprachliche Ebene unterschieden: 10.3 Neurowissenschaftliche Aspekte der Identität 199 <?page no="201"?> ▶ Die untere limbische Ebene, auch als vegetativ-affektive Ebene bezeichnet, wird als Ausgangspunkt der Persönlichkeit angenommen. Zu dieser Ebene zählen Amyg‐ dala, Hypophyse, Hypothalamus, Pons und Medulla oblongata. Die vegetativ-lim‐ bische Grundachse ist für die biologische Existenz verantwortlich, d. h., sie regelt Stoffwechsel, Kreislauf und Blutdruck, Verdauungs- und Hormonsystem, Wachen und Schlafen. Ein Teil wird über die Anlage vererbt, ein anderer Teil wird über die frühkindlichen Erlebnisse und die Bindung an die Eltern bestimmt (Strüber 2019). Da der Einfluss der Umwelt schon in der Schwangerschaft beginnt, sich beispiels‐ weise Stress der Mutter auf das Stresssystem des Kindes auswirkt, wird auch der Einfluss von Neurotransmittern thematisiert, denn in der neurobiologischen Ent‐ wicklungsforschung wird davon ausgegangen, dass die Aktivierung verschiedener Botenstoffe Eigenschaften wie Schüchternheit, Exploration und Neugier bedingen. Diese Ebene legt „die angeborenen Komponenten des Temperaments fest, d. h., sie entscheidet mit darüber, ob eine Person grundsätzlich neugierig-draufgängerisch oder vorsichtig-abwägend, kommunikativ oder wortkarg, mutig oder ängstlich ist“ (Roth/ Strüber 2012, S.-8). ▶ Die mittlere limbische Ebene ist verantwortlich für emotionale Konditionierungs‐ prozesse und individuelles emotionales Lernen. Emotionale Ereignisse werden mit angeborenen Emotionen wie Furcht, Angst oder Überraschung verknüpft. Zu den anatomischen Kerngebieten zählen hier der Thalamus, die Amygdala und der Hippocampus. Mit der Entwicklung des Belohnungssystems und des Motivations‐ systems „formen sich die Grundstrukturen unseres Verhältnisses zu uns selbst (Selbstbild) und zu den Mitmenschen […]“ (Roth/ Strüber 2012, S.-8). ▶ Bewusste und überwiegend sozial vermittelte Emotionen werden der oberen limbi‐ schen Ebene zugeordnet, die zudem bereits Areale der Großhirnrinde beteiligt. Dazu zählen der anteriore zinguläre Kortex, der orbitofrontale präfrontale Kortex und die Insula. Insbesondere der orbitofrontale präfrontale Kortex ist verantwortlich für die bewusste Bewertung und Regulation von Verhalten. Die Reifung reicht bis ins frühe Erwachsenenalter. „Hier bilden sich auf der Grundlage sozial vermittelter Erfahrung die bewussten Anteile des Selbst und des affektiv-emotionalen Ich aus, und zugleich formen sich hier Elemente von Moral und Ethik […]“ (Roth/ Strüber 2012, S.-9). ▶ Die kognitiv-sprachliche Ebene umfasst Bereiche des dorsolateralen und des vent‐ rolateralen präfrontalen Kortex mit der Broca-Region sowie im temporalen Kortex die Wernicke-Region. Auf dieser Ebene sind sprachliche Prozesse beteiligt und ebenso exekutive Funktionen, die sich im Sprechen und im planvollen Handeln zeigen. „Die kognitiv-sprachliche Ebene ist die Ebene des rationalen Ich, des Verstandes und der Intelligenz. Hier werden der Realitätsgehalt geprüft, Probleme gelöst, Handlungen geplant, und hier wird das bewusste Ich vor sich selbst und vor anderen dargestellt und gerechtfertigt“ (Roth/ Strüber 2012, S.-9). 200 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="202"?> Im Vier-Ebenen-Modell wird davon ausgegangen, dass drei Ebenen dem limbi‐ schen System und eine Ebene dem lateralen Neokortex zuzurechnen sind. Aus dem angelegten Temperament entwickelt sich das Selbstbild, und über soziale Erfahrungen wird die Dar- und Herstellung eines bewussten Ich über sprachliche Mittel möglich. Neben den neuroanatomischen Grundannahmen kann auch der Einfluss von Neuro‐ transmittern auf die Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen betrachtet werden. Roth/ Strüber (2012, 2020) leiten auf der Basis von Neurotransmittern sechs psychoneu‐ rale Grundsysteme ab, die ihrer Auffassung nach als Determinanten der Persönlichkeit fungieren können. Die sechs Grundsysteme betreffen einerseits den egozentrischen Kern der Persönlichkeit und andererseits die Sozialisation des Individuums. In der folgenden Zusammenfassung stehen vor allem die Funktionen im Vordergrund, eine detaillierte Ausführung des Ansatzes findet sich in Roth/ Strüber (2012, 2020) und Strüber (2019). Der egozentrische Kern der Persönlichkeit umfasst Stressverarbeitung, Selbstberuhi‐ gung und Selbstbewertung/ Motivation. ▶ Das Stressverarbeitungssystem ist verantwortlich dafür, dass ein Organismus so‐ wohl körperliche als auch psychische Belastungen bewältigen kann. Der entspre‐ chende Neurotransmitter ist Cortisol. Es ist sehr unterschiedlich, wie gut Menschen mit Stresssituationen umgehen können. Die Möglichkeit des Copings, also die Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stresssituationen, wird schon pränatal geprägt, sodass das Stresspotenzial der werdenden Mutter und die damit verbun‐ dene Cortisolfreisetzung Einfluss auf die individuelle Stressentwicklung nimmt. Postnatal können vorgeburtliche Stresserfahrungen mit positiven Bindungserfah‐ rungen gemildert werden. Es zeigt sich, dass neben der genetischen Disposition die Erfahrungen der ersten Lebensjahre für das Stresssystem prägend sind (Strüber 2019). ▶ Das Selbstberuhigungssystem stellt den Gegenspieler zum Stressverarbeitungssys‐ tem dar, indem der Organismus wieder zur Ruhe gebracht wird. Der hierfür zuständige Neurotransmitter ist Serotonin. Der Serotoninspiegel reguliert die Wahrnehmung emotionaler Zustände und ermöglicht die Emotionskontrolle. Ein Serotoninmangel führt dazu, dass Stressreaktionen aufrecht erhalten bleiben, d. h., Serotoninmangel zeigt sich in impulsiven Handlungen und zum Teil auch reaktiver Aggression. Eine Aktivierung von Serotonin wirkt angstlösend und antidepressiv, während der Serotoninmangel Angst und Depression auslösen kann (Roth/ Strüber 2012, 2020). ▶ Das Selbstbewertungs- und Motivationssystem ist zuständig für die grundsätzliche Bewertung von Erlebnissen oder Handlungen als positiv oder negativ und die daraus abgeleiteten Handlungen. Die Bewertung stellt die Grundlage für das 10.3 Neurowissenschaftliche Aspekte der Identität 201 <?page no="203"?> Motivationssystem dar, das veranlasst, ob belohnte Handlungen wiederholt und bestrafte Handlungen vermieden werden. Wesentlich hierfür ist das Dopaminsys‐ tem. „Entsprechend ist ein erhöhter Dopaminspiegel mit psychischer Aktivierung, Belohnungserwartung, Tatendrang und gesteigerter Kreativität verbunden, wäh‐ rend ein Mangel an Dopamin zu Ideen- und Fantasielosigkeit, Antriebslosigkeit und Depressivität führt […]“ (Roth/ Strüber 2012, S.-13). Die Sozialisation der Persönlichkeit umfasst die drei Systeme Impulskontrolle, Bin‐ dungs- und Empathiesystem sowie Realitätssinn- und Risikowahrnehmungssystem. ▶ Das Impulskontrollsystem ist notwendig, wenn - sozial bedingt - eine Belohnung aufgeschoben werden soll. Ein Belohnungsaufschub erfordert, dass der Impuls, eine Belohnung sofort einzufordern, gehemmt werden muss. Hier spielt das Serotoninsystem (als Gegenspieler des Dopaminsystems) eine wichtige Rolle für die Impulshemmung. Die Entwicklung der Impulskontrolle beginnt zwischen 2 und 3 Jahren und setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort (Roth/ Strüber 2012, 2020). ▶ Das Bindungs- und Empathiesystem ermöglicht dem Säugling von Anfang an, Kontakt mit seiner sozialen Umgebung aufzunehmen und aufrechtzuerhalten. Im Mittelpunkt stehen die Wechselbeziehungen zwischen den Äußerungen des Säuglings und den positiven Erwiderungen der Bezugspersonen, die in den ersten zwölf Lebensmonaten zum Aufbau von ersten Beziehungen führen, die dann weiter ausdifferenziert werden. Bedeutsam für das Bindungssystem ist das Neuropeptid Oxytocin, das in enger Wechselwirkung mit dem Stresssystem steht. Das Bindungs‐ system hemmt das Stresssystem und verstärkt die Serotoninausschüttung, was vor allem Angst reduziert. Das Serotonin erhöht die Fähigkeit, Mimik zu erkennen, und begünstig damit auch die Empathiefähigkeit (Roth/ Strüber 2012, 2020). ▶ Das Realitätssinn- und Risikowahrnehmungssystem entwickelt sich ab dem dritten Jahr und reift im Verlauf der Kindheit und Jugend erst allmählich heran. Dieses System ist - mehr oder weniger ständig - dafür verantwortlich, negative und positive Konsequenzen von Handlungen abzuwägen. Hierzu zählen auch Risikoab‐ wägungen. Die Verarbeitung im Kortex bezieht verschiedene neuromodulatorische Substanzen mit ein, wie Acetylcholin, Dopamin und Noradrenalin (Roth/ Strüber 2012, 2020). Neurobiologisch haben Neurotransmitter, wie Cortisol, Serotonin, Dopamin, Oxytocin, Acetylcholin und Noradrenalin, einen Einfluss auf die Ausbildung der Persönlichkeit. Auf dieser Grundlage der vier Ebenen der Persönlichkeit sowie der sechs psychoneura‐ len Grundsysteme schlagen Roth/ Strüber (2020) eine neurowissenschaftlich fundierte 202 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="204"?> Persönlichkeitstypologie vor, wovon die beiden Grundtypen - der dynamische und der stabile Persönlichkeitstyp - exemplarisch vorgestellt werden: Der dynamische Persönlichkeitstyp weist Veränderungsbereitschaft auf, die auf einer Dominanz des dopaminergen Belohnungserwartungssystems basiert. Dynamiker sind unternehmenslustig, wagemutig, offen für andere und veränderungsbereit. Abhängig von der Entwicklung des Bindungssystems und dem damit verbundenen Oxytocin‐ spiegel bilden sich zwei Untertypen heraus: Der Ehrgeizige entwickelt bei geringerer Ausprägung des Oxytocin-Bindungssystems Erfolgswillen, zudem sind Stärke, Unab‐ hängigkeit und materieller Besitz wichtige Faktoren für ihn. Der Innovative zeigt ein stärkeres Oxytocin-Bindungssystem, sodass Kreativität und Geselligkeit für diesen Typen im Vordergrund steht. Der stabile Persönlichkeitstyp weist eine geringe Veränderungsbereitschaft auf, die sich in Risikovermeidung und Impulshemmung spiegelt und mit einer geringeren Dopaminausschüttung verbunden ist. Sie werden als ordnungsliebend, organisiert, zuverlässig, aufrichtig und pünktlich beschreiben. Auch hier auf die Bindungssysteme eingehend, ergeben sich zwei Untertypen: Der Gewissenhafte zeigt ein geringes Bindungsbedürfnis, was in einem gering ausgeprägten Oxytocin-Bindungssystem begründet liegt, zudem ist das Streben nach Ordnung und korrekten Abläufen für diesen Typen charakteristisch. Der Feinfühlige hat ein aktivierteres Bindungssystem und ist dadurch sozialer und auch empathischer veranlagt. Wie Roth/ Strüber (2020) selbst einräumen, besteht in diesem Bereich noch einiger Forschungsbedarf. Die biologische Grundausstattung bei der Bildung von Persönlich‐ keit jedoch auch in dieser Form mitzubedenken, erscheint für eine ganzheitliche Sicht unerlässlich. Beachtenswert wäre auch eine Betrachtung der sprachlichen Tätigkeit bei diesen vorgeschlagenen Persönlichkeitstypen. Basierend auf neurowissenschaftlichen Überlegungen können Persönlichkeits‐ typen abgeleitet werden. Einen Vorschlag hierzu machen Roth/ Strüber (2020), indem sie zwei Grundtypen der Persönlichkeit - den dynamischen und den stabilen Persönlichkeitstyp - aufgrund des dopaminergen Systems unterscheiden. Erstellen Sie eine eigene Topografie der Areale für Sprache und Identität/ Persön‐ lichkeit. Welche gemeinsamen Areale gibt es? Wie verändert sich durch die neurowissenschaftlichen Aspekte Ihr Blick auf narrative Identität? Was meinen Sie: Ist die Identität von der Gehirnaktivität abhängig? Das heißt, kommt die Identität abhanden, wenn die Gehirnaktivität eingeschränkt ist, wie zum Beispiel bei einer Demenz oder im Koma? 10.3 Neurowissenschaftliche Aspekte der Identität 203 <?page no="205"?> ▢ Haben Sprache und Identität vergleichbare hirnanatomische Verankerungen? Die Areale für Sprache und Identität respektive Persönlichkeit stimmen zum Teil überein. Bei einer ganzheitlichen Sicht sind es vor allem die sprachlichen Areale, die auch an der Konstruktion der Persönlichkeit beteiligt sind, und das limbische System, das wechselwirkend sowohl mit der sprachlichen Tätigkeit als auch der Persönlichkeitsbildung interagiert. ▢ Welche Perspektiven ermöglichen neurowissenschaftliche Erkenntnisse auf die narrative Dar- und Herstellung von Ich-Identität? Die Ich-Identität basiert auf einem narrativen Konstrukt. Die neurowissen‐ schaftliche Forschung weist darauf hin, dass sich sprachrelevante Areale und Areale der Persönlichkeitsbildung überlappen. Fraglich bleibt nun, wie „wirk‐ lich“ die Narrationen sind oder ob sie vielmehr einer Fiktion gleichkommen, die bis zu einem gewissen Grad abgelöst vom Individuum sind. Es kommt die Auffassung Lacans in den Sinn, der auch davon ausgeht, dass das Spiegelbild die Illusion des eigenen Selbst ist und in diese Illusion Wünsche (auch sprach‐ lich) projiziert werden, wie wir sein wollen. Dass die Identität nicht nur aus Narrationen besteht, belegen Areale, die den emotionalen und den körperlichen Sitz der Identität stärker hervorheben. Dazu gehört auch die Bezeichnung des Temperaments, mit der grundsätzlichen Ausstattung eher neugierig oder abwägend auf die Umwelt zuzugehen. Die Ausdifferenzierung und Reflexion der Ich-Identität erfolgt auf alle Fälle über die kortikalen Strukturen, und hier handelt es sich um dieselben Strukturen, die für die Sprache und für die Entfaltung der Ich-Identität verantwortlich sind. Offen bleibt, wie sich die neurowissenschaftlich fundierten Persönlichkeitstypen sprachlich zeigen. Bear, Mark F.; Connors, Barry W.; Paradiso, Michael A. (2018). Neurowissenschaften. Berlin: Springer Spektrum. Roth, Gerhard, Heinz, Andreas & Walter, Henrik (2020). Psychoneurowissenschaften. Berlin, Heidelberg: Springer. Memento. Christopher Nolan (Regie, 2000), Vereinigte Staaten. Ein sehr spannender Kriminalfilm, der den Protagonisten mit einem Gedächtnisverlust einen Fall lösen lässt und die Frage aufwirft, welche Identität diese Hauptperson ausbildet. Alles steht Kopf. Pete Docter (Regie, 2015), Vereinigte Staaten. Ein bewegender Animati‐ onsfilm, der einen Einblick in Riley Andersens Leben gewährt ebenso wie in ihren Kopf und dort vor allem in ihre Emotionszentrale. 204 10 Neurowissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Identität <?page no="206"?> 11 Geschlecht, Sprache und Identität In diesem Kapitel geht es um das Geschlecht als ein zentrales Moment für die Identitätsbildung. Insgesamt handelt es sich beim Genderdiskurs nach wie vor um ein aktuelles Thema. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Was ist unter Geschlechtsidentität zu verstehen? ▢ Welche Aspekte sind bei der Entwicklung von Geschlechtsidentität zu bemer‐ ken? ▢ Welche Rolle kommt der sprachlichen Tätigkeit bei der Geschlechtsidentität zu? Der Blick auf Sprache, Geschlecht und Identität führt unweigerlich in unterschiedliche Disziplinen, wie Sozial- und Kulturwissenschaften, Psychologie, Biologie, Medizin und Philosophie, und damit zu verschiedenen Interpretationen von Geschlecht. Ent‐ sprechend der jeweiligen Forschungskonvention der einzelnen Disziplinen werden unterschiedliche Theorien und Methoden eingesetzt (Villa 2016). Um als Einstieg in diese Thematik einen Überblick zu geben, werden diese unterschiedlichen Facetten kurz skizziert: ▶ Biologische Ansätze konzentrieren sich auf das morphologische Geschlecht, das von Geburt an das soziale Erziehungsgeschlecht mitbestimmt und das sprachlich mit dem Vornamen gekennzeichnet wird (Nübling 2017). Das biologische Geschlecht wird in der Regel binär anhand der biologischen Merkmale in männlich/ weiblich unterteilt und mit Sexus bezeichnet, d. h., es werden Aspekte wie Genitalien, Hormone und Chromosomen thematisiert (Elsen 2020, Bischof-Köhler 2022). Es gibt jedoch auch Auffassungen, die eine binäre Unterteilung in männlich und weiblich als überholt ansehen (Voß 2019). In der Regel entsprechen sich das biologische Geschlecht und die Ausbildung einer subjektiven Geschlechtsidentität. ▶ Sozialisationstheoretische Ansätze nehmen geschlechtstypische Eigenschaften und Einstellungen sowie entsprechende Verhaltensweisen in den Blick, die unter dem Begriff Gender zusammengefasst sind (Trautner 2008). Es wird angenommen, dass diese geschlechtstypischen Eigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen von normativen, gesellschaftlichen Erwartungen an das jeweilige Geschlecht geprägt sind und über soziale Rollen erlernt werden. Mit Gender ist folglich das soziale Geschlecht gemeint, das über soziale Rollen konstruiert wird. Über diese Rollen erfolgt die Zuschreibung maskulin/ feminin, wobei es sich um eine kontinu‐ ierliche Größe handelt, sodass es beim sozialen Geschlecht verschiedenste Varian‐ ten maskuliner und femininer Rolleninterpretationen aufgrund unterschiedlicher <?page no="207"?> sozialer Rollenausstattungen gibt. Butler (1991) vertritt die extreme Position dieser Interpretation, dass Gender allein eine kognitive Konstruktion ist, unabhängig von der biologischen Ausstattung. Nur so ist eine komplette Selbstbefreiung des Menschen ihrer Meinung nach möglich (Ahrbeck/ Felder 2022). Villa (2016, 2019) wirkt dieser extremen Auffassung dahingehend entgegen, Natur und Kultur nicht voneinander zu trennen, sondern gerade diese Verschränkungen oder gar „wechselseitigen Verklammerungen“ von Natur und Kultur aufzuzeigen (Villa 2019, S.-31). ▶ In der Linguistik kommt bei der Betrachtung des Geschlechts im Deutschen das Genus hinzu, also das grammatische Geschlecht (Elsen 2020). Die Tatsache, dass zwischen Sexus und Genus kein unmittelbarer Zusammenhang bestehen muss, regte den Geschlechterdiskurs durchaus an. Denn diese Entkopplung von Sexus und Genus verwenden insbesondere Gegner der gendergerechten Sprache und behaupten, dass mit dem generischen Maskulinum beide Geschlechter gemeint sind. Der Geschlechterdiskurs findet sich vor allem in der feministischen Linguis‐ tik, in der über die Sprache über Frauen und von Frauen geforscht wird (Elsen 2020). ▶ In Queer Studies kommt der Aspekt des Begehrens bei der Betrachtung von Geschlecht dazu. Es wird thematisiert, welche sexuelle Orientierung eine Person hat und wie sich damit auch die sexuelle Identität des Individuums formt. Zu den Aspekten Sex und Gender kommt also die sexuelle Ausrichtung dazu und das Begehren wird als Bestandteil des Geschlechts interpretiert (Breger 2013), womit die Auseinandersetzung mit Homosexualität als Identitätsfacette mit Berücksich‐ tigung findet. ▶ In psychologischen Ansätzen wird das Erleben des eigenen Geschlechts betont, denn insbesondere durch das Erleben von Geschlechtsdifferenzierung bilden sich kognitive Geschlechtsschemata aus. Geschlechtsschemata ermöglichen wiederum die Geschlechtskategorisierung, die für die Ausbildung einer Geschlechtsidentität mit verantwortlich sind. Der Begriff Sex category bezeichnet die Wahrnehmung der Geschlechtsmarker einer Person und ermöglich dadurch die Kategorisierung Mann/ Frau (West/ Zimmermann 1987). Gilbert (2009) schlägt zwei weitere Katego‐ rien vor, die v. a. auch Transmenschen in den Blick nehmen. Es handelt sich um die Kategorien Gender display, die die Selbstpräsentation von Gender abbildet, und Chosen sex category, die das Selbstempfinden und damit die eigene Zuordnung zu einem Geschlecht ermöglicht. 206 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="208"?> Die Perspektiven auf Geschlecht werden in Abbildung 29 zusammengefasst. Abbildung 29: Perspektiven auf Geschlecht Der Begriff Geschlecht kann also unterschiedlich interpretiert werden. Wenn aus den unterschiedlichen Ansätzen heraus argumentiert wird, ist es daher nicht ver‐ wunderlich, dass es auch zu Missverständnissen kommen kann. Folglich stoßen die aufgezeigten Perspektiven auf Geschlecht auch unterschiedliche Diskussionen an. Ein Diskussionspunkt ist beispielsweise die Gegenüberstellung von biologischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen (Ponseti/ Stirn 2019, 2020), sodass die Natur der Kultur gegenübergestellt und in der Diskussion entweder der biologische oder der soziale Aspekt betont wird (s. Infobox). Kontroverse biologisches vs. soziales Geschlecht Die Kontroverse zwischen biologischem und sozialem Geschlecht hat ihren Ursprung in der ersten und zweiten Frauenbewegung. Zunächst wurde der Fokus auf das biologische Geschlecht als Unterscheidungsmerkmal gelegt und als Ursache von Ungleichheit zwischen Männern und Frauen angenommen. Aus fe‐ ministischer Perspektive war es folglich zwingend, die Biologie nicht als Schicksal anzunehmen, sondern aktiv in die Rollengestaltung einzugreifen, wodurch es zu 11 Geschlecht, Sprache und Identität 207 <?page no="209"?> der Unterscheidung zwischen Sex und Gender kam (Villa 2019). Ein kritischer Punkt ist, dass die Unterscheidung von Sex und Gender häufig mit einer Trennung von Sex und Gender gleichgesetzt wird. Eine Fokussierung des einen oder anderen Aspekts in der Forschung ist dadurch nicht ausgeschlossen, kann jedoch als reduktionistisch aufgefasst werden. Aktuell vertreten Ponseti/ Stirn (2019) einen biologischen Ansatz, in dem sie dezidiert von zwei Geschlechtern ausgehen, die v. a. zu Fortpflanzungszwecken benötigt und im Tierreich (Säugetiere) auch nicht bestritten werden. Villa (2019, S. 31) lehnt diese strikte Entgegensetzung von Sex als biologischem Geschlecht (Natur) und Gender als sozialem Geschlecht (Kultur) ab und schreibt dazu: „Auch ‚Sex‘ ist ‚Gender‘ und ‚Gender‘ beinhaltet ‚Sex‘ […] - ‚Sex‘ und ‚Gender‘ sind ko-konstitutiv.“ Auszugehen ist folglich von einer „wechselseitigen Verklammerung“ beider Aspekte (op. cit., S. 31). Ahrbeck/ Felder (2022) vertreten ebenfalls die Meinung, dass die biologische Komponente nicht zu überwinden, sondern gegeben ist. Gender kann ihrer Auffassung nach nicht als ein rein idealistisches, kognitives Konstrukt betrachtet werden (wie bei Butler 1991), sondern ist an einen geschlechtlichen Körper gebunden. Diese psychophysische Auffassung von Geschlecht ist mit der kulturhistorischen Tradition vereinbar, genau danach zu fragen, wie sich die biologische Disposition zur soziokulturellen Dimension verhält und wie vor allem zwischen diesen beiden Linien vermittelt wird. Insgesamt gehen die Forschungsbestrebungen in die Richtung, die verschiedenen Auffassungen zu verknüpfen und zu einer umfassenden und integrierenden Sicht auf Geschlecht zu gelangen (z. B. Bischof-Köhler 2022, Villa 2019 und Trautner 2008). Dieses Interesse wird im Folgenden aufgegriffen. Zunächst wird auf Geschlechtsstereo‐ type eingegangen und daran anschließend die Entwicklung von Geschlechtsidentität herausgearbeitet. Dann wird anhand von Transidentität die psychologische Dimension des Erlebens von Geschlecht fokussiert. Abschließend wird die Sprache - als Scharnier zwischen innen und außen - in den Blick genommen und es wird betrachtet, inwiefern sprachliche Markierungen die Wahrnehmung und Zuschreibung von Geschlecht verändern. 11.1 Geschlechtsstereotype Geschlechtsstereotype spielen bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität eine wich‐ tige Rolle und sie haben ein Leben lang einen prägenden Einfluss auf die Ausbildung der Ich-Identität. Geschlechtsidentität entwickelt sich einerseits aus der Beziehung zum eigenen Körper und seinem Aussehen und andererseits durch gesellschaftliche Geschlechterrollen und -normen, aus denen sich Geschlechterstereotype ableiten (Russell/ Abrams 2019). Studien aus Eltern-Kind-Interaktionen zeigen, dass Eltern mit Söhnen anders interagieren als mit Töchtern. Jungen werden eher zu dominantem 208 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="210"?> Verhalten aufgefordert, während von Mädchen kooperatives Verhalten erwartet wird (Lohaus/ Vierhaus 2019). Kinder sind somit von Beginn an einem gewissen gendering ausgesetzt, da sie von Geburt an als Jungen oder Mädchen behandelt werden (Hee‐ nen-Wolf 2021). Das Gendering entspricht den Geschlechtsstereotypen der jeweiligen Kultur und setzt ein, bevor sich Kinder selbst einem Geschlecht zugehörig fühlen (Trautner 2008). Geschlechterrollen und das geschlechterstereotypische Verhalten werden auch durch verbale und nonverbale Kommunikation vermittelt und verstärkt (Russell/ Abrams 2019), sodass der sprachlichen Tätigkeit eine prägende Funktion in der Herausbildung der Geschlechtsidentität zukommt. Der prägende Einfluss von Geschlechtsstereotypen auf die Herausbildung der Geschlechtsidentität ist von Geburt an gegeben. Überlegen Sie, welche Genderstereotype Sie bislang ausgebildet haben. Stereotype verallgemeinern und vereinfachen die Sichtweise auf die Welt, indem die Merkmale eines Stereotyps allen Individuen einer Gruppe zugeschrieben werden. Sie werden meist automatisch aufgrund von bereits erworbenem Wissen aktiviert und dafür benutzt, Personen einzuschätzen. Beispielsweise das Stereotyp „Deutsche sind pünktlich“ überträgt das Merkmal Pünktlichkeit auf die gesamte Population der Deut‐ schen. Zu diesen Merkmalen oder Attributen können Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen zählen (Hannover/ Wolter 2019), aber auch die äußere Erscheinung, das Alter und Geschlecht, die sexuelle Orientierung, die Ethnie und Religion. Die gesammelten Merkmale umfassen Wissen über soziale Kategorien und vor allem Erwartungen an diese Kategorien (Pendry 2014, Heringer 2017). Es genügen wenige (sprachliche) Merkmale, um einen Stereotyp einer sozialen Kategorie zu aktivieren. Ein Stereotyp ist folglich eine kognitive Struktur, die Merkmale der Einstellungen gegen‐ über Personen oder Gruppen zusammenfasst (Stürmer/ Siem 2013, Hannover/ Wolter 2019). Stereotype sind damit Teil der Wissensstrukturen und werden in der Regel sprachlich bezeichnet (Elsen 2020), sodass in der Kommunikation stets auch Stereotype gebildet und ausgehandelt werden. Beispielsweise finden Ingroup-Outgroup-Diskus‐ sionen über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auch sprachlich und über sprachliche Merkmale statt. Werden Stereotype mit einem Affekt versehen (in der Regel negativ), dann kann sich ein Stereotyp auch zu einem Vorurteil wandeln (Stürmer/ Siem 2013). Stereotype sind kognitive Muster, die die Sicht auf die Welt vereinfachen und verallgemeinern, indem Merkmale von Einstellungen gegenüber Individuen oder Gruppen zusammengefasst werden. 11.1 Geschlechtsstereotype 209 <?page no="211"?> Reflektieren Sie Ihre Stereotype zu einer Berufsgruppe, einer Ethnie und einer Religion. Überlegen Sie, wie diese Stereotype zustande gekommen sind. Sind Sie überzeugt, dass diese Stereotype jeweils der Realität entsprechen? Geschlechtsstereotype gehören folglich auch zu den sozial geteilten Stereotypen, da ihnen geschlechtsspezifische Attribute zugeordnet werden. Referiert wird dabei auf die Kategorien Männer und Frauen (als Geschlechtszugehörigkeit) und den sozialen Status, der Männern und Frauen zugewiesen wird (Pendry 2014). Geschlechtsstereotype beinhalten zudem Vorgaben für Verhaltensweisen von Männern und Frauen, die (normativ) als männlich oder weiblich gelten (Hannover/ Wolter 2019). In Bezug auf die Ausprägung von Geschlechtsstereotypen schlagen Fiske et al. (2002) ein Modell mit den zwei unabhängigen Dimensionen Kompetenz und Wärme vor. Je nachdem, wie die Dimensionen ausgeprägt sind, resultieren daraus verschiedene Cluster von Stereotypen. Das Cluster, das hohe Werte in der Dimension Wärme und niedrige Werte in der Dimension Kompetenz zeigt, wird inhaltlich als paternalistisch bezeichnet. Von den in dieser Studie beurteilten weiblichen Stereotypen wird die Hausfrau dem paternalistischen Cluster zugeordnet. Wird die Dimension Kompetenz dagegen hoch und die Dimension Wärme gering eingeschätzt, dann werden in diesem Cluster Stereotype zusammengefasst, die einen hohen Status innehaben, bei dem sich jedoch auch neidische Bewertungen mit einmischen; beim weiblichen Stereotyp bleibend, ist die Karrierefrau in diesem Cluster verortet. Implizit ist in dieser Studie enthalten, dass Geschlechtsstereotype eine kulturell tradierte Vorstellung und auch Erwartung beinhalten, wie Männer und Frauen zu sein haben (Asendorpf 2019). Einige Beispiele von Geschlechtsstereotypen aus Geschlechtsrolleninventaren zu‐ sammengefasst zeichnen folgendes Bild (Spence/ Helmreich/ Stapp 1975, Taylor 2003, Gottburgsen 2004): ▶ Männern wird stereotyp mehr Handlungskompetenz zugeschrieben und Instru‐ mentalität im Sinne des problemlösenden Einreichens von Zielen. Damit verbun‐ den ist ein selbstsicherer und selbstbehauptender Stil, wozu Attribute gehören wie dominant, unabhängig, intelligent, rational, durchsetzungsfähig, analytisch, stark, mutig, ehrgeizig, aktiv, wettbewerbsorientiert etc. ▶ Frauen sind stereotyp mehr auf die Gemeinschaft bezogen, der sie sich einfühlend widmen, wodurch ein gefühlsbetonterer und verständnisvollerer Stil resultiert. Sie erhalten stereotype Attribute wie unterwürfig, abhängig, unintelligent, emotional, abergläubisch, schwach, schüchtern, passiv, kooperativ, sensibel, attraktiv durch körperliches Aussehen etc. Geschlechtsstereotype beinhalten als kognitive Schemata also eine Vielzahl von In‐ formationen, wie das Aussehen der Person (Physiognomie, Kleidung), ihr Verhalten (Freizeit, Beruf) und ihr sprachlicher Ausdruck. Bei der Wahrnehmung einer Person werden folglich (unbewusst) Aspekte ausgewählt und automatisch in das eigene Welt‐ 210 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="212"?> wissen samt den Erwartungen integriert. Wodurch ein Geschlechtsstereotyp aktiviert wird, d. h., ob es die biologischen Geschlechtsunterschiede sind oder ob es auch andere Merkmale und Verhaltensweisen sein können, bleibt noch offen (Hannover/ Wolter 2019). Wahrnehmung und Zuweisung stereotyper Merkmale beeinflussen in jedem Fall (unbewusst) die Interaktion zwischen Individuen von Anfang an. Damit werden durch Geschlechtsstereotype die Geschlechtsunterschiede in den Vordergrund gerückt, sodass es notwendig ist, Stereotype zu reflektieren, um gleichberechtigten Umgang zwischen Männern und Frauen zu ermöglichen (Hannover/ Wolter 2019). Geschlechtsstereotype beinhalten automatische Zuweisung von geschlechts‐ spezifischen Merkmalen, die es im Sinne einer Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu reflektieren gilt. 11.2 Geschlechtsidentität Im Folgenden wird der Begriff Geschlechtsidentität anhand seiner Entwicklung her‐ ausgearbeitet. Als Ausgangspunkt findet sich die allgemeine Auffassung, dass das biologische männliche oder weibliche Geschlecht von Geburt an festgelegt ist (Trautner 2008). Es wird folglich angenommen, dass Individuen fertig als Mädchen oder Jungen zur Welt kommen, sodass sich das Geschlecht als Sexus von Geburt an ablesen lässt (Trautner 2008, Ponseti/ Stirn 2019). Dies wird unmittelbar nach der Geburt auch sprachlich gekennzeichnet mit den Äußerungen Es ist ein Mädchen! oder Es ist ein Junge! Die Binarität dieser Geschlechtsauffassung spiegelt die heteronormative Gesellschaft wider, die auch heterosexuelles Verhalten als Norm betrachtet. So bleibt die gesell‐ schaftliche Klassifizierung in der Regel in diesen heteronormativen Wahrnehmungen verhaftet, sodass auch Individuen, die sich selbst als divers bezeichnen, äußerlich als Männer oder Frauen wahrgenommen werden. Als Ausgangspunkt der Geschlechtsidentität kann das biologische Geschlecht betrachtet werden, das einem Kind von Geburt an zugeschrieben wird. Gendering führt dazu, dass bereits Säuglinge entsprechend der kulturellen Erwartungen als Jungen oder Mädchen behandelt werden (Heenen-Wolf 2021, Trautner 2008). Das heißt, zu der biologischen Disposition, männlich oder weiblich zu sein, kommt vom Anfang der Geschlechtsidentitätsentwicklung an dazu, dass die Geschlechterbe‐ stimmung gesellschaftlich-kulturell geprägt wird. Die Entwicklung von Gender, im Rahmen der kulturellen Rollenerwartungen an Männlichkeit und Weiblichkeit, setzt 11.2 Geschlechtsidentität 211 <?page no="213"?> damit bereits ein, bevor die Kinder ihr eigenes Geschlecht identifizieren können (Becker-Schmidt 2018). Die sozialen Konstruktionen von Maskulinität und Femininität ergeben ein Kontinuum (Trautner 2008), beispielsweise für Mädchen oder Frauen gibt es viele Facetten, über Kleidung Weiblichkeit auszudrücken, sodass ein Kontinuum von Schmuck und Rock über neutrale Kleidung zu männertypischer Kleidung vorstellbar ist. Solche Kontinua können in verschiedensten sozialen Verhaltensweisen beschrie‐ ben werden, sodass der Grad, Weiblichkeit oder Männlichkeit auszuleben, dann zur Bildung der Genderidentität beiträgt. Die Ausprägungen, wie sich maskuline oder feminine Verhaltensweisen herausbilden, sind nicht nur zwischen den Geschlechtern unterschiedlich, sondern auch innerhalb einer Geschlechtergruppe. Experimentalpsychologische Untersuchungsmethoden, wie Habituierungsexperi‐ mente oder die Blickpräferenzmethode in der Säuglingsforschung, haben gezeigt, dass bereits Säuglinge mit 3-4 Monaten weibliche und männliche Gesichter unterscheiden können, mit 6 Monaten kommt eine Unterscheidung von männlichen und weiblichen Stimmen dazu. Mit 10 Monaten beginnen Säuglinge, erste primitive Stereotype zu bilden, indem geschlechtsspezifische Objekte, wie zum Beispiel ein Schal oder ein Hammer, Gesichtern geschlechtstypisch zugeordnet werden (Martin/ Ruble 2010). Es zeigt sich in dieser sehr frühen Phase schon die Herausbildung erster Stereotype, die sich in der gesamten Entwicklung immer weiter ausdifferenziert. In den ersten 1½ Lebensjahren wird dem Säugling das biologische Geschlecht - männlich oder weiblich - bei der Geburt zugeschrieben und durch Gendering werden von Anfang an maskuline oder feminine Rollenerwartungen vermittelt, die die Ausbildung der Geschlechtsidentität prägen. Mit dem Kleinkindalter, ab der Mitte des 2. Lebensjahres, beginnt die Sprache, die Psyche mitzukonstruieren, und nimmt eine vermittelnde Funktion zwischen dem biologischen Organismus und der (kulturellen) Außenwelt ein (Vygotskij 1934/ 2002, Bachtin 1979). Ein Entwicklungsschub entsteht, weil die Entwicklung von Sprache und Kognition zusammenfällt, sodass das Sprechen intellektuell wird und das Denken sprachlich. Kinder legen in diesem Alter sprachlich rapide an Wortschatz zu und auch erste Selbstbezüge entstehen, die mit der Selbsterkenntnis zusammenhängen. Damit bekommt auch die Ausbildung der Geschlechtsidentität eine neue Dimension. Durch den Wortschatzspurt treten zwischen 18 und 24 Monaten bei den meisten Kindern auch erste Geschlechtsbezeichnungen auf und es werden auch Geschlechter‐ gruppen benannt (Zosuls et al. 2009). Zwischen 24 und 30 Monaten wissen Kinder, zu welcher Geschlechtsgruppe sie selbst gehören (Martin/ Ruble 2010), d. h., es findet eine Identifikation mit einer Geschlechtergruppe (männlich oder weiblich) statt, sodass sich das Kind als Junge oder Mädchen identifiziert. Insbesondere Jungen zeigen mit 24 Monaten eine Blickpräferenz für gleichgeschlechtliche Kinder (Lohaus/ Vierhaus 212 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="214"?> 2019). Außerdem differenzieren Kinder Geschlechtsstereotype weiterhin aus, sodass im dritten Lebensjahr vor allem geschlechtertypische Relationen erkannt werden, beispielsweise werden einem Mann Hemd und Krawatte zugeordnet, einer Frau nicht (Martin/ Ruble 2010). Ebenso werden geschlechtstypische Verhaltensweisen und Rollen erkannt und zugewiesen, wofür Namen und äußerliche Merkmale wie Kleidung verwendet werden (Elsen 2020). Es findet folglich eine weitere Ausdifferenzierung der Geschlechtsidentität im Sinne einer sozialen Rollenidentifizierung statt, die auch sprachlich erfolgt. Von 1½ bis 3 Jahren führt insbesondere der Wortschatzspurt dazu, dass Kategorien erkannt und benannt werden. Kinder identifizieren in diesem Alter ihr eigenes Geschlecht und bilden über Rollenidentifizierungen weitere Geschlechtsstereo‐ type aus. Die Wahrnehmung der Geschlechtskonstanz stellt ab ca. 3 Jahren einen weiteren Schritt in der Herausbildung der Geschlechtsidentität dar. Das Bewusstsein, dass das Geschlecht zeitlich unveränderbar ist, setzt eine kognitive Konstruktionsleistung in Gang, die das mentale Konzept über das Geschlecht weiter ausdifferenziert (Kohlberg 1966). Kinder beginnen nun, sich entsprechend der biologischen Geschlechtszuord‐ nung zu verhalten, und integrieren erste Merkmale von Geschlechtsstereotypen in das eigene Selbstkonzept. Außerdem erleben Kinder nun, dass ihre Geschlechtszuge‐ hörigkeit auch durch Verhalten nicht verändert werden kann (Rohrmann 2019). Ab 4 Jahren beginnen Kinder, die soziale Bedeutung sprachlicher Stile zu erkennen, und es bilden sich auch hier rollentypische sprachliche Verhaltensweisen heraus (Elsen 2020). Dazu kommen im fünften Lebensjahr Schlussfolgerungen, dass lange Haare und ein Kleid auf ein Mädchen hinweisen und umgekehrt, dass einem Mädchen lange Haare und ein Kleid zugeschrieben werden (Elsen 2020). Mit diesen Schlussfolgerungen nimmt ab 5 Jahren die Zuverlässigkeit zu, mit welcher Kinder das Geschlecht der anderen bestimmen können (Martin/ Ruble 2010). Die in diesem Alter ausgebildeten Geschlechtsstereotype sind noch recht einheitlich: Mädchen werden als nett, mit Puppen spielend und Kleider tragend gesehen, Jungen haben kurze Haare, sind aktiv im Spiel und recht grob (Miller et al. 2009, zit. aus Martin/ Ruble 2010, S. 356). Diese einfachen Geschlechtsstereotype sind durch vertikale Assoziationen zwischen Kategorienbezeichnungen charakterisiert. Jungen oder Mädchen werden bestimmte Eigenschaften zugeordnet, wie zum Beispiel: Jungen mögen Lastwagen und Mädchen mögen Puppen. Horizontale Inferenzen dagegen werden noch nicht gebildet. Also wenn zum Beispiel neben den Lastwagen auch Flugzeuge als männlich assoziiert werden, dann können Kinder in diesem Alter noch nicht vorhersagen, dass Jungen auch Flugzeuge mögen. Die bis dahin entwickelten Geschlechtsstereotype sind sehr rigide. Kinder entwickeln Überzeugungen, dass es Gegenstände oder Aktivitäten gibt, 11.2 Geschlechtsidentität 213 <?page no="215"?> die besser zu einem der Geschlechter passen (Trautner 2008, Trautner et al. 2005). Im sechsten Lebensjahr haben Kinder ein Grundverständnis für Geschlechtsunterschiede und Geschlechtskonstanz erworben (Rohrmann 2019). Sie bilden auf dieser Grundlage die eigene Geschlechtskonstanz und eine basale Geschlechtsidentität heraus. Das eigene Geschlecht wird nun als beständig und unabhängig von äußeren Einflüssen erlebt (Kohlberg 1966, Ruble et al. 2007, Elsen 2020). In diesem Altersabschnitt beginnen sich auch geschlechtshomogene Gruppen zu bilden und die Peergroup gewinnt damit an Bedeutung. Zwischen 3 und 7 Jahren wird Geschlechtskonstanz wahrgenommen und Geschlechtsstereotype werden Teil der Selbstkonzepte des Kindes. Außerdem wird die Unveränderlichkeit von Geschlecht erlebt und es bildet sich eine basale Geschlechtsidentität. Mit Beginn des Schulalters ist das volle Verständnis für die Geschlechtskonstanz gegeben. Es kommt zu einer sicheren Unterscheidung zwischen den Geschlechtern aufgrund von äußeren Erscheinungen auf genitaler Grundlage (Trautner 2008). In den Grundschuljahren verfestigen sich Geschlechtsstereotype (Hannover/ Wolter 2019), in‐ dem Sportarten, Berufe und Erwachsenenrollen miteinbezogen werden. Dazu kommt, dass es Kindern dann möglich ist, auch horizontale Inferenzen zu bilden. Wenn also geschlechtsunspezifisch von einem Kind gesprochen wird, das gerne mit Lastwagen spielt, dann treffen Kinder in diesem Altersbereich die Schlussfolgerung, dass dieses Kind auch gerne mit Flugzeugen spielt. Außerdem entwickelt sich das Wissen über geschlechtstypische Persönlichkeitseigenschaften, sodass erkannt wird, dass es nicht nur Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, sondern auch innerhalb eines Geschlechts geschlechtstypische Merkmale variieren können (Trautner 2008). Dadurch beginnen die Geschlechtsstereotype, auch ein wenig flexibler zu werden. In der Altersspanne von 7 bis 12 Jahren ist das Verständnis für Geschlechtskon‐ stanz herausgebildet. Stereotype werden weiter differenziert und abstrahiert. Die Herausbildung der Geschlechtsidentität wird in der Adoleszenz weiter intensiviert, indem vor allem über die Peergroup die Anpassung an maskuline oder feminine Verhaltensweisen verstärkt wird und sich somit auch die Anteile der persönlichen Geschlechtsidentität etablieren (King/ Benzel 2019, Trautner 2008). Dieser Aspekt der Verstärkung von Geschlechtsidentität wird in der Gender-Intensification-Hypothese von Hill/ Lynch (1983) betont und durch weitere Studien unterstützt (Klaczynski/ Felm‐ ban/ Kole 2020). In der Regel bildet sich die Geschlechtsidentität in Kongruenz mit 214 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="216"?> dem biologischen Geschlecht heraus. Bei einer Inkongruenz, also dem Geschlecht anzugehören, das nicht dem biologischen Geschlecht entspricht, wird von Geschlechts‐ dysphorie (DSM-5) bzw. Geschlechtsinkongruenz (ICD-11) gesprochen, in diesem Fall fühlen sich Individuen im geschlechtlich falschen Körper geboren (s. Kapitel 11.3). Der Einfluss der Massenmedien spielt in diesem Alter eine wichtige Rolle, da hier in beson‐ derer Weise Geschlechtsstereotype repräsentiert werden. Insbesondere das feminine Stereotyp vermittelt durch unrealistische Erscheinungen des weiblichen Körpers in vielen Fällen ein unerreichbares Bild, sodass inzwischen als Folge dieser überzogenen und unrealistischen Darstellungen pathologische Syndrome wie Depressionen oder Essstörungen bei jungen Frauen in Zusammenhang gebracht werden (Elsen 2020). So kommt Elsen zu dem Schluss, dass „Medienkonsum und Stereotypdenken korrelieren“ (S.-184). In der Adoleszenz intensiviert sich die maskuline oder feminine Geschlechts‐ identität. Wesentlich ist das soziale Umfeld, das die (zumeist unbewussten) Erwartungen an Genderstereotype auf die Jugendlichen projiziert und damit die Konstruktion von Geschlechtsidentität maßgeblich beeinflusst. Geschlechtsidentität bildet sich aus der Verknüpfung von Anlage- und Umweltfaktoren heraus (Rohrmann 2019). Projiziert auf das Grundmodell sprachlicher Tätigkeit der kulturhistorischen Psycholinguistik zeigt die Geschlechtsidentität biologische, sozio‐ logische und psychologische Aspekte (Abbildung 30). Die biologische Linie bezieht das morphologische Geschlecht und die kulturelle Linie die entsprechenden sozialen Rol‐ lenerwartungen mit ein. Beide Linien bilden die Ausgangspunkte der Aushandlung und Konstruktion einer Geschlechtsidentität im Sinne eines psychophysischen Konstrukts. Die Aushandlung entspricht der psychologischen Dimension des Erlebens, sie stellt das Scharnier zwischen Innenwelt und Außenwelt dar und repräsentiert schlussendlich die gefühlte Identifikation mit dem eigenen Geschlecht, die auch körperlich repräsentiert ist. Die Relevanz der gefühlten Geschlechtsidentität fassen Russell/ Abrams (2019) folgendermaßen zusammen: Gender identity refers to a person’s fundamental internal sense of self as female, male, some combination or both female and male, neither female nor male, or something else altogether. In contrast, a person’s sex refers to a person’s biological and physical characteristics such external genitalia, internal reproductive structures, and sex chromosomes and is typically assigned at birth. Cisgender identity refers to a gender identity that is congruent with assigned sex, whereas trans or transgender identity refers to a gender identity different than assigned sex at birth. (Russell/ Abrams 2019, S.-1) 11.2 Geschlechtsidentität 215 <?page no="217"?> Mit der Aushandlung der gefühlten Geschlechtsidentität eng verknüpft ist die sprach‐ liche Tätigkeit, weshalb die sprachliche Perspektive natürlich inhärent stets eine wichtige Rolle in der Betrachtung spielt. Abbildung 30: Zusammenhang von biologischen, psychologischen und soziologischen Aspekten bei der Geschlechtsidentität Zusammenfassend finden sich in der Gesamtbetrachtung des Komplexes Geschlechts‐ identität also gleichermaßen der biologische Geschlechtsbegriff und der sozialkonstruktivistische Genderbegriff wieder. Beide sind je auf einer Dimension angelegt: männlich - weiblich und maskulin - feminin, sodass sich in der Aushandlung sehr viele unterschiedliche Facetten der Geschlechtsidentität ausbilden können, die im Sinne einer Identitätsbewegung auch in diesem Bereich zu einer Kontinuität und Kohärenz führen. Die Bezeichnung Geschlechtsidentität bezieht sich auf das psychologische Ge‐ schlecht mit der biologischen und soziologischen Aushandlung der Dimensionen männlich - weiblich und maskulin - feminin. 11.3 Transidentität Zu einer Inkongruenz bei der Ausbildung von Geschlechtsidentität beim Zusammen‐ wirken der biologischen, sozialen und psychologischen Faktoren kommt es bei Transidentität. Bei Transidentität entspricht das biologische Geschlecht nicht dem psycho‐ logisch wahrgenommenen Geschlecht des Individuums (Rauchfleisch 2017, Egarter 2020, Korte 2022). Wesentlich ist die Betonung der Empfindung, einem bestimmten Geschlecht anzugehören (Rauchfleisch 2017). Transidentität kann demzufolge als nonkonformes Geschlechtsempfinden aufgefasst werden, das eine Variante der Iden‐ titätsentwicklung darstellt (Güldenring 2013). Transidentität stellt inzwischen einen eigenen Forschungsbereich dar (Ahrbeck/ Felder 2022) (s. Infobox). 216 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="218"?> Transidentität & Queer Studies Mit dem Begriff Transidentität werden die Begriffe Transgender und Transsexua‐ lität abgelöst. Grund dafür ist, dass Transgender ein sehr allgemein gefasster Begriff ist, der vor allem soziale Praktiken betont, die der Geschlechtskonstruk‐ tion dienen, und dass Transsexualität vor allem die sexuelle Thematik in den Vordergrund rückt. Insbesondere bei Kindern wären beide Begriffe - Transgender und Transsexualität - irreführend, da mit Transgender impliziert wird, dass Rol‐ lenbilder bereits reflektiert werden und mit Transsexualität bereits eine sexuelle Orientierung gegeben ist. Der Begriff Transidentität hat sich durchgesetzt, wenn es „nicht um die Sexualität und ihre Ausrichtung geht, sondern um die Frage der Identität“ (Rauchfleisch 2016, S.-26). Gemeint ist die Geschlechtsidentität. Sexuelle Orientierung ist ein Thema von Queer Studies. Dabei wird das Erleben, ein Mann oder eine Frau zu sein, in der Regel als kongruent beschrieben. Zu Sexus und Gender kommt in den Queer Studies also das Begehren und damit die sexuelle Ausrichtung zur Geschlechtsidentität dazu, d. h., die Sexualität wird als Bestandteil des Geschlechts reflektiert (Breger 2013). Nach Hark (2013, S. 449) „lenken die Queer Studies die theoretische Aufmerksamkeit darauf, dass die […] Kohärenz von sex, gender, Begehren und Identität sozial gestiftet ist.“ Sedgwick (1993) unterscheidet unter Einbezug der sexuellen Orientierung unendliche Mög‐ lichkeiten an Identitätsfacetten. Im Ausdruck dieser Identitätsfacetten wird auch der sprachliche Ausdruck betrachtet, da angenommen wird, dass GLBs (gay, lesbian, bisexual) andere Sprechstile verwenden als heterosexuelle Individuen und dadurch die sexuelle Orientierung wahrgenommen werden kann (Munson et al. 2006). In Queer Studies geht es folglich darum, die Vielzahl geschlechtlicher Iden‐ titäten, Ausdrucksweisen und Lebensformen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität zu beschreiben, d. h. jenseits einer moralisierenden Norm (Hutfless 2016). Ein zentraler Begriff ist die Heteronormativität, die es zu brechen gilt, d. h., Heterosexualität als gesellschaftliche Norm und die damit verbundenen Machtkonfigurationen werden infrage gestellt (Hark 2013). Im Begriff Transidentität spiegelt sich die Bemühung um Entpathologisierung dieses Phänomens wider, die auch in der Veränderung der Terminologie im Laufe der Zeit nachgezeichnet werden kann (Rauchfleisch 2016): ▶ 1975 wird die Diagnose Transsexualität in der ICD-9 aufgenommen und den Sexuellen Verhaltensabweichungen und Störungen zugeordnet. Mit dem Begriff Transsexualität wird die medizinische Angleichung des Körpers in den Vorder‐ grund gerückt und mit dem Begriff Sexualität das Begehren angesprochen. ▶ 1990 erfolgt im ICD-10 eine Überarbeitung und Transsexualismus wird als Störung der Geschlechtsidentität bezeichnet und den Persönlichkeits- und Verhaltensstö‐ rungen zugeordnet. ▶ 2022 erscheint in der erneuten Überarbeitung des ICD-11 der aktuelle Begriff Geschlechtsinkongruenz und die Zuordnung zu einer ebenfalls neuen Kategorie, 11.3 Transidentität 217 <?page no="219"?> die mit Probleme/ Zustände im Bereich sexuelle Gesundheit benannt wurde. Unter‐ schieden wird zwischen der Geschlechtsinkongruenz im Kindesalter sowie in der Adoleszenz und bei Erwachsenen. Das bedeutet, dass die Geschlechtsinkongruenz gemäß der aktualisierten Nomenklatur nicht mehr zu den psychischen Störungen zählt, sondern in den Bereich sexuelle Gesundheit fällt (Haid-Stecher et al. 2020). Außerdem bezieht sich die Geschlechtsin‐ kongruenz nicht nur auf das Modell der Zweigeschlechtlichkeit, sondern berücksichtigt auch nicht binäre Individuen. Bei Individuen mit Transidentität besteht eine Inkongruenz zwischen dem bio‐ logischen Geschlecht und der empfundenen Geschlechtsidentität, d. h., das vom Individuum gefühlte Geschlecht entspricht nicht dem biologischen Geschlecht. Es handelt sich um ein nonkonformes Geschlechtsempfinden. Im Sinne der Identitätsarbeit kann bei der Ausbildung der Geschlechtsidentität bei Transidentität ein Transitionsprozess beobachtet werden. Dieser Transitionsprozess ist durch Phasen gekennzeichnet, in denen versucht wird, die empfundene Inkongru‐ enz aufzulösen, indem die Diskrepanz zwischen morphologischem und erlebtem Ge‐ schlecht angepasst wird. Hirschauer (1993) bezeichnet diesen Übergang als einmalige Passage von einem Geschlecht zum anderen. Im neuen Geschlecht angekommen, bildet sich die Geschlechtszugehörigkeit in einer neuen Geschlechtsidentität aus. Den Ausschlag, sich einem Geschlecht als zugehörig zu fühlen, bildet in jedem Fall die Selbstidentifikation. Lindemann (2011) beschreibt diesen Transitionsprozess, d. h. den Übergang zu der neuen Geschlechtsidentität, folgendermaßen: ▶ In der ersten Phase geht es um die Wahrnehmung und Selbstvergewisserung, das andere Geschlecht zu sein. Dafür ist eine Destabilisierung des alten Geschlecht-Ich und seine Dekonstruktion nötig, damit sich das neue Geschlecht-Ich als Wunsch deutlicher zeigt. Der Wunsch wird unterstützt, indem die Empfindung des Nicht-Seins des neuen Geschlechts in ein Noch-Nicht-Sein umgewandelt wird und dadurch erreichbarer erscheint. In der Regel orientiert sich der Wunsch der Andersgeschlechtlichkeit an der gesellschaftlich tradierten geschlechtlichen Dichotomisierung, d. h., es wird kein drittes Geschlecht angestrebt, sondern der Wunsch bleibt in der zweigeschlechtlichen Ordnung, sodass es in der Regel um einen Transmann und eine Transfrau geht (Ayaß 2008). ▶ Die zweite Phase umfasst die Realisierung dieser Selbsterkenntnis aus der ersten Phase und enthält die Schritte der Umsetzung. Dazu gehören die sprachliche Mitteilung und Sozialisierung des neuen Geschlechts im sozialen Umfeld sowie die Auseinandersetzung mit der institutionell erforderlichen Bestätigung durch Begutachtung. Nach dieser ersten sprachlichen Aushandlung mit dem sozialen 218 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="220"?> Umfeld kann es dann auch auf körperlicher Ebene zu Angleichungen an das neue Geschlecht kommen. Hirschauer (1993) bemerkt zu diesem Transitionsprozess, dass es für Transfrauen we‐ sentlich schwerer ist, durch diesen Transitionsprozess zu kommen als für Transmänner. Eine Transfrau empfindet sich zwar selbst als Frau in einem männlichen Körper, jedoch steigt die Akzeptanz erst durch eine geschlechtsangleichende Operation, während bei Transmännern die geschlechtsangleichende Operation nicht im Vordergrund steht (Schmidt-Jüngst 2020). Es blickt hier ein wesentlich höherer Anspruch an das Frau-Sein durch. Bei Transidentität ist die Erarbeitung der Geschlechtsidentität durch einen Transitionsprozess gekennzeichnet, welcher aus den Phasen der Selbsterkenntnis der eigenen Geschlechtsempfindung und der Umsetzung des neuen Geschlecht-Ich besteht. Die Anpassung sprachliche Marker sind für den Transitionsprozess ebenfalls wesent‐ lich. Bei Transidentität kommt dem Vornamen und insbesondere dem Namenwechsel eine besondere Bedeutung zu, da Vornamen das Individuum sowohl identifizierbar machen als auch das jeweilige Geschlecht ablesen lassen (Schmidt-Jüngst 2020). Die Akzeptanz des sozialen Umfelds spiegelt die Akzeptanz der Transgeschlechtlichkeit darin wider, ob der neue Vorname angenommen wird - oder nicht. Aus linguistischer Perspektive sind neben dem Namen die Personalpronomen relevant, deren Anpassung insbesondere dem sozialen Umfeld wesentlich schwerer fällt als die Namensänderung (Schmidt-Jüngst 2020). So gelingt dem sozialen Umfeld bei einer Transfrau der Namen‐ wechsel von Norbert zu Alina leichter, als die Pronomen sie und ihr zu verwenden. Auch kommunikative Aspekte und die Stimme zählen zu den sprachlichen Markern, sodass der Transitionsprozess ebenso die Übernahme komplexer genderspezifischer Verhaltensweisen erfordert. Insbesondere die Stimme ist bei der Wahrnehmung und Kategorisierung von Geschlecht relevant, da sie über ihre Grundfrequenz Auskunft darüber gibt, ob es sich um eine männliche oder weibliche Stimme handelt (Ko/ Judd/ Blair 2006). Weitere Geschlechtsmarker im Transitionsprozess betreffen die Optik, wobei von Transmenschen versucht wird, kongruent zu bleiben, d. h., der neue Name wird dann mitgeteilt, wenn die Optik an das neue Geschlecht angepasst ist, damit er vom sozialen Umfeld auch verstanden werden kann. Alle Punkte zusammengenommen weisen darauf hin, wie wichtig die Zuschreibun‐ gen von außen sind, damit sich aus der nonkonformen Geschlechtsempfindung eine kongruente Geschlechtsidentität entwickelt. In der Regel bleibt es bei der binären gesellschaftlichen Wahrnehmung von Männern und Frauen, sodass bei Transidenti‐ tät Transfrauen nach dem Transitionsprozess als Frauen und Transmänner nach der Transition als Männer wahrgenommen werden. Sowohl mit den körperlichen 11.3 Transidentität 219 <?page no="221"?> Veränderungen im Laufe des Lebens als auch den verschiedenen sozialen Kontexten bleibt die Ausbildung der Geschlechtsidentität eine offene Bewegung psychischer Konstruktionen. Der Transitionsprozess und damit die Geschlechtsangleichung bei Transidentität beinhaltet sprachliche und optische Identifizierungen. Der Namenwechsel und die Pronomenangleichung sowie optische Anpassungen führen zu einer geschlechts‐ kongruenten Wahrnehmung von außen. Machen Sie sich eine Skizze, wie Sie Geschlecht interpretieren. Ist es ein bio‐ logisches oder ein soziales Konstrukt? Basieren die Geschlechtsstereotype auf biologischen oder sozialen Merkmalen? 11.4 Ausdruck von Geschlechtsidentität in der Sprache Die Betrachtung des Sprachgebrauchs ist ein zentrales Thema der Genderdebatte, wel‐ ches insbesondere die feministische Sprachwissenschaft aufgreift. Es geht sowohl um die Sprache von Frauen als auch um die Sprache über Frauen (Elsen 2020). Rückblickend können drei Phasen beobachtet werden, wie Unterschiede zwischen den Geschlechtern betrachtet wurden und welche Entwicklungen damit verbunden waren. Es handelt sich um die Defizithypothese, die Differenzhypothese und Kompetenzansätze. Die Defizithypothese geht auf die feministische Linguistik in den 1970er-Jahren zurück, als es vor allem darum ging, Geschlechterasymmetrien aufzuzeigen, die aus einem einseitigen (männlichen) Sprachgebrauch resultieren. Die Sprache der Männer wurde als Norm angenommen und die Sprache der Frauen als defizitär von dieser abweichend betrachtet. Bezug genommen wurde auf Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir (1951), die den Ausgangspunkt aller Frauenunterdrückung im Patriarchat sah. Diese Unterordnung brachte für die Frauen die Attribute passiv, untergeordnet, vom Mann abhängig mit sich (Pendry 2014) und im Sprachgebrauch wurden anhand von Defizitanalysen sprachlicher Konstruktionen Geschlechterdifferenzen aufgezeigt (Günthner 2019). Belege des untergeordneten sprachlichen Stils von Frauen waren, dass sich Frauen häufiger entschuldigen, mehr Frageintonation nutzen oder auch mehr Weichmacher in der Sprache gebrauchen. Die Differenzhypothese wurde in den 1980er-Jahren diskutiert und fokussiert darauf, dass es Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Dieser Unterschied wird allerdings nicht bewertet, sodass weibliches Sprechen nicht mehr als defizitär, sondern eben als anders und gleichwertig wahrgenommen wird. Hagemann-White (1984) zeigte, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gar nicht so ausgeprägt sind 220 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="222"?> und dass es innerhalb einer Geschlechtergruppe wesentlich ausgeprägtere Unterschiede gibt. Aus dem zunehmend sozialkritischen Blick der Frauenforschung entwickelten sich die Gender Studies (s. Infobox). Anschließend an die Differenzhypothese setzen sich in der Genderlinguistik Kom‐ petenzansätze durch, die sich gezielt mit der sprachlichen Konstruktion von Geschlecht auseinandersetzen (Ayaß 2008). Als Kompetenz der Männer wird beschrieben, dass ihr Kommunikationsstil sach- und informationsbezogen ist und daher den Charakter einer Berichtsprache erhält. Dazu gehört, dass Fragen von ihnen dafür eingesetzt werden, möglichst passgenau Informationen zu erhalten, und dass die Sprache vor‐ nehmlich der Problemlösung dient. Der (männliche) Ausdruck von Macht, Status und Unabhängigkeit führt zu einer verstärkten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Zu den Kompetenzen im Kommunikationsstil der Frauen zählen Empathie und damit verbunden eine Zuhörbereitschaft, die mit Interjektionen markiert ist und als Motor des Gesprächs bezeichnet wird. Die Kooperation in Beziehungen gilt als wesentlich und es zeigt sich die Bemühung um einen symmetrischen und unterstützenden sprachlichen Stil. Themen und Gesprächsweisen der Frauen kennzeichnen Privatheit (Maltz/ Borker 1991, Tannen 1991). Ayaß (2008), die sich mit dem Thema Männer- und Frauensprache auseinandergesetzt hat, schlussfolgert jedoch, dass es die Frauensprache nicht gibt. Grundsätzlich sollte es darum gehen, geschlechtsspezifische Differenz anzuerken‐ nen und - bei aller Verschiedenheit - auf die Gleichberechtigung im Sinne einer Gleichwertigkeit beider Geschlechter hinzuwirken. Gender Studies Gender Studies betrachten wissenschaftlich die Vielfalt geschlechtsbezogener Fragestellungen. Sie werden zum Teil kritisch beäugt, da sie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis oftmals zu sehr in der politischen Praxis verortet werden und daraus folgend unterstellt wird, dass die Differenz zur Wissenschaft nicht eingehalten wird (Villa/ Speck 2020). Zum Teil nimmt diese Diskussion polemische Züge an, sodass den Gender Studies gar Unwissenschaft‐ lichkeit unterstellt wird (Hark/ Villa 2015). Umso wichtiger ist es zu betonen, dass in Gender Studies die Verflochtenheit von Natur und Kultur im Blick auf das Geschlecht vertieft wird (Villa 2019). Villa (2016, S. 1) schreibt zusammenfassend, dass sich Gender Studies „mit den kulturellen, historischen, ökonomischen und sozialen Dynamiken rund um das Geschlecht“ befassen und dass sie mit einer Vielfalt von wissenschaftlichen Methoden an der Erforschung von Geschlechter‐ differenz arbeiten. Villa grenzt Gender Studies ab gegen: - Gender Mainstreaming, das sich als politische Strategie mit einer geschlech‐ terbewussteren Gesetzgebung befasst, 11.4 Ausdruck von Geschlechtsidentität in der Sprache 221 <?page no="223"?> - Gender Identity, die sich mit der Identifizierung mit einem Geschlecht befasst und vor allem die Selbstwahrnehmung fokussiert, - Queer Studies, die das Begehren / die Sexualität oder auch sexuelle Identität erforschen. Gender Studies können sich auch mit Sexualität auseinanderset‐ zen, müssen dies jedoch nicht zwangsläufig, andersherum kann Sexualität beforscht werden, ohne dass Genderaspekte berücksichtigt werden müssen. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Sprache, Geschlecht und Identität zusammenhängen, bezieht sich also auf einen spezifischen Genderforschungsbe‐ reich. Denken Sie, die Geschlechtsstereotype der 1970er- und 1980er-Jahre sind überholt, oder werden bestimmte Geschlechtsstereotype nach wie vor aufrechterhalten? Zur Betrachtung der soziologischen Dimension im Genderdiskurs gehören die Aspekte Doing vs. Undoing Gender (Hirschauer 2014, Ayaß 2008, West/ Zimmermann 1987). Beim Doing Gender wird sehr dezidiert davon ausgegangen, dass Geschlecht ein gesellschaftliches Konstrukt ist, und das biologische Geschlecht wird in den Hinter‐ grund gerückt (Elsen 2020). Doing Gender beschreibt folglich die Prozesshaftigkeit von Handlungen, die vor allem in sozialkonstruktivistischen Ansätzen angenommen wird (Ayaß 2008, S. 15), d. h., maskulin oder feminin zu sein wird vor allem in der Interaktion abgebildet und in Rollenerwartungen zementiert. Ein Beispiel für Doing Gender ist die Berichterstattung in den Medien während der Coronapandemie, die aufzeigt, dass die Herausforderungen dieser Krise in der Verteilung der Aufgaben in den Familien die klassische Rollenverteilung verstärkt hat, d. h., es sind vor allem die Frauen, die die Hauptlast für Homeschooling, Kinderbetreuung und Haushalt getragen haben (s. z. B. bertelsmann-stiftung.de). Undoing Gender weist im Gegenzug darauf hin, dass Geschlecht zwar ein zentrales Identitätsmerkmal darstellt, jedoch nicht in allen Fällen relevant ist. Es geht beim Undoing Gender also darum, vom Geschlecht abzusehen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Bewerbungsunterlagen ohne die Angabe des Geschlechts beurteilt werden. Schmidt-Jüngst (2020) weist darauf hin, dass Doing Gender und Undoing Gender die beiden Seiten einer Medaille sind. Sie meint damit, dass „eine sinnhaft gemachte Unterscheidung in ihrer Relevanz herauf- oder heruntergestuft werden [kann]“ (op.-cit., S.-70). Mit den Begriff Doing Gender wird der Herstellungsprozess von Geschlechtsiden‐ tität betont, während Undoing Gender Kontexte betont, in welchen Geschlechts‐ merkmale irrelevant sind. 222 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="224"?> Um Gleichberechtigung zu erreichen, muss im Sinne von Doing Gender explizit auf das Geschlecht hingewiesen werden. Undoing Gender ist möglich, wenn eine Gleichberechtigung besteht, sodass der Aspekt Geschlecht vernachlässigt werden kann. Überlegen Sie, in welchen gesellschaftlichen Bereichen von Doing Gender und in welchen von Undoing Gender gesprochen werden kann. Ein Form Doing Gender findet sich im sprachlichen Gendern, da hier auch über die Gleichberechtigung im Sinne einer Gleichwertigkeit der Geschlechter diskutiert wird. Sprachliche Tätigkeit formt das Bewusstsein und damit auch die Weltsicht, da Sprache das Mittel ist, um soziale Wirklichkeit zu konstruieren (Berger/ Luckmann 1966, Werlen 2002, Werani 2011). Insofern ist der Sprachgebrauch zentral für eine Veränderung von Weltsicht und es muss in diesem Sinne über die Relevanz von sprachlichem Gendern nachgedacht werden. Elsen (2020) referiert einige Studien, die zeigen, dass das generische Maskulinum in keinem Fall als geschlechtsneutral gelten kann, sondern tatsächlich zu einem geringe‐ ren gedanklichen Einbezug von Frauen führt. Ebenso rufen neutrale Formulierungen eher männliche Assoziationen hervor als weibliche. Dieser gedanklichen Asymmetrie kann durch Alternativstrategien entgegengewirkt werden und Frauen können dadurch tatsächlich durch Sprache sichtbarer gemacht werden. Laut der Recherche von Elsen sind es die konsequenten Paarformen, wie zum Beispiel Dozenten und Dozentinnen, die Frauen gleichberechtigt in das Denken einbeziehen. Das Binnen-I, wie in DozentInnen, führt sogar zu einer Frauendominanz in den Assoziationen. Daher ist es auf dem Weg zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf alle Fälle wesentlich, das Gendern als normale und gängige Sprachform zu etablieren. Eine weitere Bedeutung kommt dem Gender-* zu, denn hiermit wird die Vielfalt gekennzeichnet, die es innerhalb der Gruppe der Männer* und der Frauen* gibt und es werden zudem nicht binäre Menschen miteingeschlossen. Die deutsche Grammatik ist so angelegt, dass Individuen sowohl durch Pronomen - sie und er - als auch durch Anredeformen - Frau und Herr - spezifisch in Genderkategorien eingeordnet werden. Sprache wird also auch hier zum gegenstands‐ konstituierenden Mittel, das die binäre Geschlechtszugehörigkeit markiert (Günthner 2019). Der erneute Aufschwung der Auseinandersetzung mit gendergerechter Sprache hat inzwischen nicht nur mit Frauen zu tun, sondern auch mit der Kritik an der Norm der Zweigeschlechtlichkeit. Aus dem Bereich der Queer Studies wird eine nicht ausgrenzende Sprache gefordert, die so weit geht, dass neue Schreibungen für Personenreferenzen gefordert werden. Das ist beispielsweise die a-Form, die aus Mitarbeiter → Mitarbeita macht, oder die Verwendung eines dynamischen Unterstrichs wie in Stu_dentin (Günthner 2019). Gleichzeitig mit diesen Bestrebungen der Reform sprachlicher Formen ist auch eine Rückkehr zum generischen Maskulinum zu bemer‐ ken. 11.4 Ausdruck von Geschlechtsidentität in der Sprache 223 <?page no="225"?> Der Ausdruck von Geschlechtsidentität in der Sprache knüpft an die Erforschung von Narrationen an, da Ich-Identität über Narrationen dar- und hergestellt wird (Kapitel 6). Es können einerseits Erzähltraditionen im Sinne einer historischen Genderforschung nachvollzogen werden (Lanser 2014), andererseits kann die Nar‐ rationsforschung einen Beitrag leisten, Einblick in die Dar- und Herstellung von Genderidentität zu bekommen, indem beispielsweise narrative Interviews mit Bezügen zur Geschlechtsidentität durchgeführt werden. Da Sprache die Weltsicht prägt, soll durch sprachliches Gendern zur Gleichbe‐ rechtigung aller Individuen beigetragen werden. Welche Möglichkeit der Gendermarkierung ist für Sie selbst am besten nutzbar? Zur Erinnerung die Möglichkeiten anhand eines Beispiels: Liebe Kommilitonen und Kommilitoninnen | Liebe Kommiliton/ innen | Liebe KommilitonInnen | Liebe Kommiliton_innen | Liebe Kommiliton*innen | Liebe Kommiliton: innen ▢ Was ist unter Geschlechtsidentität zu verstehen? Geschlechtsidentität ist ein psychophysisches Konstrukt, das zwischen Sexus und Gender ausgehandelt wird. Mit Sexus wird das biologische oder auch morphologische Geschlecht bezeichnet, auf welches die Entwicklung der Geschlechtsidentität mit männlichen und weiblichen Merkmalen referiert. Mit Gender sind die verschiedenen, kulturell bedingten (normativen) Rollen‐ erwartungen an das Geschlecht gemeint, sodass sich die Genderidentität über die mit dem Geschlecht assoziierten maskulinen oder femininen Rollenbilder formt. Geschlechtsidentität umfasst damit biologische, soziologische und auch psychologische Anteile. Der sprachliche Aushandlungsprozess kann als Bewe‐ gung konstituiert werden. ▢ Welche Aspekte sind bei der Entwicklung von Geschlechtsidentität zu bemerken? Es ist festzustellen, dass Geschlechtsstereotype sehr früh gebildet werden, denn bereits Ende des ersten Lebensjahres bilden sich erste primitive Stereotype über Geschlechtszugehörigkeit heraus, die stetig weiter ausdifferenziert werden. Es wird davon ausgegangen, dass diese Stereotypisierung durch das soziale Umfeld mitgeformt wird und in der Regel heteronormativ geprägt ist. Ab 4 Jahren bilden sich auch sprachlich rollentypische Verhaltensweisen heraus, die mit der Wahrnehmung der Geschlechtsstabilität und der damit verbun‐ denen Geschlechtskonstanz einhergehen. Eine differenzierte Reflexion und Intensivierung der eigenen Geschlechtsidentität bildet sich ab der Adoleszenz 224 11 Geschlecht, Sprache und Identität <?page no="226"?> heraus. Bei Transidentität kommt es zu einer Inkongruenz zwischen der biologischen und der empfundenen Geschlechtsidentität. Das Augenmerk auf die Ausbildung der Geschlechtsstereotype zu richten, ist dahingehend relevant, da diese einen großen Einfluss auf die Ausbildung der Ich-Identität haben. ▢ Welche Rolle kommt der sprachlichen Tätigkeit bei der Geschlechtsidentität zu? Sprachliche Tätigkeit kann auf Gleichberechtigung im Sinne einer Gleichwer‐ tigkeit beider Geschlechter einwirken, indem geschlechterspezifische Diffe‐ renzen anerkannt und sprachlich angemessen ausgedrückt werden. In den Kompetenzansätzen der Genderlinguistik findet sich eine gezielte Auseinan‐ dersetzung mit sprachlichen Konstruktionen von Geschlecht. Da die sprachli‐ che Tätigkeit das eigene Weltbild wesentlich prägt, spielt gegenderte Sprache für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen eine wichtige Rolle. Ayaß, Ruth (2008). Kommunikation und Geschlecht. Stuttgart: Kohlhammer. Elsen, Hilke (2020). Gender - Sprache - Stereotyp. Tübingen: utb. Kortendiek, Beate, Riegraf, Birgit & Sabisch, Katja (2019). Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer VS. Mrs. Doubtfire. Chris Columbus (Regie, 1993), Vereinigte Staaten. Eine unterhaltsame Komödie, in der ein Familienvater in die Rolle eines Kindermädchens schlüpft, um seinen Kindern nahe zu sein. Dieser Filmvorschlag hat zwei Komponenten: Zum einen ist der Rollenwechsel zu beobachten, zum anderen ist es ein Zeitdokument zum Thema Gendersensibilität in den 1990ern und heute. Alles über meine Mutter. Pedro Almodóvar (Regie, 1999), Spanien und Frankreich. In diesem Drama geht es um eine Frau und die Suche nach ihrer Vergangenheit, die schlussendlich zu einer Identitätssuche wird. In exemplarischer Weise werden sehr unterschiedliche Frauenfiguren inszeniert. 11.4 Ausdruck von Geschlechtsidentität in der Sprache 225 <?page no="228"?> 12 Mehrsprachigkeit und Identität Dieses Kapitel thematisiert den Einfluss von Mehrsprachigkeit auf die Identitäts‐ bildung. Dies ist ein wichtiges Thema, da im Rahmen der Globalisierung die Zahl mehrsprachiger Individuen stetig zunimmt. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Was macht die Thematik Mehrsprachigkeit komplex? ▢ Inwiefern wirkt sich Mehrsprachigkeit auf die Identitätsbildung aus? ▢ Wie bildet sich Ich-Identität mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen zugrunde gelegten Kulturen aus? Bei der Betrachtung von Mehrsprachigkeit wird neben den Begriffen Sprache und Identität der Kulturbegriff stärker beleuchtet. Die Berücksichtigung der Kultur ist im Sprachbegriff der kulturhistorischen Psycholinguistik verankert, da sprachliche Tätig‐ keit stets mit der sozialen, gesellschaftlichen Praxis verbunden ist (Vygotskij 1934/ 2002, Hu 2019). Kultur oder kulturelles Potenzial kann als eine menschliche Konstruktion aufgefasst werden, die gemeinsames Wissen, gemeinsame Werte und Bräuche sowie eine gemeinsame Sprache bündelt. Eine gewisse kulturelle Performanz zeigt sich folg‐ lich in Handlungen und Realisierungen. Insbesondere kulturelle Produkte werden in der Literatur, Kunst, Musik und sonstigen Artefakten verfertigt und ausgedrückt (He‐ ringer 2017). Die soziale Praxis, u. a. in Form von Kommunikation, wird verinnerlicht, sodass jede kulturelle Praxis über die sprachliche Tätigkeit kognitive, emotive und auch identitätsbildende Prozesse beeinflusst. Dies äußert sich beispielsweise auch darin, dass sich Kulturstandards in Sprache zeigen (s. Infobox). Ein reflexives und diskursives Kul‐ turverständnis weist eine Parallele zum hier verwendeten Identitätsbegriff auf, denn im Falle der kulturellen Perspektive kann auch eine Bewegung angenommen werden, die auf Aushandlungsprozessen basiert (Hu 2019). Ich-Identität bei Mehrsprachigkeit gestaltet sich somit als Bewegung über mehrere Sprachen und den damit verbundenen Kulturen. Die vielfältigen Ausprägungen der Ich-Identität zeigen sich in vielfältigen Narrationen, sodass sich die Ich-Identität in verschiedenen Sprachen über die erzähl‐ ten Geschichten formt. Voraussetzung ist eine mehrsprachige Sozialität, damit sich mehrsprachige Individuen entwickeln können (Riehl 2014). Problematisch ist, dass sich die Erforschung von Mehrsprachigkeit lange auf (psycho)linguistische Theorien bezogen hat, die sich auf monolinguale Individuen fokussieren. Die Erkenntnisse dieser monolingualen Theorien können jedoch nicht ohne Weiteres auf mehrsprachige Indi‐ viduen übertragen werden (Pavlenko 2014). Da diese Übertragung dennoch erfolgte, resultierten daraus häufig defizitäre Beschreibungen von mehrsprachigen Individuen (Pavlenko 2014, Grosjean 2010). Diese defizitäre Auffassung von Mehrsprachigkeit gilt inzwischen jedoch als revidiert und Mehrsprachigkeit wird als persönlicher, sozialer, <?page no="229"?> beruflicher und sogar gesellschaftlicher Vorteil anerkannt (Paradis/ Genesee/ Crago 2021). Aufgabe ist es für die Mehrsprachigkeitsforschung somit, eine Theoriebildung voranzutreiben, die das mehrsprachige Individuum in den Fokus rückt. Im Folgenden wird zuerst die Komplexität von Mehrsprachigkeit erfasst und dann auf Aspekte von Mehrsprachigkeit und Identität eingegangen. Kulturstandards in Sprache Kulturstandards definieren die in einer Kultur typischen sozialen Regeln und Konventionen, die als spezifische Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens gelten (Markowsky/ Thomas 1995). Die Kenntnis fremder Kulturstandards kann unser Handeln beeinflussen und lenken. Ein Beispiel für einen chinesischen Kulturstan‐ dard ist das Gesichtwahren. Für Chinesen ist das Wahren öffentlichen Ansehens tief verwurzelt in ihrer Kultur und leitendes Prinzip sozialen Handelns. Entspre‐ chend führt der Gesichtsverlust zu einem Verlust von Anerkennung, Macht und Autorität. Ein deutscher Kulturstandard ist das Pflichtbewusstsein und basiert auf der Überzeugung, dass eine harmonische und funktionierende Gesellschaft entsteht, wenn alle ihre Rolle pflichtgemäß erfüllen. Hierfür ist es für jeden einzelnen erforderlich, dass Fehler und Schwächen überwunden werden, um das Gemeinwohl zu erhalten (Heringer 2017). Zur Erforschung von Kulturstandards werden Rich Points untersucht, die Stellen im Dialog darstellen, an denen es interkulturell verursacht häufiger zu Problemen kommt (Agar 1994). Hotspots sind situationsgebundene Rich Points. Es gibt kulturspezifische Situationen, die Missverständnisse erzeugen, wie unterschiedliche Formen der Begrüßung oder körpersprachliche Zeichen. Hotwords sind wortgebundene Rich Points, d. h., Wörter, die kulturell aufgeladen und in der Regel schwierig zu übersetzen sind. Zum Teil ist die Bedeutung von Hotwords auch in der jeweiligen Kultur/ Sprache schwer zu fassen. Beispiele im Englischen wären die Übernahme der Wörter Zeitgeist und Schadenfreude in den englischen Wortschatz, da es keine Äquivalente gibt, und im Deutschen das konnotativ schwer zu fassende Wort Heimat. Versuchen Sie, für sich den Begriff Kultur zu definieren. Welche Kulturstandards sind Ihrer Meinung nach sprachlich vermittelt? 12.1 Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit Zunächst wird ein Blick auf die verschiedenen Begrifflichkeiten geworfen. Termino‐ logisch wird zwischen Bilingualismus oder Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit unterschieden. Während im Bilingualismus zwei Sprachen von einem Individuum erworben und beherrscht werden, sind es bei mehrsprachigen Individuen mehr als zwei Sprachen, die ein Individuum verwenden kann (Grosjean 2013). Bilingualismus 228 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="230"?> kann also als ein Sonderfall der Mehrsprachigkeit betrachtet werden, daher wird der Begriff insbesondere in Studien verwendet, die sich auf den frühen, simultanen Erwerb von zwei Sprachen beziehen (De Houwer 2009). Es gibt jedoch auch die etwas weiter gefasste Verwendung des Begriffs bilingual, wenn Individuen im alltäglichen Leben zwei Sprachen verwenden - dies ist unabhängig vom Niveau, auf dem diese beiden Sprachen beherrscht werden (Grosjean 2013, Pavlenko 2006). Mit der grundsätzlichen Problematik, ab wann Bilingualität beginnt bzw. ab welcher Sprachkompetenz von Mehrsprachigkeit gesprochen werden kann, findet sich auch der Begriff der Plurilin‐ gualität (Bhatia/ Ritchie 2013), gewissermaßen als Oberbegriff von Bilingualismus und Mehrsprachigkeit. Da es ein gegenwärtiges Phänomen ist, dass Individuen zunehmend mit mehreren Sprachen konfrontiert sind und diese auch in unterschiedlicher Ausprägung gekonnt werden, wird im Folgenden hauptsächlich der Begriff Mehrsprachigkeit verwendet, denn auch sogenannte bilinguale Individuen beherrschen in der Regel neben den zwei früh simultan erworbenen Sprachen eine weitere. In den verschiedenen zitierten Studien wird jedoch der jeweils verwendete Begriff aufgegriffen. Dies zeigt zwar eine bestehende Inkonsistenz in der Verwendung der Begriffe, verweist jedoch gleichzeitig auch auf ihre Komplexität. Werden die vielen verschiedenen Definitionen von Mehr‐ sprachigkeit auf einen Nenner gebracht, ist von Mehrsprachigkeit zu sprechen, wenn ein Individuum zwei oder mehr Sprachen (oder Dialekte) im alltäglichen Leben spricht (Grosjean 2013). Die Identitätsarbeit betrifft dann folglich mehrere Sprachen und damit auch unterschiedliche kulturelle Gruppierungen. Es stellt sich die Frage, wie zwei (theoretisch) separat identifizierbare Sprachsysteme zu einer mehrsprachigen Identität führen. Mehrsprachigkeit bezieht sich auf Individuen, die zwei oder mehr Sprachen in entsprechenden Sprachgemeinschaften verwenden können. Bilingualität bezieht sich auf zwei Sprachen und kann als Sonderfall der Mehrsprachigkeit aufgefasst werden. Des Weiteren wird in der Forschung zwischen Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt unterschieden. Bei der Erforschung von Mehrsprachigkeit geht es darum, herauszu‐ finden, wie ein Individuum zwei oder mehr Sprachen beherrscht, d. h., wie mehrere Sprachen mental verarbeitet werden. Bei der Erforschung des Sprachkontakts rückt die soziologische Betrachtung mehrerer Sprachen in den Vordergrund (s. Infobox). Sprachkontakt vs. Mehrsprachigkeit Mit den Begriffen Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit werden die soziologische und psychologische Dimension unterschieden, wenn mehrere Sprachen aufeinan‐ dertreffen. Mit Sprachkontakt wird in der Soziolinguistik das Aufeinandertreffen 12.1 Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit 229 <?page no="231"?> mehrerer Sprachen oder Varietäten in einer Gruppe oder an einem Ort themati‐ siert. So ist beispielsweise die Schweiz ein Ort, an dem die Sprachen Deutsch, Bündnerromanisch, Französisch und Italienisch in Kontakt stehen. Nicht alle Mit‐ glieder dieser Gruppe, also alle Schweizer: innen, sprechen zwangsläufig alle diese Sprachen. Kommt es zu einer funktionellen Trennung der aufeinandertreffenden Sprachen, wenn beispielsweise eine Sprache in formellen, die andere in informel‐ len Kontexten gesprochen wird, so wird dies mit Diglossie bezeichnet. Treten die Sprachen in Kontakt und wechseln im Diskurs, kommt es zu Code-Switching. Von Mehrsprachigkeit wird gesprochen, wenn mehrere Sprachen in einem Individuum vereint werden. Dies ist in der Regel Themenfeld der Psycholinguistik und es wird untersucht, wie Sprachen von mehrsprachigen Individuen verarbeitet werden (Riehl 2014). In der kulturhistorischen Psycholinguistik und der soziokulturellen Theorie wird angenommen, dass Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit in Wech‐ selbeziehung zueinander stehen (Lantolf/ Poehner/ Swain 2018). Die kulturhistorische Psycholinguistik stellt sich der Herausforderung, sowohl die Sprachgemeinschaft (soziologisch) als auch das Individuum (psychologisch) in den Blick zu nehmen, d. h., es wird das Zusammenspiel und Wechselspiel von Sprachange‐ boten und Interiorisierungsprozessen thematisiert (Lantolf/ Poehner/ Swain 2018). Nur mit einem Sprachenangebot von außen kann sich Mehrsprachigkeit des Individuums entwickeln und damit auch eine mehrsprachige Identität. Es erfolgt deshalb auch hier die Unterteilung der Betrachtung in eine psychologische und eine soziologische Dimension (Abbildung 31): ▶ Die psychologische Dimension fokussiert die Mehrsprachigkeit, d. h. das intrapsychische Moment und damit vor allem Aspekte des Spracherwerbs und der Sprachkompetenz. ▶ Die soziologische Dimension befasst sich mit dem Sprachkontakt, d. h. vor allem mit der interpsychischen Sicht, wie zum Beispiel der Funktion und Häufigkeit der Sprachverwendung sowie der zugrunde liegenden Kultur. Abbildung 31: Begriffsbestimmung Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt 230 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="232"?> Bei der Erforschung von Mehrsprachigkeit ist insbesondere die Wechselbezie‐ hung von Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt zu berücksichtigen. Es sind individuelle Aspekte jedes einzelnen Individuums und die jeweiligen soziologi‐ schen Einflüsse zu betrachten. Die intrapsychische Sicht auf Mehrsprachigkeit bringt die Frage mit sich, ab wann ein In‐ dividuum als mehrsprachig gilt (Appel/ Muysken 2006). Eine sehr allgemeine Definition von Mehrsprachigkeit könnte lauten: Mehrsprachigkeit besteht dann, wenn ein Indivi‐ duum zwei oder mehr Sprachen in entsprechenden Sprachgemeinschaften verwenden kann (z.-B. Hamers/ Blanc 2000, Tracy/ Gawlitzek-Maiwald 2000, Myers-Scotton 2006). Die Folge einer solch weiten Definition von Mehrsprachigkeit ist, dass es sich dann um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Um konkretere Eingrenzungen vornehmen zu können, wird diese allgemeine Auf‐ fassung ausdifferenziert, indem vor allem die Themenbereiche Spracherwerbsalter und Sprachkompetenz betrachtet werden. Beim Spracherwerbsalter wird fokussiert, wann und wie mehrere Sprachen angeeignet werden. ▶ Die Unterscheidung zwischen simultanem und sukzessivem Spracherwerb bezieht sich darauf, wann die Mehrsprachigkeit beginnt (Paradis/ Genesee/ Crago 2021, Tracy/ Gawlitzek-Maiwald 2000). Simultan bedeutet, dass zwei Sprachen von Ge‐ burt an gleichzeitig erworben werden und diese beiden (oder mehrere) Sprachen auch ausgewogen angeboten werden, d.-h., die Sprachen entsprechen von Geburt an einem erstsprachlichen Input. Zudem wird definiert, dass der Erwerb beider Sprachen vor dem dritten Lebensjahr liegt (Paradis/ Genesee/ Crago 2021). Als sukzessive wird der Spracherwerb bezeichnet, wenn eine weitere Sprache erlernt wird, nachdem der Erstspracherwerb schon fortgeschritten oder abgeschlossen ist. In diesem Fall wird auch von spätem Zweitspracherwerb gesprochen. ▶ Wie mehrere Sprachen erworben werden, wird in ungesteuerten und gesteuerten Spracherwerb unterschieden (Riehl 2014), denn der Kontext des Spracherwerbs spielt eine Rolle (Pavlenko 2012). Diese Erwerbsstrategien sind oftmals gekoppelt. Beispielsweise bei Migrantenkindern handelt es sich im Umgang mit Peers um einen ungesteuerten Erwerb (aquisition) und beim gleichzeitigen Besuch der Schule um einen gesteuerten Erwerb (learning). Die Sprachkompetenz zu ermitteln, ist schwierig, da der Sprachgebrauch je nach Kon‐ text sehr variiert (Tracy/ Gawlitzek-Maiwald 2000). Auch in den Modalitäten Sprechen, Verstehen, Schreiben und Lesen kann die Sprachkompetenz unterschiedlich ausgeprägt sein, sodass eine Sprache beispielsweise gut verstanden, jedoch wenig gesprochen wird. Auffassungen, was unter Sprachkompetenz zu verstehen ist, bewegen sich zwischen folgenden Polen: Den einen Pol bilden strukturalistische Auffassungen, die als bilingual ansehen, wenn ein Individuum zwei Sprachen auf muttersprachlichem 12.1 Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit 231 <?page no="233"?> Niveau sprechen und schreiben kann (Bloomfield 1956, Matras 2009). Den anderen Pol bilden rein pragmatische Auffassungen, die ein Individuum als bilingual betrachten, wenn es eine Sprache muttersprachlich spricht und eine andere beispielsweise ein wenig lesen kann (Macnamara 1967, Edwards 2013). Zwischen diesen Extremen gibt es weitere Definitionen, wie von Grosjean (2010), der von Mehrsprachigkeit spricht, wenn es einem Individuum möglich ist, in den jeweiligen Sprachen Alltagsgespräche zu führen. Werden die Sprachen nicht ausreichend erworben, kann es zu einer doppelten Halbsprachigkeit (s. Infobox) kommen (Riehl 2014, Cummins 2000), sodass dem Kompetenzbegriff besondere Beachtung geschenkt wird. Um die Sprachkompetenz aussagekräftiger zu beschreiben, werden folgende Aspekte dafür vorgeschlagen: ▶ Die Sprachflüssigkeit oder Geläufigkeit, d. h., wie fließend eine Person eine Sprache sprechen kann, ist ein Aspekt der Sprachkompetenz von bilingualen Individuen (Grosjean 2013). Die Sprachflüssigkeit steht in Zusammenhang mit dem Sprach‐ gebrauch und damit, wie korrekt und wie komplex Sprache verwendet wird. Je häufiger eine Sprache in einem bestimmten Bereich verwendet wird, desto flüssiger wird sie sein. Bereiche, in denen eine Sprache weniger häufig gebraucht wird, sind entsprechend unflüssiger. Bilinguale Individuen müssen daher nicht jede Sprache in allen Bereichen gleich gut können, sondern es kann durchaus sein, dass Deutsch für die Alltagssprache besser ausgebildet ist und Englisch besser als Arbeitssprache verwendet wird. In der Betrachtung der Sprachflüssigkeit wird deutlich, dass es hier kein eindeutig definierendes Kriterium gibt, ab wann eine Sprache als flüssig beherrscht bezeichnet werden kann. ▶ Die kommunikative und grammatische Kompetenz wird auch im Rahmen der Sprachkompetenz thematisiert (Myers-Scotton 2006). Unter kommunikativer Kompetenz versteht Myers-Scotton die situations- und kontextangemessene Ver‐ wendung von Äußerungen. Die grammatische Kompetenz bezieht sich auf die Fähigkeit, Sätze korrekt in der Struktur der Zielsprache zu formulieren. Beide Kompetenzen beherrschen Muttersprachler: innen intuitiv, sodass beispielsweise beurteilt werden kann, ob ein Satz grammatisch richtig oder falsch ist, ohne eine linguistische Begründung angeben zu können. Außerdem merkt Myers-Scotton an, dass die mündlichen Modalitäten, also Sprechen und Verstehen, in der Regel besser ausgeprägt sind als die schriftlichen Modalitäten, also das Schreiben und Lesen. ▶ Eine weitere Differenzierung der Sprachkompetenz ist die Unterscheidung zwi‐ schen dominantem oder balanciertem Sprachgebrauch (Tracy/ Gawlitzek-Maiwald 2000). Diese Unterscheidung verweist auf die Tatsache, dass manche bilingualen Individuen eine Sprache präferieren und sie damit als dominanter empfinden. Damit geht in der Regel die Eigenwahrnehmung einher, eine höhere Kompetenz in dieser dominanten Sprache zu besitzen, die sich in einem umfangreicheren Wortschatz oder einer sprachstilistisch größeren Sicherheit zeigt. Eine balancierte Bilingualität besteht dann, wenn sich Individuen in allen beherrschten Sprachen in allen Modalitäten (Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben) gleich gut bewe‐ 232 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="234"?> gen können (Afshar 1998). Zu einer ausgewogenen Mehrsprachigkeit kommt es nach Riehl (2014) nur, wenn in den jeweiligen Sprachen auch die Schriftsprache erworben wird, d. h., zu einer ausbalancierten Bilingualität gehört eine Biliteralität, sodass bilinguale Personen die Sprache sprechen und verstehen sowie auch schreiben und lesen können sollten. Bis zu einem gewissen Grad bleibt die Idee der Ausbalanciertheit jedoch Fiktion, da die Sprachen in unterschiedlichen Kontexten gebraucht werden und sich entsprechend dieser Kontexte ausbilden (Hoffmann 1991). Es ist damit nahezu unmöglich, bei Mehrsprachigkeit alle Sprachen auf gleich gutem Niveau zu beherrschen. ▶ Hinsichtlich der Sprachkompetenz kann zwischen aktivem und passivem Bilingu‐ alismus unterschieden werden (De Houwer 2009). Nur weil ein Kind von Geburt an mit zwei Sprachen konfrontiert ist, lernt es diese nicht zwingend. So ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Kind zwar zwei Sprachen versteht, jedoch nur eine davon spricht. Die nicht gesprochene, jedoch verstandene Sprache wird als passiv bezeichnet (obwohl ein Verstehensprozess nicht passiv abläuft), während das Sprechen einer Sprache als aktiv bezeichnet wird. Doppelte Halbsprachigkeit Tracy/ Gawlitzek-Maiwald (2000, S. 495) zitieren Kielhöfer/ Jonekeit (1983), die eine Gegenüberstellung von positiven und negativen Charakterzuschreibungen bilingualer Kinder auflisten. Positiv wird bilingualen Kindern zugeschreiben, dass sie sprachgewandter, toleranter und intelligenter seien, auf negativer Seite wird u. a. genannt, dass sie überfordert, verlangsamt und fantasielos sind. In diesem Zusammenhang hat sich lange die Meinung - auch aus sprachwissen‐ schaftlicher Sicht - aufrechterhalten, dass sich Mehrsprachigkeit negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken kann. Der Blick auf Mehrsprachigkeit hat sich mit der umfassenden Forschung in den letzten Jahrzehnten positiv verändert (Pavlenko 2014, Grosjean 2013, Myers-Scotton 2006). In Zusammenhang mit der Literalität wird aktuell jedoch die Problematik der „Doppelten Halbsprachigkeit“ diskutiert (Riehl 2014, S. 78, Cummins 2000), die dann beobachtet wird, wenn Kinder die Muttersprache nicht ausreichend gelernt haben und auch die Sprache ihres Wohnsitzes nicht entsprechend ihres Potenzials erwerben können. Es wird erwogen, ob schlechte schulische Leistungen mit diesen sprachlichen und/ oder kognitiven Defiziten in Zusammenhang stehen (Cummins 2000), denn insbeson‐ dere die Alphabetisierung fördert auch die Abstraktionsfähigkeit im Rahmen der Begriffsbildung. So spielt es eine Rolle, ob sprachliche Fähigkeiten für eine mündliche Alltagskommunikation vorhanden sind oder ob sich Kinder bereits in abstrakteren und damit dekontextualisierten Zusammenhängen ausdrücken können. Es erfordert folglich ein Zusammenspiel zwischen Muttersprache und intellektuellem Niveau, damit ein erfolgreicher Zweitspracherwerb möglich ist (Cummins 2000). Als Konsequenz muss festgehalten werden, dass auch eine Muttersprache, die Minoritätssprache ist, literalisiert werden sollte. 12.1 Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit 233 <?page no="235"?> Die intrapsychische Betrachtung von Mehrsprachigkeit umfasst das Spracher‐ werbsalter, den Aspekt, wann und wie mehrere Sprachen erworben werden, und die Sprachkompetenz, die unter verschiedenen Aspekten festgelegt werden kann. Bei der interpsychischen Sicht auf Mehrsprachigkeit rücken der Sprachgebrauch und auch der kulturelle Einfluss in den Blick, sodass die Aushandlungsprozesse in den jeweiligen Kommunikationskontexten betrachtet werden. Der Sprachgebrauch steht in Zusammenhang mit der Häufigkeit, dem Sprachstatus und den Interaktionsmodi, also welche Interaktionspartner: innen beteiligt sind (Gros‐ jan 1982, 2010, 2013). ▶ Die Häufigkeit des Sprachgebrauchs hat einen Einfluss auf die ausgebildete Kompetenz der Sprache. Je mehr Lebensbereiche eine Sprache umfasst, desto häufiger wird sie gesprochen, und entsprechend verfügt das Individuum in diesen Kontexten dann über einen umfangreicheren Wortschatz und über Sprachvielfalt, die sich auch im Wissen über Redekonventionen zeigt (Myers-Scotton 2006). Der Wortschatz bildet sich also anders aus, wenn die eine Sprache vor allem in den Bereichen Familie, Freizeit und Freundeskreis verwendet wird, die andere Sprache vorrangig im beruflichen Umfeld. Die eine Sprache wird mit alltagssprachlichen Begriffen, die zweite Sprache mit beruflichen Fachtermini ausgebildet. Es ist also keinesfalls so, dass alle bilingualen Individuen für alle Konzepte über zwei oder mehr Wörter verfügen. Es kommt sogar vor, dass sich bilinguale Individuen über bestimmte Themen auch nur in einer bestimmten Sprache unterhalten können (Grosjean 2008). Hieraus ist auch zu erklären, dass Mehrsprachige keine natürlichen Übersetzer: innen sind. Über die häufigere Sprachverwendung kann sich eine Sprache als dominante Sprache entwickeln (Grosjean 2013). Dazu ist anzumerken, dass sich diese Dominanz abhängig vom Sprachgebrauch auch verän‐ dern kann (Grosjean 2010). Es kann also sein, dass die ursprüngliche Dominanz der Muttersprache, je nach Sprachbiografie, auch von einer anderen Sprache abgelöst wird. Mehrsprachige Konfigurationen können sich also über eine Lebensspanne durchaus verändern. ▶ Der Sprachstatus hat eine Einwirkung auf den Sprachgebrauch, da unterschieden wird, ob die Sprache einer ethnolinguistischen Mehrheits- oder Minderheitsge‐ meinschaft angehört (Paradis/ Genesee/ Crago 2021). In Mehrheitsgemeinschaften wird eine Mehrheitssprache gesprochen, die die meisten Mitglieder dieser Gemein‐ schaft sprechen. Diese Sprache ist in der Regel offiziell anerkannt und somit die offizielle Verkehrssprache. Beispiele für Mehrheitssprachen sind Angloameri‐ kanisch in den USA und Deutsch in Deutschland. Minderheitsgemeinschaften sprechen dementsprechend Minderheitensprachen und gehören - gemessen an der Mehrheitsgemeinschaft - einer Minderheitenkultur an, d. h., sowohl Sprache 234 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="236"?> und Kultur haben eine geringe soziale und politische Macht. Beispiele hierfür wäre Spanisch (mit hispanischem Hintergrund) in den USA und Türkisch in Deutschland (Paradis/ Genesee/ Crago 2021). Der Sprachstatus beeinflusst also den Gebrauchs‐ kontext dahingehend, dass sich die (politische) Anerkennung involviert, was sich dann auf die Identitätsbildung auswirkt. So können Minderheitensprachen indigener Gruppen zur Gruppenidentität beitragen, während ein aufgezwungener (politischer) Bilingualismus regelrecht identitätsbedrohend sein kann, indem eine innere Zerrissenheit erzeugt wird (Oppenrieder/ Thurmeier 2003). ▶ Bei mehrsprachigen Individuen gibt es beim Sprachgebrauch verschiedene Interak‐ tionsmodi der Sprachverarbeitung: den monolingualen und den bilingualen Modus (Grosjean 2013). Auch monolinguale Individuen passen sich in jedem Kommuni‐ kationskontext sprachlich an ihre Interaktionspartner: innen an, für bilinguale Individuen stellt sich jedoch zunächst (explizit oder implizit) die Frage, welche Sprache sie in der Interaktion nutzen möchten und nutzen können. Handelt es sich um ein monolinguales Setting, in welchem das Gegenüber nur eine der Sprachen spricht, dann wird die bilinguale Person in den monolingualen Modus wechseln und nur die Sprache verwenden, die das Gegenüber auch versteht. Dieser monolinguale Modus ist auch beim Lesen eines Buchs oder beim Anhören eines Radioprogramms in einer Sprache aktiviert, d. h., die andere Sprache wird deaktiviert. Befindet sich das bilinguale Individuum in einem bilingualen Kontext, also beispielsweise unter Freunden, die auch diese beiden Sprachen sprechen, dann ist der bilinguale Modus aktiviert und es können beide Sprachen in die Interaktion eingebracht werden. Diese Möglichkeit eines funktionalen Wechsels zwischen den Sprachen betont die Möglichkeit von Bilingualen, in der Kommunikation das mehrsprachige Repertoire auszuschöpfen (Oksaar 1984). In diesem Zusammenhang können die Phänomene Code-Switching und Borrowing beobachtet werden (Grosjean 2013). Beim Code-Switching handelt es sich um eine wechselnde Verwendung der verschiedenen Sprachen in der Regel auf syntaktischer Ebene, also ganze Sätze, Phrasen unter Berücksichtigung der Konstituenten oder auch emotionale Ausrufe, die Satzstatus haben. Beim Borrowing handelt es sich um das Verwenden einzelner Wörter, die in der einen Sprache nicht zur Verfügung stehen. Dieses Phänomen findet also auf lexikalischer Ebene statt (Dewaele 2012). Den kulturellen Einfluss auf sprachliche Äußerungen bilingualer Individuen erforschte bereits Ervin-Tripp (1973). In einer Untersuchung forderte sie Proband: innen auf, die sowohl Japanisch als auch Englisch sprachen, zum selben Bild in beiden Sprachen eine Geschichte zu erzählen. Sie konnte feststellen, dass je nach Sprache ein anderer Fokus in der Erzählung in den Blick rückte, je nachdem, was der kulturellen Konvention entsprach. Es ist folglich die kulturelle Praxis, die sich in den Erzählungen in den verschiedenen Sprachen äußert. Beim Spracherwerb werden nicht nur sprachliche Zeichen interiorisiert, sondern auch kulturelle Normen und Wertvorstellungen ver‐ innerlicht, sodass mit der Sprache den Kindern in den Interaktionen verschiedene Relationen von Sprache, Welt und Kultur angeboten werden (Brown/ Gaskin 2014). 12.1 Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit 235 <?page no="237"?> Die Betrachtung der kulturellen Einflüsse führt zu der Frage, wie stark mehrsprachige Individuen tatsächlich auch im täglichen Leben mit zwei Kulturen konfrontiert sind, d.-h. inwiefern bilinguale Individuen auch bikulturell sind. Grosjean (2013, 2015) setzt sich mit dem Phänomen des bikulturellen Bilingualismus auseinander, also mit bilingualen Individuen, die sich mit der Sprache und der Kultur der jeweiligen Sprechergemeinschaften identifizieren. Er charakterisiert bikulturell bilinguale Individuen anhand von drei Punkten: (1) Sie nehmen an zwei oder mehr Kul‐ turen teil. (2) Sie passen (teilweise) ihre Einstellungen und Werte, ihr Verhalten sowie ihre Sprache an die jeweilige Kultur an. (3) Sie kombinieren und mischen die Kulturen. Interessanterweise ist Bilingualität und Bikulturalität nicht zwingend koexistent. Es gibt bilinguale Personen, die nicht bikulturell sind (monokulturell bilingual), und es gibt ebenso bikulturelle Personen, die nicht zweisprachig sind (bikulturell monolingual). Folgende Beispiele illustrieren diesen Sachverhalt (Abbildung 32): (1) Ein deutsch-schweizer Geschäftsmann spricht zwei Sprachen, bleibt jedoch in der Schweizer Kultur verhaftet, d.-h., er ist monokulturell bilingual. (2) Ein britischer Expatriate leitet seit vielen Jahren für sein Unternehmen eine Abteilung in den USA. Er nimmt die US-Kultur an, ändert jedoch nicht seine Sprache, d.-h., er ist bikulturell monolingual. (3) Eine türkische Geschäftsfrau lebt in dritter Generation in Deutschland, sie ist in der deutschen und der türkischen Kultur verankert und pflegt unterschiedliche Gebräuche und auch den Kontakt in die Heimat, d. h., sie ist bikulturell bilingual. Abbildung 32: Beispiele von Interaktionen zwischen Sprachen und Kulturen Grosjean (2013) geht davon aus, dass die Veränderungen im Verhalten und im sprachli‐ chen Ausdruck je nach Kultur v. a. bei bikulturell bilingualen Individuen stärker ausge‐ prägt sind als bei monokulturell bilingualen. Deutlich wird, dass Mehrsprachigkeit auf alle Fälle unter dem Aspekt der Bikulturalität betrachtet und dabei differenziert werden muss, inwiefern jede zusätzliche Sprache auch mit kulturellen Aspekten verinnerlicht ist. 236 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="238"?> Die interpsychische Sicht auf Mehrsprachigkeit rückt den Sprachgebrauch und den kulturellen Einfluss in den Mittelpunkt. Der Sprachgebrauch ist geprägt von der kulturellen Praxis der jeweiligen Sprache. François Grosjean (*1946) François Grosjean wurde in Paris (Frankreich) geboren und wuchs zweisprachig auf, da sein Vater Franzose, seine Mutter Britin war. Verschiedene Aufenthalte in Frankreich, der Schweiz, in England und den USA machten ihn mit verschiedenen Kulturen vertraut. Sein Interesse gilt seit dem Studium der Psycholinguistik und er wird schließlich Direktor des Language and Speech Processing Laboratory an der Universität in Neuchâtel (Schweiz). Seine psycholinguistischen Forschungen umfassen die Sprachverarbeitung sowohl bei gesprochener Sprache als auch in der Gebärdensprache, gleichermaßen bei monolingualen und bilingualen Individuen. Eindrücklich ist seine umfassende Erforschung des Bilingualismus und der Versuch, eine ganzheitliche Sicht auf bilinguale Individuen zu werfen, indem der kulturelle Kontext stärker berücksichtigt wird. Eine Verbindung zwischen Forschungsergebnissen und seiner eigenen Autobiografie publiziert Grosjean 2019 in seinem Buch A Journey in Languages and Culture: The Life of a Bicultural Bilingual. Stellen Sie einen Bezug zu Ihrer eigenen Mehrsprachigkeit her (Krumm 2010). Verwenden Sie die Silhouette in Abbildung 33 und zeichnen Sie hier - gerne bunt - Ihre Sprachen ein! Überlegen Sie, welche Formen der Mehrsprachigkeit auf Sie zutreffen. Abbildung 33: Mein Sprachenporträt 12.1 Zur Komplexität von Mehrsprachigkeit 237 <?page no="239"?> 12.2 Mehrsprachige Identität Zur Ausbildung einer mehrsprachigen Identität gehört gleichermaßen die Identifikation mit der Sprache und der entsprechenden Kultur, denn bei Mehrsprachigkeit können sich Individuen in unterschiedlichen Kontexten in unterschiedlichen Sprachen ausdrü‐ cken und dadurch zusätzlich verschiedene Facetten ihrer Identität zeigen. Im 19. Jahrhundert wurde diskutiert, ob Bilingualität zu einer Zerrissenheit in der Selbstbildung führt oder nicht. Dieser Diskussionspunkt setzt sich auch in der heutigen Zeit implizit fort, da weiterhin die Annahme existiert, dass bilinguale Individuen eine Art gespaltene Mentalität haben (Edwards 2013). Auch Grosjean (1982) berichtet von bilingualen Personen, die den subjektiven Eindruck schildern, dass sie je nach Sprache verschiedene Persönlichkeiten zum Ausdruck bringen. Auf diese unterschiedlichen Auswirkungen von Sprachen auf die Identität hat auch schon Mead (1934/ 1968, S. 330 f.) hingewiesen, indem er schreibt: „Ein Mensch lernt eine neue Sprache und erhält dadurch […] eine neue Seele.“ Das Interesse am Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Identität ist damit nicht nur ein Phänomen der Globalisierung, sondern wesentlich älter (s. Infokasten). Wie dieses Hinzukommen einer neuen Seele vorstellbar ist, regte eine intensive Diskussion an, denn dieses Hinzukommen wurde zunächst so interpretiert, dass es sich bei jeder weiteren Sprache um ein additives Phänomen handelt. Ein bilinguales Individuum würde dann mehrere monolinguale Individuen in sich vereinen, eine Vorstellung, die Grosjean (2013) entschieden ablehnt. Viel eher geht er davon aus, dass mehrspra‐ chige Individuen in unterschiedlichen Kontexten je nach Sprache Facetten ihrer Identität zeigen. Die Ausdrucksmöglichkeiten sind vom Sprachgebrauch und der ausgebildeten Sprachkompetenz abhängig, in wenigen Fällen können alle Facetten der Ich-Identität in beiden Sprachen ausgedrückt werden. Historische Betrachtungen der Erforschung von Zweisprachigkeit und Identität Ein intensiver Diskurs zur Ein- und Mehrsprachigkeit wurde bereits ab dem 19. Jahrhundert v. a. in zweisprachigen Gebieten geführt. Studien aus der Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zeigen, dass jeweils der politische Hintergrund mitzuberücksichtigen ist (Krüger-Potratz 1994). Im Kaiserreich wurde vor allem aus pädagogischer Perspektive die Frage nach der Beschulung sogenannter zweisprachiger Gebiete behandelt (Oberschlesien, Posen, Elsass), d. h., es ging vor allem um die Sprache der Alphabetisierung der Kinder in diesen zweisprachigen Gebieten (Henß 1927, 1931). Als Ein- oder Aus‐ schlusskriterium für den Schulbesuch galt, ob die Kinder altersgemäß die deutsche Sprache beherrschten (Krüger-Potratz 2005). Diese Vorgabe bestand übrigens in den 1960er-Jahren noch. Hier waren die Eltern dafür verantwortlich, dass ihre Kinder ausreichende Deutschkenntnisse besaßen, um die Schule besuchen zu können. 238 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="240"?> Ein wissenschaftshistorisch interessanter Punkt ist, dass gerade um die 1900er-Wende das umfassendere Interesse an Sprache den Form- und Formungsaspekten von Sprache galt (Henß 1931, Sander 1934). Es wurde davon ausge‐ gangen, dass die Muttersprache das Innenleben und das Denken am stärksten mitprägt und ein Einfluss einer zweiten Sprache sowohl zu konfliktreichen Span‐ nungen in der Seele des Kindes führt als auch eine Verzögerung der Entwicklung der Muttersprache und eine damit einhergehende Verzögerung der intellektuellen Entwicklung mit sich bringen kann (Henß 1927, 1931). Die enge Verschränkung von Sprache, Volk und Nation zu dieser Zeit prägt den monolingualen Blick auf mehrsprachige Individuen, denen dann eher widersprüchliche Persönlichkeiten zugeschrieben werden. Während die Argumentationen zur Sprachverwirrung im 19. Jahrhundert noch Bemühungen zur Inklusion aufzeigen, spitzen sich die Argumentationslinien, die Zweisprachigkeit als schädlich deklarieren, ab dem 20. Jahrhundert weiter zu und erreichen in den Zwischenkriegsjahren ihren Höhepunkt. Auch die Einwanderungspolitik in den USA um den ersten Weltkrieg sah vor, dass Einwanderer gezwungen wurden, ihre Muttersprache aufzugeben und damit Loyalität gegenüber dem neuen Land zu zeigen (Pavlenko 2002, 2006). Im Dritten Reich wird Zwei- und Mehrsprachigkeit nur noch unter dem Aspekt der Exklusion betrachtet (Krüger-Potratz 1994, 2005). Zu den Schädlichkeitsargu‐ menten zählen „die Gefahren für Körper, Leib und Seele, die von der Zweispra‐ chigkeit ausgehen“ oder die Verführung „zur Arroganz und Gesinnungslosigkeit“, sodass zweisprachigen Juden eine pathologische innere Spaltung zugeschrieben wurde (Krüger-Potratz 2005, S.-88). Inzwischen ist die Frage nach Mehrsprachigkeit wesentlich differenzierter und das Erlernen anderer Sprachen wird als notwendig erachtet und von der EU sowohl gefordert als auch gefördert. Insbesondere die Vielfalt der Sprachen gilt als positives Kennzeichen der EU. So gehört zur Sprachenpolitik der EU, „dass jeder europäische Bürger zusätzlich zu seiner Muttersprache zwei weitere Sprachen beherrschen sollte“ (www. europarl.europa.eu). Edwards (2013) wirft die Frage auf, ob es tatsächlich die Sprachen sind, die Aspekte der Persönlichkeit beeinflussen, oder ob es vielmehr unterschiedliche soziale Kon‐ texte sind, die zu verschiedenen Selbstdarstellungen führen. Auch im Sinne der Patchwork-Identität nach Keupp et al. (1999) würden die Sprachen zwar ein erweitertes Repertoire an Möglichkeiten der Selbstdarstellung anbieten, die Identitätsarbeit wäre jedoch ebenfalls durch die unterschiedlichen Rollen und Kontexte determiniert. Zu berücksichtigen ist natürlich, dass die Mehrsprachigkeit neben kulturellen Aspekten auch die ethnische und nationale Identität stärker in den Blick nimmt und anzunehmen ist, dass die emotionale Verwurzelung in der Sprache hier eine wichtige Rolle spielt (Edwards 2013). Vermutlich handelt es sich nur um eine sehr kleine Gruppe mehrspra‐ chiger Individuen, die elaborierte sprachliche Kompetenzen in mehreren Sprachen und eine emotionale Verwurzelung zu jeweils der mit der Sprache verbundenen Kultur 12.2 Mehrsprachige Identität 239 <?page no="241"?> haben. Nur dann nimmt Edwards (2013) an, dass tatsächlich von unterschiedlichen Identitäten aufgrund der Mehrsprachigkeit gesprochen werden kann. Er schließt daraus, dass je fundamentaler die sprachliche und kulturelle Einbettung je Sprache ist, desto größer ist der Einfluss auf die Identität. Daher rücken in den meisten Studien bikulturell bilinguale Individuen in den Blick, d. h. jene mehrsprachigen Personen, die auch mehrere Kulturen verinnerlicht haben. Diesen Aspekt vertiefend, werden im Folgenden - wieder aus intrapsychischer und interpsychischer Perspektive - Studien zusammengefasst, die versuchen, Zusammenhänge zwischen Mehrsprachigkeit und Identität aufzuzeigen. Da es einen Zusammenhang von Sprache und Identität gibt, wird bei Mehr‐ sprachigkeit diskutiert, wie mit jeder weiteren Sprache und der damit verbundenen Kultur Aspekte der Identität integriert werden. Denken Sie darüber nach, wie Sie die Persönlichkeitsaspekte bezeichnen würden, die Ihre Sprachen mit sich bringen. Sind das Teile eines Patchworks, Seelen oder Facetten? Oder würden Sie eine ganz andere Bezeichnung verwenden? Verwenden Sie Ihr Sprachporträt aus der vorherigen Selbstreflexion (Abbildung 33) und begründen Sie die Wahl Ihrer Bezeichnung. Im Rahmen der Erforschung intrapsychischer Aspekte von Mehrsprachigkeit und Ich-Identität geht es um die Verinnerlichung der Sprachen und Kulturen und die Wirkung auf Persönlichkeit, Emotion, Gedächtnis und Selbstbildung (Hong et al. 2000, LaFromboise/ Coleman/ Gerton 1993). Fragen zur Persönlichkeitsformung und auch zur Integration der Persönlichkeit auf‐ grund von mehreren Sprachen beschäftigen die Mehrsprachigkeitsforschung schon lange (Bossard 1945, Haugen 1961, Diepold 1967, Weinreich 1977). Eine systematische Studie zu Persönlichkeitsunterschieden bei mehrsprachigen Individuen legte Hull (1990) vor. Er konnte zeigen, dass muttersprachlich Spanisch sprechende Proband: in‐ nen in einer Befragung in ihrer Zweitsprache Englisch höhere Werte für Selbstak‐ zeptanz, soziale Präsenz, zwischenmenschliches Prestige, emotionales Wohlbefinden und Leistungsstreben zeigten. Interpretiert wurden diese Ergebnisse so, dass die Proband: innen auf Englisch jene Haltung erfüllten, die in der individualistischen angloamerikanischen Kultur von ihnen erwartet wurde, um einen guten Eindruck zu machen. Diese Unterschiede in der Persönlichkeit, je nach Sprache, interessierten auch Ramí‐ rez-Esparza, Gosling, Benet-Martìnez, Potter und Pennebaker (2006). Sie untersuchten, ob bilingual Spanisch und Englisch sprechende Individuen unterschiedliche Persön‐ lichkeiten zeigen, je nachdem, welche Sprache sie verwenden. Als Voraussetzung 240 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="242"?> prüften Ramírez-Esparza et al. zunächst, ob es kulturspezifische Persönlichkeitsunter‐ schiede zwischen monolingual Sprechenden gibt, d. h., ob sich die Persönlichkeit von Spanischsprechenden (Mexiko) von Englischsprechenden (USA) unterscheidet. Nachdem sich interpersonal der Unterschied ergab, dass Englischsprechende höhere Werte bei Extraversion, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit aufwiesen, wurde in einem weiteren Schritt untersucht, ob sich dieser Unterschied auch innerhalb einer bi‐ lingualen Person zeigt. Das Ergebnis war identisch: Die bilingualen Individuen zeigten höhere Persönlichkeitswerte bei Extraversion, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit im Englischen. Auch Veltkamp, Recio, Jacobs und Conrad (2012) führten angelehnt an die Studie von Ramírez-Esparza et al. (2006) eine Untersuchung mit Deutsch und Spanisch sprechenden bilingualen Individuen durch. Auch hier zeigten sich Unterschiede: Extraversion und Neurotizismus sind auf Spanisch signifikant ausgeprägter, während Verträglichkeit auf Deutsch extremer ausgebildet ist (Abbildung 34). Interpretiert wurde dieses Ergebnis dahingehend, dass die Persönlichkeitsdimensionen von der jeweiligen Testsprache beeinflusst werden. Abbildung 34: Persönlichkeitsakzentuierungen je nach Sprache Mehrsprachige Individuen zeigen in Persönlichkeitstests je nach Sprache, in der die Tests durchgeführt werden, unterschiedliche Merkmale ihrer Persönlichkeit. Beim Sprachgebrauch spielt die intrapsychische emotionale Bindung an die jeweilige Sprache eine wichtige Rolle. Pavlenko (2006) führte gemeinsam mit Dewale eine Studie mit einem Web-Fragebogen durch, um sich introspektiv dem Fragenkomplex zu Bilingualität und Emotion anzunähern. Unter anderem fragten sie Mehrsprachige danach, ob sie sich anders fühlen, wenn sie verschiedene Sprachen benutzen, und ob sie dann je ein anderes Selbst haben. Diese Frage, ob das Selbst je nach Sprache verschieden ist, löste viele emotionale Antworten aus: Insgesamt bejahten 65 % der Teilnehmer: innen diese Frage, 26-% verneinten sie, 9-% gaben mehrdeutige oder keine Antworten. Neben dieser quantitativen Information war für Pavlenko interessant, worauf sich die Antworten beziehen. Es zeigten sich viele Aussagen, die eine Dopplung 12.2 Mehrsprachige Identität 241 <?page no="243"?> des Selbst oder auch emotionale Bezüge beschrieben. Ein Beispiel für eine Beschreibung des unterschiedlichen Selbsterlebens ist: Absolutely. I feel I can hide my emotions and myself a lot better in English. In Spanish I feel a lot more ‘naked’. (Dolores, 31, Spanish-English-German-French) (Pavlenko 2006, S.-20) Um diesem emotionalen Ton bei bilingualen Personen nachzugehen, befasste sich Pavlenko (2008) auch mit dem mentalen Lexikon bilingualer Sprecher: innen. Zugrunde lag dieser Studie vor allem die Vermutung, dass die emotionale Ladung von Lexemen ein Hauptgrund für die unterschiedliche Wahrnehmung der Persönlichkeit ist. Es zeigte sich, dass Emotionswörter als eine separate Klasse von Wörtern im mentalen Lexikon betrachtet werden müssen. Emotionswörter stellen eine eigene Konzeptkategorie dar, sodass sich kulturelle Bedeutungen hier deutlicher zeigen. Der Stellenwert von Emotio‐ nen spiegelt sich in verschiedenen Kulturen allein darin, wie viele Emotionswörter es überhaupt gibt. Im Englischen werden ca. 1000 Emotionswörter gezählt, im Chewong (einer malaysischen Sprache) dagegen lediglich ca. 10 (Pavlenko 2008). Auch im Migrationsprozess muss berücksichtigt werden, dass die emotionale Bin‐ dung zu einer Sprache und Kultur, insbesondere der Muttersprache, gegeben ist (Grojean/ Li 2013, Pavlenko 2002). Krumm (2010, 2013) weist darauf hin, dass das Auf‐ geben einer Sprache im Rahmen eines Migrationsprozesses, in welchem in der Regel erwartet wird, dass Migrant: innen die Sprache der Aufnahmegesellschaft möglichst rasch erlernen, einer Reduzierung der Identität gleichkommt. Daher ist es wichtig, sprachliche Ressourcen der Muttersprache zu nutzen, indem zwei- oder mehrsprachige Kommunikationsmöglichkeiten angeboten werden und die neue Sprache als Bereiche‐ rung betrachtet wird. Mit der Frage nach der Konstruktion von Ich-Identität sind auch Studien relevant, die sich mit Gedächtnisleistungen bei Bilingualität auseinandersetzen. Das Gedächtnis ist immer von Gefühlstönen begleitet, da Konzepte als abstrahierte Gedächtniseinheiten neben auditiven, visuellen, olfaktorischen und somatosensorischen Elementen auch affektive Eindrücke enthalten (Pavlenko 2009). Die Emotion steht also in Bezug zur Sprache und zur Gedächtnisbildung. In Analogie zur sprachlichen Relativität (Werlen 2002) kann mit Lindquist et al. (2013) auch von emotionaler Relativität gesprochen werden. Marian/ Neisser (2000) untersuchten die Gedächtnisleistungen von bilingualen Indi‐ viduen und stellten fest, dass Ereignisse in der Sprache besser erinnert werden, in der sie sich ereignet haben. Das Sich-Ereignen hat einen Gefühlston, sodass Erinnern sowohl eine Sprachabhängigkeit als auch in gewisser Weise eine Emotionsabhängig‐ keit aufweist. Noch deutlicher werden diese emotionalen Bezüge zu einer Sprache bei der Untersuchung des autobiografischen Gedächtnisses. Schrauf (2000, 2003) und Schrauf/ Rubin (1998, 2000, 2004) stellten bei ihren Studien zum autobiografischen Gedächtnis bei bilingualen Individuen fest, dass Erinnerungen aus dem Herkunftsland mit der Erstsprache und Erinnerungen an Ereignisse nach der Emigration mit der neu erlernten Sprache verbunden werden. Angenommen wird, dass die Erstsprache emo‐ 242 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="244"?> tionsgeladener ist als die Zweitsprache (Pavlenko 2008, Dewaele 2004). Dass es nicht nur der Emotionsgehalt ist, sondern auch gesellschaftliche Gepflogenheiten hinter dem Sprachgebrauch zu finden sind, konnten Marian/ Kaushanskaya (2004) zeigen. Bei den Erzählungen von Erinnerungen ihrer russisch-englischen Proband: innen ergab sich, dass die befragten Personen auf Russisch mehr Pronomen in der ersten Person Plural und auf Englisch mehr Pronomen der ersten Person Singular verwendeten. Dies wird als Indiz interpretiert, dass es bei bikulturell bilingualen Individuen beim Wechsel der Sprache zu einem Wechsel der kulturellen Konstrukte und Erinnerungen kommt. Es wird vermutet, dass dies auch das Selbstwissen, die Selbstwahrnehmung und die Selbstbeschreibung einschließt. Erinnerungen sind bei Mehrsprachigkeit - je nach Sprachgebrauch - folglich anders verankert als bei monolingualen Individuen. Mit der Sprache variiert bei bilingualen Individuen die Emotionalität und Ge‐ dächtnisbildung. Die Erstsprache ist in der Regel die emotionalere und bindet intensiver autobiografische Erinnerungen. Der Gedächtnisabruf ist insgesamt besser, wenn Ereignisse in derselben Sprache erinnert werden, in der sie erlebt wurden. Die Betrachtung der Selbstbildung ist Teil der Psychoanalyse, sodass mit psychoanalytischem Blick auf das Selbstwertgefühl von bilingualen Individuen geschaut wird. In einer Studie mit sprachlich gut ausbalancierten bilingualen Personen, die zunächst wegen nicht sprachbezogener Identitätskonflikte in Behandlung waren, zeigten sich in einem relativ weit fortgeschrittenen Stadium der Therapie Identitätskonflikte (Marcos/ Eisma/ Guimon 1977). Es war das Aufscheinen des sprachbezogenen Doppel‐ gefühls des Selbst, das sich als Konfliktfeld darstellte. Auf der bewussten Ebene berichteten Patienten beispielsweise von depressiver Verstimmtheit in Bezug auf das Doppelerleben des Selbst oder auch von Verlust der Emotionalität in einer der Sprachen. Ein Problem stellt dabei das Sich-in-der-anderen-Sprache-Hören dar, denn die bilingualen Individuen zeigten unterschiedliche emotionale Reaktionen auf das Hören der eigenen Stimmen. Die sensorische Rückkopplung scheint folglich für die Bildung des Identitätsgefühls relevant zu sein. Eine weitere Beschreibung betrifft die Wahrnehmung der Selbstkontinuität, da Klient: innen das Gefühl beschreiben, nicht dieselbe Person zu sein, nachdem sie eine weitere Sprache erworben haben. Hier sind sicherlich kulturelle Werte in die Erinnerung mit eingebunden, das kann Flucht oder Emigration sein, oder auch, dass mit der Sprache des Vaters die väterlichen Attribute und mit der Sprache der Mutter die mütterlichen Attribute assoziiert werden. Die Suche der bilingualen Individuen nach der Erfahrung „this is the real me“ liegt in der Ermunterung, das doppelte Selbst und damit die sprachliche Dualität als Seiten einer Person zu betrachten (Marcos/ Eisma/ Guimon 1977, S. 288). Es geht dabei um 12.2 Mehrsprachige Identität 243 <?page no="245"?> eine Integration dieses Doppelgefühls des Selbst und die Entwicklung einer in sich harmonischen Persönlichkeit. Heinz (2001) interessierte sich für Lebenserfahrungen von bilingualen Individuen und konnte in ihrer Studie mit Tiefeninterviews ein kontroverses Ergebnis hinsichtlich der ersten Sprache aufzeigen: Auf der einen Seite berichteten Proband: innen, dass sie einen emotionaleren und intimeren Bezug zu ihrer Erstsprache hatten und sich hier freier und wohler im Ausdruck fühlen. Auf der anderen Seite beschrieben Proband: innen ihre Erstsprache als herausfordernd und äußerten eher Unbehagen damit, sodass die Zweitsprache bevorzugt wird, um sich von Tabus und Zwängen der Muttersprache zu befreien. Das Zusammenspiel von Sprache, Identität und Kultur war jedoch deutlich erkennbar, sodass die Proband: innen ein Bewusstsein dafür zeigten, dass mit dem Sprachgebrauch sowohl Aspekte der kulturellen als auch der persönlichen Identität gelebt werden. Die intrapsychische Betrachtung macht deutlich, dass die Verinnerlichung der Kulturen und der jeweiligen Sprachen zu einer ausgeprägten mehrsprachigen Iden‐ tität führt. Die Dopplung des Selbst kann durchaus kontrovers wahrgenommen werden und es kann angenommen werden, dass bikulturell bilinguale Individuen eine völlig andere Integrationsleistung bei der Identitätsarbeit aufbringen als monolinguale Individuen. Im Rahmen der Erforschung interpsychischer Aspekte von Mehrsprachigkeit und Ich-Identität geht es um kulturspezifische Auslöser, die dann kulturspezifische Zu‐ schreibungen und Bewertungen erzeugen (Benet-Martínez et al. 2002, Hong et al. 2001). Ein Wechsel zwischen den verschiedenen Kulturen wird mit kultureller Akkommoda‐ tion (Bond/ Yang 1982) oder cultural frame switching (Hong et al. 2000) bezeichnet. So kann sowohl eine Sprache als auch eine kulturspezifische Verhaltensweise zu einem Wechsel zwischen den Kulturen führen. Im Folgenden wird auf kulturelle Rahmen und das cultural frame switching eingegangen. Als Ausgangspunkt interkultureller Forschung können kulturelle Rahmen angesehen werden, die dafür verantwortlich sind, dass offensichtlich exakte Übersetzungen desselben Sachverhalts in verschiedenen Sprachen nicht immer möglich sind, weil un‐ terschiedliche kulturspezifische Assoziationen hervorgerufen werden (Kroll/ de Groot 1997). Diese Assoziationen spiegeln die Unterschiede in den kulturellen Frames oder auch kulturellen Stereotypen wider. Ein Beispiel für solche sprachlichen Stereotype gibt Meyer (2018, s. Kapitel 4.1). Es wird davon ausgegangen, dass bikulturell bilinguale Individuen unterschiedliche kulturelle Rahmen haben, die mit jeder ihrer Sprachen und Kulturen verbunden sind. Jeder Rahmen besteht aus eigenen Repertoires von Wer‐ ten, Verhaltensweisen und Weltanschauungen, die eigene Identitäten konstituieren können. Das heißt, bikulturell bilinguale Individuen mit umfangreichen Erfahrungen 244 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="246"?> in zwei Kulturen greifen je nach soziokulturellem Kontext auf unterschiedliche kul‐ turspezifische kognitive Strukturen oder mentale Rahmen zu. Bikulturell bilinguale Individuen haben folglich zwei Kulturen in sich aufgenommen und sprechen die Sprachen dieser Kulturen. Wenn sie von einer bestimmten Sprache angesprochen werden, aktivieren diese Individuen unterschiedliche kulturspezifische Konzepte oder mentale Rahmen, die Aspekte ihrer Identität beinhalten. Der Wechsel zwischen kulturspezifischen mentalen Rahmen wird als frame switching bezeichnet (Briley/ Morris/ Simonson 2005, Hong et al. 2000). Bikulturell bilinguale Individuen sind damit nicht nur in der Lage, zwei kulturelle Rahmen zu verstehen, sondern auch, ihr Verhalten entsprechend anzupassen (LaFromboise/ Coleman/ Gerton 1993, Bond/ Yang 1982). Luna/ Ringberg/ Peracchio (2008) zeigen in ihrer Studie, dass nur bei bikulturell bilingualen Individuen durch Sprache ein frame switching ausgelöst werden kann, bei monokulturell bilingualen Sprecher: innen dagegen nicht. Darauf hatten auch Benet-Martínez, Leu, Lee & Morris (2002) in ihrem Primingexperiment hingewiesen. Sie konfrontierten Amerikanisch und Chinesisch sprechende bikulturell bilinguale Individuen mit typisch amerikanischen und typisch chinesischen Bildern. Für typisch Amerikanisch war es beispielsweise die amerikanische Flagge und Superman, für typisch Chinesisch wurde die chinesische Mauer und der chinesische Drache verwendet. Unter der amerikanischen Primebedingung kam es zu mehr individualistischen Zuschreibungen, d.-h. die eigene Person betreffend, während es unter der chinesischen Primebedingung zu mehr extern attribuierten Assoziationen kam, also Zuschreibungen die Gruppe betreffend. Das kulturelle Wissen führt damit zu einem frame shifting, d. h., je nach Kultur kommt es zu einer unterschiedlichen Interpretation desselben Sachverhalts. Die interpsychische Betrachtung von mehrsprachigen Individuen verdeutlicht die Rolle der Kultur bei der Ausbildung der Ich-Identität. Es werden kulturelle Rahmen ausgebildet, die den äußeren Lebensformen entsprechen, und es kann zwischen diesen Rahmen gewechselt werden. ▢ Was macht die Thematik Mehrsprachigkeit komplex? Mehrsprachigkeit stellt inzwischen die Norm der Weltbevölkerung dar. Auch wenn sich viele linguistische Studien nach wie vor auf monolinguale Indivi‐ duen beziehen, entspricht das mehrsprachige Individuum eher der Realität. Das Thema Mehrsprachigkeit ist deshalb so komplex, weil nicht genau definiert werden kann, ab wann die ausgebildete Sprachkompetenz als mehrsprachig gelten kann, d. h., ab wann Sprachen derart gekonnt werden, dass von einer Mehrsprachigkeit gesprochen werden kann. Hinzu kommt, dass auch die kulturelle Verankerung in der jeweiligen Sprache dafür relevant ist, wie und ob sich eine Sprachidentität ausbildet. 12.2 Mehrsprachige Identität 245 <?page no="247"?> ▢ Inwiefern wirkt sich Mehrsprachigkeit auf die Identitätsbildung aus? Es kann davon ausgegangen werden, dass jede Sprache die Identitätsbildung beeinflusst, da je nach Sprache unterschiedliche Aspekte der Identität betont werden (können). Mehrsprachigkeit ist allerdings keine feste und konstante Größe und eine Sprachdominanz kann sich im Laufe des Lebens je nach Gebrauchshäufigkeit und Kontext verändern. Auch können Sprachen, wenn sie gar nicht mehr genutzt werden, gänzlich verschwinden. Mehrsprachigkeit steht also für sprachliche Ressourcen und eine Bereicherung von Kommuni‐ kationsräumen und von Identitätsbildungsprozessen. Insofern handelt es sich bei der Einflussgröße Mehrsprachigkeit - wie beim Identitätsbildungsprozess - um eine Bewegung. ▢ Wie bildet sich Ich-Identität mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen zugrunde gelegten Kulturen aus? Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten, bikulturell bilingual zu sein, bleiben noch einige Forschungsfragen offen. Der Blick in den Forschungsstand zeigt in vielen Beispielen, dass es einen Unterschied in der Selbstwahrnehmung von bilingualen Individuen gibt. Dieser Unterschied wurde zwar schon vor 100 Jahren ebenfalls beschrieben, nur ist der zu unterstreichende Unterschied heute, dass Bilingualität zu begrüßen ist und eine Bereicherung darstellt. Diese mehrsprachige Praxis kann allerdings durch das Überwinden kultureller und auch politischer Vorurteile noch wesentlich begünstigt werden. Als These kann gelten: Je mehr die Kulturen der Sprachen verinnerlicht sind und je ausbalan‐ cierter die Mehrsprachigkeit ist, desto ausgeprägter ist das mehrsprachige Identitätsempfinden. Grosjean, Francois; Li, Ping (2013). The psycholinguistics of bilingualism. Chichester u.-a.: Wiley-Blackwell. Paradis, Johanne, Genesee, Fred & Crago, Martha B. (2021). Dual language development & disorders: A handbook on bilingualism and second language learning. Baltimore: Paul H. Brookes Publishing. Riehl, Claudia Maria (2014). Mehrsprachigkeit. Tübingen: Narr Francke Attempto. Le Havre. Aki Kaurismäki (Regie, 2011), Finnland, Frankreich und Deutschland. Eine be‐ wegende Flüchtlingsgeschichte, in der der Protagonist mit aktuellen Fragen unserer Zeit konfrontiert ist. Die bei Kaurismäki allgemein langsame Erzählweise lässt genügend Zeit, um über Identität, soziale Kontexte und verschiedene Sprachen nachzudenken. Die Fremde. Feo Aladag (Regie, 2010), Deutschland. In diesem Filmdrama wird Mehrspra‐ chigkeit und kulturelle Hybridität beleuchtet und der Zuschauer gelangt zwischen Ex‐ 246 12 Mehrsprachigkeit und Identität <?page no="248"?> tremismus, Zwängen und Ehrenmord an ein vielschichtiges Familienporträt zwischen Kulturen und Sprachen. Das Fräulein. Andrea Štaka (Regie, 2006), Schweiz und Deutschland. In der Schweiz treffen drei Frauen aus drei Generationen mit drei Sprachen und drei Schicksalen aufeinander. Es ist ein schonungsloser Blick auf das mühsame Aufrechterhalten einer sich zersetzenden Identität aufgrund der sozialen Umstände. 12.2 Mehrsprachige Identität 247 <?page no="250"?> 13 Sprache, Identität und soziale Medien Die Erweiterung der Sozialität über die sozialen Medien, verbunden mit Vor- und Nachteilen, ist ein aktuelles Thema. Dieses Kapitel befasst sich damit, inwiefern die Interaktion mit sozialen Medien die Identitätsarbeit beeinflusst. Leitfragen dieses Kapitels sind: ▢ Welche Veränderungen der Kommunikationsräume von Face-to-Facezu Face-to-Screen-Kommunikation können beschrieben werden? ▢ Wie wird die Ich-Identität in sozialen Medien dar- und hergestellt und welche Rolle spielt die Selbstpräsentation im Internet? ▢ Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Online- und Offline-Identitäten? Der Fortschritt verschiedenster Technologien verändert auch die Kommunikation in der Gesellschaft. Insbesondere die rasante Entwicklung der Medientechnologien wirkt sich direkt auf kommunikative Prozesse aus. Die ständige Erreichbarkeit und die damit verbundene Erwartung, rasch eine Antwort zu bekommen, verändert das zwischenmenschliche Verhältnis. Beim Verständnis von Sozialität wurde bisher von Face-to-Face-Netzwerken in Präsenz ausgegangen. Der Offline-Charakter von Sozi‐ alität wird nun durch digitale Face-to-Screen-Netzwerke ergänzt, geht sozusagen online. Soziale Netzwerke können sich dementsprechend sowohl in analogen als auch digitalen Räumen bilden. Die räumliche Reichweite der Kommunikation wird über Face-to-Screen-Kommunikation wesentlich erweitert und ebenso die Anzahl an Individuen, die erreicht werden können. Folglich verändern sich durch die Sozialität sozialer Medien die Interaktionsmöglichkeiten grundlegend, sodass davon ausgegan‐ gen werden muss, dass auch Identitätsbildungsprozesse insbesondere über virtuelle andere maßgeblich mitgestaltet werden. Was meinen Sie: Wirkt sich die Veränderung von Face-to-Facezu Face-to-Screen-Kommunikation aufgrund von viel mehr Interaktionsmöglichkei‐ ten durch die sozialen Medien positiv oder negativ auf die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz und die Identitätsbildung des Individuums aus? Erstellen Sie eine Pro- und Kontraliste! Durch die digitalen Veränderungen bilden sich neue Kommunikationsräume, woraus sich auch neue Kognitionsräume und damit auch neue Räume der Identitätsbildung entwickeln (Kneidinger-Müller 2020). Um herauszufinden, welche Rolle soziale Medien bei der Identitätsbildung spielen, ist es wichtig, zunächst die digitale Sozialität zu betrachten, d. h. eine Bestandsaufname zu machen, welche Möglichkeiten soziale <?page no="251"?> Medien anbieten (Gabriel/ Röhrs 2017). Dann gilt es zu untersuchen, wie sich kom‐ munikative Prozesse von Face-to-Facezu Face-to-Screen-Kommunikation verändern (Werani 2019), und abschließend soll betrachtet werden, was virtuelle Identitätsbildung bedeutet. Die Sozialität wird durch die Digitalität der sozialen Medien um einen Aktions‐ raum erweitert. Diese Erweiterung beeinflusst die Kommunikation, die Kognition und die Identitätsbildung. 13.1 Soziale Medien - eine Bestandsaufnahme Inzwischen gehören soziale Medien zum alltäglichen Leben, sodass die sozialen Netzwerke in Präsenz um internetbasierte soziale Netzwerke erweitert werden. Unter dem Begriff soziale Medien verstehen Gabriel/ Röhrs (2017, S. 12) „digitale Medien und Technologien, die es den Nutzern ermöglichen, sich untereinander in einem Netz, z. B. im Internet, auszutauschen und mediale Inhalte einzeln oder in Gemeinschaft zu erstellen und weiterzuleiten“. Ganz allgemein können bei sozialen Medien zwei Klassen unterschieden werden: Information und Kommunikation. Bei der Information geht es vor allem um die Vermittlung von Inhalten, wie sie auf einer Homepage zu finden sind; bei der Kommunikation findet vor allem Austausch und Kontakt mit anderen statt, wie es seit dem Web 2.0 realisiert wird. Eine differenziertere Einteilung sozialer Medien kann sich auch an den Anwendungsbereichen orientieren (Schmidt 2018, Gabriel/ Röhrs 2017), es werden dann Kommunikation, Kollaboration und Wissensmanagement sowie Multimedianutzung und Unterhaltungsanwendungen unterschieden: ▶ Kommunikation: Messengers (WhatsApp, Threema, Signal etc.), Webblogs (Erleb‐ nisblogs, Politikblogs, Food-Blogs etc.), Microblogs (Twitter etc.), Foren, Netzwerk‐ plattformen (Facebook, LinkedIn, XING, Google+ etc.). ▶ Kollaboration und Wissensmanagement: Wikis (Wikipedia, GuttenPlag-Wiki etc.), Foto- und Video-Sharing (Snapchat, Vimeo etc.), Musikstreaming (Spotify, Sound‐ cloud etc.). ▶ Multimedia-Nutzung und Unterhaltungsanwendungen: Multimedia-Plattformen (YouTube, Instagram etc.), virtuelle Welten und Spiel (MMOGs etc.). Bei einem Ranking der wichtigsten sozialen Netzwerke in Deutschland nach Marken‐ bekanntheit (de.statista.com 2022) nehmen YouTube (95 %), Facebook (94 %) und Instagram (92 %) die ersten drei Plätze ein. Zur Popularität und Beliebtheit sozialer Medien tragen sicherlich u. a. die leichte Zugänglichkeit und Benutzerfreundlichkeit, die globale Reichweite sowie die Multimedialität bei (Gabriel/ Röhrs 2017). Insbeson‐ 250 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="252"?> dere die Multimedialität stellt mit der Kombination von Text, Grafik, Sprache, Musik, Foto und Film umfangreiche Facetten zur Verfügung. Die Erforschung sozialer Medien steht in Konkurrenz mit der raschen Entwicklung der Technologien und ist stets ein wenig langsamer (s.-Infobox). Unter sozialen Medien werden virtuelle Gemeinschaften im Internet zusam‐ mengefasst, die das Internet sowohl zur Informationsvermittlung als auch zur Kommunikation, also Beziehungsherstellung und -pflege, nutzen. Die rasante Entwicklung von sozialen Medien Tim Berners-Lee ist der Begründer des World Wide Web (Berners-Lee/ Fischetti 1999). Was mit HTML als Ausgangssprache begann, wurde bald mit weiteren Standards ergänzt. Zunächst war das World Wide Web für den Austausch wissen‐ schaftlicher Informationen, dann insgesamt zur Informationsdarstellung gedacht. Dennoch konnte schon in den 1990er-Jahren das Verwischen von Öffentlichkeit und Privatsphäre in öffentlichen Selbstdarstellungen beobachtet werden (Cars‐ tensen et al. 2013). Der Begriff Web 2.0 erfuhr Mitte der 2000er-Jahre durch Tim O’Reilly Popularität (Schmidt 2018). Damit ist ein qualitativer Sprung der Netznutzung gekennzeichnet, da mit 2.0 eine neue, verbesserte Fassung der sozialen Medien erreicht war. Auch inhaltlich kam es zunehmend zu interaktiven Anwendungen, durch die die Nutzer selbst Inhalte erstellen und bearbeiten konn‐ ten. Mittlerweile gehört es zur gängigen Praxis, dass private Inhalte öffentlich gemacht werden. Mit ständig neu entwickelter Software in den sozialen Medien ist es zudem möglich, dass sich Nutzer stärker und einfacher untereinander vernetzen können. Einen weiteren technologischen Schub erfährt die Nutzung des WWW durch die Verbreitung des Smartphones. Auch wenn es in den 1990er-Jahren bereits Smartphones gab, begannen sich diese erst 2010 über die Einführung des iPhones 207 und des Betriebssystems Android umfangreich zu verbreiten. Die Kommunikation fand dadurch technologisch völlig neue Formen, sodass es auch gänzlich neue Sprach- und Kommunikationsmuster gab. Daran angepasst sind zunehmend auch neue Berufsfelder wie Bloggerinnen, Media- oder Community-Manager entstanden (Carstensen et al. 2013). Die rasche Entwicklung der Technologien macht es schwer, tatsächlich einen aktuellen Überblick über die Forschung zu behalten, da diese der Technologie stets hinterherhinkt. Modelltheoretisch können die Veränderungen zwischen Face-to-Facevs. Face-to-Screen-Kommunikation folgendermaßen skizziert werden (Abbildung 35). 13.1 Soziale Medien - eine Bestandsaufnahme 251 <?page no="253"?> Abbildung 35: Face-to-Face- und Face-to-Screen-Kommunikation Im Face-to-Face-Modell ist das grundsätzliche Bezugssystem des Kommunikations‐ raums der dynamische, wechselseitige Dialog zwischen den anwesenden Individuen. Damit richtet sich der Blick offensichtlich auf die Aushandlung von Inhalten zwischen den Individuen, also die im Moment entstehende Intersubjektivität. Das Fundament für die Entstehung eines Kommunikationsraumes bildet folglich die Beziehungsebene und die körperliche Anwesenheit im Hier und Jetzt (Anselm/ Werani 2017). Es wird davon ausgegangen, dass die fundamentale Erfahrung aller gesellschaftlichen Interaktion diejenige von Angesicht zu Angesicht ist und dass wir uns in unserem Subjekt-Sein nur an der Fülle von Anzeichen im präsenten Hier und Jetzt erkennen (Berger/ Luckmann 1966). Das Face-to-Screen-Modell hat zwischen die Individuen eine technische Kompo‐ nente geschaltet (Michelis 2015), d. h., alle Interaktion endet - in welcher Form auch immer - an einem Screen. Die wechselseitige Aushandlung mit dem Individuum hinter dem Screen hat damit andere Bedingungen, die es im Folgenden zu analysieren gilt, da die Beziehungsebene durch die fehlende körperliche Anwesenheit bereits eine völlig andere Voraussetzung hat. Ein Beispiel für solch eine Veränderung der Interaktion ist die Zoom-Fatigue (s. Infobox). Zoom-Fatigue Ein in der Covid-19-Pandemie (2020-22) verstärkt aufgetretenes Phänomen aufgrund der verlängerten Bildschirmzeiten ist die Zoom-Fatigue. Dieser Be‐ griff steht stellvertretend für alle Online-Konferenzen und bezeichnet eine Ermüdung, die auf die vielen Online-Sitzungen zurückzuführen ist. Bailenson (2021) fasst Ursachen für die Ermüdung zusammen. Seiner Beobachtung nach ist ermüdend, - dass der ständige und intensive Versuch, Blickkontakt aufzunehmen, schei‐ tert, da der Blick in der Online-Betrachtung nicht erwidert werden kann; - dass es die ständige und unnatürliche Möglichkeit der Selbstbetrachtung während der Kommunikation gibt; - dass die Körper nahezu unbeweglich vor der Kamera sitzen und sogar kleinere Bewegungen reduziert sind; 252 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="254"?> - dass die große Darstellung des Gegenübers eine unnatürliche Nähe suggeriert und das Gehirn in Alarmbereitschaft versetzt; - dass insgesamt eine wesentlich höhere kognitive Belastung besteht, da es schwieriger ist, Körpersprache, wie Nicken oder Kopfschütteln, sowohl zu erzeugen als auch zu entschlüsseln. Um der Ermüdung entgegenzuwirken, bietet Bailenson Lösungen an, wie bei‐ spielsweise die Zoom-Anzeige durch die Galerieansicht zu verkleinern, das eigene Video zu verbergen, die Kamera so zu lokalisieren, dass bequemes Sitzen möglich ist und der Bewegungsspielraum größer wird, sowie kleine Auszeiten von der Kamera zu nehmen. Von Face-to-Facezu Face-to-Screen-Kommunikation eröffnen sich neue Kom‐ munikationsräume, da sich durch die Technik veränderte Bezugssysteme erge‐ ben. 13.2 Veränderungen der Kommunikation durch soziale Medien Kommunikation zählt zu den wichtigsten Fähigkeiten des täglichen Lebens, denn sie ist das zentrale Mittel der Kooperation von Individuen. Die Online-Kommunikation nimmt inzwischen ca. die Hälfte der interpersonalen Kommunikation ein und stellt damit keine isolierte Sphäre dar (Döring 2019). Jeder Kommunikation liegt ein Motiv zugrunde, das entsprechend der Person und Situation an das Medium angepasst wird, sodass sich im Fall der Face-to-Face- oder Face-to-Screen-Kommunikation die Vermitt‐ lung verändert (Bubaš/ Spitzberg 2008). Im Folgenden werden diese Veränderungen anhand von drei Aspekten beleuchtet, die im Modell in Abbildung 36 verdeutlicht werden. Es handelt sich wieder um Betrachtungen der psychologischen und soziologi‐ schen Aspekte sowie der Veränderung der sprachlichen Zeichen über die Vermittlung mit sozialen Medien. Abbildung 36: Veränderungen in der Face-to-Screen-Kommunikation unter (1) psychologischen, (2) soziologischen und (3) sprachlichen Aspekten 13.2 Veränderungen der Kommunikation durch soziale Medien 253 <?page no="255"?> Veränderungen in den psychologischen Prozessen der Interaktion zeigen sich zunächst in der Körperlichkeit, denn die mit dem Körper verbundene Ich-Origo wird durch den Screen aufgelöst und es findet damit eine Entkörperung statt. Es fehlt folglich bei der Face-to-Screen-Kommunikation die unmittelbare Wechselwirkung zwischen den Körpern, was sich auf die gesamte Wahrnehmung des anderen auswirkt. Es ist beispielsweise schwieriger zu erkennen, wer die Gesprächsinitiative ergreifen möchte, und auch die Motive, die jeder Kommunikation in Form von Bedürfnissen zugrunde liegen, sind schwerer zu vermitteln (Spitzberg 2006, Max-Neef 1991). Insbesondere für die Gesprächsorganisation im Video-Chat fehlt der Augenkontakt, der auch die Sprecherwechsel regelt, sodass das Fehlen nonverbaler Aspekte insgesamt zu einer geringeren Qualität der Interaktion führt (Bubaš/ Spitzberg 2008). Auch Döring (2003) beschreibt Interaktionen über soziale Medien als weniger emotional und weniger real. So ist es möglich, einen Avatar oder gar mehrere Avatare zu erstellen und sich online als jemand anderes auszugeben oder sich selbst neu zu erfinden. Es können Identitäten erzeugt werden, die mit dem eigenen realen Körper nichts zu tun haben müssen. Körperlichkeit trägt folglich viele Informationen zum Kommunikationsraum bei. Werden zum Beispiel die Berührungen während einer Begrüßung betrachtet, wird deutlich, dass Face-to-Face-Informationen, wie Temperatur, Muskeltonus, Geruch etc., über die andere Person aufgenommen werden, während die Entkörperung Face-to-Screen zu einer veränderten Wahrnehmung des anderen führt. Diese verän‐ derte Körperwahrnehmung beeinflusst auch die Prozesse des Meinens und Verstehens, was vorteilhaft oder nachteilig genutzt werden kann, wie es noch bei den Adres‐ sierungsprozessen (s. u.) gezeigt werden wird. Durch die Entkörperung ist in der Face-to-Screen-Interaktion auch eine passive Teilhabe an der Kommunikation leichter möglich, so können Inhalte sozialer Medien einfacher konsumiert werden. Dies zeigt sich beispielsweise in Online-Meetings, wenn die Bildschirme ausgeschalten bleiben und sich damit die Möglichkeit ergibt, gleichzeitig andere Dinge zu erledigen. Außer‐ dem gibt es Face-to-Screen-Interaktionsformate, die in Face-to-Face-Interaktionen nur schwer möglich sind, wie das Ghosting, bei dem abrupt der Kontakt abgebrochen wird, oder das Benching, sich immer wieder mal unverbindlich zu melden. Körperlichkeit und Entkörperung beeinflussen Kommunikationsprozesse grundlegend. Das Fehlen von Information über den anderen (z. B. Geschlecht, Aussehen) kann allerdings auch zu einer vorurteilsfreieren Begegnung beitragen und auch unverbindlichere Kontakte ermöglichen. Die aktive Ausrichtung auf das Gegenüber verändert sich also durch die Entkörperung, da sich in Face-to-Face-Interaktionen die persönliche Anwesenheit zwingend auf inter‐ aktive Prozesse auswirkt. Das erste Axiom von Watzlawick et al. (1967, S. 53) „Man kann nicht nicht kommunizieren“ ist folglich nicht eins zu eins auf die Face-to-Screen-Kom‐ 254 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="256"?> munikation übertragbar. Es verändern sich in der Face-to-Screen-Kommunikation die Wirkfaktoren der Projektion und Selektion als grundlegende psychologische Prozesse der Kommunikation. Diese beiden Prozesse können auch als subjektive Wahrneh‐ mungsfilter bezeichnet werden und sind immer aktiv, wenn sich Individuen gegenseitig einen ersten Eindruck verschaffen. Wesentlich ist, dass der Ausdruck des Sprechenden sowohl proximale als auch distale Merkmale enthält (Brunswik 1965). Die proximalen Merkmale sind die offensichtlich beobachtbaren Aspekte der gesamten sprachlichen Tätigkeit, d. h., es kann direkt erfasst werden, was Sprechende verbal im Sprechstil, mit der Stimme und auch körpersprachlich ausdrücken. Zum Gesamtausdruck einer Person werden zudem auch das Aussehen und die Kleidung gerechnet (Anselm/ Werani 2017, Röhner/ Schütz 2020). Bei den wahrgenommenen Eindrücken der Gesprächspart‐ ner: innen kommen zu diesen proximalen Merkmalen noch die distalen Merkmale dazu, die nicht direkt beobachtbar sind, sondern erschlossen werden. Dieser Erschließung liegen die Prozesse der Projektion und Selektion zugrunde. Bei den projektiven Prozessen wird das Wahrgenommene gedeutet, sodass das eigene Weltwissen in den anderen hineinprojiziert wird, d. h., es kommt zu einem Hineindeuten der eigenen Erfahrungen und Erwartungen in den anderen. Mit dem ersten Eindruck werden folglich Stereotype aktiviert, die im unreflektierten Fall auch zu Vorurteilen führen können. Das ist auch ein Nachteil dieses Prozesses, da es bei der Wahrnehmung immer auch zu Fehldeutungen kommen kann und somit zu einer Wahrnehmungsverzerrung. Der Halo-Effekt ist ein Beispiel für solch eine kognitive Verzerrung, da von der Wahrnehmung einer Eigenschaft einer Person auf weitere (unbekannte) Eigenschaften geschlossen wird (Asendorpf 2019). Wird ein Individuum beispielsweise als sympathisch wahrgenommen, werden oft Eigenschaften wie gesellig, intelligent oder großzügig dazu assoziiert. Denselben Effekt gibt es natürlich auch bei einem negativen ersten Eindruck, indem dem Individuum dann weitere negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Ein weiteres Beispiel ist der Pygamlion-Effekt, der eintritt, wenn eine positive oder negative Einschätzung einer Person vorweggenommen wird. Wird einem Lehrer beispielsweise suggeriert, dass einige Schülerinnen besonders begabt sind, fördert er diese unbewusst so, dass sie am Ende tatsächlich bessere Leistungen zeigen (Rosenthal 2002). Die Erwartung, dass sich etwas auf eine bestimmte Art und Weise ereignet, verursacht gewissermaßen das erwartete Ereignis. Dieses Phänomen ist auch unter dem Begriff self-fulfilling prophecy bekannt (Ludwig 2018). Dazu kommen selektive Prozesse, die die Wahrnehmung auf Aspekte lenken, die besonders gut oder gar nicht in das eigene Weltbild passen. In dem genannten Beispiel würde selektiert werden, was die vermeintlich begabteren Schülerinnen besonders gut können, weniger, was sie nicht können. Diese Anpassungsprozesse der Wahrnehmungen an das eigene Weltbild laufen in einer Face-to-Face-Kommunikation anders ab als in einer Face-to-Screen-Kommuni‐ kation, denn sie sind unter anderem abhängig davon, wie die sprachliche Äußerung präsentiert ist und wie nonverbale Aspekte oder auch der sozioökonomische Status wahrnehmbar sind. Im Rahmen von Filtermodellen wird davon ausgegangen, dass 13.2 Veränderungen der Kommunikation durch soziale Medien 255 <?page no="257"?> insbesondere in der Face-to-Screen-Kommunikation das Herausfiltern sozialer Hin‐ weisreize vorteilhaft sein kann. Werden beispielsweise der sozioökonomische Status, das Alter und Geschlecht bereits durch das Medium herausgefiltert, können Meinens- und Verstehensprozesse erleichtert werden. Im positiven Fall kann der sprachliche Anteil intensiviert wahrgenommen werden, da er durch nonverbale Aspekte nicht beeinflusst wird, wie zum Beispiel durch die Wahrnehmung des Status über Klei‐ dung oder Accessoires. Somit ist in der Face-to-Screen-Kommunikation sogar eine vorurteilsfreiere Kommunikation möglich, im negativen Fall kann es jedoch auch zu Enthemmung in Formen von Aggression kommen (Döring 2019). In manchen Fällen wird die Filterwirkung sogar bewusst eingesetzt, um einen objektiven Blick auf Bewerbungsunterlagen zu bekommen. So können beispielsweise in einem ersten Schritt Name und Passfoto maskiert werden, um sich lediglich über den Lebenslauf und die Ausbildung ein Bild von Bewerber: innen zu machen. Die psychologischen Aspekte der Wahrnehmung - Projektion und Selektion - haben in der Face-to-Face- und der Face-to-Screen-Kommunikation verschiedene Wirkungsweisen. Bei der Betrachtung der soziologischen Prozesse der Aushandlung von Face-to-Face- und Face-to-Screen-Interaktionen wird deutlich, dass die Gestaltung der Intersubjektivität je nach Interaktion grundlegend unterschiedlich sein kann. Das ist zunächst nicht erstaunlich, da jedes Setting einen Einfluss darauf nimmt, wie Aushandlungsprozesse in der Kommunikation ablaufen und Kommunikationsräume konstruiert werden (s. Kapitel 2). Jedoch vervielfältigt sich in den sozialen Medien das Angebot sozialer Kontexte und es ändern sich dadurch soziale und ökonomische Strukturen (Michelis 2015). Beispielsweise können Unternehmer: innen mit ihren Kund: innen leichter in Kontakt kommen und Angebot und Nachfrage kann leichter reguliert werden. Insge‐ samt ändert sich auch die Feedback-Kultur durch die sozialen Medien erheblich, da sich die Rückmeldungsmöglichkeiten vervielfachen. Michelis weist darauf hin, dass unzählige Technologien Nutzer: innen dazu einladen, Kommunikation, Interaktion und auch Partizipation in den sozialen Medien selbst zu gestalten. Zu betrachten sind im Folgenden Veränderungen in der Verstehensaushandlung, der Adressierung, dem Kommunikationsanlass sowie der Selbstregulation und Selbstvergewisserung. Die Prozesse der Verstehensaushandlung verändern sich, da sich die dialogische Struktur Face-to-Screen verändert und damit das grundlegende Bezugssystem. In Face-to-Face-Kommunikation wird die Konstruktion von Intersubjektivität als dyna‐ misch und wechselseitig beschrieben, sodass aus der Adressierung und der wechsel‐ seitigen Bezogenheit ein Kommunikationsraum entsteht. Im Kommunikationsraum ist folglich die Beziehungsebene die Grundlage jeder Gesprächssituation und Prozesse gegenseitigen Verstehens sind zentral (Anselm/ Werani 2017). In der computervermit‐ 256 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="258"?> telten Kommunikation wird in Kanalreduktionsmodellen davon ausgegangen, dass in der Online-Kommunikation Sinneseindrücke verloren gehen und die Kommunikation im Allgemeinen unpersönlicher ist (Döring 2013). Missverständnisse in der digitalen Kommunikation würden dann auf die Kürze der Botschaften bei der Verwendung von Messengerdiensten zurückgeführt werden oder auf die Tatsache, nicht gemeinsam anwesend zu sein. Außerdem sind in der Face-to-Screen-Kommunikation die Aspekte der wechselseitigen Aushandlung nicht immer deutlich, da Rückmeldungen in Form von Likes auch anonym abgegeben werden können oder auch eine zeitliche Verzöge‐ rung möglich ist, also eine asynchrone Kommunikation. Zudem gibt es die Möglichkeit gleichzeitiger Kommunikation, d. h., aufgrund der zeitlichen Verzögerung kann mit verschiedenen Gesprächspartner: innen gleichzeitig kommuniziert werden. Bei der Adressierung der Gesprächspartner: innen sind es die veränderten An‐ passungsmöglichkeiten an die Person und/ oder Situation, die Unterschiede zwi‐ schen Face-to-Face- und Face-to-Screen-Kommunikation erzeugen. Während in der Face-to-Face-Kommunikation die Adressierung offensichtlich ist oder auch offensicht‐ lich durch verbale, paraverbale und nonverbale Signale herstellbar ist, fehlen in Online-Kontexten Signale. Dieses Fehlen von Signalen kann bis zur Anonymität reichen, sodass sich Interaktionspartner: innen völlig unbekannt begegnen (Zhao 2005). Anonymität verändert den Interaktionsprozess, da die Aushandlungsprozesse schwerer eingeordnet werden können. In der Face-to-Face-Kommunikation bleibt ein unmittelbarer Eindruck über einen Feedbackgeber bestehen, auch wenn dieser unbekannt ist. Besteht völlige Anonymität in sozialen Medien, wird unterschiedlich auf Feedback reagiert. Die Reaktion der Individuen ist weniger emotional, wenn die Personen nicht bekannt sind (Zhao 2005). Die Anpassung der Kommunikation hängt neben der Person und Situation auch mit dem Kommunikationsanlass zusammen. Der Anlass für spezifische Kommunika‐ tionssituationen wird also auch unter dem Aspekt der Eignung unterschiedlicher Medien betrachtet, d. h., es wird abgewogen, ob ein Telefonat bevorzugt werden sollte, eine E-Mail geeigneter wäre oder eine Nachricht per Messengerdienst ausreichend ist. Auch zeigen sich interpersonale Unterschiede in der Persönlichkeit bereits darin, wie Gespräche geführt werden (Bendel Larcher 2021). Dieser Aspekt der Eignung von Medien wird in der Theorie der medialen Reichhaltigkeit thematisiert und es ist letztendlich die Vielfalt an Kooperationsaufgaben, die mehr oder weniger reichhaltige Medien erfordert. So können für sachlich-inhaltliche Fakten weniger reichhaltige Medien genutzt werden, während anspruchsvollere Facetten auf sozial-emotionaler Ebene durchaus reichhaltigere Medien erfordern. Mit Döring (2013) in eine hierarchi‐ sche Rangreihe gebracht, ist erwartungsgemäß die Face-to-Face-Kommunikation in sozialer Präsenz am reichhaltigsten, gefolgt von Video-Konferenz, Audio-Konferenz, Chat-Konferenz und E-Mail-Kontakt. Als Vorteil kann im Face-to-Screen-Kontext die Möglichkeit angesehen werden, dass für jede anstehende Kommunikationssituation das am meisten geeignete Medium ausgewählt werden kann. Mit der Auswahl des 13.2 Veränderungen der Kommunikation durch soziale Medien 257 <?page no="259"?> Mediums wird bereits eine Entscheidung getroffen, die den Erfolg oder auch die Effektivität einer Kommunikation beeinflusst. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Herstellung von Intersubjektivität durch Aushandlungs- und Adressierungsprozesse Einfluss auf die Selbstregulation und die Selbstvergewisserung hat und dadurch die Bildung von Ich-Identität beeinflusst wird. So führen die Aushandlungsprozesse in den sozialen Medien nach Barth (2015) zu einer veränderten Affektregulation, sodass es v. a. bei Jugendlichen zu einer Disbalance zwischen Emotion und Kognition kommen kann. Aufgrund der veränderten Prozesse in Face-to-Screen-Kontexten kann also davon ausgegangen werden, dass virtuelle Identitäten andere Selbstregulations- und Selbstvergewisserungsprozesse hervorbringen. Bei den sozialen Aspekten in der Face-to-Face- und der Face-to-Screen-Kommuni‐ kation geht es um die Gestaltung von Intersubjektivität. Bei Face-to-Screen-In‐ teraktionen verändern sich die Aushandlungsprozesse, da ein Medium zwischen die Individuen geschaltet ist. Das Fehlen des Körpers und die Ungleichzeitigkeit in der Kommunikation verändern in den sozialen Medien die Aushandlungsprozesse, da in ausgeprägterem Maße Anonymität möglich ist. Zudem verändert sich die Anpassung an die Person, die Situation und den Kommunikationsanlass. Neue Aushandlungsprozesse führen dann zu veränderten Selbstregulations- und Selbst‐ vergewisserungsprozessen und damit zu einer Ausformung (virtueller) Ich-Identi‐ tät. Die sprachlichen Aspekte im Zwischen sind es schließlich, die intersubjektivistisch die Kommunikationsräume ausgestalten. Sprachliche Zeichen sind dabei gleichzeitig Medium und Mittel in den Prozessen der Verständigung. So kann sprachliche Tätigkeit unter dem Aspekt des Mediums betrachtet und der Frage nachgegangen werden, womit kommuniziert wird. Als Mittel wird die tatsächliche Realisierung fokussiert, d. h., wie sprachliche Tätigkeit geäußert wird. Zu den Mitteln zählen in der mündli‐ chen Kommunikation verbale Aspekte, paraverbale und nonverbale Aspekte. Für die Face-to-Screen-Kommunikation stellt sich also die Frage, wie sich durch die Wahl eines anderen Mediums auch die Mittel verändern. Das Medium kann in der Kommunikation flüchtig, also mündlich, oder beständig, also schriftlich, sein. Beim mündlichen Medium kommt es zu einer direkten Schallüber‐ tragung, die in der Regel flüchtig ist, wie es auch bei der sogenannten fernmündlichen Übertragung über das Telefon der Fall ist. Bei den Sprachnachrichten in den sozialen Medien tritt der Fall ein, dass diese aufgenommenen Nachrichten beständig sind. Ein großer Unterschied ist, dass bei der Face-to-Screen-Übertragung eine veränderte Klangqualität entsteht, je nach Technologie, d. h., die Übertragung der Sprache, insbesondere der Stimme, ist bis zu einem gewissen Grad entfremdet. Nachrichten 258 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="260"?> im schriftsprachlichen Medium, wie ursprünglich Brief, Telegramm oder Fax, werden durch digitale schriftliche Formate erweitert, dazu gehören SMS, E-Mail oder Messen‐ gerdienste. Zu beobachten ist hier, dass schriftliche Formate zunehmend auch durch Bilder und Videos ergänzt werden. Koch/ Oesterreicher (1994) beschreiben mündliche und schriftliche mediale Formen anhand der Konzeptualisierungen, die diesen Formen zugrunde liegen. Sie gehen davon aus, dass mündlichen Äußerungen konzeptuell mündliche Verarbeitungsprozesse vorausgehen, während schriftliche Äußerungen mit konzeptuell schriftlichen Verarbeitungsprozessen vorbereitet werden. Ein persönliches Gespräch ist ein Beispiel für eine mündliche Konzeptualisierung, ein Gesetzestext ist ein Beispiel für eine schriftliche Konzeptualisierung. Zwischen diesen Polen finden sich Übergänge, so sind beispielsweise Nachrichten in öffentlich-rechtlichen Sendern in der Regel schriftlich konzeptualisiert, jedoch mündlich realisiert. Eine zentrale Veränderung sprachlicher Tätigkeit in den sozialen Medien ist eine neue entstandene Form von Oralliteralität (Beck/ Jünger 2019, Werani 2019). Orallite‐ ralität entsteht in den sozialen Medien aus den überwiegend schriftlichen Formen, denen jedoch meistens konzeptuell mündliche Formen zugrunde liegen. Es kommt zu einer Vermischung der Konzeptualisierungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Schriftliche Äußerungen werden angereichert und sind häufiger, bleiben jedoch kon‐ zeptuell im mündlichen Format. Bemerkenswert ist die Anreicherung der Schriftlichkeit in sozialen Medien durch Emoticons/ Emojis, Soundwörter oder Akronyme, deren pragmatische Funktion noch nicht ausreichend geklärt wurde (Dürscheid/ Siever 2017, Döring 2013). Emojis werden in der Face-to-Screen-Kommunikation beispielsweise benutzt, um positive Emotionen auszudrücken (v. a. von weiblichen Nutzerinnen) und um parasprachliche Aspekte wie Ironie oder Witz zu kennzeichnen. Außerdem gibt es einen positiven Effekt der Wahrnehmung von Individuen, sodass Nutzer: innen von Emojis als sympathischer eingeschätzt werden (Aretz 2018, 2019). Allerdings können Emojis auch genauso fehlinterpretiert werden wie alle anderen sprachlichen Zeichen auch. Die Schwierigkeit, mit Emojis tatsächlich Inhalte zu vermitteln, zeigt sich deutlich in dem Versuch, den Klassiker Moby Dick in Emojis zu übersetzen (Benenson 2010). Die Verschiebung des Mediums von der mündlichen Kommunikation in die vorwiegend schriftliche Kommunikation der sozialen Medien ergibt eine neue Form der Oralliteralität, sodass die neue Schriftlichkeit mündlich angereichert wird. 13.3 Virtuelle Identität Im Rahmen der sozialen Medien wird die virtuelle Identität diskutiert und damit eine Unterscheidung zur Ich-Identität getroffen. Die Ich-Identität setzt sich aus der persön‐ 13.3 Virtuelle Identität 259 <?page no="261"?> lichen Identität, d. h. den Merkmalen, die das Individuum einzigartig machen, und der sozialen Identität, die das Individuum einer sozialen Gruppe zuordnen lässt, zusammen. Identität ist als Bewegung begriffen, sodass sich Ich-Identität in unterschiedlichen Facetten je nach Person und Situation zeigen kann. Die virtuelle Identität, also wie sich Individuen in sozialen Medien selbst präsentieren, kann nach Döring (2000) entweder als Scheinidentität aufgefasst werden, die einen rein fiktiven Charakter hat, sodass sich Individuen so darstellen, wie sie gerne sein möchten. Oder es handelt sich bei virtueller Identität um echte Identitätsarbeit, die vor allem die Selbsterkundung und Selbstoffenbarung fördert, um herauszufinden, wer man wirklich ist. Inwiefern die Identität als Fiktion gestaltet wird, ist davon abhängig, wie bekannt oder unbekannt die Individuen der Interaktionen sind. Bei bereits bekannten Personen ist die Orientierung an der Ich-Identität des realen Lebens größer als bei Kontakten mit unbekannten Personen, die zu einer Idealisierung der Ich-Identität verleiten kann (Kneidinger-Müller 2020). Zudem hängt die Art der Präsentation virtueller Identitäten davon ab, welche Art von sozialen Medien genutzt wird. So wird LinkedIn für eine berufliche Präsentation verwendet und Facebook eher für private Darstellungen benutzt. Entsprechend unterschiedlich fallen die Darstellungen aus. Die virtuelle Identität konstituiert sich in den sozialen Medien und es wird diskutiert, ob es sich um eine Scheinidentität handelt oder ob sie ein Teil der Identitätsarbeit ist. Im Rahmen der virtuellen Identität und der Idee, in sozialen Medien viele verschiedene Ich-Identitäten zu entwickeln, taucht der Begriff digitales Selbst auf (Zhao 2005, DeAndrea/ Walther 2011, Voirol 2010, Robinson 2007). Zhao (2005) versteht unter dem digitalen Selbst dasjenige Selbst, das durch Online-Interaktionen konzipiert wird, sodass nonverbale Aspekte oder Umweltfaktoren beim digitalen Selbst keine Rolle spielen. Im engeren Sinne kann beim digitalen Selbst beobachtet werden, wie sprach‐ liche Kommunikation, die in der Online-Interaktion Vorrang hat, die Bildung der persönlichen Identität beeinflusst. Trotz der Abstraktion von der Umwelt nimmt Zhao an, dass es sich beim digitalen Selbst dennoch um eine Facette des realen Selbst handelt. Das Selbst ist eine integrierende Struktur, die sich ständig weiterentwickelt, sodass das digitale Selbst eben jener Teil ist, der durch die Online-Interaktionen hervorgehoben wird. Zhao analysiert Online-Erfahrungen von Jugendlichen und stellt fest, dass das Feedback, das von der Online-Community gegeben wurde, einen starken Einfluss auf die Entstehung des digitalen Selbst hat. Zhao leitet aus den körperlosen und anonymen Online-Interaktionen ab, dass das digitale Selbst vor allem nach innen gerichtet ist, grundsätzlich narrativer Natur ist, jederzeit zurückziehbar ist und mehrfach beschrieben werden kann. Dieses digitale Selbst unterscheidet sich zwar von dem offline gebildeten Selbst, konstituiert sich jedoch auch über Interaktionen - 260 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="262"?> online - mit anderen. Es findet folglich über die Online-Selbstdarstellungen ebenso Selbstbildung statt wie offline und der Sprache kommt bei dieser Herausbildung eine zentrale Rolle zu. Diese Vorstellung, dass es durch den technologischen Fortschritt zu einer Erweiterung des Selbst kommen kann, wurde schon in den 1980er-Jahren diskutiert. Insofern bleibt der Gedanke erhalten, dass sich die Selbstbildung durch die digitalen Medien verändert (Belk 2013). Das digitale Selbst ist jener Teil der virtuellen Identität, der durch den Einfluss der digitalen Welt, insbesondere sprachlicher Aspekte, entsteht. 13.4 Ich-Identität in der Digitalität Soziale Medien bieten eine Vielfalt verschiedenster Spiegelungen der eigenen Identität. Insofern ist von Interesse, wie sich Ich-Identität durch den Einfluss der Digitalität konstituiert. Es wird im Folgenden auf den Einfluss sozialer Medien auf die Entwick‐ lung der Identität eingegangen, dann auf die Möglichkeit, in den sozialen Medien auch mit der Identität zu spielen, und schließlich auf das Verhältnis von Online- und Offline-Identitäten. Der Einfluss von sozialen Medien auf die Entwicklung der Identität lenkt den Blick zunächst auf Jugendliche (Barth 2015, RSPH 2017). In der digitalen Welt aufgewachsen, werden Jugendliche auch als Digital Natives bezeichnet. Es ist somit durch die Umwelt bedingt, dass Jugendliche digitale Kommunikationstechnologien selbstverständlicher und häufiger nutzen (Valkenburg/ Peter 2011). Der Einfluss sozialer Medien auf die physische und psychische Gesundheit von Jugendlichen wurde von der Royal Society for Public Health (RSPH 2017) untersucht. Diese Studie stützt sich auf eine Stichprobe von 16bis 24-Jährigen, wovon 91 % angeben, soziale Medien zu nutzen, was die Verbreitung der Nutzung unterstreicht. Auf der negativen Seite wurde in dieser Studie festgestellt, dass soziale Medien ab‐ hängiger machen als Zigaretten oder Alkohol. Zudem werden soziale Medien mit einem Anstieg von Angststörungen, Depressionen und Schlafentzug in Zusammenhang ge‐ bracht. Alarmierend ist die Feststellung, dass 9 von 10 Mädchen angeben, unzufrieden mit ihrem Körper zu sein, und 7 von 10 der jungen Nutzer: innen schon Erfahrung mit Mobbing gemacht haben (RSPH 2017). Insbesondere Cybermobbing stellt ein eigenes Risiko in den sozialen Medien dar, da es über die Endgeräte in das häusliche Umfeld eindringt und für Betroffene omnipräsent wird, sodass Jugendliche durch die Nutzung sozialer Medien auch Beziehungsprobleme erleben und rücksichtslosem Verhalten in der Online-Interaktion ausgesetzt sind (Marx 2017, Valkenburg/ Peter 2011, Wood/ Bukowski/ Lis 2016). 13.4 Ich-Identität in der Digitalität 261 <?page no="263"?> Auf der positiven Seite der sozialen Medien wird vor allem die emotionale Unter‐ stützung in schweren Zeiten genannt. So haben 7 von 10 der jungen Nutzer: innen berichtet, dass sie über die sozialen Medien Unterstützung erlebt haben (RSPH 2017). Weitere Vorteile sozialer Medien liegen in den vielen Möglichkeiten, Welt zu explo‐ rieren. Die Online-Welt wird als sicherer Platz wahrgenommen, um mit anderen zu interagieren und den eigenen Platz in der Welt zu finden (Valkenburg/ Peter 2011). Gerade in der Adoleszenz, wenn Selbstzweifel über das Aussehen oder die sexuelle Orientierung auftreten, ist die Interaktion im Netz in der Regel einfacher als ein Treffen von Angesicht zu Angesicht. Ein weiteres Phänomen ist, dass die Suche nach dem anderen, mit dem sich die Adoleszenten wirklich identifizieren können, ebenfalls online einfacher ist als offline. Hier bieten die Anonymität und die Entkörperung, die die sozialen Medien mit sich bringen können, sogar einen Schutz, um sich anderen offener anzuvertrauen (Zhao 2005). Es zeigen sich im Online-Kontakt also durchaus positive Chancen gegen Einsamkeit, zur Steigerung des Selbstwertgefühls oder zur Beziehungsbildung (Wood/ Bukowski/ Lis 2016). Der Einfluss sozialer Medien auf die Entwicklung in der Adoleszenz zeigt eine gewisse Ambivalenz: Soziale Medien können positive Einflüsse auf Interaktionen haben, wie emotionale Unterstützung, sie können jedoch auch negative Auswir‐ kung haben, insbesondere bei Cybermobbing. Wahlmöglichkeiten und das Ausprobieren verschiedener Identitätsoptionen dienen der Versicherung der eigenen Identität und durch die sozialen Medien ist ein ganz neues Spielfeld geöffnet (Zhao 2005, DeAndrea/ Walther 2011, Voirol 2010). Das Spiel mit der virtuellen Identität bezieht sich vor allem darauf, dass die Intersubjektivität im Face-to-Screen-Setting sehr viel mehr Möglichkeiten der Selbstdarstellung bietet als es im Face-to-Face-Setting der Fall ist. So bieten soziale Netzwerke mehr Gelegenheiten, mit der eigenen Identität zu spielen (Turkle 1995). Der Cyberspace ermöglicht nach Turkle (1996) sogar willkürliche Selbsterschaffungen, sodass es ihrer Auffassung nach zu einer Befreiung von dem kontinuierlichen Selbst kommen kann. Nach Turkle gibt es bei psychischer Gesundheit die Möglichkeit, in den sozialen Medien viele zu sein (Turkle 1995), wobei es schwer zu definieren ist, wo genau diese Grenze zur Psychopathologie verläuft. Die sprachliche Tätigkeit wird zum Hauptmittel der Identitätskonstruktion, da mittels Narrationen die virtuellen Identitäten fixiert werden können. Das Spiel mit dem Selbst wird allerdings etwas eingeschränkt, wenn Aspekte der Embodimentforschung berücksichtigt werden, denn dann ist es zweifelhaft, ob Identitäten konstruiert werden können, die völlig losgelöst vom eigenen Körper noch als zugehörig empfunden werden (Gallagher 2008). Es bleibt fraglich, ob eine fiktive Identität mit anderem Geschlecht, Alter und Charakter so konstruiert werden kann, 262 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="264"?> dass sich das Individuum tatsächlich noch als es selbst identifiziert (Whitty/ Young 2017). Sherry Turkle (*1948) Sherry Turkle ist eine US-amerikanische Soziologin, die sich aus unterschiedli‐ chen Perspektiven mit Mensch-Maschine-Interaktion befasst. So bezieht sie in ihre Überlegungen Aspekte der Psychoanalyse und auch den Einfluss von Kultur auf psychische Prozesse mit ein. Sich selbst bezeichnet Turkle als viele. „Es gibt viele Sherry Turkles. Es gibt eine ‚französische Sherry‘, die in den 1960er-Jahren in Paris Poststrukturalismus studierte. Es gibt die Sozialwissen‐ schaftlerin, ausgebildet in Anthropologie, Individualpsychologie und Soziologie. Es gibt Dr. Turkle, die medizinische Psychologin. Es gibt Sherry Turkle, die Buchautorin von ‚Psychoanalytic Politics‘ (1978) und ‚The Second Self: Compu‐ ters and the Human Spirit‘ (1984). Es gibt die Professorin Sherry Turkle, die seit beinahe 20 Jahren Studierende am MIT betreut. Und es gibt die Forscherin des Cyberspace, die Frau, die sich womöglich als Mann einloggt oder als eine andere Frau oder ganz einfach als ST.“ (Turkle 2001/ 2007, S.-505) In Bezug auf Technik und Internet ist die Grundeinstellung von Turkle sehr positiv, doch weist sie in ihren Arbeiten auf die zutiefst menschlichen Fähigkeiten wie Denken und Zuhören hin. Ein Kernthema ist die Erforschung des Second Self - hierfür maßgeblich ist die Verbindung von Psychoanalyse und Computermetaphorik. Virtuelle Identitäten regen zum Spiel mit der Identität an, da es in der virtuellen Welt möglich ist, sich in verschiedensten Narrationen selbst neu zu erfinden. Mit der Annahme, dass über die sozialen Medien eine virtuelle Identität entsteht, stellt sich natürlich die Frage, ob es Unterschiede hinsichtlich der Qualität von real praktizierten Offline- und digitalen Online-Identitäten gibt (Voirol 2010). Dadurch, dass soziale Medien neue Formen anbieten, um sowohl Kommunikationsals auch Identitätsräume zu konstruieren, ergeben sich für die Identitätsdarstellung und -her‐ stellung auch neue Möglichkeiten der Reflexion. Individuen sind folglich eher angeregt, darüber nachzudenken, wie sie sich überhaupt darstellen möchten (Lincoln/ Robards 2017). Neben rein verbalen Aspekten der Darstellung kommen inzwischen zunehmend visuelle Aspekte in Form von Bildern und Videos dazu (Kneidinger-Müller 2020). Koutamanis et al. (2013) konnten zeigen, dass die Aneignung kommunikativer Online-Kompetenzen einen positiven Einfluss auf Offline-Kommunikationen haben. Es werden folglich in der Online-Kommunikation kommunikative Fähigkeiten trainiert, die auch für die sozialen Fähigkeiten im sozialen Umgang in Präsenz nützlich sind. Die Ergebnisse dieser Untersuchung entsprechen der Annahme Vygotskijs (1987), 13.4 Ich-Identität in der Digitalität 263 <?page no="265"?> dass jede soziale Erfahrung Einfluss auf höhere psychische Fähigkeiten nimmt. Die Sozialität wird über die sozialen Medien erweitert und bietet damit auch weiterhin Möglichkeiten, Kommunikations- und Identitätsräume zu konstruieren. Eine wesent‐ liche Charakteristik könnte sein, dass es durch die sozialen Medien, die v. a. für den schriftlichen Austausch ausgestattet sind, dazu kommt, dass schriftsprachliche Formate von Narrationen wesentlich früher gelernt werden. Mit dieser narrativen Fähigkeit werden auch Gefühle besser in Worte gefasst, was wiederum einen Effekt auf die Face-to-Face-Kommunikation haben kann. Die Konstruktion eines fiktiven, virtuellen Online-Selbst hängt davon ab, mit wem dieses Selbst geteilt wird. So ergeben sich online verschiedene Gruppierungen: Indivi‐ duen, die sich nur online kennen, und Individuen, die sich sowohl online als auch offline kennen (Zhao 2005). Sich rein online über digitale Plattformen kennenzulernen, verändert die Bezogenheit der Individuen zueinander. Dies zeigen Untersuchungen zu Dating-Apps (Aretz 2015, 2017; Aretz et al. 2017). Bei Selbstpräsentationen online scheint es der Fall zu sein, dass Individuen die verschiedenen Spiegelungen fiktiver anderer anders in ihrer Darstellung aufnehmen, sodass es bei Online-Selbstpräsenta‐ tionen im Bezug zu Offline-Selbstpräsentationen zu Verschiebungen kommt (Gonza‐ les/ Hancock 2008). Diese Verschiebung erfolgt von der bewussteren, offensiveren und auch extravertierteren Selbstdarstellung online dazu, dass das Selbstbewusstsein auch offline erhöht wird. So sehen Ellison et al. (2006) in Dating-Apps in den Präsentationen eher ein Versprechen der Darsteller: innen, wie sie gerne sein möchten. Die Selbstdar‐ stellungen eines geschönten Lebens in den sozialen Medien hat auch eine Schattenseite, sodass sich inzwischen bei vielen Influencer: innen Symptome des Ausgebranntseins zeigen, was auf die vielen Erwartungen zurückzuführen ist, die an sie gestellt werden. Über soziale Medien entsteht eine weitere Form der Sozialität, sodass sich die Identitätsdarstellungen und -herstellung online und offline durchaus beeinflussen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Dating-Plattform benutzen. Wie würden Sie Ihr eigenes Profil gestalten? Welche Profile wären für Sie ansprechend? Betrachten Sie die Wechselwirkung und überlegen Sie, welche Facetten Ihrer Identität Ihnen in diesem Moment wichtig sind. Denken Sie über die Modelle der Identitätsbildung nach und überlegen Sie, wo Sie die virtuelle Identität lokalisieren würden. 264 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="266"?> ▢ Welche Veränderungen der Kommunikationsräume von Face-to-Facezu Face-to-Screen-Kommunikation können beschrieben werden? Soziale Medien umfassen alle digitalen Medien und Technologien, die es ermöglichen, untereinander digital in Kontakt zu sein, und ergänzen damit die Sozialität in Präsenz. Diese Erweiterung der Sozialität hat Konsequenzen für die Kommunikation und die Konstruktion der Identität. Die Veränderungen betreffen psychologische und soziologische Aspekte und äußern sich in einem veränderten Sprachgebrauch. In der Interaktion verändern sich die Wahrneh‐ mungsfilter und auch das Fehlen der Körperlichkeit in der digitalen Welt hat einen Einfluss auf die Aushandlungsprozesse. Anonymität verändert die Adressierung, die Selbstregulation und die Selbstvergewisserung. Mit Blick auf die sprachlichen Aspekte steht in der Online-Kommunikation die Narration im Vordergrund, dafür fehlen nonverbale Zeichen. Die Verschiebung in die Schriftlichkeit bei den sozialen Medien führt zu einer Form der Oralliteralität, d.-h. zu einer mündlich konzeptualisierten Schriftlichkeit. ▢ Wie wird die Ich-Identität in sozialen Medien dar- und hergestellt und welche Rolle spielt die Selbstpräsentation im Internet? Die Dar- und Herstellung von Ich-Identität wird durch die sozialen Medien erweitert, da es virtuelle Räume grundsätzlich ermöglichen, irgendwer zu sein. Es kann ein Spiel mit der eigenen Identität erfolgen, indem neue Rollen ausprobiert werden. Das digitale Selbst kann als weitere Bewegung in der Herausbildung der Identität angesehen werden. ▢ Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Online- und Offline-Identitäten? Ein Bewusstsein für Intersubjektivität und die Gestaltung von Kommunikati‐ onsräumen kann sowohl die Onlineals auch die Offline-Kommunikation bereichern. Den Fokus auf die Sprache gerichtet, kann es dazu kommen, dass sprachliche Fähigkeiten, die online erlebt werden, auch auf Offline-Bezie‐ hungen übertragen werden. Bezogen auf die Ich-Identität sind diese Aushand‐ lungsprozesse äußere Spiegel, die zur Konstruktion der Ich-Identität beitragen, d. h., soziale Medien stellen grundsätzlich eine weitere Form der Sozialität dar. Interessant an den sozialen Medien ist, dass Austausch noch enger mit Narrationen zusammenhängt, als dies bei einem Austausch in Präsenz der Fall ist. 13.4 Ich-Identität in der Digitalität 265 <?page no="267"?> Schmidt, Jan-Hinrik & Taddicken, Monika (2016). Handbuch Soziale Medien. Wiesbaden: Springer. Schweiger, Wolfgang & Beck, Klaus (2019). Handbuch Online-Kommunikation. Wiesbaden: Springer. Whitty, Monica Therese & Young, Garry (2017). Cyberpsychology: The study of individuals, society and digital technologies. Chichester: Wiley. Ich bin dein Mensch. Maria Schrader (Regie, 2021), Deutschland. Als melancholische Komödie bezeichnet, wird eine Wissenschaftlerin beauftragt, für drei Wochen einen hu‐ manoiden Roboter zu testen und ein abschließendes Gutachten für die Ethikkommission zu verfassen. Der humanoide Roboter ist so programmiert, dass er die Wissenschaftlerin glücklich machen soll, und es bleibt die Frage, was passiert, wenn von humanoiden Ro‐ botern alle Wünsche und Bedürfnisse erfüllt werden können. Brauchen wir Menschen einander dann noch? Who Am I? Baran bo Odar (Regie, 2014), Deutschland. In diesem temporeichen Ha‐ cker-Thriller wird ein Einblick in die Tiefen des Internets gegeben und auch die Möglichkeit von Identitätswechseln wird thematisiert. Über soziale Medien und die zugrunde liegenden Algorithmen werden Individuen ganz viele Bedürfnisse rückge‐ spiegelt, sodass auch hier darüber nachgedacht werden kann, was schlussendlich die Ich-Identität ausmacht. 266 13 Sprache, Identität und soziale Medien <?page no="268"?> Literatur Abels, Heinz (2017). Identität. Wiesbaden: Springer. Ach, Johann S. (2006). Komplizen der Schönheit? Anmerkungen zur Debatte über die ästhetische Chirurgie. In Johann Ach, S. & Arndt Pollmann (Hrsg.), no body is perfect (187-206). 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Aushandlung-11, 36, 38, 44f., 47, 52-55, 60f., 63, 81f., 90, 92, 102, 104, 112, 115ff., 170, 182, 215f., 252, 256, 258 Bachtin, Michail-35, 60, 99, 107, 113 Berk, Laura E.-172 Bewegung-7, 15, 42, 52ff., 74f., 115, 165, 260 Bewusstsein-7f., 30, 34, 43, 46f., 52, 54, 101, 168, 170, 244 Big Five-94ff., 127, 131 Extraversion-94f., 127 Gewissenhaftigkeit-94f., 128 Neurotizismus-94f., 128 Offenheit für neue Erfahrungen-94f., 128 Verträglichkeit-94f., 128 Bourdieu, Pierre-82f., 151 Crystal, David-72 Damasio, Antonio R.-33, 87 Debus, Friedhelm-146 Dialog-47, 112ff., 165, 168f., 173, 177, 228, 252 Dimension- psychologische-13ff., 28, 32, 34f., 54, 99f., 103, 117, 208, 215, 229f. soziologische 13ff., 28f., 32, 35, 54, 99f., 102, 117, 222, 229f. Döring, Nicola-254, 257, 260 Elsen, Hilke-215, 223 Embodiment-33, 84, 262 Emotion 33, 45, 87f., 125f., 128, 136, 168, 173ff., 177, 179, 181f., 192f., 200f., 240-243, 258 Engelhardt, Michael von-102, 115 Erikson, Erik H.-13, 43ff., 48, 170, 182f. Fischer, Peter-61 Freud, Sigmund-43, 47, 90, 92, 168 Friederici, Angela D.-194, 196 Gabriel, Roland-250 Gehirnstrukturen-188 limbisches System-190, 198ff. Persönlichkeit-198f. präfrontaler Kortex-192, 199f. Sprachverarbeitung-194f. Gendering-209, 211f. Geschlechtsstereotype-134, 208-211, 213ff. Goffman, Erving-13, 48f., 56, 75, 162 Grosjean, François-232, 236ff. Habitus-82ff. Hermans, Hubert-112f. Identifizierung-16, 43, 61, 88f., 142, 220, 222 Identitätsarbeit 7, 11, 50f., 99ff., 111f., 116, 118, 184, 218, 239, 244, 260 Identitätsgefühl-33, 51, 106, 111, 243 Identitätskrise-45f., 88, 182ff. Identitäts- und Biografiebruch-116 Individueller Sprechstil-65, 103, 121-124 Intersubjektivität-11, 31, 252, 256, 258, 262 James, William-46f., 91, 175, 179 Keupp, Heiner-50f., 56, 111, 239 Knobloch, Clemens-24, 26f. kommunikativer Stil-64ff., 73, 221 Körper- Körpererfahrung-86 Körpererleben-86f., 176 Körperlichkeit-32f., 84, 168, 254 Körperselbst-86f., 89, 168 <?page no="299"?> Kultur- kultureller Rahmen-211, 244f. kulturhistorischer Ansatz-14, 25, 28, 33, 42, 112 Kulturstandards-63, 227f. Lacan, Jaques-52f., 110, 204 Leont’ev, Aleksej N.-28f., 53, 101 LIWC (Linguistic Inquiry and Word Count)-125ff., 129ff. Lucius-Hoene, Gabriele-107, 112, 116 Marcia, James E.-45, 183 McAdams, Dan P.-111 Mead, George H.-47, 52, 56, 59, 238 Mediale Reichhaltigkeit-257 Milieu-70 Moderne-12, 41f., 50 Nature-versus-Nurture-Debatte-187 Nübling, Damaris-142, 147 Onomastik-141f., 145 Oralliteralität-259 Pavlenko, Aneta-241f. Pennebaker, James W.-125-128, 130f., 240 Persönlichkeitstyp-93, 96, 203 Postmoderne-12, 42, 50f. Psycholinguistik- europäische-13ff., 22-25 kulturhistorische-14ff., 18, 25, 27ff., 35, 92, 113, 215, 227, 230 psychophysisch-32f., 84, 187f., 208, 215 Register-71ff. Ricœur, Paul-108f. Röhrs, Heinz-Peter-250 Rolle-12, 41, 47f., 50f., 71, 156, 177, 183, 205, 211 Roth, Gerhard-96, 198, 201ff. Schmidt-Jüngst, Miriam-155, 161, 222 Seibicke, Wilfried-141, 153f. Selbstkonzepte-12, 61-64, 90-93, 135, 170, 178ff., 214 Sozialität-29ff., 34, 36f., 52, 59, 78, 100, 165, 169, 227, 249f., 264 Soziolinguistik-13f., 64f., 229 Sprachenporträt-237 Spracherwerb-72, 106, 165ff., 169, 172, 175, 181, 231, 234f. sprachliche Tätigkeit 7, 14, 21, 28-31, 35ff., 51, 60, 84, 108, 165f., 227 nonverbale Aspekte-33, 48, 123, 129, 132, 136f., 254ff., 260 paraverbale Aspekte-33, 123, 129, 132, 134 Sprachpsychologie-22f., 25 Stil-9, 60, 64ff., 73ff., 121ff., 126-129, 168 Stimme-84, 113f., 132-136, 171f., 219 Strüber, Nicole-96, 198, 201ff. Tajfel, Henri-61 Tätigkeit-25, 29ff., 33, 53, 100 Turkle, Sherry-262f. Ungewöhnlichkeitskriterium-106 Varietät-64f., 74 Verdopplung des Ich-104f. Villa, Paula-Irene-206, 208, 221 Vygotskij, Lev S.-7f., 23, 25, 28f., 32, 34, 36, 52, 102, 165, 167, 172, 178, 182, 263 Werani, Anke-129, 132 Zirfas, Jörg-11 298 Register <?page no="300"?> ISBN 978-3-8233-8468-7 Auf die Frage „Wer bin ich? “ finden Individuen durch Narrationen und Reflexionen Antwortmöglichkeiten. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen Sprache und Identität wird in dieser Einführung aus psycholinguistischer Sicht systematisch beleuchtet. Es werden terminologische Aspekte der Phänomene Sprache und Identität erläutert und auch Entwicklungsaspekte sowie neurowissenscha�liche Erkenntnisse einbezogen. Zentrale Fragen sind, wie über Narrationen Identität dargestellt sowie hergestellt wird und wie Identitätsmerkmale in Sprache ausgedrückt werden. Mit den Forschungsaspekten zum Komplex Sprache und Identität in den Bereichen Gender, Mehrsprachigkeit und soziale Medien wird aufgezeigt, wie umfassend und weitreichend diese Thematik ist. Das Buch richtet sich an Studierende und Lehrende in den Bereichen Linguistik, Psychologie, Soziologie, Kommunikationswissenscha�en, Pädagogik und Lehramt sowie an alle, die in wissenscha�lichen Kontexten Antworten auf die spannende Frage suchen: „Wie hängen Sprache und Identität zusammen? “