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Mündlichkeit im Französischunterricht: Multiperspektivische Zugänge/ L'oralité dans l'enseignement du français: Perspectives multiples

0530
2022
978-3-8233-9496-9
978-3-8233-8496-0
Gunter Narr Verlag 
Carmen Konzett-Firth
Alexandra Wojnesitz
10.24053/9783823394969

Welchen Weg sollen Lehrende einschlagen, damit Lernende eine gute mündliche Kompetenz entwickeln können? Eine internationale Autor:innenschaft gibt in diesem Band praxisorientierte Antworten für die schulische Sekundar- und Primarstufe sowie die Erwachsenenbildung. Die fachdidaktischen Ansätze in den Beiträgen bauen auf im Feld erforschtem Wissen auf und stellen überwiegend empirische Forschungsprojekte vor. Auf Basis der Datengrundlagen werden konkrete Vorschläge für eine praktische Umsetzung entwickelt. Quel chemin les enseignant.e.s doivent-ils.elles emprunter pour que les apprenant.e.s développent de bonnes compétences orales? Ce volume tente de répondre à cette question à travers une série de contributions, issues d'un groupe international d'auteur.e.s. Les approches didactiques émanent en grande partie de recherches sur le terrain et présentent majoritairement des projets empiriques. Sur la base de ces données, des idées concrètes de mise en oeuvre sont proposées, orientées vers la pratique tant dans l'enseignement secondaire que primaire ainsi que dans la formation pour adultes.

<?page no="0"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 22 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz (Hrsg.) Mündlichkeit im Französischunterricht: Multiperspektivische Zugänge / L’oralité dans l’enseignement du français: Perspectives multiples <?page no="1"?> Mündlichkeit im Französischunterricht: Multiperspektivische Zugänge <?page no="2"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung Herausgegeben von Daniel Reimann (Duisburg-Essen) und Andrea Rössler (Hannover) Band 22 <?page no="3"?> Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz (Hrsg.) Mündlichkeit im Französischunterricht: Multiperspektivische Zugänge / L’oralité dans l’enseignement du français: Perspectives multiples <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823394969 Gedruckt mit Förderung des Rosita Schjerve-Rindler-Gedächtnisfonds, der Philolo‐ gisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, der Fakultät für LehrerInnenbildung der Universität Innsbruck und des Frankoromanistenverbands. © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2197-6384 ISBN 978-3-8233-8496-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9496-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0289-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 27 49 69 91 115 Inhalt Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . Mündlichkeit als empirisches Phänomen Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können. Theoretische und empirische Ansätze zur Rekonstruktion einer komplexen Kompetenz im Französischunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marta García García Débattre le débat. Neue Perspektiven auf ein altbewährtes Format zur Förderung der Interaktionskompetenz im Fremdsprachenunterricht . . . . . Carmen Konzett-Firth Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE. Résultats d’une étude vidéographique longitudinale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Imgrund Tiefenstrukturen von Sprechlehr-/ lernprozessen im Französischunterricht und Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Fremdsprachenlehrpersonen. Ergebnisse und Modelle aus der Unterrichts- und Professionsforschung als Wegleitung für die Ausbildung von Lehrpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlichkeit in Lehrwerken und im lehrwerksbasierten Unterricht Christoph Bürgel Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken am Beispiel von Phrasemen der gesprochenen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 135 165 197 219 237 255 279 301 Gwendoline Lovey Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht: zur Verwendung der Kommunikationsstrategie „Kontrolle und Reparaturen“ . Manuela Franke Zur Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht Französisch. Eine empirische Untersuchung zur Unterrichtsrealität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktische Konzepte und Methoden zur Förderung mündlicher Kompetenz Martina Sobel Stellen Sie Ihr Navigationsgerät aus! Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch innovativ initiieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isabelle Mordellet-Roggenbuck Mündliche Kompetenz im Französischunterricht. Versuch einer Modellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Céline Bichon / Gérald Schlemminger Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire. La visualisation picturo-graphique et lexico-syntaxique simultanée (VPS) . . . Aurora Floridia „Sprechen von Anfang an“. Die übergeordnete Rolle der Mündlichkeit in der PDL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündliche Kompetenz evaluieren und beurteilen Stéfanie Witzigmann Der Einfluss individueller fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen mündlicher Sprachproduktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Seyferth Abwägen von Qualität und Praktikabilität. Zur Entwicklung eines Beurteilungsrasters für Sprechkompetenzen im Französischunterricht der Sekundarstufe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz Warum besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt Bedarf an einer vertieften Aus‐ einandersetzung mit Mündlichkeit? Aus unserer sowohl theoriegeleiteten als auch praxisorientierten Sicht nimmt das Sprechen im (schulischen) Französisch‐ unterricht nach wie vor nicht immer den Platz ein, der ihm gebührt. Der Grund hierfür ist die Volatilität und Komplexität von Mündlichkeit und ihre daraus resultierende erschwerte Messbarkeit (Decke-Cornill/ Küster 2015, 267) sowie schwierige Dokumentierbarkeit (Krechel 2016, 215). Unser Sammelband sieht sich somit als Beitrag dazu, den Platz der oralité sowohl im Unterrichtsgeschehen als auch in der Forschung zu stärken. Dieses Anliegen bewog uns dazu, für den Frankoromanistentag 2020 die fach‐ didaktische Sektion „Multiperspektivische Zugänge zur Mündlichkeit im Fran‐ zösischunterricht“ / „Perspectives multiples de l’oralité dans l’enseignement du français“ anzubieten. Da dieser Einladung erfreulicherweise 15 Expert*innen aus fünf Ländern folgten, fand die Sektion unter unserer Leitung (Carmen Konzett-Firth, Universität Innsbruck, und Alexandra Wojnesitz, Universität Wien), am 24./ 25. September 2020 online statt. Die Teilnehmer*innen stellten die Ergebnisse ihrer rezenten (empirischen) Forschung vor und diskutierten mit uns auf Französisch und Deutsch deren Bedeutung für eine moderne Didaktik der Mündlichkeit der französischen Sprache. Der Großteil der Referent*innen erklärte sich daran anschließend dankenswerterweise dazu bereit, ihre Beiträge für den vorliegenden Sammelband zu Papier zu bringen. Die Aufsätze spiegeln jene diverse Forschungs-und Praxislandschaft wider, welche die Fremdsprachendidaktik im deutschsprachigen Raum prägt: Sowohl Professor*innen als auch Nachwuchswissenschaftler*innen, die zum Teil stärker in der Forschung, zum Teil mehr in der Praxis verankert sind, sowie Lehrende aus Lehrer*innenbildungskontexten, tragen zum Gelingen dieses multiperspek‐ tivischen Bandes bei. Diese anregende Mischung aus verschiedenen theoreti‐ schen Rahmungen, methodologischen Zugängen und Erkenntnisinteressen in <?page no="8"?> Zusammenhang mit Mündlichkeit im Französischunterricht führte in der Sek‐ tionsarbeit zu höchst produktiven Diskussionen und soll auch in ihrer schrift‐ lichen Version den Leserinnen und Lesern vielfältige Anknüpfungspunkte und neue Perspektiven bieten. Wie wird Mündlichkeit im FSU definiert und welcher Status wird ihr zugeschrieben? Im aktuellen fremdsprachendidaktischen Diskurs sind höchst unterschiedliche Zugänge zur Mündlichkeit zu beobachten, je nachdem, aus welchem Blick‐ winkel man sich der Thematik nähert. In vielen Fällen wird auf die münd‐ liche Dimension von Sprache im Rahmen der Fertigkeit „Sprechen“ Bezug genommen, sie wird also aus einer kompetenzorientierten Perspektive behan‐ delt. Mündlichkeit wird dabei als Lernziel und als eine zu erwerbende Fertigkeit betrachtet. Üblicherweise wird zwischen monologischem und dialogischem Sprechen unterschieden, und häufig werden die aus dem GERS stammenden Bezeichnungen „zusammenhängendes Sprechen“ sowie „an Gesprächen teil‐ nehmen“ in curricularen Texten übernommen. Mündlichkeit - oder Sprechen - ist auch ein traditionell fixer Bestandteil des kommunikativen Unterrichts (siehe dazu ausführlicher Schmenk 2005), da Kommunikation und kommunikative Kompetenz häufig mit gesprochener Sprache und mit individueller, insbeson‐ dere mündlicher, Sprachproduktion in Verbindung gebracht werden (Martinez 2014). Wenn Mündlichkeit in fremdsprachendidaktischen Publikationen als empi‐ risches Phänomen thematisiert wird, werden meist Bezüge zur Linguistik und zur Spracherwerbsforschung hergestellt. Fremdsprachendidaktiker*innen aus der deutschsprachigen romanistischen Fachdidaktik beziehen sich dabei zum Teil auf varietätenlinguistische Beschreibungsansätze wie jenem von Peter Koch und Wulf Österreicher (Koch/ Oesterreicher 1985/ 2007/ 2011), in denen die ,gesprochene Sprache‘ als eigene Varietät im Gegensatz zur ,geschriebenen Sprache’ konzeptualisiert und auch aus dieser Dichotomie heraus charakte‐ risiert wird (siehe etwa Rösler 2014, Schmelter 2014 oder den Eintrag zur „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ im Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik, Zydatiß 2017). Mündlichkeit wird in solchen Konzepten über Merkmalsbe‐ schreibungen (vor allem des Lexikons und der Syntax in Bezug auf verschiedene kommunikative Genres) und in Abgrenzung zu einer schriftlichen Norm defi‐ niert. Eine weitere von Fremdsprachendidaktiker*innen häufig zitierte linguisti‐ sche Referenz ist das psycholinguistische Sprachproduktionsmodell von Willem Levelt (Levelt 1995). Darin wird Mündlichkeit in erster Linie als Sprechen kon‐ 8 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz <?page no="9"?> 1 Zur spezifischen Verfasstheit des Fremdsprachenunterrichts, in dem Sprache in einem dualen Modus auftritt, d. h. dass das Lernwerkzeug Sprache gleichzeitig auch den Lerngegenstand darstellt, cf. Caspari (2017, 201). zeptionalisiert und die kognitive Leistung eines Individuums bei der mündlichen Sprachproduktion, also bei der Produktion einer mündlichen Äußerung, syste‐ matisch modelliert. Levelts mehrdimensionales und komplexes Faktorenmodell umfasst die Bereiche der Konzeptualisierung, Formulierung und Artikulation und integriert darin den Zugriff auf sprachliches und nicht-sprachliches Wissen sowie das Hörverstehen. In anderen Arbeiten, insbesondere in der anglistischen Fachdidaktik, wird, analog zum fachlichen Diskurs in anglophonen Ländern, eher auf Modelle zur kommunikativen Kompetenz sowie auf Forschung zum Erwerb von Flüssigkeit, Komplexität und Korrektheit in der Produktion von Äußerungen verwiesen (z. B. Goh/ Burns 2012; Hallet et al. 2020; Pakula 2019; Schmidt 2016). Die in diesen Publikationen und im GERS (Trim et al. 2001) verwendeten Modelle der kommunikativen Kompetenz beschreiben die verschiedenen Wissens- und Handlungsdimensionen mündlicher Sprechbzw. Interaktionskompetenz, die zwar ursprünglich auf das soziolinguistische Modell von Hymes zurückgehen, aber in ihren moderneren Ausprägungen weniger auf der Beschreibung em‐ pirischer Daten als auf Erfahrungswerten oder theoretischen Überlegungen basieren. Kommunikationskompetenzmodelle waren und sind aber vor allem deswegen sehr erfolgreich, weil sie sehr gut operationalisierbar sind (sowohl für Zwecke des Lehrens und Lernens als auch insbesondere des Überprüfens) und auch mit dieser Zielrichtung erstellt wurden (cf. Schmenk 2005). Eine weitere Verbindung der fachdidaktischen Literatur zur Linguistik, die häufig aus der Gegenrichtung erfolgt - d. h. dass auf Grundlage von linguistischen Analysen Hypothesen über fremdsprachendidaktische Inhalte aufgestellt und in Studien entsprechend untersucht werden - ist im Bereich der Phonetik/ Phonologie bzw. Aussprachekompetenz beobachtbar. Hier sind in den letzten Jahren im Rahmen der Beforschung romanischer Sprachen eine Reihe an Arbeiten entstanden, die dem Forschungsfeld der Perzeptionslinguistik entstammen und mit fachdidaktischen Fragestellungen verknüpft werden (so z. B. in einem rezenten Thementeil zur Aussprache in der Zeitschrift Französisch heute (2020, 51(1)). Die Aussprache kann als Teilfertigkeit des Sprechens gelten und wird in der Literatur auch so eingeordnet (Krechel 2016; Nieweler 2017). Die mündliche Ausprägung von Sprache stellt aber im schulischen Fremd‐ sprachenunterricht nicht nur ein Lernziel, sondern auch ein Lernwerkzeug und einen Lernort dar 1 . Sprache spielt zunächst wie in vielen anderen Unter‐ richtsfächern eine integrale Rolle in Lehr-Lern-Prozessen. Sie ist zwar nicht 9 Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung <?page no="10"?> 2 Im Französischunterricht spielt die Verwendung der Sprache im Klassenzimmer eine besonders wichtige Rolle, stellt sie doch oft die einzige Gelegenheit dar, diese Fremd‐ sprache aktiv zu erleben, die in der alltagsweltlichen Realität von Schüler*innen im deutschen Sprachraum zumeist relativ selten vorkommt. das einzige, aber sicherlich das Kommunikationsmittel und Lernwerkzeug par excellence, um Inhalte zu er-, be- und verarbeiten und zu vermitteln. Dies gilt sowohl für lehrendengesteuerte Lehr-Lern-Kontexte als auch für Formate des Peer-Lernens. In psycholinguistischen Theorien des Spracherwerbs kommt der gesprochenen Sprache sogar eine zentrale Rolle im Spracherwerbsprozess zu (vgl. die Output-Hypothese von Swain, z. B. 2005). Gleichzeitig ist (gesprochene) Sprache im Fremdsprachenunterricht aber auch ein Lernort. Die mündliche soziale Interaktion bietet eine besonders intensive Gelegenheit für Lernende, den Lerngegenstand ‚Fremdsprache‘ leiblich-multimodal zu erfahren und daran teilhaben zu können, um ihn sich im Sinne eines konstruktivistischen Lernbe‐ griffs zu eigen zu machen (Lantolf 2011) 2 . Das Paradigma des kommunikativen Unterrichts nützt dieses Prinzip (zumindest implizit), indem möglichst viele Situationen geschaffen werden, in welchen Lernende aktiv an mündlichen Interaktionen teilnehmen können, unabhängig davon, ob diese in einem ple‐ naren Setting ablaufen oder zwischen Lernenden untereinander ausgeführt werden. Auch der aufgabenorientierte bzw. aufgabenbasierte Ansatz (task based language teaching) sieht in der mündlichen Interaktion den zentralen Lokus für Lernanlässe und Lernprozesse, wenn auch auf der Basis eines an‐ deren theoretischen Hintergrunds: Laut der Interaktionshypothese (Long 1996) werden mündliche Aushandlungen von Bedeutung, d. h. Situationen, in denen Lernende Bedarf an der (gemeinsamen) Bearbeitung eines sprachbezogenen Problems haben, als besonders lernförderlich betrachtet. In der (empirisch unterstützten) Annahme, dass solche Aushandlungen vorzugsweise in jenen Settings stattfinden, in denen Lernende ein Informationsdefizit überbrücken müssen, setzt der aufgabenorientierte Ansatz stark darauf, dementsprechende Handlungsrahmen im Unterricht zu arrangieren (Samuda et al. 2018). Welchen Stellenwert hat Mündlichkeit als Fertigkeit beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen? Die Mündlichkeit bzw. die mündliche Kompetenz genießt bei Fremdsprachen‐ lernenden nach dem Motto Das kann ich später einmal brauchen, also insbeson‐ dere aus einer Nützlichkeitsperspektive, traditionell einen hohen Stellenwert (Kallenbach 1996). Sprechen wird von linguistischen Lai*innen auch oft mit der gesamten Sprachkompetenz gleichgesetzt (Nieweler 2017, 124), was dazu 10 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz <?page no="11"?> 3 https: / / www.cebs.at/ service-angebote/ sprachencontest/ 4 https: / / sagsmulti.orf.at/ führt, dass (besonders ältere) ehemalige Französisch-Lernende häufig angeben, dass sie ihr „Schulfranzösisch“ nicht in Frankreich brauchen könnten und dass sie zwar viele Jahre Unterricht gehabt hätten, aber „im wirklichen Leben“ nicht kommunizieren könnten. Darüber hinaus gaben in verschiedenen re‐ zenten Untersuchungen viele befragte Studierende an, dass zu einem guten Französischunterricht ein Fokus auf Sprechen, insbesondere in authentischen Alltagssituationen, dazugehöre (cf. Grein et al. 2021). Auch aus Perspektive der Lehrkräfte wird Sprechen prinzipiell als (sehr) wichtig erachtet, was etwa an zugespitzten Titeln von Lehrer*innenfortbil‐ dungen, wie jener der Fachtagung des Österreichischen Sprachenkompetenz‐ zentrums, Sprachen sind zum Sprechen da (ÖSZ-Fortbildungsreihe Sprachen im Blick, November 2020), illustriert werden kann. Der hohe Stellenwert der Sprechkompetenz zeigt sich auch beispielsweise im beliebten Format der öster‐ reichischen Fremdsprachen-Redewettbewerbe, die es auch in mehrsprachiger Ausführung gibt (siehe dazu die Internet-Seiten zum Sprachencontest 3 der berufsbildenden Schulen und zur Initiative „Sag’s multi“ 4 des Österreichischen Rundfunks, bei der auch die Herkunftssprachen der Schüler*innen einbezogen werden) und bei der sich Jugendliche vor Publikum in ihrer Rede- und Ge‐ sprächskompetenz messen und so medien- und öffentlichkeitswirksam ihre in der Schule (und evtl. in anderen Kontexten) Sprachbzw. Sprechkompetenz demonstrieren. Diese Formate werden auch von bildungspolitischen Instanzen (Bildungsdirektionen, Ministerien) als willkommene mediale Aushängeschilder für schulische Leistungen unterstützt. In der offiziellen Bildungspolitik wird dem besonderen Stellenwert der mündlichen Kompetenz im Fremdsprachenun‐ terricht allerdings nicht immer Rechnung getragen. So ist etwa die Entschei‐ dung der Bildungsverantwortlichen in Österreich bei der Neukonzeption der Reifeprüfung zuungunsten der - von Expertenseite vorgeschlagenen - obliga‐ torischen mündlichen Komponente in den fremdsprachlichen Fächern ausge‐ fallen. Konkret bedeutet das, dass Schüler*innen in Österreich die Reifeprüfung in einer lebenden Fremdsprache ablegen können, ohne dass ihre mündliche Kompetenz überprüft wird. Es ist zu befürchten, dass Rückkopplungseffekte einer solchen Prüfungsbestimmung negative Auswirkungen auf die inhaltlichen Prioritäten im Unterricht haben und die mündliche Kompetenz (noch) stärker zurückdrängen werden. Untersuchungen in vergleichbaren bildungsorganisa‐ torischen Konstellationen, etwa in den Niederlanden (Michel et al. 2021), zeigen entsprechende Tendenzen auf. 11 Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung <?page no="12"?> 5 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass über das Englische, welches, bedingt durch die deutlich weniger systematische Orthographie, eine noch viel größere Diskrepanz zwischen Graphie und Phonie aufweist, viel seltener geklagt wird, dass es schwer zu sprechen sei. Angesichts dieser anekdotischen Beobachtung lässt sich vermuten, dass die subjektive Wahrnehmung der Schwierigkeit des Französischen wohl nicht nur den beobachtbaren linguistischen Tatsachen zugeschrieben werden kann, sondern noch andere Gründe haben muss, die möglicherweise sprach- und bildungspolitischer, sowie motivationaler Natur sind (cf. Grein et al. 2021). Der Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht wird grundsätzlich nichts‐ destotrotz ein hoher Status zugeschrieben (cf. Schmidt 2016); in Bezug auf die Wahrnehmung dieser Kompetenz gilt sie als im Sprachgebrauch vorrangig und als für den Transfer von Schulwissen in die Alltagswelt nützlich. Gleichzeitig wird Sprechen auch als „Königsdisziplin“ (Blume/ Nieweler 2018) bezeichnet und hat den Ruf, schwierig zu sein, ganz speziell im Französischunterricht, ist doch das Französische eine Sprache, in der Schreibung und Lautung besonders deutlich voneinander abweichen (Pustka 2016) 5 . Auch aus Sicht der Lehrkräfte ist das Fördern der mündlichen Kompetenz schwierig (Caspari 2017): Das Üben und Anwenden braucht Zeit und das freie Sprechen, insbesondere in Interaktion, kann - zumindest in analogen Unterrichtssettings - kaum außer‐ halb der Unterrichtssituation trainiert werden (siehe dazu auch Fußnote 3). Zudem mangelt es häufig an strategischer Planung der Entwicklung der Fertig‐ keit Sprechen im Unterricht. Lehrbücher orientieren sich trotz zunehmender Kompetenzorientierung nach wie vor stärker an einer strukturellen (also an sprachsystemischen Aspekten orientierten) Progression als an einer kompe‐ tenzorientierten. Innerhalb der produktiven Fertigkeiten wird dabei außerdem der schriftlichen ein höherer Stellenwert eingeräumt, jedenfalls, was die Anzahl und strategische Platzierung der Aufgaben betrifft (García García 2016). Nicht zuletzt belegen empirische Daten (Konzett-Firth 2017 und in diesem Band) mit Videoaufnahmen über 5 bzw. 6 Lernjahre in zwei verschiedenen Klassen, die von erfahrenen Lehrpersonen geleitet wurden, dass die Fertigkeit Sprechen kaum systematisch unterrichtet wird und eine offensichtliche Orientierung an einer Progression, die über die Länge der Beiträge und die inhaltliche Komplexität der Redethemen hinausgehen würde, unterbleibt. Das FRAISE-Korpus zeigt darüber hinaus, dass im Unterricht zwar relativ viel gesprochen wird und Schüler*innen auch untereinander immer wieder in der Fremdsprache sprechen, dass damit aber nicht zwingend ein (erkennbar) zielorientiertes Trainieren zur Steigerung von mündlicher Kompetenz verbunden ist. 12 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz <?page no="13"?> Was soll gelehrt werden? Der GERS (Conseil de l’Europe 2018), der als Grundlage vieler aktueller Lehr‐ pläne im deutschsprachigen Raum die zu erreichenden Lernziele im Fremd‐ sprachenunterricht beschreibt, legt für den Bereich der Sprechkompetenz eine grundlegende Unterscheidung zwischen Produktion und Interaktion fest. Diese beiden Kategorien sind eine Folge der fertigkeitsorientierten Herangehensweise des GERS, wonach sprachliche Kompetenzen in rezeptive, produktive und interaktive (und seit dem Companion Volume auch vermittelnde) Fertigkeiten unterteilt werden. Um der Operationalisierbarkeit willen werden also zwei Be‐ reiche mündlicher Kompetenz, nämlich Rezeption und Produktion, zunächst in Form von Hören/ Lesen bzw. Sprechen/ Schreiben analytisch getrennt, um dann in Form der dritten Fertigkeit Interaktion wieder annähernd zusammengeführt zu werden (allerdings mit starker Betonung der produktiven Komponente). Der GERS spricht zwar von „kommunikativen Aktivitäten und Strategien“ (S. 54), bietet aber für die jeweiligen Aktivitätskategorien sehr wohl Kom‐ petenzbeschreibungen in Form von Kann-Deskriptoren an. Die mündliche Kompetenz kommt aber noch in einer weiteren Form im GERS vor, näm‐ lich in einzelnen Teilbereichen innerhalb der sogenannten „kommunikativen Sprachkompetenzen“: Die Aspekte „phonological control“, „turntaking“ sowie „spoken fluency“ beziehen sich eindeutig und ausschließlich auf Mündlichkeit, während die restlichen Bereiche der linguistischen, soziolinguistischen und pragmatischen Kompetenz sowohl für mündliche als auch für schriftliche Sprachverwendung gelten. Korrekte oder zumindest verständliche Aussprache (cf. Pustka 2021) und angemessene Flüssigkeit (sowie die Fähigkeit, „spontan“, d. h. unvorbereitet, zu sprechen) sind dabei zwei essentielle Teilkomponenten des Sprechens. Demgegenüber ist der Aspekt des interaktiven Sprechens, also der gegen‐ seitigen Redezugsübernahme und des gemeinsamen Ko-Konstruierens von Interaktion, erst vor relativ kurzer Zeit (u. a. durch den Einfluss des GERS) als eigenständige Komponente stärker in das Bewusstsein von Lehrpersonen und Fachdidaktiker*innen gerückt (cf. García García 2016) und bedarf noch weiterer, insbesondere empirischer Forschung. Ein weiterer inhaltlicher Fokus, der sich im Bereich der fachdidaktischen Forschung zur Mündlichkeit in den letzten Jahren herausgebildet hat, ist der Ansatz der Lexikogrammatik, der sich u. a. auch aus linguistischen Forschungs‐ arbeiten im Bereich der Phraseologie und der Konstruktionsgrammatik speist und aufgrund von neuesten Erkenntnissen zum Spracherwerb als fruchtbarer Ansatz für den Fremdsprachenunterricht vorgeschlagen wird (cf. Bürgel et al. 13 Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung <?page no="14"?> 2021). Bürgel plädiert etwa (z. B. 2020) dafür, dass „Phraseme“, also größere lexikogrammatische Einheiten, beim Lehren und Lernen stärker fokussiert werden sollten, und zwar sowohl in Lehrwerken als auch im Unterricht (siehe auch Bürgel sowie Sobel in diesem Band). Wie soll gelehrt werden? Bereits seit Beginn der kommunikativen Wende steht also das Sprechen bzw. die mündliche Kompetenz im Fremdsprachenunterricht ganz oben in der Liste der zu erreichenden Lernziele. Dies spiegelt sich auch in den Materialsammlungen bzw. Lehrerhandreichungen zur Förderung von Sprechkompetenz wieder, die in den letzten Jahrzehnten publiziert wurden. In einem Überblicksartikel fassten Neveling et al. (2012) eine ganze Reihe der in solchen Publikationen beschrie‐ benen Verfahren in einer Klassifikation zusammen und unterzogen diese einer Analyse. In den von ihnen dokumentierten Verfahren schien eine kleinere Anzahl an Aktivitäten auf, die stärker auf die sprachliche Form fokussierten und eine größere Gruppe, die stärker auf den Inhalt abzielte. Bei den inhaltsori‐ entierten Aufgaben unterschieden die Autor*innen zwischen monologischen und dialogischen Formaten und konnten eine beträchtliche Bandbreite an ver‐ schiedenen durch die Verfahren angeregten Sprechhandlungen identifizieren. Dazu gehörten für die monologischen Sprechsituationen beschreibende, prä‐ sentierende und erzählende Formen, die sich wiederum in verschiedene Text‐ genres unterteilen ließen. Die Aktivitäten zum dialogischen Sprechen wurden von den Autor*innen in solche, die zum Bereich der „Gesprächskompetenz“ gezählt werden können und solche, die sich an der „Diskussionskompetenz“ orientierten, unterteilt. Was allerdings tatsächlich im regulären Fremdsprachen‐ unterricht passiert und welche Verfahren wirklich in die Praxis umgesetzt werden, dazu liegen erst wenige empirische Befunde vor (Martinez 2014). García García (2016) hat jedenfalls in einer Lehrwerksanalyse von Französisch- und Spanischlehrbüchern festgestellt, dass Sprechkompetenzen dort eine eher untergeordnete Rolle spielen und dass im Vergleich zu anderen Fertigkeiten relativ wenige Sprechaufgaben vorkommen, insbesondere kaum solche zur mündlichen Interaktion. Wenn Lehrwerke als ,heimliche Lehrpläne‘ Verwen‐ dung finden, dann kann demnach wohl Schmidt zugestimmt werden, dass das tatsächliche Lehren und Lernen mündlicher Kompetenzen im kommunikativen, kompetenzorientierten Unterricht durchaus noch ausbaufähig ist (Schmidt 2016). Zu den grundlegenden Schwierigkeiten in Bezug auf das Unterrichten münd‐ licher Kompetenz gehören das zeitintensive Üben der Sprechkompetenz, die tra‐ 14 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz <?page no="15"?> ditionell in der gemeinsamen Unterrichtszeit im Klassenzimmer erfolgt (wobei sich durch digitale Medien diesbezüglich innovative Möglichkeiten eröffnet haben), und die Diskussion darüber, ob authentische Sprechkontexte im Klas‐ senzimmer geschaffen werden sollten oder es sie überhaupt geben könne (Lütge 2017; Ollivier 2017). Einig scheinen sich Fachdidaktiker*innen aber darüber zu sein, dass eine systematische Förderung von mündlichen Kompetenzen und ein gezielter Aufbau von Sprechfertigkeiten im Hinblick auf eine Progression wichtig ist (Lütge 2017; Schmidt 2016; Caspari 2019). Ein diesbezüglich vielfach erwähntes Szenario ist jenes, das Doff/ Klippel 2007 beschreiben (und welches auch Kurtz 2013 in ähnlicher Weise vorschlägt), wonach zunächst einfachere, stärker auf reine Nachahmungs-Produktionsprozesse ausgerichtete Sprechak‐ tivitäten eingesetzt werden sollen, gefolgt von responsiven, also stärker fremd‐ gesteuerten Aktivitäten, bis hin zu initiativen Sprechhandlungen. Mehrere Autor*innen (Caspari 2019; Bürgel 2011; García García 2016) schlagen in Bezug auf interaktive mündliche Kompetenzen eine systematische Vorgehensweise vor, welche die Lernenden von stärker gelenkten zu freieren Dialogen hin an‐ leitet, unter stetiger Verringerung der angebotenen Hilfeleistung (scaffolding). Typischerweise werden vorbereitete, stark angeleitete Rollenspiele vor allem für den Anfangsunterricht vorgeschlagen (Vorbeck-Heyn 2010; Fischer 2017), wobei auch hier jeweils ein Fortschreiten von gelenktem und nachahmendem Sprechen zur freien Gestaltung hin anvisiert wird. Dabei wird von manchen Autor*innen darauf hingewiesen, dass die Vorbereitungsphase für das freie Sprechen nicht - oder zumindest nicht ausschließlich - schriftlich ablaufen dürfe (Fischer 2017; García García 2016 und in diesem Band). Bürgel (2010/ 2011, und in diesem Band) plädiert außerdem dafür, das Konzept der sogenannten „Dialogschulung“ auch für höhere Lernniveaus beizubehalten, insbesondere in Form von mündlichen Modellen, die geübt und besprochen werden, um dann in einem freien Rollenspiel ganze sprachliche Versatzstücke daraus einzusetzen. Interaktives Sprechen gilt bei allen Expert*innen als komplexeste der münd‐ lichen (Teil-) Fertigkeiten und als das eigentliche Ziel, das alle anderen Kompo‐ nenten beinhaltet. Um dieses zu erreichen, sei es wichtig, sprachliche Flexibilität anzustreben. Dazu gehöre einerseits die Förderung der mündlichen Kompe‐ tenz, andererseits auch die Bewertung mündlicher Leistungen von Anfang an. Dieses Ziel setzt Kriterien für Anforderungen an mündliche Kompetenzen auf verschiedenen Stufen sowie gut ausgebildete Lehrpersonen voraus (siehe u. a. den Beitrag von Witzigmann in diesem Band). Schließlich betonen sowohl Lütge (2017) als auch Caspari (2019) die Notwendigkeit, eine sprechförderliche Unterrichtsatmosphäre zu schaffen, unter anderem durch Fehlertoleranz, trans‐ 15 Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung <?page no="16"?> parente Bewertungsverfahren und dem Einräumen von viel Sprechzeit für die Lernenden. Die Beiträge in diesem Band Der vorliegende Band vereint eine große Bandbreite von Ansätzen und Über‐ legungen rund um die Didaktik des Mündlichen im Französischunterricht. Er enthält Beiträge zur Primardidaktik, zum Unterricht in der Sekundarstufe und zur Erwachsenenbildung. Abgesehen von unterschiedlichen inhaltlichen Foki und verschiedenen Formen und Kontexten des Französischunterrichts sind auch die Referenz‐ punkte der Beiträge je nach theoretisch-diskursivem Hintergrund, fachlicher Orientierung und methodologischer Ausrichtung unterschiedlich. Einige ge‐ meinsame Eckpfeiler lassen sich jedoch ausmachen: Dazu zählt einerseits der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen, der bekanntlich die Grundlage der meisten Lehrpläne in europäischen Bildungskontexten bildet. Für manche stellt er den Beginn des ins-Zentrum-Rückens der Mündlichkeit dar (z. B. Schlemminger/ Bichon; Franke), anderen dient er als kritische Folie (z. B. Kon‐ zett-Firth). Wieder andere verwenden den GERS und insbesondere die darin enthaltenen Kann-Beschreibungen bzw. Niveau-Stufen als Grundlage für die Kategorienbildung und als Kompetenzkonstrukt (z. B. Lovey; Seyferth). Vielen Beiträgen gilt die Linguistik als Referenzpunkt, wobei hier auf ganz unterschied‐ liche Forschungsbereiche Bezug genommen wird: Das Spektrum reicht von soziolinguistischen Modellen (Mordellet-Roggenbuck) über die kognitionsori‐ entierter Spracherwerbsforschung (Witzigmann; Franke), Lernersprachenana‐ lyse (Imgrund), Phraseologie und Konstruktionsgrammatik (Bürgel) bis hin zur Interaktionsforschung (García García; Konzett-Firth). Zu den fachdidakti‐ schen Referenzpunkten zählen die medienunterstützte Fremdsprachendidaktik (Sobel), die Unterrichtsforschung (Grein et al.; Imgrund) und die Sprachtestfor‐ schung (Witzigmann; Seyferth). Der Band ist in vier Abschnitte untergliedert: Im ersten Teil, „Mündlichkeit als empirisches Phänomen“, stellen die Beiträger*innen Studien vor, die Französischunterricht beforschen, indem sie durch Beobachtung, Audio- und Videoaufnahmen gewonnene Daten analysieren und nach verschiedenen Ge‐ sichtspunkten untersuchen: Wie wird Französisch als Fremdsprache tatsächlich unterrichtet? Wie gestalten Lehrende und Lernende gemeinsam mündliche Interaktionen im Unterricht? Und wie können die Erkenntnisse aus diesen Studien in die LehrerInnenbildung einfließen? 16 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz <?page no="17"?> Im ersten Beitrag, verfasst von Matthias Grein, Lisa Ströbel und Bernd Tesch, geht es um die multimodale Verfasstheit von Mündlichkeit als körper‐ lich-räumliches Phänomen und sich daraus ergebende Konsequenzen für die Beschreibung und Interpretation mündlicher Kompetenz im Französischunter‐ richt. Die Autor*innen analysieren dazu mit der Dokumentarischen Methode ein Videokorpus aus Aufnahmen von Französischunterricht. Sie setzen sich in ihrer Analyse kritisch mit dem Begriff der Kompetenz auseinander und plädieren dafür, dem kognitiv-individuellen Konzept eine soziale Komponente hinzuzufügen, das sich durch die beobachtbare Materialität und Körperlichkeit von schülerseitigem Handeln auszeichne. Der zweite Beitrag (Marta García García) beschreibt anhand von transkri‐ bierten Unterrichtsaufnahmen den Einsatz der Debatte als Unterrichtsformat zur Förderung der mündlichen Kompetenz. Anhand der detaillierten Analyse von drei Datenausschnitten zeigt die Autorin deutlich, welche (hohen! ) An‐ sprüche die Debatte an die didaktische Umsetzung im Französischunterricht stellt. Die empirischen Daten belegen, dass dieses eigentlich zur Interaktions‐ schulung eingesetzte Format leicht Gefahr läuft, in der Praxis eine monologisch geprägte Gestalt anzunehmen. Im Anschluss an die Datenanalyse präsentiert Marta García García daher konkrete unterrichtsmethodische Vorschläge, wie diesem Risiko begegnet werden kann. Der dritte Beitrag (Carmen Konzett-Firth) widmet sich in ähnlicher Weise der Untersuchung empirischer Unterrichtsdaten und analysiert Video‐ aufnahmen von Peer-Interaktionen im Französischunterricht im Hinblick auf ihr interaktionskompetenzförderliches Potenzial. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Lernende sich in der Konstruktion ihrer gemeinsamen Gespräche auf vielfältige kontextuelle Aspekte (u. a. räumlich-körperliche Gegebenheiten, eingesetzte Artefakte, aufgabenbezogene Ziele usw.) orientieren und dass diese Faktoren für die didaktische Anleitung bzw. Gestaltung der Lernenden-Interak‐ tionen eine Rolle spielen und daher in die Unterrichtsplanung miteinbezogen werden sollten. Im vierten Beitrag wird ein weiteres empirisches Forschungsprojekt vor‐ gestellt, in welchem sich Bettina Imgrund mit Professionsentwicklung von Französischlehrkräften auf der Primarstufe und mit Qualitätskriterien für guten Unterricht im Bereich Mündlichkeit beschäftigt. Sie arbeitet zu diesem Zweck mit dem unterrichtspsychologischen Konzept der Tiefenstrukturen, welches sie auf die Fremdsprachendidaktik überträgt und so versucht, den Gründen für bestimmtes Lehrerhandeln auf die Spur zu kommen. Für Imgrund ergibt sich aus den empirischen Daten, dass Primarlehrpersonen in ihrer Ausbildung eine stärkere fremdsprachliche Fachausbildung erhalten sollten, um den fachlichen 17 Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung <?page no="18"?> Inhalt (in diesem Fall, die Förderung der mündlichen Kompetenz) methodisch adäquat umsetzen zu können. Der zweite Teil des Bandes, „Mündlichkeit in Lehrwerken und im lehr‐ werksbasierten Unterricht“, nimmt deutschsprachige Lehrwerke für den Französischunterricht in den Blick. Drei empirische Studien fragen danach, welche Inhalte und Methoden Lehrwerke zum Thema Mündlichkeit anbieten und wie Lehrpersonen Lehrwerke und andere Methoden einsetzen, um münd‐ liche Kompetenzen zu fokussieren. Im ersten Beitrag gibt Christoph Bürgel einen Einblick in das Sprachma‐ terial in drei im deutschen Sprachraum häufig verwendeten Französisch-Lehr‐ werken. Nach einer einführenden Darstellung über die korpuslinguistische Perspektive auf Sprache in ihrer phraseologischen Verfasstheit und einer kurzen Übersicht über einige in diesem Kontext wichtige Aspekte des mündlichen Französisch stellt Bürgel eine empirische Untersuchung von Französisch-Lehr‐ werken vor und stellt fest, dass es notwendig wäre, das verwendete Sprachma‐ terial an den tatsächlichen, durch die Korpuslinguistik gut erforschten, Status Quo der mündlichen französischen Sprache anzupassen. Im zweiten Beitrag aus dem Dissertationsprojekt von Gwendoline Lovey werden die Wege untersucht, die Schüler*innen einschlagen, wenn sie an der Grundschule in bestimmten Gebieten der Schweiz lehrwerkgestützt Fran‐ zösisch lernen. Das Sprechen soll nicht auf Vor- und Nachsprechen begrenzt sein, sondern die Lernenden werden mittels authentischer Aufgabenstellungen bereits im Anfängerunterricht dazu aufgefordert, in Kleingruppen echte kom‐ munikative Redeabsichten zu verwirklichen. Loveys Studie basiert auf direkten Beobachtungen im Klassenzimmer sowie Interviews mit den Lehrkräften und Schülern und liefert so ein umfassendes Bild der tatsächlichen Umsetzung lehrbuchseitiger Vorschläge. Manuela Franke verfolgt im dritten Beitrag eine ähnliche Fragestellung und stellt eine 2019/ 2020 an der Universität Potsdam durchgeführte Studie über kriteriengeleitete Unterrichtsbeobachtungen im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I vor. Diese ermöglichen es, die Routinen und Gewohnheiten des Lehrwerkeinsatzes zur Förderung von Mündlichkeit sichtbar zu machen und sie im Hinblick auf ein mögliches Gelingen der mündlichen Sprachaneignung und -verwendung zu überprüfen. Ihre Studie bestätigt frühere Ergebnisse empi‐ rischer Unterrichtsforschung, dass der Sprechkompetenz (sowohl monologisch als auch dialogisch) immer noch wenig Raum im Klassenzimmer eingeräumt wird und dass insbesondere interaktive Sprechformate stark von schriftlicher Vorbereitung geprägt sind. 18 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz <?page no="19"?> Der dritte Teil des Buches, „Didaktische Konzepte und Methoden zur Förderung mündlicher Kompetenz“, vereint Beiträge, die verschiedene innovative Umsetzungsmethoden zur Förderung der Mündlichkeit im Franzö‐ sischunterricht vorstellen. Im ersten Beitrag von Martina Sobel wird ein alternatives Unterrichts‐ konzept vorgestellt, welches die mündliche Interaktionsfähigkeit im Anfangs‐ unterricht fördert. Gelernt wird nach lexikogrammatischen Prinzipien, d. h. mit authentischen Anwendungssituationen orientierten Wortschatz- und Gramma‐ tikelementen, welche als Chunks zusammengefasst und in Bausteinsystemen formuliert und automatisiert werden. Digitale Lernräume und -formate werden neben dem Flipped Classroom-Konzept genutzt, um den speziell im Anfangs‐ unterricht relevanten Subaspekten der Mündlichkeit, wie z. B. Aussprache und Flüssigkeit, Rechnung zu tragen. Im zweiten Beitrag plädiert Isabelle Mordellet-Roggenbuck für eine Ein‐ beziehung neuer digitaler Medien und deren fluider Übergänge zwischen Münd‐ lichkeit und Schriftlichkeit in den Mündlichkeitsunterricht. Sie argumentiert für eine eigenständige Betrachtung des Mündlichen als von der Schriftlichkeit deutlich zu unterscheidenden Form der Sprache und verweist insbesondere auf den hohen Gehalt an Idiomatizität der gesprochenen, insbesondere interaktiv verwendeten Sprache. Der Beitrag nimmt dabei die Perspektive der Französisch‐ didaktik in Bezug auf Mündlichkeit ein und zeigt auf, welche veralteten Vorstel‐ lungen über Sprache und Normen zum Teil in der Französischunterrichtspraxis noch bestehen. Die Autorin plädiert dafür, diese durch aktuellere, von der modernen Linguistik inspirierte Konzepte zu ersetzen. Gérald Schlemminger und Celine Bichon stellen im dritten Beitrag „Promouvoir la compétence orale des élèves du primaires: la technique de la visualisation picturo-graphique simultanée (VPS) en classe de FLE“ die Lerntechnik VSP vor. Diese u. a. auf Montessori und Freinet basierende Technik beruht auf einer starken neuronalen Verbindung neuer sprachlicher Lerninhalte, bei der alle Sinne stimuliert werden. Die mnemonische Verankerung geschieht durch (ikono-)graphische, haptische und phonische Perzeption sowie durch Wiederholung. Im vierten Beitrag stellt Aurora Floridia die Methode der Psychodrama‐ turgie linguistique (PDL) vor, in der die Mündlichkeit im Spracherwerb eine übergeordnete Rolle spielt. Der Ausdruckswunsch, die Interaktion und das individuelle Lerntempo sind dabei vorrangig. Besonders betont wird die Bedeu‐ tung der PDL-Leitung, die behutsam und einfühlend das in einer bestimmten kommunikativen Situation für eine bestimmte Person notwendige Vokabular 19 Mündlichkeit im Französischunterricht - eine Einführung <?page no="20"?> bzw. Strukturen zur Verfügung stellt, damit sich der konkrete Ausdruckswunsch der/ des Lernenden adäquat erfüllen kann. Im vierten Abschnitt des Bandes geht es schließlich um das Evaluieren und Beurteilen von mündlicher Kompetenz im Französischunterricht. Die beiden Beiträge dieser Sektion beschäftigen sich aus zwei ganz unterschiedli‐ chen Perspektiven mit Kriterien zur Bewertung und stellen Fragen zur Quali‐ tätskontrolle und - optimierung von Bewertungsprozessen, die in verschiedener Hinsicht auch wertvolle Hinweise für die LehrerInnenbildung liefern können. Der erste Beitrag von Sybille Seyferth zeichnet ein Forschungsprojekt zur Entwicklung eines bundeslandspezifischen Beurteilungsrasters nach, wel‐ ches zur kriterienorientierten Einschätzung und Überprüfung der mündlichen kommunikativen Kompetenzen im Französischunterricht gegen Ende der Se‐ kundarstufe I in Bremen eingesetzt werden kann. Bei der auf dem GERS und dem lokalen Curriculum Erstellung der Konstrukts sowie bei den Entwick‐ lungsschritten des Beurteilungsrasters wurden qualitative Aspekte, Fragen der Praktikabilität und der bildungspolitische Kontext berücksichtigt. Der doku‐ mentierte Forschungsprozess und die Diskussion der Ergebnisse zeigen beispiel‐ haft auf, wie (weit) die Entwicklung, Validierung, Revision und Pilotierung eines Beurteilungsrasters für mündliche Kompetenzen, teils in Kooperation mit Lehrkräften, gelingen kann. Stéfanie Witzigmann stellt im zweiten Beitrag eine Studie vor, in der au‐ thentische Videovignetten von Schüler*innen von Lehrpersonen verschiedener Ausbildungsbzw. Erfahrungsstufen (Lehramtsstudierenden und erfahrenen Französischlehrkräften im Grundschulsowie Sekundarbereich) einmal holis‐ tisch und einmal mithilfe eines analytischen Rasters beurteilt wurden. Sie kann zeigen, dass die Sprachkompetenzen der Bewerter*innen einen Einfluss auf ihre Bewertungen hatten. Besonders interessant scheint das Ergebnis, dass hohe Sprachkompetenzen der Bewertenden offensichtlich in holistischen Be‐ urteilungen zu valideren Urteilen führen, dass eine schwächere eigene Sprach‐ kompetenz von Bewerter*innen aber durch das Verwenden von analytischen Beurteilungsrastern ausgeglichen werden kann. Die große Bandbreite an Forschungskontexten und Fragestellungen, die in diesem Band versammelt sind, ermöglichen den Leser*innen vielfache Perspek‐ tivenwechsel, aber auch einen Überblick über die aktuellen Themen im Bereich der Mündlichkeit, die Französischlehrende und Französischdidaktiker*innen derzeit umtreiben. Die empirischen Studien liefern Antworten auf einige aktu‐ elle Forschungsfragen, während die theoretischen Beiträge neue Kontextuali‐ sierungen anbieten und weitere pistes für zukünftige Studien aufzeigen. Die praktischen Beiträge wiederum stellen ganz konkrete Umsetzungsvorschläge 20 Carmen Konzett-Firth / Alexandra Wojnesitz <?page no="21"?> vor, die bereits erfolgreich in der Praxis angewandt wurden. Insgesamt liefert der vorliegende Band auf diese Weise eine Fülle an Einblicken und Diskussionsan‐ stößen. Darüber hinaus schlägt das Buch eine Brücke zwischen den drei Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz, die zwar unterschiedliche nationale Bildungskontexte aufweisen, aber dennoch inhaltlich und methodisch in einen fruchtbaren Austausch treten können. Literatur Blume, Otto-Michael / Nieweler, Andreas. 2018. „Raus mit der Sprache! Mündlichkeit stärken im Französischunterricht“, in: Der fremdsprachliche Unterricht. Französisch, 52/ 152, 2-8. Bürgel, C. 2020. „Je höher qualifiziert, desto besser? Rezeptive Phrasemkompetenzen von Französischlernenden“, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, 31/ 2, 207-234. Bürgel, C. / Gévaudan, P. / Siepmann, D. (ed.). 2021. 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Während der pragmatische Nutzen alltäglich zu überwiegen scheint und rein sprachliche, also logozentrische Kompetenzkonstrukte in der fremdsprachendidaktischen und applied linguistics (AL) 1 Forschung ausgiebig bearbeitet wurden, bleiben viele klassische Kritikpunkte des herrschenden Kompetenzbegriffes - als indi‐ vidualistisch, rein kognitiv und körperlos - relativ unbearbeitet bestehen (DGFF 2008), insbesondere in empirischer Perspektive. Im Beitrag diskutieren wir daher wie gefordert (z. B. Schwerdtfeger 2001) empirische Zugänge zur Kompetenzrekonstruktion, die sprachliches Können, insbesondere mündliches, als sozial und materiell vermittelt konzipieren. Wie also kann man mündliche Kompetenz unter Einbezug von Materialität und Sozialität verstehen? Wir gehen dafür im zweiten Abschnitt zunächst auf konzeptionell-empirische Grundlagen und Limitierungen des (mittlerweile) klassischen Kompetenzbe‐ griffes ein. Auch hier beziehen wir uns weniger auf die weiten theoretischen Debatten als vielmehr auf die empirischen Konsequenzen, die wir zwar als mehrfach eingefordert, aber im deutschsprachigen Kontext selten forschungs‐ praktisch realisiert verstehen. Dies diskutieren wir theoretisch (dritter Ab‐ schnitt) mit Bezug auf die diesbezüglich konvergierenden Positionen in applied <?page no="28"?> 2 gepris.dfg.de/ gepris/ projekt/ 427834126? context=projekt&; task=showDetail& id=427834126& 3 Generell scheint hier die mündliche Kompetenz mehr auf psycholinguistische Basis‐ funktionen hin konzipiert (e. g. Levelt 1989) und weniger auf die Herstellung subjektiv relevanter Kommunikation. linguistics und Erziehungswissenschaft, die auf eine ideologische Überladung des gängigen Kompetenzbegriffs hinweisen, und dann an einer exemplarischen Analyse (vierter Abschnitt) unter Einbeziehung der klassisch nicht berücksich‐ tigten Materialitäten von Körper, Raum und Dingen. Dabei beziehen wir uns auf Daten und Überlegungen, die im Kontext des Projekts „Normen und Prak‐ tiken des fremdsprachlichen Klassenzimmers: Eine rekonstruktive Studie zum Unterricht romanischer Sprachen im Kontext von Bildungsreformen und ge‐ sellschaftlichem Wandel“ 2 entstanden sind und die Dokumentarische Methode zur Videoanalyse nutzen. Im Ausblick (fünfter Abschnitt) bündeln wir die Ergebnisse und skizzieren weitere Perspektiven. 2 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht 2.1 Die klassische Sicht Wir skizzieren hier die klassische Perspektive der Fremdsprachendidaktik (FSD) auf Kompetenz und die darauf bezogene Kritik. Dies tun wir anhand eines empirischen Beispiels, das wir später noch einmal mit einer neuen Perspektive analysieren. Als „klassisch“ bezeichnen wir hier diejenige Position, die den Bildungsstan‐ dards entspricht bzw. darauf aufbaut (z. B. KMK 2004; Tesch et al. 2008), typischerweise mit Bezug zur Kompetenzdefinition von Weinert. Üblicherweise werden die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache auch für weitere Fremdsprachen angelegt, diesem Usus folgen wir. Die Bildungsstandards bauen auf dem GER auf 3 , dessen Skalen „kontextfrei“ (Europarat 2001, 32; Herv. i. O.) entwickelt sein sollen. Allerdings wird dazu ergänzend formuliert: „Dennoch müssen die Deskriptoren in einem gemeinsamen Referenzrahmen kontext-rele‐ vant sein, also auf alle nur denkbaren relevanten Kontexte bezogen und in sie übersetzt werden können“ (ibid.; Herv. i. O.). Es finden sich zwar im GER oder den Bildungsstandards durchaus Listen mit Kontexten (cf. ibid. 54; KMK 2004, 13) und zu den mündlichen Kompetenzen folgende Ausführungen, die wohl am besten zu der unten präsentierten Szene passen. Unter dem Titel „Sprechen: An Gesprächen teilnehmen: Die Schülerinnen und Schüler können an Gesprächen über vertraute Themen teilnehmen, persönliche Meinungen 28 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="29"?> ausdrücken und Informationen austauschen (B1)“ (KMK 2004, 13) werden verschiedene separate kommunikative Handlungen/ Kompetenzen aufgeführt, darunter auch die folgende: „Die Schülerinnen und Schüler können soziale Kontakte herstellen durch Begrüßung, Abschied, Sich-Vorstellen, Danken und Höflichkeitsformeln verwenden (A2)“ (ibid.). Aber inwiefern diese Angaben für unterschiedliche Sprechende und Lernende Unterstützungen, Limitierungen oder Besonderheiten darstellen, wird ebenso wenig diskutiert wie die konkreten materiellen Landschaften dieser Kontexte und deren Bedeutung. In Bezug auf mündliche Kompetenz finden sich weiter Aussagen, die die relative Vagheit der Beschreibung in den Bildungsstandards ausschließlich auf didaktische oder methodische Fragen beziehen: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Vorrangigkeit der kommunikativ-inter‐ kulturellen Kompetenz die Französischdidaktik vor neue Fragen stellt. Denn das Lernziel „kommunikative Kompetenz“ macht in sich noch keine Aussage darüber, wie die notwendigen Sprachmittel erworben werden. Auch der GeR und die Bildungsstan‐ dards liefern noch keine konkreten methodischen Konzepte. (Meißner/ Tesch 2008, 49) Demnach ist mit Kompetenzorientierung (KO) einerseits eine Stärkung der Mündlichkeit verbunden, andererseits bleibt bewusst offen, wie Kompetenz gefördert werden kann. Von dieser Offenheit ausgehend lässt sich fragen, ob und inwiefern KO im Französischunterricht umgesetzt wird. Dafür werfen wir einen ersten Blick auf eine exemplarische unterrichtliche Sprechsituation. 2.2 Ein empirisches Beispiel Die Stunde, aus der unser empirisches Beispiel kommt, beginnt mit einer Vorstellung des Forschungsprojekts durch den Lehrer und die Forscherin. Dann stellt der Lehrer fest, dass eine neue Schülerin (Sw2) nicht anwesend ist und er sagt, dass er eigentlich eine „Vorstellungsrunde“ für diese Schülerin machen wollte. Danach spricht er mit einem Schüler (Sm1) und einer Schülerin (Sw1) ab, dass sie wie scheinbar zuvor schon abgesprochen trotzdem „eine kleine Dosengeschichte“ machen, was der Klasse offenbar verständlich ist. Schließlich geht der Lehrer kurz durch eine Tür am hinteren Ende des Raumes für ca. 10 Sekunden aus dem Raum, kommt wieder und eröffnet die Stunde auf Französisch: 29 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="30"?> 4 Transkriptionskonvention: (.): kurze Pause; Se-: Abbruch; Su: d: Dehnung; °comme°: leiser Transkript 1 4 : Lehrer: Bonjour à toutes et à tous. Classe: Bonjour Monsieur L: Alors, prévu c’était une présentation pour Sw2, malheureusement Sw2 n’est pas là. C’est pas grave, on va quand même ähm (.) nous présenter, c’est à dire il y a deux pdeux élèves parmi vous qui vont se présenter (..) et on va commencer avec (.) toi (1) (blickt zu Sm1) tu viens ici (.) tu ouvres la boîte (.) et tu fais (1) °comme tu fais.° ok? (.) tu viens? Tu te présentes? Grace à la boîte et avec la boîte. Die „boîte“, anhand derer Sm1 und Sw1 sich vor der Klasse stehend abwechselnd vorstellen sollen, ist eine Dose, in der ca. 15 kleine Gegenstände sind, die als Impulse für das Geburtsdatum oder ein kleines Segelschiff als Impuls für ein Wunschreiseziel dienen. Sm1 beginnt mit dem Schiff, danach nimmt Sm2 das Haus. Insgesamt dauert die „Dosengeschichte“ ca. 3 Minuten. Bild 1: Präsentation Wir präsentieren hier - logozentrisch - die rein sprachlichen Transkripte der mündlichen Produktion der beiden Lernenden. 30 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="31"?> Transkript 2 : Sm1: Un jour (.) je voudrais (.) ähm voyager en Se- Seychelles? Sw1: j’habite à Fulda. Ca. 2 Minuten später nimmt auch Sw2 das Schiff: Transkript 3: Sw1 „Un jour äh je voyage à (.) Afrika Su: d: ? “ Dabei handelt es sich wohl um Beispiele von „sich vorstellen“, das expliziert der Lehrer zumindest als Auftrag, und damit um das als am wenigsten anspruchsvoll ausgewiesene Ziel, auf A2, alle anderen sind im Bereich B1 oder B1+ verortet. Sm1 kann möglicherweise besser Französisch, zumindest ist seine Konstruktion bezüglich des Reiseziels etwas komplexer. Außerdem bearbeitet er die gesamte „boîte“, ohne eine Vokabel beim Lehrer nachfragen zu müssen, anders als Sw1. Insgesamt bewältigen beide aber abwechselnd alle Impulse der boîte vor der Klasse am Lehrerpult stehend, sie können sich anhand der Impulse vorstellen und somit das kommunikative Ziel erfüllen. Der Lehrer gibt den beiden abschließend sprachliches Feedback. Es handelt sich wohl recht eindeutig um eine Übung, allerdings um eine Übung die nach Bär (2016, 14sq.) diverse Kriterien für „intelligentes Üben“ (ibid., 15) im Rahmen kompetenzorientierten Unterrichts erfüllt. Das Kriterium „Vielfalt“ könnte man möglicherweise als erfüllt ansehen, da es sich nicht um eine Lehrbuchübung handelt und sich im Unterricht auch noch andere Übungen finden. „Rhythmisiert“ ist die Übung, da sie zum Beginn der Stunde stattfindet und nicht von weiteren gleichen Übungen gefolgt ist. Sie ist zudem auf gewisse Weise abwechslungsreich und es gibt „Feedback“ durch den Lehrer (s. u.). Es handelt sich wohl zudem um ein eher „implizites Üben“, da nicht z. B. sprachliche Mittel isoliert geübt werden. Es scheint sich also um eine potentiell sinnvolle kompetenzorientierte Übung zu handeln. Bär nennt allerdings auch noch weitere und etwas diffusere Kriterien: Damit Schülerinnen und Schüler Übungen als Chance für ihren eigenen Lernprozess begreifen, sollten diese idealerweise sinnhaft sein, eine ‚persönliche Betroffenheit‘ auslösen und an das individuelle Vorwissen der Lernenden anknüpfen. (Bär 2016, 13) Diese nehmen wir zum Ausgangspunkt, kritischer zunächst auf Kompetenzori‐ entierung und dann damit verbunden auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Übung einzugehen. 31 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="32"?> 5 Die Szene bietet sich nicht zuletzt daher an, da von der LP Materialität bewusst betont wurde. 2.3 „Klassische“ Kritik an der Kompetenzorientierung Ein typisches Beispiel für Kritik lautet, dass in der KO kein Raum für „Bildung“ gelassen werde und dementsprechend KO rein funktional gedacht sei, die Inhalte gingen verloren (DGFF 2008, 7). Weiter liege zu viel Gewicht auf Tests, was dazu führe, dass Teilkompetenzen isoliert betrachtet würden, aber in der Wirklichkeit immer nur integrativ vorkämen (ibid., 12). Man kann berechtigterweise einwenden, dass diese Diskussion schwer an‐ hand einer einzelnen Übung zu führen ist, auch wenn möglicherweise einzelne Argumente plausibilisiert werden könnten. Weiter könnte man auch darauf hinweisen, dass wir in unserem Sample (cf. dazu Abschnitt 4) wiederholt auf Einheiten stoßen, die auf den ersten Blick nach vertiefter inhaltlicher - sinn‐ hafter - Auseinandersetzung wirken, sich aber in der rekonstruktiven Analyse ebenfalls als Übungen herausstellen (cf. Tesch/ Grein im Druck). Letztlich haben wir die im Verbaltranskript gezeigte Sequenz aber ausgewählt, um daran zu zeigen, dass auch der Rahmen der o. g. Kritik inzwischen hinterfragt worden ist, insbesondere mit Hinblick auf die Materialität der Situation 5 . Darauf gehen wir im folgenden Abschnitt ein. 3 Empirische und konzeptuelle Weiterentwicklungen in Bezug auf Kompetenz Hier diskutieren wir Erziehungswissenschaften und AL als zwei Bezugsdiszi‐ plinen, in denen auf konvergierende Weise Kompetenzbegriffe mit Hinblick auf soziale Kontexte und deren spezifische Materialität hinterfragt werden. Dafür bieten wir keinen exhaustiven Überblick, sondern beziehen uns selektiv und im Sinne unserer Argumentation auf verschiedene Ansätze. 3.1 Neuere Kritik der applied linguistics Kimura und Canagarajah (2020) kritisieren gängige Kompetenzbegriffe auf‐ grund deren rein kognitiver, individualistischer sowie logozentrischer Ausrich‐ tung. Auch Hall (2019, 86; Herv. i. O.) kritisiert, „competence continues to carry an ideology of homogeneity, permanence, and universality“, also als Ausdruck herrschender Ideologien der Moderne (cf. Kimura / Canagarajah 2020, 19). In diesem Rahmen würde auch die kognitive, im individuellen Bewusstsein ange‐ siedelte Kompetenz kausal als Ursprung von Sprache wirken (cf. Canagarajah 2018, 268/ 270). 32 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="33"?> Stattdessen hänge, so die Kritik, Kompetenz an (geteilten) framings, Situa‐ tionsdeutungen oder Rahmungen, durch die ein Kontext sozial situativ und materiell von den Handelnden erst hergestellt wird (Kimura/ Canagarajah 2020, 9sq.). Im Beispiel von Kimura und Canagarajah (2020) ist die geteilte Rahmung das gemeinsame erfolgreiche Handeln im Kontext der Forschungsgruppe, wobei ein Forscher u. a. durch detailliertes Zeigen und materiell gebundene Verweise ein Verständnis über die Diskussionsgrundlage herstellt. Seine sprachlichen „Fehler“ spielen in dieser geteilten Orientierung am Handeln im Forschungs‐ projekt keine erkennbare Rolle. Schulischer Fremdsprachenunterricht unterscheidet sich allerdings auch institutionell von Arbeitsplatzkontexten. Denn die Unterrichtsteilname ist ge‐ nerell in Deutschland verpflichtend und die Verwendung der Zielfremdsprache ist nicht per se notwendig, um ein kommunikatives Ziel zu erreichen, sondern sie stellt zunächst selbst den institutionell vorgegebenen Zweck dar. Andere Rahmungen als im Beispiel von Kimura und Canagarajah (2020) sind daher durchaus möglich und müssen empirisch rekonstruiert werden. Sie müssen aber zunächst theoretisch greifbar gemacht werden und daher beziehen wir uns nach dem Blick in die AL auch auf schulpädagogische Überlegungen, die ebenfalls den Kompetenzbegriff (kritisch) betrachten. 3.2 Kompetenz und Leistung - interaktiv und kontextgebunden Kompetenz wird klassisch - wie in 2.1 beschrieben - als individualistisch, kognitiv und universalistisch gefasst. In der interpretativen Erziehungswissen‐ schaft wie in der AL wird parallel und teilweise konvergierend der top-down gesetzte (cf. Zeitler et al. 2013; Hu 2012) - disziplinär psychologische - Kom‐ petenzbegriff bearbeitet. Kompetenz soll dabei Leistung erfassen und diese ist nach Wagener interaktiv erzeugt (2020, 41sqq.): „Dabei ist Leistung als soziales Konstrukt aufzufassen, „das erst im Beurteilungsprozeß erzeugt“ wird (Luhmann 2002, 66), etwa nach dem Code „besser/ schlechter“ (ibid., S. 73)“ [sic]. Nach Ricken (2018, 52sq.) bedeutet diese Sicht auf Prozesse: So wie gute SchülerInnen nicht einfach gute SchülerInnen sind, sondern als gute SchülerInnen hervorgebracht - präziser: sichtbar gemacht - werden müssen (und sich selbst hervorbringen bzw. sichtbar machen müssen), so liegt - zum einen - auch Leistung nicht einfach vor, sondern muss als spezifische dadurch hervorgebracht werden, dass sie material erkennbar, individuell zurechenbar und sozial anerkennbar gemacht wird. Diese Sichtbarmachung von Leistung im Unterricht erfolgt zudem nicht nur prozessual, sondern auch interaktiv (cf. Wagener 2020, 41). Wagener (2020, 33 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="34"?> 6 Der Ansatz des framing (Kimura/ Canagarajah 2020) passt zur Rollentheorie (und deren Anschlüssen an die praxeologische Wissenssoziologie, Bohnsack 2017, 306sqq.) insofern, als dass beide Konzepte auf Goffmann zurückgehen. 5sqq.) zufolge geht es bei der Frage nach der Kompetenz weiter um die Konstruktion einer Differenz zwischen Lernenden, deren Maßstab derjenige der Schule ist. Denn dort bedeutet Kompetenz nicht allein kommunikativer Erfolg - denn der wäre natürlich in der Verkehrssprache Deutsch wahrscheinlicher - sondern zumindest auch die Erfüllung schulischer Aufgaben und die Erbringung benotbarer Leistung. Die Sozialität im Unterricht entspricht nicht unbedingt nahtlos derjenigen außerhalb des Unterrichts. Nach Trautmann (2009) bleibt der grundlegend institutionelle Charakter schulischen Unterrichts aber in der Fremdsprachendi‐ daktik weitgehend unberücksichtigt. So betreten junge Menschen die Institution Schule formal und kommunikativ gesehen als Schüler*innen und sie werden auch in dieser Rolle angesprochen 6 . Es handelt sich dabei um ein Set an dauer‐ haften institutionellen Handlungsanweisungen, die nicht mit den konkreten Bearbeitungsweisen dieser Anweisungen z. B. durch die Schüler*innen und Lehrpersonen gleichgesetzt werden können (cf. Bohnsack 2017, 129). Typischer‐ weise müssen sich Schüler*innen in der Schule mit trivialisierten Gegenständen wie vereindeutigenden Fragen zu komplexen Themen auseinandersetzen und sie tun dies häufig, indem sie die Aufträge abarbeiten, ohne sich mit der Rolle und den damit verbundenen Aufgaben zu identifizieren, aber diese auch nicht kategorisch ablehnen. Weiter ist dabei eine Bezugnahme zu Peers typisch sowie dass die Schüler*innen komplementär passend zu den Lehrpersonen handeln (cf. Grein/ Vernal Schmidt 2020, 24sq.). Dies wird metaphorisch als die Erfüllung eines „Jobs“ beschrieben (ibid.) Und auch die Kommunikationsziele der Lernenden im FSU entsprechen nicht automatisch den Kommunikations‐ zielen des FSU und der Fremdsprachendidaktik (aber sie können sich natürlich entsprechen). Zusammengefasst zeigen sich Kompetenzen, oder besser deren Darstellung und Erzeugung, demnach also interaktiv, sozial und institutionell vermittelt. Kompetenzerzeugung im Unterricht wie auch in anderen Kontexten erfolgt aber nicht nur interaktiv und sozial, sondern auch materiell. 3.3 Die multimodale Kompetenzerzeugung: Sprache, Körper, Dinge und Räume Die vier Begriffe aus der Überschrift sind nicht immer trennscharf, werden aber im sozialen Handeln und in der Sinnkonstruktion auch nicht als separat von‐ einander behandelt. Daher stellt deren Unterscheidung eine Heuristik dar, die 34 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="35"?> 7 Körpersprache ist aber für der Interaktion Außenstehende in der Analyse nicht einfach vom Körper abzulesen, sondern muss der Indexikalität der Interaktion folgen, wenn man vermeiden möchte, pausenlos in Unterstellungen abzugleiten. dem besseren Verständnis dient. Weiter handelt es sich dabei um Affordanzen, also „dass Lebewesen die Gegenstände in ihrer Umwelt vor dem Hintergrund der individuellen Beschaffenheiten und Anforderungsstrukturen bzw. ihrer Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen und nutzen“ (Vernaci 2021, 37sq.). Körper sind ein zentraler Bestandteil von kommunikativem Handeln, nur durch sie können wir auf etwas zeigen, Dinge nutzen, uns durch den Raum bewegen und in situ mit anderen ebenfalls körperlichen Menschen interagieren (cf. Canagarajah 2018, Mondada 2016). Nur (sozialisierte) Körper schmecken auch die crêpes aus der Stunde vor den Ferien oder nehmen die Produktion ungewohnter, markierter Laute wahr, z. B. von Nasalen. Weiter verleiht die sog. Körpersprache durch Blicke, Mimik und Körperhaltung der Verbalsprache oft erst ihre kontextbezogene Verständlichkeit. 7 Auch Körper sind in Rollen eingebunden: So entspricht im schulischen Unterricht z. B. oft die Differenz zwischen Stehen und Sitzen auch zugleich jener zwischen Lehrperson und Schüler*innen. Nicht alle Körper dürfen gemäß kontextueller und oder institu‐ tioneller Regeln alles machen. Für ein Verständnis von Kompetenz oder besser von kommunikativem Erfolg/ Handeln ist es daher notwendig, auch körperliches Handeln zu analysieren. Dabei bewegen sich die Körper und ihre Menschen nicht einfach im luftleeren Raum, sondern es gibt Räume, die symbolisch aufgeladen sind. In der Schule „gehören“ die Tafel und der Raum davor der Lehrperson, auch wenn dies je nach Unterrichtssetting aufgeweicht werden kann. Dies gilt auch für Bewegung während der Unterrichtsstunde generell, die zumeist von der LP sanktioniert sein muss (cf. framing der Räumlichkeit bei Kimura/ Canagarajah 2020). So ist es auch in unserem Beispiel der boîte-Übung (s. u. für mehr Details). Es gibt weiter spezifische visuelle und akustische Räume im Klassenzimmer (cf. Rabenstein 2018, 333sq.), in denen Interaktionen nicht öffentlich sind. Wenn Französisch-Sprechen-Können aber als Leistung und in der Benotung den Sprechenden zugerechnet werden soll, dann muss dies zumindest die benotende Lehrperson einbeziehen. Dinge gehören zu (Klassen-)Räumen wie selbstverständlich dazu, ebenso zum Unterricht (zur weiteren Differenzierung von Dingen im Unterricht cf. Rabenstein 2018/ 2018a). Sie hängen eng mit Räumen zusammen, aber auch mit Assoziationen, also Mensch-Ding-Verbindungen mit emergentem Sinn (Asbrand/ Martens 2018, 124sqq.). Lehrpersonen können zum Beispiel nur durch Stift oder Kreide an die Tafel schreiben; Schüler*innen benötigen beispielsweise 35 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="36"?> das Lehrbuch, um darin Aufgaben zu erledigen oder Dinge darunter zu verste‐ cken. Im hier analysierten Beispiel brauchen sie ein kleines Segelschiff-Modell, um zu wissen und zugleich der Klasse und der LP zu signalisieren, was sie als nächstes mündlich äußern müssen. Dabei können die Dinge, wie etwa das Segelschiff, z. B. zur Wiederholung genutzt werden oder auch um Neues zu erarbeiten, zu lernen bzw. Kompetenzen aufzubauen (ibid.). Empirische Beispiele der Berücksichtigung von Dingen im (deutschsprachigen) Fremdspra‐ chenunterricht sind eher selten. So findet sich z. B. bei Konzett (2015) eine Diskussion, wie die Affordanzen eines Würfelspiels im Französischunterricht zur Bearbeitung der damit verbundenen Übung beitragen. Mündliche Leistung im Französischunterricht ist symbolisch und prak‐ tisch an Räume, Dinge und Körper gekoppelt - selbstverständlich zählt dazu auch ein Sprachbegriff, der aber auch andere semiotische Ressourcen berücksichtigen können muss. Daraus kann dann auch ein Begriff von sprachlich-kommunikativem Können, insbesondere mündlichem Können, entwickelt werden, der die genannten Limitierungen nicht aufweist, sondern an Materialität anschlussfähig ist. Canagarajah (2018, 285; Herv. i. O.) schlägt „emplacement“ vor, das er definiert als „the strategic and ongoing attunement to an assemblage of agents and resources in expansive spatiotemporal scales for the emergence of thinking and meaning in activity“. Dabei soll dieser Begriff weiter „the more agentive work of bodies and objects beyond the cognitive orchestration of individuals“ (ibid., 284sq.) betonen und zudem auf den spezifischen Kontext und dessen soziale Normen eingehen, die navigiert werden müssen (cf. auch Kimura/ Canagarajah 2020). Hall bietet ebenfalls terminologischen Ersatz für den Begriff „competence“ (2019, 86) und diskutiert diverse Alternativen („Repertoire“, „Expertise“, „Grammar“, „Semiotic Resource“, „Semiotic Register“, ibid. 86sqq.), bei denen Multimoda‐ lität fokussiert und eine limitierte individuell-kognitive Handlungsfähigkeit zugunsten der materiellen und normativen Affordanzen relativiert werden. Bei Wagener (2020) wird Leistung als multimodal interaktiv erzeugt und von kontextuellen Machtkonstellationen abhängig verstanden, aber nicht spezifisch auf Sprache bezogen. Er bezieht sich ebenso wie Asbrand/ Martens (2018) auf die Praxeologische Wissenssoziologie. Letztere nutzen den Kompetenzbe‐ griff eines „anforderungsspezifischen Zusammenhang[s] von theoretischen und handlungspraktischen Wissensbeständen“ (ibid., 158), der ebenfalls betont multimodal gedacht ist. Es ist für die Diskussion nicht zentral, ob dafür der Begriff der Kompetenz selbst verworfen oder weiterentwickelt wird, sondern dass Handeln nicht als individualistisch sowie rein kognitiv und stattdessen als multimodal, sozial und 36 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="37"?> materiell gedacht ist. Dieses Verständnis ist dann anschlussfähig an Konzepte von Mehrsprachigkeit im Sinne von Translanguaging (cf. Otheguy et al. 2015), die auch Sinnhaftigkeit und Machtverhältnisse berücksichtigen. Unseres Erachtens ist der genannten Kritik mit Hinblick auf ideologische Aufladungen, Kognitivismus und Logozentrik zuzustimmen. Zudem gibt es mit dem Habituskonzept - verstanden im Rahmen der Praxeologischen Wis‐ senssoziologie - durchaus ein generatives Prinzip, das materiell gedacht und gleichermaßen kontextübergreifend wie kontextadaptiv ist (cf. Bohnsack 2017, 302sq.). Während der Habitus die inkorporierten Strukturen seiner materiellen wie auch expliziten Entstehungskontexte beinhaltet, treffen ein‐ zelne Menschen als Träger dieses Habitus in ihrem Leben auf verschiedene soziale Kontexte, zu deren impliziten wie auch normativen Strukturen sie mehr oder weniger gut passen (cf. Bourdieu/ Wacquant 2013). Die einzelnen Schüler*innen, Lehrpersonen, Schulen, Klassen und Fächer stellen so ein relationales Gefüge verschiedener Wissensarten und verschiedener Struktu‐ rierungen dar, in denen Kompetenz und kommunikative Ziele je Unterschied‐ liches bedeuten können. Wie rekonstruieren wir also Kompetenz bzw. Können im Anschluss an diese Überlegungen? 4 Empirische Rekonstruktion der Kompetenzhervorbringung und -darstellung 4.1 Daten und Methode Wir haben ca. 40 Stunden Französisch- und ebenso viele Stunden Spanischun‐ terricht an verschiedenen Schulen in 5 Bundesländern videographiert. Der Schwerpunkt lag auf der 9. und 10. Klasse, aber auch auf der Oberstufe. Dabei sind wir mit der Bitte an die Lehrpersonen herangetreten, keinen besonderen, sondern alltäglichen Unterricht abzuhalten. Auf diese Weise haben wir ein sehr breites Sample erhalten, das z. B. in Bezug auf Materialität von Sitzen und Lehrbuchübung sowie Frontalunterricht hin zu Spielen mit viel Bewegung wie im vorliegenden Fall reicht. Auch in Bezug auf Mündlichkeit reicht das Spektrum recht weit, hier haben wir uns der Anschaulichkeit halber für ein Beispiel entschieden, an dem die spezifische Sozialität und Materialität der Situation besonders deutlich werden. Für unsere Analysen beziehen wir uns auf eine spezifische Praxistheorie, die Praxeologische Wissenssoziologie, und nutzen die darauf beruhende Doku‐ mentarische Methode (Bohnsack 2011, 2017). Diese betont zur Analyse die Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Wissen als erkenntnis‐ 37 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="38"?> 8 Der Weg über die Analyseschritte und Fallvergleich hin zur Typenbildung der habitu‐ ellen Sinnstrukturen und dann im finalen Schritt zur Genese der Sinnstrukturen kann hier nicht dargestellt werden (cf. Asbrand/ Martens 2018, 30sqq.). theoretische Leitdifferenz, auf die auch die verschiedenen Aspekte von Mate‐ rialität bezogen werden können. Das implizite Wissen im Sinne von Mannheim oder Bourdieu wird als handlungsleitend, aber nicht deterministisch verstanden (cf. Asbrand/ Martens 2018, 16sqq.). Die Analyse zielt auf die Rekonstruktion von habituellen Sinnstrukturen der Beforschten 8 (cf. ibid., 50). Mit der Dokumentarischen Methode werden die Verbaldaten sequenzanaly‐ tisch und in der Videoanalyse sowohl synchron wie auch in sequentieller Hinsicht (Bohnsack 2011; Mondada 2016) analysiert, also anhand der Komposi‐ tion von Standbildern wie auch deren Abfolge. 4.2 Erneute Diskussion der Sequenz unter Einbeziehung von Materialität und institutioneller Sozialität Der Fokus dieses Abschnitts liegt auf der selektiven Darstellung der Analyseer‐ gebnisse, nicht auf der Analyse der oben dargestellten Sequenz selbst. Der Arbeitsauftrag ist nicht direkt wichtig für das Verständnis der logozent‐ risch, rein kognitiv und individuell gedachten sprachlichen Produktion, aber durchaus, wenn man den sozialen Kontext berücksichtigen will. Zum einen ist interessant, dass der Lehrer die Begrüßung sowie den Arbeitsauftrag zuvor bereits auf Deutsch gegeben hat, zu jenem Zeitpunkt aber an beide, sowohl an Sm1 wie an Sw1. Auf Französisch ist der Auftrag aber nur an Sm1 gerichtet, ohne dass rekonstruierbar wäre, warum - und zudem geht auch Sw1 mit nach vorn. Die Funktion des Sprachwechsels ist nicht völlig aufzuklären, ob es sich z. B. um eine Routine oder eine besondere Inszenierung für die Forschenden handelt. Zum anderen ist bemerkenswert, dass das Übungsspiel ursprünglich einen ganz anderen Sinn hatte: Die Klasse sollte sich nach und nach der neuen Mitschülerin Sw2 vorstellen, die Übung wird aber auch in deren Abwesenheit ‚durchgezogen‘. 38 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="39"?> Bild 2. Hervorgehoben sind Sm1, Sw1 sowie die Blickrichtung des Lehrers zu Sm1. Bei Bild 2 ist deutlich, dass die Schüler*innen zwar nicht direkt nach vorne zum Lehrer blicken, aber dennoch die Klasse in ihren langen Tischreihen auf die Tafel ausgerichtet ist. Außerdem kann der Lehrer in dieser Anordnung alles leicht überblicken. Die Perspektive der Kamera und der Schnitt heben diese Zentrierung auf Lehrer, Pult und Tafel hervor. Der Lehrer nominiert Sm1, blickt auch nur diesen an und tauscht dann mit ihm den Platz, also die körperlich-räumliche Position, die Rollen bleiben aller‐ dings bestehen. Auch Sw1 kommt nach vorn, zu der prominenten Örtlichkeit, die sonst dem Lehrer vorbehalten ist. Bild 3 39 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="40"?> Bei Bild 3 sind die beiden bereits vorn und Sm1 hat gerade den Deckel von der Dose abgenommen. Trotz des potentiell unklaren Arbeitsauftrags „tu ouvres la boîte (.) et tu fais (1) °comme tu fais°“ ist kein Zögern erkennbar, die beiden Schüler*innen kennen die Übung offenbar. Es fällt auf, wie rollenhaft der Auftrag bearbeitet wird. Denn dadurch, dass Sm1 den Deckel der Dose abnimmt, entsteht eine Gelegenheit oder Handlungsoption für Sw1, zuerst in die Dose zu greifen und ein Ding zu nehmen. Stattdessen streicht sie erst die Haare mit der rechten und dann mit der linken Hand nach hinten, lässt die Möglichkeit verstreichen, zuerst in die Dose zu greifen und folgt schematisch dem Auftrag, dass Sm1 anfangen sollte. Weiter werden die Affordanzen der Situation deutlich: Die beiden sollen sich vorstellen und dem Auftrag des Lehrers nachkommen; zugleich ist auch eine implizite Erwartung der Peers denkbar, sich gemäß einer spezifischen Peer-Logik zu inszenieren. Allerdings bietet die Situation auf der Bühne mit dem Rederecht und der Dose auch die Möglichkeit, mündliche Kompetenz aufzuführen, und sich auch den Peers gegenüber als jemand zu beweisen, der*die delikate Situationen z. B. ‚cool‘ abarbeiten kann. Bild 4 Sm1 präsentiert hier, er hat ein Ding ausgewählt - offenbar ein Ding, zu dem er einen Satz aufsagen kann. Sw1 agiert analog und später sieht man, wie sie ein Ding hebt, um ein anderes zu greifen, das darunter liegt. Sie weiß anscheinend, wozu sie Sätze aufsagen kann und wozu nicht. 40 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="41"?> Die Körper der beiden sind hochgradig koordiniert; sie agieren nahezu perfekt in der materiellen Bedingung des Rollenhandelns: Abwechselnd tragen sie auswendig gelernte Sätze auf der Bühne anhand von Dingimpulsen vor. Dabei kommt an keiner Stelle der Eindruck auf, dass der Inhalt, die Vorstellung, relevant ist. So geht es wohl auch nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung oder Vorstellung gegenüber Unbekannten, sondern um das Ordnungsprinzip, abwechselnd ein Ding zu nehmen und etwas zu sagen. Das, worauf es ankommt, bewältigen sie insofern erfolgreich, als der Lehrer nur geringes korrektives Feedback gibt (vermutlich ritualisiert, zu Sm1 und Sw1 jeweils genau einen Hinweis sowie eine allgemeine Information für die Klasse). 4.3 Was „können“ Sm1 und Sw1? Sie können auswendig gelernte Sätze anhand von Dingimpulsen wiedergeben. Dies können sie abwechselnd, die individuell zurechenbare ,Kompetenz’ hängt also auch an der Vorbereitungszeit, die sie durch die Äußerungsproduktion der/ des jeweils anderen haben. Zudem können sie die Sätze auch auf der Bühne vor dem Lehrerpult wiedergeben, nachdem der Lehrer ihnen das Wort erteilt und den Platz vorn zugewiesen hat. Diese Übung können sie mit nur einer Rückfrage an den Lehrer zu den Dingen in der Dose bewältigen. Dies alles können sie im Stehen vor der Klasse und ihre Körper sind auch offenbar darin geübt, triviale Inhalte vor der Klasse vorzustellen: Sie sprechen laut genug, wenden sich ausreichend dem Publikum zu, es kommt zu keinen sichtbaren Stressreaktionen. Weiter sind die körperlich-dinglichen Handlungen auf der Bühne aufeinander abgestimmt, die Reihenfolge, die der Lehrer vorgegeben hat, wird abgearbeitet und das Prinzip des abwechselnden Sprechens funktioniert. Alle Beteiligten, auch der Lehrer und das Publikum, erfüllen ihre (trivialen) Rollen, ohne Begeisterung oder Abwehr, ohne Identifikation oder Zurückwei‐ sung dieser Rollen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die SuS potentiell dabei nichts lernen könnten. Es gibt allerdings auch keinen sichtbaren Grund, warum irgendeine Form von vertiefter Auseinandersetzung mit Inhalt oder Sprache an‐ hand dieser Übung entstehen sollte oder sie wird zumindest nicht direkt sichtbar. Die Lernenden in dem Beispiel beherrschen also das Schüler*innen-Sein im Französischunterricht, und anhand der materiellen und sozialen Affordanzen erledigen sie genau das, was von ihnen verlangt wird, kein bisschen mehr und kein bisschen weniger. Dazu sprechen sie Französisch, denn es handelt sich ja um Französischunterricht. Zugleich gibt es auch keine Reaktion ihrer Mitschüler*innen, die am Erfolg zweifeln ließe. Das framing der Situation erscheint hier als einvernehmlich geteilt, auch mit Hinblick auf das multimodale Abarbeiten. 41 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="42"?> Man kann legitimerweise argumentieren, dass es sich um nur eine Auf‐ wärm-Übung handelt. Allerdings wiederholt sich dieses Muster auch später bei anderen Übungen, die auf den ersten Blick eine eher inhaltliche Auseinan‐ dersetzung versprechen (cf. Ströbel 2021). Ob die körperlichen Handlungen während der Übungen und die Interaktion mit den Dingen einen Selbstzweck darstellen und inwiefern die Identifikation z. B. durch andere Dinge oder einen anderen Umgang damit hätte ermöglicht werden können, darüber kann man nur spekulieren. Dies muss an weitere Daten und den Fallvergleich delegiert werden. 5 Diskussion Offensichtlich handelt es sich bei der dargestellten Szene um eine Übung, und daran ist auch nichts Verwerfliches, sondern es besteht eine Notwendigkeit dafür, gerade auch zum Training von mündlicher Kompetenz. Unser Argument zielt auch nicht normativ auf den Sinn oder Unsinn einer Übung, sondern auf die Sozialität und Materialität, die hier Teil der Kompetenzdarstellung sind und auf die Rekonstruktion der Sinnstrukturen, die dabei sichtbar werden. Das Können, das wir rekonstruiert haben, zielt insbesondere auf wiederholte Übungen sprachlicher Form, nicht auf inhaltliche Auseinandersetzung oder gar „persönliche Betroffenheit“ (Bär 2016, 13). Dies ist ein Phänomen, das wir in unserem Korpus häufig antreffen, auch wenn es auf den ersten Blick immer wieder so wirkt, als stünden Inhalte im Vordergrund. Die Settings sind dementsprechend oft die von Übungen oder Vorträgen der Lehrpersonen. Die Beteiligten im empirischen Feld, die Lehrpersonen und die Schüler*innen, bearbeiten diese routiniert. Auch wenn es dabei natürlich auch immer um das Französisch-Können geht, so fallen angesichts des Leitbegriffes der Kompetenz‐ orientierung doch mehrere Aspekte auf: ● Kompetenzorientierung wird im Sinne eines Trainings abgearbeitet, eine sinnhaft inhaltsbezogene Auseinandersetzung von Lernenden und Leh‐ renden mit Sprache und Inhalten ist selten zu finden. ● Während wir häufig das Abarbeiten trivialer Aufträge finden, wird es hier insofern besonders deutlich, als der didaktische Plan, sich der neuen Mitschülerin vorzustellen schlicht durchgezogen wird, auch wenn diese Schülerin nicht anwesend ist. So wird die Übung letztlich trivialisiert, da ein Programm abgearbeitet wird. ● Was zunächst individuell zurechenbar und bewertbar erschien („besser/ schlechter“), wurde wie zuvor dargestellt allerdings als Ergebnis individua‐ listischer, logozentrischer und kognitivistischer Ideologien bezeichnet (Hu 42 Matthias Grein / Lisa Ströbel / Bernd Tesch <?page no="43"?> 9 Ein typisches Beispiel, das in diesem Beitrag nicht Thema ist, stellt Digitalisierung dar, das sowohl aus den genannten Perspektiven mit Erwartungen aufgeladen ist und zugleich von den Schüler*innen und Lehrpersonen in der Praxis eigensinnig bearbeitet wird. Ein weiteres Beispiel komplexer Normerwartungen wäre das Thema Umwelt. 2012; Canagarajah 2018), aufgrund derer die Bedeutung von Sozialität und Materialität in den Bildungsstandards kaum berücksichtigt wird. ● Auffällig an unserem Beispiel ist weiter, dass es in der von uns klassisch kompetenzorientiert genannten Sicht funktionaler Unterricht ist - denn die Übung läuft glatt und die SuS sprechen Französisch - sowie zugleich reformpädagogische Elemente mit Einbezug von Bewegung und Dingen aufgreift (cf. Trautmann 2009, 145). Mündliche Kompetenz wird von uns als materiell vermittelt rekonstruiert und erscheint auch primär im Rahmen der institutionellen und materiellen Gegebenheiten verständlich. Die rekonstruierten Sinnstrukturen zeichnen sich dabei durch eine routinierte Bearbeitung trivialisierter Aufträge aus, auch die Übung zur Mündlichkeit ist für Sm1 und Sw1 ein Job, der abgearbeitet wird. Dies bedeutet für uns, dass wir im o. g. Projekt zu „Norm und Praxis des fremdsprachlichen Klassenzimmers“ weiter Praxis sowie deren vielfältigen Normbezüge rekonstruieren und uns nicht bereits a priori von der fachdidak‐ tischen Norm, hier kompetenzorientiertes Üben und nachrangig Reformpäd‐ agogik, leiten lassen (cf. Grein/ Tesch i.V.). Nur so können wir bestimmen, welche fachdidaktischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Gegenstände überhaupt und auf welche Weise im alltäglichen Unterricht bearbeitet werden 9. So ist auch Kompetenzorientierung als ein Gegenstand praktischer Bearbeitung erkennbar, weswegen auch unser empirischer Fokus nicht nur auf Kompetenzen liegen kann, sondern sich auf alle Gegenstände richten muss, die bearbeitet werden, wenn Französischunterricht stattfindet. Dinge (ebenso wie Räume und Körper) können nicht nur als Impuls für den Abruf oder austauschbaren Kontext von Kompetenzen verstanden werden, sondern „[v]ielmehr könnte der Fokus auf die Frage der Hervorbringung der in verschiedenen Kontexten und Praktiken je als legitim geltenden normativen Vorstellungen von Lehren und Lernen und eines entsprechenden Umgangs mit den Dingen gerichtet werden“ (Rabenstein 2018, 340). 6 Ausblick Durch „Corona“ hat eine verstärkte Diskussion über Digitalisierung eingesetzt. Notwendig ist allerdings auch eine Beschreibung des unterrichtlichen Handelns 43 Sprechen in der Fremdsprache als sozio-materielles Können <?page no="44"?> in materieller Ko-Präsenz, das als Normalität vor der Pandemie und teilweise als wieder anzustrebendes Ideal danach bezeichnet wird. Durch den Vergleich mit der neuen Situation der Pandemie werden die als ‚normal‘ bezeichneten Praktiken möglicherweise sogar klarer zu erkennen sein und im Gegenzug kann dann wieder die Materialität des digital vermittelten Unterrichts in den Blick genommen werden. Ist unser Ergebnis, dass die Schüler*innen zum einen vor allem materiell vermittelt ,können‘, was sie darstellen und dass sie dies zum anderen im Modus des Abarbeitens eines trivialen Auftrags erledigen, als zu negativ und pessimistisch in Bezug auf Französischunterricht zu werten? In unserer Sicht nicht, aber durchaus als Kritik am klassischen Verständnis von Kompetenz. Es handelt sich um eine Perspektiverweiterung und als solche ist sie work in progress. Dabei möchten wir betonen, dass unseres Erachtens nicht die Kompe‐ tenzorientierung sinnlos wäre, sondern dass die sozio-materielle Perspektive Illusionen bzw. verengende Elemente des kognitivistischen, logozentrischen und individualistischen Begriffes aufzeigen und die Analyse vervollständigen kann. Literatur Asbrand, Barbara / Martens, Matthias. 2018. Dokumentarische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer. Bär, Marcus. 2016. „Vom Üben als notwendigem Übel zum funktionalen und intelligten Üben“, in: Eva Burwitz-Melzer/ Frank G. Königs/ Claudia Riemer/ Lars Schmelter (ed.): Üben und Übungen beim Fremdsprachenlernen. Perspektiven und Konzepte für Unterricht und Forschung. Arbeitspapiere der 36. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 9-18. Bohnsack, Ralf. 2011. Qualitative Bild- und Videointerpretation. Opladen: Budrich. Bohnsack, Ralf. 2017. Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen/ Toronto: Budrich. 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Dabei soll nicht aus dem Blick geraten, dass die mündliche Diskursfähigkeit in allererster Linie bedeutet, spontan mit Gesprächspartner*innen zu interagieren und die eigenen Äußerungen ständig und unmittelbar an die der anderen anzupassen und neu auszuhandeln. Diesem Verständnis von Partizipation im Diskurs als kollaborativ und ko-konstruiert trägt der in den letzten Jahren etablierte Begriff der Interaktionskompetenz Rechnung (Salaberry/ Kunitz 2019; Hall/ Pekarek/ Doehler/ Hellermann 2011; García García 2016). Als eine besondere - und besonders häufige - mündliche Diskurspraktik im Alltagsleben ist die des Argumentierens anzusehen: Die eigene Position adäquat und fundiert einzubringen, auf die Einwände der Anderen reagieren zu können und Alternativen zu diskutieren werden als bildungssprachliche Fertigkeiten verstanden, die es demnach in der Schule - über alle Fächer hinweg - zu erwerben gilt. Ein beliebtes Aufgabenformat, in dem die Lernenden die Möglichkeit bekommen, diese Fähigkeiten einzuüben und unter Beweis zu stellen, ist die Debatte, die einen festen Platz im schulischen Methodenrepertoire eingenommen hat. Diskussionen der Art „Interdire le portable à l’école“, L’uni‐ forme scolaire - oui ou non? “, „Le tourisme dans les pays en développement: <?page no="50"?> 1 EMILE (Enseignement de Matières par lʼIntégration dʼune Langue Étrangère) ist die französische Bezeichnung für Content and Language Integrated Learning (CLIL) und entspricht dem Modell des bilingualen Sachfachunterrichts. bénéfique ou dangereux? “ führen die Lernenden während ihrer Schullaufbahn wohl in den meisten Fächern regelmäßig durch. Ausgehend von dieser Relevanz beschäftigt sich der vorliegende Beitrag zu‐ nächst aus theoretischer Perspektive mit dem schulischen Aufgabenformat De‐ batte (Abschnitt 2). Anschließend wird eine aus dem französischen EMILE 1 -Un‐ terricht stammende Sequenz auf die Frage hin analysiert, welche konkreten Möglichkeiten sich für die Förderung der mündlichen argumentativen Fähig‐ keiten - in ihrer interaktiven Dimension - ergeben (Abschnitt 3). Anhand der Befunde werden neue didaktische Perspektiven angerissen (Abschnitt 4) und in einem abschließenden Fazit zusammengefasst (Abschnitt 5). 2 Die Debatte als Unterrichtsmethode: zwischen Popularität und Kritik Bei der schulischen Debatte handelt es sich um eine formal inszenierte Dis‐ kussion, in der die Lernenden - generell in zwei Lager geteilt und unter der Führung einer moderierenden Person - Argumente für oder gegen einen strittigen Sachverhalt einbringen. Die Beteiligten nehmen in der Regel nicht als sie selbst sondern in fiktiven Rollen teil, bzw. sie diskutieren aus einer anderen als der eigenen Position. Als Unterrichtsmethode wird der Debatte in all ihren verschiedenen Formaten (Fishbowl-Diskussion, Pro-und-Contra-Debatte, Podi‐ umsdiskussion, Talkshow …) das Potenzial zugeschrieben, kritisches Denken, analytische Fähigkeiten sowie Gruppenarbeit zu fördern (Coombe 2018, 7), zur Vertiefung der Fachkenntnisse beizutragen sowie Einstellungsänderungen bewirken zu können (Dolz et al. 2000, 44). Ebenfalls wird sie als aktivierende und motivierende Methode verstanden, die durch räumliche Veränderungen im Klassenzimmer (z. B. eine andere Sitzordnung, in der sich alle sehen können) und den deutlichen Unterschied zu lehrerzentrierten Settings eine dynamisierende Abwechslung in den Unterricht mitbringe. Des Weiteren bieten die fiktiven Rollen eine Art Schutz vor der Klassenöffentlichkeit, und die starke Regulierung des Rederechts soll verhindern, dass die Diskussion von den lernstärkeren bzw. extrovertierten Schüler*innen dominiert wird (Grundler 2006). Vor diesem Hintergrund ist die große Beliebtheit der Debatte nicht überra‐ schend. Allerdings wird die Methode in jeder Fächergruppe unter Berücksich‐ tigung der eigenen Schwerpunkte zielspezifisch eingesetzt: 50 Marta García García <?page no="51"?> Aus der Perspektive der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer wird die De‐ batte in erster Linie zum „Probehandeln“ (Achour et al. 2017, 234) angewendet, d. h. als eine Form, Partizipation in einer demokratischen Gesellschaft zu simulieren. Die Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe, die den Kern der Erziehung zu mündigen Bürger*innen und somit den Bildungsauftrag der gesell‐ schaftswissenschaftlichen Fächer darstellt, findet im Rahmen der curricularen Vorgaben in unterschiedlichen prozeduralen Kompetenzen wie Urteils-, Dialog- und Entscheidungskompetenz ihren Niederschlag. Sie alle haben gemeinsam, dass ihnen sprachliche, argumentative Fähigkeiten zugrunde liegen, und lassen sich - so die Annahme - besonders gut in einem kommunikativen Setting wie der schulischen Debatte trainieren (Manzel 2016; Grümme 2006). Diese kommunikativen Kompetenzen werden aber in den Lerncurricula nicht thema‐ tisiert (Luft/ Manzel/ Nagel 2015, 17), sodass erwartet werden kann, dass sie im Unterricht auch nicht eingeübt, sondern unausgesprochen vorausgesetzt werden. Demgegenüber ist das Argumentieren in der Deutschdidaktik ein expliziter Lerngegenstand. Anders als in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern geht es im Deutschunterricht nicht um das Handeln (bzw. das Einüben der Partizipation an sozialen Settings), sondern primär um den Erwerb von argu‐ mentativen Strukturen - ganz im Sinne der klassischen Rhetorik-Tradition (Spiegel 2006, 63). Im Vordergrund steht nicht der inhaltliche Aspekt des Argu‐ mentierens, sondern die Formulierung der Argumente unter der Einhaltung normativer bildungssprachlicher Vorstellungen, beispielsweise des argumenta‐ tiven Dreischritts (Behaupten, Begründen, Belegen). Unter diesen Vorausset‐ zungen stellt die Debatte eine Möglichkeit dar, „die Lust an der Argumentation handlungsorientiert erfahrbar [zu] machen“ (Grundler 2006, 79). In der fremdsprachendidaktischen Literatur wiederum gehört die Debatte zu den „klassischen“ Aufgabentypen, die seit der kommunikativen Wende aus vielfältigen Gründen zur Förderung des (freien) Sprechens empfohlen werden (z. B. Klippel 1984; Littlewood 1992; Thornbury 2005; Schatz 2006; Peppel 2018): Erstens ist das Format per se dafür vorgesehen, dass die Schüler*innen längere und komplexere Redebeiträge produzieren, als es im Unterricht normalerweise der Fall ist. Der Inhalt der Diskussion ist häufig auch nicht von primärem Interesse. Hier liegt der Akzent vielmehr - anders als im Deutschunterricht - nicht auf den gut konstruierten Argumenten im Sinne der Rhetorik, sondern auf der Sprachproduktion selbst und den für das Thema der Debatte notwendigen sprachlichen Mitteln (i. d. R. Wortschatz und grammatische Strukturen zur Äußerung der Meinung). Zweitens verhilft das Eintauchen in andere Rollen (z. B. „Ihr seid jetzt Mitglieder des Stadtrates einer kleinen französischen Stadt 51 Débattre le débat <?page no="52"?> und beratet zu …“) dem Sprechen in der Fremdsprache unter Mitlernenden, die die gleiche Erstsprache haben, eine Sinnhaftigkeit zu verleihen. Und drittens entspricht die Debatte einem gut erkennbaren Genre der außerschulischen Welt (bspw. Talkshow, politische Debatte) und hat somit eine Legitimation als „authentische“ sprachliche Aktivität, die in den Unterricht eingebracht wird. Diesem idealtypischen Bild der Debatte stehen einige, hauptsächlich von Vertretenden der interaktionalen Linguistik vorgebrachte Einwände (Be‐ cker-Mrotzek 2008; Fasel Lauzon et al. 2008; Mundwiler et al. 2017; Morek 2017) gegenüber, die nachfolgend zusammengefasst werden: An erster Stelle wird die Debatte mit Verweis auf ihre Künstlichkeit problematisiert. Da kein realer Anlass für die Diskussion existiere, sei auch kein Ergebnis (in der Form von Ent‐ scheidung, Eignung usw.) zu erwarten; da die Schüler*innen nicht ihre eigenen Positionen vertreten und so keine Verantwortung für ihre Äußerungen tragen würden, werde „authentisches Handeln“ verhindert (Becker-Mrotzek 2008, 76). Argumentieren finde „um des Argumentierens willen“ statt (Mundwiler et al. 2017, 117); die Lernenden sprächen weder als sie selbst noch für die anderen, sie sprächen für die Lehrkraft, die „spectateur et évaluateur“ zugleich sei (Fasel Lauzon et al. 2008, 47). Ferner, und das ist der schwerwiegendere Kritikpunkt, unterliege den geplanten Diskussionen ein monologisch-schriftlicher Habitus (Mundwiler et al. 2017). Dieser drücke sich erstens in einer starken normativen Orientierung an der Strukturiertheit des schriftlichen Argumentierens aus, in einer Erwartung an lange, komplexe, wohlgeformte Beiträge, die sich von außerschulischen Praktiken wesentlich unterscheiden würden (Morek 2017, 82). Die Kontrolle des Rederechts durch die moderierende Instanz führe darüber hinaus dazu, dass die Beteiligten sich nicht darum kümmern müssten, wie und wann sie zu Wort kommen, dass die Interaktion als solche letztendlich ausbleibe und die Debatte so zu einem gegenseitigen Vortragen zwischen den Schüler*innen werde (Mundwiler et al. 2017, 100). Pointiert formuliert, mit der Einübung von Debatten lerne man nur, in schulischen Debatten zu argumentieren, nicht aber den Herausforderungen des realen Lebens gerecht zu werden. Zusammenfassend, wie aus der vorherigen Diskussion deutlich geworden ist, bergen die zwei zentralen Merkmale der Debatte als Unterrichtsmethode die größten Chancen und Risiken: Als Simulation bietet die Debatte Schutz, stellt aber auch ein Hindernis für das echte Engagement der Schüler*innen dar; die Orientierung an einer formellen Gattung ermöglicht das Einüben von Bildungssprache, aber in Interaktionsmustern, die als solche in der mündlichen Alltagskommunikation nicht existieren. Von dieser widersprüchlichen Bewer‐ tungslage ausgehend beschäftigt sich der vorliegende Beitrag im Folgenden 52 Marta García García <?page no="53"?> 2 Namen geändert. Hiermit ergeht mein ausdrücklicher Dank an beide Studentinnen, die mir freundlicherweise Einblick in ihre Praxis ermöglicht haben. mit einem konkreten Beispiel einer in der Fremdsprache Französisch durch‐ geführten Unterrichtsdebatte im EMILE-Unterricht. Ziel der Analyse ist, die Stärken und Schwächen der Debatte zu entflechten und neue didaktische Möglichkeiten für den Fremdsprachenunterricht aufzuzeigen. 3 Die Debatte im EMILE-Unterricht: Analyse einer Sequenz im bilingualen Religionsunterricht In Anbetracht der Popularität der Debatte im Unterricht überrascht der Mangel an aktuellen empirischen Studien zu diesem Format im Kontext des Fremd‐ sprachenunterrichts. Als Ausnahme gelten die Studien von Fasel Lauzon et al. (2008) für das Französische und von Hüttner/ Smit (2018) im Bereich des Politikunterrichts im Englischen. Gerade in interdisziplinären Settings wie dem EMILE-Unterricht eignet sich die Debatte aufgrund ihrer fächerübergreifenden Natur besonders gut. Während in den einzelnen Fächern die Aufmerksamkeit nur auf einen Aspekt der Debatte gelegt wird (jeweils simulierendes Handeln, Argumentieren oder Sprechen), können in einem fächerverbindenden Setting mehrere Perspektiven vernetzt und die verschiedenen Kompetenzen holistisch angebahnt werden. In der Durchführung einer Debatte wird die Verschränkung von Fachwissen und sprachlichen Ressourcen besonders deutlich, denn gute Argumente bedürfen sowohl einer fachlich richtigen Basis als auch einer sprach‐ lich verständlichen und überzeugenden Formulierung (Hüttner/ Smit 2018, 293). Bevor anhand der Analyse einer ausgewählten Sequenz gezeigt wird, inwie‐ fern diese Verschränkung tatsächlich geschehen kann, sei kurz der Kontext der Datenerhebung vorgestellt. 3.1 Daten und methodischer Zugang Der folgende Ausschnitt stammt aus einer bilingualen Unterrichtsreihe mit dem Titel „Les symboles religieux (d’autrui) - curiosité ou gêne? “, die von zwei Studentinnen (Frau Zimmermann und Frau Schröder) 2 im Rahmen eines universitären Lehrforschungsprojekts entwickelt und anschließend in einer 10. Gymnasialklasse erprobt und videografiert wurde. In der ersten Doppelstunde befassten sich die Schüler*innen mit der Entstehungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von drei religiösen Erkennungsmerkmalen mit großem symboli‐ schem Gehalt: der Fisch für das Christentum, die Menora für das Judentum und der Schleier für den Islam. Der Fokus lag somit auf der Fachwissensver‐ 53 Débattre le débat <?page no="54"?> mittlung und der Deutungskompetenz. Als Höhepunkt der Sequenz wurde in der zweiten Doppelstunde eine Debatte durchgeführt, in der die Lernenden, in unterschiedlichen Rollen agierend, für bzw. gegen das Kopftuchverbot in den französischen Schulen argumentieren sollten. Der Schwerpunkt wurde hier auf die Dialogkompetenz gesetzt, welche die notwendigen „sozial-kommunika‐ tive[n] und kognitive[n] Fähigkeiten“ umfasst, „sich in Ansätzen mit anderen Religionen und Weltanschauungen in einem dialogischen Diskurs konstruktiv zu verständigen und auseinander zu setzen“ (MSB NRW 2011, 14). Da dieser „dialogische Diskurs“ in der Fremdsprache Französisch stattfindet, wird die Teilkompetenz „an Gesprächen teilnehmen“ gefördert: „Die SuS […] reagieren in Diskussionen sachlich angemessen, äußern und erfragen persönliche Stand‐ punkte und Meinungen und begründen eigene Positionen“ (MK Niedersachsen 2017, 19). Die Schüler*innen wurden in sechs Kleingruppen aufgeteilt, jede mit jeweils einer fiktiven Rolle: ein/ e Schulleiter/ in, ein katholischer Pfarrer, ein Imam, ein/ e französische/ r Bürger/ in sowie zwei junge Musliminnen, eine, die das Kopftuchtragen befürwortet und eine, die dagegen ist. In einer 20-minütigen Vorbereitungsphase sollten die Schüler*innen die für die zugeteilte Rolle pas‐ senden Argumente aufbereiten. Als Materialgrundlage erhielten die Lernenden ein Fiche de Travail, in dem sie aus Internetforen entnommene Positionen und Kommentare zur Debattenfrage lesen konnten. Die Argumente - so viele wie Gruppenteilnehmende - sollten die Schüler*innen gemeinsam suchen und auf Zettel schreiben. Darüber hinaus wurden sie explizit dazu aufgefordert, in der Diskussionsphase ihre Argumente im richtigen Moment einzubringen („dans le bon moment“), was erfordert, die Argumente der anderen zu verfolgen, um darauf zu reagieren („Il faut donc réagir aux autres! “). Dieser Aufgabenstellung wohnen, wie sich zeigen wird, zwei Logiken inne: zum einen die der Schriftlichkeit (vorbereitendes Lesen, Aufschreiben der Argu‐ mente), zum anderen die der Interaktion (zum richtigen Zeitpunkt teilnehmen, auf die anderen reagieren). Darüber hinaus überlappen sich zwei institutionelle Kontexte, denn die simulierte Debatte findet im Rahmen des übergeordneten Kontexts „Unterricht“ statt. Wie werden diese Spannungen und teilweise Widersprüche von den Teilnehmenden gelöst und welche unterrichtsprakti‐ schen Implikationen bringt die Vorgehensweise mit sich? Diesen Fragen wird im Folgenden mit einer konversationsanalytischen Herangehensweise (Evnits‐ kaya/ Jakonen 2017; Escobar Urmeneta/ Walsh 2017) nachgegangen. Das Ziel ist, das Potenzial der Debatte für die Förderung sowohl der Interaktionskompetenz in der Fremdsprache als auch der prozessbezogenen, argumentationsbasierten 54 Marta García García <?page no="55"?> Kompetenzen (hier konkret die Dialogkompetenz) im EMILE-Unterricht auszu‐ loten. 3.2 „maintenant on discute“: Analyse der Eröffnungssequenz Die gesamte Unterrichtsreihe wurde im Team-Teaching durchgeführt. Für die Debatte übernahm Frau Zimmermann (Lehrerin) die Moderation, während Frau Schröder (Ko-Lehrerin) sich um das Anbringen der auf Papier verfassten Argumente an die Tafel kümmerte. Im Folgenden werden die ersten zwei Minuten der Debatte - stellvertretend für die erste Hälfte der Diskussion, die ähnlich ablief - analysiert. Ausschnitt 1: „maintenant on discute“ Die Sequenz beginnt mit einem Zeitadverb („maintenant“), das als Transitions‐ marker die Phase der Suche und Vorbereitung von Argumenten von der neuen Diskussionsphase („on discute“, Z. 1) deutlich trennt. Die Lehrerin erläutert kurz das Vorgehen und etabliert dabei den diskursiven Rahmen für eine formelle Diskussion, in der das Rederecht von ihr zugeteilt wird und die Schüler*innen unter sich ausmachen sollen, wer jedes Mal sprechen soll (Z. 2-3). Daraufhin und im Einklang mit dem inszenierten formellen Rahmen eröffnet sie die Debatte mit 55 Débattre le débat <?page no="56"?> einer expliziten Einladung („je vous invite à commencer“), auf die unmittelbar zwei unterrichtstypische Aufforderungen zur Teilnahme („qui veu: t présenter (.3) sa (.) position? “, Z. 5; „il y a un groupe qui (.) peut commencer? “, Z. 7-8) folgen. Die Schülerin Charlotte signalisiert ihre Bereitschaft zur Teilnahme, wird in ihrer Rolle als „la fille musulmane“ vorgestellt und bekommt anschließend das Rederecht mit einem wiederum sehr formellen „s’il vous plaît? “ (Z. 10). Das gemischte Setting, nämlich der Unterricht, der eine formelle Debatte simuliert, wird an den Wechseln zwischen den Gesprächsmodi deutlich erkennbar. Charlotte übernimmt den Turn und argumentiert gegen das Kopftuchverbot. Der Beitrag, der sich über die Zeilen 12 bis 19 erstreckt, wird mit einem Préface („je ne sais pas si vous connaissez ce ehm (-) ce loi dans notre religion“, Z. 12-13) eingeleitet, mit dem die Schülerin auf eine mögliche „Wissensasym‐ metrie“ (epistemic imbalance) zwischen sich und ihrer (direkt angesprochenen) Zuhörerschaft aufmerksam macht. Darüber hinaus und durch die adversative Konjunktion markiert sie ihre Aussage („mais ähm c’est positif (.5) de porter le voile“, Z. 14) als einen Fakt, der in Kontrast zum allgemein Bekannten steht. Dieser Behauptung folgt erwartungsgemäß eine Begründung („parce que …“), deren zentrales Element, es handle sich um ein Recht („droit“), das nur freie Frauen haben, betont wird (Z. 15sqq.). Schließlich produziert Charlotte noch eine Koda („et ähm c’est positif pour moi“, Z. 19), die das Beitragsende markiert. Neben der Länge und der hohen Elaboration ist an Charlottes Beitrag zweierlei interessant: Zum einen, dass die Schülerin in ihrer Argumentation auf das im Laufe der Unterrichtsreihe vermittelte Fachwissen zurückgreift (der Schleier durfte ursprünglich nur von freien Frauen, im Gegenzug zu Sklavinnen, getragen werden). Zum anderen, dass sie voll in ihrer fiktiven Rolle als junge Französin islamischer Religion agiert und in der Lage ist, diese konstruierte Zugehörigkeit sprachlich zu markieren. Charlotte etabliert diskursiv zwei Lager und trennt sie mit entsprechenden Possessivpronomen („dans notre religion“, Z. 13; „pour moi“, Z. 19). Des Weiteren nimmt sie eine epistemic stance (Heritage 2012) ein, mit der sie sich bezüglich des Islams als mehr wissend als ihre Zuhörerschaft verortet. 56 Marta García García <?page no="57"?> Ausschnitt 2: „on veut contredire? “ Ihrer Ankündigung folgend, die Diskussion zu moderieren, übernimmt die Lehrerin anschließend das Wort. Sie bedankt sich für Charlottes Beitrag, nimmt auf diesen nochmals Bezug und fasst ihn auf seine Quintessenz zusammen („a dit que: (.7) (c’est) positif “, Z. 23). Anschließend lädt sie Philipp, der sich 57 Débattre le débat <?page no="58"?> gemeldet hatte und als „le citoyen français“ vorgestellt wird, zum Widerspruch ein. Erneut weisen hier die unterschiedlichen sprachlichen Handlungen (Danke sagen, Vorstellung der Beitragenden vs. Zusammenfassung des Beitragsinhaltes, Aufforderung zur Teilnahme) auf das gemischte Setting (eine inszenierte De‐ batte im schulischen Unterricht) hin. Philipp gestaltet seinen Beitrag anders als Charlotte. Weder wendet er sich an seine Zuhörerschaft noch nimmt er auf das zuvor Gesagte Bezug. Der Beitrag wird als Satz vorgelesen anstatt als argumentative Handlung in den Diskurs eingebracht (beispielsweise durch eine adäquate Markierung, cf. Heller / Morek 2015). Nach einer von Charlotte verlangten Wiederholung des Beitrags kommt es in den Zeilen 36-40 zu einem nonverbalen Turnwechsel zwischen Charlotte und Philipp: Sie zeigt mit den Händen und ihrer Kopf- und Schulterbewegung, dass sie dazu „nichts zu sagen hat“ und Philipp bestätigt die für ihn deutliche Stärke seiner Argumentation mit kräftigem Kopfnicken. Die Lehrerin, die sich mit diesem nonverbalen Austausch nicht zufriedengibt, lädt Philipp ein, etwas hinzuzufügen (Z. 43). Sie setzt damit einen Zugzwang, der eine Folgerung („et donc? “) erwartbar macht. Philipp kommt zögernd der Einladung nach, switcht aber ins Deutsche und zeigt durch den fragenden Tonfall, dass er Hilfe braucht (Z. 46). Die Lehrerin greift schnell ein und bietet einen Alternativbeitrag, bestehend aus Behauptung und anschließender Begründung (Z. 51sqq.), der als Modell für Philipp und für die ganze Klasse dient. 58 Marta García García <?page no="59"?> 3 Im weiteren Verlauf der Debatte gelang es den Beteiligten tatsächlich, ohne Mediation der Lehrerin zu Wort zu kommen. Ausschnitt 3: „une atteinte fondamentale“ An dieser Stelle, und nachdem Frau Schröder ihr etwas ins Ohr geflüstert hat (Z. 59), fordert Frau Zimmermann die Schüler*innen dazu auf, miteinander zu interagieren und selbst das Wort zu ergreifen, da sie nicht erneut „le droit de parler“ (Z. 61sq.) erteilen wird. Dieses neue Vorgehen wird allerdings nicht unmittelbar umgesetzt, wie in den zwei darauf folgenden schülerseitigen Beiträgen deutlich zu erkennen ist: 3 Zuerst signalisiert Laura ihre Redeabsicht und erhält durch das Kopfnicken der Lehrerin das Recht dazu; ähnlich verläuft es später in Z. 76, denn Nele meldet sich per Handheben und wird anschließend per Namen aufgerufen. Darüber hinaus entsprechen die nachfolgenden Beiträge stärker dem Muster eines Unterrichtsgesprächs als dem einer Debatte. Lauras Beitrag kündigt sich als Ergänzung an („ajouter quelque chose“, Z. 64) und die Lehrerin wiederholt die Wortmeldung in einem typischen lehrerseitigen Feedback. Neles Beitrag unterstützt wiederum die Position von Charlotte (das Kopftuchverbot sei ein Attentat gegen das Recht, sich zu kleiden, wie man möchte, Z. 76sqq.). Während sie einerseits - und ähnlich wie Philipp - eine Formulierung des schriftlichen Materials wörtlich übernimmt und ihr Turn vom Gesprächskontext losgelöst erscheint (niemand hatte bis jetzt das Wort „Verbot“ ausgesprochen), wird andererseits das Argument nicht komplett als vom Gesprächskontext isolierter Satz vorgelesen, sondern als Beitrag in die Diskussion eingebettet: Nele wendet sich ihrer Zuhörerschaft zu und spricht dabei das gegenteilige Lager mit einer Konditionalkonstruktion ausdrücklich an („si vous …“, Z. 76). Die radikale Formulierung („atteinte fondamentale à la libà la liberté individuelle“ Z. 79) macht den Ausdruck einer gewissen Emphase erwartbar; diese Erwartung wird 59 Débattre le débat <?page no="60"?> 4 Dieses Verfahren der Lehrkraft ähnelt der erwerbsförderlichen Eltern-Kind-Interaktion (cf. Heller/ Morek 2015, 15-16). schließlich von der zweiten Lehrerin erfüllt, indem sie einmal auf dem Boden aufstampft. 3.3 Kommentar Folgende Aspekte, die das Potenzial und die Grenzen der Debatte als Unter‐ richtsmethode paradigmatisch zeigen, lassen sich in diesem Fragment unschwer erkennen: Erstens, die moderierte Turnübergabe und der formelle Charakter: Die Lehrerin eröffnet formell die Diskussion und rahmt die einzelnen Beiträge entsprechend („s’il vous plaît“, „merci“…) ein. Das hilft, das Debattensetting deutlich und glaubhaft zu machen und seinen Unterschied zu einem „normalen“ Unterrichts‐ gespräch zu betonen. Dass dies einerseits nicht leichtfällt, ist in den vielen Turns sichtbar, die zum Gesprächsmodus „Unterricht“ gehören. Dass es andererseits durchaus möglich ist, wird in Charlottes erstem Beitrag deutlich. Darüber hinaus ermöglicht das Setting viel längere Redebeiträge als der „normale“ Unterricht. Darüber hinaus hemmt die geregelte Turnübernahme die Interaktion zwi‐ schen den Teilnehmenden - wie es den Lehrerinnen selbst auffällt (Z. 59sq.) - und verstärkt den monologischen Charakter der Debatte (s. u.). Andererseits und durch ihre Zwischenschaltung erfüllt die Lehrerin eine wichtige Lehraufgabe, indem sie die Diskursbeiträge der Lernenden modelliert. Wie bereits kommen‐ tiert, bietet die Lehrerin Philipp in den Z. 43sq. die Möglichkeit, selbst seinen Beitrag zu ergänzen und dadurch seine Argumentation deutlicher zu machen. Erst als sich dies für Philipp als zu schwierig erweist, liefert sie ihm - und der ganzen Klasse - einen modellhaften und in die Interaktion eingebetteten Beitrag. 4 Zweitens, die Schriftlichkeit. Die Schüler*innen hatten sich in der Vorberei‐ tungsphase mit der Lektüre der Materialien auseinandergesetzt und die für sie wichtigsten Argumente aufgeschrieben. Diese schriftliche Grundlage schlägt sich sehr deutlich in den Lernendenbeiträgen nieder: Zum einen sind alle Beiträge fachlich begründet, d. h., die Teilnehmenden argumentieren nicht mit Meinungen aus ihrem Alltagswissen, sondern mit den im Lauf der Unterrichts‐ reihe erworbenen Kenntnissen und dem passenden Fachwortschatz. Hier ist die Symbiose zwischen den Fächern deutlich zu erkennen; es handelt sich um eine (in der Fremdsprache Französisch durchgeführte) fachliche Diskussion. Zum anderen haben - wie bereits anlässlich der Meldungen von Philipp und 60 Marta García García <?page no="61"?> 5 Der Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Settings, dem inszenierten (Debatte) und dem „realen“ (Unterricht), wird hier deutlich, denn jedes Setting sieht unterschied‐ liche addressees und intended recipients (Goffman 1981) vor. Darüber hinaus kann an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden, dass der Unterricht auch eine Art Öffentlichkeit (public space) ist. Für die Parallelen zwischen Performanz und Fremdsprachenunterricht s. Appel (2007). Nele erwähnt - manche schülerseitigen Beiträge weniger den Charakter von Redeturns als von vorgelesenen Sätzen. Drittens, und mit der Schriftlichkeit verbunden, der monologische Charakter. Obwohl die Schüler*innen explizit dazu angehalten wurden, ihre Argumente „zum richtigen Zeitpunkt“ einzubringen und auf die Beiträge der anderen zu reagieren, gelingt es den Beteiligten kaum - mit der Ausnahme von Charlotte - sich gegenseitig anzusprechen, denn sie reden (bzw. lesen) für die Lehrkraft. 5 Philipp beispielsweise liest seinen Beitrag vor und schaut die Lehrerin an; erst als Charlotte ihn direkt fragt (Z. 32), wendet er sich an sie. Selbst nachdem die Lehrerin die Schüler*innen explizit auffordert, untereinander zu interagieren, wird dies nicht unmittelbar umgesetzt. Die Debatte vollzieht sich - wie aus der Analyse ersichtlich - in Form voneinander unabhängiger Argumente in einer beliebigen, nicht immer passenden Reihenfolge mit fehlendem Bezug auf die Vorrednerin und ohne deren darauffolgende Reaktion. Die Beiträge werden nicht gemeinsam elaboriert, erweitert oder widersprochen; es entsteht keine gemeinsame Diskussion. Die Spannung zwischen den zwei - nach der Terminologie von Mundwiler et al. (2017) - Habiti, dem schriftlich-monologischen (vgl. die gelesenen Texte, die schriftlich vorbereiteten Argumente, die als Sätze vorgelesenen individuellen Beiträge) und dem mündlich-interaktiven (vgl. die kohärente Teilnahme am Gespräch) wird sehr deutlich zugunsten des ersten gelöst. Zugespitzt formuliert, die als pro-contra Diskussion inszenierte Debatte scheint eher in der Lage zu sein, die monologischen Fähigkeiten zu fördern. Dabei stellt sich gewiss auch die Frage nach dem tatsächlichen Potenzial der Debatte nicht nur zur Förderung der Interaktionskompetenz im Fremdsprachenunterricht, sondern auch und vor allem der argumentativen Fähigkeiten, welche die Grundlage der prozessbe‐ zogenen fachlichen Kompetenzen (Dialogkompetenz, Urteilskompetenz, Hand‐ lungskompetenz …) bilden: Für die hier im Fokus stehende Dialogkompetenz ist die interaktive Dimension selbstredend äußerst relevant, denn Argumentieren im Allgemeinen und insbesondere über religiöse Perspektiven zu diskutieren findet nur in der Interaktion mit anderen statt, nicht im Monolog. 61 Débattre le débat <?page no="62"?> Wie könnte denn das Potenzial der Debatte als Unterrichtsformat beibehalten werden, ohne auf die interaktive Dimension verzichten zu müssen? Damit beschäftigt sich der letzte Abschnitt dieses Beitrags. 4 Didaktische Perspektiven Das Primat der Schriftlichkeit ist ein Phänomen typisch - aber keineswegs exklusiv - für die fremdsprachlichen Fächer. Die mündlich durchgeführten Aufgaben im schulischen Unterricht sind nicht nur in der Regel von kurzer Dauer, sie nehmen auch wenig „Lehr-Lern-Raum“ - im Sinne einer aktiven und bewussten Beschäftigung mit den Merkmalen der mündlichen Genres - ein (Goh/ Burns 2012, García García 2016, Lütge 2017). Dies wird umso eklatanter, wenn man die typischen Vorgehensweisen von Schreib- und Sprechaufgaben gegenüberstellt: ● Für eine schriftliche Aufgabe bekommen die Lernenden in der Regel ers‐ tens Zeit zum Planen und zweitens ein Modell oder ein Gerüst, wie das Endprodukt aussehen kann. Demgegenüber vollziehen sich die mündlichen Aufgaben öfter in der Form „Parle avec ta/ ton voisin/ e …“ - ohne wei‐ tere Konkretisierung. Wird eine Vorbereitung überhaupt vorangeschaltet, verläuft diese - wie im analysierten Fragment - so, dass die Lernenden ganze Sätze (z. B. für ihre Rollen in einem Dialog) ausformulieren und anschließend vorlesen. ● Das schriftliche Endprodukt wird anhand mehrerer Versionen (Entwurf, Erstversion, korrigierte Version) elaboriert; zu diesen Versionen erhalten die Lernenden entsprechendes Feedback. Diesen Prozess durchlaufen Dialog‐ übungen, Rollenspiele, Gruppendiskussionen oder Präsentationen hingegen sehr selten. Ein präzises Feedback bleibt aufgrund der Flüchtigkeit des Sprechens normalerweise aus. ● Die schriftliche Dokumentation der Ergebnisse macht die eigene Lernpro‐ gression nachvollziehbar und ermöglicht die Reflexion über den eigenen Lernprozess. Diese Möglichkeiten stehen im Falle mündlicher Aufgaben, die nicht aufgezeichnet werden, nicht zur Verfügung. Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass für die Unterstützung des Schreib‐ prozesses in der fachdidaktischen Literatur die Phasen der Planung, Formu‐ lierung und Überarbeitung als kanonisch gelten. Demgegenüber wird in der Unterrichtspraxis generell davon ausgegangen, dass für das Sprechen bzw. das mündliche Interagieren keine Vor- oder Nachbereitungen notwendig sind. Mit anderen Worten: Sprechen muss - anders als Schreiben - nicht beigebracht, 62 Marta García García <?page no="63"?> sondern lediglich geübt werden. Dass dem nicht so ist und dass Aufforderungen wie „interagir entre vous“ nicht ohne weiteres funktionieren, wird in der in 3.2 analysierten Sequenz deutlich. In diesem Sinne wurde bereits vielerorts auf die Notwendigkeit einer expliziten Behandlung der Mündlichkeit im Fremdspra‐ chenunterricht und auf die Vorteile der Einbettung von mündlichen Aufgaben in einem didaktischen Zyklus hingewiesen (z. B. Goh/ Burns 2012; García García 2014, 2016). Für den konkreten Fall der pro-contra-Debatte und der sie konstituierenden argumentativen Sprachhandlungen wären demnach folgende Arbeitsphasen vorstellbar: 1. Préparation: Diese Vorbereitungsphase soll das Sammeln von geeigneten Argumenten zum Gegenstand haben, aber auch die Beschäftigung mit der Debatte als mündlichem Genre. Anhand einer (kurzen) Videosequenz, beispielsweise einer Fernsehdebatte, idealerweise über das Unterrichts‐ thema, können die Schüler*innen auf strukturelle Phänomene aufmerksam gemacht werden: (1) Wie die Redebeiträge aufeinander aufbauen und sich ergänzen - anstatt isoliert zu erfolgen, (2) wie nachgefragt wird, anstatt jeden Beitrag unkommentiert zu akzeptieren, oder (3) wie die Teilnehmenden signalisieren, dass sie ein Argument in eine neue Richtung einbringen. Diese Phase soll dazu dienen, dass Mündlichkeit und das Medium Sprechen mehr sind als „laut gesprochene Sätze“. 2. Réalisation bzw. Produktionsphase: Die Debatte wird nicht nur im Klas‐ senplenum durchgeführt, sondern auch dokumentiert, denn nur so kann aus einer mündlichen Debatte ein Unterrichtsprodukt entstehen. Hierfür wäre das Ausfüllen von Beobachtungsbögen oder die Führung eines Pro‐ tokolls (sowohl seitens der Lehrkraft als auch der Schüler*innen) denkbar; idealerweise sollte die Dokumentation aber auf Video festgehalten werden. Das mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, allerdings zeigen die Erfah‐ rungen in anderen Fächern wie z. B. Sport, dass unter Einhaltung des Da‐ tenschutzes (Aufnahme mit einem Schulgerät, sichere Aufbewahrung der Dateien, Löschung unmittelbar nach Beendigung der Unterrichtseinheit usw.) die Arbeit mit Videoaufnahmen als Unterrichtsmaterial zunehmend Eingang in die Unterrichtspraxis finden kann und - angesichts der deutlich überwiegenden Vorteile - finden sollte. 3. Révision: In ähnlicher Art und Weise wie die Lernenden es mit einem schriftlichen Text machen würden, beschäftigen sie sich in dieser dritten Phase mit ihren eigenen Produktionen. Ein kurzes Fragment der Videoauf‐ nahme kann mit dem Modellbeispiel aus der Préparation-Phase verglichen und anhand von Leitfragen allgemein und in einer respektvollen Atmo‐ sphäre kommentiert werden: qu’est-ce que nous semble bien réussi? où 63 Débattre le débat <?page no="64"?> trouvons-nous des difficultés? Im Anschluss können die Schüler*innen in Zweier- oder Dreiergruppen ihre eigenen Beiträge selbst evaluieren: ai-je vraiment dit ce que je voulais di-re? / (comment) ai-je réagi? / mon argument correspond-il à l’énoncé précédent? 4. Répétition: Die positiven Effekte der Aufgabenwiederholung für die Sprechkompetenz gelten bereits als erwiesen (Goh 2017; Bygate 2001). Hier - und ebenfalls in Anlehnung an die Arbeit mit schriftlichen Texten - soll die mündliche Aufgabe in einer modifizierten Version wiederholt werden, damit die Erkenntnisse aus der Selbstevaluation Anwendung finden können und eine Lernprogression erfahrbar wird. Die Änderungen können sich auf das Szenario der Debatte beziehen (un groupe d’amis qui discute, une réunion du conseil d’école …) oder auf die eingenommenen Rollen (beispielsweise die eigene oder darauf, eine gegenüber der ersten Debatte gegenteilige Position zu vertreten). Eine in einen solchen Aufgabenzyklus eingebettete Debatte behält auf der einen Seite ihr Potenzial (lange schülerseitige Beiträge, Moderation und Modellierung seitens der Lehrkraft, adäquates Setting für die argumentativen Strukturen unter Anwendung des Fachwissens) und kompensiert auf der anderen ihre Schwächen: Der Fokus wird von den isolierten Beiträgen, die in beliebigen Momenten von den Beteiligten als vorgelesene Sätze „losgeworden werden“, auf die kohärente, gemeinsame Teilnahme verlagert. 5 Fazit Ausgehend von der Beliebtheit der Debatte als Aufgabenformat bei gleichzeitig unzureichender Forschung über die Methode wurde in diesem Beitrag die Frage nach dem Potenzial der Debatte im Fremdsprachenunterricht - mit einem besonderen Augenmerk auf die Förderung der Mündlichkeit in interaktiven Sprachgebrauch - untersucht. Die Analyse eines konkreten Beispiels aus einer EMILE-Unterrichtseinheit zum Thema Kopftuchverbot an französischen Schulen spiegelte die in der einschlägigen Fachliteratur dargestellten Vorteile und Einwände bezüglich der Debatte. Dabei kristallisierte sich einerseits das große Potenzial für die Ver‐ schränkung von sprachlichen und fachlichen Kompetenzen heraus, nicht nur in Bezug auf das Fachwissen, sondern auch und vor allem wegen der sprachlichen und interaktiven Dimension der prozessbezogenen Kompetenzen. Andererseits erwies sich gerade der Aspekt der fehlenden Interaktion als problematisch. Eine Debatte mit schriftlicher Vorbereitung der Argumente im Unterricht durch‐ führen zu lassen hat sicherlich den Vorteil, dass die Schüler*innen einander 64 Marta García García <?page no="65"?> „etwas zu sagen“ haben, aber sie verläuft sehr schnell als eine Abfolge von vorgelesenen Sätzen. Alternative Vorschläge für den Einsatz der Debatte im Unterricht unter Berücksichtigung der Interaktionskompetenz erfordern ein Umdenken, was die mündlichen Aufgaben im Fremdsprachenunterricht angeht. Erst wenn die mündliche Diskursfähigkeit die gleiche - explizite - Aufmerksamkeit bekommt wie das Schreiben, wird denkbar, dass das Sprechen im Fremdsprachenunter‐ richt sich von den schriftlichen Mustern löst und wirklich „freies Sprechen“ wird. Literatur Achour, Sabine / Jordan, Annemarie / Sieberkrob, Matthias. 2017. „Argumentieren in Politik und Gesellschaft. Wie kann der Politikunterricht die politische Kommuni‐ kation durch sprachbildende Maßnahmen fördern? “, in: Brigitte Jostes / Daniela Caspari / Beate Lütke (ed.): Sprachen - Bilden - Chancen. Sprachbildung in Didaktik und Lehrkräftebildung. Münster: Waxmann, 231-242. Appel, Joachim. 2007. „Language teaching in performance“, in: International Journal of Applied Linguistics, 17/ 3, 277-293. 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Elles sont censées servir des finalités aussi diverses que d’augmenter le temps de parole des élèves, de soutenir l’apprentissage indivi‐ duel et autonome des apprenants et de leur permettre de s’engager dans des communications authentiques (cf. Gnutzmann, 2014). De même, les interactions entre pairs en classe sont généralement vues comme des lieux propices au développement de la compétence interactionnelle (cf. Adams & Oliver, 2019; García García, 2016). La présente contribution se focalise sur ce dernier aspect et décrit des résultats d’une étude longitudinale effectuée dans le cadre du projet FRAISE 1 (cf. Kon‐ zett-Firth, 2017), dans lequel quatre classes de français ont été filmées régulière‐ ment, dont deux pendant plusieurs années. Les données vidéographiques ont été transcrites et analysées selon la méthodologie de l’Analyse Conversationnelle (Traverso, 2016). Elles ont révélé que, au cours de leur scolarité, les élèves en classe de français s’engagent dans une large gamme d’activités différentes dans lesquelles on leur demande de 'parler (à autrui) en français'. Ces tâches sont planifiées, selon toute évidence, dans le but de faire progresser la compétence d’interaction des élèves, mais elles se transforment souvent en interactions largement schématiques et beaucoup moins 'interactives' qu’on ne dirait, même si les élèves parlent beaucoup et prennent leur travail au sérieux. <?page no="70"?> Les raisons pour le décalage observé entre la tâche 'planifiée' et la tâche 'en action' (cf. Breen, 1989) sont liées au fait que les élèves, quand ils.elles construisent une interaction en classe, s’orientent simultanément vers plusieurs facteurs, dont le contexte pédagogique d’apprentissage, les instructions reçues par la professeure et la multimodalité de la situation (par exemple, l’usage de supports matériaux comme les fiches de travail). Ces orientations multiples, en combinaison avec les ressources linguistiques limitées des élèves et un manque d’occasions pour développer des routines interactionnelles en langue étrangère, aboutissent à des interactions qui ressemblent peu aux types d’interactions « na‐ turelles » qu’elles visent de prime abord, par exemple des conversations ou des discussions. Il s’agit dans cet article d’exposer, à travers des analyses détaillées d’extraits d’interactions, comment se manifestent ces orientations multiples des élèves et quelles sont les caractéristiques interactionnelles qui en résultent. Cela étant, nous démontrerons également comment les participant.e.s s’efforcent, en dépit de leurs ressources verbales limitées, d’adhérer à des principes interactionnels de base comme le maintien de l’intersubjectivité et l’orientation vers la progression de l’interaction. Sur la base de nos analyses, nous proposerons des suggestions pour soutenir l’enseignement et le développement de la compétence d’interac‐ tion en classe de FLE. 2 Que signifie « parler en interaction » ? 2.1 La compétence d’interaction et son développement La capacité d’interagir de manière fluide en langue étrangère avec d’autres personnes est perçue par les professeur.e.s de langue et par les apprenant.e.s comme la plus complexe et la plus difficile de toutes les compétences langagières (Blume & Nieweler, 2018). En même temps, c’est aussi la compétence la plus souhaitée et le but le plus important pour tous.tes ceux.celles qui veulent apprendre une nouvelle langue (Grein et al., 2021). Nos élèves et étudiant.e.s en cours de français sont motivé.e.s avant tout par l’idée de pouvoir converser librement avec de 'vrais' francophones. C’est d’abord sous le nom de compétence communicative, terme introduit indépendamment par Hymes (1971) et par Habermas (cf. Schmenk, 2005, 2017) et adopté ensuite par l’enseignement communicatif sous ses différentes facettes (Bachman & Palmer, 1996; Canale, 1983; Canale & Swain, 1980; Piepho, 1974), que la capacité de participer au discours en langue seconde / étrangère a été conceptualisée et étudiée. Ces trente dernières années ont vu l’émergence d’un concept apparenté mais non identique qui est surtout utilisé par les études 70 Carmen Konzett-Firth <?page no="71"?> 2 Pour un aperçu des recherches actuelles dans ce domaine, cf. Deppermann & Pekarek Doehler, 2021; Pekarek Doehler, 2019; Salaberry & Burch, 2021; Salaberry & Kunitz, 2019. effectuées selon la méthodologie de l’analyse conversationnelle, la compétence d’interaction (Hall, 1999; Hall & Pekarek Doehler, 2011; Kramsch, 1986; Pekarek Doehler & Berger, 2016; Skogmyr Marian et al., 2017; Waring, 2018; Young & Miller, 2004). Dans le domaine de la CA-SLA (Conversation Analysis for Second Language Acquisition = analyse conversationnelle pour l’acquisition du langage), la compétence d’interaction en langue étrangère (CI L2) est con‐ ceptualisée comme « les procédures interactionnelles routinisées (verbales et non-verbales) que les locuteurs mobilisent pour garantir l’intelligibilité mutuelle d’actions » (Skogmyr Marian et al., 2017: 129). Les recherches conduites dans le cadre de cette dernière perspective épisté‐ mologique, et surtout celles visant à la description du développement de la compétence d’interaction, ont pu montrer que trois aspects ont l’air de jouer un rôle particulièrement important dans la constitution de cette compétence 2 : 1), la flexibilité dans l’usage des ressources linguistiques (c’est-à-dire, soit l’usage diversifié d’une même ressource, soit la diversification des ressources pour le même contexte d’usage), 2), le positionnement temporel des tours de parole dans le déroulement séquentiel et 3), l’adaptation du tour de parole (en termes de forme et de contenu) aux besoins de l’interaction, notamment pour répondre aux exigences séquentielles prospectives et rétrospectives. 2.2 L’interaction entre élèves en classe de langue étrangère Notre recherche s’inscrit dans le cadre d’un intérêt croissant en didactique des langues étrangères pour la description des productions langagières concrètes des élèves en situation d’interaction orale en classe de langue (p.ex. pour le français, Grein & Vernal Schmidt, 2020; Schädlich, 2021; Tesch, 2010). Nous ne disposons pas encore de suffisamment de connaissances empiriques systémati‐ ques sur le déroulement et l’organisation de l’interaction en classe, et encore moins sur les classes de français langue étrangère (Martinez, 2014; Schmelter, 2014). Il faut pourtant avoir une idée de comment les élèves se comportent en réalité, dans des classes régulières (à l’école publique) et dans des situations non-expérimentales, pour bien comprendre et étudier les conditions de réussite de leur apprentissage. Une base de données empiriques est d’autant plus importante lorsqu’il s’agit d’une compétence aussi fortement liée au contexte situationnel et aux dispositions concrètes des participant.e.s que la compétence d’interaction. 71 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="72"?> En résumant les quelques savoirs que la recherche empirique existante a déjà pu faire émerger, on constate d’abord que les activités destinées à promouvoir la compétence orale dans l’enseignement du français à l’école dans les classes du secondaire sont relativement peu fréquentes comparées aux autres types d’activités (Burwitz-Melzer, 2014). Nous savons également que c’est souvent les professeurs - et non pas les élèves - qui parlent le plus en classe de langue (Klieme et al., 2006). Quant aux activités effectivement proposées aux élèves, le choix de types d’interaction est limité; en effet, une majorité disproportionnée a l’air d‘ être du type transactionnel et argumentatif (García García, 2016 et dans ce volume). De plus, on sait depuis longtemps (Breen, 1989; Coughlan & Duff, 1994; Pochon-Berger, 2009; Seedhouse, 2005) qu’il est nécessaire de distinguer entre la tâche pédagogique planifiée (« task-as-workplan ») telle qu’elle a été conçue par la professeure, et la tâche en action (« task-in-process ») telle qu’elle est réalisée par les élèves. On ne peut pas présumer d’une correspondance exacte entre la forme que prend une activité ou une interaction dans l’imagination de l’enseignant.e. et celle mise en action, car la tâche planifiée est « ré-appro‐ priée » (Hellermann & Doehler, 2010) par les élèves, et la réalisation concrète d’une tâche émerge donc toujours comme un produit situé et émergent de la co-construction de tou.t.e.s les participant.e.s à l’interaction. 3 Corpus de données et démarche analytique Le projet FRAISE a été lancé pour approfondir et étoffer les recherches sur la compétence orale en français L2 en contexte d’apprentissage scolaire. De plus, il se veut une base empirique pour des futures propositions didactiques. FRAISE comprend, en premier lieu, un corpus longitudinal d’enregistrements vidéo de deux classes de français L2 dans un lycée autrichien qui ont été filmées pendant 4 voire 5 ans. Ce corpus contient 130 vidéos de leçons de français au total. Les professeurs des deux classes étaient des enseignantes expérimentées également engagées dans la formation des futurs professeurs de français. Le but primordial de la collection de vidéos était d’observer en détail et sans préjugé ce qui se passe concrètement en classe de FLE et de rassembler assez de matériel pour produire une description « épaisse » du déroulement et du fonctionnement systématique des interactions en français en classe de langue. Les données ont été étudiées en utilisant la méthodologie de l’analyse con‐ versationnelle (AC), un domaine de recherche qui étudie l’interaction langagière comme élément basique et constitutif de la vie humaine (Sidnell 2015, 1). En AC, on s’intéresse aux méthodes systématiques mises en action par des individus pour (co-)construire des interactions sociales. Il s’agit d’une méthodologie 72 Carmen Konzett-Firth <?page no="73"?> qualitative centrée sur des données qui, optant pour un parcours radicalement empirique, explore de manière non-biaisé des données naturelles. Elle permet ainsi la génération d’hypothèses et la découverte de phénomènes « que l’on ne saurait pas imaginer » (Sacks, 1984). De cette manière, l’analyse aboutit à la constitution d’une « cartographie » (Sidnell 2012) des interactions d’un certain discours, documentant en détail les pratiques interactionnelles des participant.e.s. Contrairement à d’autres approches dans les sciences sociales, l’analyse conversationnelle adopte une perspective émique, c’est-à-dire que l’analyste interprète les données en suivant le point de vue des participant.e.s plutôt que d’y imposer des catégories externes. Cette démarche repose sur le fait que les actions-en-interaction étudiées sont en principe observables pour tous : en premier lieu, ce sont les co-participant.e.s dans l’interaction qui se rendent mutuellement compréhensibles leurs actions; ensuite, il est également possible pour les analystes de retracer les étapes de ces interactions. 4 Analyse des interactions entre pairs en classe de FLE Dans ce chapitre, nous présenterons deux aspects de nos analyses de corpus qui se sont révélés particulièrement pertinents pour arriver à une compréhension approfondie des interactions entre élèves en cours de français : l’organisation séquentielle et l’organisation thématique des interactions entre élèves. 4.1 Orientation vers un ordre extérieur Le premier extrait montre un groupe de cinq élèves du début de la deuxième année d’apprentissage qui sont assis autour d’une table. Leur tâche consiste à parler entre eux en comparant la vie à la campagne avec celle en ville et en présentant des arguments pour et contre ces deux environnements. Les élèves ont pu se préparer préalablement en collectionnant des idées pour l’argumentation. De plus, ils ont reçu un support visuel/ textuel sous forme d’une fiche montrant plusieurs dessins humoristiques portant sur les différences entre la vie rurale et la vie urbaine : 73 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="74"?> Exemple 1 44 LIL je pense que ehmmm, habiter [ehmm, #1 45 SAR [es ist de& c'est ça #1 46 LIL dans la ville ], dans la ville, e: st, 47 SAR &glaub i £hnhnh] je crois 48 (0.3) 49 LIL °est bon°, parce q: ue (.) parce qu'il y 50 a beaucoup d'activités, ehmmm, 51 (0.6) 52 GÜR ah sur la [ville °xx° #2 53 LIL [comme ehmm (0.6) 54 comment euh le cinémA *ou. * #2 emi *hoche la tête* 55 EMI le théâtrE. *£hnhnnh* #3 lil *hoche la tête * 56 LIL oui. #3 57 (1.5) *(1.0) * lil/ emi *regard mutuel* 58 *(0.4) * #4 lil *palm-up open hand* 59 EMI ou: i, sar *se tourne vers min* 60 (1.3) 61 GÜR §(soll dann i) § (devrais-je alors) gür §se tourne vers EMI et LIL§ #4 62 MIN was alte es geht noch der ↑reihenfolge. comment il y a un ordre de passage 63 EMI ahso. ah bon 64 £hnhh 65 £hnhnnh je trouve qu: e, [...] Au début de l’extrait imprimé ci-dessus, Lilian (LIL) initie une interaction en français. Elle annonce une position argumentative en déclarant qu’elle évalue positivement la vie en ville et elle ajoute une justification sous forme d’une proposition circonstancielle introduite par « parce que » (lignes 44-54). Son tour est complété de manière collaborative (Lerner, 1991) par Emily (EMI) (l. 55), qui a attentivement suivi les paroles de sa voisine, comme on le reconnaît à son regard vers Lilian (#2) et à son hochement de la tête en signe d’approbation (l.54). Au bon moment, juste après l’énonciation du premier élément de la construction coordonnée, et après avoir détourné la tête de Lilian pour s’adresser aux autres (#3), Emily produit le deuxième terme de la construction « le théâtre » (l.55). Ce comportement montre bien les efforts de coopération finement coordonnée 74 Carmen Konzett-Firth <?page no="75"?> 3 D’ailleurs, Minna formule son objection en allemand. Elle contextualise donc son tour comme appartenant à une modalité différente, notamment celle de l’organisation de l’activité pédagogique (à l’intérieur de laquelle se déroule l’interaction en français). effectués par les participantes. Lilian affirme et accepte cette complétion de son tour par un hochement de tête (l.54) et en confirmant par « oui » (l. 56). Ce premier tour, construit de manière collaborative, ouvre la séquence. D’après ce que nous savons de la recherche en interaction (et à travers notre savoir en tant que locuteurs.trices compétent.e.s), on pourrait s’attendre à ce que, à ce moment dans l’interaction, une autre personne s’auto-sélectionne pour réagir au positionnement argumentatif de Lilian, soit pour soutenir son opinion, soit pour exprimer son désaccord. Or, le premier tour est suivi d’une négociation entre les participant.e.s concernant la prise de responsabilité pour le prochain tour. Entre les lignes 57-60, nous observons de multiples essais de Lilian et d’Emily d’allouer la parole aux autres élèves, en commençant par un premier silence (l. 57), suivi par un regard mutuel entre Lilian et Emily (l.57) comme si elles voulaient s’assurer mutuellement de l’accord de l’autre. Suit un geste de Lilian (#4), signalisant par ses mains ouvertes et les paumes tournées vers le haut (« palm up open hand », Müller 2004, Kendon 2004) que la parole est maintenant offerte aux autres élèves présents. Emily répète et renforce cette action en choisissant une ressource verbale : elle produit un « ou: i » qui est prosodiquement façonné avec une voyelle allongée et une intonation finale montante pour inviter la prise de parole de quelqu’un d’autre (l. 59). Suit un deuxième silence de 1,3 secondes (l. 60) jusqu’à ce que Gür (GÜR) se propose comme locuteur suivant potentiel (l. 61) en se tournant vers Emily et Lilian et en les regardant pour les inviter à une confirmation. Entretemps, Sarah (SAR) a communiqué (par son regard) avec Minna (MIN) qui lui dit (l. 62) qu’il y a un ordre de passage qui doit être respecté 3 . Emily a l’air de comprendre (soutenue peut-être par le regard de Sarah dirigé vers elle) que c’est elle qui est prévue comme prochaine locutrice dans cet ordre, car elle répond au refus de Minna par un change-of-state token („ahso“) et puis reprend le fil (à partir de la ligne 63). Le comportement multicouche et multi-ressources des élèves est certaine‐ ment indicatif d’une compétence interactionnelle générale des élèves, et il ne serait pas légitime de le décrire uniquement comme déficient (Olsher 2004). Pourtant, il faut noter que, en interaction non-L2, le cas 'standard' serait une alternance des tours sans pause (Sacks et al. 1974), c’est-à-dire que soit un.e co-participant.e prendrait la parole, soit la locutrice actuelle continuerait à parler. Une négociation tellement intense de la prochaine locutrice et l’allocation explicite de la parole aux co-participant.e.s comme on peut l’observer dans 75 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="76"?> l’extrait ci-dessus est rare en interaction quotidienne (Birkner et al. 2020 : 214). Dans des interactions scolaires en L2, par contre, les allocation non-compétitives de tours sont fréquentes (García García, 2012; Hauser, 2009). Un autre aspect qu’il convient de noter est l’activité collaborative : les élèves collaborent en L2 sur la construction du tour (sous forme d’hétéro-complétions collaboratives), mais pas sur l’organisation séquentielle. 4.2 Des dispositifs non-verbaux et un manque de troisièmes tours Notre deuxième extrait provient d’une classe en troisième année d’apprentis‐ sage. Les deux élèves, Helena et Juna, sont assises l’une à côté de l’autre et se parlent à l’aide d’un support sous forme de questions écrites et de réponses notées sur une fiche de travail. Le thème est celui des « habitudes culinaires ». Dans l’activité en cours, les élèves doivent se poser mutuellement des questions qu’ils trouvent écrites sur une fiche de travail. Avant l’activité, ils ont eu le temps de prendre des notes sur leurs réponses personnelles à ces questions. Exemple 2 37 HEL u: .hm (0,9) j'ai: (2,1) l'habitude de manger jun reg -> HEL 38 +des (pides? )+*(0,2)* hel +reg->JUN + jun *hoch.* 39 HEL o de: s +sandwichs? + hel +reg->JUN + 40 JUN *(0,7) oui.* jun *hochement de tête * 41 (1,7) 42 HEL oui e: t (0,4) j'ai l'habitude de manger (0,5) #1 43 des desserts. 44 JUN +£.+heheh hel +££+ 45 .hh oui j'ai: aussi (0,6) uhm 46 l'ha[bitude de manger 47 PRO [respectez l'ordre *des questions * ok? jun *tourne la tête* 48 JUN uhm 49 PRO respectez l'ordre. 50 JUN et du pain, (1,1) oui, (1,2) 51 *uhm sandwichs (1,7* et yaourt jun *reg->HEL *reg->fiche 52 *(0,3)* jun *££ hh* 53 ehm et est-ce que tu préfères manger chaud ou froid. 54 HEL *uhm je préfère de manger au: froid. jun *reg->HEL 55 JUN *.h jun. *reg->fiche 56 HEL [et toi? ] 57 JUN [uhm ](0,4)ahm je préfère manger (0,5) uhm *chaud, jun *reg->HEL 58 HEL .hnhnhnh 76 Carmen Konzett-Firth <?page no="77"?> L’extrait 2 montre le début de l’interaction entre Juna et Helena, qui s’organise en deux séquences. A la ligne 36, Juna pose une question à Helena concernant ses préférences nutritionnelles. Cette question n’est pas formulée par Juna elle-même mais lue à haute voix mot à mot depuis sa fiche de travail. Ceci explique pourquoi elle ne lève la tête pour regarder sa co-participante qu’à la fin de son tour, quand Helena a déjà pris le relais (début de la l.37). Helena organise sa réponse (l. 37-43) en fine coordination avec les réactions de Juna. Elle produit d’abord un marqueur de planning indexical de son travail de réflexion et de production de tour (« u: .hm »), puis elle reprend, sous forme d’un recyclage de matériel linguistique, la formulation de la question „avoir l’habitude de manger“. Après avoir énoncé le premier complément d’objet direct, « des (pides? ) » (l.38), Helena s’arrête très brièvement et lève son regard vers Juna qui répond avec un léger hochement de tête. Ensuite, Helena élargit le COD en ajoutant un incrément (Schegloff 1996), « de: s sandwichs? » (l.39). De nouveau, son regard dirigé vers Juna suscite une réaction corporelle mais cette-fois ci accompagné d’un « oui » à voix basse (l. 40). Les réactions de Juna assument la fonction de continueurs (Couper-Kuhlen et al. 512), c’est à dire qu’elles ne revendiquent pas la parole mais au contraire invitent Helena à continuer (ce que celle-ci fait en utilisant une ressource bien adaptée à une telle situation : en ajoutant des incréments (Couper-Kuhlen et al. 96)). De plus, Juna baisse son regard après la fin potentielle du tour de Helena (l.41) et ne donne donc aucun signal de vouloir s’engager dans la prise de parole. En conséquence, Helena reprend en formatant son tour comme un nouveau départ: elle produit des marqueurs indiquant sa volonté de prendre la parole (« oui e: t ») et elle répète exactement l’expression utilisée auparavant: « j’ai l’habitude de manger ». Cette fois-ci, elle ne regarde plus ses notes, très probablement parce qu’elle n’a rien noté de plus. Le troisième aliment mentionné par Helena (« des desserts ») suscite une réaction affective de Juna: elle rit, et Helena sourit également (l.44). Les deux filles montrent ainsi à travers le rire leurs affiliations et leurs opinions convergentes ou expériences partagées. Ensuite, Juna s’aligne sur le tour de Helena en présentant sa propre position par rapport à la question des habitudes alimentaires (l.45-51). Elle produit la fin de son tour (l.51) en regardant sa fiche de travail et ne perçoit donc ni regard ni mimique de la part de Helena. Par contre, quand Juna se met à ricaner après son tour, toujours en gardant son regard baissé, Helena sourit également. Les deux s’engagent donc dans un échange affectif. Juna continue en lisant la question suivante de sa fiche en s’adressant à Helena (l.53) (ce qui est marqué entre autres par son regard levé vers Helena à la fin du tour, l.54), invitant sa partenaire à prendre la parole et ouvrant ainsi une nouvelle séquence d’interaction. Comme dans la première séquence, Helena fait usage 77 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="78"?> dans sa réponse d’un recyclage de matériel linguistique: elle forme une phrase complète en transformant dans son propre tour la construction interrogative de Juna en une phrase déclarative (« tu préfères manger chaud ou froid » ->« je préfère de manger au: froid »). Quand Helena a fini de parler, Juna détourne son regard et le dirige de nouveau vers sa fiche de travail tout en aspirant, signal typique pour une préparation à la prise de parole (Schegloff 1996). Puis, Juna produit un marqueur de prise de tour (« uhm ») pendant que Helena ajoute une question de retour (l.56). Juna y répond en présentant une opinion différente de celle de Helena. C’est probablement ce contraste simple et un peu abrupt, en combinaison avec le sourire de Juna, qui conduit Helena à rejoindre Juna dans la production d’un rire partagé (l.60). On voit bien que les élèves sont conscientes de la nécessité de maintenir une certaine intersubjectivité et de créer une connectivité entre leurs tours. Les deux extraits ont illustré quelques phénomènes typiques des interactions entre pairs dans les premières années d’apprentissage en cours de français : les élèves sont visiblement orientés les uns vers les autres et ils construisent leurs interactions de manière coopérative. Ils s’efforcent de maintenir l’intersubjec‐ tivité, de créer une interaction cohérente et de faire progresser l’interaction. Cela n’est pas surprenant, étant donné que ces aspects devraient faire partie de leur compétence d’interaction en L1. La difficulté pour les élèves réside surtout dans la nécessité d’atteindre leurs buts communicatifs en exploitant des moyens linguistiques de la L2. En synthétisant les analyses des deux extraits précédents, nous constatons que les interactions entre élèves, que ce soit en petit groupe ou en binôme, sont caractérisées par un format qui ne favorise pas l’expansion discursive. Dans les deux exemples, les élèves se limitent à la production de tours qui se suivent et qui sont liés entre eux sur le plan séquentiel et thématique mais qui ne sont pas développés pour créer des séquences plus longues/ plus complexes. Dans l’exemple 1, les élèves font des efforts individuels pour collaborer dans la construction de leurs tours, mais les deux filles présentent leurs arguments de manière isolée, s’orientant vers un ordre séquentiel non pas situé et co-const‐ ruit dans le discours mais imposé comme un facteur externe. Même si la cohérence entre leurs tours est en principe assurée par le thème global de la discussion autour de laquelle ils construisent leurs contenus, l’enchaînement séquentiel n’est pas adapté à un projet communicatif commun. Dans l’exemple 2, l’interaction se compose de paires adjacentes enchaînées sans troisièmes tours verbaux ou autres expansions. Néanmoins, les élèves s’orientent souvent vers le besoin d’une post-expansion d’une séquence minimale, comme l’indiquent les regards positionnés stratégiquement à la fin d’un deuxième tour de paire 78 Carmen Konzett-Firth <?page no="79"?> adjacente. Mais ce besoin est satisfait à l’aide d’un dispositif non-verbal, par exemple un hochement de tête ou un (sou)rire. Ce comportement est un indice de la compétence interactionnelle émergente des apprenant.e.s qui sont capables d’identifier le moment dans l’interaction qui rend pertinente la mise en opération d’une ressource comme le rire/ le sourire. En même temps, nous voyons que ces élèves n’ont pas (encore) les moyens verbaux pour accomplir certaines actions (comme par exemple l’évaluation, l’expression de l’accord ou de l’affiliation) de manière efficace en L2. Une deuxième caractéristique des interactions représentées par les exemples 1 et 2 est le manque d’élaboration thématique et l’absence de transition graduelle entre les thèmes. Dans l’interaction de l’exemple 2, l’organisation thématique « par sauts » s’explique par le caractère rigide de l’échange qui ressemble à un entretien formel, et par le support écrit sur lequel s’appuient les apprenant.e.s et qui structure fortement le déroulement de leur interaction. Dans l’exemple 1, l’interaction entre les élèves s’inscrit dans une tâche plus libre, notamment une « discussion pour et contre » le thème donné. La profes‐ seure n’avait en rien indiqué que cette discussion devait s’écouler selon un certain ordre. Pourtant, les élèves eux-mêmes évoquent un tel script (« es geht nach der reihenfolge », 'on parle à tour de rôle') vers lequel elles s’orientent explicitement dans la construction de leurs tours. Ainsi, ils laissent de côté le travail d’organisation séquentielle en faveur d’une focalisation sur leurs tours individuels qui, malgré le maintien d’une cohérence thématique, ne suivent pas nécessairement une progression naturelle dans le sens d’évolution étape par étape. Cela confirme des résultats similaires d’autres études sur des corpus d’interactions entre apprenant.e.s en langue étrangère, selon lesquels il est rare de voir des développements thématiques plus longs, englobant plus de deux tours de parole (Berger 2008; García García 2012). 4.3 Une organisation thématique et séquentielle fortement orientée vers la tâche Les interactions présentes dans le corpus FRAISE montrent une forte orientation vers les demandes de la tâche, qui est visible dans les actions des élèves. D’autres études ont identifié le même phénomène pour des interactions en classe, par exemple pour des étudiants d’anglais langue étrangère (Hauser, 2013). Le thème ou les thèmes de ces interactions sont souvent développés selon un schéma (topic-as-script), la progression étant donc plutôt une progression de la tâche qu’une progression de l’interaction (Seedhouse & Nakatsuhara, 2018; Seedhouse & Supakorn, 2015). Dans le corpus FRAISE, toutes les interactions se déroulent dans un contexte d’apprentissage, organisées et produites pour l’apprentissage. 79 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="80"?> On pourrait dire qu’il s’agit d’'interactions-pour-parler', en analogie avec le terme de « conversations for learning » (Hauser, 2008; Kasper & Kim, 2015). Cela devient très évident dans les interactions des premières années d’apprentissage, comme l’ont montré les extraits 1 et 2. Pourtant, il en va de même des interactions entre élèves plus avancés. Dans l’extrait qui suit (exemple 3), nous observons deux élèves d’une quatrième année d’apprentissage, Thorsten (THO) et Elif (ELI), qui, dans un jeu de rôles devant la classe, discutent le pour et contre d’un séjour à l’étranger: Exemple 3 59 THO ok je suis (.) 60 je suis contre. 61 ELI oui. 62 THO ok. 63 (0.9) 64 .h tu veux commencer? 65 (1.0) 66 ELI non. £hnhn 67 ASS ça vous gêne si je le mets ici? 68 (0.3) 69 THO [(oui/ hm). c'est uhm, oui.] 70 ASS [(xx)? merci. ] 71 c'est très gentil. 72 (2.6) 73 THO OK. 74 (0.3) 75 a: h, (.) oui. 76 (1.9) 77 bonjour. 78 ELI £hnhnnhn [huhh hnh] 79 XXX £hnhnhhn [hhuhuhh.] 80 THO [ehmmm, ] 81 je suis, ehmmm, contre uhm les séjours 82 ehmm à l'étranger, 83 ehmm à cause des raisons (.) ehmmm 84 varia- (.) ehmm des (.) toujours des raisons, (.) 85 [uh uh ] 86 X [toujours.] 87 THO £to(h)[uj(h)ours £hnhn 88 ELI [£hnhnhnhn [huhhuh 89 THO [ehm beaucoup des raisons.] 90 ehm (.) ehmmm, (0.3) mais, ehmmmm 91 l'argument ehmmmm, premier c'est, ehmmm, 92 on doit, (.) quitter, (.) la famille, et ehmmm 93 (0.2) ll- (.) les amis et le quotidien, 94 [(0.6) ] 95 ELI [*.h. *] eli *ouvre la bouche * 96 THO *et, (.) beh (.) ehmmm, eli *£££ --> 97 ELI oui ahm 80 Carmen Konzett-Firth <?page no="81"?> Le premier défi interactionnel auquel les élèves sont confrontés dans une telle situation ‚semipublique‘, où ils parlent à deux devant la classe, est de construire l’ouverture de leur interaction. A la ligne 59, avant même le début „officiel“ de la discussion, Thorsten ouvre l’interaction avec Elif en se positionnant comme contre les séjours à l’étranger. Ce comportement renvoie à la convention dans une discussion „pour et contre“ de choisir un côté. Par conséquent, l’interaction suivante présente un caractère relativement formel et rigide, presque comme dans un débat, où il y a une répartition très stricte des rôles. Le développement des thèmes de l’interaction s’oriente également vers ce cadre d’échange argu‐ mentatif. Le premier positionnement de Thorsten est suivi par une séquence latérale dans laquelle les deux participants négocient qui va être le/ la premier.e à parler. Ensuite, Thorsten reconfirme d’abord sa position argumentative (l. 81) avant de se lancer dans la production d’un tour très long et assez complexe. La longueur et la complexité même de ce tour contextualisent cette interaction comme prenant la forme d’une discussion structurée où il s’agit d’élaborer des positions argumentatives individuelles. En même temps, cette discussion se tient en cours de français et se veut donc un lieu de pratique pour l’usage de matériel linguistique (cf. García García dans ce volume). Le début et la fin du tour de Thorsten - qui représentent des moments particulièrement sensibles dans le formatage d’un tour de parole - indiquent clairement que le travail interactionnel des participants est orienté vers la tâche pédagogique qu’ils sont censés accomplir. Premièrement, les lignes 73-77 montrent l’effort de Thorsten pour produire seul une ouverture et pour assumer pleinement le rôle du premier locuteur sans recourir à quelqu’un d’autre pour co-construire la séquence. Il produit plusieurs signaux de prise de parole (« ok », « oui »), mais les pauses signalent également un processus de planification. La distribution explicite et préalable du droit (ou bien de la responsabilité) de parole entre les deux participants et le fait qu’ils parlent devant un public contribue sûrement à cette conduite. Cette phase de pré-ouverture est clôturée par une salutation « bonjour » qui marque en même temps le ‚vrai‘ début de l’interaction qui se déroule pour et devant les spectateurs. Le rire des autres élèves témoigne de leur prise de conscience du statut quelque peu artificiel de ce jeu de rôles. Celui-ci ressemble en fait à des situations sur une scène ou devant des caméras dans lesquelles une phase préparatoire 'en off' est suivie d’une initiation bien discernable et explicite de l’interaction pour le public. Deuxièmement, la fin du tour de Thorsten est tout autant révélatrice du point de vue de l’orientation vers la tâche pédagogique et vers le format 'discussion 81 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="82"?> devant la classe'. D’abord, Elif essaie de prendre le tour à la première place de transition possible (l.95), au moment où le tour de Thorsten a atteint un point de complétion syntaxique et qu’il lève son regard vers son interlocutrice même si les propriétés prosodiques de la fin de son tour (intonation légèrement montante) n’indiquent pas une intention de remise de la parole. Quand Thorsten projette une continuation de son tour (l.96) en produisant une conjonction de coordination (« et »), le sourire simultané de Elif peut être compris comme un commentaire silencieux de la revendication extensive de la parole par Thorsten. Le fait qu’elle le laisse parler et qu’elle n’intervient que lorsqu’il abandonne clairement son tour à la ligne 97, ne peut pas être attribué uniquement à son style discursif personnel ou à des règles de politesse. En fait, il s’agit d’un pattern observable à maintes reprises dans les données de FRAISE, selon lequel les participant.e.s à une discussion entre élèves en L2 ne se chevauchent que rarement et sont plutôt réticent.e.s à intervenir avant de recevoir le droit de parler sans équivoque. La fin du tour de Thorsten ne laisse pas d’ambiguïté quant à sa volonté de transmettre le flambeau. Il signale le fait qu’il ne veut ou ne peut plus parler en laissant son tour se perdre dans la production de marqueurs typiques (« trail-off conjunctionals », Jefferson 1983) et en levant son regard vers Elif après le dernier marqueur (l.97). Les tours bien délimités d’élèves, sans débuts anticipés ou co-complétions, représentent le cas standard dans des interactions d’orientation argumentative dans le corpus FRAISE et correspondent aussi à des résultats d’autres études effectuées dans des classes de langue (Fasel Lauzon et al. 2008 ; García García 2012, 2015). Nos analyses confirment le « principe de non-intervention » (García García 2012, p. 67) selon lequel les participant.e.s ne se chevauchent pas, ne s’engagent pas ou peu dans la co-construction collaborative des tours et préfèrent en général construire leurs tours de manière décrochée. 4.4 Le défi de créer une cohérence thématique et séquentielle L’exemple 4, qui montre un moment survenu un peu plus tard dans la suite de l’interaction de l’exemple 3, nous montre un autre phénomène fréquent dans les interactions d’orientation argumentative dans le corpus FRAISE: tandis que la production du tour et même la formulation d’un argument (sur la base d’une préparation écrite) fonctionnent plutôt bien, ce sont les transitions entre les arguments présentés par les locuteurs, et donc la cohérence thématique ET séquentielle, qui posent problème: 82 Carmen Konzett-Firth <?page no="83"?> Exemple 4 116 THO mhmh, 117 .h u: h, oui (.), c'est uh ehhh-, 118 je comprends ça mais ehmm (.) ehmm 119 ce peut être très difficile 120 si tu as des problèmes avec la langue, 121 (et si il se) uh, uh 122 quand, u: h, (.) ss- (.), 123 quand tu as les (.) problèmes, ehmm 124 (1.2) 125 ouais. ehm, il v- (.) va être 126 très eh (.) diffuh (.) difficile 127 de: trouver des (.) eh, 128 des- (.) des nouveaux amis et tout ça. 129 ELI ehm je veux choisir u: n (.) 130 un pays, (.) ahm 131 où je: , ahm je (.)(0.5) 132 ehm je connais l- (.) la langue, 133 parce que je veux eh perfectionner 134 les connaissances, en langue, 135 THO mhm. 136 ELI ahm e: t, 137 (1.1) 138 ELI [°oui.°] 139 THO [ok. ] 140 (0.8) 141 uh (.) uhm (0.4)ouais e: t, m- (.) 142 (0.4) bien mai: s uh 143 (2.9) 144 uhmm (.)en OUTRE, ehm, 145 ça a- (.), euh ehm, partir, (.) ehm 146 (0.3) eh, (0.5) uh- (.) 147 au (.) ehmm ah- (.) uhn- (.) 148 [ehmm ah un- (.) 149 ELI [£hnhnhn huhuhuh 150 XXX [£hnhnhn hhhuhuh [huhh 151 PRO [à l'étranger. 152 THO à l'étranger. (.) ehmm, ça peut coûter très chER 153 c'est (.) ehm un argument important je crois, (.) 154 ehmm (0.4) Nous rejoignons les élèves au moment où Thorsten répond à un tour de parole d’Elif. Il produit d’abord un marqueur indiquant réception (« mhmh », l. 116), s’engage ensuite dans la construction d’une formulation pour exprimer son alignement (l. 117), mais abandonne cet essai pour sortir une expression ‚toute faite‘ qui de par sa forme prosodique fluide et son débit élevé par rapport aux alentours a l’air d’être une structure partiellement figée : « je comprends ça mais » (l. 118). Cette combinaison fait partie d’une série de formats similaires que nous retrouvons maintes fois dans des endroits séquentiels comparables dans notre corpus : « je te comprends mais »; « je comprends mais » et « je comprends ça mais ». Il s’agit selon toute évidence d’un „format d’action sociale“ (Fox 2007; Pekarek Doehler & Balaman 2021), c’est à dire d’une formule plus ou 83 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="84"?> 4 Par exemple, dans l’extrait ci-présent il n’est pas question de compréhension à vrai dire (il n’y avait rien à comprendre dans le contre-argument présenté par Elif). moins 'routinisée' qui est utile aux élèves pour accomplir l’action de « créer une transition entre deux tours dans une interaction argumentative ». Les élèves utilisent cette formule non seulement pour exprimer leur compréhension 4 mais encore pour créer une cohérence entre leur tour et le précédent. De plus, ce type d’expression schématique les aide dans le processus de formulation, allège la pression du début de tour et leur 'gagne donc un peu de temps' pour la planification de leur tour. Pour ce qui est de la difficulté de formuler un tour en cohérence séquentielle avec le précédent, celui d’Elif (l. 129-134) en est un bon exemple: le seul lien qui émerge entre le tour d’Elif et celui de Thorsten est thématique et reste implicite (les deux parlent du rôle de la langue pour un séjour à l’étranger). Mais Elif n’arrive pas à accomplir une action appropriée dans le contexte séquentiel argumentatif (p.ex. en contredisant Thorsten ou en contestant la présupposition de son argument qu’on n’atteint pas une bonne compétence dans la langue du pays où on passe son séjour à l’étranger). Tout cela reste, au mieux, implicite. Thorsten, quant à lui, n’a pas non plus la capacité d’intervenir de manière adéquate quand il s’avère qu’Elif abandonne son tour à la ligne 136. Bien sûr que la tâche est exigeante : les élèves doivent écouter ce que dit l’autre et réagir de manière adéquate et au bon moment en suivant les règles inédites de l’interaction (dont ils sont bien conscients, cela se voit ! ). A partir de la ligne 143, nous observons Thorsten qui est en train de faire face à ce défi : il annonce sa prise de parole (« ok », l. 143), il hésite, il fait des pauses, il utilise des structures routinières comme « ouais e: t » ou « bien mai: s » et il finit par changer complètement de stratégie. A la ligne 152, il utilise un marqueur discursif pour introduire un changement abrupt de thème. Sur le plan argumentatif, c’est un marqueur qui introduit an aspect supplémentaire, mais cela ne correspond pas au développement thématique de la séquence. 5 Discussion Nos analyses mettent en évidence le fait que les élèves dans les données de FRAISE s’entraînent à parler en classe de langue et que cela s’apparente à un apprentissage du 'parler en classe de langue'. Autrement dit, ce que les élèves ap‐ prennent, c’est précisément cela : s’engager dans des interactions en classe, dans des contextes pédagogiques et avec des locuteurs.trices qui, eux.elles aussi, sont des apprenant.e.s. Dans l’organisation de leurs interactions en cours de français, les participant.e.s s’orientent fortement vers le contexte institutionnel et vers la 84 Carmen Konzett-Firth <?page no="85"?> tâche ou l’activité dans laquelle elles s’engagent. A la fin de leur scolarité, les élèves sont censés atteindre un niveau B1 en FLE et devraient donc être capables d’interagir librement avec d’autres francophones. Cependant, plusieurs études suggèrent que des personnes qui ont suivi de longues périodes d’instruction en langue étrangère à l’école et qui possèdent une bonne compétence linguistique générale développent encore considérablement leur compétence d’interaction dès qu’ils se trouvent dans un environnement où la langue cible est parlée naturellement (Pekarek Doehler & Berger 2016, 2019, 2021 ; García García 2012 ; Thörle 2017). Quelle pourrait en être la raison ? Il semble que le développement de la compétence d’interaction dépend d’un engagement répété dans le même type d’interaction (Hall 1995, Pekarek Doehler & Pochon Berger 2015, Pekarek Doehler 2019, Greer 2019). Par exemple, pour développer un format d’action 'routinisé' pour une tâche interactionnelle spécifique, il faut avoir été engagé dans cette tâche interactionnelle à de nombreuses reprises (Pekarek Doehler & Balaman 2021). On peut supposer, a contrario, que des actions sociales à la construction desquelles l’apprenante n’a pas participé régulièrement, ne feront probablement pas partie du répertoire de sa compétence d’interaction. Il s’impose donc de dresser un état des lieux des actions sociales qui sont accomplies de façon régulière en classe de FLE pour identifier des lacunes potentielles. Le présent article a fait un pas dans cette direction et a montré à titre illustratif trois exemples d’interactions en classes de français de différentes années d’apprentissage. Tous les trois partagent certaines caractéristiques des interactions en classe : 1) le thème de l’interaction a été imposé (par l’enseignant.e), 2) il s’agit d’un échange d’informations / d’opinions ou d’une interaction argumentative, 3) les interactions orales sont précédées d’une phase de préparation avec des notes prises à l’écrit, 4) les supports écrits sont intégrés dans les interactions orales ; pour ce qui est du comportement des élèves, nous avons pu constater à travers nos analyses qu’ils tentent de respecter les règles inédites de l’interaction sociale et s’orientent vers le principe de la progression et du maintien de l’intersubjectivité. Par contre, ils ne disposent pas encore de méthodes L2 très élaborées pour accomplir ces actions de manière efficace (ni toujours très effective) et doivent se servir soit de ressources non-verbales (mimiques, gestes, pointages, etc.) soit de dispositifs passe-partout comme les marqueurs discursifs ou d’autres structures (sémi)-figées. Dans les interactions à caractère argumentatif, les élèves arrivent à formuler des tours assez longs et complexes (sur la base de leurs arguments préparés à l’avance) sans pour autant construire une cohérence séquentielle ou thématique continue (cf. aussi Berger 2016). Il en va de même pour leur organisation de l’alternance des tours : contrairement aux habitudes entre locuteurs compétents (cf. Couper-Kuhlen 85 Défis et potentialités de l’interaction entre élèves en classe de FLE <?page no="86"?> et al. 73), les élèves utilisent souvent des dispositifs très explicites comme la question de retour (« et toi ? ») pour allouer la parole à l’autre et ils produisent leurs tours de parole de manière décrochée, sans intervenir dans le discours de l’interlocuteur.trice. Quant à l’organisation thématique, ils introduisent des thèmes en posant des questions directes (phénomène décrit également par Kley 2019 pour des apprenant.e.s d’allemand L2) ou en s’orientant vers les instructions de la tâche pédagogique. Pour résumer, nos analyses ont fait apparaître une image complexe : d’un côté, il s’est avéré à travers nos analyses que les apprenant.e.s observé.e.s dans nos extraits font preuve d’une compétence d’interaction dans le sens qu’ils sont conscient.e.s, de par leur compétence en L1, des aspects basiques qui contribuent au fonctionnement d’une interaction, par exemple d’une nécessité de coordonner les actions des participant.e.s. De l’autre, les élèves se trouvent encore dans un stade de développement peu avancé et ne disposent donc pas encore d’un éventail de ressources linguistiques suffisamment large pour accomplir différentes actions interactionnelles. De surcroît, si on garde à l’esprit les résultats des études mentionnées ci-dessus, qui soutiennent que le dévelop‐ pement de la compétence d’interaction passe par l’interaction en situation et que la CI L2 ne peut guère être acquise hors contextes spécifiques, il faut se demander si le choix relativement restreint des types d’activités interactives proposées aux élèves ne limite pas leur potentiel de développement. 6 Conclusion : Conséquences pour l’enseignement Que peut nous apporter une telle analyse ? Quelles conséquences pouvons-nous en tirer pour le travail des enseignant.e.s en classe de français langue étrangère? Nous aimerions esquisser trois idées à cet égard : Premièrement, il faudrait rendre le concept de compétence d’interaction plus visible dans la perception des enseignant.e.s ainsi que des élèves, renforcer leur sensibilité et leurs connaissances des enjeux, par exemple concernant les dynamiques entre les différentes modalités (verbale, prosodique, mimique, gestuelle) dans une interaction, mais aussi concernant les processus d’appren‐ tissage impliqués par cette compétence. Dans des activités visant à entraîner la compétence orale, il ne s’agit pas seulement de « produire du langage » (même si on devrait également augmenter la quantité de production L2 en classe ! ), mais il faut aussi et surtout diversifier les contextes séquentiels que les élèves doivent gérer et les actions sociales qu’ils doivent accomplir dans l’interaction. Deuxièmement, il est important de souligner et de renforcer l’idée de la routinisation dans l’apprentissage de la compétence d’interaction. Du point 86 Carmen Konzett-Firth <?page no="87"?> de vue de l’acquisition langagière, la routine est nécessaire pour consolider les schémas et pour réduire les efforts cognitifs. Nous nous retrouvons là coude à coude avec les recherches en linguistique cognitive et en grammaire des constructions, qui nous montrent depuis un certain moment que c’est à travers des situations concrètes et en internalisant des exemples concrets (« exemplar-based learning », Eskildsen 2015) qu’on développe un répertoire de ressources langagières. Les recherches en compétence d’interaction vont dans le même sens (cf. Pekarek Doehler & Balaman 2021). Les manuels scolaires jouent un rôle clé à cet égard : il serait désirable d’y voir des parcours systématiques destinés spécialement à l’entraînement de la compétence d’interaction. Finalement, l’organisation même des activités didactiques devrait être adaptée pour mieux répondre aux besoins de l’enseignement de la compétence d’interaction. Une approche basée sur les tâches apparaît comme particulière‐ ment prometteuse à cet effet (cf. également García García dans ce volume). Cela consisterait en une démarche clairement structurée avec une séparation des phases de préparation à l’écrit des phases de l’oral, une étape post-tâche qui permet de focaliser sur les méthodes spécifiques requises pour accomplir certaines actions sociales et une répétition systématique et obligatoire des différentes tâches incorporée dans la planification didactique. Bibliographie Adams, Rebecca / Oliver, Rhonda. 2019. Teaching Through Peer Interaction. New York etc.: Routledge. Bachman, Lyle F. / Palmer, Adrian S. 1996. Language Testing in Practice: Designing and Developing Useful Language Tests. Oxford: Oxford University Press. Blume, Otto-Michael / Nieweler, Andreas. 2018. « Raus mit der Sprache! Mündlichkeit stärken im Französischunterricht », dans : Der fremdsprachliche Unterricht. Franzö‐ sisch, 52(152), 2-8. 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Dass sich mit dem Zauberwort der Kompetenzorientierung und einem kom‐ petenzorientierten Lehrmittel, welches entlang der Lehrplanziele entwickelt wurde, nicht jedoch auch automatisch Sprechkompetenzen einstellen, das mussten jene Lehrpersonen, welche nach den neuen Vorgaben unterrichtet hatten und deren Französischunterricht dann evaluiert wurde, mit wenig guten Evaluationsergebnissen in der Kompetenz Sprechen unlängst schmerzvoll erfahren. Das Niveau A2.1 wurde von nur 11 % der Lernenden erreicht (Peyer 2019, 11), wobei das Problem von hehren Bildungszielen, die in der Praxis nur schwer greifen, ein altbekanntes und vermutlich komplexes zu sein scheint. Fürs Sprechen lernen im Französischunterricht umreissen Nieweler et al. (2006, 106) die Problematik wie folgt: „Der seit vielen Jahren geforderte Primat des Mündlichen räumt der Teilfertigkeit Sprechen [Hervorhebung im Original] einen prominenten Stellenwert ein, allerdings sind die Sprechfertigkeiten von Französischschülern auch nach mehreren Jahren Unterricht häufig alles andere als zufriedenstellend“. Gleichzeitig wird in der Literatur das besondere Potenzial der Kompetenz Sprechen im Fremdsprachenunterricht betont (Edmondson <?page no="92"?> 2006, 54). Sprechfertigkeiten seien die Ausgangsbasis zum kommunikativen Erleben der Fremdsprache und bildeten die Basis für einen Lernerfolg, der wiederum eine Conditio sine qua non für eine emotionale Bindung zum Fach darstelle. Der Schulverlag plus, mit dessen Lehrmittel die oben genannten Lehrpersonen gearbeitet hatten, löst das Problem der wenig guten Evaluati‐ onsergebnisse (Peyer 2019) mit einer grundständigen Überarbeitung seines Lehrwerks. Dabei greift der Verlag auf Rückmeldungen aus der Praxis zurück, welche er nun «ernst» nimmt (Schulverlag plus 2020). Konkret heisst das, dass das Angebot zum Erwerb der Kompetenz Sprechen im Lehrmittel durch kleinschrittigere und gesteuerte Übungen verbessert wird. Praktisch trifft diese zähe Entwicklung den Französischunterricht an einer empfindlichen Stelle, nämlich jener des umstrittenen Französischunterrichts auf der Primarstufe. Politisch legt sie ein Theorie-Praxis-Problem von Bildungs‐ entwicklungen offen: Programmatische Ziele der Bildungsplanung und das Konzept der Aufgaben- und Handlungsorientierung, so wie sie im Lehrmittel ursprünglich angeboten wurde, scheinen beim Französischlernen im Klassen‐ zimmer noch nicht immer zu den projektierten Bildungszielen zu führen. Theoretisch wurde das Problem von der Sprachlehr-/ lernforschung schon vor einiger Zeit erkannt. Autoren bemängelten die lerntheoretische Verankerung des aufgabenorientierten Unterrichts im Fremdsprachenunterricht (Edmondson 2006) oder prognostizierten mit Blick auf die Lernsteuerung und die Verlage‐ rung hin zum autonomen Lerner oder zur autonomen Lernerin weg von der Lehrperson vorausschauend, dass diese Verlagerung als eine lehrerbildende Erweiterung des unterrichtlichen Handlungsspektrums zu sehen sei, welche „als … Einseitigkeit in die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts eingehen und bald schon nach Gegenbewegungen verlangen“ würde (Börner 2004, 117). Unterdessen fordern dann auch weitere namhafte Bildungsforscher und Bil‐ dungsforscherinnen, Unterrichtsentwicklung noch stärker aus Erkenntnissen der Forschung heraus anzugehen (Reusser/ Pauli 2010; Aguado/ Schramm 2010). Dies geschieht im Wissen darum, dass erst die Lehr-/ Lerninteraktion im Klas‐ senzimmer die Realisierung von bildungspolitischen Vorgaben gewährleistet. Interaktionen im Klassenzimmer werden wiederum massgebend durch die Kompetenzen und der damit verbundenen Angebotsqualität der Lehrperson bestimmt (Brühwiler/ Helmke 2018; Lipowsky/ Bleck 2019). Vor diesem Hinter‐ grund verlagerten sich inzwischen auch die Arbeitsschwerpunkte der fremd‐ sprachendidaktischen Forschung. Deutlich wird dies zunächst im Anstieg der fremdsprachendidaktischen Arbeiten zur Professionsforschung (Caspari 2019). Der Arbeitsschwerpunkt zeigt sich ausserdem in Bestrebungen, fremdsprachen‐ spezifische Lehrkompetenzen zu definieren und zu messen (Kirchhof 2017), Di‐ 92 Bettina Imgrund <?page no="93"?> mensionen professionsspezifischer Kompetenz von Fremdsprachenlehrenden nachvollziehbar zu modellieren (Legutke & Schart 2016) und nicht zuletzt darin, dass in der Sprachpolitik jüngstens Arbeiten zur Förderung sprachrelevanter professioneller Kompetenzen von Lehrpersonen gefördert werden (Bleichenba‐ cher/ Goullier 2020). Kurzum, Kompetenzen von Lehrpersonen sowie damit verbunden auch ihr professionelles Handeln sind in der letzten Dekade stärker in den Interessensfokus der fachdidaktischen Forschung gerückt (Seidel 2014). Arbeiten zum konkreten Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen für Französischlehrpersonen einer bestimmten Bildungsstufe, welche bildungs‐ politische Innovationen stützen würden, sind aber immer noch spärlich. Der vorliegende Artikel widmet sich deshalb in drei Teilschritten der Frage, welches theoretisch-empirische Wissen aus der Unterrichts- und Professionsforschung für den Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehr‐ personen genutzt werden kann. Damit soll ein Beitrag zur Konturierung von professionsspezifischen Kompetenzen für Lehrpersonen auf der Primarstufe geleistet und die Entwicklung einer eigenständigen Lehrerinnen- und Lehrer‐ bildung in der Fremdsprachendidaktik gestärkt werden. Diese wird - zumindest in der Ausbildung von Schweizer Volksschullehrpersonen - noch immer stark von den methodischen Vorgaben des Lehrmittels geprägt, welche die Aufgaben- und Handlungsorientierung nach kognitivistischen Bezugstheorien umsetzen. 2 Theoretisch-empirisches Wissen zum Sprechen lehren und lernen Im Folgenden wird das Fremdsprachenlehren und -lernen im Klassenzimmer lerntheoretisch verortet und der Stand der Empirie in der Sprechlehr-/ lernfor‐ schung aufgespannt. Für das Lehren und folglich auch für die Ausbildung von Französischlehrpersonen wird hierbei von der Grundannahme ausgegangen, dass Lehrpersonen durch ihr Handeln im Unterricht eine eigene soziale Wirk‐ lichkeit generieren (Pauli 2006a; Reusser 2006). 2.1 Theoretische Vorannahmen für die Gestaltung von Unterricht Bei der Gestaltung dieser unterrichtlichen Wirklichkeit spielen der didaktische Plan der Lehrperson und die Lehr- / Lernprozesse, welche durch diesen Plan angeregt werden, eine maßgebende Rolle (Edmondson 2006). Basis der Unter‐ richtsplanung sind u. a. das vorgängige Klären der fachlichen Inhalte und das In-Beziehung-Setzen dieser Inhalte mit der Perspektive der Lernenden durch die Lehrperson (Wilhelm/ Luthiger 2020). 93 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="94"?> Bei den Schülerinnen und Schülern verläuft die Entwicklung von Kom‐ petenzen im Unterricht idealtypisch dann von einem fremdhin zu einem selbstgesteuerten Handeln, wobei Unterrichtsprozesse gemäss sozialkonstruk‐ tivistischen Theorieprämissen nicht nur durch Aufgaben, sondern auch durch Experten und Expertinnen gesteuert werden. Experten können sowohl kom‐ petentere Lernende als auch die Lehrperson sein (Reusser/ Pauli 2010), wobei Reusser, (2009, 300) ausdrücklich betont, dass Lernende keine „Solo-Lerner“ oder gar „Autodidakten“ seien. Zum Erfassen und Beschreiben von planbaren unterrichtlichen Dimensionen wird das Didaktische Dreieck als Modell herangezogen. Das Didaktische Dreieck geht von drei unterrichtlichen Bedingungsfaktoren aus, welche insti‐ tutionelles Lernen kennzeichnen: der Lehrperson, dem Gegenstand und den Lernenden. Diese Bedingungsfaktoren werden von pädagogisch-didaktischen Teilkulturen flankiert. Sie stellen die Basisdimensionen der gestaltbaren Berufs‐ realität von Fremdsprachenlehrpersonen im Klassenzimmer dar: die Ziel- und Stoffkultur, die Wissens- und Lernkultur und die Beziehungs- und Unterstützungs‐ kultur (Reusser/ Pauli 2010, 16). Abb. 1: Didaktisches Dreieck (Reusser/ Pauli 2010, 16) Die Lerngegenstände für den Französischunterricht sind mit der Ziel- und Stoffkultur, also dem WAS, über den Lehrplan und das Unterrichtsmaterial der Lehrmittel weitgehend vorgegeben. Von der Lehrperson zu gestalten ist dann die Wissens- und Lernkultur, also die Prozessinszenierung sowie die Progression dieser Prozesse im Längsschnitt. Diese Gestaltung geschieht jeweils mit Bezug auf den Lernstand der Klasse. Die Wissens- und Lernkultur wird von der Bezie‐ hungs- und Unterstützungskultur, also dem WIE der Inszenierung, mitbestimmt. Für den Erwerb der Kompetenz Sprechen im elementaren Französischunter‐ 94 Bettina Imgrund <?page no="95"?> richt sind die genauen Zusammenhänge der drei Teilkulturen allerdings noch aufzudecken. Profaner ausgedrückt heisst das: Wie die Lehrperson mit dem vorgegebenen Unterrichtsmaterial arbeitet und welche Klärungen beim Planen von Unterricht vorausgehen, sodass sich bei der Klasse Sprechkompetenzen entwickeln, ist noch genauer zu ergründen. Als Erziehungswissenschaftler unterscheiden Reusser/ Pauli (2010) bei Lehr-/ Lernprozessen zwischen einer Lektionsoberfläche (z. B. verschiedenen Sozial‐ formen) und Interaktionen in Tiefenstrukturen (z. B. innerhalb einer Sozial‐ form). Den Begriff „Tiefenstrukturen“ definieren sie wie folgt: Gemeint sind damit jene psychologischen Prozesse und Merkmale des Lehrens und Lernens, welche dem Unterricht als psychologisch-didaktische Qualitätsdimensionen zugrunde liegen. Ausgelöst bzw. angeregt werden diese Prozesse und Merkmale durch das sichtbare methodische Handeln von Lehrpersonen (Reusser 2008; op.cit. Reusser/ Pauli 2010, 19). In der Fremdsprachendidaktik unterscheiden Aguado/ Schramm (2010) zwi‐ schen sichtbaren und nicht sichtbaren Tiefenstrukturen. Pauli (2006a/ 2006b) wiederum präzisiert, dass sich Tiefenstrukturen in Partizipationsformen und/ oder der Entwicklung von fachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zeigen und i. d. R. nur von Experten und Expertinnen erkannt werden können. Dass Tiefenstrukturen für das fachliche Lernen von Bedeutung sind, davon kann inzwischen ausgegangen werden. Wilhelm/ Luthiger (2020) führen aus, dass Lernende über Tiefenstrukturen zu einem Thema hingeführt und so fachliche und überfachliche Kompetenzen aufgebaut würden. Sie bemerken zudem, dass Tiefenstrukturen bereits beim Planen von Unterricht zu erfassen seien. Ausserdem sei die Rolle der Lehrperson insbesondere beim Orten des Aufgabenpotenzials bedeutsam. In Bezug auf lehrseitige Voraussetzungen ar‐ beitet Kirchhoff (2017, 120) in diesem Zusammenhang mit dem Begriff des fachdidaktischen Professionswissens als Wissen um schülergerechtes Erklären und Repräsentieren, dem Wissen um Schülerkognitionen und jenes um das Lehr-/ Lernpotenzial von Aufgaben. Sie unterscheidet ausserdem zwischen fach‐ didaktischem Professionswissen und Fachwissen, als vertieftem Hintergrund‐ wissen über Fachinhalte einer Bildungsstufe. Zusammengefasst heißt das, dass Tiefenstrukturen für das fachliche Lernen bedeutsam sind, für die Fremdsprachendidaktik und das Sprechen lehren und lernen ist der Begriff „Tiefenstrukturen“ in der Beziehungs- und Unterstützungs‐ kultur, also der sozialen Interaktion, und der Wissens- und Lernkultur, also der Entwicklung fachlicher Kompetenzen, allerdings noch genauer zu konturieren. 95 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="96"?> Anzunehmen ist fernerhin, dass die Ziel- und Stoffkultur mit dem Erkennen der fachlichen Komponente des Unterrichtsmaterials dabei eine Rolle spielt. 2.2 Empirisches Wissen aus der Sprechlehr-/ lernforschung Als Qualitätsmerkmal zur Entwicklung speziell mündlicher Kompetenzen werden in der Literatur wirklichkeitsnahe Sprachsituationen (Dolz/ Schneuwly 1998) genannt, welche in gestaltbaren Interaktionen ins Klassenzimmer zu transferieren sind. Forschungsarbeiten zur Gestaltung von Lehr-/ Lernprozessen entstanden in den letzten beiden Dekaden in unterschiedlichen Kontexten und unter unterschiedlichen theoretischen Vorannahmen. Festgehalten werden kann, dass die Gestaltung von Sprechlehr-/ lernprozessen im Klassenzimmer ein komplexes Unterfangen ist. Bei der Wissens- und Lernkultur kann das Verwenden der Fremdsprache auf der Lektionsoberfläche als kognitiv anregend bezeichnet werden (DESI 2006). Darüber hinaus sind Hörkompetenzen in Sprechkompetenzen (Sambanis 2007) zu transferieren, ein Prozess der insbesondere im elementaren Fremd‐ sprachenunterricht als anspruchsvoll bezeichnet werden kann (Otha 2001; op.cit. Aguado 2010, 820). Bei der Unterstützungs- und Beziehungskultur spielen soziale Beziehungen in der Klasse eine Rolle (Kubanek-German 2003; op.cit. Sambanis 2007, 149) genauso wie die fachgerechte (Pekarek Doehler/ De Pietro, 2008) und passgenaue Lernunterstützung in der Tiefenstruktur von Unterrichtsgesprächen (Goldenberg/ Saunders 2006; Young/ Miller 2004) eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, welche sich im Längsschnitt einer Interak‐ tion zudem verändert (Young/ Miller 2004). Imgrund (2015, 2017) und Imgrund/ Radisch (2014, 2018a) explorieren schliesslich einen systematischen Zugang zum Erforschen von fachdidaktischen Qualitätsmerkmalen. Auf der Grundlage des Angebots-Nutzungs-Modells für Unterrichtsqualität und -wirksamkeit (Reusser/ Pauli 2010) untersuchen sie, welche Lehrprozesse das Sprechen lernen im elementaren Französischunter‐ richt einer 6. Primarschulklasse im 2. Lernjahr unterstützen. In der 6. Primar‐ schulklasse sind die Schülerinnen und Schüler 11 - 12 Jahre alt. Die Studie ist auf der Basis von acht Fällen (01-08) konzipiert. Je zwei Fälle (z. B. 1 + 2 oder 03 + 04) bildeten ein Fallpaar. Dem Fallpaar war vorgegeben, welche unité es unterrichten sollte. In jedem Fallpaar wird dann die Entwicklung von Sprechlehr-/ lernprozessen in einem kurzen Längsschnitt von zwei verschiedenen Lernzyklen untersucht, welche innerhalb von drei Wochen‐ lektionen stattfinden: dem Aufbau- und dem Festigungszyklus. In den beiden Zyklen werden die gleichen Nutzens- und Angebotsmerkmale analysiert und die Analyseergebnisse der Zyklen dann mit Blick auf die Kompetenzentwicklung 96 Bettina Imgrund <?page no="97"?> trianguliert. Nutzensmerkmale sind z. B. Erlebte Kompetenzunterstützung sowie Quantität und Qualität von Sprechkompetenzen. Angebotsmerkmale sind Struk‐ turiertheit des Lehrdiskurses, Steuerung der Lernunterstützung und Kognitiver Anspruch der Aufgabe. Auf der Ebene des Qualitätsvollen Lehrhandelns sind die Ergebnisse aus der Studie von Imgrund (2015/ 2017) und Imgrund/ Radisch (2014/ 2018) bereits gut dokumentiert. In ihrer Arbeit können sie aufdecken, welche Lehrprozesse das Sprechen lernen unterstützen. Drei der vier Fallpaare brachten in der Analyse Kontraste als Ergebnis hervor. Das heisst, dass in den Klassen pro Fallpaar der gleiche Lerngegenstand unterrichtet wurde, die Klassen aber einen unterschiedlichen Nutzen aus dem Lernangebot der Lehrperson gezogen haben. Die Studie bestätigt somit die Annahme, dass der Lernnutzen der Klasse mit der Qualität des tiefenstrukturellen Lehrangebots zusammenhängt, welches die Lehrperson den Lernenden bei einem bestimmten Lernstand in einem be‐ stimmten Lernzyklus unterbreitet. Lernunterstützenden Lehrpersonen gelingt es beim Wissenstransfer in der Wissens- und Lernkultur, das Vorwissen der Lernenden aktiv und angemessen in den Lernprozess einzubeziehen und gleich‐ zeitig für die neu zu erlernenden Teilkomponenten der Kompetenz Sprechen den richtigen Fokus zu setzen. Um nähere Hinweise auf das Konstrukt „Tiefenstrukturen“ als Qualitätsdi‐ mension von Sprechlehr-/ lernprozessen zu erhalten, sollen nachfolgend ausge‐ wählte Fälle aus der o. g. Studie dargestellt werden. 3 Tiefenstrukturen als Qualitätsdimension von Sprechlehr-/ lernprozessen Die Fälle wurden aus der Sicht einer Expertin reanalysiert. Erkenntnisleitend waren dabei: die Datenstruktur der Studie in Form von vergleichbaren Fällen, die Kontraste bildeten, und die Möglichkeit, die Entwicklung von Sprechlehr-/ lern‐ prozesse in einem kurzen Längsschnitt untersuchen zu können. Nachfolgend werden Ergebnisse aus der Beobachtersicht und der Nutzersicht dargestellt, welche das Kontrukt „Tiefenstruktur“ illustrieren, um die Ergebnisse dann in den Teilkulturen des Didaktischen Dreiecks zu verorten. 3.1 Fall 07+08: Struktur des Lerngegenstands und Partizipation der Lerngruppe im Aufbauzyklus Lehrperson 07 (LP07) wendet in ihrem Unterricht Prinzipien der Mehrspra‐ chigkeitsdidaktik an, über welche andere Sprachen aufgewertet werden und sprachliches Vorwissen aus lebensweltlichen und schulischen Sprachen nutzbar 97 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="98"?> gemacht werden soll (Lehrplan Passepartout 2016). Dies geschieht mit dem Ergebnis, dass der Unterricht von den Lernenden gestört wird. Der Unterricht in Klasse 07 beginnt mit dem Einführen des französischen Alphabets und der Orientierung durch die Lehrperson „Aujourd’hui on apprend l’alphabète en français“. Danach wird jeweils ein Lernender aus einer anderer Muttersprache von der Lehrperson aufgerufen und nach dem bulgarischen Alphabet, dem tamilischen, dem italienischen und dem englischen Alphabet gefragt. Der Unterricht läuft dabei aus dem Ruder. Der Rest der Klasse fühlt sich nicht angesprochen, woraufhin die Lehrperson die Klasse zur Partizipation zu zwingen versucht. Die Klasse soll erst das deutsche und dann das französische Alphabet im Chor laut sprechen. Von den 12jährigen wird diese Sprechübung nicht ernst genommen und veralbert. Im nachgängigen Gruppeninterinterview, bei dem die Szene angeschaut wird und die Lernenden den Unterricht kommentieren können, bringt ein Schüler das Scheitern des Lehrangebots aus der betroffenen Nutzerperspektive eindrücklich auf den Punkt. Die Kompetenzen seiner Lehrperson und den Nutzen für die Klasse kommentiert er wie folgt (Beispiel 1): Beispiel 1: Fehlende methodische Passung für das zu Erlernende S3: Französisch spricht er [der Lehrer] gut, wie ich auch im Fragebogen ausgefüllt habe. Aber nur ein Problem ist, das, was er ausspricht, die Hälfte versteht niemand und dann fragt man nach, wawas es heisst, und dann kann man auch wieder dazulernen und was er nicht gut macht, ist eben immer nur auf eine Person. Wenn diese Person spricht, schaut er nur auf diese, und dann können die anderen die Sau rauslassen […] dann ist er nur noch auf dieser Person und manchmal finde ich, er hat nur Kontrolle über eine Person, nicht über die ganze Klasse. Mit Bezug auf die Teilkulturen des Didaktischen Dreiecks und die gestaltbaren Lehr-/ Lernprozesse kann gesagt werden, dass es LP07 für seine Klasse nicht gelingt, eine methodische Passung zwischen der Beziehungs- und Unterstüt‐ zungskultur und der Wissens- und Lernkultur herzustellen. Der Unterricht in Klasse 08 startet damit, dass die Lernenden Buchstaben, die auf ihren Tischen liegen, nach vorne bringen und in der richtigen Reihenfolge an die Tafel heften. Im weiteren Lehr-/ Lernprozess erhalten die Lernenden von der Lehrperson beim Erlernen des französischen Alphabets dann unterschiedlich differenzierte Hilfestellungen in Form von instruktiven Vorgaben, etwa beim Vor- und Nachsprechen des Alphabets, beim Erlernen der Aussprache schwie‐ riger Buchstaben wie z. B. G oder Y. In der Interaktion zwischen Lehrperson und Klasse werden die lehrseitigen Instruktionen jeweils durch eine konversa‐ tionelle Gesprächsführung unterbrochen, etwa wenn Lernende kollektives oder 98 Bettina Imgrund <?page no="99"?> individuelles Vorwissen aus dem Englischunterricht einbringen können, wie z. B. bei den Buchstaben H oder W. Darüber hinaus erhalten die Lernenden differenzierte fachliche Hinweise auf besondere Buchstaben des französischen Alphabets, wie z. B. das è et é. Die von Lehrperson 08 (LP08) gewählte Unterrichtsgestaltung wird im Interview von der Klasse wertgeschätzt. Die Lernenden bemerken die Kom‐ petenzunterstützung und schätzen das methodisch-didaktische Vorgehen der Lehrperson im Französischunterricht, welches sie für den Fremdsprachenunter‐ richt motiviert (Beispiel 2 und 3). Beispiel 2: Inhaltlicher Beitrag der Klasse zum Lehr-/ Lernprozess im Aufbau‐ zyklus I: Kann man das mal mit Beispielen belegen, jetzt aus dieser letzten, aus dieser letzten Lektion? Was ist denn gut? […] S1: Also, ja. Und auch, dass wir selbst mal etwas machen können, dass nicht schon alles steht. Dass wir auch selbst, ja I: An was denkst du konkret? S1: Ja eben, auch das mit dem, mit dem Buchstaben nach vorne bringen. […] Beispiel 3: Methodenkompetenz der Lehrperson S2 „[…] beim Französisch versteht man weniger [als beim Englisch], aber Frau 08 macht es halt gut. Und ich hätte lieber bei Frau 08 Englisch. Weil, ja es ist, Frau 08 macht den Unterricht eigentlich gut, sehr gut. Darum würde ich gerne mal bei ihr Englisch haben und nicht bei Frau X“ LP08 stellt beim Handeln im Aufbauzyklus eine methodische Passung zwischen der Struktur des Lerngegenstands, also der Anzahl der Buchstaben, und der Klasse, also der Anzahl der Lernenden, her. Die Passung ist ausserdem genau auf das sprachliche Vorwissen der Lernenden abstimmt. Konkret heisst das, das diese aktiv partizipieren, weil sie ihr Vorwissen zur Struktur der Buchstabense‐ quenz aus dem Englisch- und Deutschunterricht nutzen und die Buchstaben an die Wandtafel bringen, um dann jeweils eine passgenaue Unterstützung für einen aktiven Wissenstransfer beim Erlernen der Aussprache und den Besonderheiten der französischen Sprache zu erhalten. LP08 hat das Potenzial der Aufgabe für ihre sechste Klasse, die sich gern bewegt und im Aufbauzyklus Sicherheit in der Aussprache sucht, erkannt. Mit Blick auf die Teilkulturen des Didaktischen Dreiecks und die gestalt‐ baren methodischen Lehr-/ Lernprozesse kann festgehalten werden, dass das beobachtbare methodische Handeln von LP08 in der Unterstützungs- und 99 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="100"?> 1 Erläuterungen zu den Transkriptauszügen: „T“ = „Lehrperson“ als Turnbezeichnung; „S“ = „Schülerin/ Schüler“; SN = „nächster Schüler ohne Intervention der LP“; „LP“ = „Lehrperson“ in der Beschreibung; „(..)“ kennzeichnet Pausen von weniger als drei Sekunden; „X-“ = Die Äußerung enthält Unregelmäßigkeiten im inneren Diskurs, welche die Kommunikation stören; „X+“ = Die Äußerung enthält lernunterstützende Hilfen im inneren Diskurs; „Z-“ = Das äußere Diskursverhalten ist fachgebunden, schränkt aber die französischsprachige Sprachproduktion der Lernenden ein; „Z+“ = Eine Sprecherin oder ein Sprecher äußert sich und behält dabei die Diskursstruktur bei. MAJUSKELN ein Lernender wird aufgerufen, ohne sich gemeldet zu haben. Beziehungskultur beim Aufbau der Wissens- und Lernkultur im Französisch‐ unterricht auf der elementaren Stufe zu einer psychologisch-didaktischen Qua‐ litätsdimension führt. In der Ziel- und Stoffkultur scheint LP08 die Sequenz des Alphabets, die Parallelitäten zwischen Englisch und Deutsch erkannt zu haben und die Besonderheiten des französischen Alphabets zu kennen. 3.2 Fall 03: Struktur des Lerngegenstands und Entwicklung der Partizipation im Aufbau- und Festigungszyklus Lehrperson 03 (LP03) führt im Aufbauzyklus das Wintersportvokabular ein. Diese Interaktion zwischen Lehrperson und Klasse ist so organisiert, dass LP03 beim Semantisieren des Wortschatzes über ein Wimmelbild zuerst den Oberbegriff gibt „C’est un vocabulaire de sport d’hivers“ und das Gespräch dann aus der Struktur der bildlichen Darstellung heraus gestaltet : „Il y a des objets de sport“ und „Il y a de différentes activités“. Die Unterstützungs- und Beziehungskultur beim Aufbau der Wissens- und Lernkultur ist im Aufbauzyklus so organisiert, dass LP03 auf eine Aktivität oder einen Gegenstand zeigt, das Wort vorspricht und die Lernenden das Wintersportvokabular zunächst in Einzelwörtern (Quantität) imitierend nach‐ sprechen müssen (Qualität) (Beispiel 4). Die Lehrperson verweist dabei implizit auf Parallelen zwischen Sprachen, die den Lernenden bekannt sind „Ce mot à moitié parallèle vous le comprenez sûrement“, z. B. bei „le snowboard“, oder sie gibt erklärende Hinweise zu kulturellen Besonderheiten, wie z. B. dem Larousse als Wörterbuch oder der Pluralbildung des Wortes Ski im Deutschen und im Französischen. Beispiel 4 1 : Wortschatzeinführung und Partizipation im Aufbauzyklus T: -Quelle belle feuille (..) c’est un grand dessin un vraiment grand. Et (..) j’ai l’honneur de vous présenter le vocabulaire de l’unité quatorze. (..) C’est un vocabulaire (..) X+ des sports d’hivers (..). Ce mot parallèle presque à moitié parallèle vous le comprenez sûrement (..). Et maintenant il y a (..) différentes activités (..). X+ Il y a différents objets. (..) [LP 100 Bettina Imgrund <?page no="101"?> legt den Stift auf die Folie und zeigt zuerst eine Gondel, dann einen Skifahrer, dann ein Snowboard] […]. …. T: Un autre objet (..) ici (..) et ici (..) il y en a plusieurs (..) ça c’est une luge. [LP legt den Stift auf dem Hellraumprojektor auf einen Jungen, der Schlitten fährt] X+ La luge (..) féminine. (..) MICHEL répète l’expression. S3: La luge. Im Festigungszyklus gestaltet LP03 den Lernprozess so, dass die Lernenden das Vokabular der unité in einer komplexen Kommunikationssituation in Sätzen (Quantität) und weitgehend ohne Lehrperson kommunikativ flexibel (Qualität) untereinander anwenden können (Beispiel 5). Die Lernenden verwenden dabei den Imperativ, den sie als Vorwissen aus der Klasse 5 mitbringen. Sie fordern sich gegenseitig auf, mit der Sprache zu handeln, z. B. mit dem Chunk „Montre-moi la luge“, worauf ein anderer Schüler sprachhandelnd mit „Voilà la luge“ antwortet und den Schlitten auf dem Wimmelbild an der Wandtafel zeigt. Die Aufgabe ist so angelegt, dass die Lehrperson als Expertin modellhaft nur den Auftrag vorgibt. Der Ablauf danach erfolgt nahezu ohne die Lehrperson. Innerhalb des Lernzyklus steigt der kognitive Anspruchsgehalt nochmals an, indem zwei weitere Imperative „Prends“ und „Donne-moi“ von der Lehrperson eingeführt werden. Beispiel 5: T: Et maintenant attention (..) il y a la question montre-moi. (..) Montre-moi [LP nimmt einen Zeigestock und zeigt auf die Begriffe auf dem Boden] (..) vous pouvez choisir un objet. (..) Z+ Montre-moi le télés (..) le téléski. [LP gibt den Zeigestock einer Schülerin und zeigt mit der Hand auf die Folie] … SN6: MIRA (..) montre-moi la luge. … SN1: Voilà (..) la luge. [Schülerin zeigt dabei auf die Folie] FABIENNE montre-moi la piscine-couverte. SN5: Voilà la piscine-couverte. SN5: NOAM (..) montre-moi (..) la neige. SN3: Voilà la neige. T: Z++ Stop NOAM stop. (..) Tu gardes cet ordre. (..) Tu la gardes et maintenant moi. (..) J’ai une autre un autre ordre (..) je dis PRENDS. (..) Prends la patinoire (..) HAVA prends la patinoire. [Schülerin nimmt die Karte mit dem Wort „patinoire“]. 101 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="102"?> Zwischen Aufbau- und Festigungszyklus entwickelt sich das Lernen von einer niedrigen zu einer höherwertigen Partizipation. Diese Entwicklung betrifft fachliche Merkmale in der Quantität, indem die Schülerinnen und Schüler zunächst Wörter und dann Sätze sprechen, wie auch spracherwerbsrelevante Merkmale, etwa beim imitierenden Nachsprechen im Aufbauzyklus und dem kommunikativ flexiblen Sprachhandeln im Festigungszyklus. Während die Partizipation im Aufbauzyklus ausserdem weitgehend fremdbestimmt ist, ist sie im Festigungszyklus eine weitgehend autonome. Sie findet zwischen den Lernenden statt, die sich gegenseitig aufrufen und somit selbst ein Teil der Interaktion sind. LP03 gelingt es beim methodisch sichtbaren Handeln, eine methodische Passung zwischen der fachlichen Struktur des Lerngegenstands und der Schü‐ lergruppe sowie deren fachlichem Vorwissen herzustellen. Im Aufbauzyklus arbeitet sie mit den Wortschatzstrukturen von Gegenständen und Aktivitäten als Ordnungschemata. Im Festigungszyklus arbeitet die Lehrperson bei der me‐ thodischen Gestaltung mit dem Imperativ. Die Progression ist entlang von drei Imperativen gestaltet und der bewegte Unterricht entsteht aus dem Modus «Im‐ perativ» und seinem Aufforderungscharakter. In beiden Lernzyklen wird das Lernen von der Lehrperson durch eine qualitätsvolle Interaktion unterstützt, z. B. durch das Benennen von Vorkenntnissen, klaren Gesprächsstrukturen und modellhaftem Demonstrieren als Sprechlernhilfe. Die Lernenden wertschätzen das kompetenzunterstützende Lehrarrange‐ ment, bei dem sie ihre im Unterricht erworbenen mündlichen Französischkom‐ petenzen mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern erleben können (Beispiel 6). Sie wertschätzen ausserdem die Kooperation mit der Lehrperson (Beispiel 7), bei der es beim Lernen voran geht: Beispiel 6: Schülerseitiges Kompetenzerleben im Festigungszyklus S2: „[…], dass wir selber sprechen können zu den Kindern, die Fragen stellen, und dann die eigenen Kinder wieder antworten. Das find ich auch sehr cool. Dass wir sehr viel auch mündlich machen“. Beispiel 7: Effizientes Lernen im Plenum mit der Lehrperson S3: […] ich finde es auch besser, im (…) Kreis (…). Denn dort kann man auch Herr 03 fragen und (…) kann man auch richtig vorwärts arbeiten. Wenn man im Duo ist (…) und dann muss man zuerst strecken [sich melden], und dann kommt dann noch Herr 03, und wenn noch andere strecken, kann es manchmal bisschen lange dauern. […] Mit Blick auf die Teilkulturen des Didaktischen Dreiecks und die gestaltbaren methodischen Lehr-/ Lernprozesse heisst das, dass das methodische Handeln 102 Bettina Imgrund <?page no="103"?> von LP03 in der Unterstützungs- und Beziehungskultur beim Aufbau der Wissens- und Lernkultur im Französischunterricht auf der elementaren Stufe zu einer psychologisch-didaktischen Qualitätsdimension führt. Die methodische Passung ist beim Lehren und Lernen im Aufbauzyklus genauso präzise wie im Festigungszyklus. Eine Lernentwicklung zwischen den beiden Zyklen ist an der Partizipation und der Entwicklung von Fachkompetenzen beobachtbar und wird von den Schülerinnen und Schülern auch so erlebt. In der Ziel- und Stoffkultur scheint LP03 die Wortschatzstrukturen des Wimmelbildes und im Festigungszyklus die Dimensionen des Imperativs erkannt zu haben. Nachfolgend ist nun festzuhalten, wie der Begriff „Tiefenstrukturen“ fürs fachliche Lernen im Fremdsprachenunterricht gefasst und wie der Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen für Französischstudierende gestaltet werden könnte. 4 Wissen aus der Unterrichts- und Professionsforschung als Wegleitung für den Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen Auf der skizzierten theoretischen Basis und den Erkenntnissen zu Tiefenstruk‐ turen, die über das methodische Handeln im Französischunterricht sichtbar werden, denen aber tiefere Kenntnisse in der Ziel- und Stoffkultur hinterlegt zu sein scheinen, sollen Überlegungen zum Aufbau professionsspezifischer Kompetenzen von Französischlehrpersonen in Fachdidaktikmodulen angestellt werden. Dies geschieht in zwei Abschnitten: Tiefenstrukturen und fachdidak‐ tisches Professionswissen von LP03 und LP08 und daran anschliessenden Überlegungen zum Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen in Fach‐ didaktikmodulen. 4.1 Tiefenstrukturen und fachdidaktisches Professionswissen von LP03 und LP08 Mit ihrem stufenspezifischen Fachwissen in der Ziel- und Stoffkultur (er)kennen LP03 und LP08 offenbar die fachliche Struktur des Lerngegenstands und die Be‐ sonderheiten der französischen Sprache, welche den Lerngegenstand betreffen. Sie (er)kennen darüber hinaus die Bezüge des Lerngegenstands zu anderen schulisch erworbenen Sprachen und über den Lehrstoff des Jahrgangs hinaus. Fachliche Strukturen eines Lerngegenstands können wie folgt beschrieben werden: Sie können als ganze Einheit sequenziell strukturiert sein, wie z. B. das Alphabet (LP08), oder thematische Begriffsordnungen umfassen, wie z. B. Gegenstände und Aktivitäten beim Wortschatzlernen, oder aber auch einfach 103 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="104"?> nur eine Anzahl von sprachlichen Teilelementen beinhalten, wie z. B. drei Imperative (LP03). Verben haben nochmals eine eigene fachliche Tiefenstruktur. Mit ihrem fachdidaktischen Professionswissen gelingt es den beiden Lehrper‐ sonen ihre Erkenntnisse aus dem fachlichen Klären in der Ziel- und Stoffkultur dann zu den Bedingungen in der Klasse in Beziehung zu setzen und in der Be‐ ziehungs- und Unterstützungskultur fein abgestimmte Methoden zum Sprechen lernen daraus abzuleiten, welche in der Wissens- und Lernkultur den richtigen Fokus treffen. Die gewählten Methoden sind für Lernende in einem bestimmten Lernzyklus kognitiv aktivierend, binden aber auch ihre Vorkenntnisse angemessen ein. Bei den Lehrhandlungen zeichnet sich ab, dass methodisch zunächst die Struktur des Lerngegenstands handlungsleitend zu sein scheint. Die Struktur wird als Präkonzept vorausgesetzt und / oder genutzt, um einen Lehr-/ Lernprozess aktivierend zu gestalten, wie z. B. bei der Sequenz des Alphabets oder der Progression bei den drei Imperativen. Dieses Vorwissen wird dann mit dem Lernen von Französisch in Verbindung gebracht. In einem Lernzyklus wiederum scheinen die untersuchten Lehrpersonen die methodische Gestaltung des Lehr-/ Lernprozesses sehr genau entlang der fach‐ lichen Struktur des Lerngegenstands geplant zu haben. Die Gestaltung betrifft die Passung zwischen der Struktur des Lerngegenstands und den pädagogischen Strukturen in der Lerngruppe, wie z. B. bei der Anzahl der Buchstaben und jener der Lernenden. Beim Wissenstransfer trägt sie vor allem aber sehr präzis dem kollektiven Vorwissen einer Lerngruppe in einem Lernzyklus und den kognitiven Herausforderungen des Lerngegenstands Rechnung. Teillernziele der Wissens- und Lernkultur in der Kompetenz Sprechen, wie z. B. formelhaftes Nachsprechen im Aufbauzyklus oder kommunikativ-flexibles Sprechen im Festigungszyklus, werden dann pro Lernzyklus strukturiert aufgebaut. Die Unterrichtsgestaltung in verschiedenen Lernzyklen betrifft darüber hinaus den lehrseitigen Entscheid zur Lernsteuerung. Je nach Lernzyklus und Lernstand bearbeiten beide Lehrpersonen zur Sicherung der französischen Aussprache und aus Gründen der Unterrichtseffizienz eine Teilaufgabe zunächst eher lehrgesteuert, wie z. B. im Aufbauzyklus, bevor sie dann eher aufgabenge‐ steuert weiterverarbeitet wird, wie z. B. bei LP03. LP03 und LP08 gelingt es mit ihrem stufenspezifischen Fachwissen, den Lerngegenstand fachlich genau zu fassen und mit ihrem fachdidaktischen Professionswissen zur Perspektive der Lernenden in Beziehung zu setzen. Ihre Erkenntnisse aus dem klärenden Planen können sie in einem aktiven Wissenstransfer ins Klassenzimmer transportieren. Der aktive Transfer, der für Experten und Expertinnen sichtbar ist, besteht darin, dass die Schülerinnen und 104 Bettina Imgrund <?page no="105"?> Schüler Gelerntes anwenden können und Neues hinzulernen. Die Klasse kann so ihre Kompetenzen sozial und fachlich erleben. Dies geschieht methodisch in den Tiefenstrukturen pro Lernzyklus. In den Lernzyklen gestalten die Lehrpersonen einen kognitiv anregenden Unterricht, erhalten die Schülerinnen und Schüler von der Lehrperson Sprachhandlungs‐ modelle, kooperiert die Klasse in diversen Formen mit der Lehrperson oder untereinander. Dabei hört und spricht sie im Klassenraum Französisch. Die Analyseergebnisse von LP03 und LP08 legen offen, auf welcher Ebene die Lehrpersonen den Lehrstoff in der Ziel- und Stoffkultur für ihre Bildungsstufe verstanden haben und wie sie den Stoff nach dem fachlichen Klärungsprozess in der Beziehungs- und Unterstützungskultur methodisch präzise auf die Bedin‐ gungen in ihrer Klasse transferieren können, sodass diese in der Wissens- und Lernkultur zum Sprechen angeregt wird. Insgesamt kann ausserdem festgehalten werden, dass Sprachhandlungen als Produkt für Lernende einen hohen Motivationswert für das Fach Franzö‐ sisch bergen. Der Prozess, der zum Produkt Sprachhandlung auf dieser Stufe führt, wird von Schülerinnen und Schülern dann als motivierend erlebt, wenn er strukturiert abläuft. An diesem strukturierten Kompetenzaufbau haben Lehrpersonen durch die Gestaltung von tiefenstrukturellen Prozessen einen maßgebenden Anteil. 4.2 Überlegungen zum Aufbau von professionsspezfischen Kompetenzen in Fachdidaktikmodulen Für die Ausbildung von Primarschullehrpersonen, die in der Schweiz als Generalisten an Pädagogischen Hochschulen ausgebildet werden und deren Ausbildung in den Fachwissenschaften Linguistik, Literaturwissenschaft und Landeswissenschaften eher spärlich ist, sollen aus dem o. g. Befund einige Über‐ legungen als Wegleitungen an eine hochschulgerechte Ausbildung formuliert werden. Die Ausbildung kann sehr gut entlang der Unterrichtsmaterialien aktueller Lehrmittel erfolgen. Maßgebend ist hierbei ganz klar die methodische Leitidee der Aufgaben- und Handlungsorientierung, welche sinnvolle Aufgaben für eine Altersgruppe vorgibt und auf das Erstellen eines Lernprodukts abzielt. Die Leitidee dieser aktuellen methodischen Strömung, die für fremdsprachliches Lernen mit der Produktorientierung sehr plausibel erscheint, darf gemäss sozialkonstruktivistischen Theorieprämissen (Reusser/ Pauli 2010) aber auch kritisch eingeordnet werden. Wie die Analyseergebnisse zeigen, verlaufen Lehr-/ Lernprozesse im Klassenzimmer als Ko-Konstruktion in der Gruppe gemeinsam mit der Lehrperson entlang der Aufgabe. Das heißt, dass beim 105 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="106"?> Planen von Unterricht mit dem Material und der methodischen Umsetzung die Dimensionen der Lernerautonomie genauer auszuloten sind und speziell beim Sprechen lehren und lernen Teillernprozesse und die Rolle von Lehrpersonen genauer in den Blick zu nehmen sind. Beim Aufbau von Professionswissen könnte bei der Gestaltung von Fremd‐ sprachendidaktikmodulen ebenfalls das Prinzip von Oberflächen- und Tie‐ fenstrukturen (Reusser/ Pauli 2010) angewandt werden. Bei der Wahl der Unterrichtssprache wären dies auf der Oberfläche die Verwendung Unterrichts‐ sprache Französisch oder Deutsch in verschiedenen Sozialformen je nach Rolle der Lehrperson und in der Tiefenstruktur die Kenntnis von Gestaltungsmerk‐ malen eines Unterrichtsgesprächs im Verlauf eines Lehr-/ Lernprozesses. Beim Klären des Lerngegenstands sollten die Studierenden zunächst mit dem Lehrstoff des Lehrmittels auf der Oberfläche vertraut gemacht werden, wie z. B. „La rentrée scolaire“ (U1) vs. „Les loisirs“ (U3) (dis donc 5 2017) oder „Drôle de famille“ mit Verwandtschaftsbeziehungen (U5) (dis donc 5 2017) und „Milles manières de vivre“ (6) (dis donc 6 2017). Die Kenntnis der einzelnen Themen mit ihren Wortschatzfeldern konstituiert im Längsschnitt des Lehr-/ Lernprozesses einerseits Fachwissen und andererseits fachdidaktisches Professionswissen für einen aktiven fremdsprachlichen Wissenstransfer. Dieser Wissenstransfer kann dann bei den Schülerinnen und Schülern über das Abarbeiten eines i. d. R. abgeschlossenen Tasks einer unité und Wissen als Kompetenz im Klassenraum erlebt werden. In Tiefenstrukturanalysen von Bildern und Textsorten, wie z. B. sich vorstellen oder kurzen Biographien, die typischerweise auf der Primarstufe vorkommen, könnten Studierende an das Erkennen von fachlichen Tiefenstrukturen von Unterrichtsmaterialien herangeführt werden. Jeder Fremdsprachenunterricht sollte auch Sprechunterricht sein. So stellt sich die Frage, ob die Lehrperson immer den methodischen Vorgaben des Lehrmittels einer unité folgen muss. Bei der Gestaltung der Oberfläche wird zwar beim Task meist dem Prinzip von der Rezeption zur Produktion gefolgt, bei der Bearbeitung der Teilaufgaben hingegen überwiegt die Rezeption oder die Anwendung von Strategien. In einem Wimmelbild bpsw. sollen Begriffe nur wiedergefunden und umkreist werden und dem Nachbarn auf Deutsch erzählt werden, was verstanden wurde (DD5, 79). Altersgemäss könnte aber die Sprechfreudigkeit von Primarschülerinnen und -schülern in Teillernprozessen genutzt werden und die Freizeitaktivitäten wenigstens sprachproduktiv imitativ genannt werden, bevor der Text zu Freizeitaktivitäten dann leise und laut ge‐ lesen würde. Hier haben Lehrpersonen Gestaltungsraum, um die Unterrichtszeit intensiv zu nutzen. 106 Bettina Imgrund <?page no="107"?> 2 Das ist ein Verbund von Kantonen, die an der französischsprachigen Sprachgrenze liegen. 5 Schlussbetrachtung 5.1 Professionsspezifsche Kompetenzen von Lehrpersonen auf der Volksschulstufe Die Inhalte für den Französischunterricht sind mit der Ziel- und Stoffkultur, also dem WAS, über den Lehrplan und die Lehrmittelmaterialien weitgehend vorgegeben. Mit der Konzeption von kompetenzorientierten Lehrmitteln sind die politischen Vorgaben für die Unterrichtspraxis ausserdem in kompetenz‐ orientierten Aufgaben konkretisiert. Naturgemäss können Aufgaben im Lehr‐ mittel Lehr-/ Lernprozesse jedoch nur Lehrangebote auf einer eher allgemeinen Strukturebene vorschlagen, wie z. B. typische Lesetexte oder Hörtexte, welche dann in ein vergleichbares schriftliches oder mündliches Produkt überführt werden. Dieser Teil des Konzepts „Handlungs- und Aufgabenorientierung“ in der Anwendung der Fremdsprache mit einem Produkt als Ergebnis überzeugt in neueren Lehrmittelentwicklungen, wie z. B. Dis donc. Ergebnisse aus der Unterrichtsforschung, der Evaluation aus den Passepar‐ tout Kantonen 2 , und der Reanalyse zum Professionswissen von LP03 und LP08 zeigen aber auch, dass das Sprechen lernen von Französisch im Klassenzimmer noch eine intensivere Lernunterstützung benötigt. Bei den klärenden Planungen der fachlichen Zusammenhänge vorab und auch bei der Durchführung tragen Lehrpersonen eine grosse Verantwortung. Hierfür benötigen sie Fachwissen und fachdidaktisches Professionswissen (Kirchhof 2017), welches sie in die Lage versetzt, das Unterrichtsmaterial des Lehrmittels als Instrument zu ver‐ stehen, mit dem sie didaktisch-methodisch flexibel agieren und den Unterricht für ihre eigene Klasse gestalten können. Mit Blick auf das fachdidaktische Professionswissen und das darin verortete Wissen um Schülerkognitionen wäre speziell fürs Sprechen lernen zur Kenntnis zu nehmen, dass der Erwerb von Sprechkompetenzen im Klassenzimmer offenbar bedeutend kleinschrittiger als in Lernplan und Lehrmitteln projektiert abläuft. Schülerinnen und Schüler erlernen die Kompetenz Sprechen sprechend. Bei der Gestaltung der Lehr-/ Lernprozesse in der Kompetenz Sprechen durch die Lehrperson ergeben sich dann bemerkenswerte Zusammenhänge zwischen der Prozessinszenierung in der Wissens- und Lernkultur (was genau soll in Bezug auf die Kompetenz Sprechen gelernt werden), und der Beziehungs- und Unterstützungskultur, (wie soll der Prozess fürs Sprechen lernen inszeniert 107 Aufbau von professionsspezifischen Kompetenzen bei Französischlehrpersonen <?page no="108"?> werden). Die Qualität dieser Prozesse scheint letztlich auch mit den Kenntnissen der Lehrperson in der Ziel- und Stoffkultur zusammenzuhängen. 5.2 Ausblick auf die Entwicklung der Fremdsprachendidaktik Die vorliegenden Überlegungen basieren auf einzelnen Fallstudien, welche forschungsmethodisch über Analysen aus der Beobachtersicht und der Schü‐ lersicht sowie die Kontraste zwischen den Fällen abgesichert wurden. Die Fallstudien sind ökologisch valide. Die Ergebnisse bestätigen die Hinweise auf die Bedeutung von Tiefenstrukturen in der Theorie. In dem Artikel konnte ausserdem aufgezeigt werden, wie sich zwei Dis‐ ziplinen, nämlich jene der Unterrichtsforschung und jene der Professionsfor‐ schung gegenseitig bereichern könnten. Dementsprechend könnten für die Entwicklung der Ausbildung von Fremdsprachenlehrpersonen auf der Volks‐ schulstufe zukünftig zwei Desiderate im Vordergrund stehen: Eine klarere Konturierung von fremdsprachendidaktischen Curricula auf der Ebene von Fachwissen und fachdidaktischem Professionswissen für eine Bildungsstufe und das Heranführen von Studierenden an komplexe fremdsprachdidaktische Denkprozesse unter Berücksichtigung des Konstrukts „Tiefenstrukturen“, mit einem Fokus auf Klärungen in der Ziel- und Stoffkultur. Darüber hinaus wären Forschungen angezeigt, welche den Beitrag von Hochschulen zur Ausformung von stufenspezifischem fachdidaktischem Professionswissen in Fremdsprachendidaktikmodulen verstärkt in den Blick nehmen. Literatur Aguado, Karin. 2010. „Sozialinteraktionistische Ansätze“, in: Hans-Jürgen Krumm / Christian Fandrych (ed.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein interna‐ tionales Handbuch. Berlin: Walter De Gruyter, 822-825. Aguado Karin / Schramm, Karin. 2010. „Videographie in den Fremdsprachendidaktiken - Ein Überblick“, in: Karin Aguado / Karin Schramm (ed.): Fremdsprachliches Handeln beobachten, messen, evaluieren. Frankfurt: Peter Lang, 185-214. Baer, Matthias / Fuchs, Michael (ed.). 2006. Didaktik auf psychologischer Grundlage. Von Hans Aeblis kognitionspsychologischer Didaktik zur modernen Lehr-Lernforschung. Bern: h.e.p. 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Sie zeichnet sich durch Merkmale wie Vertrautheit, starke emotionale Beteiligung, Direktheit, Situations- und Handlungseinbindung, Spontaneität, freie Themenentwicklung und referentielle Nähe aus. Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken am Beispiel von Phrasemen der gesprochenen Sprache Christoph Bürgel 1 Mündlichkeit in Lehrwerken Spätestens seit der kommunikativen Wende der 1970-er Jahre hat der Fremd‐ sprachenunterricht zumindest auf theoretisch-konzeptioneller Ebene einen durchgreifenden Wandel erfahren. Das fortan propagierte Leitziel der kommu‐ nikativen Handlungsfähigkeit steht dabei in der Perspektive der kompetenten Bewältigung außerschulischer Kontakt- und Kommunikationssituationen. Dass hier der Mündlichkeit 1 eine besondere Bedeutung zukommt, wird allein durch die Tatsache einsichtig, dass Sprache zu mindestens 75 % (Feyten 1991, 174) mündlich verwendet wird. Deshalb ist die Betonung der Relevanz von Mündlichkeit zurecht zu einem didaktischen Topos in der Theorie und Praxis des Fremdsprachenunterrichts geworden (Eschmann 1993; Scotti-Rosin 1993; Meißner 1999; Burwitz-Melzer/ Königs/ Riemer 2014). So stellt Meißner (2002, 92) fest: „[…] ohne eine erfolgreiche Vermittlung zielsprachlicher Varietäten, insbe‐ sondere solcher der Mündlichkeit [kann, C.B.] der Französischunterricht seine kommunikativen Lernziele nur eingeschränkt erreichen.“ Ungeachtet der nach wie vor ungeklärten empirischen Frage, welchen Stellenwert Mündlichkeit in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts jenseits aller ideologischen Verlautba‐ rungen einnimmt, müssen sich auch die Schulbuchverlage an der Frage messen lassen, welchen Raum sie der Mündlichkeit geben. Die Tatsache nämlich, dass es „kaum Beispiele für einen Unterricht in den ersten Lernjahren gibt, der nicht <?page no="116"?> auf der Grundlage des Lehrwerks erfolgt“ (Leupold 2010, 396) berechtigt zu der Annahme, dass Lernende der Fremdsprache nicht nur durch die Lehrkraft, sondern vor allem auch durch das Lehrwerk begegnen. Das Lehrwerk als Leitmedium des Fremdsprachenunterrichts liefert damit das Sprachmaterial, das sich Französischlernende aneignen sollen, um kommunikativ handlungsfähig zu werden. Wenn Lehrwerke also den Anspruch erheben, auf Kommunikation in Realsituationen vorzubereiten, dann müssen sie ein natürliches, an realen Kommunikationssituationen orientiertes Französisch vermitteln und damit der angemessenen Repräsentation gesprochener Sprache gerecht werden. Deshalb ist die Frage nach der Darstellung gesprochener Sprache in deutschen Franzö‐ sischlehrwerken ein für die Theorie und Praxis des Fremdsprachenunterrichts relevantes Forschungsanliegen, dem sich verschiedene Untersuchungen ver‐ schrieben haben. Dabei ist gesprochene Sprache unter dem Aspekt der spezifi‐ schen sprachlichen Realisierungsmodi, d. h. ihrer lexikalischen, grammatischen und syntaktischen Merkmale und aus der Perspektive der Varietätenlinguistik als spezifische Funktionsform in diaphasischer bzw. diastratischer Dimension in den Blick gekommen. Hinsichtlich der Berücksichtigung mündlicher Varietäten in den Französischlehrwerken Découvertes (Bd. 4 (2007) und 5 (2008)) und À plus ! (Bd. 4 (2008) und Bd. 5 (2009)) kommt Stadie (2011) für die Jugend- und Umgangssprache zu der Erkenntnis, dass hier nur vereinzelt Merkmale aufgegriffen werden. Michler (2011) stellt bei der Durchsicht der alphabetischen Wortlisten von Découvertes und À plus ! (jeweils Bd. 1-4 (2004-2007)) sogar fest, dass Beispiele von Jugend- und Umgangssprache zu „sporadisch und inkohärent [sind, C.B.], um den Schülern ein realistisches Bild der aktuellen französischen Sprache jenseits der Norm zu vermitteln.“ (Michler 2011, 40). In Bezug auf die Repräsentation von Spezifika der gesprochenen Sprache stellt Schöpp (2011, 94) am Beispiel zweier Lehrbuchdialoge in À plus ! (Bd. 2 (2005) und 3 (2006)) fest, dass zwar vereinzelt ausgewählte Merkmale wie Wegfall des Verneinungspartikels ,ne‘ (C’est pas nous), Elision (t’es pas très sympa avec ta sœur) oder Apokopen (sympa) berücksichtigt werden, aber durch die fehlende explizite Thematisierung kein Sprachbewusstsein über Merkmale gesprochener Sprache aufgebaut wird. Schäfer (2009) kommt bei seiner Ana‐ lyse von Tous ensemble (Bd. 1-3 (2004-2006)) zu der Erkenntnis, dass zwar nähesprachliche Merkmale integriert werden, aber dass „das vom Lehrwerk dargebotene Repertoire nähesprachlicher Lexik nur einen ,Tropfen auf den heißen Stein‘ darstellt und der Zentralität des nähesprachlichen Wortschatzes innerhalb des Sprachgefüges kaum gerecht wird“ (Schäfer 2009, 208). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Rössler (2010) für Découvertes (Bd. 1 (2004)), wenn 116 Christoph Bürgel <?page no="117"?> 2 Dass die Vorstellung von Einzelwörtern der Sprachwirklichkeit nicht vollständig gerecht wird, mag schon ein fast triviales Beispiel zeigen: Nimmt man ein vermeintli‐ ches Einzelwort wie coup wird man feststellen, dass es im Sprachgebrauch in Form vielfältiger Wortverbindungen bzw. Phraseme auftritt, wie zum Beispiel pour le coup, pour un coup, sur le coup, du coup, tout à coup, après coup, d’un seul coup, coup sur coup usw. Das Wort coup ist also nur die Spitze eines phraseologischen Eisbergs, unter dessen Oberfläche sich zahlreiche Phrasemkompositionen verstecken. sie betont: „Nur vereinzelt wird authentische Mündlichkeit durch die Integra‐ tion nähesprachlicher Elemente simuliert“ (Rössler 2010, 42), was sie zu dem Schluss führt: „Ausgewählte nähesprachliche Elemente […] sind oft nicht mehr als schmückendes Beiwerk und geben den Dialogen einen gewissen pittoresken Anstrich.“ (ibid.). Bei einer Gesamtschau der vorliegenden Untersuchungen kommt man ei‐ nerseits nicht umhin, eine gewisse Ernüchterung, bisweilen Enttäuschung über die Repräsentation gesprochener Sprache in Französischlehrwerken fest‐ zustellen. Andererseits fällt auf, dass es an einer systematischen quantitativen Untersuchung der Repräsentation gesprochener Sprache fehlt. So ist bislang das zentrale Merkmal gesprochener Sprache nicht in den Blick gekommen: ihre Formelhaftigkeit bzw. phraseologische Prägung. Aus diesem Grund ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung, die Repräsentation von Phrasemen der ge‐ sprochenen Sprache in deutschen Französischlehrwerken zu fokussieren. Dazu wird in einem ersten Schritt die Formelbzw. Phrasemhaftigkeit gesprochener Sprache dargestellt. Anschließend wird die der Untersuchung zugrunde gelegte phraseologische Frequenzliste mit den häufigsten Phrasemen des gesprochenen Französisch präsentiert. Danach werden die Ergebnisse der phraseologischen Auswertung der Lehrwerke Découvertes (Bd. 1-5 (2012-2016) und À plus ! (Bd. 1-4 und Charnières (2012-2016)) vorgestellt und diskutiert. 2 Die Relevanz von Phrasemen in der (gesprochenen) Sprache In neuerer Zeit treten in der Sprachwissenschaft zunehmend Strömungen unterschiedlicher Herkunft in den Vordergrund, die das Wörter-Regel-Modell (word-and-rules approach) der traditionellen und generativen Grammatik à la Chomsky (1980) infrage stellen. Die ‚traditionelle‘ Sprachauffassung, dass Sprache einerseits aus einem Lexikon mit Wörtern und Wendungen und andererseits aus Grammatik mit Formbildungs- und Syntaxregeln besteht, wird fortan durch ein ,konstruktionelles‘ Sprachbild abgelöst. 2 Als zentrales Prinzip von Sprache und Kommunikation wird nunmehr deren Konstruktbzw. Formelhaftigkeit angesehen. So vertritt der britische Kontextualismus 117 Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken <?page no="118"?> 3 Dass diese Erkenntnisse beileibe nicht neu sind, zeigt die von Paul bereits 1880 getroffene Feststellung: „Erst wo sprechen und verstehen auf reproduction beruht, ist sprache da.“ (Paul 1880, 196). (Sinclair 1991; Hoey 2005; de Beaugrande 2005) eine ‚Lexikogrammatik‘, die aus einem Kontinuum von eher lexikalisch geprägten Verbindungen (prendre une décision; pas de souci) bis hin zu eher grammatischen Verbindungen (Nomen/ Verb/ Adjektiv [Gefühl] + que + Subjekt + Verb [Subjonctif] ) besteht. Es sind vor allem die verschiedenen Strömungen der Konstruktionsgrammatik (Goldberg 1995/ 2006; Kay/ Fillmore 1999; Croft 2001), die der oben erwähnten modularen Sprachauf‐ fassung dezidiert widersprochen haben und davon ausgehen, dass Sprache aus Konstruktionen, d. h. konventionalisierten Form-/ Bedeutungspaaren un‐ terschiedlicher Komplexität und Abstraktheit besteht. Trotz je nach Autor unterschiedlicher Begriffsverständnisse von ‚Konstruktion‘, besteht der kleinste gemeinsame Nenner darin, dass sich die Bedeutung einer Konstruktion nicht aus der Bedeutung der in sie eingehenden Bestandteile ergibt. So ist beispielsweise ça va? eine Konstruktion, da die Frage nach dem Gemütszustand nicht aus den beiden Elementen ça und va? direkt hervorgeht. Die sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Konstrukt- und Formelhaf‐ tigkeit von Sprache wurden auch durch empirische Studien aus dem Bereich der korpusbasierten Phraseologieforschung zum quantativen Vorkommen von Mehrwortgebilden in natürlichen Sprachen untermauert. So haben Wray/ Per‐ kins (2000) für die Sprachproduktion von Erwachsenen ermittelt, dass 70 % ihrer Sprache ‚formulaic‘ ist. Erman/ Warren (2000) wiesen für die mündliche Sprachproduktion im Englischen eine Formelhaftigkeit von 58 % nach. Trotz schwankender Prozentanteile und unterschiedlich angesetzter Konzepte von Formelbzw. Konstrukthaftigkeit wurde damit der Nachweis erbracht, dass gesprochene Sprache zu einem hohen Anteil präformiert bzw. formelhaft ist. Die sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Beschaffenheit von (gespro‐ chener) Sprache wurden auch von der Spracherwerbsforschung und Psycholin‐ guistik insbesondere mit Blick auf die mündliche Sprachproduktion reflektiert. Hier besteht Konsens, dass wir beim Sprechen nicht durch die komplementäre und integrative Verarbeitung von Einzelwörtern und Grammatikregeln zu wohlgeformten Sätzen kommen, sondern in hohem Maße auf sprachliche Fertigbauteile verschiedener Art und Ausprägung zurückgreifen (Zydatiß 2010, 224; Wray 2002; Aguado 2002, 2014). 3 So stellt List fest: „Wenn man eine Fremdsprache flüssig spricht, reproduziert man fertige ‚Redeteile‘, inklusive der phonologisch gespeicherten grammatisch richtigen Formen. Man baut in der gesprochenen Sprache nicht Sätze nach grammatischen Regeln auf. Für eine 118 Christoph Bürgel <?page no="119"?> Konzentration auf die Form und bewusste Wahl von grammatischen Markierungen wäre gar keine Zeit“ (List 2002, 128). Dass sich die Sprachproduktion in interaktiven Zusammenhängen zügig voll‐ ziehen muss, erklärt sich aus gesprächspragmatischer Sicht durch das Turn-Ta‐ king bzw. die Sicherung des Rederechts. In der Forschung zur Psycholinguistik wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich die hohe Geschwindigkeit der mündlichen Sprachproduktion und die Flüssigkeit beim Sprechen einzig und allein durch die automatisierte Abrufbarkeit von vorgefertigten Sprach‐ bauteilen erklären. Der Rückgriff auf sprachliche ‚Fertigbauteile‘ beschleunigt die komplexen Prozesse der Sprachproduktion (Levelt 1989), indem sie das Arbeitsgedächtnis entlasten und somit kognitive Kapazitäten für andere Pla‐ nungsprozesse freisetzen. Mündlichkeit heißt aus dieser Sicht die automatisierte Abrufbarkeit von Spracheinheiten zur Realisierung kommunikativer Absichten und deren automatisierte Dekodierung beim Verstehen des Gesprächpartners. All die skizzierten Erkenntnisse der Sprachwissenschaft, Spracherwerbsfor‐ schung und Psycholinguistik führen die hohe Relevanz von Spracheinheiten für das Fremdsprachenlernen vor Augen. Deshalb überrascht es nicht, dass auch die Fremdsprachendidaktik zu der Einsicht gekommen ist, dass Dreh- und Angelpunkt für die mündliche Kommunikationsfähigkeit der Erwerb bzw. die Verfügbarkeit von Spracheinheiten verschiedener Abstraktheit und Komplexität sein müssen (cf. Handwerker/ Madlener 2009; Nattinger/ DeCarrico 1992; Siepmann 2007; Schmale 2021). Diese Erkenntnis hat ihren Niederschlag in verschiedenen didaktischen Ansätzen und Konzepten gefunden, die das Einzelwort überwinden und stattdessen alle Arten von mehr oder weniger komplexen Sprachgebilden als Lern- und Wahrnehmungseinheit vorsehen. So liegt in der Sprachdidaktik des Französischen zum einen das von Segermann (2006/ 2012) konzipierte Jenaer Reformkonzept vor, das von Lernenden analy‐ sierte und segmentierte lexiko-grammatische Einheiten für die Entwicklung der Sprechkompetenz ansetzt. Zum anderen ist der dialogisch-kommunikative Ansatz von Bürgel (2010/ 2011) anzuführen, der ‚kommunikative Formate‘, d. h. relativ stabile und konventionalisierte syntaktisch-prosodische Muster vorschlägt, mit denen Lernende ihre Mitteilungsabsichten ,natürlich‘ bzw. idio‐ matisch in bestimmten dialogischen Gesprächssituationen ausdrücken können (z. B. Qu’est-ce que c’est + ADJ (génial/ cool/ fou) zur emotional-emphatischen Bewertung eines nicht-erwarteten Sachverhalts). Die hohe didaktische Relevanz von Mehrworteinheiten für das Fremdspra‐ chenlernen war der Grund für die Initiierung eines Forschungsprojekts zu einem empirisch abgesicherten phraseologischen Wortschatz des Französi‐ schen, das der Autor zusammen mit Prof. Dirk Siepmann durchführt. Ziel 119 Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken <?page no="120"?> 4 Die folgenden Ausführungen zum Phrasembegriff und der phraseologischen Frequenzliste des gesprochenen Französisch beziehen sich auf die in Siepmann/ Bürgel (2019) vorgestellten Arbeiten, die hier zusammenfassend referiert werden. ist es, auf der Grundlage des Corpus de référence du français contemporain (CRFC) (Siepmann/ Bürgel/ Diwersy 2016) phraseologische Frequenzlisten zum gesprochenen, geschriebenen und gesamten Französisch zu erstellen, die im nächsten Schritt didaktisch zu einem phraseologischen Grund-, Aufbau- und Ausbauwortschatz für das Abitur, das Bachelor- und Masterstudium aufbereitet werden. Von den bereits generierten Frequenzlisten (Siepmann/ Bürgel 2019) ist für die im Rahmen des vorliegenden Beitrags durchgeführte Studie die Liste des Mündlichen herangezogen worden, deren Erstellung und Beschaffenheit im Folgenden vorgestellt wird. 3 Frequente Phraseme des gesprochenen Französisch 4 3.1 Phrasembegriff Das zugrundegelegte weite Begriffverständnis von Phrasemen will dem Umstand Rechnung tragen, dass sich der Blick der traditionellen Phraseo‐ logieforschung, die eher die ,klassischen’ Kategorien wie Redewendungen, Sprichwörter, metaphorische Wendungen behandelt hat, in der neueren Phra‐ seologieforschung weitet und nunmehr auch solche lexikalischen Einheiten berücksichtigt, welche die Merkmale der Polylexikalität, Festigkeit und Idio‐ matizität aufweisen (Burger/ Dobrovol’skij/ Kühn/ Norrick 2007; Schmale 2013; Burger 5 2015). In diesem Sinne definieren wir Phraseme als vorgeprägte lexika‐ lische Einheiten, die aus mindestens zwei Elementen bestehen, einen gewissen Grad an Festigkeit haben, deren Bedeutung sich meist nicht aus der Bedeutung der in sie eingehenden Teilkomponenten ergibt und die von Sprecherinnen und Sprechern einer Sprachgemeinschaft als lexikalische Einheit erkannt und verwendet werden (Siepmann/ Bürgel 2019, 94). Dazu gehören auch die von Gross (1996, 15) bezeichneten „suites à éléments non actualisés“: ● Zusammengesetzte Nomen: cordon bleu ● Zusammengesetzte Verben: avoir pour but de ● Zusammengesetzte Adjektive: à cran ● Zusammengesetzte Adverbien: de longue date ● Zusammengesetzte Präpositionen: grâce à ● Zusammengesetzte Konjunktionen: après que ● Zusammengesetzte Determinative: un nuage de, de cheval (fièvre ~) 120 Christoph Bürgel <?page no="121"?> Hinzu kommen: ● festgefügte Sätze: c’est pas grave, il ne manquerait plus que ça ● Valenzchunks (Heringer 2009): je me disais que, on se croirait dans ● weitere Sequenzen, deren Sinn nicht immer kompositionell ist: dans ma tête. Phraseme unterscheiden sich von Kollokationen darin, dass sie nicht nach dem Basis-Kollokator-Schema gebildet werden (Substantiv-Adjektiv-Kollokation: tristesse infinie; Adverb-Adjektiv-Kollokation: gravement malade; Verb-Sub‐ stantiv-Kollokation: prendre une décision.). Sie sind außerdem präziser definiert als der linguistisch vage Begriff „Chunk“, der als Passepartout-Begriff für alle Arten von mehr oder weniger konventionalisierten Spracheinheiten wie kommunikative Idiome, Kollokationen, Redewendungen, ganze Sätze usw. gebraucht wird. 3.2 Die phraseologische Frequenzliste der gesprochenen Sprache Grundlage für die Erstellung der in Rede stehenden Liste war das 125 Millionen Wörter umfassende sprechsprachliche Teilkorpus des Corpus de référence du français contemporain. Dieses Teilkorpus setzt sich wie folgt zusammen: Medium Subkorpus Größe rein sprech‐ sprachlich 75% Transkriptionen von spontanen Monologen oder Dialogen aus über 200 verschiedenen Arten von Fern‐ sehsendungen 25% Interviews mit Autoren, Wirtschaftsvertretern, Künstlern, Politikern und Sportlern; verschiedene sprechsprachliche Korpora (TALN, CoLaJE und Teile des ESLO 1 and 2) 30 Mill. pseudosprechsprach‐ lich Theaterstücke und Filmdrehbücher Film- und Nachrichtenuntertitel SMS/ Chat Diskussionsforen 30 Mill. 2,5 Mill. 2,5 Mill. 60 Mill. 125 Mill. Tab. 1: Sprechsprachliches Teilkorpus Unter ’pseudo-sprechsprachlich‘ werden solche Genres verstanden, die zwar schriftlich konzeptualisierte Mündlichkeit darstellen, aber eher Merkmale der kommunikativen Nähe als solche der kommunikativen Distanz aufweisen (cf. Koch/ Oesterreicher 2 2011, 8-10). Bezüglich der Transkriptionen von Fernsehsendungen stellt sich die Frage nach der Vergleichbarkeit dieser Daten mit der Sprechsprache außerhalb der 121 Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken <?page no="122"?> 5 Die vollständigen Phrasemlisten sind unter dem Link https: / / kw.uni-paderborn.de/ ins titut-fuer-romanistik/ prof-dr-christoph-buergel/ forschung abrufbar. Medien. Wie Meißner (2006, 248-249) als Antwort auf die Frage ’Quel français enseigner? ‘ feststellt, setzt das Fernsehen „[…] längst die statistische Norm, indem es zahlreiche Idiolekte und Varietäten an Ohren und Augen vieler trans‐ portiert, allerdings so, dass diese innerhalb des Sprach- und Senderaums breit verstanden werden.“ Folglich können die durch das Fernsehen transportierten Varietäten der gesprochenen Sprache als Leitlinie für die Zusammenstellung des mündlichen Korpusteils und die Konzeption von Lehr- und Lernmaterialien herangezogen werdem. Wie eine von Davies (http: / / corpus.byu.edu/ coca) vorgenommene Gegenüberstellung zeigt, besteht eine recht enge Passung zwischen den Transkripten der von ihm verwendeten Talkshows (u. ä.) und der Sprech‐ sprache außerhalb des Mediums Fernsehen. Insgesamt umfasst das sprechsprachliche Teilkorpus einen sehr hohen Anteil an spontan gesprochener Sprache und bildet eine große Bandbreite möglicher Kommunikationssituationen ab. Zur Erstellung der Frequenzliste der gesprochenen Sprache wurde in me‐ thodischer Hinsicht eine Liste von sogenannten 2-4-grams (kontinuierliche Sequenzen von 2-4 Wörtern, die mit einer bestimmten Mindestfrequenz auf‐ treten) erstellt. Zur Ermittlung der 500 häufigsten Phraseme wurde mit dem Frequenzrang 5000 der Frequenzliste der Einzelwörter des CRFC ein Schwellen‐ wert festgelegt, bis zu dem die Analyse der n-grams-Liste durchgeführt wurde. Im Anschluss wurde die Liste manuell durchgesehen, um festzustellen, welche n-grams Phraseme darstellen. Da das Wort, das den Frequenzrang 5000 der Wörterliste einnimmt, 273 Mal im CRFC vorkommt, wurde der Schnitt ebenfalls bei den Phrasemen mit 273 Vorkommen angesetzt. Als Resultat erhält man eine Liste aller kontinuierlicher Sequenzen von mindestens zwei Wörtern, die häufiger vorkommen als das Wort mit dem Frequenzrang 5000. Tabelle 2 zeigt die 20 häufigsten Phraseme der sprechsprachlichen Liste. 5 122 Christoph Bürgel <?page no="123"?> 6 Eine Erklärung für das hohe Auftreten des Phrasems un peu in der gesprochenen Sprache wäre dessen diskursive Funktion der Abschwächung, die Andersen (2002, 321) wie folgt beschreibt: „[il sert à, C.B.] atténuer le message et donc [à, C.B.] le rendre moins direct ou moins agressif, ce qui revient souvent à être plus poli.“ Anders gesagt: Es ist Platz Liste des Mündlichen 1. un peu 2. comme ça 3. parce que 4. il y a 5. quelque chose 6. quand même 7. tout le monde 8. en plus 9. tout de suite 10. c’est vrai 11. tout à l’heure 12. pas mal 13. au moins 14. pas encore 15. de plus 16. pour que 17. bien que 18. eh bien 19. par exemple 20. tu sais Tab. 2: Die 20 häufigsten Phraseme des gesprochenen Französisch Eine genauere Betrachtung der Liste zeigt, dass die Mehrzahl der Phraseme Zwei-Wort-Einheiten sind. Die drei häufigsten Phraseme des gesprochenen Französisch sind: un peu, comme ça und parce que. 6 Darüber hinaus sind feste 123 Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken <?page no="124"?> die häufige Verwendung von linguistischen Höflichkeitsphänomenen im Mündlichen, die un peu zum frequentesten Phrasem der gesprochenen Sprache macht. 7 Eine weiterführende Analyse der Phraseme hat gezeigt, dass zwei Typen von Mehr‐ worteinheiten zu unterscheiden sind: a) Phraseme im eigentlichen Sinne wie du coup, comme ça, par rapport à, on y va und b) multifunktionale Einheiten, die in kom‐ plexeren Kollokationssequenzen oder in diskontinuierlichen kollokativen Sequenzen vorkommen („collocational frameworks“, Renouf/ Sinclair 1991). So tritt das Phrasem dans ma tête in der Sequenz adjectif / verbe / nom [état cognitif positif / négatif] + dans ma tête auf und bringt einen mentalen Zustand zum Ausdruck: clair/ tranquille/ cham‐ bouler/ paniquer/ le bordel/ le brouillon + dans ma tête. Ebenso kann es in der Sequenz nom + verbe de [mouvement] + dans ma tête vorkommen und eine kognitive Vorstellung ausdrücken: idée/ pensée/ image + tourner/ circuler/ défiler/ trotter + dans ma tête. Darüber hinaus finden sich feste Ausdrücke mit dans ma tête, die sich auf das intellektuelle Verstehen beziehen: faire tilt / déclic / clash dans la tête de qn (Je ne sais pas, quelque chose a fait tilt dans ma tête. (cf. Siepmann/ Bürgel 2019, 200). Fügungen (c’est vrai) und Diskursmarker (eh bien, tu sais) typisch für das Mündliche. 7 Zur Beantwortung der Frage, ob die Funktionskategorien der Phraseme in Lehrwerken angemessen repräsentiert werden, wurden im Anschluss an Burger ( 5 2015) drei Kategorien unterschieden (Tab. 2) Phrasemkategorie Funktion Beispiele Referentiell Bezug auf außersprachliche Gegenstände und Sachverhalte (Vorgänge, Zustände, Verhaltens‐ weisen) du matin au soir, tout le monde, pour l’instant Strukturell Herstellen von Zusammenhängen, Relationen und Verbindungen zwischen sprachlichen Ele‐ menten pour commencer, à travers, par rap‐ port à Kommuni‐ kativ Herstellen, Definieren, Vollziehen und Beenden einer kommunikativen Handlung eh bien, tu sais, bonne idée ! Tab. 3: Phrasemkategorien Eine Untersuchung der 500 häufigsten Phraseme des Mündlichen ergab folgende Verteilung nach Funktionskategorien (Abb. 1): 124 Christoph Bürgel <?page no="125"?> 8 So dient du coup zum einen als argumentativer Konnektor in struktureller Funktion dazu, eine Schlussfolgerung einzuleiten: C’est une des premières fois où je partais seule de chez moi sans parents. Du coup, c’était une bonne expérience. Zum anderen kann du coup als Adverb in referentieller Funktion verwendet werden, indem es zur Markierung von Temporalität (im Sinne von du même coup) verwendet wird, wenngleich diese Verwendung seltener vorkommt (cf. Malm 2011, 67): On ne pouvait effectivement garantir des droits sans du coup assurer la continuité de leur régime juridique. (zu weiteren temporalen Verwendungsweisen cf. Malm 2011, 67-68). 39,8% 32,6% 26,2% 1,4% Verteilung der Phraseme nach Kategorie STR REF COM Polyfunktional Abb. 1: Verteilung der Phraseme nach Funktionskategorien Zwar ist die Mehrheit der Phraseme des Mündlichen struktureller Natur, aber immerhin sind ca. 1/ 3 der Phraseme kommunikativer Art. Nur wenige Phrasemen sind polyfunktional (1,3 %), d. h. sie gehören mehreren Kategorien an. 8 4 Phraseme des Mündlichen in Lehrwerken 4.1 Methodische Vorgehensweise Grundlage der Untersuchung waren die zurzeit im schulischen Französisch‐ unterricht eingesetzten Lehrwerke Découvertes série jaune Band 1-5 (Klett 2012-2016) und À plus ! nouvelle édition Band 1-4 und der für das letzte Lernjahr der Sekundarstufe I vorgesehene Band Charnières (Cornelsen 2012-2016). Dabei wurden folgende Untersuchungen durchgeführt: ● Quantifizierung des Gesamtwortschatzes der Lehrwerke durch Zählung der Lerneinheiten im Vokabelverzeichnis ● Ermittlung der in den Lehrwerken vorhandenen Phraseme der Frequenzliste der gesprochenen Sprache 125 Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken <?page no="126"?> ● Ermittlung der Phraseme der gesprochenen Sprache, die zusätzlich in den Lehrwerken auftreten, aber nicht zu den 500 häufigsten Phrasemen der gesprochenen Sprache zählen. Grundlage für die Entscheidung der Zuge‐ hörigkeit dieser Phraseme zur gesprochenen Sprache war der Texttyp. Im Sinne der oben erwähnten konzeptionellen Mündlichkeit wurden Phraseme dann der gesprochenen Sprache zugerechnet, wenn sie in Dialogen, E-Mails oder Chats vorkamen. 4.2 Ergebnisse der Lehrwerkuntersuchung Wie der folgenden Darstellung zu entnehmen ist, berücksichtigen die Lehr‐ werke nur einen geringen Anteil der 500 häufigsten Phraseme der gesprochenen Sprache, wobei es keine nennenswerten Unterschiede zwischen den beiden Lehrwerken gibt. So sind in À plus ! 114 Phraseme (22,8 %) und in Découvertes 110 (22 %) der Phraseme der Frequenzliste enthalten. 114 110 0 50 100 À plus ! Découvertes À plus ! Découvertes Abb. 2: Phraseme in Lehrwerken Damit wird deutlich, dass ca. 80 % der häufigsten Phraseme der gesprochenen Sprache nicht mit den marktführenden Lehrwerken des Französischen erlernt werden. Ein genauerer Abgleich der verwendeten Phraseme mit der Frequenzliste zeigt, dass von den 100 häufigsten Phrasemen der Frequenzliste nur ca. 1/ 3 berücksichtigt wird (in À plus ! 36 und in Découvertes 32). Unter den häufigsten 20 Phrasemen finden sich in À plus ! 14 und in Découvertes dagegen nur 11. So fehlen in À plus ! dire que, en fait, un peu plus, tu sais, de même, ah oui und in Découvertes dire que, à l’heure, non plus, un peu plus, tu sais, de même, c’est bien, à la maison, ah oui. Wirft man die Frage auf, wie viele Phraseme der gesprochenen Sprache jen‐ seits der 500 häufigsten Phraseme von den Lehrwerken berücksichtigt werden, so stellt man fest, dass es in À plus ! 53 und in Découvertes 30 Phraseme sind, 126 Christoph Bürgel <?page no="127"?> d. h. die große Mehrheit der Phraseme gehört zu den 500 häufigsten Phrasemen des gesprochenen Französisch. 114 110 53 30 0 50 100 150 À plus ! Découvertes zusätzliche Phraseme des Mündlichen Listenphraseme des Mündlichen Abb. 3: Phraseme der Frequenzliste und zusätzliche Phraseme des Mündlichen Dennoch muss der Hinweis erfolgen, dass die zusätzlich angeführten Phraseme über der angesetzten Frequenzschwelle der 500 häufigsten Phraseme liegen (z. B. Au secours! en cours de, et vice versa, redonner la pêche à qqn.) und deren Nutzen für die Lerner auf diesem Lernniveau (B1 des GeR) fragwürdig erscheint. Ein Vergleich der Gesamtzahl der Phraseme der gesprochenen Sprache mit dem dargebotenen Gesamtwortschatz in den fünf Bänden ergibt folgendes Bild: 3228 2606 0 1000 2000 3000 À plus ! Découvertes zusätzliche Phraseme des Mündlichen Listenphraseme des Mündlichen nicht phraseologischer Wortschatz 167 14 Abb. 4: Anteil der Phraseme am Gesamtwortschatz 127 Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken <?page no="128"?> In À plus ! sind von den gesamten 3395 Lerneinheiten nur 167 Phraseme und in Découvertes von 2745 Einheiten nur 140 Phraseme. Damit bilden Phraseme des gesprochenen Französisch einen verschwindend geringen Prozentsatz (4,91 %) in À plus ! und 5,1 % in Découvertes) des zu lernenden Gesamtwortschatzes. Hinsichtlich der Kategorienzugehörigkeit der Phraseme fällt auf, dass die Lehrwerke die relative Gewichtung der Phrasemtypen ähnlich wie im tatsäch‐ lichen Sprachgebrauch des Mündlichen abbilden. So wird den strukturellen Phrasemen der größte Raum gegeben, gefolgt von den referentiellen und kommunikativen Phrasemen, wenngleich sich die prozentualen Anteile unter‐ scheiden. STR 41% REF 32% COM 26% COM/ REF 1% À plus ! STR REF COM COM/ REF STR 51% REF 26% COM 23% Découvertes STR REF COM Abb. 5: Gewichtung der Phrasemtypen 128 Christoph Bürgel <?page no="129"?> Betrachtet man die Verteilung der Phraseme auf die einzelnen Bände, so ergibt sich folgendes Bild: 24 32 28 24 59 35 23 26 27 29 0 10 20 30 40 50 60 70 Listenphraseme des Mündlichen zusätzliche Phraseme des Mündlichen Abb. 6: Phraseme in den einzelnen Bänden Im ersten Band der beiden Lehrwerke findet sich die höchste Repräsentation von Phrasemen der gesprochenen Sprache (À plus ! : 59 und Découvertes: 35 Phraseme). Dabei werden in beiden Lehrwerken des Bandes 1 vor allem grund‐ legende kommunikative Phraseme der gesprochenen Sprache eingeführt: un peu, il y a, parce que, tout le monde, qu’est-ce que, bien sûr, c’est bon, ça va (bien), en retard, à bientôt, à demain, c’est bon, beaucoup de, s’il vous/ te plaît, au revoir, je (ne) sais pas. Dagegen bewegt sich die Anzahl der eingeführten Phraseme in den nachfolgenden vier Bänden auf einem deutlich niedrigeren Niveau. Es zeigt sich zum einen, dass die gesprochene Sprache im jeweils ersten Band größeren Raum einnimmt, im weiteren Verlauf der Lernjahre aber nachgeordnet ist. Zum anderen wird deutlich, dass das Prinzip der Progression bei der Auswahl und Stufung der Phraseme nicht berücksichtigt wurde. Es wäre zu erwarten, dass die Anzahl der zu lernenden Phraseme im Laufe der Lehrwerke zunimmt, da zum einen anzunehmen ist, dass die Sprachlernkompetenz im Laufe der Sprachlernbiographie wächst und zum anderen davon auszugehen ist, dass die Mündlichkeit systematisch über alle Lernstufen weiterentwickelt wird. Stattdessen wird deutlich, dass die Lernenden bei einem lehrwerkbasierten Unterricht nur mit ca. 25 bis maximal 60 Phrasemen pro Jahr, d. h. bei einem vierstündigen Unterricht höchstens ein Mal pro Woche mit einem Phrasem der gesprochenen Sprache konfrontiert werden. Eine Gesamtschau der Ergebnisse zeigt, dass Phraseme der gesprochenen Sprache in den genannten Lehrwerken ungenügend berücksichtigt werden. Phraseme werden mehr oder weniger zufällig und nach subjektiver Intuition 129 Mündlichkeit in deutschen Französischlehrwerken <?page no="130"?> der Lehrwerkautoren, je nach Inhalt der Lektionen ausgewählt. Es muss festge‐ stellt werden, dass keine Systematik bei der Darbietung des phraseologischen Frequenzspektrums der gesprochenen Sprache erkennbar ist. Vor allem aber ist zu beobachten, dass die Auswahl der Phraseme der gesprochenen Sprache nicht nach Frequenzaspekten erfolgt. 5 Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass die aktuelle Lehrwerkgeneration von Dé‐ couvertes und À plus ! weit davon entfernt ist, den phraseologischen Sprachge‐ brauch des Mündlichen angemessen abzubilden. Eine konsequente und stärkere Berücksichtigung häufiger Phraseme des Mündlichen ist unabdingbar, wenn Lehrwerke dem Anspruch gerecht werden wollen, ein authentisches und natür‐ liches Bild des gesprochenen Französisch zu vermitteln. Mehr noch: Die Lehr‐ werke legen keine ausreichende phraseologische Grundlage für die Entwicklung mündlicher Kommunikationsfähigkeit und werden damit der fachdidaktischen Forderung nach Stärkung der Mündlichkeit nicht gerecht. Wollte man die Entwicklung mündlicher Kommunikationsfähigkeit ernst nehmen, müsste die phraseologische Prägung der gesprochenen Sprache in den Lehrwerken einen bedeutend größeren Raum einnehmen. Die konsequentere Repräsentation von Phrasemen in Lehrwerken ist auch deshalb dringend notwendig, weil die rezeptiven Phrasemkompetenzen von Französischlernenden am Ende der gymna‐ sialen Lernzeit viel zu gering ausgeprägt sind (Bürgel 2020), was die Vermutung nahe legt, dass die produktive Verwendung von Phrasemen im mündlichen Sprachgebrauch noch weitaus defizitärer ist. Bei der Darbietung von Phrasemen sollte das ‚phraseologische Frequenz‐ prinzip‘ berücksichtigt werden: Phraseme, die in der gesprochenen Sprache häufig vorkommen, sind für die Produktion und Rezeption mündlicher Äuße‐ rungen besonders relevant. Deshalb empfiehlt es sich, bei der Auswahl und Stufung sprachlicher Mittel, den häufigsten Phrasemen oberste Priorität einzu‐ räumen. Die stärkere Orientierung an der Phraseologiehaftigkeit gesprochener Sprache könnte der Mündlichkeit insgesamt mehr Gewicht in Lehrwerken und damit im Französischunterricht verleihen. Auf diese Weise werden Lernenden die sprachlichen Grundlagen dargeboten, mit deren Hilfe sie den Gesprächs‐ partner besser verstehen und ihre Gedanken, Wünsche und Gefühle ‚natürlich‘ und authentisch ausdrücken können, sodass ihnen die Teilhabe an Kommuni‐ kation und Zielsprachenkultur möglich wird. 130 Christoph Bürgel <?page no="131"?> Literatur Aguado, Karin. 2002. „Formelhafte Sequenzen und ihre Funktion für den L2-Erwerb“, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, 37, 27-49. Aguado, Karin. 2014: „‚Kannst du mal eben …? ‘ Chunks als zentrale Merkmale eines kompetenten Sprachgebrauchs und Empfehlungen für ihre Behandlung im Fremdspra‐ chenunterricht“, in: Magazin - Zeitschrift des andalusischen Germanistenverbandes, 1, 5-9. Andersen, Hanne Leth. 2002. „La politesse véhiculée par le vague : l’exemple d’un peu, de presque et de peut-être en français parlé“, in: Claus Pusch / Wolfgang Raible (ed.): Romanistische Korpuslinguistik: Korpora und gesprochene Sprache. 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Um diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven zu beantworten, stellen sich weitere untergeordnete Forschungsfragen: 1. Fremd- und Selbsteinschätzung a) Wie schätzen die Lehrpersonen die Sprechkompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler ein? b) Wie schätzen die Schülerinnen und Schüler ihre Sprechkompetenzen ein? 2. Innenperspektive a) Welche Subjektiven Theorien haben die Lehrpersonen zu den Aufgaben zum Sprechen? b) Wie nehmen die Schülerinnen und Schüler den Umgang mit den Aufgaben zum Sprechen wahr? 3. Außenperspektive a) Wie gehen die Lehrpersonen mit den Aufgaben zum Sprechen um? b) Wie gestaltet sich die mündliche Interaktion der Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung der Aufgaben zum Sprechen? Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht: zur Verwendung der Kommunikationsstrategie „Kontrolle und Reparaturen“ Gwendoline Lovey 1 Ausgangslage Im vorliegenden Beitrag wird der Umgang von Primarschülerinnen und -schü‐ lern mit der Kommunikationsstrategie „Kontrolle und Reparaturen“ beleuchtet. Die Ergebnisse stammen aus dem Dissertationsprojekt „Sprechen im lehrwerk‐ basierten Fremdsprachenunterricht der Grundschule“, in dem die Umsetzung von Aufgaben zur Kompetenz Sprechen im Französischunterricht beforscht wird. Im Dissertationsprojekt werden die Außen- und die Innenperspektive von Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern beleuchtet und es enthält auch eine evaluative Komponente. 1 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Außenperspektive, wobei ausschließlich die Unterrichtsbeobachtungen <?page no="136"?> mit Fokus auf die Lernenden behandelt werden (Forschungsfrage 3b) und nicht diejenigen mit Fokus auf die Lehrpersonen. Dabei werden die Kontrollen und Reparaturen, die in den Interaktionen zwischen den Lernenden beobachtet werden können, im Modell von Lyster/ Ranta (1997) verortet und es wird gezeigt, welche Feedback-Formen in den Daten auftreten, resp. über welche Kontroll- und Reparaturkompetenzen die Schülerinnen und Schüler mit A-Ni‐ veau (A1-A2) bereits verfügen. 1.1 Interaktives Sprechen in authentischen Lernaufgaben des Typus 1 Die untersuchten Interaktionen im Dissertationsprojekt basieren auf Aufgaben zur Kompetenz Sprechen des Lehrwerks Mille feuilles (Ganguillet et al. 2014). Im vorliegenden Beitrag werden die Interaktionen der Schülerinnen und Schüler zur Lernaufgabe „Le quiz“ untersucht: N° Question Réponse 1 Quelle est la longueur d’un terrain de football? mètres 2 Où vit le pingouin? en 3 Dans quelle ville d’Italie peut-on se déplacer en gondole? à 4 Quel mammifère nocturne vole comme un oiseau? 5 Quelle est la plus haute montagne du monde? Je pense que c’est… Est-ce …? Quiz 1 » Lisez et écoutez la question n° 1. » Cherchez la bonne réponse. Discutez. » Notez la bonne réponse en français. » Continuez avec les autres questions. Les propositions peuvent vous aider. » Regardez les solutions à la page 89. C’est peut-être … le mammifère nocturne das nachtaktive Säugetier en Antarctique en Arctique à Venise à Rome la chauve-souris le moustique Du beantwortest Quizfragen. Abb. 1: Lernaufgabe zum Sprechen „Le quiz“ aus Mille feuilles 6, magazine 6.2, Auflage 2014 (Ganguillet et al. 2014, 18) 136 Gwendoline Lovey <?page no="137"?> [6] . . 18 [01: 37.9]19 [01: 41.8] S1 [v] [kel m ami t mu v l kom wazo.] Ortho S1 [v] Quel m ammifère vole comme un oiseau? S2 [v] (4) ehm ehm [ p Ortho S2 [v] Je pense que c'est la chauve-souris. [7] 20 [01: 48.3] 21 [01: 50.3] S1 [v] [wi se yst.] Ortho S1 [v] Oui, c'est juste. S2 [v] ... Ortho S2 [v] Abb. 2: Transkriptauszug „Chauve-souris“ (UAK1Su1b, 6-7) Die Lernaufgabe ist als Paararbeit angelegt und besteht darin, dass die Schüle‐ rinnen und Schüler gemeinsam Quizfragen lösen und sich über die Antworten austauschen. Beispielsweise fragt eine Schülerin Où vit le pingouin? . Als Unter‐ stützung stehen zu manchen Fragen zwei Antwortmöglichkeiten zur Verfügung, wie zum Beispiel zu Frage 2 en Antarctique / en Arctique. Es werden auch drei Sprechblasen mit Satzanfängen für die Beantwortung der Quizfragen zur Auswahl angeboten: Je pense que c’est… / C’est peut-être… / Est-ce…? . Bei den Hilfen handelt es sich um schriftliche Sprachbausteine, die mit der Antwort kombiniert werden können: Je pense que c’est en Arctique. Die Anlage ist offen, da verschiedene Quizfragen gewählt und unterschiedlich viele davon beantwortet werden können (es liegen noch fünf weitere Quizblöcke mit je zehn Fragen vor). Zudem können Quizfragen mit oder ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten gewählt werden. Für den Austausch über mögliche Antworten, für die Ankündigungen eines Sprecherwechsels oder für weitere Redeabsichten wenden die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen sprachlichen Ressourcen an (zum Beispiel Oui, je pense aussi. oder Non, c’est faux. oder auch C’est ton tour. etc.). Je nach Können und Wollen der Schülerinnen und Schüler beschränkt sich die Interaktion auf die Paarsequenz Frage-Antwort oder sie wird um zusätzliche Sequenzen erweitert. 137 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="138"?> [7] 20 [01: 17.7] 21 [01: 21.4] 22 [01: 24.2] S1 [v] [kom ehm Ortho S1 [v] Comment s'appelle le chien de Boule? oui S2 [v] [il sapel bil ]. Ortho S2 [v] Il s'appelle Bill. [8] . . 23 [01: 26.2] 24 [01: 31.8] S1 [v] [wui: ]. (3.5) [s t tu ]. Ortho S1 [v] C'est ton tour. S2 [v] ... Ortho S2 [v] Abb. 3: Transkriptauszug „Bill“ (UAK3Su1, 7-8) Für die Kompetenz Sprechen können grundsätzlich fünf Formen mündlicher Sprachverwendung unterschieden werden: Nachsprechen, Rezitation, reprodu‐ zierendes Sprechen, zusammenhängendes Sprechen und interaktives Sprechen (Doff/ Klippel 2007, 100), wobei die Komplexität zunimmt und das interaktive Sprechen als die komplexeste Form gilt. Bei der beschriebenen Lernaufgabe handelt es sich um interaktives Sprechen. Aufgaben zur Förderung des interaktiven Sprechens können wiederum in zwei Gruppen eingeteilt werden: Auf der einen Seite gibt es Aufgaben, die eine authentische Interaktion hervorrufen und auf der anderen Seite gibt es solche, die zu einer simulierten Interaktion führen. Der Begriff der Authentizität wird in der Fremdsprachendidaktik grundsätzlich dann verwendet, wenn „Sprache und Sprachgebrauch im Unterricht mit dem außerhalb des Unterrichts identisch sein sollen“ (Appel 2016, 29). Die mündliche Interaktion in der untersuchten Aufgabe besteht aus Redebeiträgen zum Stellen und Beantworten von Wissensfragen. Da es sich um echte Quizfragen handelt, wird die Interaktion von den Lehrwerkautorinnen und -autoren als authentisch bezeichnet (cf. Grossenbacher et al. 2012, 20). Dabei ist mit „authentisch“ die Kommunikationssituation gemeint, die durch die Aufgabe erzeugt wird, obschon der Begriff umfassender verstanden werden kann, wenn damit auch die Grundlagentexte und das Handeln der Lehrperson gemeint sind (cf. Thaler 2017, 16). Simulierte Interaktionen wären in diesem Sinne beispielsweise Rollenspiele, bei denen die Lernenden eine Situation nachspielen, während sich authentische Interaktionen dann ergeben, wenn die Lernenden in ihren SchülerInnenrollen bleiben und sich über einen inhaltlich bedeutsamen Gegenstand unterhalten, wie dies in der beschriebenen Lernaufgabe der Fall ist. Die Kommunikationssituationen sind also dann au‐ 138 Gwendoline Lovey <?page no="139"?> thentisch, wenn die Schülerinnen und Schüler „als sie selbst, nämlich als je individuelle Sprachenlerner/ innen in ihrer Unterschiedlichkeit gemeinschaft‐ lich im Kontext Unterricht miteinander handeln“ (Decke-Cornill/ Küster 2010, 123) und es somit „zu realer Interaktion zwischen den Lernenden untereinander [kommt]“ (Doff/ Klippel 2007, 92). Leupold unterscheidet bei Aufgaben zwischen Übungen, Lernaufgaben des Typus 1 und Lernaufgaben des Typus 2. Die hier beschriebene Aufgabe ent‐ spricht dem Lernaufgabentypus 1, denn sie führt zu einem „Sprachgebrauch in bedeutungsvollen Kontexten“ (Leupold 2008, 4). Sie bindet „die sprachlichen Fertigkeiten in einen situativen Rahmen ein [und bezieht] im Gegensatz zu Übungen die Inhalts- und Bedeutungskomponente ein“ (ibid., 7). Der Anspruch auf Authentizität wird bei Lernaufgaben des Typus 1 so eingelöst, dass sie „die Problemlösung realer Sachverhalte zum Gegenstand haben, so dass der écart zwischen der Welt des Klassenzimmers und der Welt außerhalb reduziert wird“ (ibid., 4). Beim Lösen von Lernaufgaben des Typus 1 verwenden die Schülerinnen und Schüler die Interimssprache und es zeigt sich, was sie bereits ausdrücken können resp. was sie noch nicht beherrschen. Folglich ist die Anzahl der Fehler beim Lösen von Aufgaben höher als beim Üben, bei dem der Fokus auf der Formbeherrschung liegt und wo es „nur eine geringe Fehlertoleranz [gibt, da] das Tun kontrolliert [ist]“ (Tesch 2010, 51). In der untersuchten Aufgabe ist das Tun insofern kontrolliert, als dass schriftliche Sprachbausteine zur Unterstützung vorliegen. Allerdings ist es den Schülerinnen und Schülern über‐ lassen, inwiefern sie diese nutzen oder ihre eigenen sprachlichen Ressourcen anwenden. Außerdem ist auch das Verwenden der vorgegebenen Sprachbau‐ steine fehleranfällig, da sie von der schriftlichen Form in die mündliche Form übersetzt und in einen neuen Kontext transferiert werden müssen. Die im Dissertationsprojekt in ihrer Umsetzung untersuchten Lernaufgaben entsprechen dem Typus 1, sie fördern das interaktive Sprechen und sie gelten als authentisch. Es handelt sich also um eine äußerst komplexe Form mündlicher Sprachproduktion, in der die Schülerinnen und Schüler Kommunikationsstrate‐ gien anwenden, um die Progression des Gesprächs zu gewährleisten. Inwiefern sie dabei auch die Kommunikationsstrategie „Kontrolle und Reparaturen“ ein‐ setzen, wird in den nachfolgenden Kapiteln erläutert. 2 Lernendensprache: Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung Als Basis für die Analyse von Lernendensprache braucht es einen Output in Form einer komplexen sprachlichen Einheit (cf. Mezger et al. 2014, 182). Für 139 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="140"?> 2 Die Transkriptionskonventionen befinden sich am Ende dieses Beitrags. das Dissertationsprojekt wurden die Interaktionen von Schülerinnen und Schü‐ lern bei der Bearbeitung von Sprechaufgaben aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet. Dabei handelt es sich um Versuche der Lernenden, „wichtige kom‐ munikative Anliegen mit unzureichenden Mitteln zu realisieren“ (Ahrenholz 2014, 170), was „zu einem eigenen, lernerspezifischen (und damit eventuell nicht normgerechten) Sprachgebrauch, also zur Herausbildung von Lernersprachen [führt]“ (ibid.). 2.1 Datenerhebung Die Datenerhebung fand im Jahre 2016 in der Schweiz an vier verschiedenen Primarschulklassen der Deutschschweiz statt. Es handelt sich um Klassen des 6. Schuljahrs mit Schülerinnen und Schülern im 4. Französischlernjahr, die 12 bis 13 Jahre alt sind und die sich in der Kompetenz Sprechen auf den Niveaus A1.2 bis A2.1 befinden. Für die Unterrichtsbeobachtungen mit Fokus auf die Lernenden wurden pro Klasse 6 Fokusschülerinnen und -schüler beim Bearbeiten von Lernaufgaben in Paararbeit aufgezeichnet. Die Fokusgruppen wurden im Vorfeld von den Lehrpersonen festgelegt, damit pro Klasse zwei eher schwächere Lernende mit Niveau A1.2, zwei mittelstarke Lernende mit einem Niveau zwischen A1.2 und A2.1 und zwei eher stärkere Lernende mit Niveau A2.1 beobachtet werden konnten. Es liegen Video- und Audioaufnahmen zu insgesamt fünf verschiedenen Lernaufgaben vor. 2.2 Datenaufbereitung Im Anschluss an die Datenerhebung wurden die aufgezeichneten Primärdaten mittels Transkription in Sekundärdaten überschrieben und so für eine quali‐ tative Auswertung zugänglich gemacht (Fuβ/ Karbach 2014, 15/ 25). Die Trans‐ kripte der Lernendensprache liegen für das Dissertationsprojekt in phonemati‐ scher und orthographischer Form vor, beinhalten nonverbale und paraverbale Handlungen und sind in Partiturschreibweise verfasst. 2 Für die Lernendensprachenanalyse steht die Form der Äußerungen im Vordergrund. Damit valide Aussagen zur Aussprache, zur Korrektheit oder allgemein zur mündlichen Sprachkompetenz gemacht werden können, sind phonematische Transkriptionen notwendig (Mempel/ Mehlhorn 2014, 154). Beim Transkribieren müssen in diesem Fall auch nonverbale und paraverbale Handlungen berücksichtigt werden, da diese bei der Datenauswertung u. a. Hinweise auf das Anwenden von Kommunikationsstrategien liefern können (ibid., 149). Da es sich bei den Daten um Interaktionen handelt, müssen auch 140 Gwendoline Lovey <?page no="141"?> Sprecherwechsel sowie Sprech- und Handlungsüberlappungen mittels der Par‐ titurschreibweise festgehalten und sichtbar gemacht werden. Für Aussagen in Bezug auf Interaktionskompetenzen oder -strategien ist beispielsweise die Synchronizität der verschiedenen Äußerungen von Relevanz (ibid., 151). 2.3 Datenauswertung 2.3.1 Kompetenzorientierte Lernendensprachenanalyse (KLSA) Die Lernendensprachenanalyse hat ihren Ursprung in der Soziolinguistik, der Zweitspracherwerbsforschung und der Sprachlehr- und -lernforschung (cf. Ahrenholz 2014, 170). Bei linguistisch ausgerichteten Untersuchungen von Lernendensprachen werden i. d. R. folgende Sprachbereiche berücksichtigt: Phonetik/ Phonologie, Orthografie, Lexik, Syntax, Morphologie, textdiskursive Merkmale und Pragmatik (cf. Ahrenholz 2014, 168-170; Marx/ Mehlhorn 2016, 298). In der Fremdsprachenforschung wird die rein ‚linguistische Lernerspra‐ chenanalyse‘ i. d. R. um die Analyse der kognitiven Prozesse (Transfer, Strate‐ gien, Übergeneralisierungen etc.) ergänzt (cf. Marx/ Mehlhorn 2016, 302) und es wird nach Zusammenhängen zwischen „(nur indirekt beobachtbaren) ko‐ gnitiven Prozessen und (direkt beobachtbaren) sprachlichen Phänomenen [ge‐ forscht]“ (ibid., 298-299). Dabei stellt das Erfassen der kognitiven Prozesse eine besondere Herausforderung für die Forschenden dar, weil von äußeren Zeichen auf innere Prozesse geschlossen werden muss, d. h. es wird „Output“ „analysiert, um interne Verarbeitungsprozesse zu entdecken“ (Edmondson/ House 2011, 214). Mittels der ‚kompetenzorientierten Lernendensprachenanalyse‘ (KLSA) werden nicht nur Ressourcen, sondern auch Kompetenzen in den Blick ge‐ nommen. Im Zentrum steht das Sprachhandeln der Lernenden, wobei die Ana‐ lyse sowohl das (deklarative) Wissen als auch die (prozeduralen) Fertigkeiten sowie die persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten, die es einem Menschen erlauben, Handlungen auszuführen, be‐ rücksichtigt (cf. Europarat 2001, 21). Da es sich um interaktives Sprechen handelt, müssen Aspekte der Interakti‐ onskompetenz berücksichtigt werden, wobei sich die vorliegende Studie für die Interaktionskompetenz auf die Definition des GER beruft, die besagt, dass eine Interaktion „zwei oder mehr Beteiligte bei der gemeinsamen Konstruktion von Diskursen involviert“ (Europarat 2020, 86). Auch die strategischen Kompetenzen sind für die Untersuchung von Belang und schließlich muss bei der Analyse der Lernendensprache auch der Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler Rechnung getragen werden. Als Grundlage für die ‚kompetenzorientierte Lern‐ endensprachenanalyse‘ werden im Dissertationsprojekt Kompetenzbeschrei‐ 141 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="142"?> 3 Es wird von Mayring selbst darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Begriffs der Qualitativen Inhaltsanalyse aus verschiedenen Gründen problematisch sei. Zunächst sei die Bezeichnung „qualitativ“ nicht stimmig, weil mit der Qualitativen Inhaltsanalyse auch quantitative Aspekte erfasst werden können (cf. Mayring 2015, 50). Dann sei auch der Begriff der „Inhaltsanalyse“ irreführend, weil sich die Qualitativen Inhaltsanalyse „längst nicht nur mit der Analyse des Inhalts von Kommunikation“ beschäftige (May‐ ring 2015, 11). Als Variante zur Benennung der Qualitativen Inhaltsanalyse schlägt Mayring „kategoriengeleitete Textanalyse“ vor (Mayring 2015, 13). bungen aus dem GER (Europarat 2001) und dem GER Begleitband (Europarat 2020) herangezogen. Diese Referenzwerke beinhalten sowohl Kann-Beschrei‐ bungen zur Interaktionskompetenz als auch zu den strategischen Kompetenzen sowie zum plurilingualen Repertoire. 2.3.2 Kategoriengeleitete Textanalyse (KT) Für die Datenauswertung zur Unterrichtsbeobachtung mit Fokus auf die Ler‐ nenden wird kategoriengeleitet vorgegangen. Die kategoriengeleitete Textana‐ lyse ist vor bald 40 Jahren unter dem Namen der Qualitativen Inhaltsanalyse bekannt geworden (cf. Mayring 2015, 7; Kuckartz 2016, 5); im vorliegenden Beitrag wird die Bezeichnung der kategoriengeleiteten Textanalyse (KT) ver‐ wendet. 3 Eine Verknüpfung der beiden methodischen Ansätze KT und KLSA be‐ deutet, dass der kompetenzorientierten Lernendensprachenanalyse ein Katego‐ riensystem vorangestellt wird, anhand dessen die Transkripte der Interaktionen zwischen den Lernenden kodiert und ausgewertet werden. Diese Methode bezeichne ich in meinem Dissertationsprojekt als ‚kompetenzorientierte und kategoriengeleitete Lernendensprachenanalyse‘ (KKLSA), die sich von freieren Formen der Textinterpretation unterscheidet, da die Auswertung mittels einer „konsequente[n] und systematische[n] Nutzung des […] aufgestellten Katego‐ riensystems [erfolgt]“ (Burwitz-Melzer/ Steininger 2016, 258). Das Kategoriensystem gilt als wesentliches Merkmal der KT und ist ein „Dif‐ ferenzierungskriterium gegenüber anderen qualitativen Verfahren“ (Schreier 2014, 3). Für die Datenauswertung müssen also bestimmte Kategorien festgelegt werden, die für die Analyse leitend sind. Diese werden im Dissertationsprojekt zunächst deduktiv u. a. auf der Grundlage des GER (Europarat 2001) und des GER Begleitbands (Europarat 2020) formuliert, bevor sie nach einem ersten Ma‐ terialdurchgang durch induktiv generierte Kategorien ergänzt werden. Daraus ergibt sich das Kategoriensystem von Abbildung 4. Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte Erkenntnisse zur Kategorie D2.2 präsentiert. 142 Gwendoline Lovey <?page no="143"?> D1 Mündliche Interaktion D1.1 Interaktion aufrechterhalten D1.2 Fragen stellen und beantworten D1.2.1 Paarsequenz (Frage/ Antwort) D1.2.2 Sequenzerweiterung (Frage/ Antwort/ Bestätigung) D1.3 Informationen austauschen D2 Kommunikationsstrategien D2.1 Kompensieren D2.1.1 code-switching (F-D) D2.1.2 Gesten D2.1.3 Wiederholungen D2.2 Kontrolle und Reparaturen D2.2.1 Selbstkorrektur D2.2.2 Korrektur durch Interaktionspartner/ in D2.2.3 Verschiedene Korrektur- und Reparaturformen D2.3 Sprecherwechsel D2.4 Kooperieren D2.5 Um Klärung bitten D3 Kommunikative Kompetenzen D3.1 Spektrum sprachlicher Mittel D3.2 Beherrschung der Phonologie D3.2.1 Akzent D3.2.2 Aussprache einzelner Laute D3.2.3 Prosodie D3.3 Flüssigkeit D4 Plurilinguales Sprachhandeln D4.1 Plurilinguales Verstehen D4.2 Plurilinguales Sprechen D4.2.1 code-switching (F-D und weitere Sprachen) D4.2.2 code-shifting Abb. 4: Kategoriensystem für die Datenauswertung nach der KKLSA im Dissertations‐ projekt 3 Ergebnisse aus der kategoriengeleiteten und kompetenzorientierten Lernendensprachenanalyse (KKLSA) In diesem Kapitel wird zuerst die untersuchte Kommunikationsstrategie „Kon‐ trolle und Reparaturen“ näher beschrieben und mit dem Modell von Lyster/ Ranta (1997) in Verbindung gebracht. Daran schließt die exemplarische Daten‐ auswertung zu einer Lernaufgabe in Bezug auf Selbstkorrektur resp. Reparatur aufgrund von Fremdkorrektur an: Es werden Transkriptauszüge kommentiert, die illustrieren, wie Schülerinnen und Schüler der Niveaus A1.2 bis A2.1 mit Strategien aus dem Bereich der „Kontrolle und Reparaturen“ umgehen. In den Kapiteln 3.2.1, 3.2.2 und 3.2.3. werden verschiedene Formen korrektiver Rückkopplung präsentiert, wobei damit „alle Reaktionen von Seiten eines Gesprächspartners[/ einer Gesprächspartnerin] bezeichnet [werden], aus denen Lerne[nde] ableiten können, dass bestimmte Aspekte ihrer Äußerung von der geltenden Norm abweichen“ (Westhoff 2007, 18) und die somit zu einer Korrektur resp. zu einer Reparatur führen können. 143 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="144"?> 3.1 Untersuchte Kommunikationsstrategie: Kontrolle und Reparaturen In Gesprächen allgemein und in Interaktionen in einer Fremdsprache im Spezi‐ ellen sind Äußerungen sprachlich und/ oder inhaltlich nicht immer fehlerfrei (cf. Bauer 2020, 331). Wird die Äußerung entweder vom Produzenten / von der Produzentin selbst oder vom Rezipienten / von der Rezipientin als proble‐ matisch erkannt, bremst dies die Fortsetzung des Gesprächs und es kann eine Reparatur initiiert werden (ibid.). Der Bereich der „Kontrolle und Reparatur“ wird im GER als Produktionsstrategie aufgeführt (Europarat 2001, 70-71). Im GER Begleitband wird erläutert, dass der Bereich zwei Aspekte umfasst, nämlich „(a) die spontane Erkenntnis, dass einem ein Versprecher unterlaufen oder ein Problem entstanden ist“ (Europarat 2020, 86) und „(b) den eher bewussten und eventuell geplanten Rückbezug auf das, was gesagt […] wurde, um es auf Korrektheit und Angemessenheit hin zu überprüfen“ (ibid.). In der Skala werden drei Schlüsselkonzepte operationalisiert, nämlich wie deutlich erkennbar resp. wie flüssig „der Kurswechsel und eine andere Taktik verwenden“ (ibid.) ist, wie „Eigenkorrektur“ (ibid.) stattfindet und „wie deutlich ein Kommunikationspro‐ blem sein muss, bevor mit der Reparatur begonnen wird“ (ibid.). Für das Niveau der Untersuchungsgruppe (A1.2 bis A2.1) liegen zwar keine Kann-Beschrei‐ bungen vor (ibid.), doch es wird einführend geschrieben, dass „Kurswechsel und eine andere Taktik verwenden […] deutlich erkennbar auf den A-Niveaus“ (ibid.) seien. Dass im GER / GER Begleitband bei einigen Bereichen nicht für alle Niveaustufen Kann-Beschreibungen vorliegen, wird damit erklärt, dass „man manche Aktivitäten nicht ausführen kann, bevor man ein bestimmtes Kompetenzniveau erreicht hat“ (Europarat 2001, 38). Ich habe in meiner Disser‐ tation den Bereich „Kontrolle und Reparaturen“ dennoch als induktiv gebildete Kategorie ins Kategoriensystem für die KKLSA aufgenommen, weil bei einem ersten Materialdurchgang deutlich wurde, dass dieser Aspekt in den Daten auch auf den A-Niveaus sichtbar ist. Für die Korrektur mündlicher Produktion im Fremdsprachenunterricht von‐ seiten der Lehrperson beobachten Lyster/ Ranta (1997) auf der Primarstufe die sechs Feedbackformen 1. explicit correction, 2. recasts, 3. clarification requests, 4. metalinguistic feedback, 5. elicitations refers und 6. repetition (ibid. 46-48). Von den sechs Feedback-Formen dieses Modells sind für Feedbacks im Rahmen von Interaktionen unter Lernenden m. E. die drei ersten und die letzte Form relevant: Es ist denkbar, dass ein Fehler mittels der explicit correction explizit korrigiert wird, wenn eine Schülerin/ ein Schüler etwas besser weiß als ihr/ sein Gegenüber. Es ist auch möglich, dass Fehler mit recasts implizit korrigiert werden, manchmal sogar ohne dass sich die beiden Lernenden bewusst sind, dass die/ der eine die Form korrekt verwendet und die/ der andere nicht. Es ist 144 Gwendoline Lovey <?page no="145"?> auch vorstellbar, dass die Lernenden um Erläuterung bitten, wenn sie etwas nicht verstehen, wobei bei den clarification requests zwischen Verständnis- und Korrektheitsproblemen unterschieden wird („problems in either compre‐ hensibility or accuracy“, ibid., 47). Für Korrekturen unter Lernenden ist davon auszugehen, dass hauptsächlich bei Kommunikationsproblemen inhaltlicher Natur mit einer Bitte um Erläuterung reagiert wird, nämlich dann, wenn ein Missverständnis vorliegt und tatsächlich nicht klar ist, was gemeint ist (cf. Europarat 2020, 86). Schließlich können sich Lernende auch mit der repetition korrigieren, bei der der sprachliche Fehler mit Nachdruck wiederholt und mit einem Fragezeichen versehen wird. Diese Form von Feedback ist in Alltagsge‐ sprächen häufig beobachtbar, nämlich in Form einer „(erstaunte[n]) Nachfrage, eine[r] sog. Echofrage, die das Vorangegangene wiederholt, um das Gegenüber zu einer Bestätigung (oder zu weiteren Ausführungen) zu veranlassen“ (Birkner 2020, 240). Die elicitation refers und das metalinguistic feedback sind m. E. stark an die Lehrpersonenrolle gekoppelt, denn diesen beiden Formen ist gemeinsam, dass sie die korrekte Form nicht vorgeben, sondern sie aus den Schülerinnen und Schülern „herauskitzeln“ (Lyster/ Ranta 1997, 54). Bei den elicitation refers wird die Äußerung wiederholt, wobei die Stelle, an der der Fehler war, weggelassen und das Ganze mit einem Fragezeichen versehen wird. Dies setzt voraus, dass das Gegenüber die korrekte Form zwar kennt, sie aber nicht sagt, um beim anderen einen Lernprozess anzuregen, was nicht dem SchülerInnenverhalten entspricht: Kinder und Jugendliche nennen die korrekte Form, sofern sie sie kennen, um damit die Kommunikation aufrecht zu erhalten. Es ist auch kaum zu erwarten, dass Schülerinnen und Schüler fähig sind, ein metalinguistic feedback zu geben, indem sie ihre Gesprächspartnerin/ ihren Gesprächspartner explizit auf den Fehler hinweisen, den Fehler verbessern und auch noch die entsprechende (grammatische) Regel dazu kennen und geben können. Diese Feedbackform liegt i. d. R. über dem Kenntnis- oder Abstraktionsniveau der Lernenden, denn sie müssten dafür die inhaltliche Ebene verlassen und sich auf die metasprachliche Ebene begeben. Auf eine erfolgte Korrektur kann mit verschiedenen Problemlösungsroutinen reagiert werden, um den Fehler zu reparieren (cf. Bauer 2020, 333), vorausge‐ setzt natürlich, dass mindestens ein Gesprächsteilnehmer/ eine Gesprächsteil‐ nehmerin ein Problem erkennt, es als relevant einstuft und Reparaturbedarf signalisiert (cf. ibid., 334). Lyster/ Ranta (1997, 50) beobachten vier Problem‐ lösungsroutinen: 1. Die Reparatur der repetition, bei der die Schülerin/ der Schüler die korrekte Form wiederholt, die ihr/ ihm angegeben wurde. 2. Die Reparatur der incorporation, bei der die korrekte angegebene Form von der Schülerin/ vom Schüler in eine längere Äußerung integriert wird. 3. Die Repa‐ 145 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="146"?> ratur des self-repair, die bei der Feedback-Form 3 erfolgen kann, wenn keine korrekte Form angegeben wird, sondern die Schülerin/ der Schüler die korrekte Form selbst findet. 4. Die Reparatur des peer-repair, wenn die korrekte Form von einer Mitschülerin/ einem Mitschüler gegeben wird. In Bezug auf Interaktionen zwischen Lernenden sind alle vier Reparaturarten denkbar. 3.2 Beobachtete Lernaufgabe A: „Le quiz“ Am Beispiel der ersten im Dissertationsprojekt untersuchten Lernaufgabe A „Le quiz“ wird gezeigt, inwiefern sich die Kommunikationsstrategie „Kontrolle und Reparaturen“ in den Interimssprachen der Lernenden äußert. Dabei werden Datenanalysen zu allen drei Schlüsselkonzepten aus dem GER präsentiert (Kurswechsel, Eigenkorrektur und Deutlichkeit des Kommunikationsproblems). 3.2.1 Kontrolle und Reparatur: Kurswechsel Das Konzept „Kurswechsel und eine andere Taktik verwenden“ (Europarat 2020, 86) lässt sich in den Daten des Dissertationsprojekts beobachten. Wenn das Gespräch in seiner Progression gebremst wird, überspringen die Lernenden eine Frage, sie wechseln das Thema, sie wechseln die Sprache oder sie bitten die Lehrperson um Hilfe. Im Transkriptauszug „Jeans“ wird ein Beispiel präsentiert, in das drei Lernende involviert sind und in dem eine Lernpartnerin und ein Lernpartner den sprachlichen Fehler zwar bemerken, den dritten Schüler aber nicht zu einer Selbstkorrektur anleiten können. Die Schülerin und die zwei Schüler wurden von der Lehrerin als eher schwächere Lernende (Niveau A1.2) eingestuft, wobei S3 eine leicht höhere Kompetenz als die beiden anderen Lernenden aufweist und bereits über ein A2.1 verfügen dürfte. [28] 76 [05: 03.7] 77 [05: 08.3]78 [05: 10.3]79 [05: 28.4] S2 [v] [ki a œv t n] öh (18) Ortho S2 [v] Qui a inventé le jean? S3 [v] [ki a v ] Ortho S 3 [v] Qui a inventé le jean? [29] 80 [05: 36.0] 81 [05: 42.4] 82 [05: 44.4] S1 [v] [l n? ] i weiss au nid S2 [v] (2) [kel e le ply g animal ma a] Ortho S 2 [v] Quel est le plus grand animal marin? S3 [v] (4) [ki a v n] [kel . e . le . ply . g d . animal Ortho S 3 [v] Qui a inventé le jean? Quel est le plus grand animal marin? 146 Gwendoline Lovey <?page no="147"?> [30] . . 83 [05: 50.4] 84 [05: 56.3] 85 [05: 58.6] 86 [06: 00.6]87 [06: 01.7]88 [06: 03.0]89 [06: 03.8] S1 [v] was ist [ ] da [d inz] Ortho S1 [v] jean jeans Ortho S2 [v] S 3 [v] ma in] (3) [d inz] Ortho S3 [v] jeans L2 [v] tu es où? le jean Qui a inventé le [31] . . 90 [06: 05.5] 91 [06: 06.8] 92 [06: 09.5] S1 [v] Levi Strauss. S3 [v] ... L2 [v] jean? c'est comme dans le livre de l'anglais Abb. 5: Transkriptauszug „Jeans“ (UAK2Su3, 28-30) In der Frage „Qui a inventé le jean? “ muss „jean“ englisch als [dʒi: n] ausgespro‐ chen werden und nicht wie der Vorname [ʒ-]. S2, die die Frage als erste vorliest, sagt [ʒe-n] und versteht das Wort nicht. Dies signalisiert sie durch «öh». Danach wird die Gruppenarbeit durch eine Anweisung der Lehrperson unterbrochen, was zu einer 18-sekundenlangen Pause führt. S3 hilft im Anschluss weiter und liest die Frage nochmals vor, dieses Mal mit der korrekten Aussprache von „jean“, nach 1 Sekunde Zögern. Doch 4 Sekunden später korrigiert er sich selbst und ersetzt [dʒi: n] durch [ʒɑ̃n], das an die fehlerhafte Aussprache von S2 erinnert. Offenbar ist S3 unschlüssig, ob er das Wort englisch oder französisch aussprechen soll und er probiert beide Varianten aus. In diesem Moment schaltet sich S1 ein, der „le [ʒɑ̃n]? “ wiederholt, was an die Feedback-Form der repetition erinnert, denn die fehlerhafte Aussprache wird wiederholt und mit einem Fragezeichen versehen. Die ansteigende Intonation könnte aber auch seine Unsicherheit ausdrücken, denn direkt darauf folgt die Bewertung des eigenen Ausprobierens. In diesem Sinne ist seine Antwort „Ich weiß auch nicht“ zweideutig: Erstens weiß er nicht, wie man das Wort ausspricht und zweitens kennt er auch die Antwort auf die Frage Qui a inventé le jean? nicht. Jedenfalls fühlt sich S3 dadurch nicht aufgefordert, nach der korrekten Form zu suchen. In diesem Moment findet der Kurswechsel statt, denn S2 und S3 gehen zur nächsten Frage weiter und S1 wartet, bis die Lehrerin in seine Nähe kommt, um bei ihr nachzufragen. In der Dreiergruppe werden also zwei verschiedene Taktiken verwendet. Sobald die Lehrerin den Ausdruck korrekt vorliest, findet eine Rückkehr zur Ausgangsfrage statt, denn S1 und S3 verstehen sofort, was mit dem Ausdruck gemeint ist und wiederholen beide synchron [dʒinz]. S1 147 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="148"?> beantwortet im Anschluss an die Korrektur die Quizfrage korrekt und die Lehrerin fügt die Information hinzu, dass es so wie im Englischlehrwerk sei, in dem die Jeanshose als Thema behandelt werde. Ihr recast führt also bereits zur nötigen Korrektur, aber sie fügt noch eine Information hinzu, die zwar keine metalinguistische Information ist, wie sie von Lyster/ Ranta (1997, 47) als Kategorie aufgeführt wird, sondern eine inhaltliche und sprachenübergreifende Ergänzung. Mit ihrer Zusatzinformation handelt die Lehrperson im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik, indem sie bei den Lernenden Kompetenzen aktiviert, die sie in einer anderen Fremdsprache bereits erarbeitet haben und nun für Französisch nutzbar machen können. Der Transkriptauszug „Jeans“ zeigt, dass die Selbst- und Peerkorrektur - zumindest auf dem Niveau A1.2 - nicht automatisch zur Lösung des Problems führen, denn obschon die Lernenden versuchen, die Aussprache der jeweils anderen zu korrigieren und S3 sogar die korrekte Aussprache in die Gruppe einbringt, ist das peer-repair hier nicht ganz zielführend und die Lernenden brauchen den recast durch die Lehrperson und eine Reparatur in Form einer repetition, um die Quizfrage zu verstehen und korrekt zu beantworten. 3.2.2 Kontrolle und Reparatur: Eigenkorrektur Das Konzept „Eigenkorrektur von Versprechern, Irrtümern und „beliebten Fehlern“ (Europarat 2020, 86) lässt sich in den Daten des Dissertationsprojekts in verschiedenen Formen beobachten. Es liegen Beispiele vor, in denen eine Selbstkorrektur bereits durch ein korrektes Modell der Gesprächspartnerin/ des Gesprächspartners ausgelöst wird (recast), während in anderen Beispielen der recast nicht zur Eigenkorrektur führt. In wieder anderen Beispielen ist die explicit correction zielführend für die Eigenkorrektur eines sprachlichen Fehlers. Der Transkriptauszug „Shampoing“, in dem dieselbe Lernendengruppe inter‐ agiert wie bei „Jean“, zeigt eine erfolgreiche Selbstkorrektur aufgrund eines recast: [ 16 ] . . 33 [02: 04.8] 34 [02: 06.9]35 [02: 08.1] 36 [02: 10.1] K2FS6 [v] [kel (.) est la OrthoFS6 [v] Quelle est la [1 7 ] . . 37 [02: 15.2] 38 [02: 16.4] 39 [02: 18.3] S1 [v] ] Ortho S1 [v] Pokémons S3 [v] [a la: ] Ortho S 3 [v] nationalité des Pokémons? Pokémons à la 148 Gwendoline Lovey <?page no="149"?> [18] . . 52 [02: 59.2] 53 [03: 01.2] 54 [03: 05.5] 55 [03: 08.6] S1 [v] [l ap : ] Ortho S1 [v] le Japon S3 [v] Chiny [ amp : ] oh [ ampo? ] (3) ah [l ap : ] [ ap ] Ortho S 3 [v] shampoing? le Japon Japon 57 [03: 15.1] eben Abb. 6: Transkriptauszug „Shampoing“ (Transkript UAK2Su3, 16-18) Auf die Frage „De quelle nationalité sont les Pokémons? “ antwortet S1 mit le [ʒapɔ̃: ], was von S3 als ‚Shampoo‘, nämlich als [ʃampɔ̃: ] verstanden wird. Er wiederholt das Wort in deutscher Aussprache und seine Intonation ist steigend wie bei einer erstaunten Nachfrage, also einer Art repetition. Während sein Gesprächspartner schweigt, nimmt S3 selbst ein recast vor und kontrolliert, ob das, was er versteht, tatsächlich Sinn ergibt. Er überlegt 3 Sekunden lang und merkt dann, dass wohl ‚Japan‘, also le [ʒapɔ̃: ] damit gemeint sein muss. Er wiederholt das Wort nochmals, da ihm nun offensichtlich dessen Bedeutung klar geworden ist. Die Reparatur erfolgt zunächst in Form eines self-repair, dann nimmt er eine repetition vor, indem er die korrekte Form wiederholt, die er selbst gefunden hat. Als Reaktion auf den Irrresp. Umweg von S3 sagt S1 „eben“, wodurch er die Selbstkorrektur von S3 bestätigt. In den Daten des Dissertationsprojekts zeigt sich jedoch, dass bei einer Korrektur in Form eines recast eine anschließende Reparatur eher selten auf‐ tritt. Oft hören die Schülerinnen und Schüler die korrekte Form von ihrer Gesprächspartnerin/ ihrem Gesprächspartner, ohne dass sie diese übernehmen. Somit entfällt die Eigenkorrektur und damit auch die zielführende Anwendung der Kommunikationsstrategie, wenn die Reparatur vom Gesprächspartner/ von der Gesprächspartnerin nicht explizit eingefordert wird. Zur Illustration des Ausbleibens der Eigenkorrektur dienen die Transkriptauszüge „Qui…? “ und „Quel…? “. [11] 37 [05: 08.5] 38 [05: 15.9]39 [05: 26.2] 40 [05: 33.6] 41 [05: 39.0] S1 [v] (2) [ki a k i (.) oi eka] (3) [a imedes] Ortho S1 [v] Qui a crié "Eurêka! "? Archimèdes S2 [v] (10) äh [kui a k i œi eka] äh [wi sypli] Ortho S2 [v] Qui a crié "Eurêka"! ? oui super (? ) Abb. 7: Transkriptauszug „Qui…? “ (Transkript UAK1Su2, 11) 149 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="150"?> [25] . . 85 [13: 37.1]86 [13: 39.6] S1 [v] S2 [v] ok äh [kuel la seso l plys l l ply f oud] Ortho S2 [v] Quelle est la saison la plus froide? [26] 87 [13: 46.6] 88 [13: 49.0]89 [13: 50.6] 90 [13: 52.6] 91 [13: 57.7]92 [13: 59.7]93 [14: 06.4] S1 [v] [live ] [live ] ja (7) [kel e l (.) ply g Ortho S1 [v] l'hiver l'hiver Quel est le plus S2 [v] (.) was? was? [se live ] was? [se live ] Ortho S2 [v] c'est l'hiver c'est l'hiver Abb. 8: Transkriptauszug „Quel…? “ (Transkript UAK1Su2, 25) Bei der Interaktion zwischen zwei Schülern hört S2, der von seiner Lehrerin als lernschwacher Schüler (Niveau A1.2) eingeschätzt wird, insgesamt fünf Mal die korrekte Aussprache [ki] von qui und drei Mal diejenige von quel-le-s [kel]. Er spricht die Formen jedoch konsequent als [kui] resp. [kuel] aus, sogar dann, wenn ihm S1 den kompletten Fragesatz mit Qui…? korrekt vorspricht, wie dies im Transkriptauszug „Qui…? “ zu beobachten ist. Offenbar führt hier der recast nicht zur Reparatur und anscheinend stört S1 die fehlerhafte Aussprache der Fragepronomen nicht genügend oder sie fällt ihm gar nicht auf, sodass er es nicht für nötig hält, seinem Mitschüler zu einer Selbstkorrektur zu verhelfen. Die Reparatur, beispielsweise durch eine repetition, bleibt aus. Aus Sicht der Gesprächsführung bewährt sich das Handeln von S1 und sein Ausbleiben der Korrektur, denn „die Fehler gefährden die Verständlichkeit der Äußerung nicht und damit auch nicht die Progression des Gesprächs“ (Bauer 2020, 334). Aus lerntheoretischer Sicht muss nach Lyster/ Ranta (1997) jedoch angemerkt werden, dass diese Form der Korrektur nicht effizient ist. Die recasts stellen zwar mit Abstand die häufigste Feedback-Form dar, sind aber im Hinblick auf eine anschließende Reparatur am wenigsten effizient (ibid., 54). Es ist vorstellbar, dass S2 seinen Aussprachefehler hätte bemerken können, wenn S1 eine korrektive Rückkopplung in Form einer expliziten Korrektur angebracht hätte. S1 nimmt hier zwar die Rolle des Gesprächspartners wahr, indem er kontrolliert, ob die Quizfragen inhaltlich korrekt beantwortet werden, aber er sieht seine Rolle offenbar nicht darin, dass er die Sprechkompetenz seines Gegenübers korrigieren resp. fördern müsste. Das vorherige Beispiel zeigt, dass explizite Korrektur aus lerntheoretischer Perspektive auch bei Lernenden untereinander effizienter ist als implizite Korrektur. Allerdings sollten implicit correction (recast) und explicit correction insbesondere bei Interaktionen zwischen peers als ein Kontinuum und nicht als Gegensätze betrachtet werden. Laut Lyster/ Ranta (ibid.) sind recasts grundsätz‐ lich implizite Korrekturen, da sie nicht durch Sätze wie „You mean,“ „Use this word,“ oder „You should say,“ eingeführt werden (cf. Lyster/ Ranta 1997, 47). Bei Interaktionen zwischen Lernenden kann eine recast-Korrektur jedoch bereits als eine explizite Korrektur wahrgenommen werden, denn auch ein recast führt 150 Gwendoline Lovey <?page no="151"?> zu einem inhaltlichen Bruch in der Progression der Interaktion, in der es sonst keine Wiederholungen zwecks sprachlicher Korrekturen gibt. Dies belegt der Transkriptauszug „Je pense que c’est…“, bei dem es um die korrekte Verwendung dieses chunks geht. [5] . . 15 [01: 15.9] 16 [01: 21.2] 17 [01: 27.0] S1 [v] (2) öhm [ p ] (2) [k l Ortho S1 [v] *Je pense que à Rome. Quel S2 [v] s deplase g ndole.] (2) [wi.] Ortho S2 [v] Italie peut-on se déplacer en gondole? Oui. [6] . . 18 [01: 37.9]19 [01: 41.8] S1 [v] mami t mu v l kom wazo.] Ortho S1 [v] mammifère vole comme un oiseau? S2 [v] (4) ehm ehm [ p Ortho S2 [v] Je pense que c'est la chauve-souris. [7] 20 [01: 48.3] 21 [01: 50.3] 22 [01: 54.5] 23 [01: 56.3] S1 [v] [wi se yst.] Ortho S1 [v] Oui, c'est juste. 2 [v] (flüstert) du muesch das nid säge auso itz lies ig [k l la ply ot Ortho S2 [v] Quelle est la plus [8] . . 24 [02: 00.6] 25 [02: 07.9] S1 [v] (2) öhm [ pos k maunt ] Ortho S 1 [v] *Je pense que Mount Everest. S 2 [v] m ta dy m d.] (2) [ki ma sy la Ortho S2 [v] haute montagne du monde? Qui a marché sur [9] . . 26 [02: 13.8] 27 [02: 21.7] S1 [v] Neil ah ehm [ p Ortho S1 [v] *Je pense que Neil Armstrong. S2 [v] lyn : : ] [dis: : : ] eh nei [mil n f s swas ] Ortho S2 [v] la lune en... 1969? […] 151 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="152"?> [40] . . 118 [08: 30.7] 119 [08: 32.3] S1 [v] [komo di ] "Auf Wiedersehen" ja aber mir müesse s glich mache Ortho S1 [v] S2 [v] das hei mir jo scho ah. oh [kom di ] auf Wiedersehen [ Ortho S2 [v] Comment dit-on "auf Wiedersehen" en français? [41] 120 [08: 37.8] 121 [08: 40.5] 122 [08: 41.4] 123 [08: 45.8] S 1 [v] [ p [au vua ] [au revuar] (schreibt ab) Ortho S1 [v] *Je pense que au revoir. Au revoir S2 [v] ] [ p se o vua .] Ortho S 2 [v] C'est peut-être Je pense que c'est au revoir. [42] 124 [08: 49.8] 125 [08: 54.6] 126 [08: 56.6]127 [08: 57.5] 128 [09: 00.0] S1 [v] weles? das isch s S2 [v] also (lacht) also das cha ni no nid das (zeigt darauf) Quiz drü. [43] . . 129 [09: 01.5] 130 [09: 05.4] S1 [v] schwierigste S2 [v] mou dr [pie ] das hei mir jo scho. Auso. [a k l p en Ortho S2 [v] Pierre. A quel prénom français [44] . . 131 [09: 10.8] 132 [09: 13.7] S1 [v] [ p Ortho S1 [v] Je pense que c'est Pierre. S2 [v] l p en itali [wui (1) p Ortho S2 [v] correspond le prénom italien Pietro? Oui. Je pense que auch Abb. 9: «Je pense que c’est…» (Transkript UAK1Su1b, 5-9; 40-44) Die beiden Schülerinnen, die von ihrer Lehrerin als Lernende mit mittlerer Leis‐ tung (zwischen den Niveaus A1.2 und A2.1) eingeschätzt werden, verwenden bei der Bearbeitung der Lernaufgabe A „Le quiz“ für den Antwortsatz sehr häufig den chunk „Je pense que c’est…“. Der chunk wird jedoch zu Beginn der Interaktion von S1 fehlerhaft verwendet. S1 sagt *Je pense que à Rome (Zeile 5) und vergisst den Teil c’est. Bei Zeile 6 verwendet S2 den chunk korrekt und sagt Je pense que c’est la chauve-souris. Auch wenn S1 nun die korrekte Verwendung gehört hat, sagt sie bei den zwei nächsten Antwortsätzen wieder *Je pense que Mount Everest (Zeile 7) und *Je pense que Neil Armstrong (Zeile 152 Gwendoline Lovey <?page no="153"?> 9), ohne dass S2 sie dabei korrigiert. Danach (Zeilen 10-39) verwenden die beiden Schülerinnen einen anderen chunk für ihre Antwortsätze, aber als S1 gegen Ende der Interaktion wieder auf „Je pense que c’est…“ zurückgreift und den chunk fehlerhaft verwendet (*Je pense que au revoir, Zeile 41), wird sie von S2 mittels eines recasts korrigiert. S2 wiederholt den ganzen Satz und sagt Je pense que c’est au revoir (Zeile 41). Beim nächsten Antwortsatz in Zeile 44 verwendet S1 den chunk korrekt und sagt Je pense que c’est Pierre. Man könnte das so interpretieren, dass S1 nicht fähig war, die korrekte Form des chunks herauszuhören und auf eigene Sätze zu übertragen, solange S2 ihn in anderen Sätzen verwendete. Doch sobald S2 den Satz von S1 umformuliert und dabei den chunk korrekt verwendet, gelingt S1 der Transfer auf ihren nächsten Antwortsatz. S2 verlässt also den laufenden Gesprächsstrang und eröffnet eine Nebensequenz, weshalb hier die Form des recast als explizite Feedbackform erscheint, denn sie ermöglicht den direkten Vergleich des fehlerhaften Satzes mit der korrigierten Form, die S1 für die nachfolgende Selbstkorrektur vermutlich benötigt. Die Form des recast findet in Form einer herausgestellten Korrektur statt, wobei dies das einzige Mal im Verlauf des Gesprächs ist, dass S2 einen fehlerhaften Satz von S1 aufnimmt, ihn korrigiert und dafür die inhaltliche Ebene für einen Moment verlässt. 3.2.3 Kontrolle und Reparatur: Deutlichkeit des Kommunikationsproblems Das Konzept „wie deutlich ein Kommunikationsproblem sein muss, bevor mit der Reparatur begonnen wird“ (Europarat 2020, 86) kann mittels der Daten des Dissertationsprojekts beschrieben werden. Der Transkriptauszug „Botte“ zeigt, wie zwei Schüler, die beide von der Lehrerin als lernstark d. h. auf Niveau A2.1 eingestuft werden, die Quizfrage zu ‚Botte‘ bearbeiten und dabei ein Kommunikationsproblem lösen. [29] 112 [12: 09.9] 113 [12: 17.6]114 [12: 19.9] 115 [12: 21.2] S1 [v] ah italia S2 [v] [kel pe'i dœ op a la fo m dyne bwat] nei das isch e stifu Ortho S2 [v] Quel pays d'Europe a la forme d'une boîte (sic)? [30] 116 [12: 22.3]117 [12: 24.3] 118 [12: 28.3] 119 [12: 30.1] 120 [12: 31.9] S1 [v] ebe stiefel [bot] nein [bot] der stiefel Ortho S 1 [v] botte botte S2 [v] [d bwat] (2) [bwat] ah ja die schachtel Ortho S 2 [v] de boîte (sic) boîte 153 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="154"?> [31] 121 [12: 35.0]122 [12: 41.8] 123 [12: 48.8] 124 [13: 01.5] S1 [v] Ortho S 1 [v] S2 [v] scho? (6) ah ja eh eh (7) (lacht) S3 [v] ah ja (10) Abb. 10: Transkriptauszug «Botte» (UAK2Su1, 29-31) S2 liest die Frage „Quel pays a la forme d’une botte? “ vor und verwechselt dabei [bot] mit [bwat]. Er versteht also anstelle von ‚der Stiefel‘ (la botte) ‚die Schachtel‘ (la boîte). Als sein Interaktionspartner S1 spontan „Ah Italia“ als Lösung vorschlägt, sagt S2 „Nein, [Italien] ist ein Stiefel“. S1 reagiert darauf mit „eben“, doch S2 liest den Schluss der Frage nochmals vor und sagt zwei Mal „boîte“, weshalb für ihn die Frage nicht mit Italien beantwortet werden kann. Sein Interaktionspartner S1 hilft ihm weiter, indem er die Aussprache korrigiert. Die korrektive Rückkopplung nimmt er in zwei Schritten vor, die nach der Klassifikation des corrective feedback von Lyster/ Ranta (1997) zunächst dem recast und dann der explicit correction entsprechen (Lyster/ Ranta 1997, 46-47). Beim recast wiederholt S1 das französische Wort botte in korrekter Aussprache und stellt ihm die deutsche Übersetzung ‚Stiefel‘ voran. Damit erzielt er noch nicht die erhoffte Wirkung bei S2, der auf [bot] mit „ah ja die Schachtel“ reagiert. Dies führt dazu, dass S1 explizit korrigiert, indem er seine nächste Äußerung mit „nein“ beginnt, bevor er die korrekte Übersetzung und Aussprache für S2 wiederholt. Nach der expliziten Korrektur bemerkt S2 seine fehlerhafte Aussprache und versteht die Frage richtig. Das Missverstehen der Quizfrage von S2 beruht auf einem fehlerhaften Phonem-Graphem-Bezug, was eine Korrektur nach sich zieht. In Bezug auf das Schlüsselkonzept „wie deutlich ein Kommunikationsproblem sein muss, bevor mit der Reparatur begonnen wird“ (Europarat 2020, 86) zeigt die Ana‐ lyse sprachlicher Leistungen auf A-Niveau im Dissertationsprojekt grundsätz‐ lich Folgendes: Fehlerhafte Phonem-Graphem-Bezüge werden dann korrigiert, wenn das Verstehen dadurch beeinträchtigt wird, also dann, wenn die inhalt‐ liche Ebene tangiert wird. Wenn Wörter nicht korrekt ausgesprochen werden, aber das signifié dennoch erkennbar ist, löst dies i. d. R. noch keine Korrekturen aus. Wenn hingegen durch die fehlerhafte Phonem-Graphem-Zuordnung einem signifiant ein anderes signifié zugeordnet wird, reagieren die Gesprächspartne‐ rInnen mit Korrekturen. Ein weiterer Beleg hierfür ist der Transkriptauszug „Maïs“, in dem zwei Schüler sich über die Antwort auf die Frage „Avec quelle céréale fait-on du 154 Gwendoline Lovey <?page no="155"?> pop-corn? “ austauschen. Es handelt sich bei diesen beiden Fokusschülern um Lernende, die über mittlere Sprechkompetenzen verfügen, sich also zwischen den Niveaus A1.2 und A2.1 situieren. [1] 0 [00: 00.0] 1 [00: 00.5] 2 [00: 01.4] 3 [00: 02.8] 4 [00: 04.8] S1 [v] [avek dy m ] [mains] ou, Ortho S1 [v] avec du maïs (*mains) avec du S2 [v] Wie hesch du das gschriebe? Es isch [mais]. Ortho S2 [v] maïs [2] . . 5 [00: 06.8] 6 [00: 11.5] S1 [v] [avek dy mais]. ok Ortho S1 [v] maïs S2 [v] ah i muess dir vorläse. [avek k l ge al e popko n]. Ortho S2 [v] Avec quelle céréale fait-on du pop-corn? [3] 7 [00: 15.9] 8 [00: 18.2] 9 [00: 21.9]10 [00: 23.3] S1 [v] [avek dy me] aha Ortho S1 [v] avec du maïs S2 [v] oh nei, du muesch jo z nächste lose [kel mo kom: sa pa la Ortho S2 [v] Quel mot commençant par Abb. 11: Transkriptauszug „Maïs“ (UAK3Su2, 1-3) Als Antwort auf die Frage, woraus Pop-corn gemacht sei, sagt S1 avec du [mɛ̃] und verwechselt dabei „maïs“ und „mains“: Er spricht also anstelle von ‚Mais‘ von ‚Händen‘. S2 bemerkt dies und schließt auf eine fehlerhafte Schreibweise. Er fragt nach, wie S1 das Wort geschrieben habe. Diese Form von Feedback entspricht einer clarification request, denn S2 bittet S1 um eine Erläuterung aufgrund eines Verständnisproblems, das wohl auf einen sprachlichen Fehler zurückzuführen ist. Als S1 ihm das Wort falsch buchstabiert, korrigiert er ihn explizit und sagt „Es ist [mais]“. Daraufhin wiederholt S1 die ganze Antwort mit der korrekten Form. Die Reparatur erfolgt in Form einer incorporation, da der korrigierte Ausdruck in den Antwortsatz integriert wird (cf. Lyster/ Ranta 1997, 50). Für S2 ist dies jedoch noch nicht ausreichend und er sagt, dass er die Quizfrage nochmals vorlesen müsse. Als S1 daraufhin die Antwort zum dritten Mal gibt, sagt er [me], also eine Mischform zwischen mains und maïs. Es ist zwar wieder nicht die korrekte Form, aber diese Form führt nicht mehr zu einem Missverständnis, das S2 lösen möchte resp. das er für relevant genug hält, um die 155 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="156"?> Progression des Gesprächs erneut zu bremsen. Es kann auch sein, dass S1 und S2 glauben, dass le maïs (‚der Mais‘) wie mais (‚aber‘) ausgesprochen werden muss und deshalb keine erneute Korrektur/ Reparatur erfolgt. Eigenkorrekturen oder Reparaturen können wie in den vorangehenden Beispielen inhaltlich motiviert sein, doch in den Daten des Dissertationsprojekts finden sich auch Momente, in denen ein sprachlicher Fehler eine Reparatur initiiert. Der Transkriptauszug „Au revoir“, in dem zwei Fokusschülerinnen interagieren, die von ihrer Lehrerin als Lernende mit mittlerer Leistung ein‐ geschätzt werden (zwischen den Niveaus A1.2 und A2.1), beinhaltet eine sprachlich fehlerhafte Äußerung, die zu einer Korrektur führt. [2] 6 [01: 07.5] 7 [01: 10.8] S1 [v] [k n (2) kom dit ] auf Wiedersehen [ se]. Ortho S1 [v] *Quand... Comment dit-on "auf Wiedersehen" en S2 [v] [wui], hani o. Ortho S2 [v] Oui. [3] . . 8 [01: 18.8] 9 [01: 21.6] 10 [01: 22.3] 11 [01: 24.3]12 [01: 54.6] S1 [v] [au ewua ] [o wua ] (30) ok Orth o S1 [v] français? Au revoir. Au revoir. S2 [v] [o wua ] Ortho S2 [v] Au revoir. Abb. 12: Transkriptauszug «Au revoir» (UAK1Su2, 2-3) Schülerin S1 antwortet auf die Frage, wie man „Auf Wiedersehen“ auf Franzö‐ sisch sage mit [au ʁewuaʁ]. Ihre Interaktionspartnerin korrigiert die Aussprache mittels eines recast, indem sie «au revoir» korrekt ausspricht. S1 wiederholt die korrekte Aussprache und korrigiert sich somit mittels einer repetition. Die feh‐ lerhafte Aussprache von S1 erzeugt zwar kein Missverständnis, doch offenbar irritiert sie S2 genügend, um S1 zu korrigieren, die ihrerseits unaufgefordert die korrekte Form repetiert. Es ist anzumerken, dass es sich hier zwar um einen sprachlichen Fehler handelt, dass bei der Quizfrage Comment dit-on „Auf Wiedersehen“ en français? jedoch die Sprache auch der Inhalt ist: Wäre der Ausdruck „au revoir“ in einer anderen Situation verwendet worden, bei einer Verabschiedung, so wäre vielleicht auch die Korrektur anders ausgefallen oder ganz entfallen, da die fehlerhafte Aussprache die Progression des Gesprächs nicht unbedingt gefährdet hätte. 156 Gwendoline Lovey <?page no="157"?> 4 Schlussfolgerungen in Bezug auf den GER Anhand der ausgewählten Transkripte aus dem Dissertationsprojekt wurden zu allen drei Schlüsselkonzepten des Bereichs „Kontrolle und Reparaturen“ des GER Begleitbands (Europarat 2020, 86) Beispiele präsentiert, die belegen, dass diese strategische Kompetenz bereits auf A-Niveau vorhanden ist resp. gefördert werden kann. Dafür braucht es allerdings Lernaufgaben, die in Paar- oder Gruppenarbeit bearbeitet werden und die die Inhalts- und Bedeutungskompo‐ nente einbeziehen, damit die Interaktionen möglichst authentisch und komplex ausfallen. Im Gegensatz zum Unterricht im Plenum haben die Schülerinnen und Schüler bei der Arbeit in der Gruppe nicht nur mehr Gelegenheit zum Sprechen, sondern sie erhalten auch mehr korrektives Feedback und somit die Möglichkeit, sich selbst und andere zu korrigieren. Je komplexer die Lernaufgaben sind, desto fehleranfälliger werden die Äußerungen der Lernenden und umso breiter wird das Feld möglicher „Kontrollen und Reparaturen“. Es fragt sich, inwiefern die Authentizität der Lernaufgaben das Anwenden dieser Strategie ebenfalls begünstigt: Wenn die Lernaufgaben auf authentische Interaktionen ausgerichtet sind, bleiben die Lernenden in ihren SchülerInnenrollen und können korrektives Feedback geben, ohne aus ihren Rollen zu fallen. Die Progression des Gesprächs wird zwar gebremst, aber die Ausgangslage der Interaktion bleibt dieselbe (sie tauschen als SchülerInnen Informationen aus). Es gälte nun zu prüfen, ob in einer simulierten Interaktion weniger korrektives Feedback gegeben wird, da die SchülerInnen dafür das Rollenspiel unterbrechen und ihre Rolle wechseln müssten. Es fragt sich auch, wie die Strategie „Kontrolle und Reparaturen“ in einer Lernaufgabe genutzt wird, die freier gestaltet ist und in der beispielsweise keine schriftlichen Sprachbausteine vorliegen. In Bezug auf das dritte Schlüsselkonzept des GER Begleitbands konnte em‐ pirisch basiert gezeigt werden, „wie deutlich ein Kommunikationsproblem sein muss, bevor mit der Reparatur begonnen wird“ (Europarat 2020, 86). Aus den Daten des Dissertationsprojekts geht hervor, dass sowohl die Eigenkorrektur (cf. „Shampoing“) als auch die Korrekturen durch die Interaktionspartnerin/ den Interaktionspartner (cf. „Maïs“, „Botte“) hauptsächlich inhaltlich motiviert sind oder auch dann erfolgen, wenn es sich um die Korrektur eines Ausdrucks handelt, der im Zentrum der Aufmerksamkeit steht (cf. „Au revoir“). Dieses Korrekturverhalten entspricht dem Reparaturverhalten der Schülerinnen und Schüler in Interaktionen in der L1, denn Reparatur wird grundsätzlich als Mittel zur Progression der Interaktion und der Aufrechterhaltung der Intersubjekti‐ 157 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="158"?> 4 Zur Begriffsklärung der Intersubjektivität: „Wie oder was wir antworten, nutzt der vorherige Sprecher, um zu kontrollieren, ob wir ihn richtig verstanden haben, um dann ggf. einzugreifen […]. Diese Strukturen dienen letztlich alle der gelingenden Herstellung von Intersubjektivität“ (Birkner 2020, 238). vität 4 eingesetzt. Dieses Korrekturverhalten entspricht auch der Faustregel, die man Fremdsprachenlehrpersonen für ihren Unterricht gibt (cf. Thaler 2017, 16): Für das Korrigieren in den so genannten kommunikativen Phasen wird Lehrpersonen anempfohlen, die Fehler zu korrigieren, die zu Verständnisproblemen führen (cf. Thaler 2014, 16). Grundsätzlich gilt es, beim Bereich „Kon‐ trolle und Reparaturen“ den Kontext zu berücksichtigen und zwischen schuli‐ schen und außerschulischen Situationen zu unterscheiden. In Alltagssituationen außerhalb des Lehr-Lernkontexts sind fremdinitiierte Fremdkorrekturen „ein Eingriff in den Redebeitrag und damit in den Handlungsraum des Sprechers“ (Bauer 2020, 373), „stellen dessen Handlungshoheit in Frage“ (ibid.) und sie „sind sozial dispräferiert, weil sie ein face-bedrohendes Potenzial haben“ (ibid.). Im schulischen Kontext und im Besonderen im Fremdsprachenunterricht sind fremdinitiierte Fremdkorrekturen weniger negativ konnotiert und werden von den Beteiligten als notwendiges Mittel zur Förderung der Sprachkompetenz an‐ gesehen. Dies bedingt allerdings, dass die Lehrpersonen und ihre Schülerinnen und Schüler ihren „Partizipationsstatus als (Be-)Lehrender oder Experte vs. Belehrter/ Lernender/ Laie“ (Bauer 2020, 372) annehmen. Auch im schulischen Kontext ist es wichtig, festzulegen, „wann und wie wir welche Reparaturformate nutzen und wie wir diese Formate konkret realisieren“ (ibid.). Für das Konzept der „Eigenkorrektur von Versprechern, Irrtümern und „be‐ liebten Fehlern““ wurde festgestellt, dass in einer Interaktion zwischen Lernenden der recast zu einer anschließenden Selbstkorrektur führen kann aber nicht muss und dass eine explicit correction aus lerntheoretischer Sicht zielführender zu sein scheint. In Bezug auf die Effizienz der Korrekturen nach dem Verständnis von Lyster/ Ranta (1997) lässt sich aus den Daten des Dissertationsprojekts vorerst ableiten, dass sich die Effektivität der verschiedenen Feedback-Formen bei Inter‐ aktionen unter Lernenden ähnlich verhält wie bei Interaktionen zwischen der Lehrperson und einer Schülerin/ einem Schüler (cf. Lyster/ Ranta 1997, 56). Dies legt nahe, dass die Kommunikationsstrategie „Kontrolle und Reparaturen“ im Fremdsprachenunterricht thematisiert werden sollte, um bei den Schülerinnen und Schülern das Bewusstsein dafür zu stärken. In einem lernendenorientierten Unterricht sind sie mitverantwortlich für ihre eigenen Fortschritte und für die Fortschritte ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. Reparaturformate können nämlich auch eingesetzt werden, „wenn Probleme des Sprechens, Hörens, Verste‐ hens und der Gesprächsorganisation nicht gegeben sind und weder Intersubjek‐ 158 Gwendoline Lovey <?page no="159"?> tivität noch Progression gefährdet scheinen. Dann verwenden die Gesprächsbe‐ teiligten Reparaturformate, um anderes (oder mehr) zu tun, als (nur) zu reparieren“ (Bauer 2020, 336). Aus fremdsprachendidaktischer Perspektive könnte es sich bewähren, die Lernenden dazu zu ermuntern, in Paar- oder Gruppenarbeiten „anderes (oder mehr) zu tun“ (ibid.), d. h., dass sie abwechselnd als Lernende und ExpertInnen agieren und es zur Selbstverständlichkeit wird, im Sinne des koope‐ rativen Lernens dadurch ihre eigene Sprechkompetenz und diejenige der anderen zu verbessern. Selbstverständlich bedingt dies einen im Vorfeld klar abgesteckten Rahmen mit definierten Regeln, damit die Lernenden sich gegenseitig korrigieren können, ohne dass sich dies potenziell beziehungsgefährdend auswirkt. Es scheint wichtig, dass den Lernenden klar ist, dass in Paar- und Gruppenarbeiten die Verantwortung für Korrekturen bei ihnen liegt, denn „ob die Beteiligten […] eine Reparatur initiieren, liegt allein in ihrem Ermessen“ (Bauer 2020, 334). Ihre korrektiven Feedbacks sind wertvoll für das Fördern der Sprachkompetenz ihrer peers, insbesondere wenn sie explizit ausfallen. In Bezug auf das Schlüsselkonzept des „Kurswechsels“ wurde im vorlie‐ genden Beitrag gezeigt, dass diese Taktik wie im GER Begleitband beschrieben effektiv auf den A-Niveaus noch deutlich erkennbar ist (cf. Europarat 2020, 86). Wie sich der Übergang von „deutlich erkennbar auf den A-Niveaus“ zu „sehr flüssig auf C-Niveaus“ auf den B-Niveaus gestaltet, müsste mit einem anderen Datensatz erforscht werden. Aufgrund des Forschungsergebnisses könnte man hingegen neu prüfen, ob im GER / GER Begleitband für die Niveaus Pre-A1, A1 und A2 des Bereichs „Kontrolle und Reparaturen“ ebenfalls Kann-Be‐ schreibungen formuliert werden müssten. Aus den empirischen Ergebnissen aus dem Dissertationsprojekt ließen sich beispielsweise folgende zusätzlichen Kann-Beschreibungen ableiten (kursiv gedruckt): Kontrolle und Reparaturen C2 Kann bei Ausdrucksschwierigkeiten so reibungslos neu ansetzen und um‐ formulieren, dass die Gesprächspartner kaum etwas davon bemerken. C1 Kann bei Ausdrucksschwierigkeiten neu ansetzen und umformulieren, ohne die Äußerung ganz abreißen zu lassen. Kann sich selber mit einer hohen Wirksamkeit korrigieren. B2 Kann oft rückwirkend seine/ ihre gelegentlichen Versprecher oder nicht-sys‐ tematischen Fehler und geringere Fehler in Satzstrukturen selbst korrigieren Kann Versprecher oder Fehler normalerweise selbst korrigieren, wenn sie ihm/ ihr bewusst werden oder wenn sie zu Missverständnissen geführt haben. Kann sich seine Hauptfehler merken und sich beim Sprechen bewusst in Bezug auf diese Fehler kontrollieren. 159 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="160"?> B1 Kann Fehler bei Zeitformen oder bei Ausdrücken, die zu Missverständnissen führen, korrigieren, sofern die Gesprächspartner signalisieren, dass es ein Problem gibt. Kann um Bestätigung bitten, dass er/ sie eine Form korrekt gebraucht hat. Kann noch einmal neu ansetzen und eine andere Taktik benutzen, wenn die Kommunikation zusammenbricht. A2 Kann aufgrund eines Missverständnisses auf eine fehlerhafte Äußerung schließen und diese ggf. mit Unterstützung der Gesprächspartner korrigieren. A1 Kann Versprecher oder Fehler korrigieren und korrekt in eine Äußerung inte‐ grieren, wenn ihr/ ihm die korrekte Form angegeben wird. Kann das Thema wechseln oder eine andere Taktik benutzen, wenn die Kommunikation aufgrund eines ungelösten inhaltlichen Missverständnisses zusammenbricht. Pre-A1 Kann die korrekte Form eines Versprechers oder eines Fehlers nachsprechen, wenn ihr/ ihm die korrekte Form angegeben wird. Abb. 13: Kann-Beschreibungen zum Bereich «Kontrolle und Reparaturen» (Europarat 2020, 80) mit Vorschlägen für ergänzende Deskriptoren (kursiv) In der bestehenden Skala findet man die Unterstützung der Gesprächspartner zur Selbstkorrektur auf dem Niveau B1. Für die Niveaus B2 und C1 ist diese offenbar nicht oder kaum mehr nötig, um eine Selbstkorrektur vorzunehmen. Lernende auf den A-Niveaus sind für die Selbstkorrektur hingegen auf ein ‚Gegenüber‘ angewiesen, was in den Vorschlägen für zusätzliche Kann-Be‐ schreibungen zu Pre-A1, A1 und A2 zum Vorschein kommt. Zu Beginn sollten die Lernenden fähig sein, die korrekte Form, die angeben wird, zu repetieren (Pre-A1: repetition) resp. zu integrieren (A1: incorporation). Bei Niveau A2 sind die Kann-Beschreibungen in der Tabelle so formuliert, dass sie offenlassen, ob die korrekte Form angegeben wird oder die Lernenden die korrekte Form selbst finden. Die Strategie des self-repair wäre also ab Niveau A2 bereits vorstellbar. Eine wichtige Komponente bei der Formulierung neuer Kann-Beschrei‐ bungen stellt auch die inhaltliche Ebene dar. „Missverständnisse“, die für die Niveaus B1 und B2 als Kriterium für Selbstkorrektur aufgeführt sind, müssten aufgrund der Ergebnisse auch bei den tieferen Niveaustufen eine zentrale Rolle spielen. Wenn das Missverständnis ungelöst bleibt, kommt der Kurswechsel zum Tragen, der sich auf dem A-Niveau beispielsweise durch einen Themenwechsel äußert. Im Beitrag wurde deutlich, dass die Kommunikationsstrategie „Kontrolle und Reparaturen“ bereits auf den Niveaus A1 und A2 von Relevanz ist. Als For‐ schungsdesiderat kann festgehalten werden, dass durch weitere Überlegungen 160 Gwendoline Lovey <?page no="161"?> und in Folgeprojekten geprüft wird, ob die vorgeschlagenen Kann-Beschrei‐ bungen für die Niveaus Pre-A1, A1 und A2 in dieser Form haltbar sind und ob sie nicht nur im schulischen, sondern auch im außerschulischen Kontext (unter ArbeitskollegInnen, Freunden, Fremden etc.) Gültigkeit haben. Transkriptionskonventionen Alphabet Kombination des lateinischen und des internationalen phonetischen Alphabets (IPA) Satzzeichen stehen für die Intonation am Ende einer sprachlichen Einheit . Senken der Stimme ? Heben der Stimme Groß-/ Kleinschrei‐ bung generelle Kleinschreibung, NON Großbuchstaben stehen für besonders laute Redebeiträge Fehler * vor einer fehlerhaften Äußerung Pause (.) Pause bis zu einer Sekunde (2) Angabe der Pausenlänge in Sekunden Dehnung ja: : : «: » am Ende der gedehnten Silbe oder des gedehnten Wortes Die Anzahl des Zeichens «: » entspricht der ungefähren Länge der Dehnung. Wortabbruch Franz- «-» am Ende des abgebrochenen Wortes Nicht-sprachliches Ereignis (leise) «(…)» rund um paraverbale Phänomene (lacht) «(…)» rund um nonverbale Handlungen oder Geräusche 161 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="162"?> Lautzeichen [fʁɑ̃se] «[…]» rund um die Lautzeichen Auslassung […] «[…]» rund um nicht transkribierte Sequenzen; mit Angabe der Zeit‐ dauer (unv.) «(unv.)» hinter Passagen, die unverständlich sind Abb. 14: Transkriptionskonventionen in der Dissertation Literatur Ahrenholz, Bernt. 2014. „Lernersprachenanalyse“, in: Settinieri et al. (ed.), 167-181. Appel, Joachim. 2016. „Fremdsprachen lehren“, in: Friederike Klippel (ed.): Teaching Languages. Münster: Waxmann, 21-38. 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Westhoff, Gerard. 2007. „Grammatische Regelkenntnisse und der GER“, in: Babylonia, 1/ 07, 12-21. 163 Interaktives Sprechen im lehrwerkbasierten Französischunterricht <?page no="165"?> Zur Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht Französisch Eine empirische Untersuchung zur Unterrichtsrealität Manuela Franke 1 Einleitung - Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht Bereits seit der durch das von Piepho (1974) in Zusammenarbeit mit „Christo‐ pher Candlin im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft Englisch an Gesamt‐ schulen (BAG Englisch) [erarbeitete] Konzept einer kommunikativen Didaktik“ (Schumann 2017, 163) und im Zuge der dadurch eingeleiteten kommunikativen Wende rückt die Mündlichkeit ins Zentrum des fremdsprachlichen Unterrichts (cf. ibid; Lütge 2017, 332sq; Blume/ Nieweler 2018, 2). Ihre Bedeutung zeigt sich auch an der Ausdifferenzierung der Sprechkompetenz im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GeR) (Europarat 2001) in „zusammenhängendes Sprechen“ monologischer Natur und der interaktionalen Komponente des „an Gesprächen teilnehmen“ (2001, 36). Ebenfalls als Beweis für die steigende Wichtigkeit der Mündlichkeit kann die Aufnahme der Sprachmittlung in die Skalen des Referenzrahmens verstanden werden, auch wenn diese nicht nur mündlich durchgeführt werden kann. Auch in den Bildungsstandards (KMK 2012) und den Lehrplänen zeigt sich die Relevanz der Mündlichkeit. Die aktuellen Prinzipien des modernen Fremdsprachenunterrichts zur Stär‐ kung der Mündlichkeit fordern hierbei eine Orientierung an den „tatsächlichen Kommunikationsbedürfnissen und den Kommunikationsnotwendigkeiten der Lernenden“ (Schumann 2 2017, 163). Dabei müsse die Ver- und Anwendung der Fremdsprache weitaus mehr Raum einnehmen als das bloße Wissen über das Sprachsystem, so Schumann ( 2 2017, 163). Diesem Grundsatz folgend bedeutet das, dass die Fähigkeit der Lernenden, in der Fremdsprache zu kommunizieren und sie zur „persönlichen Teilhabe an der zielsprachlichen Kommunikation zu nutzen“ (ibid.), das übergeordnete Lernziel des fremdsprachlichen Unterrichts darstellt. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es außer der „Anwendung von <?page no="166"?> 1 Diese Kompetenzen entsprechen jenen im Modell von Kommunikativer Kompetenz wie sie bereits von Canale/ Swain (1980), sowie in Weiterentwicklung von Celce-Murcia et al. (1995) vorgeschlagen wurden. Sie stellen die Grundlage für die Kompetenzbeschrei‐ bungen des GeR bzw. GERS dar. Fertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben)“ (ibid.) und dem Vorhanden‐ sein von „Sprachwissen (Wortschatz, Grammatik)“ (ibid.) auch maßgeblich „tiefere[r] Einsichten in die linguistische, soziolinguistische und pragmalingu‐ istische Komplexität der Kommunikation“ (ibid.) seitens der Lernenden. So beinhaltet das Konzept des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts eine Reihe von Kompetenzen, die miteinander verwoben sind 1 : „(1) linguistische Kompetenz, d. h. die Fähigkeit, sich auf lexikalischer, grammatikali‐ scher, semantischer und phonologischer Ebene angemessen und für andere akzeptabel auszudrücken; (2) soziolinguistische Kompetenz, d. h. die Fähigkeit, soziale Bezie‐ hungen zu etablieren und sprachlich zu gestalten, registerbezogen zu formulieren sowie Sprachvarietäten zu erkennen und in der Interaktion zu berücksichtigen; (3) pragmatische Kompetenz, d. h. die Fähigkeit, den sprachlichen Diskurs situationsan‐ gemessen und funktional im Sinne der kommunikativen Intentionen zu gestalten; (4) strategische Kompetenz, d. h. die Fähigkeit, Interaktionen zu planen, auszuführen und zu kontrollieren und Kommunikationshindernisse (z. B. Missverständnisse) auszuräumen.“ (ibid., 166) Mit dieser hier nur in Kürze dargestellten Auffassung eines modernen, die Förderung der Mündlichkeit fokussierenden Fremdsprachenunterrichts geht ein grundlegender Wandel im Rollenverständnis von Lehrkräften und Schüler/ -innen einher: ein Wechsel von einem lehrer- und inputorientierten Fremdsprachenunterricht zur Fokussierung auf die Lernenden und ihren Output (cf. ibid., 163). Bestand die Aufgabe von Lehrenden im traditionellen fremdsprachlichen Unterricht primär in der Vermittlung von Wissen, so sollen sie im kommuni‐ kativ orientierten Unterricht Lernprozesse anleiten und den Schüler/ -innen beratend zur Seite stehen als Lernbegleiter/ -innen. Zu diesem Zweck sollen die Lernenden aktiviert und durch entsprechende Lernarrangements sowie durch „interessante, inhaltlich relevante Materialien [zu] kommunikative[m] Handeln an[ge]reg[t]“ (ibid., 164) werden. Ziel ist es, dass die Lernenden sich einerseits sprachliche Kompetenzen zu eigen machen und diese selbstständig anwenden, andererseits sollen sie „in der Auseinandersetzung mit Kommunikationssitua‐ tionen und Themen Diskursstrategien […] erwerben und das Kommunizieren in der Fremdsprache als soziales Handeln […] erfahren“ (ibid., 164). 166 Manuela Franke <?page no="167"?> Die im fremdsprachenunterrichtlichen Kontext zentrale Förderung der Mündlichkeit fokussiert den Aufbau einer Sprechhandlungskompetenz. Diese kann als „sprachliches Handeln im Rahmen einer Kommunikationssituation“ (Blume/ Nieweler 2018, 2) definiert werden und ist entsprechend eng „mit dem Hörverstehen als komplementäre Grundfertigkeit“ (ibid.) verbunden. Im Gegen‐ satz zur Sprachkompetenz, die ein alle Grundfertigkeiten umfassendes Beherr‐ schen der Fremdsprache meint, versteht man unter Sprechhandlungskompetenz die Befähigung zur „sprachlich richtig[en] und kommunikativ angemessen[en]“ (Tschirner 2001, 92; op.cit. Neveling/ Hover/ Zausch 2012, 107), mündlichen Verwendung von Sprache. Das bedeutet, dass Schüler/ -innen in die Lage versetzt werden sollen, ein Gespräch in der Zielsprache zu führen oder sprachmittelnd tätig zu werden (cf. Blume/ Nieweler 2018, 2). Sowohl im GeR als auch in den Bildungsstandards für die fortgeführte Fremd‐ sprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (KMK, 2012) wird die Kompetenz ‚Sprechen‘ in zwei Formen unterteilt (Blume/ Nieweler 2018, 2): ● „[das] monologisch-zusammenhängende Sprechen, z. B. in Form eines Vortrags, Referats oder einer Präsentation. Zusammenhängendes Spre‐ chen bedeutet, komplexere Gedanken kohärent und flüssig darlegen zu können. ● [das] Teilnehmen an Gesprächen. Ein alternativer Begriff wäre interaktives Sprechen (z. B. im Dialog, in Gruppen, im Kreis).“ Das monologische Sprechen als asynchrone mündliche Kommunikation, wie zum Beispiel in Vorträgen und Referaten gebräuchlich, ermöglicht einen hohen Grad an Planung und Vorbereitung. Dadurch nehmen die „sprachliche Komplexität und Elaboriertheit“ (Zydatiß 2 2017, 258) entsprechend zu. Blume und Nieweler (2018, 2sq.) definieren das dialogische Sprechen als für den Fremdsprachenunterricht relevanter, da es sich hierbei um den „Normalfall der Kommunikation“ handele. Um spontane Sprechhandlungen auszuführen, müssen die Lernenden nach Levelts (1989) mehrfach validiertem Modell Folgendes leisten: Zunächst wird eine noch nicht verbalisierte Mitteilungsabsicht lexikalisch und grammatika‐ lisch enkodiert. Sie gelangt dann zur Artikulation, also zur „offenen Sprache“, die im Anschluss von den sprechenden Personen über das Hörverstehen hinsichtlich der Korrektheit überprüft werden kann. Dabei zeichnen sich Dialoge durch verschiedene Aspekte aus: Einerseits muss die (Fremd)Sprache in Echtzeit und somit unter außerordentlichem Zeitdruck verarbeitet werden, andererseits handelt es sich um eine reziproke Gesprächsform, bei der die 167 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="168"?> 2 Ausführlich zum Unterschied zwischen gesprochener Sprache und Schriftsprache im Französischen siehe beispielsweise Müller (1990). Sprechenden versuchen, z. B. turn-taking auszuhandeln und die Basis des gemeinsamen Verstehens sicherzustellen (cf. Zydatiß 2 2017, 257; Plikat 2012, 6). In Gesprächen sind außerordentlich viele Faktoren von Belang: „Ant‐ worten des Gesprächspartners, Unterbrechungen, Kommentare, Nachfragen, Themenwechsel, plötzlich auftretende sprachliche Schwierigkeiten, aber auch para- und extralinguistische Zeichen […]“ (Plikat 2012, 5). Erschwert wird das dialogische Sprechen dadurch, dass Lernende konstant zwischen den Kompetenzen Hörverstehen und Sprechen wechseln müssen. Dabei müssen sie mit der Unsicherheit, ob sie alles richtig verstanden haben (cf. ibid.), umgehen können und ggf. Nachfragen stellen. Hinzu kommt die für Dialoge typische Notwendigkeit, „auf Unvorhergesehenes [spontan] reagieren zu können“ (Blume/ Nieweler 2018, 2sq.). Entsprechend kann und muss diese Art der Kommunikation außerhalb des Fremdsprachenunterrichts gar nicht und im Klassenzimmer nur bedingt syntaktisch komplex geplant werden. Schließlich nutzen Sprechende in der Dialogsituation insbesondere „Satz‐ stämme, feste Fügungen, Parataxe [und] eher hochfrequente, leicht abrufbare Wörter bzw. Wortgruppen (mit relativ vielen Pausen, Füllseln, Abbrüchen, und Ellipsen)“ (Zydatiß 2 2017, 257). Die Anwendung der Fremdsprache in spontanen Gesprächssituationen ist für Schüler/ -innen also schwierig und mühsam. Nicht nur müssen sie in der Fremdsprache miteinander sprechen, also zuhören und aufeinander reagieren, sie müssen auch den Unterschied zwischen ihrem Ausdruckswunsch und ihrem fremdsprachlichen Ausdrucks‐ vermögen aushalten können (cf. Blume/ Nieweler 2018, 3; Plikat 2012, 5). Als weitere Schwierigkeit ist im Kontext der Sprechhandlungskompetenz der sprachliche Code zu sehen. Im Französisch herrscht eine große Diskrepanz zwischen dem sprachlichen Code für Gesprächssituationen und dem für das Lesen und Schreiben 2 . Zudem sind Aspekte wie „etwa die Stimmlage, die Intonation, die Sprechgeschwindigkeit, die Lautstärke, Lachen, Räuspern, aber auch Mimik, Gestik und sonstige Körpersprache“ (Plikat 2012, 5) für das Gelingen von authentischen Sprechsituationen von großer Bedeutung. Basierend auf den besonderen Aspekten des mündlichen Sprachgebrauchs lassen sich in Anlehnung an Plikat drei Säulen benennen, um die Sprechkompe‐ tenz systematisch zu fördern: 1. ein konsequenter Gebrauch der Fremdsprache als Unterrichtssprache / 2. die Gestaltung sinnvoller Lernarrangements zur Förderung der Sprechkompetenz / 3. die Evaluation der Lernprozesse, z. B. in 168 Manuela Franke <?page no="169"?> 3 Die Evaluation mündlicher Sprechhandlungen von Lernenden wird in diesem Bei‐ trag im täglichen Unterrichtskontext und mit dem Ziel, aus der Rückmeldung zum sprachlichen Output zu lernen, in den Blick genommen, nicht aber im Sinne von Klassenarbeiten. Form von mündlichen Klassenarbeiten. 3 Im vorliegenden Beitrag soll der Fokus auf der Gestaltung von Lernarrangements zur Förderung der Mündlichkeit liegen und der Frage nachgegangen werden, wie diese basierend auf dem Einsatz von Lehrwerken gestaltet werden können. 2 Lernarrangements zur Förderung der Sprechkompetenz im ersten Lernjahr Der Förderung der Mündlichkeit im Anfangsunterricht kommt eine besondere Stellung zu, die von diversen Herausforderungen, aber auch Chancen geprägt ist. Im Idealfall sollte der Kontakt der Lernenden mit der Fremdsprache zu Beginn primär mündlich, im Einüben von Chunks und Phrasen zur Begrü‐ ßung / Verabschiedung, zum Kontaktaufbau oder Kontakthalten, Smalltalk oder zur Selbstpräsentation erfolgen. Der erste Kontakt mit der Fremdsprache über die Mündlichkeit soll hiernach zu einem nachhaltigen Sprachenlernen verhelfen, das Ohr für neue Aussprachephänomene, Intonation und Prosodie schulen und bereits durch erste, frühe Erfolge motivieren. Die in den Bildungs‐ standards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) vorgenommene Unterscheidung in ein grundlegendes und erhöhtes Niveau sieht bereits für das als grundlegend definierte Niveau A1 einen Aufbau von Fähigkeiten im monologischen wie im dialogischen Sprechen vor. Um dies zu erreichen, sollten schon im ersten Lernjahr spezifische Lernarrangements geschaffen werden, im Rahmen derer sich Schüler/ -innen ausprobieren können. Damit Lernarrangements für den Aufbau der Sprechhandlungskompetenz fruchtbar sind - und bereits von Anfang an zu einem nachhaltigen Aufbau von Mündlichkeit beitragen -, müssen folgende Aspekte besondere Berücksichtigung erfahren: 1. Die Aktivitäten zur Sprechhandlungskompetenzförderung sollten so ge‐ staltet sein, dass der größtmögliche Anteil der Lernenden über einen mög‐ lichst langen Zeitraum, möglichst viel individuelle Redezeit beanspruchen kann bzw. muss (cf. Plikat 2012, 7; Blume/ Nieweler 2018, 5; Funk 2014, 46). 2. Um eine den Kompetenzaufbau unmöglich machende Überforderung zu vermeiden, sollten den Schüler/ -innen Hilfestellungen zur erfolgreichen Umsetzung der von der Lehrkraft geforderten Aktivität zur Verfügung 169 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="170"?> stehen. Hierfür sind ab dem ersten Lernjahr einerseits themenbezogene sprachliche Mittel (anlassbezogenes scaffolding), andererseits allgemeine Redemittel, die auch in anderen Sprechsituationen Verwendung finden können (systematisches scaffolding), von Nöten (Thürmann 2010; op. cit. Plikat 2012, 7). Insbesondere im Anfangsunterricht stellt die Diskrepanz zwischen dem, was Lernende bereits ausdrücken können und dem, was sie ausdrücken möchten, eine große Herausforderung dar. „[…] Lehrkräfte können ihre Schüler anhalten und dabei aktiv unterstützen, alles, was schon möglich ist, in der Zielsprache mitzuteilen“ (Blume/ Nieweler, 5). Hierfür bedarf es auch Unterstützungsangebote zur sprachlichen Form (z. B. Verbformen), zur Struktur von Sprachhandlungen (z. B. Aufbau einer Präsentation) und zu Strategien (z. B. Nachfragen bei Nicht-Verstehen). 3. Möglichst authentische Redeanlässe sollten stets die Basis für kommuni‐ kative Aktivitäten mit dem Ziel der Förderung von Sprechhandlungskom‐ petenz darstellen. Zentral ist hierbei, dass die Lernenden einen Grund zur Kommunikation, also ein echtes Mitteilungsbedürfnis, haben. Dies kann zum Beispiel dadurch gestaltet werden, dass nur ein Teil der Schüler/ -innen eine Information hat, die dann von den anderen Lernenden herausgefunden werden soll (information-gap-activity) (cf. Plikat 2012, 8; Blume/ Nieweler 2018, 4). Ein starker Redeanlass besteht außerdem, wenn Lernende „als sie selbst sprechen […] können“ (Schatz 2017, 26). So haben die Schüler/ -innen die Möglichkeit, ihre echte Interaktionsfähigkeit zu testen (cf. ibid.). Deshalb sollte der Anfangsunterricht so gestaltet sein, dass Schüler/ -innen die Möglichkeit haben, „[…] möglichst viel über sich sprechen [zu] können (Familie, Freunde, Hobbys, Ferien, Vorlieben und Abneigungen etc.)“ (Blume/ Nieweler 2018, 4). 4. Auch ein systematisches Rückmelden zum „Was“ und „Wie“ der Sprech‐ handlungen von Lernenden ist grundlegend für einen gezielten Aufbau der Sprechhandlungskompetenz. Vor allem für die Sekundarstufe I stellen Blume und Nieweler (2018, 7sq.) fest, dass Lernenden nur in Ausnah‐ mefällen Feedback zu mündlichen Aktivitäten gegeben wird. (cf. Blume/ Nieweler 2018, 7sq.) 170 Manuela Franke <?page no="171"?> 4 Der Begriff Lehrwerk wie ich ihn verwende umfasst eine Vielzahl von „unterschiedli‐ chen Medien: Schülermaterial, Lehrermaterial, audiovisuelle Medien, Vorlagen, Aufga‐ bensammlungen“ (Fuchs/ Niehaus/ Stoletzki 2014, 9). 3 Der Einsatz des Lehrwerks zur Förderung der Sprechhandlungs‐ kompetenz Vor allem in der Sekundarstufe I nimmt das Lehrwerk 4 in der täglichen Unter‐ richtsgestaltung seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle ein (cf. i. a. Kurtz 2011, 3; Stöber 2010, 6; Sommerfeldt 2015, 91; Thaler 2011, 18). Aufgrund seiner engen Orientierung an Lehrplänen und Standards (cf. Stöber 2010, 6) kann es als „Ver‐ mittler zwischen Curriculum und Unterrichtsgestaltung“ (Nieweler 2010, 175) angesehen werden. Und obgleich sich mit Voranschreiten der Digitalisierung ein bevorstehender Wandel der Lehrwerke abzeichnet, wird aktuell (noch) die gedruckte Version derselben bevorzugt. 2014 postuliert Küster (2014, 131sq.): Im durch ein Lehrwerk gelenkten Un‐ terricht seien die Sprechhandlungen der Schüler/ -innen in der Regel „als direkte Reaktion auf mündliche Impulse der Lehrkraft bzw. auf schriftliche Stimuli des Lehrwerks“ (Küster 2014, 131) angelegt. Es fehle an Gelegenheiten, mittei‐ lungsbezogen und improvisierend in mündliche Kommunikation zu treten. Dies sei durch „Kleinformen, in denen es [MF: das Sprechen] in einem überschau‐ baren Anspruchsrahmen schrittweise erprobt und erweitert“ (ibid., 132) wird, erreichbar. Nun haben sich die Lehrwerke seit 2014 stark weiterentwickelt und schlagen aktuell einen noch konsequenter am Postulat des Primats Mündlichkeit orientierten Weg ein. Es fehlt aktuell jedoch noch an strukturierten Analysen zur in den Lehrwerken der neuen Generation angelegten Förderung von Sprech‐ handlungskompetenz, wie ihn beispielsweise Dienes und Mendez (2007) für den jeweils ersten Band von À plus! und Découvertes von 2004 vornehmen. Auch zum Umgang mit dem bzw. zu der Nutzung des Lehrwerks existieren bis heute nur vereinzelte empirische Untersuchungen (meines Wissens zuletzt i. a. von Kurtz 2011; von Thaler 2011 als Desiderat benannt). Es stellt sich die Frage, wie Lehrkräfte das durch die Lehrwerke vorhandene Angebot konkret zur Förderung der Sprechhandlungskompetenz einsetzen, was Fragen nach der Quantität ebenso wie nach der Qualität einbezieht, um dem im Vorherigen skizzierten Primat und der Relevanz des Sprechens gerecht zu werden. Zwar wird - wie oben bereits erwähnt - davon ausgegangen, dass das Lehrwerk insbesondere in der Sekundarstufe I das Leitmedium des Unterrichts darstellt (cf. Thaler 2014, 5), es fehlt jedoch an empirischen Studien zum tatsächlichen Einsatz im Unterricht (nicht nur) der romanischen Sprachen. 171 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="172"?> 5 Sie sind Teil einer größer angelegten Studie zum Lehrwerkeinsatz, im Rahmen derer über 300 Unterrichtsstunden (Französisch und Spanisch) in verschiedenen Schulformen und Jahrgangsstufen / Lernjahren an Schulen in Brandenburg und Berlin beobachtet wurden. 6 Im Folgenden wird unter Unterrichts- oder Stundeneinheit ein in sich abgeschlossener Unterricht bezeichnet. Es kann also - je nach beobachtetem Format - eine 45-minütige oder eine 90-minütige Stunde gemeint sein. Aus oben dargestellten Überlegungen ergeben sich die folgenden tiefergeh‐ enden Fragen anhand diverser, den Unterricht beeinflussender Faktoren: 1. Faktor Zeit: 1. Wie lang wird insgesamt pro Unterrichtsstunde mit dem Lehrwerk gearbeitet? 2. Wieviel Zeit nehmen Aktivitäten zur Förderung der Sprechhandlungs‐ kompetenz ein? 2. Faktor Anlage der Schüler/ -innen-Aktivität zur Förderung der Sprechhand‐ lungskompetenz: 1. Zu welchen Schüler/ -innen-Aktivitäten fordern Lehrkräfte die Ler‐ nenden auf ? 2. Wie viele Schüler/ -innen sprechen aktiv? 3. Worüber und in welchen Rollen sprechen die Lernenden? 3. Faktor Unterstützungssystem während der Sprechhandlungen: 1. Wie wird das Lehrwerk zur Unterstützung der Lernenden eingesetzt? 4. Faktor Rückmeldung zu Sprechhandlungen der Lernenden: 1. Wie präsentieren die Lernenden ihre Sprechhandlungen? 2. Wie und wozu geben Lehrkräfte Rückmeldung zu den Sprechhand‐ lungen der Lernenden? Die im Folgenden dargestellten Forschungsergebnisse geben einen ersten Ein‐ blick in die lehrwerkbasierte Unterrichtspraxis von Lehrkräften in der siebten Klasse, erstes Lernjahr Französisch. Zu diesem Zweck wurden 24 Französisch‐ stunden ausgewertet, die von fünf Studierenden des Praxissemesters im Master für das Lehramt Französisch im Wintersemester 2019/ 20 beobachtet wurden. 5 Von den 24 hier ausgewerteten Unterrichtsstunden fanden 18 im Doppelstun‐ denformat (also neunmal 90 Minuten) und sechs als Einzelstunden (45 Minuten) statt, also insgesamt 15 Unterrichtseinheiten 6 . 172 Manuela Franke <?page no="173"?> 7 Unter Lehrwerkelement sind zum Beispiel Aufgabenstellungen, Lehrwerktexte, Hör‐ texte, Zeichnungen etc. zu verstehen. Anzahl der beobachteten Einzelstunden 6 Anzahl der beobachteten Doppelstunden 9 Anzahl der beobachteten Lerngruppen 8 Anzahl der beobachteten Lehrkräfte 7 Tab. 1: Stundenformat, Anzahl der beobachteten Lehrkräfte und Lerngruppen Der eigens für die Beobachtung des Lehrwerkeinsatzes konzipierte Bogen wurde in einer Pilotphase getestet, mit erfahrenen Lehrkräften aus diversen Kollegien diskutiert und evaluiert (Peer-Evaluation) und im Anschluss überar‐ beitet, bevor er final in die Erhebung durch die Studierenden eingebunden wurde. Die Studierenden notierten in ihm u. a., welche Aufforderungen zur Schüler/ -innen-Aktivität, die in irgendeiner Form mit dem Lehrwerk verbunden waren, die sieben beobachteten Lehrkräfte tätigten. Sie gaben außerdem die Zeitrahmen an, also von wann bis wann mit welchem Lehrwerkelement 7 gearbeitet wurde. Die beobachteten Stunden fanden an fünf verschiedenen Gymnasien in Berlin und Brandenburg statt. Verwendet wurden Découvertes 1 (2012) von Klett und À plus 1 (2017) von Cornelsen, wobei Découvertes in sechs Stundeneinheiten und À plus in neun Stundeneinheiten benutzt wurde. Im Folgenden werden die Beobachtungen anhand der oben skizzierten Faktoren und verfeinerten Fragen deskriptiv-statistisch ausgewertet. 3.1 Faktor Zeit 3.1.1 Wie lang wird insgesamt pro Stunde mit dem Lehrwerk gearbeitet? Das Lehrwerk wird in Doppelstunden mindestens 31-45 Minuten, in Einzel‐ stunden nur einmal weniger als 16 Minuten, nämlich sieben Minuten lang verwendet. Obwohl es in der Literatur - wie oben geschildert - als Leitmedium bezeichnet wird, nimmt es nur in zwei Fällen fast die gesamte oder die gesamte Einheit (einmal 90 Minuten) in Anspruch. Auch wenn sich der Status des Leitmediums nicht ausschließlich an der Einsatzlänge ausmachen lässt, wird dennoch deutlich, dass die Arbeit mit dem Lehrwerk in allen beobachteten Stunden mit anderen Unterrichtsmaterialien ergänzt wird. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass in beiden Stundenformaten durchschnittlich die Hälfte oder mehr Zeit der Unterrichtseinheit mit dem Lehrwerk gearbeitet wird. 173 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="174"?> 0 1 2 3 4 5 6 0-15 16-30 31-45 46-60 61-75 76-90 Einzelstunden Doppelstunden Abb. 1: Einsatz des Lehrwerks pro Einheit in Minuten 3.1.2 Wie viel Zeit nehmen Aktivitäten zur Förderung der Sprechhandlungskompetenz pro Stunde ein? Um den zeitlichen Umfang von Aktivitäten zur Sprechförderung zu messen, wurden alle unter 3.2.1 gelisteten Sprechhandlungen von Lernenden, einschließ‐ lich - falls erfolgt - die Arbeit mit den Resultaten berücksichtigt. Dies ergab, dass die Sprechhandlungskompetenz in drei der Einzelstunden und einer der Dop‐ pelstunden gänzlich unberücksichtigt blieb. In Einzelstunden lag die Zeitspanne, die für Aktivitäten zur Förderung der Sprechhandlungskompetenz genutzt wurde, zwischen mindestens sieben, höchstens 25 Minuten, in Doppelstunden zwischen zwölf und 90 Minuten. Es ist tendenziell erkennbar, dass Mündlichkeit in Doppelstunden mehr Zeit eingeräumt wird als in Einzelstunden. Es erscheint lohnenswert, diese Hypothese anhand einer größeren Stichprobe zu prüfen. Ebenfalls ist ein Vergleich zwischen Lernjahren und Fremdsprachen sowie Schulformen von Interesse, um eventuelle Unterschiede oder Entwicklungen zu verdeutlichen. 174 Manuela Franke <?page no="175"?> 0 1 2 3 4 5 6 0-15 16-30 31-45 46-60 61-75 76-90 Einzelstunden Doppelstunden Abb. 2: Ungefährer zeitlicher Aufwand zur Förderung von Sprechhandlungskompetenz in Minuten in Einzel- und Doppelstunden 3.2 Faktor Anlage der Schüler/ -innen-Aktivität zur Förderung der Sprechhandlungskompetenz 3.2.1 Zu welchen Sprechhandlungen fordern Lehrkräfte die Lernenden auf? In der folgenden Auflistung sind alle Aktivitäten vermerkt, zu denen Lehrkräfte die Schüler/ -innen im Kontext der Förderung von Sprechhandlungskompetenz aufgefordert haben und die mit dem Lehrwerk in den beobachteten Stunden gestaltet wurden. Dabei werden alle Aktivitäten genannt, die per se zum Akt des Sprechens gehören, wie beispielsweise Ausspracheübungen oder einen Dialog im Rollenspiel vorführen. Aktivitäten, die auch anderen Kompetenzen zugeordnet werden können (z. B. Wortschatzerarbeitung und -festigung oder Lesen von Lektionstexten etc.), wurden nur dann berücksichtigt, wenn sie direkt mit einer Sprechhandlung der Lernenden in Verbindung standen (z. B. zur Vorbereitung einer Kurzpräsentation). Einen Sonderfall stellt das Hören als dem Sprechen verwandte Grundfertig‐ keit dar: Auch wenn es „so untrennbar […] wie siamesische Zwillinge“ (Schatz 2017, 36) an das Sprechen gekoppelt ist und dem (parallelen) Hörverstehen v. a. im Kontext des dialogischen Sprechens eine zentrale Rolle zukommt, werden Aktivitäten, in denen das Hörverstehen im Fokus steht, nur dann berücksichtigt, wenn es als Basis für eine sich anschließende Sprechhandlung diente. Das bedeutet, dass z. B. Fragen von Lehrkräften zu Hörtexten, die von den Lernenden 175 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="176"?> mündlich beantwortet werden sollten, in die Untersuchung mit eingeflossen sind. Wurde ein Hörtext jedoch nur gehört oder im Anschluss schriftlich damit weitergearbeitet, findet dies in der Aufstellung keine Berücksichtigung. Basierend auf der Einordnung von Neveling, Hover und Zausch (2012, 112), die Aufgaben zum Lesen den „Unterrichtsverfahren zur Vorbereitung des freien Sprechens“ zuordnen, wurden Unterrichtsaktivitäten, in denen die Lernenden laut vor- oder mitlasen - auch wenn das Vorlesen von Texten aus dem Lehrwerk nur einen Teil der Redezeit der Lernenden ausmachen sollte -, ebenfalls erfasst und gemäß unten angeführter Kriterien kategorisiert. Mündlich durchgeführte, auf den reinen Erwerb grammatikalischer Struk‐ turen fokussierte Aktivitäten wie z. B. das im Plenum stattfindende, münd‐ liche Einsetzen von Verben in einen Lückentext (vgl. Beobachtungsbogen BoFr.19/ 20_5.4a+b) oder das mündliche Konjugieren von Verben, ebenfalls im Plenum (BoFr.19/ 20_5.5a+b, hier: être), werden nicht als Aktivitäten zur Förderung der (gelenkten oder freien) Sprechhandlungskompetenz gezählt, da sie primär mündliche Umwälzungsphasen darstellen. Diese hier vorgenommene Kategorisierung stellt jedoch nicht die Wichtigkeit der grammatikalischen Phänomene und ihrer Aussprache in Frage, ohne die ein Sprechen nur bedingt möglich wäre. Neveling, Hover und Zausch (2012) schlagen in ihrem Beitrag über Unter‐ richtsverfahren zur Förderung der Sprechkompetenz folgende vier übergeord‐ neten Kategorien vor: I) Unterrichtsverfahren zur Vorbereitung des freien Sprechens, II) Unterrichtsverfahren zur mündlichen Produktionskompetenz, III) Unterrichtsverfahren zur Förderung der Gesprächskompetenz und IV) Unter‐ richtsverfahren zur Förderung der Diskussionskompetenz. Für die hier folgende Auswertung wird der von Neveling, Hover und Zausch (2012) verwendete Begriff „mündliche Produktionskompetenz“ in Anlehnung an die Bildungs‐ standards in „zusammenhängendes monologisches Sprechen“ geändert. Statt „freies Sprechen“ wird hier der Begriff der „Sprechhandlung“ verwendet, da er weiter gefasst ist und - wie oben bereits geschildert - eine Befähigung zum „sprachliche[n] Handeln im Rahmen einer Kommunikationssituation“ (Blume/ Nieweler 2018, 2) meint. Außerdem werden III und IV zu einer Kategorie zusammengefasst, da Gesprächskompetenz und Diskussionskompetenz beide dem Oberbegriff „an Gesprächen teilnehmen“ zugeordnet und entsprechend ebenfalls in Anlehnung an die Bildungsstandards sowie den GeR benannt werden können. Es ergeben sich so die folgenden Kategorien: 1. Unterrichtsverfahren zur Vorbereitung von Sprechhandlungen 2. Unterrichtsverfahren zum zusammenhängenden monologischen Sprechen 3. Unterrichtsverfahren zum Teilnehmen an Gesprächen 176 Manuela Franke <?page no="177"?> 8 Neveling/ Hover, Zausch (2012, 110) gliedern ihre Unterrichtsverfahren zur Vorberei‐ tung des freien Sprechens in zentrale angestrebte Lernbzw. Lehrziele und unterteilen diese weiter in „situative Übungen zur Artikulation, Lexik und Grammatik“. 9 Die Autorinnen selbst weisen auf diesen Mangel hin und begründen ihn wie folgt: „Diese mangelnde Trennschärfe der Kategorien ist dem Umstand geschuldet, dass die hier vorgeschlagene Systematisierung eben kein theoretisches Modell darstellt, sondern helfen soll, eine gewisse Ordnung und Struktur in die Fülle möglicher Verfahren zur Förderung der Sprechkompetenzen zu bringen. Zudem erscheint eine strikte Abgrenzung angesichts des Desiderats, die Fertigkeiten und Teilkompetenzen integriert zu schulen, auch gar nicht zwingend notwendig.“ (Neveling, Hover, Zausch 2012, 110) Das erste Kategorisierungskriterium „Unterrichtsverfahren zur Vorbereitung von Sprechhandlungen“ fokussiert - wie auch bei Neveling, Hover und Zausch (2012, 110) - die Form, während in II und III der Inhalt der Sprechhandlungen im Fokus steht. 1. Unterrichtsverfahren zur Vorbereitung von Sprechhandlungen Von den sieben von Neveling / Hover / Zausch (2012, 112) festgelegten Zielen 8 von Unterrichtsverfahren zur Vorbereitung des freien Sprechens konnte in den Doppelstunden beobachtet werden, dass folgende zwei angestrebt wurden: a) Aufwärmung des Sprechapparats und b) Fragesätze bilden. Das Ziel a) Aufwärmung des Sprechapparats ist allerdings nicht ganz trennscharf definiert. 9 Da die Lernenden ihren Sprechapparat nicht nur aufwärmen, sondern auch trainieren, wird es durch die für die Analyse sinnvoller erscheinende Aktivität a) Trainieren des Sprechapparats ersetzt. Da die Lernenden in den beobachteten Stunden zwar keine Fragen bilden, aber Fragen beantworten müssen, wurde b) geändert in Fragen beantworten. Das Stellen und Beantworten von Fragen ist hingegen unter Punkt III gefasst. Zusätzlich können basierend auf den beob‐ achteten Stunden folgende Erweiterungen vorgenommen werden: c) Sammeln von für die Sprechhandlung relevantem Wortschatz und d) Beschäftigung mit gesprächsstrategischen Informationen. Insgesamt konnten 30 Aktivitäten mit dem Lehrwerk beobachtet werden, die der Förderung der Sprechhandlungskom‐ petenz dienen. 177 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="178"?> Oberkategorie Unterkategorie Mit dem Lehrwerk durch‐ geführte SuS-Aktivität Häufigkeit der Durch‐ führung a) Trainieren des Sprechappa‐ rats a.1 Vorlesen von Lese‐ texten oder Einzel‐ sätzen aus dem Lehr‐ werk SuS sollen den Schüler‐ buch-Dialog in Partnerar‐ beit oder Gruppenarbeit laut lesen 1 (Dstd.) SuS sollen den Schüler‐ buch-Dialog mit verteilten Rollen laut im Plenum lesen 1 (Dstd.) SuS sollen den Schüler‐ buch-Dialog laut im Chor im Plenum lesen 1 (Dstd.) SuS sollen Einzelsätze aus dem Lehrbuch im Plenum laut vorlesen 2 (Dstd.) SuS sollen ein Lied laut im Plenum mitsingen (hier: Ge‐ burtstagsständchen, Text im Lehrwerk abgedruckt) 1 (Dstd.) SuS sollen Einzelsätze unter besonderer Berück‐ sichtigung der Liaison laut lesen 1 (Dstd.) a.2 Mitlesen von Hör‐ texten SuS sollen den Hörtext hören und gleichzeitig den dazugehörigen Lesetext mit‐ lesen 1 (Dstd.) SuS sollen Einzelbegriffe aus einer Liste mit der Lehrkraft mitlesen und im Chor nach‐ sprechen 1 (Dstd) SuS sollen Einzelsätze (von der CD zum Schülerbuch) anhören und mitlesen und dabei die Liaison markieren 1 (Dstd) SuS sollen einen Hörtext hören und gleichzeitig Einzelbegriffe (hier: Möbel‐ stücke) mitlesen und Ein‐ zelbegriffe mit schwieriger Aussprache markieren 1 (Estd) 178 Manuela Franke <?page no="179"?> Oberkategorie Unterkategorie Mit dem Lehrwerk durch‐ geführte SuS-Aktivität Häufigkeit der Durch‐ führung a.3 Nachsprechen von Hörtexten oder Lehrkraftäuße‐ rungen SuS sollen Einzelbegriffe im Chor nachsprechen 3 (Dstd), 1 (Estd) SuS sollen anhand eines Zungenbrechers verschie‐ dene Aussprachen von ‚s‘ durch Anhören (CD zum Arbeitsheft) und Nachspre‐ chen üben 1 (Dstd) SuS sollen Teile des Hör‐ textes einzeln nachsprechen 2 (Dstd) SuS sollen den Hörtext hören, danach: SuS sollen den Lesetext laut im Plenum lesen 2 (Dstd) b) Fragen beant‐ worten SuS sollen inhaltliche Fragen der Lehrkraft zum Hör- und Lesetext mündlich beantworten 1 (Dstd) c) Sammeln von für die Sprech‐ handlung rele‐ vantem Wort‐ schatz SuS sollen Verben sammeln 1 (Dstd) d) Beschäfti‐ gung mit ge‐ sprächsstrategi‐ schen Informationen SuS sollen die Hinweise zum Spielen eines Rollenspiels lesen 1 (Estd) e) Anfertigung von Scaffolds oder Notizen als Grundlage für Sprechhand‐ lungen SuS sollen einen Dialog in Partnerarbeit schreiben 1 (Dstd) Tab. 2: Mit dem Lehrwerk durchgeführte Aktivitäten Nach einer ersten Analyse manifestiert sich der Eindruck, dass das Hauptau‐ genmerk im Anfangsunterricht Französisch offensichtlich dem Trainieren des Sprechapparats gilt. Hierbei kann zwischen dem Vorlesen von Lesetexten oder Einzelsätzen aus dem Lehrwerk (von Blume und Nieweler 2018, 5 auch als „dire 179 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="180"?> 10 Lange zählt in den von ihr untersuchten Französisch-Schülerbücher insgesamt 1253 Arbeitsaufträge. Von diesen identifiziert sie 123 (9,8%) als aussprachebezogen. „(Gezählt wurden alle Arbeitsaufträge in den Lektionen (Lerneinheiten und Differenzierungsteil), die eine Nummerierung aufwiesen. Lektionstexte wurden dann mitgezählt, wenn sie eine Nummerierung aufwiesen. Unterarbeitsaufträge wie 3a), 3b) usw. wurden als ein Arbeitsauftrag gezählt.)“ (Lange 2022, 37) l’oral“ bezeichnet) und dem Nachsprechen von Hörtexten oder Äußerungen der Lehrkraft unterschieden werden. Als Mischform zwischen den beiden ist das Mitlesen von Hörtexten zu sehen, da der Lese- und Hörprozess hier fast zeitgleich erfolgen. Die Aktivitäten zum Vorlesen weisen eine Vielzahl unterschiedlicher Facetten auf: Zum einen ist zwischen der zu lesenden Textart (Einzelsätze, Comics, Dialoge etc.) zu unterscheiden, zum anderen werden verschiedene methodische Umsetzungen vorgenommen. Die Schüler/ -innen lesen im Plenum, einzeln oder im Chor oder in Partnerbzw. Gruppenarbeit laut vor. Als Sonderform ist das Singen eines Geburtstagsständchens zu sehen. Hierbei handelt es sich um eine den Lernenden bekannte Melodie, innerhalb derer besonders nachhaltig Aus‐ sprache, Betonung und Satzmelodie geübt werden können. Zusätzlich handelt es sich um einen authentischen Sprechanlass (ein Kind der Klasse hat Geburtstag). Das laute Vorlesen kann die folgenden, für die Spracherwerbsphase be‐ sonders relevanten Funktionen haben: „Ausspracheschulung, Sprechtraining, Sprachschulung, Aufwärmtraining, […] Integration stiller Schüler, […] motiva‐ tionsfördernd (vermittelt Erfolgserlebnisse)“ (Küppers 1999, 242). In welcher Funktion in den hier beobachteten Stunden vorgelesen wurde, kann anhand der Beobachtungen nicht erfasst werden. Zu diesem Zweck ist eine Folgestudie von Interesse, in der zum Beispiel Unterrichtsstunden mit dem Lehrwerk gefilmt oder Lehrkräfte nach den Hintergründen ihrer Unterrichtsentscheidungen befragt werden. Im Gegensatz zum reinen Vorlesen wird beim Mitlesen und Nachsprechen zusätzlich ein Hörbeispiel (durch die Lehrkraft oder einen Hörtext) dem Lesen vorgeschaltet oder während des Lesens zur Verfügung gestellt. Hierdurch liegt der Fokus deutlicher auf der Ausspracheschulung. In beiden Fällen können sich die Lernenden an einem Sprachbeispiel orientieren und sind dazu ange‐ halten, dieses zu imitieren. Lange stellt in ihrer Untersuchung von aktuellen Spanisch- und Französischschülerbüchern hinsichtlich der Ausspracheschulung fest, dass die reine sprachliche Imitation der häufigste aussprachebezogene Arbeitsauftrag ist 10 . In den Schülerbüchern ist das reine Imitieren vor allem dann beliebt, wenn neue Vokabeln, kommunikative Formeln oder grammatische Formen eingeübt werden sollen. (Lange 2022) Durch das Imitieren machen sich 180 Manuela Franke <?page no="181"?> die Lernenden mit dem Sprachsystem der Fremdsprache vertraut, erkennen Satzmuster und gängige Formulierungen wieder, machen Satzakzente sowie die Phonem-Graphem-Relation mit all ihren Diskrepanzen aus, trainieren entspre‐ chende Muskeln im Mund, die Lippen- und Zungenbewegungen die mit der veränderten Aussprache einhergehen und können (vor allem beim Chorlesen) im geschützten Raum sprechen ohne sich auf Inhalte oder Formulierungen konzentrieren zu müssen. Zusätzlich wurden einerseits das Üben von einzelnen Aussprachephänomenen durch das gezielte Nachsprechen von Einzelbegriffen im Plenum oder das Sprechen von Zungenbrechern in die Unterrichtseinheiten integriert. Der Fokus der Lernenden wird so auf für das Französische typische sprachliche Besonderheiten (Prosodie, Intonation, Artikulation) gelenkt und die Lernenden werden für Unterschiede in der Aussprache sensibilisiert. An diese Erkenntnis anschließend stellen sich Fragen nach der Begründung der Lehrkräfte für diese starke Fokussierung auf das Trainieren des Sprechapparats, womit ein interessantes Forschungsfeld für weiterführende Studien unter Ein‐ bezug der Planungshintergründe aufgetan wird. Für die Kriterien b) bis e) konnte in den insgesamt 15 ausgewerteten Unterrichtseinheiten jeweils nur eine Aktivität beobachtet werden; dies ist insofern nicht verwunderlich als dass alle Lerngruppen noch am Beginn des Spracherwerbs (2.-3. Lektion des jeweiligen Lehrwerks) stehen. Dennoch sind in den ersten Lektionen der Lehrwerke auch Aktivitäten zu den Bereichen II und III vorgeschlagen, die aber in den beobachteten Stunden selten oder gar keine Beachtung fanden. Das Antworten auf Fragen der Lehrkraft, was als (zumindest im fremdsprachenunterrichtlichen Kontext sogar authentisches) Sprechhandeln definiert werden kann, ist als Vorbereitung von Sprechhandlungen zu sehen, wobei hier aufgrund der Sozialform nur wenige Schüler/ -innen aktiv sein können. Auch wenn Lehrkräfte selbst Frage-Antwort-Phasen nach dem Hören oder Lesen von Schülerbuchtexten als Sprechfertigkeitstraining verstehen (cf. Konzett-Firth 2020, 212), dient die Sprechhandlung m. E. in diesem Fall eher der Überprüfung des Hör- oder Leseverstehens und ist somit als Mittler- und nicht als Zielfertigkeit zu sehen. Auch wenn in der fachdidaktischen Diskussion über die Sinnhaftigkeit der vorherigen Verschriftlichung genuin mündlicher Sprachprodukte Uneinigkeit herrscht, kann diese Lernenden-Aktivität als Vorbereitung von Sprechhand‐ lungen gesehen werden. Es fand in den hier zugrundeliegenden Unterrichtsein‐ heiten keine mündliche Arbeit mit dem vorgeschriebenen Dialog statt, es ist aber nicht auszuschließen, dass dies in einer der Folgestunden der Fall war. Die Unterrichtsverfahren zur Vorbereitung von Sprechhandlungen werden als isolierte, in sich abgeschlossene Einzelübungen durchgeführt und dienen 181 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="182"?> innerhalb der einzelnen Unterrichtseinheiten nur in Ausnahmefällen der Vor‐ bereitung auf eine komplexere Sprechhandlung (z. B. „SuS sollen die Hinweise zum Spielen eines Rollenspiels lesen“ und „SuS sollen Verben sammeln“). Es finden somit kaum Vorbereitungen statt, die auf „inhaltsbezogene, auf kreative Sprachanwendung ausgerichtete, problemlösende, kooperativ und mehrschrittig angelegte Lernarrangements“ im Sinne von Siebold (2007, 63) hin‐ deuten. Damit soll jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die beobachteten Unterrichtsverfahren eine Grundlage für bedeutungsvolle Sprechhandlungen darstellen können. 2. Unterrichtsverfahren zur Förderung des zusammenhängenden monologi‐ schen Sprechens Neveling, Hover und Zausch (2012, 113) fassen unter diesem Verfahren folgende drei Teilkompetenzen: a) Beschreiben, b) Erzählen und c) Informationen prä‐ sentieren (hier der Vereinheitlichung halber und weil nicht nur Informationen präsentiert werden können nur „Präsentieren“ genannt). Dabei definieren sie das Beschreiben und Präsentieren als „faktenbasierte[,] das Erzählen als ästhe‐ tisch-subjektive Produktionskompetenzen“ (Neveling/ Hover/ Zausch 2012, 110). In den 15 hier analysierten Unterrichtseinheiten wurde zu allen drei Bereichen jeweils eine Aktivität beobachtet: a. Beschreiben - SuS sollen mündlich im Plenum beschreiben, was die Personen auf dem Bild tun (Dstd) b. Erzählen - SuS sollen eine Geschichte anhand von Zeichnungen mündlich im Plenum erzählen (Dstd) c. Präsentieren - SuS sollen ihre oder eine erfundene Familie in Form eines Kurzvor‐ trages im Plenum präsentieren (Dstd) Die Lernenden sollten jeweils Personen beschreiben, eine Geschichte erzählen bzw. ihre Familie im Rahmen eines Kurzvortrages präsentieren. Insbesondere im Kontext des Anfangsunterrichts stellt das zusammenhängende monologische Sprechen ein dankbares Format dar, ermöglicht es den Lernenden doch, ihre verbalen Äußerungen zu planen und vorzubereiten. In den hier beobachteten Stunden wurde dieser Vorteil nur im Fall der Präsentation der eigenen Familie genutzt. In den anderen beiden Fällen wurde die Sprechhandlung spontan im Plenum eingefordert, sodass zum einen die Anzahl der aktiv beteiligten Schüler/ innen als sehr gering einzuschätzen und eine Vorbereitung seitens der 182 Manuela Franke <?page no="183"?> Lernenden unmöglich ist. Die Bildungsstandards nennen in den Kann-Beschrei‐ bungen für das grundlegende Niveau im Bereich des zusammenhängenden monologischen Sprechens das Planen und adressatengerechte Vortragen von Textprodukten (KMK 2012, 17). Eine mündliche Textproduktion in diesem Sinne wird in den beobachteten Stunden nur ein Mal („SuS sollen ihre oder eine erfundene Familie in Form eines Kurzvortrages präsentieren“) durchgeführt. 3. Unterrichtsverfahren zur Förderung des Teilnehmens an Gesprächen Neveling, Hover und Zausch (2012, 114sq.) unterteilen hier - wie oben bereits er‐ wähnt - in „Unterrichtsverfahren zur Förderung der Gesprächskompetenz“ und „Unterrichtsverfahren zur Förderung der Diskussionskompetenz“. Sie fassen hierunter sechs verschiedene Teilkompetenzen (Kontaktgespräche führen, Aus‐ kunftsgespräche führen, Alltagsgespräche führen (Small Talk), Standpunkte begründen, einen Konsens aushandeln, Konflikte lösen), von denen in den hier zugrunde gelegten Unterrichtseinheiten nur „Kontaktgespräche führen“ und „Auskunftsgespräche führen“ - verständlicherweise in Anbetracht des Lernjahres - stattgefunden hat: a. Kontaktgespräche führen - SuS sollen einen Dialog (Thema: sich vorstellen) in Partnerarbeit als Rollenspiel schriftlich vorbereiten und mündlich vorspielen (EStd) b. Auskunftsgespräche führen - SuS sollen sich gegenseitig mündlich Fragen stellen und diese beant‐ worten (Dstd) Zweimal wurde in den beobachteten Stunden das dialogische Sprechen geför‐ dert, nämlich einmal in Form eines Auskunftsgesprächs und einmal in Form eines Dialogs. Das Auskunftsgespräch fand ohne weitere Vorbereitung in Part‐ nerarbeit statt. Die Lernenden sollten sich gegenseitig Fragen zu Handlungen auf Bildern im Lehrwerk stellen und diese beantworten. Da beiden Lernenden eines Paares dieselben Bilder zur Verfügung standen, kann in diesem Fall nicht von einem echten Mitteilungsbedürfnis, wie z. B. Plikat (2012, 8) oder Blume und Nieweler (2018, 4) es fordern, ausgegangen werden (Stichwort: Information-gap-activity). Das Rollenspiel (sich vorstellen) fand exklusive des Vorspielens im Plenum in 25 Minuten einer Einzelstunde statt. Zur Vorbereitung sollten die Hinweise zum Spielen eines Rollenspiels aus dem Strategieteil (cf. Blume et al. 2017, 163) gelesen werden. Die Lernenden erarbeiten so selbstständig die Planungsschritte für das Rollenspiel (z. B. Ideen sammeln, Stichpunkte machen, Drehbuch schreiben, proben) und führen diese in Partnerarbeit aus. Blume und Nieweler 183 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="184"?> 11 Partner- und Gruppenarbeiten werden hier aufgrund ihres kooperativen Charakters und der hohen Beteiligung der Lernenden als kooperative Lernarrangements zusam‐ mengefasst. (2018, 6) stellen in Bezug auf Rollenspiele fest, dass diese nur dann sinnvoll zur Förderung von Sprechhandeln eingesetzt werden können, wenn sie „vorbereitet, geübt und präsentiert“ werden. Um dies angemessen umsetzen zu können, reichen 45-Minutenstunden in der Regel nicht aus. Um die „bekannten, wenig überzeugenden Ableseszenarien, in denen weder Rollen erkennbar dargestellt noch freie(s) Sprechen realisiert werden“ (Blume/ Nieweler 2018, 6), zu ver‐ meiden, seien 60-Minutenstunden oder Doppelstunden angemessener. Auch für Dialoge, in denen die Lernenden keine Rollen einnehmen, sondern als sie selbst handeln, ist eine gezielte Vorbereitung, ein Üben und ein Präsentieren inklusive Rückmeldung unerlässlich. In dem hier beobachteten Fall bleibt die Vorbereitung den Lernenden selbst überlassen (sie lesen die Schritte zur Vorbe‐ reitung selbst), die Präsentation der Dialoge findet in der Stunde nicht mehr statt, was Blume und Niewelers (2018, 7sq.) Feststellung, dass Lernende nur selten Rückmeldung zu ihrem Sprechhandeln erhalten, zu unterstützen scheint. Da die Folgestunde jedoch nicht zum Korpus gehört, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Rückmeldung zu den Präsentationen zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt wird. 3.2.2 Wie viele Schüler/ -innen sprechen aktiv? Da Partner- und Gruppenarbeiten z. B. „den gedanklichen Austausch“ (Schu‐ mann 2 2017, 163) durch die Beteiligung vieler Lernender ermöglichen, wird die Anzahl der aktiven Schüler/ -innen hier über die gewählte Sozialform bestimmt. Stundenformat Plenumsarbeit SuS agieren… Einzelarbeit Partnerarbeit bzw. Gruppenarbeit 11 einzeln alle Einzelstunde 0 1 2 1 Doppelstunde 9 7 5 3 Tab. 3: Sozialformen Auffällig ist, dass Partner- und Gruppenarbeiten im Vergleich zu Einzel- und Plenumsarbeit sehr selten sind. Nur vier der von den Lernenden durchgeführten Aktivitäten fanden in dieser kooperativen Form statt, wobei dies nur einmal in einer Einzelstunde der Fall war. Die Plenumsarbeit stellt hierzu das Gegen‐ 184 Manuela Franke <?page no="185"?> gewicht dar und ist die beliebteste Sozialform in den beobachteten Stunden. Insgesamt wurden 17 der beobachteten Aktivtäten zum Sprechhandeln im Plenum durchgeführt. Da eine Vielzahl von ihnen von allen Lernenden getätigt wurden (z. B. im Chor nachsprechen) ist die Schüler/ -innenbeteiligung dennoch als relativ hoch zu bewerten. 3.2.3 Worüber und in welchen Rollen sprechen die Lernenden? Da es sich bei denen unter I aufgeführten Aktivitäten um keine freien Sprechhandlungen handelt, werden hier nur die unter II und III aufgeführten Schüler/ -innenhandlungen zugrunde gelegt. ● SuS sollen einen Dialog in Partnerarbeit als Rollenspiel schriftlich vorbe‐ reiten und mündlich vorspielen (EStd) → SuS sprechen als sie selbst, in ihrer Rolle als Privatperson / Thema: sich vorstellen ● SuS sollen ihre oder eine erfundene Familie präsentieren (Dstd) → SuS sprechen als sie selbst, in ihrer Rolle als Privatperson; Zusatz: Alternativ dürfen sie über eine fiktive Familie sprechen / Thema: Familie ● SuS sollen mündlich beschreiben, was die Personen auf dem Bild tun (Dstd) → SuS sprechen als sie selbst in der Rolle der Schüler/ -innen / Thema: alltägliche Handlungen von Lehrwerkpersonen ● SuS sollen eine Geschichte anhand von Zeichnungen mündlich erzählen (Dstd) → SuS sprechen als sie selbst, in der Rolle der Schüler/ -innen / Thema: sich vorstellen und sagen, wo man wohnt Die für die Sprechhandlungen ausgewählten Themenbereiche weisen alle einen engen Bezug zur Lebensrealität der Lernenden auf: zwei Mal geht es darum, sich vorzustellen, einmal davon mit dem Zusatz, den Wohnort zu benennen. Einmal geht es um alltägliche Handlungen (z. B. einkaufen) und einmal ist das Thema Familie. Es handelt sich also zumindest bei diesen vier Sprechhandlungen insofern um starke Redeanlässe, als dass die von Blume und Nieweler (2018, 4) als für den Anfangsunterricht geeigneten Themen („Familie, Freunde, Hobbys […]“) abgedeckt werden. Methodisch kommt es jedoch nicht in dem Sinne zu echten Redeanlässen als dass wirkliche Leerstellen oder Situationen zum Hypothetisieren (z. B. dadurch, dass Schüler/ -innen bestimmte Informationen fehlen, die andere haben) geschaffen würden. Die Lernenden können immer als sie selbst sprechen, jedoch in unterschiedlichen Rollen. Wenn sie beispielsweise ihre Familie vorstellen, sprechen sie in ihrer Rolle als Privatperson und geben Informationen über sich selbst preis. Erzählen sie eine Geschichte aus dem Buch, schlüpfen sie nicht in die Rolle einer anderen Person und müssen demnach keinen Perspektivwechsel vollziehen. Sie sprechen aber auch nicht als Privat‐ 185 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="186"?> person; sie erledigen vielmehr eine von der Lehrkraft an sie als Schüler/ -innen herangetragene Aufgabe und agieren somit in ihrer Rolle als Lernende. 3.3 Faktor Unterstützungssystem während der Sprechhandlungen 3.3.1 Wie wird das Lehrwerk zur Unterstützung der Lernenden eingesetzt? In den beobachteten Unterrichtsstunden wird das Lehrwerk zwei Mal zur Un‐ terstützung der Lernenden bei Sprechhandlungen eingesetzt. Dies ist in Relation zu setzen mit der Tatsache, dass nur fünf Aktivitäten zum freien Sprechen stattgefunden haben, bei den restlichen 25 Aktivitäten handelte es sich um Vor‐ bereitungen von Sprechhandlungen bzw. um Trainieren des Sprechapparats, die in der Hauptsache aus Vorlesen bestanden. Die zwei Unterstützungsangebote können wie folgt sortiert werden: Auf die Struktur der Sprechhandlung bezogenes Unterstützungsangebot ● Lehrkraft verweist auf Informationen aus dem Schülerbuch zur Unter‐ stützung bei der SuS-Aktivität (hier: Beispieldialog zum Thema „sich vor‐ stellen“) Auf den Anlass / das Thema bezogenes Unterstützungsangebot ● Lehrkraft verweist auf Redemittel im Arbeitsheft (hier: Sätze zum Thema „sich vorstellen“) Ein Unterstützungsangebot in Bezug auf Redemittel, die sich auf andere Sprach‐ situationen übertragen lassen (cf. Plikat 2012, 7) und die für die Vorbereitung auf eigenständiges Sprechhandeln unerlässlich sind, wird den Lernenden nicht - zumindest nicht durch Material aus dem Lehrwerk - zur Verfügung gestellt. Auch für sprachliche Besonderheiten oder mit Blick auf für Sprechhandlungen notwendige Strategien (z. B. Nachfragen stellen, Unverständnis anzeigen oder Begriffe umschreiben) wird das Lehrwerk nicht als Hilfestellung herangezogen. 3.4 Faktor Rückmeldung zu Sprechhandlungen der Lernenden 3.4.1 Wie präsentieren die Lernenden ihre Sprechhandlungen? Siebzehn Sprechhandlungen werden direkt im Plenum ausgeführt, dadurch kommt es zu keiner zusätzlichen Präsentation der Resultate. Von den elf in Einzel- oder Partnerarbeit durchgeführten Sprechhandlungen findet in sechs Fällen keine Präsentation der Ergebnisse statt. Weder der nur schriftlich vorbereitete Dialog noch der in Partnerarbeit mündlich vorbereitete Dialog werden in den beobachteten Stunden präsentiert. Viermal werden die Ergebnisse von den Lernenden im Plenum genannt und ein Mal wird der zuvor 186 Manuela Franke <?page no="187"?> in Partnerbzw. Gruppenarbeit erstellte Dialog im Plenum vorgelesen. Dabei achten die nicht involvierten Lernenden auf die Inhalte und den Aufbau des Dialogs und geben ihren Mitschüler/ -innen im Anschluss Rückmeldung. 3.4.2 Wie und wozu geben Lehrkräfte Rückmeldung zu den Sprechhandlungen der Lernenden? In keiner der beobachteten Stunden nutzt die Lehrkraft das Lehrwerk zur Rück‐ meldung zu Sprechhandlungen der Lernenden (z. B. in Form von Verweisen auf den Strategie- oder Vokabelteil). Ob die Lehrkräfte auch ohne Verwendung des Lehrwerks Rückmeldungen gegeben haben, ist basierend auf den Mitschriften zu den beobachteten Unterrichtseinheiten nicht ersichtlich. Aufgrund der hohen Relevanz der von Blume und Nieweler (2018, 7sq.) bemängelten Quantität der Rückmeldungen zu Sprechhandlungen erscheint die Erforschung der diesbezüg‐ lichen Unterrichtspraxis als äußerst erstrebenswert. 4 Abschließende Ergebnisdiskussion Bereits 2001 hat sich Piepho fast 30 Jahre nach Veröffentlichung seines Konzepts der kommunikativen Didaktik mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern der kommunikative Fremdsprachenunterricht eine unterrichtspraktische Realität darstellt. Er kam damals zu dem Ergebnis, dass die kommunikativen Grund‐ prinzipien kaum eine Veränderung des fremdsprachenunterrichtlichen Alltags bewirkt haben (Piepho 2001; op.cit. Schumann 2 2017, 166). 2006 skizziert Schatz (2017, 28) für den Sprachunterricht das folgende Vorgehen als nach wie vor häufigste Art der Interaktion im Fremdsprachenunterricht: „Der Lehrer bzw. die Lehrerin stellt Fragen und ein Schüler antwortet. [MF: Hervorhebung im Orginal]“. Auch Kleppin kritisiert (2014, 91), Schüler/ -innen hätten „immer noch relativ wenige Gelegenheiten, ihre mündlichen Kompetenzen systema‐ tisch auszubauen und zu erproben“. Im selben Jahr behauptet Königs (2014, 110) hingegen: „Wir gehen heutzutage davon aus, dass die Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht eine wesentliche Rolle spielt.“ Während für den Eng‐ lischunterricht verschiedene Studien, die die Unterrichtsinteraktion in den Blick nehmen (cf. Klattenberg/ Lenz/ Frobenius 2020), existieren, sind diese Eindrücke zum jetzigen Zeitpunkt für den Französischunterricht an deutschsprachigen Schulen jedoch nur zum Teil belegt. So fokussierte Tesch (2010) beispielsweise in einer empirischen, auf Videoaufnahmen von Unterrichtseinheiten basierenden Begleitstudie im Rahmen der Erprobung kompetenzorientierter Lernaufgaben das zielsprachliche Sprechen im Klassenzimmer. Er analysiert in seiner Studie die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden und kommt zu dem Schluss, 187 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="188"?> dass eine Diagnose der unterrichtlichen Orientierungen notwendig sei, um „die tiefer liegenden Ursachen für den Seufzer der Schüler: „Wir reden zu wenig.““ (Tesch 2010, 9) zu erkennen und in der Folge auszumerzen. Es fehlt aber nach wie vor an empirischen, breit angelegten Studien, die Einblicke in den tatsächlichen Unterrichtsalltag erlauben. In der hier vorgestellten Studie konnten nicht alle in der Einleitung skizzierten Aspekte untersuchen werden. Berücksichtigung fanden z. B. sowohl die linguistische als auch die strategische Kompetenz. Betrachtungen der soziolinguistischen und pragmatischen Kompetenz (siehe Einleitung) stehen jedoch noch aus und benötigen eine größere Stichprobe und eine qualitativ eingehendere Analyse. Der Beitrag versteht sich als ein erster Schritt in die systematische Erforschung der Unterrichtspraxis. Insgesamt wurden in den 15 beobachteten Unterrichtseinheiten fünf Ak‐ tivitäten zum monologischen bzw. dialogischen Sprechen beobachtet, was den Eindruck bestärkt, dass der produktiven Verwendung der Sprache durch Schüler/ -innen im Unterrichtsalltag ein relativ geringer Anteil zukommt. Bei keiner der beobachteten Aktivitäten handelte es sich um eine mündliche Sprach‐ mittlung. 24 Aktivitäten dienten der Vorbereitung von Sprechhandlungen, wobei insbesondere das Vorlesen und die Ausspracheschulung (20 Aktivitäten) im Fokus standen. Da Lernende nur durch umfangreiche und systematisch angelegte Höreind‐ rücke dazu befähigt werden können, neue Aussprachekategorien aufzubauen (cf. Kauzner 2 2017, 5-6), erscheint der starke Fokus auf das Nachsprechen als reproduktive, aber sinnvolle Vorbereitung auf spätere Sprechhandlungen in der Fremdsprache (siehe hierzu auch Neveling/ Hover/ Zausch 2012, 107). Dieling und Hirschfeld (2000, 56) sowie Mertens (2011, 67) äußern sich der Imitation von sprachlichen Äußerungen gegenüber jedoch kritisch. Sie sind sich einig, dass die Imitation lediglich eine beiläufige und wenig strukturierte Beschäftigung mit der Aussprache darstelle, da häufig die Komponenten des genauen Hörens und der präzisen Steuerung der Sprechwergzeuge ausbleibe. Dieling und Hirschfeld weisen darüber hinaus darauf hin, dass im Anschluss an imitative Ausspracheübungen produktive und angewandte Sprechaktivitäten stattfinden müssten (Dieling/ Hirschfeld 2000, 57-62). Auf dem langen Weg zum automatisierten Sprechen braucht es also zusätzlich „zahlreiche Gelegenheiten zum gelenkten und freien Sprechen“ (Neveling/ Hover/ Zausch 2012, 107). Auch im Anfangsunterricht können bereits erste, einfache Möglichkeiten für spon‐ tane Formulierungen gegeben werden (z. B. sich vorstellen oder nach dem Befinden fragen). Dies ist in den beobachteten Stunden jedoch nur einmal der Fall, wenn Lernende spontan im Plenum eine Bildergeschichte erzählen sollen. 188 Manuela Franke <?page no="189"?> Vor allem das monologische Sprechen, das sich für eine Planung und Vorbe‐ reitung der Sprechhandlung geradezu anbietet, wird ungeplant durchgeführt, während das dialogische Sprechen, in dem es in erster Linie um die Vorbereitung auf spontanes, sprachliches Handeln geht, hingegen durch eine schriftliche Vorbereitung geprägt ist. Aus den in den Bildungsstandards vorgegebenen Kann-Beschreibungen (KMK 2012, 16sq.) werden entsprechend die folgenden berücksichtigt: An Gesprächen teilnehmen: ● ein adressatengerechtes und situationsangemessenes Gespräch in der Fremdsprache führen → SuS sollen einen Dialog (Thema: sich vorstellen) in Partnerarbeit als Rollenspiel schriftlich vorbereiten und mündlich vor‐ spielen ● sich zu vertrauten Themen aktiv an Diskussionen beteiligen sowie eigene Positionen vertreten → SuS sollen sich gegenseitig mündlich Fragen stellen und diese beantworten (Dstd) Die Bildungsstandards geben für das grundlegende Niveau außerdem Aspekte des dialogischen Sprechens wie interkulturelle Besonderheiten (z. B. Gesprächs‐ konventionen), Stellungnahme in Gesprächen oder Diskussionen und kommu‐ nikative Strategien (Umgang mit Nichtverstehen und Missverständnissen oder Strategien zum Eröffnen oder Beenden eines Gesprächs / einer Diskussion) vor (cf. ibid.). In den beobachteten Stunden wurden mit dem Lehrwerk keine Lernsettings gestaltet, in denen diese Aspekte berücksichtigt werden konnten. Im Bereich des zusammenhängenden monologischen Sprechens fanden auf dem grundlegenden Niveau folgende zwei Kann-Beschreibungen Berücksichti‐ gung: ● Sachverhalte bezogen auf ein breites Spektrum von Vorgängen des All‐ tags sowie Themen fachlichen und persönlichen Interesses strukturiert darstellen und ggf. kommentieren → SuS sollen mündlich im Plenum beschreiben, was die Personen auf dem Bild tun; SuS sollen ihre eigene oder eine erfundene Familie in Form eines Kurzvortrags präsentieren ● nicht-literarische und literarische, auch mediale Textvorlagen sprachlich angemessen und kohärent vorstellen → SuS sollen eine Geschichte anhand von Zeichnungen mündlich im Plenum erzählen Das Begründen bzw. Erläutern von „Meinungen, Pläne[n] oder Handlungen“ sowie „eigene mündliche Textproduktionen, z. B. Vorträge, Reden, Teile von Reportagen und Kommentare, planen, adressatengerecht vortragen und dabei geeignete Vortrags- und Präsentationsstrategien nutzen“ (ibid., 17), wie es in den 189 Förderung der Sprechkompetenz im lehrwerkbasierten Anfangsunterricht <?page no="190"?> Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch / Französisch) für die Allgemeine Hochschulkonferenz für das grundlegende Sprachniveau vorgesehen ist, ist - vor dem Hintergrund des geringen Lernstandes m. E. völlig zurecht (die Lernenden befinden sich in den ersten Monaten des Fremdspra‐ chenerwerbs) - noch nicht in den beobachteten Unterrichtsstunden inkludiert. Um weiterführende und damit fundierte Aussagen über die weitere Progres‐ sion des Aufbaus der Sprechhandlungskompetenz zu treffen, müsste/ n eine oder mehrere Lerngruppen über einen längeren Zeitraum begleitet werden. Was sich anhand der hier beobachteten Stunden jedoch abzeichnet ist eine Tendenz zum imitativen Sprachgebrauch im Sinne des Nachsprechens bzw. dem Vorlesen von Texten im Anfangsunterricht. So ist festzuhalten, dass die Lernenden entsprechend nicht oder nur wenig darauf vorbereitet werden, selber in kommunikativen Situationen (sei es monologisch oder dialogisch) aktiv zu werden - was jedoch im Sinne der skizzierten Ausgangslage zur Sicherung der nachhaltigen Motivation besonders wünschenswert erscheint. In weiteren Untersuchungen des Korpus kann an diese Erkenntnisse anschließend die Progression analysiert sowie ein Vergleich zwischen den Lernjahren bemüht werden. Literatur Blume, Otto-Michael / Gregor, Gertraud / Jorißen, Catherine / Mann-Grabowski, Cathe‐ rine. 2017. Á plus! Nouvelle édition. 1. Berlin: Cornelsen. Blume, Otto-Michael / Nieweler, Andreas. 2018. „Raus mit der Sprache! 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Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch innovativ initiieren Martina Sobel 1 Einleitung In dem Liedtext „Je ne parle pas français, aber bitte red weiter. Alles, was du so erzählst, hört sich irgendwie „nice“ an […]“ drückt Namika (2019) ihre unbeholfenen Versuche aus, mit ihrem sympathischen, aber zu ihrem Bedauern ausschließlich französischsprachigen Gegenüber zu kommunizieren. Mit diesem Lied landete die Künstlerin nicht nur einen Hit in Deutschland, sondern sie spiegelt damit tatsächlich auch die Kompetenzen zahlreicher ju‐ gendlicher Französischlerner*innen und deren Stimmung wider: „Je ne parle pas français […]“ steht sinnbildlich für die Schwierigkeiten vieler Schüler*innen, spontan kommunikativ mit Personen aus den Zielkulturen zu interagieren; auch nach mehreren Jahren schulischem Französischunterricht fällt es vielen von ihnen offensichtlich schwer, eigenständige Sprechakte zu konstruieren (cf. Nieweler 2017, 124). Stattdessen können sie oftmals aber auswendig gelernte Vo‐ kabeln reproduzieren oder Grammatikregeln aufsagen, möglicherweise beides tatsächlich auch anwenden, jedoch meist in wenig authentisch angelegten Szenarios wie vorgefertigten Lückentexten oder Flexionsparadigmen. Diese sind jedoch dem Fremdsprachenunterricht zugrunde liegenden Lernziel Kom‐ munikationsfähigkeit wenig dienlich, denn das separate Lernen von Wortschatz und Grammatik führt in der Regel zu einem Verlust an Sprechflüssigkeit, da das Rekurrieren auf auswendig gelernte Versatzstücke und deren Kombination nach ebenso memorierten Regeln Zeit benötigt (cf. Wicher/ Sobel 2019, 9). Außerdem leidet die Idiomatizität, da durch das Kombinieren Äußerungen entstehen können, die in der Zielsprache nicht existent sind (cf. ibid.). „Ich hab mich irgendwie verlaufen, hab keinen Plan, wohin ich geh. Steh mit meinem kleinen Koffer irgendwo auf der [sic! ] Champs Elysées.“ heißt es ferner <?page no="198"?> in der ersten Strophe des Liedes von Namika. Orientierungs- und Planlosigkeit herrschen zuweilen nicht nur auf Seiten der Fremdsprachenlerner*innen, son‐ dern auch bei den Lehrkräften, die gewissenhaft versuchen, ihre Schüler*innen im Anfangsunterricht mit Unterstützung der Schulbücher und -materialien sowie mit viel Schwung, Elan und Engagement für das Französische zu be‐ geistern, sie unentwegt motivieren, das Lernsetting nach bestem Wissen und Gewissen, nach aktuellen Trends und nach altbewährten Routinen gestalten. Doch ist es wenig verwunderlich, wenn, sobald sich die ersten Misserfolge und Motivationskrisen bei den Lernenden abzeichnen - „Je ne parle pas français […]“ - der Verkehr auf den Champs Elysées ins Stocken oder zum Erliegen kommt. Man steckt sozusagen im Stau, das Navigationsgerät weiß auch nicht weiter, man wartet ab und erduldet passiv den zähen Unterrichtsverlauf und die Sprachlosigkeit der Schüler*innen. Dieser Aufsatz stellt einen möglichen Ausweg aus dem „Verkehrschaos“ vor, und zwar ohne die im Navigationsgerät einprogrammierten Routen: Durch ein methodisches Arrangement, das Lernerautonomie und Eigenverantwor‐ tung im Lernprozess akzentuiert, werden differenzierte individuelle Lernpfade geschaffen, die die Schüler*innen im Zuge des progressiven Fremdsprachen‐ erwerbs beschreiten. Das Konzept basiert auf einer Kombination von fremd‐ sprachen- und mediendidaktischen Elementen (lexikogrammatisches Lernen, cf. Kap. 2, Blended Learning, cf. Kap. 3) sowie einem grundlegenden metho‐ disch-pädagogischen Konzept (Flipped Classroom, cf. Kap. 4). 2 Lexikogrammatisches Lernen 2.1 Zum Verhältnis von Wortschatz, Grammatik und Pragmatik „Das Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein todtes Machwerk wissen‐ schaftlicher Zergliederung“ formulierte bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Gelehrte Wilhelm von Humboldt (1830-35; op.cit. Flitzer et al. 1969, 418). Und doch wurden (und werden) Lexikon, Grammatik und Pragmatik in der Historie der Fremdsprachendidaktik nahezu immer als eigenständige, manchmal sogar als unabhängig voneinander bestehende Bereiche des Unterrichts betrachtet (cf. Thaler 2008, 58), die unter Anwendung formaler Kriterien gegliedert und untersucht werden, um dann, unter Anwendung dieses Wissens, daraus Sprache zu produzieren (cf. Segermann 2001, 193sq.). Diese Strukturen sind im aktuellen Fremdsprachenunterricht gebräuchlich und mehr oder weniger fest verankert: Lehrwerke und -materialien bieten vom Text- und Übungsteil getrennte Vokabelverzeichnisse an, in denen der Lernwortschatz nach Lektionen geordnet und in der Reihenfolge, in der 198 Martina Sobel <?page no="199"?> die Begriffe im Lektionstext vorkommen, aufgeführt wird. Weiterhin gibt es oftmals gesonderte Grammatikkapitel respektive entsprechende Beihefte zum eigentlichen Lehrwerk. An solche Vorgaben lehnt sich folglich auch die Unterrichtspraxis an: Äußerungen wie „Lernt bitte die Vokabeln auf S. 200 bis zum Wort xy“ oder „Notiert die Regel in einem roten Kasten in eurem Grammatikheft und konjugiert die Verben schriftlich durch“ sind gang und gäbe (cf. Sobel 2021, 2sq.). Intensive Lexik- und Grammatikarbeit stellen vor dem Hintergrund globaler Sprech- und Interaktionsfähigkeit (cf. Europarat 2001, 114) sicherlich zentrale, wenn nicht gar basale Elemente des Fremdsprachenunterrichts dar. Die Vielzahl didaktischer Publikationen in diesen beiden Bereichen ist vor dem Hintergrund diverser bildungspolitischer Entscheidungen (Einführung von Kompetenzstan‐ dards, Orientierung hin zu funktionaler kommunikativer Kompetenz) nicht verwunderlich. In Anbetracht sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse (cf. Kap. 2.2) lädt die eher künstliche Trennung von Wortschatz, Grammatik und Prag‐ matik zur Reflexion über eine Neugestaltung des Fremdsprachenunterrichts (cf. Kap. 2.3) ein. 2.2 Ein knapper Exkurs in die Linguistik Bereits seit mehreren Jahrzehnten beschäftigen sich Sprachwissen‐ schaftler*innen, beginnend vor allem im anglo-amerikanischen Raum, mit dem Verhältnis von Wortschatz und Grammatik. Es wird angenommen, dass beide Bereiche als zusammenhängend bzw. untrennbar voneinander betrachtet werden müssen: (…) There is in fact no distinction: lexicon and grammar form a continuum, structures at any point along it being fully and properly described as symbolic in nature. By and large, the elements traditionally ascribed to grammar tend to be quite schematic (semantically and/ or phonetically), whereas those assigned to lexicon tend toward greater specificity. Yet the difference is clearly one of degree, and any particular line of demarcation would be arbitrary. (Langacker 1999, 18) Die Studien legen dar, dass gesprochene Sprache grundsätzlich aus mehr oder weniger prädeterminierten Mehrworteinheiten besteht. Insbesondere in der Beschreibung des Erstsprachenerwerbs werden diese Chunks „[…] in ihrer Steigbügelfunktion als Exemplare für den Erwerb abstrakter/ schematischer Konstruktionen“ (Shadrova 2013, 26) angesehen. Sie treten, verkürzt gespro‐ chen, nach einem Baukastenprinzip auf und können nach bestimmten Regeln miteinander kombiniert werden (cf. Lequy 2004). 199 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="200"?> Diverse linguistische Forschungsbereiche bestätigen, akzentuieren oder ver‐ tiefen jeweils unterschiedliche Aspekte bezüglich dieser Erkenntnis: ● Die Konstruktionsgrammatik, entstanden in den 1980er Jahren, sieht sprachliche Äußerungen im Sinne eines umfassenden Gesamtgefüges als Ansammlungen von vernetzten und teilweise ineinander verschachtelten Konstruktionen an. Diese Konstruktionen sind Einheiten von Form und Bedeutung, die zusammengefasst als einzelnes sprachliches Zeichen ver‐ standen werden (cf. Fischer et al. 2006, 5). ● Die bereits in den frühen 1970er Jahren entstandene Korpuslinguistik klassifiziert die o. a. Sprachbausteine (und deren Kombinationen) ausgehend vom tatsächlichen Sprachgebrauch nach ihrer Häufigkeit und formiert somit nicht nur inhaltliche Kategorien, sondern rankt die Chunks auch innerhalb dieser Felder nach realem Nutzungsvorkommen (cf. Lemnitzer et al. 2015, 15). ● Forscher*innen, die sich mit formulaic language beschäftigen, gehen eben‐ falls vom Baukastensystem aus. Sie akzentuieren zusätzlich, dass die Chunks fixer Natur sind und im Sinne des Behaviorismus automatisch als Replik auf einen Stimulus reproduziert werden (cf. Wray 2002, 126). Überträgt man diese Erkenntnisse auf die Fremdsprachendidaktik, so ergeben sich wertvolle Ansätze zur Realisierung eines innovativen Unterrichts, der eben nicht von der o. a. künstlichen Trennung von Wortschatz, Grammatik und Pragmatik ausgeht, sondern diese überwindet bzw. ignoriert und damit neue Impulse für das Lehren und Lernen einer Fremdsprache setzt (cf. Kap. 2.3). Im deutschsprachigen Raum finden sich entsprechende Ansätze bereits Ende der 1970er Jahre: Glaap (1979) und Weller (1979) beschäftigten sich mit Phraseodidaktik, der systematischen Vermittlung von Phraseologie (wenngleich dieser Begriff und ihre didaktischen Überlegungen noch nicht explizit genutzt bzw. formuliert wurden). Auch Hausmann (1984) fasste Wortschatzlernen als Kollokationslernen auf und proklamierte didaktische Implikationen für das Lernen und Lehren von Fremdsprachen (insbesondere mit Bezug auf den Fran‐ zösischunterricht). Lewis (1997) formulierte mit seinem lexical approach einen Ansatz, der darauf fokussiert, komplette Satzfragmente im Langzeitgedächtnis zu verankern, sodass sie zum einen im Sinne von „Verstehensinseln“ (Leisen 2007, 15) die Rezeption komplexer Sprache erleichtern, und zum anderen schnell abruf- und einsetzbar sind, wodurch (spontane) Kommunikation realisiert werden kann. Leider gibt es bislang kaum Forschungsergebnisse im Bereich der 200 Martina Sobel <?page no="201"?> 1 Zwischen 1998 und 2001 erprobte eine Forschungsgruppe um Krista Segermann (Friedrich-Schiller-Universität Jena) im Anfangsunterricht der Klassen 7-9 das Unter‐ richten nach lexikogrammatischen Prinzipien im sogenannten Jenaer Bausteinkonzept. Dazu entwickelten sie im Vorfeld der Unterrichtsreihe ein Korpus französischspra‐ chiger Lexeme und Konstruktionen (die sogenannte ELG - Elektronische Lexiko-Gram‐ matik des Französischen), thematisch angelehnt an authentische Kommunikations‐ situationen der Schülerschaft. Sie fanden heraus, dass die Lernenden vor allem im Bereich mündlicher Kommunikation besser abschnitten als Vergleichsgruppen, die die Fremdsprache traditionell lernten. Eine ausführliche Dokumentation findet sich unter: https: / / www.romanistik.uni-jena.de/ Institut/ Personal/ Professorinnen+und + Professoren+im+Ruhestand/ Segermann_+Krista_+Prof_+Dr_/ Forschungs_+und+Ar beitsbereiche/ Das+Jenaer+Baustein_Konzept.html, 4.12.2020). 2 Neben der Publikation in fachdidaktischen Artikeln findet man diese Festschreibung natürlich auch in den Lehrplänen der einzelnen (Bundes)Länder. Aus platzökonomi‐ schen Gründen unterbleibt an dieser Stelle die Auflistung dieser Vielzahl an Quellen. empirisch fachdidaktischen Interventionsstudien. Eine Ausnahme bildet hier das Jenaer Bausteinkonzept für den Französischunterricht 1 . 2.3 Implikationen für den schulischen Fremdsprachenunterricht Die o. a. sprachwissenschaftlichen Annahmen und Erkenntnisse können als Impulse für einen Paradigmenwechsel im schulischen Fremdsprachenunterricht durch Realisierung einer „sprachwissenschaftlich fundierten Fremdsprachen‐ lerntheorie“ (Segermann 2008, 186) geben. In den Lehrplänen und Curricula wird funktionale Kommunikation als übergeordnetes Lernziel des Fremdsprachenunterrichts festgeschrieben (cf. e. g. Kultusministerkonferenz 2012, 14 in den Bildungsstandards für Deutsch‐ land, de Cillia et al. 2010, 159 für Österreich, Arbeitsgruppe Rahmenbedin‐ gungen 2008, 4 für die Schweiz) 2 . Aus diesem Grund erscheint es naheliegend, die im Klassenzimmer stattfindenden fremdsprachlichen Interaktionen auch am tatsächlichen Sprachgebrauch in den Zielsprachenkulturen auszurichten (zur Frage nach der Standardreferenz im Fremdsprachenunterricht: cf. Duden 2011, 858 in: Schneider et al. 2013, 51, Bürgel in diesem Band) Die Sammlungen der Korpuslinguistiker*innen können hierbei als orientierende Grundlage dienen, um die Authentizität des Gesprochenen zu forcieren und zu unter‐ mauern. Größere zusammenhängende (und in sich sinntragende) Elemente könnten entnommen und als Lerngegenstand definiert werden. Durch eine initiale Limitierung der Bausteine auf solche, die im Rahmen einer dialogi‐ schen Ich-Du-Beziehung (die erst zu einem späteren Zeitpunkt durch die Er-Komponente erweitert wird) auftreten, wird die Anzahl der Bausteine begrenzt und somit überschaubar. Ein Beispiel zur Illustration: Es werden (zunächst) nur die Chunks „j’ai“ und „tu as“ gelernt, nicht aber die komplette 201 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="202"?> Konjugation des Verbs „avoir“, da hiermit, wenn die Chunks entsprechend kombiniert werden, bereits eine Vielzahl an realen Ausdrucksvorhaben aus Schüler*innenperspektive realisiert werden kann: „J’ai seize ans“, „J’ai un frère.“, „J’ai faim.“, „J’ai besoin de…“, etc. Damit kommt man dem ersten Grundsatz lexikogrammatischen Lernens und Lehrens nach: schülerbezogene Inhaltsorientierung vor analytischer Form‐ zentrierung (gemäß dem in Fußnote 1 angeführten Jenaer Bausteinkonzept; cf. Segermann 2003, 11). Es schließt sich das zweite Grundprinzip an: Automa‐ tisierung vor Analyse (cf. ibid.). Dies bedeutet, dass die Chunks (bestimmte, häufig in der Alltagssprache vorkommende Bausteine - siehe das obige Beispiel zum Chunk „j’ai“) durch variierende repetitive Übungen habitualisiert werden anstatt dass sie nach grammatischen Regeln in ihre Einzelteile zersplittert werden. Hierzu dienen behaviouristische Verfahren, die den Lernenden durch bestimmte Stimuli anregen, spontan passenden Output zu liefern. Dadurch, dass die Menge an Chunks zu Beginn einer thematischen Einheit überschaubar ist, und vor allem im Anfangsunterricht viele konkrete Inhalte abdeckt, die durch Bild- oder Schlagwortimpulse visualisierbar sind, funktioniert dieses Vorgehen in der Regel gut. Wenn die Schüler*innen nun erfassen, wie sie diese Versatzstücke mitein‐ ander kombinieren können, entsteht ein Sprachhandeln, das, vor allem im An‐ fangsstadium des Fremdsprachenlernens, effizienter, mit Blick auf die kommu‐ nikative Kompetenz zielführender und durch die erzielten Erfolge letztendlich auch motivierender ist als die klassische Methode, die das Wissen (um Wort‐ schatz und Grammatik) vor dem Können (der Pragmatik) platziert. Grundsatz Nummer drei lautet also: Können (im Sinne von praktischer Anwendung des Erlernten in authentischen Kommunikationssituationen) vor Wissen (im Sinne von Kenntnis möglichst vieler Einzellexeme und abstrakter grammatischer Regeln) (cf. ibid.). Segermann (2001) beschreibt die Etappen der in diesem Zusammenhang notwendigen Kognitivierung wie folgt: Das Lernen von ‚Grammatik‘ ist - zu kognitivieren durch Bewußtmachen der Struktur der je spezifischen le‐ xiko-grammatischen Formeinheiten (< > kein paradigmatisches Formenlernen) - zu konsolidieren durch transferierende Abstraktion vom erlebten Beispiel auf zugrunde liegende Regularitäten und Schemata (< > keine Anwendung der Regel in Übungen zu einem grammatischen Phänomen) - zu systematisieren durch inhaltsbezogene Zusammenstellungen von le‐ xiko-grammatischen Formeinheiten als Bausteinen des Sprachsystems (< > keine Systematisierung nach grammatischen Phänomenen) (Segermann 2001, 8) 202 Martina Sobel <?page no="203"?> 3 Weitere Ausführungen und Praxisbeispiele zu hybriden Unterrichtsformaten finden sich in Kantereit (2020) oder Klee et al. (2021). Wenn man die sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse abseits des klassischen (und habitualisierten) Unterrichts als gewinnbringende Komponenten für ein modernes Fremdsprachenlernen ansieht und wagt, von Gewohntem abzu‐ kehren, kann Sprache von Anfang an als wirkliches Kommunikationsmittel erlernt werden und fungiert nicht als theoretischer Unterrichtsgegenstand: Es wird mit der Sprache kommuniziert, nicht über die Sprache. 3 Blended Learning Blended Learning bedeutet eine sinnvoll verknüpfte und verzahnte Abfolge von Präsenzunterricht und E-Learning-Sequenzen (cf. Sobel 2020, 26). Es bietet im Gegensatz zu reinem Präsenzunterricht viele Vorteile, die insbesondere im schulischen Fremdsprachenerwerb förderlich sein können: Ein wesentlicher Pluspunkt liegt in der Tatsache, dass das Lernen in vielerlei Hinsicht flexibler wird: Die Lernenden sind zeit- und ortsunabhängig bei der Bearbeitung der digitalen Inhalte, sie können in ihrem eigenen Tempo voranschreiten „ohne dass schnellere Schüler […] gelangweilt auf die anderen warten müssen“ (Mai s.a.) und ohne dass bei langsameren Schüler*innen Wissenslücken durch zu schnelles kollektives Voranschreiten im Stoff entstehen. Es ist den Lernenden individuell vorbehalten, im Stoff vor- und zurückzuspringen, Unverstandenes zu wieder‐ holen, im Lernprozess zu pausieren etc. Ferner können neben den verschiedenen Leistungsniveaus und Erfahrungshintergründen auch unterschiedliche Lern‐ typen berücksichtigt werden, da digitale Werkzeuge die Möglichkeit bieten, lerngruppen- und sogar schülerspezifische Aufgabenstellungen zu kreieren, die den individuellen Bedürfnissen gerecht werden. 3 Blended Learning impliziert jedoch gleichsam eine höhere Eigenverantwort‐ lichkeit des Einzelnen für seinen Lernfortschritt und für die Klasse, denn dadurch, „[…] dass Online- und Präsenzphasen miteinander verzahnt sind […], wird der Schüler bzw. die Schülerin quasi in die Pflicht aber auch an die Hand genommen […]“ (Sobel 2020, 27). Anstatt also Unterrichtsinhalte im Präsenzun‐ terricht ausschließlich passiv zu konsumieren, fordert insbesondere das E-Le‐ arning-Modul zu Eigenaktivität heraus. Kleinschrittiges (digitales) Feedback zu den anwendungsbezogenen Übungen (vor allem im Bereich der Wissensab‐ frage) unterstützt und motiviert die Lernenden und führt sie zu den komplexeren Fragestellungen (den sogenannten Lernaufgaben), die durch ihre Offenheit zu Kreativität und kritischem Denken anregen (cf. die im 4-K-Modell erwähnten 203 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="204"?> 4 Discord ist ein onlinebasiertes Portal, das einen Messenger, ein Chatforum, Sprach- und Videokonferenzen anbietet (https: / / discord.com). 5 Mit dem webbasierten Tool Flinga können Brainstormings kollaborativ durchgeführt und mit Hilfe einer Mindmap visualisiert werden (https: / / flinga.fi). 6 Miro bietet verschiedene Onlinewerkzeuge zum kollektiven Brainstorming mittels Mindmaps und zur Planung agiler Arbeitssettings (https: / / miro.com). 7 ZUMpad stellt den Benutzer*innen leere Webseiten zur sofortigen gemeinsamen Bear‐ beitung, ähnlich den Templates eines Textverarbeitungsprogrammes, zur Verfügung (https: / / zumpad.zum.de). 8 cf. Anderson, Lorin W. / Krathwohl, David (2001). A taxonomy for learning, teaching, and assessing: a revision of Bloom’s taxonomy of educational objectives. New York: Longman. 21st century skills; cf. Fadel 2015). Zur Problemlösung arbeiten Schüler*innen kollaborativ und kommunikativ mit ihren Klassenkamerad*innen zusammen (cf. ibid.). Durch die digitalen Arrangements ergeben sich hier Möglichkeiten, auch zu Hause sowohl synchron (schriftlich und mündlich, z. B. durch ein Forum auf der Lernplattform, durch ein externes Tool wie Discord 4 oder durch eine klassische Videokonferenz) als auch asynchron (schriftlich, z. B. durch WIKIS, ein kollaboratives Brainstorming auf dem FLINGAboard 5 , gemeinsame Projektplanung mittels Miro 6 oder ein zusammen genutztes Schreibdokument, das ZUMpad 7 anbietet) zu kollaborieren. Um zu verhindern, dass die Lernenden die notwendige Selbstdisziplin und Motivation nicht verlieren, ist es unabdingbar, dass die Lerninhalte von einer nicht nur fachlich gut ausgebildeten, sondern auch mediendidaktisch geschulten Lehrkraft effizient und ansprechend gestaltet sind, damit der*die Schüler*in alleine damit zurecht kommt (cf. Hünekens et al. 2015). Letzten Endes ist selbstverständlich auch eine funktionierende Technik (WLAN-Verbindung, Hardwareausstattung, Wahl der geeigneten Software) für das Gelingen von Blended Learning ausschlaggebend. 4 Flipped Classroom Flipped Classroom bezeichnet eine Form des „umgedrehten Unterrichts“, bei der die Erarbeitung von Inhalten, welche traditionellerweise im Präsenzunter‐ richt geschieht, in Heimarbeit ausgelagert wird, sodass im Unterricht lediglich eine Festigung des selbst Erlernten stattfindet (cf. Brame 2013). Der Vorteil liegt in der veränderten Leistungseinforderung: „In terms of Bloom’s revised taxonomy (2001) [8] , this means that students are doing the lower levels of cognitive work (gaining knowledge and comprehension) outside of class, and focusing on the higher forms of cognitive work (application, analysis, 204 Martina Sobel <?page no="205"?> synthesis, and/ or evaluation) in class, where they have the support of their peers and instructor.“ (ibid. s.p., Fußnote von mir). Eine solche Konzeption aktiviert (und motiviert) alle Lerner*innnen individuell, indem sie von passiv Konsumierenden zu aktiv Gestaltenden, die sich intensiv mit den Inhalten beschäftigen, werden, sie werden sozusagen ,verpflichtet‘ am Lernprozess teilzunehmen (cf. Fähnrich et al. s.a.). Digitale Medien unterstützen diesen Prozess, indem sie der Lehrkraft die Möglichkeit der Auslagerung von Inhalten bieten, z. B. durch die Nutzung digitaler Plattformen und / oder die Einbin‐ dung von Videos bzw. Open-Source-Materialien. Dies schafft Transparenz für alle Beteiligten. Durch ein solches Vorgehen fungiert die Lehrkraft im Unter‐ richt selbst eher als Lerncoach denn als (frontal agierende*r) Instruktor*in. Ferner eröffnen digitale Medien den Lernenden die Chance, sich unabhängig von festgesetzten Unterrichtszeiten mit den Inhalten beliebig oft und in indivi‐ dueller Geschwindigkeit zu beschäftigen, was im Sinne einer Differenzierung für den individuellen Lernfortschritt zielführend ist. 5 Das Konzept 5.1 Personelle, technische und organisatorische Gegebenheiten In den folgenden drei Unterkapiteln soll knapp auf die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen das innovative Unterrichtsprojekt durchgeführt wurde / wird, eingegangen werden. 5.1.1 Die Lerngruppen Die Versuchsreihe im Rahmen meiner Habilitation fand / findet an einem beruflichen Gymnasium in Hessen statt, und zwar in der Jahrgangsstufe 11, der Eingangsstufe des gymnasialen Zweigs. Die Schüler*innen kommen mit der Zulassung zur Oberstufe respektive dem Realschulabschluss aus unterschiedli‐ chen Bildungsinstitutionen, um am beruflichen Gymnasium nach drei Jahren das allgemeine Abitur mit Spezialisierung in einer Fachrichtung zu absolvieren. Neben Englisch müssen sie eine zweite Fremdsprache belegen, wobei sie die Wahl zwischen Spanisch und Französisch haben. Die Schüler*innen, die das innovative Modell erproben, befinden sich also im ersten Lernjahr der jeweiligen Fremdsprache, wobei die Schüler*innen unterschiedliche Vorkenntnisse und Erfahrungen mitbringen, da einige von ihnen bereits an ihren vorherigen Schulen AGs, Wahlpflicht- oder regulären Französischbzw. Spanischunterricht belegt hatten. Es handelt sich also um heterogene Lerngruppen, die in der Regel zwischen 16 und 29 Schüler*innen umfassen. 205 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="206"?> 9 Es gibt eine sehr stabile Internetverbindung, die Schüler*innen und Lehrkräften kos‐ tenlos und ohne umständliches Einlogprocedere (sofern man sich einmal mit seinem Gerät registriert hat) zur Verfügung steht. In allen Räumen steht neben der klassischen Tafel ein mediales Projektionssystem bereit: Fest installierte Beamer können mit dem im Raum befindlichen Computer oder mit einem eigenen Gerät wahlweise drahtlos oder über eine Kabelverbindung angesteuert werden. Das vorinstallierte System funktioniert einfach per Knopfdruck. Zusätzlich sind einige Räume mit Dokumenten‐ kameras und/ oder Smartboards ausgestattet. Ferner gibt es PC-Unterrichtsräume, in denen fest installierte Computer für alle Schüler*innen zur Verfügung stehen. Hier stehen außerdem Drucker bereit. Neuerdings können die Lehrkräfte (auch mit kleinen Schüler*innengruppen) in einem kleinen Technikstudio mit Greenscreen und Schneidewerkzeugen eigene Filme erstellen und bearbeiten. Neben den fest installierten Komponenten gibt es weiterhin mobile Gerätschaften: So können nach Voranmeldung neben tragbaren Dokumentenkameras, Mikrophonen, Headsets und digitalen Video‐ kameras auch Tablets in Klassensätzen ausgeliehen werden. 10 BYOD = Bring Your Own Device („Bringe dein eigenes Gerät mit“) 5.1.2 Technische Voraussetzungen Die betreffende Institution nahm seinerzeit (2019-2021) an einem Modellschul‐ projekt zum Thema „Digitales Lernen und Lehren“ teil. In diesem Zusammen‐ hang wird sie personell vom Fachbereich Medienpädagogik der ortsansässigen TU sowie finanziell von der Stadt unterstützt. Dies impliziert einerseits das Vorhandensein einer technischen Ausstattung, die sich in Art und Umfang deutlich von anderen Schulen abhebt 9 , andererseits eine wissenschaftliche und medienpädagogische Unterstützung bei der Realisierung von innovativen Lehr- und Lernkonzepten. So ergab sich im Rahmen meiner Habilitation die Möglichkeit, meine bereits im Schuljahr 2018/ 19 erstmalig erprobte Einheit (die anfangs ausschließlich aus der lexikogrammatischen Komponente bestand) nun in einer um die technischen und pädagogischen Elemente erweiterten Reihe zu realisieren (cf. hierzu Kap. 5.1.3). An der betreffenden Schule gilt generell BYOD 10 , d. h. die Schüler*innen bringen ihr eigenes Gerät mit und nutzen dieses auch im Unterricht. In der Regel handelt es sich hierbei um Smartphones; einige Lernende, vor allem Schüler*innen/ Auszubildende mit technischem Schwerpunkt, besitzen auch Laptops oder Tablets, die sie in der Schule einsetzen. Für Lernende, die über keine Gerätschaften verfügen, besteht die Möglichkeit, sich ein Tablet mit Tastatur für die Dauer ihres Schulbesuchs auszuleihen. Bereits seit nahezu 20 Jahren wird die Lernplattform Moodle an der Schule verwendet. Sie wurde im Zuge des Modellprojekts und bedingt durch die Corona-Krise zum unterrichtlichen Standardinstrument erhoben, das auch im Medienkonzept der Schule verankert ist / wird und dient mindestens der digitalen Materialablage, zumeist jedoch auch zur Interaktion der Lernenden 206 Martina Sobel <?page no="207"?> 11 Im März 2020 wurden alle Schulen in Deutschland aufgrund der globalen Pandemie für mehrere Wochen geschlossen, es fand zunächst ausschließlich Distanzunterricht statt. Aufgrund des föderalen Bildungssystems kehrten die Bundesländer in Replik auf die aktuellen Inzidenzzahlen in den Regionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu eingeschränktem Präsenzunterricht in hybriden Arrangements zurück bzw. verblieben für einzelne Schulformen/ Jahrgangsstufen im Distanzsetting. und Lehrkräfte untereinander und mit dem Lerngegenstand. Auch für die vorliegende Unterrichtsreihe wird Moodle genutzt, nämlich zur Bereitstellung der Inhalte für die E-Learningphasen, die die Schüler*innen zu Hause bestreiten sowie aktuell auch als Interaktions- und Kommunikationsplattform zum Ersatz der ausgefallenen Präsenzstunden im Zuge des Lockdowns 11 . Ein beispielhafter Einblick in ein Unterrichtsmodul wird in Kap. 4.2 gegeben. 5.1.3 Umsetzung des Blended Learning im Stundenplan Um ein wirkliches Blended Learning und nicht nur einen Präsenzunterricht mit digitalen Hausaufgaben zu realisieren, mussten die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit den Schüler*innen (zeit)technisch Ressourcen zur Verfügung standen, um die Online-Aufgabenpakete, die es im Rahmen des Flipped Classroom zu bewältigen galt, zu bearbeiten, ohne dass dies in die gewöhnliche Hausaufgabenzeit am späten Nachmittag oder am Abend fiel. Der reguläre Stundenplan sah vor, dass sich die vier Wochenstunden wie folgt verteilten: In der A-Woche absolvierten die Schüler*innen donnerstags eine Doppelstunde, in der B-Woche (also alle zwei Wochen) zusätzlich zu diesen Donnerstagsstunden einen vierstündigen Block am Montagnachmittag. Diese Konzeption hatte sich bereits in der Vergangenheit als ungünstig erwiesen, da die Lernenden oftmals durch die Ballung von sechs Wochenstunden in der B-Woche sowie dem langen Montag vom Lernpensum her überfordert und somit demotiviert waren. Gleiches traf auch auf die Lehrkräfte zu, die zusätzlich vor der großen Herausforderung standen, ein methodisches Arrangement zu finden, das sowohl den organisatorischen Gegebenheiten als auch der Unlust der Schüler*innen gerecht wurde. Die neu entworfene organisatorisch-didaktische Matrize sieht folgender‐ maßen aus: 207 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="208"?> 12 Für ein konkretes Beispiel zur Illustration cf. Kap. 5.2. Abb. 1: Stundenplanmatrize mit didaktischem Konzept für die A- und B-Woche. (Quelle: Von der Autorin erstellte Grafik) Der Kickoff für neue Inhalte 12 liegt immer in der B-Woche, Montag nachmittags, zu der Zeit, in der nach altem Stundenplan noch Präsenzunterricht verankert war. Die Lernenden sind in diesen Stunden vom Präsenzunterricht freigestellt und dürfen zu Hause oder auch in der Schule arbeiten. Da nicht alle Schüler*innen daheim eine stabile Internetverbindung und/ oder die nötige technische Ausstattung besitzen, um alle gestellten Aufgaben zu bewältigen (z. B. ist es umständlich und anstren‐ gend, komplexere Texte ausschließlich auf dem Smartphone zu schreiben), bleiben der eigentliche Unterrichtsraum sowie die Bibliothek, beide mit Computern und Druckern ausgestattet, geöffnet. Die Lehrkraft beaufsichtigt die Schüler*innen, die dieses Angebot in Anspruch nehmen und steht gleichzeitig für alle Lernenden im Rahmen einer Sprechstunde zur Verfügung. Die neuen Inhalte sollen bei freier Zeiteinteilung bis Donnerstag erarbeitet werden, sodass in den Präsenzstunden auf dieses Wissen rekurriert werden kann. Generell finden donnerstags Kommu‐ nikationsstunden statt, d. h. es wird der neue Stoff in Partner- und Gruppenarbeit sowie im Plenum in wechselnden methodischen Arrangements eingeübt und gefestigt, sodass die Schüler*innen danach idealerweise in der Lage sind, die Inhalte sicher anzuwenden. Sie arbeiten dann bis zur nächsten Präsenzsitzung am darauf‐ folgenden Donnerstag online weiter, indem sie weitere Übungen zur Festigung online durchführen. Diese berücksichtigen in der Regel, neben dem Fokus auf der Mündlichkeit, auch schriftliche Aufgaben. Die Erledigung ist in einem digitalen Portfolio zu dokumentieren (die Lehrkraft kann auf der Lernplattform ersehen, wer welche Module wann bearbeitet hat. Entsprechend konfiguriert sind auch die prozentualen Erfolge der einzelnen Schüler*innen sichtbar). Zusätzlich gibt es kom‐ plexere Lernaufgaben zu jedem inhaltlichen Modul, die generell immer eingereicht 208 Martina Sobel <?page no="209"?> und bewertet werden. In den Donnerstagsstunden der A-Woche wird der gleiche Stoff, unter Berücksichtigung der bereits erledigten Übungen im Onlinemodul, nochmals kommunikativ umgewälzt, meist in komplexerer Form (längere und memorierte Sprechakte) als dies in der Sitzung in der B-Woche der Fall war. Alle zwei Wochen findet montags in der B-Woche eine weitere Präsenzsitzung statt. Hier erarbeiten sich die Schüler*innen kollaborativ ein gemeinsames Lernprodukt, das die in den letzten beiden Wochen erlernten Inhalte abbildet. 5.2 Ein beispielhafter Einblick in eine Sequenz aus einem Unterrichtsmodul Da eine Darstellung der kompletten Reihe den Rahmen dieser Publikation sprengt, wird hier ein beispielhafter Einblick in eine Sequenz aus einem Unterrichtsmodul gegeben. Es handelt sich um das fünfte Modul (Modul E), das den Titel „Ma vie quotidienne“ trägt. Abb. 2 zeigt den organisatorischen und thematischen Aufbau der Unterrichtssequenz, realisiert mit der Plattform Moodle: Abb. 2: Moodle-Übersicht: organisatorische Informationen zum Französischkurs und Einbettung des Moduls E in der Unterrichtssequenz. (Quelle: Screenshot aus einem von der Autorin kreierten Moodlekurs) 209 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="210"?> 13 Satzstrukturen zu erkennen impliziert eine bewusste Analyse der verschiedenen zuvor automatisierten sprachlichen Bausteine (Chunks) und deren Zusammenspiel. Dazu weisen die Schüler*innen den Chunks jeweils inhaltliche Bedeutungsfelder zu (Bei‐ spiele: „J’aime“, „tu adores“ = ♥ / „jouer au foot“, „faire de la gymnastique“ = Sportarten ausüben / „Le matin“, „à huit heures“ = Zeitpunkt-/ -raumangaben). In einem weiteren Schritt entdecken sie das Zusammenspiel der einzelnen Elemente, d. h. fixe oder variable Reihungsmöglichkeiten (Beispiele: Stellung der Zeitangaben im Satzgefüge, aus Aussagesätzen Fragen gestalten, etc.). 14 Varianz aneignen bedeutet eine Wortschatzerweiterung im Rahmen der zuvor verinner‐ lichten und erkannten Strukturen. Die Schüler*innen sollen möglichst viele Bausteine (zunächst rezeptiv) kennenlernen, um im nächsten Schritt produktiv ihre eigenen Mitteilungsabsichten realisieren zu können. Neben den kursorganisatorischen Regelungen (Ankündigungen der Lehrkraft, Forum zum kommunikativen Austausch, Informationen zum Kurs sowie zur Bewertung, Legende zu Aktivitäten und Inhalten) wird ersichtlich, welche thematischen Bereiche die Schüler*innen vor Modul E bewältigen. Ein Blick ins Modul (cf. Abb. 3) zeigt zunächst das Ziel des Moduls und die Lernaufgabe, sowie außerdem die Aufteilung in „Matériaux“ und „Activités“, wobei die Symbole im Materialteil darauf verweisen, dass hier lexikogramma‐ tisch gearbeitet wird (cf. die Legende in Abb. 2): Das Symbol Kette bedeutet Satzstruktur erkennen 13 , die Kiste steht für Varianz aneignen 14 . Abb. 3: Inhaltsverzeichnis zu Modul E. (Quelle: Screenshot einer von der Autorin erstellten Moodleeinheit zum Thema „Ma vie quotidienne“) 210 Martina Sobel <?page no="211"?> Aus platzökonomischen Gründen kann an dieser Stelle lediglich auf eines der drei Materialien sowie die dazugehörigen Übungen eingegangen werden. Insgesamt beschäftigen sich die Schüler*innen mit folgenden Inhalten: 1) Wort‐ schatz zu Aktivitäten (re)aktivieren, 2) die Angabe der Uhrzeit im Französischen selbstständig erlernen, und 3) temporale Adverbien kennenlernen. Der Fokus liegt im Folgenden auf dem erstgenannten Teil. Bei Material 1) „Les activités“ geht es darum, dass die Schüler*innen sich Sätze aus der Ich-Perspektive zum täglichen Tagesablauf inhaltlich eigenständig erschließen (Schritt 1), dann die Bausteine innerhalb der Sätze kennenlernen (Schritt 2) und erste Kombinationsmöglichkeiten selbst entdecken (Schritt 3). In einer späteren Lerneinheit kommt dann die Er/ Sie-Perspektive hinzu, mit Hilfe derer sie den Tagesablauf ihrer Klassenkamerad*innen und anderer Per‐ sonen beschreiben können. Sie ist bereits in diesem Schema abgebildet, sodass fortgeschrittenere Schüler*innen vorgreifen können. Tatsächlich kommt dieser Schritt aber erst bei der kollaborativen Produkterstellung in der Montagssitzung (cf. Kap. 5.1.3) zum Tragen, wenn die Schüler*innen gemeinsam Fotostories zu ihren Tagesabläufen erstellen und diese dann beschreiben. Im Einzelnen gestalten sich die drei o. a. Etappen wie folgt: ● Schritt 1: Mittels einer Drag-und-drop-Aufgabe ordnen die Schüler*innen komplette Sätze einem Bildimpuls zu (Beispielsätze und Bilder finden sich in Abb. 4 zu Schritt 2). Bei der Erschließung nutzen die Lernenden Kenntnisse aus anderen Sprachen (z. B. douche = deutsch: Dusche, ping pong = englisch: ping pong/ table tennis, chatte = englisch: to chat, etc.), notfalls ein (digitales) Wörterbuch. ● Schritt 2: Die Lösungen zur obigen Aufgabe werden, nachdem sie in der Übung selbst bereits eingeblendet wurden, nochmals in einer den Lernenden bekannten Struktur in einem digitalen Tafelbild visualisiert. Dabei sind Bausteine bereits entsprechend gekennzeichnet (cf. Abb. 4). ● Schritt 3: Die Schüler*innen erhalten den Arbeitsauftrag die Bausteine zu analysieren in Hinblick auf austauschbare oder ersetzbare Elemente: Z. B. taucht „je prends“ in den Sätzen „Je prends und douche.“ und „Je prends le petit déjeuner.“ doppelt auf. Es kann überlegt werden, in welchen Kombinationen dieser Baustein noch verwendet werden kann (z. B. in „Je prends un café“ - den Schüler*innen bekannt aus Modul D - „Je prends le tram“ - den Lernenden bekannt aus Modul C, etc.). Ersetzbare Elemente wären beispielsweise „Je chatte…“ + „avec ma mère / avec mon cousin/ …“ - den Schüler*innen wie‐ derum bekannt aus Modul C oder „Je vais à l’école“ + „en tram / en voiture / …“ - den Lernenden ebenso bekannt aus Modul C. Zu diesem Material gibt es zwei 211 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="212"?> 15 Quizlet ist ein kostenfreies Lerntool mit digitalen Karteikarten, mit dem die Schüler*innen Definitionen zu Fachbegriffen oder speziell im Fremdsprachenunterricht Wortschatz trainieren können. (https: / / quizlet.com/ de) Abb. 4: Zusammenstellung der Bild-Satzzuordnungen mit Bausteinmarkierungen. (Quelle: Von der Autorin erstellte, abfotografierte Wortschatzkarten) Übungen, anhand derer die Schüler*innen den neu erlernten Stoff festigen können: zum einen ein Quizlet 15 , zum anderen Sprechimpulse zu Minidialogen. ● Das Quizlet ist so angelegt, dass die Lernenden auf der einen Seite der Karteikarte den im Vorfeld erlernten Satz lesen und durch Anklicken desselben auch hören können, auf der Rückseite befindet sich ein Bildimpuls wie vormals im digitalen Tafelbild (cf. Abb. 4). Mittels Durchklicken festigen die Schüler*innen so die erlernten Sätze zunächst als komplette Chunks (im Sinne von fixen Bausteinkombinationen), indem sie sie in Replik auf den Bildstimulus auswendig reproduzieren können. Quizlet bietet diverse Trainingsfunktionen wie Drag&drop-Übungen, Lückentexte, Memospiele und kleine Diktate, die ad hoc aus den hinterlegten Karten generiert werden können. ● Die Sprechimpulse zu Minidialogen sind gedacht, um Variationen der Bausteinkombinationen zu erdenken und zu üben. Dazu stehen mittels des 212 Martina Sobel <?page no="213"?> 16 H5P erlaubt es Lehrkräften interaktive Lerninhalte wie beispielsweise ein Quiz, ein mit Fragen annotiertes Video, Diktate, Lückentexte und vieles mehr zu erstellen, zu veröffentlichen und zu teilen. (https: / / h5p.org) Tools H5P 16 erstellte Dialogkarten zur Verfügung: Auf der Vorderseite der Karte befinden sich das den Schüler*innen bekannte Bild (=Sprechimpuls) sowie eine dazu passende Frage (cf. das Beispiel in Abb. 5), die sich die Lernenden aufgrund ihrer Vorerfahrungen erschließen können: Der Baustein „Fragewörter“ wurde bereits in den Modulen B und C eingeführt, die unbekannte Form „vous prenez“ ignorieren die Schüler*innen automa‐ tisch, weil sie das Inhaltskonzept „etwas zum Frühstück konsumieren“ aufgrund des Bildimpulses vor Augen haben. Auf der Rückseite der Karte befindet sich zusätzlich der Audiobutton, der es ermöglicht die Frage anzuhören. Zusätzlich werden in der Hörversion Impulse zur Beantwortung der Frage gegeben (im vorliegenden Beispiel aus Abb. 5: „Qu’est-ce que vous prenez pour le petit déjeuner? [Pause] Un thé? Un café? Un croissant? Ou quoi? “), die alle an der Mündlichkeit orientiert und in authentischem Sprechtempo produziert werden, also nicht didaktisiert sind. Aufgabe der Schüler*innen ist es, auf diese Fragen möglichst spontan zu antworten, und zwar gemäß ihrem individuellen Kenntnisstand, denn kurze Antworten („(Moi,) je prends un croissant.“) sind ebenso möglich wie ausführliche („(Moi,) je prends un croissant, un café, un jus d’orange,… Mais ma mère aime…“). Abb. 5: Vorder- und Rückseite der mit H5P erstellten Dialogkarte. (Quelle: Mit H5P von der Autorin erstellte Dialogkarte) 213 Kommunikationsfähigkeit im Anfangsunterricht Französisch initiieren <?page no="214"?> Im Präsenzunterricht werden diese Inhalte dann thematisiert und eingeübt, und zwar mit Hilfe von im Schwierigkeits- und Anforderungsgrad progressiv gestaffelten Kommunikationsarrangements. Diese reichen von kleinen Dia‐ logen, anknüpfend an die oben beschriebene Übung mit den Dialogkarten, bis zu ausführlicheren Gesprächen mit Unterstützung von Bildimpulsen unter Einbezug des in den vorherigen Modulen gelernten Wortschatzes und der Strukturen. Beispielsweise können hier Informationen zu Wohnort (Wo früh‐ stückst du: zu Hause oder in der Schule oder gar nicht? ), Familie (Was mag deine Mutter / dein Bruder / … zum Frühstück? ) oder Hobbies (Was machst du an einem Wochenende nach dem Frühstück? ) eingefügt werden. Ziel ist es, dass die Schüler*innen im Gebrauch der Bausteinkombinationen zunehmend selbstständiger werden und auch spontan in Gesprächen reagieren können. Die Übungen dazu behandeln wiederholend die gleichen Inhalte und Strukturen, variieren aber in Bezug auf Sozialformen, Materialeinsatz sowie Quantität des In-/ Outputs, sodass die Motivation der Lernenden erhalten bleibt. Außerdem wird stets auf monologische Sprechakte seitens der Schüler*innen und der Lehrkräfte zugunsten interaktiver Formate verzichtet. 6 Fazit „Je ne parle pas français […]“ heißt es in Namikas Lied und vielerorts auch aus Schülermund, wenn es darum geht, mit dem französischsprachigen Gegenüber zu interagieren. Diesen Satz, der ja per se auch ein Chunk ist und somit hervorragend ins Repertoire der lexikogrammatisch Lernenden passt, können die Schüler*innen im neuen Modell des Fremdsprachenlernens sehr gut in ihre Kommunikation einflechten. Jedoch endet die Kommunikation damit keines‐ falls, sondern sie geht weiter: Dem*der Schüler*in wird es gelingen Chunks aus dem Redeschwall herauszufiltern, sich anhand dessen des inhaltlichen Konzeptes bewusst werden und aktiv auf diesen Impuls reagieren können. Er*sie wird auf Fragen antworten, etwas erzählen und/ oder Gegenfragen stellen können, sodass eine funktionierende Kommunikation zustande kommt. Da er*sie bereits im Unterricht, der ja eigentlich an sich eine künstliche Sprechsi‐ tuation darstellt, authentisch orientierte Kommunikation erfahren hat, ist zu erwarten, dass der*die Lernende die Courage aufbringen wird zu sprechen. Die habitualisierten Chunks geben ihm*ihr die Sicherheit, dass das Gesagte sinntragend und nicht inhaltsleer ist. „Stellen Sie Ihr Navigationsgerät aus! “ hieß der initiale Appel an die Lehrkräfte mit Blick auf den Ausweg aus dem Verkehrschaos rund um die Champs-Elysées. Fangen Sie Ihre Schüler*innen auf und ab, die sagen, „Ich 214 Martina Sobel <?page no="215"?> hab mich irgendwie verlaufen, hab keinen Plan, wohin ich geh […]“. Der lexikogrammatische Ansatz bietet die Möglichkeit für Lehrkräfte, etwas Neues zu wagen, auch abseits der bekannten Pfade. Er schafft gewinnbringende Per‐ spektiven - für Lehrkräfte selbst aber vor allem für Schüler*innen, die erleichtert sein werden, wenn sie abseits komplexer und komplizierter Grammatikregeln und Wortschatzsammlungen gehört (und verstanden) werden. Literatur Arbeitsgruppe Rahmenbedingungen. 2008. „PassePartout. Fremdsprachen in der Volks‐ schule. Didaktische Grundsätze des Fremdsprachenunterrichts in der Volksschule“ (https: / / www.Passepartout-sprachen.ch, 2.1.2021). Brame, Cynthia. 2013. „Flipping the classroom“. Vanderbilt University Center for Tea‐ ching (http: / / cft.vanderbilt.edu/ guides-sub-pages/ flipping-the-classroom/ ., 4.1.2021). 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Mündliche Kompetenz im Französischunterricht Versuch einer Modellierung Isabelle Mordellet-Roggenbuck 1 Theoretische Einführung Der Bereich der Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht gilt in der Fremd‐ sprachenforschung und in der Sprachpraxis als besonders herausfordernd, da er als Ganzes und in seinen Einzelaspekten umfassend schwierig zu definieren ist. Der Französischunterricht macht da keinen Unterschied. Insofern ist die von den Herausgeberinnen dieses Bandes gestellte Frage: „Was ist unter der komplexen Fertigkeit ‚compétence orale‘ im schulischen Französischunterricht zu verstehen? “ eine grundlegende Frage, die es aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten gilt. Die von vornherein formulierte Komplexität des Untersu‐ chungsgegenstands („komplexe Fertigkeit“) enthält die Vielfalt der möglichen Auslegungen der Begrifflichkeit und die daraus resultierenden Fragestellungen. Es lohnt sich also zu versuchen abzugrenzen, was unter „Mündlichkeit“, auf‐ gefasst als „gesprochene Sprache“, zu verstehen ist, bevor die „mündliche Kompetenz“ definiert werden kann. 1.1 Mündlichkeit als Sprechen und an Gesprächen teilnehmen Die mündliche Kompetenz ist in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus des schulischen Fremdsprachenlehrens und -lernens geraten. 1 Im Zuge der Kompetenz- und Aufgabenorientierung, die in Deutschland und Österreich vor allem durch die Veröffentlichung des GER (Europarat 2001) und dessen Implementierung in den KMK-Standards und in den Bildungsplänen initiiert wurde, hat die Förderung des Sprechens, bzw. Sprechens und Interagierens, <?page no="220"?> 2 Allerdings stützt sich der GER auf die bis in die 90er Jahre veröffentliche Literatur, die späteren Arbeiten im Bereich der Konversationsanalyse werden im Companion Volume auch nicht berücksichtigt. einen großen Stellenwert erhalten (cf. Schmidt 2016, 104). Die Lernenden sollen gezielt befähigt werden, in der Fremdsprache zu sprechen und in und mit der Sprache mündlich zu handeln, eine Fertigkeit, die zur funktionalen kommunikativen Kompetenz gehört. Die mündliche Kompetenz wurde demzufolge allmählich gleichwertig zu der schriftlichen Kompetenz in die deutschen Lehrprogramme eingeführt („Was die produktiven Kompetenzen betrifft, so ist die mündliche Sprachkompetenz ebenso von Anfang an intensiv zu fördern wie die schriftliche Ausdrucksfähig‐ keit“ BP2016_ALL_GYM_F1) und neue Übung- und Evaluationsformate haben sich parallel dazu bereits etabliert. Eine schriftliche Klassenarbeit kann in Deutschland vielerorts in der Oberstufe durch eine mündliche Prüfung (sog. Kommunikationsprüfungen) ersetzt werden (cf. Fäcke 2010, 235). Mündliche Übungsaufgaben dienen in der Mittelstufe zur Vorbereitung auf kommunikative Prüfungsformate. Weit verbreitet in den Lehrplänen sind die aus dem GER übernommenen Bezeichnungen „Sprechen - an Gesprächen teilnehmen“ und „Sprechen - zusammenhängendes monologisches Sprechen“ (beides Bildungs‐ plan BW 2016, Sek 1, 1. FS) oder „Sprechen (an Gesprächen teilnehmen/ zusam‐ menhängendes Sprechen) (NRW, Kernlehrplan Gymnasium), um zwei konkrete Beispiele zu nennen. Dadurch werden Haupteckpunkte einer didaktischen Definition der mündlichen Kompetenz aufgestellt, die unmittelbar einen Bezug zu (sozio-)linguistischen und spracherwerbstheoretischen Modellen der münd‐ lichen Kommunikation aufweisen. Diese Modelle haben sich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Einfluss u. a. der Konversationsanalyse und der Erforschung der gesprochenen Sprache immer weiterentwickelt und haben weitgehend Eingang in die offiziellen Texte gefunden (cf. die bibliographischen Angaben zu Kap. 5 im GER) 2 . Aus diesem Grund wird nur kurz auf die Kommu‐ nikationsmodelle eingegangen. Was unter „gesprochener Sprache“ zu verstehen ist, wird hingegen viel seltener in der Fremdsprachendidaktik besprochen. In unserem Zusammenhang ist es aber genauso wichtig, die Charakteristika der gesprochenen Sprache aufzuzeigen, um die Konturen der mündlichen Kompetenz im Französischunterricht später aufzuzeichnen. Folglich kann ein Blick in sprachwissenschaftliche Arbeiten zu der Thematik helfen, um auf die gestellte Eingangsfrage „Was ist unter der komplexen Fertigkeit ‚compétence orale‘ im schulischen Französischunterricht zu verstehen? “ zurückzukommen. 220 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="221"?> 3 Der Artikel von Koch/ Oesterreicher (1985) gehört vielerorts zu den Standardlektüren in romanistischen Linguistikseminaren in der Lehrerbildung in Deutschland. Krefeld weist darauf hin, dass das in dem ursprünglichen Artikel vorgestellte Modell in weiteren Publikationen mehrmals von den Autoren überarbeitet wurde (Krefeld 2015, 262). Zur Entwicklung der Definitionen von gesprochener und geschriebener Sprache in der Sprachwissenschaft des Französischen, cf. Müller (1990). Im folgenden Absatz wird auf das von Koch/ Oesterreicher 1985 formalisierte Modell 3 eingegangen, das die Opposition zwischen gesprochener und geschrie‐ bener Sprache sowie die Problematik der Distanz und Nähe im Sprachgebrauch darstellt, um zu erörtern, inwiefern dieses Modell für fremdsprachendidaktische Zwecke nützlich sein könnte. Auch wenn in der Linguistik dieses Modell in den letzten Jahren viel Kritik erfahren hat, bleibt es ein Standardwerk, das das Praxisfeld Fremdsprachendidaktik/ Fremdsprachenunterricht beeinflusst hat. Wir folgen Knapp-Potthoff (2007, 373), wenn sie bezogen auf das Praxisfeld Fremdsprachenunterricht behauptet: Hier handelt es sich also um die Perspektive der Anwendung von Forschungsergeb‐ nissen der Linguistik und der Angewandten Linguistik (als Wissenschaft) in kon‐ kreten Praxisfeldern, um die Funktion linguistischen und angewandt-linguistischen Wissens als Hintergrund- und Handlungswissen für professionelles Agieren. 1.2 Gesprochene vs. geschriebene Sprache Koch/ Oesterreicher (1985) führen in ihrem viel zitierten und diskutierten Ar‐ tikel eine Unterscheidung zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache aus. Vor allem die doppelte Unterscheidung zwischen der Opposition der „Realisie‐ rungsformen (phonisch/ graphisch)“ sowie der „Polarität von ‚gesprochen‘ und ‚geschrieben‘“ (1985, 17) kann durchaus für didaktische Ziele ertragreich sein. Das Medium - phonetischer oder graphischer Kode - sowie die Modi - gespro‐ chen oder geschrieben - wurden von den Autoren in ein Modell übertragen, das besonders dem Kontinuum zwischen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz Rechnung trägt. In einem mündlichen face-to-face Gespräch bspw. wird davon ausgegangen, dass die physische Nähe der Gesprächspartner*innen gegeben ist, dass die situativen Kontexte wichtige Elemente zum Verständnis mitliefern und dass die Beteiligung der einzelnen Personen durch Strategien und Kooperationswillen während des Gesprächs spontan geregelt wird. Die Kombination ’Dialog, ‚freier Sprecherwechsel‘, ‚Vertrautheit der Partner‘, ’face-to-face-Interaktion‘, ‚freie Themenentwicklung‘, ‚keine Öffentlichkeit‘, ‚Sponta‐ neität‘, ‚starkes Beteiligtsein‘, ’Situationsverschränkung“ etc. charakterisiert den Pol ‚gesprochen‘. (Koch/ Oesterreicher 1985, 21) 221 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht <?page no="222"?> In der geschriebenen Sprache habe die Kommunikation, für die die physische Distanz der Gesprächspartner*innen vorausgesetzt wird, oft u. a. „öffentlichen Charakter; Elemente des situativen und soziokulturellen Kontexts müssen weitestgehend versprachlicht werden“ (Koch/ Oesterreicher 1985, 20). Ein Ge‐ samtschema (s. Abbildung 1) veranschaulicht das Ergebnis ihrer Überlegungen zu der Nähe vs. Distanz der kommunikativen Bedingungen. sowie zu den Versprachlichungs-Strategien. Die Opposition zwischen phonischem und gra‐ phischem Kode nimmt dabei eine zentrale Stellung ein. - Prozeßhaftigkeit - Vorläufigkeit geringere: - Informationsdichte - Kompaktheit - Integration - Komplexität - Elaboriertheit - Planung - ‚Verdinglichung‘ - Endgültigkeit größere: - Informationsdichte - Kompaktheit - Integration - Komplexität - Elaboriertheit - Planung Sprache der Distanz Sprache der Nähe graphisch phonisch - Monolo - Fremdheit der Partner - raumzeitliche Trennung - Themenfixierung - Öffentlichkeit - Reflektiertheit - ‚detachment‘ - Situationsentbindung - ‚Objektivität‘ - Dialog - Vertrautheit der Partner - face-to-face- Interaktion - freie Themenentwicklung - keine Öffentlichkeit - Spontanität - ‚involvement‘ - Situationsverschränkung - Expressivität - Affektivität I II Versprachlichungs- Strategien: Kommunikationsbedingungen: Abb. 1: Gesamtschema Koch/ Oesterreicher (1985, 23) An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwiefern eine solche Repräsentation im heutigen Kontext mit weiteren Elementen zu ergänzen wäre. Denn, wie Zydatiß (2017, 256) zurecht behauptet: 222 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="223"?> 4 „The text message was ‚born‘ just over two decades ago, and the general public has been communicating via SMS (Short Message Service) between mobile telephones for almost one and a half decades. Even with the advent of more recent electronically mediated communication tools, SMS communication has not yet been dethroned, although its future decline has been predicted. Trillions of text messages are still currently exchanged globally each year, and given the opportunity, scriptors may now even prefer to use their mobile telephone to text rather than to talk, depending on context, personal usage and general shifting habits“ (Panckhurst 2013, 96). 5 Krefeld (2015, 265) lehnt den Begriff Medium ab: „la ‚phonie‘ n’est pas un média appliqué à la langue, parce qu’elle est la condition même du langage humain des points de vue phylogénétique et ontogénétique.“ Krefeld unterscheidet zwischen „matérialité“ der phonischen Form, d.h was hörbar ist und „matérialisation“, also der Produktion dieser Form, die „immédiate“ oder „médiatisée“ sein kann. Mit der rasanten Entwicklung der digitalen Kommunikation lässt sich die Unterschei‐ dung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht mehr auf Konzepte wie >Medium>, >Kanal> oder >Nähe vs. Distanz> zurückführen. Die Fragestellung ist im Allgemeinen und auch im Hinblick auf den Franzö‐ sischunterricht insofern berechtigt, als die angestrebte mündliche Kompetenz der Lernenden so authentisch und idiomatisch wie möglich sein sollte. Überdies sollten die Schüler*innen auf das unmittelbare reale Leben, d. h. z. B. auf den Umgang mit Gleichaltrigen aus einem frankophonenen Land, vorbereitet werden. Die digitalen Möglichkeiten können hierbei sicherlich gewinnbringend verwendet werden. Bedenkt man die heutigen Kommunikationsformen wie Chat, SMS und Ähnliches, darf man wohl behaupten, dass die Nutzung des graphischen Mediums nicht nur ursprünglich schriftlich konzeptualisieren Äu‐ ßerungen vorbehalten ist. Zwar erwähnen Koch/ Oesterreicher (1985, 17) bereits solche möglichen Realisierungen zwischen den beiden Polen (geschrieben - gesprochen): Bei genauer Betrachtung dieser doppelten Unterscheidung stellt sich heraus, daß das Verhältnis von phonischem und graphischem Kode im Sinne einer strikten Dichotomie zu verstehen ist, während die Polarität von gesprochen* und geschrieben* für ein Kontinuum von Konzeptionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen steht. Die Verschriftlichungsformen von spontanen, für den mündlichen Dialog gedachten Äußerungen, d. h. für ähnliche Kommunikationszwecke wie in einem mündlichen Gespräch (dazu gehören auch begleitende Verschriftlich‐ ungsformen wie in der Chatfunktion während einer Videokonferenz) existierten 1985 noch nicht in dem Maße wie heute 4 . Diese Verschriftlichungen sprengen die prototypische Affinität zwischen Äußerungsformen und Realisierungsmedium 5 223 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht <?page no="224"?> 6 Die Bezeichnung tactile steht für die Blindenschrift. (gesprochen - phonisch und geschrieben - graphisch) wie damals von Koch/ Oesterreicher dargestellt. Situative Angaben zur mündlichen Kommunikation, die mit oder ohne Hilfe von digitalen Medien (digital/ analog), in Anwesenheit oder Abwesenheit der Gesprächspartner*innen (synchron/ asynchron) stattfindet, sollten eben‐ falls berücksichtigt werden, möchte man eine zeitgemäße Modellierung der Mündlichkeit erreichen. Schmidt unterstreicht zurecht, dass das Merkmal syn‐ chron/ asynchron „für das Verständnis der ‚neuen‘ Mündlichkeit und Schrift‐ lichkeit konstitutiv [ist], denn es hat Auswirkungen auf die dabei produzierten Texte“ (Schmidt 2016, 257). So kann in einem Chat quasi-synchron sprachlich „face-to-face“ kommuniziert werden, die Kriterien Expressivität und Affektivität finden ihren Ausdruck in der Verwendung von Smileys, Interjektionen, Unter‐ streichungen, Hervorhebungen durch Fettmarkierungen u. Ä. Der Gebrauch von Abkürzungen, von Symbolen, Bildern oder sog. GIFs als Ersatz für Gestik, Mimik und Emotionen zeugen von der Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit der Kommunikation. Die Linguistin Rachel Panckhurst (2018, 126) definiert im Folgenden die Rolle der Emoticons in SMS und ähnlichen Kommunikations‐ formen und vergleicht deren Anwendung mit den para- und extraverbalen intentionell-kommunikativen Elementen, die in der mündlichen analogen Kom‐ munikation vorhanden sind: La dimension ludique, empreinte d’émotion, est très prégnante dans nos communica‐ tions interpersonnelles actuelles et ces petites images peuvent contribuer à enjoliver notre quotidien. Les emoji agrémentent, «augmentent» presque l’écrit, tout comme les gestes, les regards, les expressions faciales, les postures, l’intonation de la voix, accompagnent une conversation orale. Ein SMS-Austausch kann außerdem synchron oder asynchron stattfinden. Zu erwähnen wären noch die Audionachrichten (Voicemail), die dank der Aufnahmefunktion auf Smartphones möglich sind und die in Instant-Messa‐ ging-Diensten wie WhatsApp oder Signal der zwischenmenschlichen Kom‐ munikation eine neue Dimension eröffnet haben. In diesem Fall kann die sprachliche Produktion von der Rezeption zeitlich getrennt werden. Die Kommunikationsbedingungen und die mediale Form der Mündlichkeit sind komplexer geworden. Krefeld schlägt die Ablösung von der Grundopposition zwischen phonisch und graphisch vor und plädiert für eine neue Zuordnung der Ausdrucksformen (cf. Abbildung 2) 6 . 224 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="225"?> Dans ce sens, l’opposition fondamentale n’est pas celle entre le « pho‐ nique » et le « graphique », ni entre la « proximité » et la « distance », mais entre « l’immédiat », nécessairement phonique, et « le médiatisé », sous forme phonique, graphique ou tactile. (Krefeld 2015, 267-268) Abb. 2: Production, médiatisation et forme perceptuelle du message verbal (Krefeld 2015, 268) Zur Modellierung der gesprochenen Sprache schlage ich folgendes Modell (cf. Abbildung 3) vor, das auf jenes von Krefeld aufbaut und als Basis für didaktische Zwecke fungieren könnte. Die Beschreibung des zeitlichen Rahmens (synchron oder asynchron) und der räumlichen Präsenz (analog oder digital) ist entschei‐ dend für die Charakterisierung der gesprochenen Sprache, die phonisch oder graphisch ihren Ausdruck finden kann. Abb. 3: Raum, Medium als Dimensionen der gesprochenen Sprache Wir halten also fest, dass die gesprochene Sprache überwiegend phonisch, in Präsenz der Gesprächspartner*innen und synchron realisiert werden kann, dass sie aber auch durch die weit verbreiteten vielfältigen Formen der digitalen synchronen oder asynchronen Kommunikation eine schriftliche Realisierung finden kann. Inwiefern diese neue Sicht auf die gesprochene Sprache in das di‐ daktische Feld übertragen werden kann, sollte von der Fremdsprachendidaktik diskutiert werden. Nicht zuletzt auf Grund der durch die Corona-Pandemie 225 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht <?page no="226"?> initiierten Digitalisierung der Lehre kann man sich fragen, ob die traditionelle Situation im Französischunterricht, wo die Gesprächspartner*innen sich zur selben Zeit am selben Ort (Klassenraum) befinden, zukünftig ausschließlich in dieser Konstellation aufrechterhalten werden wird. 1.3 Charakteristika der gesprochenen Sprache als Sprache der Nähe Unabhängig vom Medium zeigt die gesprochene Sprache als Sprache der Nähe bestimmte Charakteristika, die für den Fremdsprachenunterricht und hier konkret für Französisch von Bedeutung sind. Jedoch, wie Weber (2013, 23) zutreffend unterstreicht: En situation de formation, on se fonde avant tout sur la langue-système, travaillée à partir de supports écrits et dominants, la mission, entre autres, de l’enseignement/ ap‐ prentissage étant de proposer un français standard, gage d’intégration sociale. Die Mündlichkeit, bzw. die mündliche Kompetenz kann aber nicht (ausschließ‐ lich) auf einer schriftlichen Vorstellung der Sprache basieren, besonders nicht im Französischunterricht. Wortwahl, Morphologie, Syntax und Stil sind Bereiche, die sich im code phonique stark vom code graphique unterscheiden. Im Hinblick auf die didaktische Zielsetzung offenbart z. B. die Morphologie interessante Anhaltspunkte für eine Charakterisierung des gesprochenen Französisch. De‐ klination und Konjugation weisen in der schriftlichen Form viele Redundanzen auf, die beim Sprechen nicht hörbar sind. Söll spricht von der „ausschließlich geschriebenen Grammatik“ (1980, 90). Die scheinbare Komplexität der franzö‐ sischen Orthographie, die schwerfällig und überfrachtet wirkt, erweist sich als Verständnishilfe für die kompetenten Leser*innen („orthographe désambiguis‐ ante“ Blanche-Benvéniste 1997, 13). In der gesprochenen Sprache hört man allerdings die Genus- und Pluralmarkierungen in der Regel nicht (mon amie, elles mangent) und die große Anzahl von Homophonen erweist sich als sehr ökonomisch und somit eigentlich vorteilhaft für die Lernenden. So müssen die Französischlernenden nur eine einzige phonische Form [m-Ʒe] erlernen, um die grammatikalischen Formen manger, mangé(s), mangée(s), mangez phonisch zu produzieren. Genauso bei den Verben in -er: es reicht eine phonische Form [m-Ʒ] aus, um vier der sechs Konjugationsformen im présent de l’indicatif: je mange, tu manges, elle/ il mange, elles/ ils mangent zu äußern. Im lexikalischen Bereich kann eine einzige lautliche Form mehreren Wörtern entsprechen: [vɛr] für ver, vers, vert (in Mordellet-Roggenbuck 2014 wird gezeigt, wie das Wissen über die Orthographie die phonologische Kompetenz verbessern kann). Für Zollna (1999, 64) ist außerdem die Segmentierung des Satzes typisch für den code parlé. Die Rhema-Thema-Stellung („Il a vendu la voiture, mon père“; 226 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="227"?> „il est arrivé, votre ami, tout à l’heure? “, Zollna 1999, 65), ebenso wie der seg‐ mentierte Satz mit „dislocation à gauche“ wie in „Le loup, il a mangé l’agneau“ (66) sind typische Erscheinungsformen des mündlichen Ausdrucks. Zu oft wird von den Schüler*innen ein mündlicher Ausdruck verlangt, der dem code écrit entsprechen sollte. Weber (2013) führt eine Anzahl von Vorgehensweisen an, die die gesprochene Sprache charakterisieren und die viel leichter zu lernen und anzuwenden sind, als die umständlicheren Formen aus dem code écrit. Zu diesen sogenannten „structures syntaxiques facilitantes“ zählt die Verwendung von Relativsätzen und von qui und que. Die folgenden Beispiele sind alle aus Weber (2013, 164ff.) entnommen: Les relatives avec un verbe auxilliaire : il y a (ya), il y en a qui, c’est les relatives accompagnées d’un pronom ou d’une préposition : ce qui, à quoi, à qui, de quii les fréquences d’emploi : qui, que remplacent dont, auquel, lequel, duquel : celui à qui je pense, une chose que je sais, un truc qui est sûr. Zu erwähnen sind ebenfalls die Interrogativsätze, die das Lernen und Üben des Mündlichen im Französischunterricht erleichtern können (Weber 2013, 169-172.). Qu’est-ce que tu fais ? Tu fais quoi ? statt Que fais-tu ? Est-ce que tu viens demain à la fête? Tu viens demain? Statt Viens-tu demain à la fête ? Holtus/ Pfister (1977, 90-91) wiesen schon auf Divergenzen im Gebrauch von bestimmten Wortkategorien zwischen code parlé (français fondamental) und code écrit (Petit Larousse) hin. Bei damaligen Vergleichsarbeiten kam heraus, dass das Gesprochene bis fast zu einem Viertel aus Adverbien und zur Hälfte aus Funktionswörtern besteht. Seither hat sich die Forschungsarbeit mit großen Korpora der gesprochenen Sprache stark weiterentwickelt und liefert weitere konkrete Ergebnisse. Eine aktuelle Forschungsarbeit widmet sich bereits seit einigen Jahren der Gewinnung und der Analyse eines großen Korpus von authentischen SMS in französischer Sprache („88milSMS“). Les données authentiques existant sous la forme de courriels, forums, chats, blogs, ré‐ seaux sociaux, et, plus récemment de SMS, facilement exploitables par les chercheurs, permettent l’observation, la fouille et l’analyse des pratiques et des usages (novateurs ou non) des scripteurs. (Panckhurst 2018, 126) 227 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht <?page no="228"?> 7 app.sketchengin.eu Erste Ergebnisse zum Korpus 88milSMS wurden schon publiziert; man kann das Korpus auf 7 Sketch Engine einsehen und selber damit arbeiten, um bspw. die Frequenz einer Präposition oder deren häufigste Verwendung im Kontext in Erfahrung zu bringen. Auch die Wiedergabe von ganzen digitalen Gesprächen (SMS) geben Einblick in die reale Verschriftlichung der gesprochenen Sprache, wie im folgenden Beispiel: Coco est pas la ! Éva non plus ! Tanpis ! Lol J’irai aux journée du patrimoine ! Éva m’a dit que tu venais cette semaine peut etre ! Bisous ! ! (Panckhurst 2013, 99) Es lohnt sich also, sich mit den Merkmalen der gesprochenen Sprache in all ihrer medialen Formen auseinanderzusetzen, um die didaktische Reflexion über die mündliche Kompetenz im Französischunterricht zu stützen. Die höhere Fehlertoleranz sowie die geringere Komplexität der Äußerungen sollten dem‐ entsprechend im mündlichen Französischunterricht Berücksichtigung finden. 1.4 Kommunikationsmodelle Um die Mündlichkeit im Französischunterricht zu modellieren, müssen wir uns mit dem Begriff der mündlichen Kommunikation auseinandersetzen. Die Diversität der Kommunikationstheorien und -modelle, die im Laufe des 20. Jh. vor allem in den Sozialwissenschaften entwickelt wurden, veranlasst Mat‐ telart/ Mattelart (1995, 3) zu folgender Äußerung: L’histoire des théories de la communication est celle de ces écartèlements et des diverses tentatives d’articuler ou non les termes de ce qui trop souvent est apparu sous la forme de dichotomies et d’oppositions binaires plûtot que de niveaux d’analyse. In Picard (1992) und Sokol (2007, 37-39) befinden sich Darstellungen der ver‐ schiedenen Kommunikationsmodelle, angefangen von den technischen (Bühler und sein Organon-Modell in den 20er Jahren, Shannon/ Weawer 1949) über die linguistischen und dann ethnographischen Modelle (Searle/ Jakobson 1963; Hymes 1962) bis zu den interaktionistischen Modellen. Sicher ist, dass seit den 70er Jahren im Zuge der Verbreitung der Kommunika‐ tionsmodelle das Konzept der kommunikativen Kompetenz die Fremdsprachen‐ forschung und -didaktik prägt und dass seitdem, obwohl das kommunikative Handeln der Lernenden innerhalb der didaktischen Abhandlungen immer mehr eine zentrale Rolle einnimmt, dieses Konzept aus didaktischer Sicht wenig dis‐ kutiert wurde. Für Fäcke (2010, 46) basieren methodische Weiterentwicklungen „im Grunde auf der kommunikativen Didaktik, ohne sie grundlegend in Frage 228 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="229"?> zu stellen und bedeuten ein Additum zu dieser Methode“. Den „Höhepunkt“ dieser Entwicklung bildet ohne Zweifel der GER. In Kap. 2 („Der Ansatz des Referenzrahmens“) wird erläutert, was unter „kommunikativer Kompetenz“ im Fremdsprachenunterricht zu verstehen ist. Kap. 4 („Sprachverwendung, Sprachverwender und Sprachenlernende“) sowie Kap. 5 („Die Kompetenzen des Sprachverwenders und des Sprachlernenden“) stellen detailliert den hand‐ lungsorientierten und mehrsprachigen Ansatz des GER dar. Seit 2001 ist der GER zwar viel diskutiert worden (s. Bausch/ Christ/ Königs/ Krumm 2003), der dort vertretene Ansatz bildet dennoch weiterhin die Basis für zahlreiche didaktische Überlegungen bezüglich des Französischunterrichts. Die beiden folgenden Schemata formalisieren den GER-Ansatz. Abbildung 4 zeigt wie die kommunikative Kompetenz der Lernenden durch die Spracherfahrungen in verschiedenen Kontexten gebildet wird. Die kommunikative Kompetenz besteht aus der linguistischen, der soziolinguistischen sowie der pragmatischen Kom‐ petenz. Zentral im GER ist der handlungsorientierte Ansatz und das Konzept der kommunikativen Aufgaben (tâches). Die Lernenden werden grundsätzlich als gesellschaftlich Handelnde gesehen. Die Erlernung und die Verwendung der Sprache in verschiedenen Kontexten und in sprachlichen Aktivitäten zielen auf die kommunikativen Sprachkompetenzen, wie in Abbildung 4 repräsentiert. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen Lernen, lehren, beurteilen unterstützt beinhaltet - Sprache(n) im Elternhaus - Sprache der Gesellschaft in der Schule erlernte Sprachen durch direkte Erfahrung erlernte Sprachen - Erfahrung anderer Sprachen und Kulturen linguistischer Kompetenz soziolinguistischer Kompetenz pragmatischer Kompetenz beinhaltet findet statt im bildet bestehen aus individuale Mehrsprachigkeit Spracherfahrung des Individuums kulturellen Kontext Kommunikative Kompetenz unterschiedliche kommunikative Sprachkompetenzen Abb. 4: Die kommunikative Kompetenz nach dem GER (Mordellet-Roggenbuck 2011, 66) 229 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht <?page no="230"?> Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen Lernen, lehren, beurteilen unterstützt einen handlungsorientierten Ansatz das Individuum als gesellschaftlich Handelnder Kommunikative Aufgaben Kommunikativer Sprachkompetenzen Sprachliche Aktivitäten Sprache Sprache verschiedenen Kontexten verschiedenen Bedingungen und Beschränkungen erlernt verwendet für bewältigt durch in/ unter dank in Abb. 5: Der handlungsorientierte Ansatz nach dem GER (Mordellet-Roggenbuck 2011, 68) 2 Modellierung der Mündlichkeit im Französischunterricht 2.1 Sprache der Nähe und Standardsprache im Französischunterricht Die Lehrprogramme nennen grundsätzlich die Standardsprache in den Kompe‐ tenzbeschreibungen, sei es im mündlichen oder im schriftlichen Gebrauch: Die Schülerinnen und Schüler können eine zentrale, leicht erkennbare Information aus Gesprächen ihres Erfahrungshorizonts, bei denen deutliche Standardsprache ge‐ sprochen wird, mündlich und schriftlich in die jeweils andere Sprache übertragen (BW 2016; Sek 1, 1. FS, 20). Insofern wird sich die Lehrkraft im Französischunterricht an dem Gebrauch der Standardsprache orientieren. Unter Standardsprache versteht man eine mehr oder weniger weitgehend normierte und institutionalisierte Varietät einer historischen Einzelsprache, die von der betref‐ fenden Sprachgemeinschaft zur überregionalen Kommunikation verwendet wird. (Winkelmann 1990, 334) 230 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="231"?> 8 Mir sind keine empirischen Studien über diese Thematik bekannt. Diese Aussage basiert auf zahlreichen Gesprächen, die ich mit Lehrkräften im Rahmen der Betreuung von Schulpraktika geführt habe. Verständlich ist, dass Lehrkräfte und Lernende eine Norm brauchen, um sich beim Lehren und Lernen zu orientieren. Für Py (2000, 4) bildet die Begegnung mit einer Norm eine entscheidende Lernerfahrung für die Lernenden, vor allem im Hinblick auf die Entwicklung ihrer interlangue. La norme est le pôle magnétique de l’apprentissage : elle permet à l’apprenant de s’orienter, tout en lui laissant la liberté de choisir un autre but qu’un respect scrupuleux à son égard. (Py 2000, 4) Die Herausforderung einer didaktischen Reflexion über die sprachliche Norm für die Mündlichkeit besteht für die Lehrenden darin, das richtige Sprachmodell zu finden, das weder informell noch marginal ist, aber dennoch dem aktuellen mündlichen Sprachgebrauch entsprechen sollte. Die aktuellen Lehrbücher helfen in dieser Hinsicht der Lehrkraft, denn sie versuchen dem kommunikativen Ansatz gerecht zu werden, auch wenn nicht immer ganz konsequent, wie das folgende Beispiel, das aus einem Lehrbuch Französisch 1. FS (Découvertes Junior 2012) entnommen ist, zeigt. Das Gleich‐ gewicht zwischen geschriebener und gesprochener Syntax zu finden ist nicht immer einfach. In Klammern wird eine Alternative vorgeschlagen, die der gesprochenen Sprache näher ist. Marie : Tiens, un t-shirt super. Alors, tu aimes le rugby, Alex ? (Unser Vorschlag : Il est super, ton t-shirt Alex ! ) Alex : Oui, et aussi le judo. Marie : Et toi Léo, qu’est-ce que tu aimes ? Léo : Moi, j’aime le sport et euh … la musique (Mein Vorschlag : Moi, c’est le sport que j’aime) (Découvertes Junior 2012, 44) Das Konzept des Satzes kann ebenfalls als Schwierigkeit für den Französisch‐ unterricht angeführt werden. Viele Lehrkräfte verlangen immer noch von ihren Schülerinnen und Schülern in den mündlichen Phasen des Unterrichts die Produktion von vollständigen Sätzen, die dem code écrit entsprechen. Dies geschieht aus Sicht der Lehrkräfte 8 oft aus guten Gründen, nämlich damit die grammatikalischen Themen gelernt und gefestigt werden. Auch entspricht es nicht selten ihrer Vorstellung der Standardsprache. Wie vorher gezeigt, unterscheidet sich aber die gesprochene von der geschriebenen Sprache in vielen Aspekten. 231 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht <?page no="232"?> 9 Àgel/ Henning (2006, 183) kritisieren die Verwendung von Versprachlichungsstrategien im Artikel von Koch/ Oesterreicher und bezeichnen diesen Punkt als „Merkmale und Disposition des Sprechens“. Die Vermittlung der mündlichen Kompetenz sollte Aspekte der gesprochenen Sprache, wie unter 1.3 ausgeführt, berücksichtigen. 2.2 Mündliche Kompetenz als Gesprächskompetenz Da wir von der mündlichen Kompetenz in der zwischenmenschlichen Kommu‐ nikation als Gesprächskompetenz ausgehen, wird der Begriff Dialog verwendet. Beim Sprechen im Dialog kommt es darauf an, mit anderen zu interagieren, Mecha‐ nismen des Sprecherwechseln zu beachten, die Aussagen der Gesprächspartner zu verstehen und sprachlich angemessen darauf zu reagieren (Fäcke 2010, 121). Für didaktische Zwecke lässt sich das Modell von Koch/ Oesterreicher (1985) ver‐ ändern und gleichzeitig ausbauen. Um dem Modell treu zu bleiben, wird der Be‐ griff „Versprachlichungsstrategien“ übernommen, obwohl diese im didaktischen Sinne eher als Versprachlichungsbedingungen gelten könnten 9 . Sie werden mit der Kategorie „intentionell-kommunikativ“ ergänzt, die sich wiederum mit den Elementen verbal (sprachlich), paraverbal (Stimme, Melodie, Tempo, Pausen etc.), nicht-verbal (lachen, schreien), extraverbal (Gesichtsausdruck, Blick, Gestik), spezifizieren lassen (cf. Mordellet-Roggenbuck 2002, 31ff.). Um die neuen Formen der Kommunikationsmöglichkeiten aufgreifen zu können, wird auf die Termini analog/ digital (Raumangaben) sowie synchron/ asynchron (Zeitangaben) rekurriert, um die Kategorien „Kommunikationsbedingungen“ und „Medium“ zu ergänzen. Diese Bedingungen beeinflussen selbstverständlich auch die Versprachlichungsstrategien. Lachen kann digital graphisch z. B. durch einen lachenden Smiley wiedergegeben werden. Das folgende Schema (cf. Abbildung 6) zeigt, wie die gesprochene Sprache (Französisch als Fremdsprache) in einem didaktischen Rahmen (Schulunter‐ richt) modelliert werden kann. 232 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="233"?> Themenfixierung Öffentlichkeit Reflektiertheit ± Themenentwicklung Prozesshaftigkeit ± Vorläufigkeit ± Endgültigkeit ± Planung ± Elaboriertheit geringere Informationsdichte intentionell kommunikativ verbal nicht verbal paraverbal extraverbal überwiegend phonisch graphisch möglich Dialog Vertrautheit der Partner Face to Face Interaktion Expressivität Affektivität Sprache der Nähe: höhere Fehlertoleranz geringere Komplexität Wortwahl, Aussprache Morphologie, Syntax, Stil synchron asynchron Zeit Raum analog digital Kommunikationsbedingungen Versprachlichungsstrategien Medium GESPROCHENE SPRACHE Abb. 6: Modellierung der gesprochenen Sprache für den Fremdsprachenunterricht Nehmen wir eine mögliche Situation im Französischunterricht an: Die Ler‐ nenden sollen einen Dialog zu einem von der Lehrkraft oder vom Lehrbuch fixierten Alltagsthema zu zweit oder zu dritt mit mehr oder weniger Pla‐ nungszeit während des Unterrichts (analog + synchron) vorbereiten; der Dialog soll anschließend vor der Klasse (der „Öffentlichkeit“) gespielt werden. Die Partner*innen sind einander vertraut, die Kommunikation geschieht face-to-face, die Expressivität und Affektivität werden durch Mimik, Gestik sowie prosodische Mittel ausgedrückt. Die Lernenden verwenden die Sprache der Nähe mit ihren Charakteristika: geringere Komplexität, Wortwahl, Aus‐ sprache, Morphologie, Syntax und Stil (cf. Abb. 6). Die Versprachlichungsstra‐ tegien gelten, d. h., dass die Redeanteile Merkmale der gesprochenen Sprache zeigen bzw. zeigen dürfen! Eine Variation könnte darin bestehen, dass der Dialog ein Gespräch per Chat simuliert und somit mit den entsprechenden Merkmalen 233 Mündliche Kompetenz im Französischunterricht <?page no="234"?> 10 In den letzten zwei Jahren könnte sich die geschilderte Situation auf Grund der Pandemie und des digitalen Schulunterrichts verändert haben. Es muss aber nicht unbedingt der Fall sein, denn nicht jede Lehrkraft ist digital affin. graphisch (s. o.) wiedergegeben wird. Eine weitere Variation könnte vorsehen, dass die Lernenden zu Hause via WhatsApp die genannte Aufgabe interaktiv erfüllen, entweder mit der Audiofunktion oder schriftlich (Französisch wird als Sprache festgelegt). Obwohl mittlerweile fast jede Schülerin und jeder Schüler über ein Smartphone oder Handy verfügt, geschieht im Schulalltag die Arbeit mit digitalen Medien kaum oder gar nicht (nur bei 22 % der Schülerschaft kommt das Smartphone im Unterricht zum Einsatz 10 (cf. Grünewald 2019, 82). Grünewald weist mit Recht daraufhin, dass gerade die beliebteste Nutzungsart digitaler Medien durch Schülerinnen und Schüler in ihrer Freizeit, im Schulalltag kaum eingesetzt wird: Soziale Medien wie WhatsApp, Instagram, SnapChat usw, bei den Lernenden äußerst beliebt, werden kaum in Lehr- und Lernprozesse integriert und ihr Einsatz wird nicht reflektiert. (Grünewald 2019, 82) 3 Fazit: die neue Mündlichkeit Die Ausführungen haben gezeigt, dass es notwendig ist, sich mit dem Kon‐ zept der Mündlichkeit theoretisch und praktisch unter zeitgemäßen Gesichts‐ punkten neu auseinander zu setzen, um eine didaktische Modellierung der ge‐ sprochenen Sprache im Französischunterricht aufzuzeigen. Dabei ist es wichtig, auf die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zurück‐ zukommen, wie sie in sprachwissenschaftlichen Arbeiten dargelegt werden. Das Gesamtmodell von Koch/ Oesterreicher (1985) wurde diskutiert und für fremdsprachendidaktische Zwecke im Hinblick auf „die neue Mündlichkeit“ ergänzt und ausgebaut. Auch neuere Arbeiten aus der Korpuslinguistik geben interessante Impulse für eine Konkretisierung der Mündlichkeit im Französisch‐ unterricht. Die Förderung und die Evaluation der mündlichen Kompetenz der Lernenden, wie sie aktuell im GER und in den Lehrplänen definiert wird, sollten die Versprachlichungsstrategien, die Kommunikationsbedingungen und das Medium berücksichtigen. Dabei sollten Fragen der Authentizität und Idio‐ matizität der gesprochenen Sprache in den Mittelpunkt gestellt werden. Insofern sind die Parameter Zeit, Raum und Medium hinsichtlich didaktisch-methodi‐ scher Arrangements mitzubedenken. Nicht zuletzt sollten die Charakteristika der „Sprache der Nähe“ in einem gewissen Maß gelehrt, gelernt und evaluiert werden. Vielleicht könnte eine zeitgemäße Vermittlung den Französischunter‐ 234 Isabelle Mordellet-Roggenbuck <?page no="235"?> richt für Jugendliche (wieder) attraktiv machen. Empirische fremdsprachendi‐ daktische Forschungsarbeiten sind dringend notwendig, um den vermuteten Mehrwert der Benutzung von digitalen Formen auf die Motivation der Schüle‐ rinnen und Schüler im Französischunterricht zu belegen, oder möglicherweise zu widerlegen. Literatur Ágel, Vilmos / Henning, Mathilde. 2006. „Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens“, in: Vilmos Ágel / Mathilde Henning (ed.): Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer, 179-216. Bausch, Karl-Richard / Christ, Herbert / Königs, Frank G./ Krumm, Hans-Jürgen (ed.). 2003. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen in der Diskussion: Ar‐ beitspapiere der 22. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. Bruckmayer, Birgit et al. 2012. Découvertes Junior. Stuttgart, Leipzig: Klett. Europarat (ed.). 2001. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprache: lerne, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt. Fäcke, Christiane. 2010. Fachdidaktik Französisch. Tübingen: Narr. Grünewald, Andreas. 2019. „Digitaler Wandel - Warum überhaupt noch Fremdsprachen in der Schule lernen? “, in: Eva Burwitz-Melzer / Claudia Riemer / Lars Schmelter (ed.): Das Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen im digitalen Wandel. Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Narr, 80-89. Koch, Peter / Oesterreicher, Wulf. 1985. „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachge‐ schichte“, in: Romanistisches Jahrbuch, 36, 15-43. Krefeld, Thomas. 2015. „L’immédiat, la proximité et la distance communicative“, in: Claudia Polzin-Haumann / Wolfgang Schweickard (ed.): Manuel de linguistique fran‐ çaise. Berlin/ Boston: De Gruyter, 262-274. Mattelart, Armand / Mattelart, Michèle. 1995. Histoire des théories de la communication. Paris: La découverte. Mordellet-Roggenbuck, Isabelle. 2002. 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En didacto‐ logie, ces courants se retrouvent dans la méthodologie audio-orale, en passant par les différentes méthodologies audio-visuelles, l’approche communicative, puis actionnelle pour aboutir, de nos jours et provisoirement, à la méthodologie plurilingue intégrée (cf. la magistrale histoire de la didactique des langues de C. Puren (1996)). Pendant toute cette période, la principale préoccupation des chercheurs en didactique est de mieux articuler la théorie de l’appropriation d’une langue avec les pratiques en classe de langue, de reformuler les points de repère théoriques pour les rendre plus clairs et concis. Prenons comme exemple la place de l’oral : tout au début, elle se limite à transformer des phrases à l’intérieur des modèles structuralistes, les célèbres pattern drills (de type behavioriste). Avec les méthodologies audiovisuelles, les chercheurs en didactique introduisent des ‚situations authentiques‘ dans le but de mieux contextualiser les énoncés. L’approche communicative a pour but de rendre les dialogues plus proches d’une conversation de la vie quotidienne. L’ap‐ <?page no="238"?> 1 Nous parlons d’hétérostructuration lorsque c’est l’enseignant ou un autre élève qui apportent l’aide pour produire un énoncé correct. Le savoir-faire langagier est organisé de l’extérieur. Dans l’autostructuration, l’élève est lui-même capable de se corriger. proche actionnelle est centrée sur la tâche impliquée dans l’« agir social » (Puren 2009). La didactique des langues élargit son domaine à la « didactique des langues-cultures ». Tout en nous inspirant de l’approche actionnelle, nous proposons de séparer, d’un côté, les activités d’imitation et d’automatisation de l’apprentissage sys‐ tématique de la langue et, de l’autre, les activités en situation immersive. Pour les premières, nous recourons à la Visualisation Picturo-graphique et lexico-syntaxique Simultanée (VPS), une technique holiste d’habituation qui intègre dans l’acte d’enseignement, de façon simultanée, tous les sens afin d’assurer un meilleur ancrage des nouveaux faits de langue. Les activités en situation immersive sont celles consacrées à des thèmes issus des disciplines enseignées en langue 2 (DEL2) ou de socialisation coopérative comme la correspondance, le journal… C’est la raison pour laquelle nous distinguons dans notre article deux types d’activations orales : celles focalisant sur la mémorisation progressive et l’utilisation automatique croissante des modèles langagiers présentés à l’aide d’activités ludiques et celles favorisant la communication et la socialisation à travers le langage. En acquisition de langue, nous partons des hypothèses suivantes : ● En partant d’une entrée compréhensible le développement de la langue est favorisé par l’interaction et la communication directe (l’hypothèse d’interaction développée par Krashen 1985 ; Long 1981 ; Pica 1987 ; Ellis 1991). ● Des séquences de réparation et d’étayage, l’autoet l’hétérostructuration 1 (par des paires) ainsi que des routines langagières soutiennent favorable‐ ment l’acquisition de la langue (l’hypothèse de la production linguistique guidée, cf. Edmondson/ House 2006, 271 ; Aguado Padilla 2002). ● La participation active et réelle de l’apprenant à la décision de ce qui va être l’objet d’apprentissage favorise l’acquisition de la langue. Dans une conversation, plus l’apprenant prend la parole de façon auto-initiée, plus il soutient son processus d’apprentissage (l’hypothèse de la prise de parole auto-initiée par l’apprenant•e et de la participation au choix des contenus, cf. Slimani (1987)). 238 Céline Bichon / Gérald Schlemminger <?page no="239"?> Nous aurons l’occasion d’approfondir ces postures lors du développement de notre approche. 2 Les différentes notions de l’oral Nous vous présenterons d’abord l’aspect normatif de la notion de l’oral repré‐ sentée par les instructions officielles (Lehrpläne, Bildungspläne allemands) et le Cadre Européen Commun de Référence pour les langues (CECR). Nous focaliserons plus particulièrement sur l’apprentissage du français à l’école primaire, apprenant•e•s de niveau pré-A1 / A1. Le champ notionnel de ce que signifie l’oral dans l’apprentissage est large ; il y a une pluralité de techniques visant l’objectif de communiquer à l’oral et une certaine confusion dans les pratiques de classe (cf. déjà de Pietro/ Wirthner 1998). C’est l’occasion pour nous de définir cette notion et de délimiter son champ dans le cadre de notre démarche. Les compétences à acquérir en FLE à l’école primaire dans le Bade-Wurtem‐ berg sont selon les instructions officielles les suivantes : Das primäre Ziel des Fremdsprachenlernens in der Grundschule ist die Entwicklung kommunikativer und interkultureller Kompetenzen […] Die im Bildungsplan der Grundschule beschriebenen Kompetenzen am Ende der Klassen 3/ 4 sind am Refe‐ renzniveau A1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR) ausgerichtet. Dieser definiert für alle Sprachen gültige Kriterien und Niveaus, nach denen die Sprachbeherrschung von Lernenden eingestuft werden kann. Das in der Grundschule angestrebte Referenzniveau A1 beschreibt die elementare Sprachverwendung. Die Schülerinnen und Schüler können sich auf einfache Weise verständigen, Fragen stellen und beantworten sowie einfache Feststellungen treffen und darauf reagieren (vergleiche GeR, S. 42). Voraussetzung hierfür ist, dass sich die Themen auf die vertraute Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder beziehen (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2020, 4). Le CECR, évoqué de façon explicite par ces instructions, présente dans le tableau 3, « Niveaux communs de compétences - Aspects qualitatifs de l’utilisation de la langue parlée » (Conseil de l’Europe 2001, 28), une grille permettant d’évaluer la capacité de production orale des utilisateurs du niveau A1 au niveau C2. L’évaluation se concentre sur des aspects qualitatifs de l’utilisation de la langue. Cinq compétences principales permettent d’apprécier le niveau d’utilisation de la langue : l’étendue, la correction, l’aisance, l’interaction et la cohérence. L’étendue fait référence au champ lexical mais aussi à l’étendue linguistique générale qui inclut les structures à disposition de l’utilisateur élémentaire ; la 239 Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire <?page no="240"?> correction porte sur l’utilisation syntaxique et grammaticale de la langue et la maitrise du vocabulaire. L’aisance, l’interaction et la cohérence font référence à la capacité de l’utilisateur•trice à faire des énoncés, à s’exprimer malgré les moyens limités dont il dispose. Cette structure est le modèle des programmes d’enseignement des langues au niveau européen. Elle a certainement son utilité pour des procédés d’évaluation et de certification. Le CECR énumère quelques types d’interactions possibles : les échanges courants, - la conversation courante, les discussions informelles, les discussions formelles, le débat, l’interview, la négociation, la planification conjointe, la coopération en vue d’un objectif etc. (Conseil de l’Europe 2001, 60). Pour mieux appréhender la question de l’oral, une taxonomie des genres discursifs fournit des descripteurs pour organiser des activités orales formelles et enseignables mais ne saisit pas le caractère spécifique de la communication à l’oral. E. Nonnon (1998, 57) pose bien le défi de l’oral en apprentissage de la langue. Ces propos restent d’actualité, développés pour le français comme langue de scolarisation, ils s’appliquent également à la classe de langue : Le travail sur l’oral en classe est pris entre deux pôles, celui d’une didactique systématique basée sur une définition stricte de l’oral et sur la codification de genres oraux susceptibles d’un enseignement, et celui d’une conception extensive et globale de l’oral comme pratique inscrite dans toutes les activités sociales et intellectuelles de la classe, qu’il s’agirait seulement de favoriser et de systématiser. Si la première perspective rend visibles et évaluables, donc légitimes, des objectifs et objets d’enseignement liés aux pratiques orales, elle risque de développer des entraînements formels et décontextualisés, coupés du travail sur les contenus de discours et les positions intersubjectives qui est au cœur des pratiques orales. À l’inverse, une perspective centrée sur les occasions de parole fonctionnelles et significatives dans les situations d’apprentissage en commun se heurte à la difficulté de déterminer des exigences claires relatives aux pratiques orales, susceptibles de fonder des objectifs d’apprentissage, des éléments de progression, des critères pour mesurer les évolutions. (C’est nous qui soulignons.) Les mises au point récentes de la notion d’oral (cf. Hassan/ Bertot 2015 ; Nicolas 2017) continuent à opérer cette distinction entre l’oral comme objet d’appren‐ tissage et comme support d’acquisition. Nous nous situons dans une démarche dite « intégrée » de l’enseignement du FLE, développé déjà par Nonnon (1998) pour le français et également pertinente pour le français langue étrangère (cf. aussi Nicolas 2017). Nous avons séparé les activités d’automatisation et d’habi‐ 240 Céline Bichon / Gérald Schlemminger <?page no="241"?> 2 Dans notre approche, la cognition joue également un rôle important. Mais l’aborder dans cet article sur l’oralité, dépasserait le cadre du sujet. Voir un exemple des procédés cognitifs que nous mettons en place dans C. Morisset-Dammann/ C. Bichon/ G. Schlemminger (2019). tuation d’un côté et les activités immersives de l’autre. Nous postulons que l’oral est, dans les deux dispositifs, à la fois et de façon intégrée objet d’enseignement et d’apprentissage d’un travail collaboratif entre enseignants et apprenants centré sur le langage et les discours ainsi que vecteur de communication, d’enseignement et d’acquisition d’autres contenus. L’immersion contribue, elle aussi, à l’automatisation, mais de façon plus holiste 2 . Pour les deux dispositifs, nous délimitons notre notion de ce qu’est l’apprentissage / l’acquisition d’une langue de la manière suivante : ● L’utilisation de la langue s’insère toujours dans des interactions sociales et langagières. Ces activités prouvent leur efficacité lorsqu’elles font du sens pour les apprenants et lorsqu’elles établissent et renforcent le lien social. ● Les élèves à l’école primaire, surtout dans les premières classes, se trouvent dans la phase de l’entrée dans la littératie dans une ou plusieurs langues. C’est la phase de l’acquisition de la compétence du discours monologal et dialogal oral (et écrit) dans des situations communicatives variées (cf. Schlemminger/ Bichon 2020, 226). ● Pour favoriser l’implication de l’élève dans une interaction communicative, la classe de langue doit disposer de moments et de lieux de parole qui permettent de : - faire circuler librement de la parole, - s’échanger à propos de sujets qui partent des centres d’intérêt et des besoins de l’élève, où il trouve un sens à interagir et à communiquer en langue étrangère (cf. Boulouh/ Schlemminger 2021, 48). La notion de lieu de parole a été développée par la pédagogie institutionnelle. Nous entendons par-là […] un espace symbolique défini quant à sa durée, son objet, sa périodicité et sa place dans l’emploi du temps. Dans une classe, il existe plusieurs lieux de parole, différenciés et clairement définis. Ils vont servir essentiellement à différer la parole des enfants pour mieux l’entendre […], car le seul moyen de garantir à chacun un temps personnel de communication est d’instaurer un espace-temps reconnu par tous. (Héveline/ Robbes 2010, 53). Comme le souligne également Lhote, plusieurs personnes sont impliquées dans le contexte de l’acte d’énonciation, à savoir la personne qui parle mais aussi la 241 Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire <?page no="242"?> personne qui écoute. Le besoin ou l’envie d’échanger avec un interlocuteur est essentiel à la communication. Effectivement, dans tout acte d’énonciation, il y a, au premier plan, une motivation propre à celui / celle qui parle : la volonté de s’échanger, de communiquer. Bien évidemment, l’interlocuteur•trice doit lui aussi être disponible pour s’échanger ; il / elle doit avoir envie de participer à la communication. Tout comme le locuteur, l’interlocuteur doit être dans la même disposition. Nous montrerons par la suite ce que cette posture signifie pour la classe de langue. Du côté de la démarche systématique d’entraînement des aptitudes lang‐ agières, nous favorisons une approche ludique. Le jeu présente un atout de motivation grâce au côté agréable de l’activité, il donne un contexte dans lequel le langage trouve son sens. Il permet également une interaction des joueurs qui se fait le plus souvent par oralisation et qui facilite alors la prise de parole de l’enfant pour établir des contacts sociaux. Du côté de l’acquisition d’autres contenus, notre démarche consiste à mettre en place l’immersion et le tâtonne‐ ment expérimental. Ces deux démarches structurent notre argumentation (chap. 4 et 5), précédée par la présentation du lieu où se déroulent les apprentissages, l’Atelier de français. 3 L’Atelier de français de la Pädagogische Hochschule de Karlsruhe Au Centre de recherche en bilinguisme scolaire de l’École Supérieure de Pédagogie de Karlsruhe, une équipe de recherche de plusieurs enseignants et chercheurs a pour objectif de conceptualiser cette nouvelle approche de l’apprentissage du FLE, favorisant notamment les compétences orales des élèves. Cette approche se base sur un apprentissage guidé de la langue, un apprentissage immersif de la langue ainsi qu’une pratique „libre“ de la langue dans des lieux de paroles inhérents, mais bien distincts, du cours de FLE. L’équipe de recherche continue à théoriser cette démarche, à l’approfondir et établir des liens avec des concepts issus de la didactique des langues et de la psycholinguistique d’apprentissage. Nous appliquons et évaluons la pertinence de ce concept didactique dans le cadre d’une classe d’application, l’« Atelier de français », mise en place dans le département de français (cf. Schlemminger 2019). Nous présenterons donc l’organisation et la pratique pédagogique de « l’A‐ telier de français », les concepts essentiels de l’approche didactique de la VPS ainsi que quelques exemples de l’apprentissage par immersion pédagogique réalisés dans l’Atelier de français. Nous montrerons par-là les atouts du modèle de Karlsruhe dans la promotion des compétences orales. 242 Céline Bichon / Gérald Schlemminger <?page no="243"?> 3 Les apprenant•e•s de niveau pré-A1 / A1 n’ont pas encore les moyens linguistiques pour s’exprimer exclusivement en langue cible. La situation reste néanmoins immersive car les expérimentations et les interactions se déroulent en français. 3.1 Le déroulement de l’Atelier de français - présentation du modèle pédagogique de Karlsruhe L’Atelier de français a vu le jour en avril 2018. Ce projet est le fruit de travail d’une équipe d’enseignants qui a réussi le pari ambitieux de mettre en place une classe d’application avec un groupe d’enfants hétérogène et de créer les bases d’une nouvelle approche de l’apprentissage guidé du français où sont intégrés à la fois la VPS et l’immersion par le biais d’expérimentations en langue étrangère. L’origine du concept de la VPS se trouve dans la « méthode CMD » (carte-mot-dessin) créée par Morisset-Dammann (2006/ 2017). L’auteure a su dépasser les saynètes dialoguisées des manuels en associant de façon ingénieuse l’image et la graphie d’un mot tout en faisant appel à l’ensemble des sens pour ancrer le nouveau vocabulaire dans la mémoire des jeunes apprenant•e•s. Cette démarche, au demeurant très ludique et soutenue par un jeu de cartes-mots et des cartes-images (cf. Schlemminger 2018), permet de réactualiser et de réinvestir de façon systématique les champs lexicaux déjà appris. La focalisation non pas sur des dialogues mais sur le syntagme favorise l’énonciation de phrases de plus en plus complexes, déjà pour les apprenant•e•s débutant•e•s. L’Atelier de français a lieu une fois par semaine, pendant 3 heures, pour un groupe de 12 à 15 enfants selon le semestre. La participation des enfants est basée sur le volontariat. Il s’agit d’une offre extrascolaire, encadrée par la Fondation Hector et le bureau d’aide à la jeunesse de la ville de Karlsruhe. Les enfants ont entre 6 et 12 ans, leur niveau de français est hétérogène. Certains commencent juste la première année de primaire et entrent tout juste dans l’écrit, d’autres sont en première année de secondaire et apprennent le français comme langue étrangère ou l’ont déjà appris à l’école primaire. L’Atelier est constitué de deux parties principales. La première est consacrée à l’apprentissage structuré de la langue permettant aux enfants de produire dès les premiers cours des énoncés complets et cohérents. La seconde partie est basée sur activités en situation immersive. Il se fait à travers des expérimentations, où, dans un bain linguistique, les élèves manipulent des objets et ustensiles tout en utilisant la langue française ou éventuellement l’allemand 3 (cf. le développement de cette approche dans Geiger-Jaillet/ Schlemminger/ Le Pape Racine 2016). Le tableau suivant montre le déroulement complet d’une après-midi qui est articulée entre des moments d’apprentissage et des lieux de parole comme le « Quoi de neuf ? », « Critiques et félicitations » et de gestion du groupe-classe 243 Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire <?page no="244"?> tel le « Conseil », empruntés à la Pédagogie institutionnelle de type Freinet (cf. Schlemminger 2016). Nous présenterons par la suite ces derniers. Durée Séquence 10‘ Arrivée Accueil à l’atelier. 15‘ Quoi de neuf ? Accueil dans le groupe : les enfants se mettent en cercle pour s’échanger entre eux. 20‘ Vie de classe / corre‐ spondance Ici, les règles de vie sont discutées et fixées. 45‘ Travail sur la langue Phase d’apprentissage linguistique guidé. 20‘ Pause jeux / goûter Petite collation, échange spontané avec les adultes impliqués. 10‘ Relaxation Phase de détente pour se recentrer sur les appren‐ tissages. 50‘ Expérimentations Phase immersive 10‘ Critiques, et félicita‐ tions, propositions Les enfants expriment ce qu’ils ont vécu l’après-midi et font des suggestions d’amélioration. Fig. 1 : Déroulement de l’Atelier de français. (La phase immersive sera présentée au chapitre 5.) 3.2 Les lieux de parole libre Les lieux de parole, issus de la pédagogie institutionnelle, sont très propices pour des situations de communication et d’échange entre les participants du groupe. Les élèves s’expriment en allemand, en français ou utilisent les deux langues à la fois sur ce qui est important pour eux. Nous y rencontrons un emploi d’alternance codique approprié au contexte de la situation et des besoins communicationnels. « Quoi de neuf ? » Chaque Atelier commence par le « Quoi de neuf ? ». Les enfants s’expriment librement, dans la langue cible ou dans la langue maternelle, pour exprimer ce qu’ils ont vécu de particulier depuis le dernier atelier ou tout simplement pour exprimer comment ils vont. Ce moment de parole est très important pour les enfants car il leur permet, après une matinée passée à l’école, d’arriver dans le groupe, de retrouver leur place parmi leurs pairs. Il encourage l’expression orale dans la langue d’apprentissage en mettant en place des situations de com‐ 244 Céline Bichon / Gérald Schlemminger <?page no="245"?> munication vraies. L’enfant s’adresse ainsi au groupe parce qu’il a réellement quelque chose à lui dire. Ce temps de parole accordé aux enfants est la clé du bon déroulement de l’après-midi. Nous pensons que si les élèves se sentent accueillis, ils apprendront plus facilement. « Vie de classe » C’est un lieu de régulation du groupe. Ici, les règles de vie sont discutées et fixées par le groupe ; les „Métiers“ (tâches) comme ‚ranger le matériel‘, ‚nettoyer le tableau‘, ‚balayer‘… sont répartis ; d’éventuels conflits sont discutés. C’est dans ce cadre que sont lues et écrites les lettres de la classe de correspondance de France. « Critiques et félicitations » À la fin de chaque atelier de langue, au moment des « Critiques et félicitations », les enfants font une appréciation du travail de l’après-midi pour dire ce qui s’est bien passé ou ce qui doit être amélioré. Les demandes de parole sont notées au tableau et peuvent, le cas échéant, être traitées plus en profondeur au prochain atelier dans la « Vie de classe ». Tout comme Elisabeth Lhote (Lhote 2001), Evelyne Berger soutient l’idée que « les apprenants ne s’expriment pas seulement dans le but d’acquérir des connaissances en langue cible mais cherchent à accomplir des tâches communicatives concrètes, tout en (re-)configurant leurs identités, […] ainsi que leurs rapports interpersonnels » (Berger 2016, 23). Elle parle de „socialisation langagière“ et explique que cette dernière permet effectivement aux élèves de développer leurs compétences socio-culturelles et communicatives (Berger 2016). Nous sommes persuadés que la mise en place de moments et de lieux de parole contribue fortement au développement de la compétence orale des apprenants. Même si la participation est parfois limitée du point de vue linguistique, la participation à des lieux de parole est primordiale pour l’ap‐ prentissage et le développement des compétences orales. En effet, l’expérience au sein de l’Atelier de français nous a montré que les enfants développent réellement leur compétence orale en exprimant des faits qui leurs sont propres (naissance d’un petit frère, fête d’anniversaire avec des amies, visite de musée avec la famille). 245 Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire <?page no="246"?> 4 L’apprentissage structuré et raisonné à l’aide de la VPS La VPS stimule simultanément plusieurs processus cognitifs lors de la mémori‐ sation de nouveaux mots et de nouvelles structures syntaxiques et apporte un certain nombre de nouveautés didactiques et pédagogiques que nous dévelop‐ perons par la suite. 4.1 Les procédés cognitifs de l’appropriation de signes linguistiques et de syntagmes Avec la VPS, les mots nouveaux sont présentés simultanément à l’apprenant sous forme iconographique, graphique et acoustique. La présentation graphique permet à l’apprenant de relier le signifiant graphique au signifié, représenté par un élément iconographique. Si la représentation acoustique et iconogra‐ phique n’est pas accompagnée par la graphie du nouveau mot, Treutlein/ Lander/ Schöler (2013, 5sq.) ont montré que les apprenants construisent leur représen‐ tation graphique du nouveau lexique à partir du système orthographique de leur langue de scolarisation. L’utilisation simultanée de ces différentes formes iconographique, graphique et acoustique stimule des actions cognitives complexes. Nous comptons cinq actions principales pour l’apprentissage du lexique : 1. la représentation iconographique (le signifiant visuel 1) de l’objet des nouveaux mots ou des nouvelles structures syntaxiques ; 2. la représentation graphique (le signifiant visuel 2) des nouveaux mots ou des nouvelles structures syntaxiques ; 3. la perception tactilo-kinesthésiques (le signifiant haptique) à travers des activités ludiques ; 4. la représentation phonique (le signifiant acoustique) des nouveaux mots ou des nouvelles structures syntaxiques ; 5. l’utilisation dans la parole et la réitération des nouveaux mots ou des nouvelles structures syntaxiques. Ces procédés cognitifs construisent un ancrage solide et multiple du signifié. En effet, notre expérience montre que cette multi-connexion sensorielle permet une forte mise en réseau neuronale lors de l’acquisition de nouveaux éléments du langage (cf. aussi Aguerre 2010 ; Eastes 2013). L’apprenant arrive à mieux fixer de nouveaux mots ou des groupes syntaxiques, il arrive également plus facilement à utiliser ces groupes syntaxiques dans des énoncés. Cela permet de bâtir progressivement un dictionnaire mental de la langue à apprendre. 246 Céline Bichon / Gérald Schlemminger <?page no="247"?> 4.2 Progression des niveaux syntagmatiques et paradigmatiques Les procédés d’enseignement basés sur les techniques de la VPS s’appuient sur quelques résultats récents de la recherche en acquisition d’une langue, à savoir la prise en compte de la fréquence d’occurrence (token frequency). Il s’agit de l’apparition répétée d’une seule et même structure linguistique au sein d’un schéma fixe. La répétition forte d’une occurrence permet à l’apprenant de l’enregistrer dans sa mémoire de travail et de la rendre plus disponible pour une utilisation ultérieure, d’abord sur le plan de la réception puis sur celui de la production (cf. Henk 2019 ; Kusyk 2017). Il est donc important de proposer une offre linguistique ciblée et riche en occurrences. On parlera d’exposition à la langue biaisée (skewed input, cf. Nakamura 2012). Nous illustrons ces procédés à travers un exemple : les premières phrases produites par les apprenants reprennent au niveau syntagmatique presque exclusivement la séquence linéaire de la phrase : groupe nominal - groupe verbal -groupe nominal complément d’objet comme « je mange une banane jaune ». Avec l’apprentissage spiralaire (qui est un apprentissage continu repo‐ sant sur une reprise constante de ce qui est déjà acquis et une complexification progressive), cette séquence peut être commutée sur l’axe paradigmatique et faire place à une différenciation au sein du groupe d’apprenants : « je mange une pomme », « il mange deux concombres verts » ou encore « Ma maman mange cinq tomates rouges ». La séquence linéaire de la phrase de base est : groupe nominal - groupe verbal - groupe nominal complément d’objet. Nous pouvons, dans un premier temps, mettre le groupe verbal à la forme négative « Il ne mange pas trois concombres verts ». Cette structure syntaxique, fixe au début de l’ap‐ prentissage, donne une grande sécurité aux apprenants qui essayent de produire leurs propres phrases en substituant le modèle avec les mots des champs lexicaux déjà appris. Nous appelons cette démarche l’apprentissage spiralaire. Dès les premiers cours, les apprenants produisent de façon indépendante des phrases complètes et cela déjà au moment de la phase de fixation, à l’aide de multiples jeux. La flexibilité sur l’axe paradigmatique n’est qu’une facette de la VPS, car la structure de base des phrases peut aussi être élargie, en fonction du niveau de langue des apprenants et en fonction du groupe classe. L’axe syntagmatique s’élargit vers la droite lorsque deux phrases ou plus sont reliées par une conjonction de coordination : « Il ne mange pas trois concombres verts mais quatre radis roses. », « Il ne mange pas trois concombres verts mais quatre radis roses et deux pommes vertes. ». L’axe syntagmatique s’élargit également par la gauche lorsque la phrase est enrichie d’un complément de temps (« Le soir, il ne mange pas trois concombres 247 Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire <?page no="248"?> verts mais quatre radis roses et deux pommes vertes. »), par un complément de lieu (« Le soir, dans la cuisine, il ne mange pas trois concombres verts mais quatre radis roses et deux pommes vertes »), etc.. L’axe syntagmatique peut s’étendre, même pour des apprenants débutants qui sont tout à fait capables, après une année d’apprentissage en suivant les techniques de la VPS, de former des phrases complexes comme : « Le vendredi soir, dans la cuisine, au premier étage, il ne mange pas trois concombres verts avec Pierre mais quatre radis roses et deux pommes vertes avec le papa de Mathilda ». Pour communiquer dans une situation contextualisée précise, nous prenons l’exemple lorsque l’Atelier de français a décidé de discuter avec ses correspon‐ dants français sur la mode et la manière comment s’habiller en été (Il s’agit du champ lexical « les vêtements »). Les élèves vont nommer les vêtements qu’ils portent, voire apporter d’autres habits encore. Certains apprenants débutants (niveau A1) se limiteront à des structures syntaxiques simples, d’autres plus avancés (niveau A2) dans l’apprentissage feront des phrases plus complexes. Ce procédé permet une différenciation au sein d’un groupe qui est toujours hétérogène. Ainsi, la VPS permet même aux débutants, grâce à la visualisation et à la progression spiralaire, de comprendre les phrases plus complexes. Cette démarche fait écho à la théorie de l’exposition aux données compréhensibles de la langue cible (Intake-Hypothesis) de Krashen (Krashen/ Terrell 1983). Selon eux, l’apprenant acquiert une langue en la comprenant sous condition que celle-ci contienne, au plus, des structures et lexèmes qui dépassent légèrement son niveau de compétence linguistique (n+1). Il lui est essentiel de déduire la signification de l’énoncé grâce au contexte, ici soutenu par la visualisation et par l’appel aux techniques sensorielles mises en œuvre à travers les stratégies d’enseignement. La VPS se réfère quant à la construction de phrases à la grammaire distributionnaliste développée par Bloomfield et Harris dans les années 1950-60. Certes, la VPS ne recourt pas à des dialogues construits, simulant une situation de communication réelle. Elle permet de dépasser pendant les cours de FLE ce cadre dialogique strict et donne à l’enseignant une grande liberté et flexibilité dans la conception pédagogique et didactique de ses cours. Nous allons présenter par la suite les innovations pédagogiques inhérentes à la VPS. 4.3 Enseigner avec les techniques de la VPS La VPS fait évoluer la pédagogie en classe de langue et renouvelle les procédés d’enseignement de mémorisation de fixation et de transfert. Celui-ci se fait en quatre phases distinctes. 248 Céline Bichon / Gérald Schlemminger <?page no="249"?> Le premier est le processus d’enseignement de la classe inversée. Chaque élève reçoit une piste audio et une liste de vocabulaire correspondant au champ lexical à étudier. Les élèves écoutent les structures et mots nouveaux à la maison en amont de la prochaine leçon. Pendant qu’ils mémorisent ce qu’ils entendent, ils travaillent sur les tâches correspondantes sur des fiches de vocabulaire ou d’exercices. Nous appelons cela la phase 0, car contrairement aux trois autres, ici, seul l’apprenant est le moteur de son apprentissage. Ainsi les apprenants connaissent déjà le champ lexical lorsque l’enseignant l‘ « introduira » pendant le cours ; le travail lexical correspond à un processus de réactivation d’un champ lexical déjà appréhendé et non plus à une première introduction du nouveau vocabulaire. Comme une partie du processus d’apprentissage est placée sous l’initiative personnelle des apprenants, ceux-ci deviennent indépendants et plus responsables de leur apprentissage. L’apprentissage s’effectue autour de douze thèmes principaux, qui repren‐ nent en grande partie ceux énumérés dans les instructions officielles de 2016 du land du Bade-Wurtemberg pour l’apprentissage du français langue étrangère à l’école primaire. En voici quelques-uns : les chiffres et les couleurs, l’école, la famille, le corps, les vêtements, les fruits et légumes, les animaux, les meubles, la maison, le temps, les saisons, l’heure… Lorsqu’on aborde un nouveau thème, les thèmes précédents sont repris sys‐ tématiquement. Le travail se fait d’abord sur la fixation du nouveau vocabulaire (phase 1) où l’accent est mis sur la fixation visualisée du genre des mots grâce à un système de couleurs (bleu pour le masculin, rouge pour le féminin). Ensuite les apprenants construisent des phrases simples propres au thème (phase 2). Enfin les apprenants construisent des phrases complexes liées aux thèmes précédents (phase 3). Nous parlerons d’une progression spiralaire, c’est-à-dire sur une reprise de ce qui est déjà acquis, et une complexification progressive à travers une extension lexicale et syntaxique, d’abord sur l’axe paradigmatique puis sur l’axe syntagmatique. Cette partie de l’Atelier correspond à l’étape de l’apprentissage guidé du français, pendant laquelle les enfants utilisent de façon ludique le nouveau vocabulaire en faisant des phrases complètes. En effet, les jeux sont au centre de l’organisation pédagogique de l’Atelier. La deuxième partie constitue le bain linguistique où les enfants sont confrontés à des situations d’expérimentation issues des différentes disciplines scolaires. Il s’agit d’un apprentissage plus intuitif et en immersion. 249 Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire <?page no="250"?> 4 Dans la discussion anglo-saxonne, on parlera de Content and Language Integrated Learning (CLIL), en allemand de Sachfachunterricht in der Fremdsprache. 5 La deuxième phase de l’Atelier de français : Discipline en langue 2 (DEL2) Pour l’acquisition des connaissances du monde, nous suivons dans l’Atelier l’immersion en DEL2 (discipline enseignée en langue 2), principe développé par Geiger-Jaillet/ Schlemminger/ Le Pape Racine (2016) 4 . La langue cible n’est plus objet mais vecteur d’apprentissage. C’est à travers cette langue cible que les enfants vont faire leurs expériences pendant le cours et apprendre le contenu de la discipline enseignée. Nous parlons ici d’apprentissage non guidé, en opposition à l’apprentissage guidé avec la VPS. Comme le soulignent Renner et Klimek-Kowalska (2018, 14) : L’apprentissage de la L2 selon la pédagogie ÉMILE/ CLIL gagne une place importante dans les nouvelles méthodologies. Tous les deux amènent les apprenants à considérer la langue comme un instrument nécessaire et utile qui va permettre de faire passer un contenu, des connaissances, expliquer un raisonnement ou raconter un savoir ou agir avec le savoir-faire adéquat afin de réaliser une tâche « réelle ». Cette notion se retrouve également dans les instructions officielles du Bade-Wurtemberg pour l’enseignement du français à l’école primaire : des phases immersives dans une autre discipline que le cours de langue augmentent le temps de contact avec le français et donc la communication orale en langue cible. Auch in anderen Fächern kann die Fremdsprache eingesetzt werden, beispielsweise im Sachunterricht, in Bewegung, Spiel und Sport, in Kunst/ Werken und Musik. Durch die Integration von Fremdsprache und Sachfach (EMILE = L’Enseignement de Matières par L’Integration d’une Langue Etrangère) wird somit die Kontaktzeit mit der Fremdsprache erhöht. (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2020, 3) Dans l’Atelier de français, nous avons enseigné les arts plastiques, l’histoire, la géographie, la biologie, les sciences familiales et sociales ou encore la physique, en langue française. Prenons l’exemple de la discipline Arts plastiques. Le travail réalisé dans un de nos ateliers porte sur les couleurs complémentaires. Ce thème est largement connu et se rattache au vécu des élèves qui, pour la plupart, ont déjà travaillé avec la peinture à l’eau, que ce soit à la maison ou dans un cadre préscolaire ou scolaire. L’objectif de cet atelier est la prise de conscience 250 Céline Bichon / Gérald Schlemminger <?page no="251"?> des règles chromatiques. Les élèves expérimentent sur les couleurs (couleurs primaires et secondaires, mélange des couleurs…) tout en découvrant les termes techniques propres au sujet comme ‚le pinceau‘, ‚la palette de couleurs‘, ‚le chevalet‘, ‚la couleur complémentaire‘ etc. Ces termes ne font pas l’objet d’un apprentissage explicite, mais comme les enfants utilisent ces ustensiles, ils les acquièrent en manipulant les objets et concepts. Donnons un autre exemple. Lors d’un cours de science familiale et sociale, les enfants découvrent le chocolat. Bien sûr que tous les enfants connaissent cet aliment. Dans ce cours, ils font connaissance avec les différentes phases de fabrication, puis la différence entre les trois types de chocolats. Ils manipulent de vraies fèves de cacao et du vrai beurre de cacao. Ils apprennent, tout comme dans l’exemple précédent, indirectement des termes spécifiques au sujet, comme la récolte, la fermentation, la torréfaction. L’apprentissage de la DEL2 permet aux enfants de s’exprimer sur le sujet du cours dans la langue étrangère. Tout comme dans les lieux de parole libre, la L2 est bien plus qu’un simple sujet d’apprentissage dans les cours en immersion. La langue devient un véritable outil de communication. 6 Conclusion De longues années, nous avons supervisé nos étudiant•e•s lors des stages perlés à l’école primaire. Après quatre, maintenant deux années d’enseignement de français, les élèves ont un niveau faible à oral. L’expression orale reste un défi en classe de français à l’école primaire langue. Dans cet article, nous nous sommes posé la question de savoir comment dépasser les procédés d’enseignement habituels de la simple répétition orale (par le biais des jeux, des chansons, des saynètes…) tout en maintenant, voire en renforçant l’aspect systématique d’habituation des nouveaux faits de langue. Nous avons montré que l’utilisation, de façon systématique, des techniques de la visualisation picturo-graphique et lexico-syntaxique simultanée peut accroître l’expression et la compétence orales des élèves (a) lorsque ces techniques sont fortement contextualisées et motivées par des lieux de paroles, par un besoin de communication, par exemple dans une classe de type Freinet ayant des liens sociaux forts (classe de correspondance, journal de classe, production d’album…), (b) lorsqu’elles sont accompagnées d’une phase d’immersion dans des sujets d’une discipline enseignée en langue 2, où, de façon globale, les élèves peuvent appréhender le monde par un tâtonnement expérimental. 251 Promouvoir la compétence orale des élèves à l’école primaire <?page no="252"?> Bibliographie Aguado Padilla, Karin. 2002. Imitation als Erwerbsstrategie. Interaktive und kognitive Dimensionen des Fremdsprachenerwerbs. Bielefeld : Thèse d’université, Université de Bielefeld. Aguerre, Sandrine. 2010. 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Dieser Perspektivenwechsel besteht in einer Verkehrung der Fokussierung auf zentrale Voraussetzungen, die zur sprachlichen Kommunikation führen. Die lexikalische, grammatikalische und morphosyntaktische Auseinandersetzung mit der Fremdsprache erfolgt in der PDL nicht als Prämisse für den Einstieg in die gesprochene Sprache und in die Kommunikation, sondern als Konsequenz eines Motivationsantriebs, etwas in der Fremdsprache ausdrücken zu wollen. Der hierfür notwendig einzuschlagende Weg geht für die PDL über den erleb‐ nisorientierten Zugang zur (Aus-)Sprache inkl. Körperausdruck hin zu Lexik, Grammatik und Morphosyntax. Einleitend wird die Relevanz der Ausdrucksfunktion von Sprache zu Beginn des Fremdspracherwerbs hervorgehoben. Die Ausdrucksfunktion spielt eine genauso zentrale Rolle wie die kommunikative Funktion von Sprache (Dufeu 2003, 77-81) und stellt eine wichtige Prämisse für die Realisierung des oben angestrebten Perspektivenwechsels dar. Die Förderung des Ausdruckswunsches und der Ausdrucksmöglichkeiten bilden die Ausgangsposition für die Ausein‐ andersetzung der Teilnehmer*innen mit der Fremdsprache. Exemplarisch wird <?page no="256"?> dies im vorliegenden Beitrag durch die PDL-Technik des Doppelns auf verbalem Impuls aufgezeigt. Die PDL stützt sich in der Unterrichtspraxis auf die morenischen Konzepte von Begegnung (Moreno 6 2008, 54) und schöpferischer Spontaneität (Fox 2001, 80-86). Dies und ihr phänomenbasierter Zugang zur Mündlichkeit und zur Aussprache sind auch in den Anfangsphasen des Fremdspracherwerbs von re‐ levanter Bedeutung. Im zentralen Teil dieses Beitrags wird deshalb erörtert, wie die Fremdsprache zunehmend zum Mittel der Begegnung und der authentischen Kommunikation in der Gruppe wird. Es wird gezeigt, wie die verbale Sequenz die PDL-Sprachtrainer*innen dabei unterstützt, die Teilnehmer*innen in ihren Ausdruckswünschen zu begleiten und wie ausgehend vom Hören und Sprechen der Verstehensprozess aktiviert wird. Es wird weiterhin auf die relationelle Progression hingewiesen, die einen Paradigmenwechsel gegenüber der gängigen grammatikalischen Progression darstellt und einen möglichen Weg zu einer Pädagogik des Seins weist. Es folgt ein Überblick über die für die mündliche Kommunikation unerlässliche Arbeit mit der Aussprache. In der PDL-Praxis wird sie durch die verbo-tonale Methode nach Petar-Guberina unterstützt (Cauneau 1992; Dufeu 1976/ 2003/ 2018; Poyer 2009, 56-63; Renard 1971). Die Bedeutung und Funktion der Aussprache geht über den kommunikativen Zweck hinaus und hat Auswirkungen auf den gesamten Fremdspracherwerbsprozess (Dufeu 2006, 51-56). Im Beitrag wird außerdem auf die Rolle und Funktion der PDL-Sprach‐ trainer*innen aufmerksam gemacht. Ihre Aufgabe ist es, von Anfang an den Teilnehmer*innen einen Interaktionsrahmen für das Entstehen von Aus‐ druckswünschen und die Entfaltung von Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen. Wichtig ist für sie, Sprechsituationen und -anlässe auszulösen, wodurch die Teil‐ nehmer*innen eine persönliche Motivation entwickeln können, sich sprachlich mitzuteilen und inhaltlich mit anderen Gesprächspartner*innen auszutauschen. Abschließend wird die doppelte Dimension des Fremdspracherwerbs (Dufeu 2003, 118) umrissen. Neben der linguistischen und interkulturellen Dimension wird hier auf die konkrete Förderung und den Aufbau relevanter Fähigkeiten, Kompetenzen, Haltungen und Einstellungen hingewiesen, die den gesamten Fremdspracherwerbsprozess intensivieren und unterstützen, unter anderem die Fähigkeit, sich in einer Sprache zu verständigen und in dieser zu kommuni‐ zieren. 256 Aurora Floridia <?page no="257"?> 1 Ursprünglich für die Erwachsenenbildung konzipiert, wird die PDL inzwischen auch im schulischen Kontext angewandt. 2 Vorrangstellung der Ausdrucksfunktion von Sprache zu Beginn des Fremdspracherwerbs In dem erlebnisorientierten und phänomenbasierten PDL-Ansatz spielt der eigene Ausdruckswunsch eine primäre Rolle. Bevor die Sprache allgemein Mittel zur Begegnung wird und ihre beziehungsstiftende Komponente entfaltet, dient sie der Formulierung und Äußerung eigener Gedanken, Vorstellungen, Gefühle und Empfindungen (Dufeu 2003, 77-79; Dufeu 2013, 175). Sprache dient ferner dazu, sich innerhalb einer bestimmten Situation subjektiv zu orientieren und zu situieren, um diese sprachlich zu bewältigen (Rickheit 2001, 95-118). Basierend auf „einer seinsorientierten Pädagogik (Dufeu 2003, Kap. I u. 386-387), welche teilnehmer- und gruppenorientiert ist, d. h. konsequent sub‐ jektbezogen und prozessgerichtet, und dadurch eine Pädagogik des Weges darstellt“ (Dufeu 2020, 74), ist es deshalb in der PDL von zentraler Bedeu‐ tung, dass auch im Fremdsprachenkontext von Anfang an eine Kongruenz zwischen dem/ der Sprecher*in, seinem/ ihren Ausdruckswunsch und seinen/ ihren Aussagen in der Fremdsprache angestrebt wird (Dufeu 2003, 87). Dufeu präzisiert: „Es handelt sich nicht darum, sprachliche Mittel vor einer „freien“ Ausdrucksphase bereitzustellen, die dann angewandt werden können, sondern den Teilnehmern in ihren Ausdruckswünschen zu folgen und ihnen erst wenn das Bedürfnis erscheint, die fehlenden sprachlichen Mittel zu geben.“ (Dufeu 2003, Fußnote 31, 31) 1 . Somit ist in der Intention des PDL-Ansatzes, die soge‐ nannte doppelte Verfremdung beim Fremdspracherwerbsprozess zu reduzieren: „Die Lerner erleben beim Lernen einer Fremdsprache eine doppelte Verfremdung: es sind nicht ihre Wörter, da es nicht ihre Muttersprache ist (erste Verfremdung), und es sind nicht ihre Worte, denn sie sollen über Dinge sprechen, die nicht unbedingt ihrem Ausdruckswunsch entspricht (zweite Verfremdung).“ (Dufeu 2003, Fußnote 58, 39). Folgende Hypothese stützt dabei die Arbeit in der PDL-Praxis: „Die Her‐ stellung eines direkten Bezugs zwischen dem Sprecher und seinen Aussagen erleichtert den Erwerb der Fremdsprache (…), was das Verständnis, die Behal‐ tensfähigkeit und die Integration der Fremdsprache fördert“ (Dufeu 2003, 388). Hierzu wird gleich zu Beginn des Fremdspracherwerbsprozesses der Weg des Erlebbarmachens von Sprache und von Verständigungsmöglichkeiten über die Prosodie mit ihrem Rhythmus und Melodie, über den Sprachklang einschließlich Lautmalerei, sowie über Ausdrucksformen wie Körperhaltung, -bewegungen, 257 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="258"?> 2 Cf. Abschnitt 2 dieses Artikels. Gestik und Mimik eingeschlagen. Viele dieser Phänomene besitzen im Allge‐ meinen auch einen universell gültigen Charakter: „Als Ausdruck psychischer Prozesse ist die Mimik zugleich ein universelles Signalsystem, durch das der momentane Zustand an andere übermittelt werden kann. Universell ist dieses Signalsystem insofern, als es sich bereits beim Säugling (Oster 1978) manifestiert und in verschiedenen Kulturen mit gleichen Erscheinungsformen auftritt und erkannt wird“ (Ellgring 1986, 22). Gesten, Körperbewegungen und Mimik sind nicht nur kulturell konnotiert und Träger semantischer Bedeutung. Sie unterstützen und begleiten z. B. die Sprachmelodie, den Sprachrhythmus und die Expressivität (Dufeu 2008/ 2003, Kap.VII, 7, Aussprache und Bewegung, 293). Allgemein bieten sie ein möglichst breites und niederschwelliges Spektrum an Zugängen zur gesprochenen Sprache und zum eigenen Ausdruck. Anspruch der PDL ist die Herstellung einer konkreten Verbindung zwischen Sprecher*in und der zu erwerbenden Fremdsprache, damit Sprache ihren fremden Charakter verliert, zunehmend vertraut wird und Ausdrucksmittel der eigenen Inhalte wird. Dies bildet die Grundlage für Kommunikation in der Sprache. Durch das Miteinbeziehen des Körpers samt der Sprechapparat-Mo‐ torik nimmt diese Verbindung greifbare Züge an (Dufeu 2008, 50-62). Sie kann über eine spontane Körperbewegung bis hin zum Experimentieren mit dem eigenen Ausdrucksspektrum durch die Wiedergabe von Lauten, Wörtern und Sätzen in der Fremdsprache manifest werden. Die PDL-Leitung ist für das Herstellen eines sicheren Handlungsrahmens verantwortlich, der gleichzeitig zum freien Experimentieren mit der Sprache einlädt und für die Entfaltung des eigenen Gestaltungspotentials sorgt, was am Beispiel der PDL-Aktivität Die Stühle exemplifiziert werden kann (Dufeu 2003, 35; Floridia 2017, 56-60). Der/ die PDL-Sprachtrainer*in bietet Impulse für Begeg‐ nung, Kommunikation und Interaktion an 2 , an denen sich die Teilnehmer*innen orientieren können und deren Inhalt sie frei bestimmen können. Fehlt ihnen die Entsprechung in der Fremdsprache, steht ihnen die PDL-Leitung und die Gruppe sprachlich zur Seite. Die PDL-Leitung begleitet ihren Erwerbsprozess und respektiert den Lernrhythmus jedes/ jeder Einzelnen nach dem Prinzip „folgen statt antizipieren“ (Dufeu 2020, 92/ 97). Die individuelle Auseinandersetzung mit oben genannten Eigenschaften von sprachlicher Kommunikation unterstützt die Teilnehmer*innen dabei, sich von einer passiven Empfänger*innen-Position von fremden Themen, Inhalten und Wörtern wegzubewegen. Schon die Erfahrung der Modulationsfähigkeit der eigenen Stimme beim Aussprechen einer Lautfolge, eines Wortes oder Satzes 258 Aurora Floridia <?page no="259"?> 3 Das Psychodrama von Jacob Moreno bildet eine der Hauptquellen der PDL. Die PDL hat einige seiner theoretischen Grundlagen sowie Techniken übernommen, die für den pädagogischen Einsatz angepasst wurden. Cf. Dufeu (2003, 61-70). Zur Begriffsklärung und -abgrenzung zwischen Psychodrama, Psychodramaturgie und Dramapädagogik siehe Dominguez Sapien (2019); Dufeu (2020). in einem sinnstiftenden Kontext ermutigt die Teilnehmer*innen, zunehmend Gestalter*innen ihrer Sprache zu werden. Sprache wird nicht abstrakt gelernt, sondern persönlich erlebt. Das Erlebte führt zum Greifen und zum Begreifen und löst Erkenntnisprozesse aus, die zur Kenntnis der Fremdsprache führen. 2.1 Fokus auf die Sprechimpulse der Teilnehmer*innen In Anlehnung an das Menschenbild von J. Moreno (Von Ameln/ Gerst‐ mann/ Kramer 2009, 112-113) 3 und an den Individuationsprozess nach C.G. Jung (Von Franz 19 2015, 160-218) wird in der PDL das Individuum in seiner Gesamtheit angesprochen (Dufeu 1995, 26-28). In ihrer Konzeption steht es in seiner Einzigartigkeit und mit seinen unterschiedlichen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Zugängen zu Wissen, Kenntnis und Kompetenz im Zentrum des Fremdspra‐ cherwerbsprozesses. Demzufolge ist es in der Praxis von zentraler Bedeutung, nach und nach die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Teilnehmer*innen für das, was sie ausdrücken möchten, und wofür ihr das erforderliche Sprach‐ material noch fehlt, die passenden Wörter, Sätze und Strukturen in der Sprache angeboten bekommen. Die zu erwerbende Fremdsprache soll schrittweise zu einem Vehikel ihrer Gedanken, Ideen, Eindrücke und Empfindungen werden. Die Sprechimpulse der Teilnehmer*innen werden somit in der PDL zentral für die Gestaltung eines teilnehmerorientierten Fremdsprachunterrichtes. Entscheidend sind nicht nur die Form, die Eigenschaften und die Durchfüh‐ rungsmodalitäten der Übungen, die hierfür ein adäquates Setting anbieten können, sondern in hohem Maße auch die Haltung und der Zugang der Sprachtrainer*innen zur Fremdsprachenvermittlung. Zur Umsetzung der Teil‐ nehmerorientiertheit nehmen sie eine rezeptive und empathische Haltung ein, mit der sie sich auf ihre Teilnehmer*innen und deren Ausdruckswünsche einstellen und deren Sprechimpulse aufgreifen. Die Umsetzungswege und die Besonderheiten dieses Perspektivenwechsels erfahren die Sprachtrainer*innen im Ausbildungssetting. Dort wird z. B. ersicht‐ lich, dass der Indikator für den hergestellten Bezug zwischen Sprecher*innen und ihren Äußerungen nicht nur das Beherrschen der Semantik der Fremd‐ sprache ist. Auch der Klang von fremden Wörtern, die Resonanz der Teil‐ nehmer*innen dazu, die Art und der Grad der Freude an der Wiedergabe können 259 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="260"?> 4 Cf. hierzu Dufeu (2013,177). eine individuelle Verbindung zur Fremdsprache erzeugen und die Bereitschaft steigern, sich mit ihr auseinanderzusetzen. 2.2 Das Doppeln auf verbalem Impuls Ein Paradebeispiel des oben genannten Perspektivenwechsels gleich zu Beginn des Fremdspracherwerbs ist die PDL-Technik des Doppelns auf verbalem Im‐ puls  4 , bei der der erste Sprechimpuls in Form z. B. eines Wortes von der teilnehmenden Person kommt. Die PDL-Leitung positioniert sich links hinter der Person, nah am Ohr, und wird kurz (Fremd-)Sprachrohr für seine(n)/ ihre(n) Teilnehmer*in. Der Prozess, den die PDL-Sprachtrainer*innen innerlich durchlaufen, um in stellvertretender Funktion Gedanken und Eindrücke in der Fremdsprache zu formulieren, ähnelt der klassischen Situation, in der Gesprächspartner*in A begreifen möchte, was Gesprächspartner*in B mit seinen/ ihren Aussagen mitteilen möchte. Im Fall des Doppelns auf verbalem Impuls bietet A (die PDL-Leitung) aus einer rezeptiven Haltung heraus B (der teilnehmenden Person) Äußerungen in der Fremdsprache an, die mit dem Ausgangswort und dem Thema von B zusammenhängen und die hypothetisch im Sinne von B formuliert sind. Dieser innerliche Prozess, der die PDL-Sprachtrainer*innen zur Formulie‐ rung von Äußerungen in der Fremdsprache in stellvertretender Position führt, verläuft über mehrere Wahrnehmungskanäle, die kognitive, die physische und die affektive (Dufeu 2013, 180-181). Beim Doppeln auf verbalem Impuls können diese z. B. durch die Körpersprache oder durch auditive Elemente der Teilnehmer*innen aktiviert werden. Auch die affektive Komponente, die z. B. durch die Färbung und Modulation der Stimme der Teilnehmer*innen transportiert werden kann, spielt beim teilnehmergerechten Aufgreifen und Ergründen eines möglichen Ausdruckswunsches eine wichtige Rolle für die PDL-Leitung, auch in fortgeschritten Stadien des Fremdspracherwerbs. Durch entsprechendes Training erleben die Sprachtrainer*innen, wie der oben genannte Akt des Aufgreifens und Ergründens eines Sprechimpulses im Fremdsprachunterricht umgesetzt werden kann. Sie erfahren, wie sie sich innerlich auf ihre Teilnehmer*innen einstellen können. Die verschiedenen Aspekte einer rezeptiven und empathischen Haltung auslotend, unterstützen die Sprachtrainer*innen ihre Teilnehmer*innen beim Entdecken ihrer Verbali‐ sierungswege in der Fremdsprache. Diese unterstützende Funktion wird bereits ab der Anfangsphase zunehmend auch von der Gruppe übernommen. 260 Aurora Floridia <?page no="261"?> 5 Zur kommunikativen Funktion von Sprache cf. Dufeu 2003, 81. 3 Sprache und Kommunikation als Mittel zur Begegnung Der Mensch als beziehungs- und sozialorientiertes Wesen mit seinen Mit‐ teilungs- und Interaktionsbedürfnissen bildet in der PDL das Fundament der Fremdsprachenerwerbskonzeption und prägt die Entwicklung geeigneter Übungen und Verfahren sowie ihre Durchführungsmodalitäten. Diese Auf‐ fassung spiegelt sich auch in der inneren Grundhaltung der PDL-Sprach‐ trainer*innen zur Fremdsprachenvermittlung maßgeblich wider, mit der sie sich in geeigneten Ausbildungssettings ebenfalls auseinandersetzen. Um obigem Grundsatz gerecht zu werden, rückt die Sprache auch in ihren kommunikativen Aspekten in den Vordergrund 5 und liefert so die Grundlage für echte Begegnungen. Diese wiederum dienen als Motor für den eigenen Sprachfortschritt. Die PDL orientiert sich dabei an dem morenischen Konstrukt von Begegnung (Moreno 6 2008, 54; Von Ameln, Gerstmann; Kramer 2009, 213-214). Nach Moreno bietet Begegnung durch zwischenmenschliche Interaktion den idealen Rahmen, um Kräfte für die eigene und reziproke Entfaltung und Wachstum freizusetzen. Echte Begegnungen sind durch folgende Hauptmerkmale charakterisierbar: 1. Sie entstehen im Hier und Jetzt. Sie sind daher einzigartig und in dieser Form unwiederholbar. 2. Sie sind nicht im Voraus programmierbar. Die Begegnungsfähigkeit kann durch aufwärmende Verfahren sensibilisiert werden. 3. Sie schließen das Individuum in seiner physischen, affektiven, intellektu‐ ellen, relationalen, sozialen Dimension und in seiner Wesensart mit ein. 4. Der Austausch der Begegnungspartner*innen löst neue Begegnungen aus. 5. Sie setzen Freiwilligkeitsaspekte voraus (Hutter/ Schlacht 2014, 188). Nach obigen Kriterien orientiert sich die PDL, um Begegnungen in der Fremd‐ sprache auszulösen, sie zu begleiten und sie als echt und authentisch zu definieren. Basierend auf dem reellen Ausdruckswunsch der Teilnehmer*innen im Hier und Jetzt steht Begegnung in ihrer für den Fremdsprachenerwerb angepassten Ausführung im Mittelpunkt des pädagogischen Prozesses (Dufeu 2003, 52/ 64). Begegnung erhält ihre Form aus dem echten Interesse der Teilnehmer*innen, sich in einen Interaktionsprozess einzubringen, in dem Themen und Inhalte entstehen, zu denen sie in Resonanz stehen und die sie mittels der zu erwer‐ 261 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="262"?> 6 Die Begegnungsinhalte sind persönlicher Art, ähnlich wie bei Gesprächen mit Be‐ kannten. Sie dürfen nicht mit intimen Gesprächen verwechselt werden: „Es geht dabei um Inhalte, die der Teilnehmer einer Gruppe von Leuten mitteilen würde, die er gut kennt, nicht um mehr“ (Dufeu 2003, 67). 7 Zur Teilnehmer- und Gruppenorientiertheit in der PDL cf. Dufeu (2003, 34-43). 8 Cf. exemplarisches Lehrwerksbeispiel in Floridia (2017, 55). benden Fremdsprache kundtun. Sie bietet eine dynamische und vielschichtige Fläche, die es erlaubt, 1. die Fremdsprache im Hier und Jetzt zu erleben und mit ihren verschiedenen Ausdrucksformen zu experimentieren. 2. die Fremdsprache in unmittelbaren Bezug zu sich selbst und zu den Anderen zu bringen. 6 3. die Kraft der Sprache als Kommunikationsmittel kontextuell manifest werden zu lassen. 4. die Flexibilität bei der Anwendung von Sprache und ihrer Vielfalt unter Einsatz verschiedener Begegnungsparameter in einem geschützten Rahmen frei und spontan zu trainieren (Dufeu 2003, 244). 5. das eigene Mitteilungsbedürfnis unmittelbar in Verbindung mit der ad‐ äquaten Äußerung in der Fremdsprache zu bringen. 6. eigene Prozesse zum Fremdspracherwerb in Gang zu setzen, die sich durch das Interaktionsgeschehen entwickeln. 7. einen nachhaltigen Aufbau und eine Abrufbarkeit von Sprachkenntnissen auszulösen, zu vertiefen und zu konsolidieren. 8. allen Beteiligten an den sozialen, kommunikativen, sprachlichen und inhaltlichen Ressourcen der Einzelnen und der Gruppe 7 teilhaben zu lassen, so dass jeder/ jede von jedem/ jeder lernen kann. 9. Kommunikation in ihrem breiten Spektrum, über das Sprachliche hinaus, zu erfassen. 10. die kommunikative Kompetenz in der Fremdsprache im Erleben und Handeln aufzubauen. Die Übertragung des Begegnungskonzepts von Moreno auf den fremdsprach‐ lichen Kontext unterscheidet die PDL-Aktivität grundlegend vom Angebot kommunikativer Situationen und Rollenspiele im klassischen Lehrwerksetting, die dem Einüben eingeführter Strukturen und Vokabeln mittels vorgefertigtem Sprachmaterial und vorab festgelegtem Rollenrepertoire nach einem fixierten Handlungsmuster dienen. 8 Das Auslösen und Begleiten von kommunikativen Prozessen, mit denen echte Begegnungen, im Sinne einer individuellen selbstwirksamen Sprachhandlung, 262 Aurora Floridia <?page no="263"?> 9 Cf. hierzu exemplarisch Dufeu (2013, 173-187). möglich sind, ist Aufgabe der PDL-Sprachtrainer*innen. Die kommunikativen Impulse können z. B. akustischer, physischer, mentaler, visueller, mündlicher und schriftlicher Art sein (Dufeu 2003, 244). Im Schulkontext können auch Lehrwerks- oder Projektthemen die Plattform für das Auslösen von Kommu‐ nikation bieten. Sie schaffen einen geschützten Handlungsrahmen, in dem die freigesetzte Kreativität der Teilnehmer*innen als wichtige Unterstützung für die Entfaltung von Sprachkenntnissen und Sprechfertigkeit wirken kann. Die PDL-Sprachtrainer*innen stehen ihren Teilnehmer*innen dabei jederzeit sprachlich beim Ausdrücken ihrer Mitteilungsbedürfnisse zur Seite. 4 Hören und Sprechen von Anfang an In der praktischen Umsetzung der PDL ist das herausragende Merkmal das selbstbestimmte und selbstwirksame „Sprechen von Anfang an“. Die Teil‐ nehmer*innen treten unmittelbar in Kontakt mit der gesprochenen Sprache, sie nehmen sie mit all ihren prosodischen und lautlichen Eigenheiten in ihrer Gesamtheit wahr und experimentieren nach und nach mit ihren Ausdrucksmög‐ lichkeiten. Beim allerersten Einstieg in die Fremdsprache liegt der Fokus auf dem Hören und Sprechen, auf der auditiven Wahrnehmung von Sprache und auf ihrer Ausdrucksweise. Anhand z. B. der erwähnten Doppel-Techniken 9 „werden die Nuancen der Stimme präziser als sonst wahrgenommen, was nicht nur zu einer besseren Aussprache beiträgt, sondern auch die Aufmerksamkeit auf die Lautlichkeit der Aussagen lenkt. Dies ermöglicht nicht nur, auf das ,Was‘ (was gesagt wird), sondern auch auf das ,Wie’ zu achten, das vermittelt, was ausgedrückt wird“ (Dufeu 2013, 181). 4.1 Die Technik der verbalen Sequenz in der PDL Die Sprache wird in der PDL in ihrer Natürlichkeit mit ihren intonatorischen Mitteln, Atmung, Pausen, Interjektionen und Ausrufen, sowie mit ihren typi‐ schen strukturellen und semantischen Eigenschaften, erlebt. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass sie sowohl inhaltlich als auch prosodisch in zu den sprachhandelnden Teilnehmer*innen passender Weise angeboten wird. In der bereits eingeführten PDL-Technik des Doppelns auf verbalem Impuls drückt sich z. B. diese Relation an der Handhabe aus, wie die PDL-Leitung Äußerungsvorschläge in der Fremdsprache unterbreitet. 263 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="264"?> Ausgehend von einem Wort oder einer kurzen Äußerung der teilnehmenden Person nimmt die PDL-Leitung eine Haltung des Hineinversetzens und Hinein‐ denkens ein. Sie formuliert in der fremden Sprache vorsichtig und respektvoll Gedanken, Ideen und Assoziationen, die einen Bezug zu dem Wort oder der Äu‐ ßerung haben. Feinfühlig ist sie dabei durch das geleitet, was die teilnehmende Person in diesem Sprachsetting möglicherweise vor der gesamten Gruppe darüber ausdrücken würde und könnte, wenn sie über die notwendigen Sprach‐ mitteln verfügen würde. Die teilnehmende Person übernimmt das Gehörte und spricht es nach, sie experimentiert im Hier und Jetzt mit ihren Ausdrucksmög‐ lichkeiten. Anhand der Art der Übernahme und der Ausdrucksweise passt die PDL-Leitung die angebotenen Äußerungen laufend an. So entsteht die sogenannte verbale Sequenz, die in ihrem individuellen Aufbau gezielt an die teilnehmende Person angepasst ist. Sie wird von der PDL-Leitung spiralförmig aufgebaut und soll u. a. der Linearität beim Fremdsprachvermitt‐ lungsprozess entgegenwirken (Dufeu 2003, 33/ 233). Das Wort oder die Äußerung der teilnehmenden Person stellt den Kern der Spirale dar. Die PDL-Leitung kreist um diesen Sprachkern, baut ihn sinnstiftend auf, zuerst z. B. mit Adjektiven, Synonymen oder Adverbien. Sie nimmt wahr, wie die teilnehmende Person die angebotenen Sprachsequenzen übernimmt, welche Schwierigkeiten bei der Wiedergabe eventuell auftauchen, welche Wörter und Sätze gern wiedergegeben werden. Beim weiteren Aufbau und bei der Justierung der verbalen Sequenz orientiert sie sich an diese Rückkopplung durch die teilnehmende Person. Die PDL-Leitung setzt ihre Stimme mit ihrem Modulationsspektrum bei der verbalen Sequenz so ein, dass unterschiedliche Ausdrucksabsichten bei den Teilnehmer*innen wahrgenommen werden. Sie bietet nach und nach neue Aspekte zum Thema an, die ebenfalls spiralförmig aus verschiedenen Seiten betrachtet werden. Sie geht zum Sprachkern zurück und schlägt die Sprachsequenzen in leicht veränderter Form erneut vor. Die für jeden/ jede Teilnehmer*in sprachlich unterschiedliche verbale Sequenz kann dann in Resonanz zu den weiteren Teilnehmer*innen stehen, welche aus einem anderen Blickwinkel an ihrem Wirksamkeitsprozess beteiligt sind (Dufeu 2003, 233-237). Für die Entwicklung einer verbalen Sequenz richtet sich die PDL-Leitung nach u. a. Schema. In geeigneten Ausbildungssettings experimentieren die Fremd‐ sprachlehrenden mit dieser Technik und ihren Anwendungsmöglichkeiten. 264 Aurora Floridia <?page no="265"?> Abb. 1: Dufeu (2003, 236) 265 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="266"?> 10 Diese Herangehensweise findet bei (Wieder-)Einsteiger*innen je nach sprachlicher Vorerfahrung, Unterrichtskontext, Intensität, Gruppendynamik und bei einer Gruppen‐ größe von ca. 10-12 Teilnehmer*innen verstärkt während der ersten 20-30 Unterrichts‐ einheiten Anwendung. 11 Cf. hier exemplarisch die Dimensionen des Doppelns in: Dufeu (2013, 180-181). 12 Cf. hierzu Abschnitt 5 dieses Artikels. 4.2 Vom Hören und Sprechen hin zur Aktivierung des Verstehensprozesses Für die Bildung und Wiedergabe von Sprache ist in der PDL eine separate Input-Phase von Wortschatz und Grammatik vernachlässigbar, denn sie sind für das Sprechen als physiologischer Vorgang unerheblich. Im Gegensatz zu anderen Unterrichtskonzepten steht bei den allerersten PDL-Aktivitäten ein bereits inhaltliches Verstehen des Gehörten und des eigenen Gesagten nicht im Vordergrund. Die Teilnehmer*innen können sich ganz auf die prosodischen und lautlichen Merkmale der gesprochenen Sprache konzentrieren und müssen nicht gleich zwischen mehreren Kompetenzbereichen hin- und herschalten. Aus Sicht der PDL ist es effektiv, zuerst eine ausgewogene Alternanz von Hören und Sprechen anzubieten, so dass der anfänglich als fremdartig empfundene Klang der Sprache zunehmend vertraut und die Teilnehmer*innen sicher im Umgang damit werden. 10 Hören und Sprechen beeinflussen einander gegenseitig. Charakteristisch für die PDL ist deshalb der Einstieg in die gesprochene Sprache über Aktivitäten, bei denen die Ausdrucksphase unmittelbar auf die rezeptive Phase folgt (cf. exemplarisch die Aufwärmübung Der Gruppenspiegel (Floridia 2019, 148-149)). Für die explizite Informationsverarbeitung wird zwischen Hören und Spre‐ chen bewusst jeglicher Zwischenschritt ausgelassen. Dieser gilt hier als Stolper‐ stein, da er von der genauen Wahrnehmung des akustischen Sprachsignals hin zur Sprachwiedergabe ablenkt und die Wirkung des auditiven Gedächtnisses ausschaltet. Eine Unterbrechung zwischen Hör- und Sprechphase, etwa durch Erklärung von Lexik oder Grammatik, würde außerdem individuellen Prozessen zur Erschließung von Bedeutung und Regeln, z. B. basierend auf Intuition oder Assoziation, im Weg stehen. Das, was bei manchen Anfangsaktivitäten zunächst als Nachsprechen wahr‐ genommen werden kann, geht jedoch weit über diese Funktion hinaus und darf nicht mit klassischen Audiotrainern oder Chorsprechen verwechselt werden 11 . Durch ihren besonderen Aufbau sprechen die Aktivitäten die Teilnehmer*innen als Individuen in ihrer Ganzheit an und fördern unterschiedliche Kompetenzen, wie z. B. die Experimentierfreude, die Konzentration, das aufmerksame Zuhören und die Reproduktionsfähigkeit 12 . Sie machen des Weiteren sowohl auf die Nuancen wie auf die Wichtigkeit der gesprochenen Sprache und der Aussprache 266 Aurora Floridia <?page no="267"?> 13 Siehe das Prinzip des Variationsaspektes in Dufeu (2003, 73). für den gesamten Fremdspracherwerb aufmerksam (Dufeu 2006, 51-56). Durch die ersten Aktivitäten liegt zwar der Fokus auf dem Hören und dem Sprechen, doch parallel dazu werden das auditive Gedächtnis, innere Bilder und Assozia‐ tionen sowie die intuitive Fähigkeit zur Bedeutungserschließung von Wörtern und Aussagen in der Fremdsprache angesprochen, welche allgemein den Ver‐ stehensprozess anregen. Diese Übungen animieren die Teilnehmer*innen dazu, aktive Interpret*innen der zuerst erlebten Fremdsprache zu werden und führen sie durch die weitere Auseinandersetzung damit zur eigenen Mitgestaltung, Anwendung und Weiterentwicklung ihrer Sprachkompetenz. Das in den Anfangsaktivitäten spontan entstandene Sprachmaterial kann dann je nach Bedarf, Unterrichtskontext und Rückmeldung der Teil‐ nehmer*innen in einer Reflexionsphase inhaltlich erfasst werden. Unabhängig davon wird es in leicht geändertem Kontext durch weitere aufeinander aufge‐ baute Aktivitäten aus anderen Perspektiven erlebt, erschlossen und in das eigene Sprachsystem integriert 13 . 5 Die Relationelle Progression in der PDL - wegweisend für den Fremdspracherwerbsprozess Die Voranstellung der Ausdrucksfunktion von Sprache vor ihre kommunikative Funktion ist eng verbunden mit der Bewegung des Menschen von Innen nach Außen, von seiner ICH-Dimension zur Dimension des/ der Anderen und der Außenwelt. Die relationellen Kriterien einer Begegnung spiegeln sich wider in einem Sprachgebrauch, der sich intensiv an individuellen, interaktionellen und sozialen Aspekten orientiert (Siehe Abbildung 2). Darauf basierend entwirft die PDL alternative Wege für den Fremdspracherwerbsprozess und den Aufbau mündlicher Kompetenz, die in eine relationelle Progression münden (Dufeu 2003, 86-91). 267 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="268"?> 14 Für die Anwendung der relationellen Progression in der Praxis siehe die inzwischen veraltete Version von Dufeu (2003, 138). Aktuelle, noch nicht publizierte Versionen sind bei der Autorin erhältlich. Abb. 2: Dufeu (2003, 88) In einer ersten Phase erfahren die Teilnehmer*innen die Fremdsprache vorwie‐ gend aus der ICH-Perspektive und werden mit ihren Merkmalen vertraut. Dazu dienen in der Praxis z. B. die bereits erwähnten Doppel-Techniken. In einer zweiten Phase beginnen sie, u. a. mit den Spiegel-Techniken (Dufeu 2003, 160-170), die Fremdsprache als Mittel zur Begegnung mit der/ dem Anderen zu gebrauchen (DU-Phase). In weiteren Phasen werden die Teilnehmer*innen anhand der Gruppendramaturgie (Dufeu 2003, Kap. IV, 187-210) in soziale und universelle Dimensionen von Sprachgebrauch eingeführt (Begegnung mit den Anderen/ mit der Gruppe/ mit der realen und imaginären Welt). 14 268 Aurora Floridia <?page no="269"?> 15 Die verbo-tonale Methode hat in Deutschland keine große Resonanz gefunden und ist in der deutschsprachigen Literatur spärlich belegt. Hierzu sei auf die Publikationen der Université de Mons, Belgien, des Centre International de Phonétique Appliquée de Mons, insbesondere auf die Reihe „Revue de phonétique appliquée“ hingewiesen. Die relationelle Progression steht einem Zugang und einer Auseinanderset‐ zung mit der Fremdsprache nach grammatikalischen Progressionskriterien mit einer festgelegten Reihenfolge, wie sie z. B. in klassischen Lehrwerken ange‐ boten werden, diametral entgegen. Aus der Perspektive der PDL interferiert eine vorgegebene grammatikalische Progression mit den individuellen Lerntempi und der unterschiedlichen Ausgangslage der Teilnehmer*innen und verlangt dafür umständliche Transferprozesse für ihre spontane Anwendung. Auf den im Gegensatz dazu teilnehmerorientierten Zugang der PDL zur Grammatik und ihrer Vermittlung sei hier lediglich hingewiesen (Dufeu 2003, 91 -102; Dufeu 2013). 6 Der Ton macht die Musik. Die Bedeutung der Prosodie und der Aussprache für den gesamten Fremdspracherwerb Das genaue Wahrnehmen von Sprache gilt in der PDL als Schlüssel zur gespro‐ chenen Sprache und zu ihrer späteren Beherrschung. Die verbo-tonale Methode von Petar Guberina zur Sprecherziehung von Gehörlosen (Cauneau 1992; Dufeu 1976/ 2003/ 2018; Poyer 2009, 56-63; Renard 1971) prägt dabei entscheidend die Einstellung, die Herangehensweise und die Verfahren für die praktische Auseinandersetzung mit Aussprache und Ausdrucksspektrum. 15 Fundamentale Grundlage für das Sprechen ist das Wahrnehmen und Hören der prosodischen und lautlichen Eigenschaften einer Sprache, deren Schwin‐ gungen das Ohr aber auch der Körper aufnehmen kann. Die verbo-tonale Methode lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Rhythmus und Melodie für die Sprechbildung und auf die Wichtigkeit von Spannung und Tonhöhe bei der Lautbildung. In Anlehnung daran setzt sich die PDL zuerst mit den prosodischen Merkmalen der Sprache auseinander, für die das Ohr allgemein besonders empfänglich ist, bevor sie sich auf die Korrektur von einzelnen Lauten konzentriert. Über die Bedeutung von suprasegmentalen Aspekten für die Aussprache siehe Hahn (2004, 201-223) und den Hinweis auf die Studie von Derwing in: Lightbown / Spada (2013, 113). Der Rhythmus bildet die prosodische Grundlage einer Sprache. Auf dieser Grundlage gründen sich Melodie und Laute. Der Erwerb des prosodischen Systems einer Sprache beruht also zuerst auf der Beherrschung der rhythmischen Eigenarten dieser Sprache. 269 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="270"?> Abbildung 3 und obiges Zitat in Dufeu (2003, 279) Die Lenkung auf die Ausdrucksweise eröffnet von Anfang an gangbare Wege für die zwischenmenschliche Kommunikation und Verständigung in der Fremdsprache. Nach dem Motto „Mit wenig erreiche ich viel“ können die Teilnehmer*innen mit ihren Stimmvariationen mit ein und demselben Wort verschiedene Stimmungen, Eindrücke und Empfindungen transportieren und erste Begegnungen ausprobieren. Sie aktivieren alternative Zugänge zur Bedeu‐ tungserschließung und entwickeln gleichzeitig ein Bewusstsein für den Beitrag, den die Stimme z. B. bei der Markierung syntaktischer Anteile leistet (Dufeu 2006, 52-53). Der Einstieg in die Fremdsprache wird so auch Teilnehmer*innen ermöglicht, die sich Wissen ungern oder unter Schwierigkeiten durch rein kognitive Lernprozesse aneignen. Die Hypothese dabei lautet: „Die Sensibili‐ sierung der Teilnehmer für die prosodischen und lautlichen Eigenarten der Fremdsprache erleichtert den Erwerb der Fremdsprache“ (Dufeu 2003, 388). Durch eine gute Aussprache können Teilnehmer*innen einander besser ver‐ stehen und besser verstanden werden. Das Beherrschen der Aussprache fördert das eigene Selbstvertrauen, unterstützt den Abbau von Hemmungen und wirkt sich positiv und motivierend auf den Sprachfortschritt aus. In der PDL-Praxis werden deshalb Aufwärmübungen angeboten, die durch den Einsatz spezifi‐ scher Körperbewegungen die rhythmischen und melodischen Merkmale der Fremdsprache und später auch die lautlichen Eigenschaften hervorheben und unterstreichen. Es werden außerdem Verfahren eingesetzt, um bestmögliche Hörbedingungen zu schaffen, damit das Ohr die unvertrauten Sprachsignale mit ihren unterschiedlichen Frequenzanteilen erkennen und diskriminieren kann. Die Schulung einer guten Diskriminierungsfähigkeit ist die Voraussetzung für die adäquate Wiedergabe von Sprache und von entscheidendem Vorteil für 270 Aurora Floridia <?page no="271"?> 16 Siehe die Definition von Psychodrama als handelnde Methode in: Moreno (2008, 77). die Wahrnehmung und Verarbeitung der bedeutungsunterscheidenden Funk‐ tion ihrer Anteile. Töne und Laute, die z. B. eine ähnliche Frequenzbreite auf‐ weisen, können als gleich klingend empfunden, entsprechend gleich ausgespro‐ chen werden und Interferenzen bei der Bedeutungserschließung verursachen. Laute in der Fremdsprache, die im Lautspektrum der eigenen Erstsprache/ n nicht vorhanden sind, werden unter Umständen vom Ohr akustisch nicht wahrgenommen, da es nicht daran gewöhnt ist, sie als solche zu perzipieren. Ihre Wiedergabe kann sowohl beim Sender als auch beim Empfänger als störend empfunden werden (Trubetzkoy 1939, 47; Flege 1995, 233-277). Ein adäquates Training, wie durch die verbo-tonale Methode, kann das Ohr für das Erkennen von Lauten, die in der Erstsprache nicht vorkommen, sensibilisieren und die Voraussetzungen für eine korrekte Wiedergabe schaffen (Dufeu 1976/ 2018). 7 Die doppelte Dimension des Fremdspracherwerbs in der PDL Aus der Handlungstheorie von Moreno 16 stammt auch die bestimmende und richtungsweisende Grundauffassung der PDL vom Menschen als kreatives Wesen, der die innere und äußere Welt handelnd erfährt und gestaltet und seine Fähigkeiten fortwährend weiterentwickeln kann. Dieser Theorie folgend baut sich die Konzeption einer doppelten Dimension des Spracherwerbs auf: Einerseits findet eine Auseinandersetzung mit den linguistischen und inter‐ kulturellen Aspekten des Fremdspracherwerbs statt, zugleich richtet die PDL ihren Blick auch auf spezifische Haltungen, Einstellungen, Fähigkeiten und Kompetenzen, die den Fremdspracherwerb zusätzlich stützen (cf. Abbildung 4). Beide Dimensionen werden in der Praxisarbeit berücksichtigt, sie fließen ineinander und wirken aufeinander ein. So setzen einige Aufwärmübungen ihren Schwerpunkt auf das Auslösen sprachlicher und inhaltlicher Themen und sensibilisieren gleichzeitig die Kontakt- und die Interaktionsfähigkeit. Andere schaffen eine schöpferische Plattform für das Experimentieren mit grundlegenden Fertigkeiten, die in unterschiedlicher Ausprägung in jedem Menschen vorhanden sind. Auf die Hauptübungen abgestimmt, weisen sie z. B. eine rhythmische, melodische und bewegungsorientierte Ausrichtung auf, um die Hörkompetenz und die Reproduktionsfähigkeit zu fördern und ihre Verknüpfung zur Körpermotorik herzustellen. Weitere Aktivitäten sprechen die Kreativität, die Vorstellungskraft und die Teamfähigkeit an, wenn es in Hauptübungen um das gemeinsame Kreieren von kommunikativen Situationen und Geschichten geht. Sie sensibilisieren ebenfalls 271 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="272"?> für Wahrnehmungsformen wie Einfühlungsvermögen und Intuition, um die Begegnungs- und Verständigungsfähigkeit zu steigern. Abb. 4: Dufeu (2003, 118) Kreativität und Spontaneität können trainiert werden und sind in Morenos Theorie keine Zufallsbegabungen, sondern der Motor für die selbstwirksame Interaktion mit der Gesellschaft (Fox 2001, 80-86; Moreno 2000, 240-246; 272 Aurora Floridia <?page no="273"?> Von Ameln/ Gerstmann/ Kramer 2 2009, 208-210). Dementsprechend sind Sprach‐ handlungen, die nur die linguistische Dimension von Sprache ansprechen, eine Hülle, die keine Wirkung im Sinne einer Sprachhandlung entfalten können. Die Selbstwirksamkeit der Sprechenden fehlt als gewichtiger Teil von echter Kommunikation. Die Berücksichtigung der doppelten Dimension des Fremdspracherwerbs begleitet die schöpferische Arbeit der Sprachtrainer*innen bei der Konzep‐ tion geeigneter Aktivitäten, bei der Planung und dem Aufbau von Unter‐ richtskonzepten und bei ihrem Unterrichtshandeln. Sie ermöglichen den Teil‐ nehmer*innen einen kreativen, flexiblen und partizipativen Umgang mit der Fremdsprache. Sie fördern eine persönliche Aneignung der Fremdsprache, die so ebenfalls zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit beitragen kann. Sie wirken auf die mündlichen Ausdrucksfähigkeiten der Teilnehmer*innen für ein konstruktives und geeignetes Handeln in kommunikativen Settings. 8 Conclusio In einer vielfältigen, sich stetig wandelnden Gesellschaft, mit ihrem Streben nach Lerndifferenzierung entlang der individuellen Bedürfnisse, in der Lernen als ein Prozess verstanden wird, der „nicht nur aus Erfahrung geschieht, sondern sich als Erfahrung vollzieht“ (Meyer-Drewe 2018, 20), fallen auch in der Praxis des Fremdsprachenunterrichtes viele altbewährte Selbstverständlichkeiten und gewohnte Wege weg, die u. a. auf eine überholte Gesellschaftsordnung zurück‐ zuführen sind (Meyer-Drawe 2018, 19). Raum und Mut zum Experimentieren und Erforschen neuer didaktischer Handlungsformen und Haltungen, die nach Alternativen zu Input-Verfahren und lehrwerkorientiertem Unterricht suchen, sind gerade heute mehr denn je erforderlich. Der Paradigmenwechsel, den die PDL begünstigen kann, gibt der individu‐ ellen Kommunikationsfähigkeit den Vorrang vor einer prädefinierten Progres‐ sion, die vornehmlich auf einer linguistischen Förderung basiert. Die PDL überträgt das morenische Konzept von Begegnung und schöpferischer Spon‐ taneität auf den Fremdsprachenunterricht. Dies und ihr phänomenbasierter Zugang zur Mündlichkeit mit ihrer progressiven Auseinandersetzung mit der Aussprache nach prosodischen und lautlichen Kriterien gelten in der PDL als ein zentraler Punkt für die Anfangsphasen des Fremdspracherwerbs und bieten einen Rahmen, der in den beschriebenen zunehmend heterogenen Unter‐ richtskontexten für den Aufbau der mündlichen Kompetenz sinnvoll eingesetzt werden kann. 273 „Sprechen von Anfang an“: Mündlichkeit in der PDL <?page no="274"?> Unter dem Blickwinkel der genannten Wandlungsprozesse halte ich es für an‐ gemessen, Aspekte der PDL zur Mündlichkeitsförderung und Kommunikation in heterogenen Unterrichtskontexten, die den Anspruch auf Differenzierung und Förderung der eigenen Individualität in Interdependenz mit der Gruppe erheben, in dafür geeigneten Settings zu erforschen und ihre Wirksamkeit zu evaluieren. Literatur Cauneau, Ilse. 1992. „Hören, Brummen, Sprechen. 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Website der Gründer*innen des PDL-Ansatzes Dr. Bernard und Marie Dufeu: www.psy chodramaturgie.org/ de/ (27.11.2021). 276 Aurora Floridia <?page no="277"?> Mündliche Kompetenz evaluieren und beurteilen <?page no="279"?> Der Einfluss individueller fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen mündlicher Sprachproduktionen Stéfanie Witzigmann 1 Einleitung Mündliche Sprachkompetenzen sind ein wichtiges Ziel des (Fremd-) Sprachen‐ unterrichts. Gerade in der aktuellen Ära des kommunikativen Fremdsprachen‐ unterrichts wird Mündlichkeit immer wichtiger und die Beurteilung (und Benotung) von Sprachproduktionen zählt zu den zentralen Elementen der beruflichen Tätigkeit von Lehrkräften (Baumert/ Kunter 2013). Mündliche Pro‐ duktionen sind aufgrund ihrer Komplexität schwierig zu beurteilen (Hu/ Leu‐ pold 2008; O’Sullivan 2012), da zahlreiche interne und externe Faktoren die Beurteilung der mündlichen Fremdsprache beeinflussen können (Chuang 2009; Davis 2016; Eckes 2010; Tesch/ Grotjahn 2010). Wahrnehmbare Faktoren sind z. B. sprachliche Merkmale (Aussprache, Umfang und Komplexität des Wortschatzes, grammatikalische Korrektheit, aber auch pragmatische Elemente), die als Hinweisreize interpretiert werden können und in unterschiedlichem Ausmaß in die Beurteilung einfließen. Be‐ werter*innen können jedoch auch durch Faktoren wie eigene persönliche Merkmale (z. B. Wissen, Erfahrung, Strenge/ Milde und Einstellungen), Merk‐ male der Aufgaben (z. B. Art der Testdurchführung, Schwierigkeit der Aufgabe, Art des Inputmaterials), Merkmale der Lernenden (z. B. Alter, Geschlecht, kultureller Hintergrund) oder durch die verwendeten Beurteilungskriterien und -skalen (z. B. Uni-Level-, Bi-Level- oder Multi-Level-Ansatz, holistisches oder analytisches Urteil) beeinflusst werden (Grotjahn/ Kleppin 2017; Tesch/ Grotjahn 2010). Besonders auf dem Gebiet der Urteilsakkuratheit, d. h. die Übereinstim‐ mung der Urteile von Lehrpersonen mit externen Kriterien (standardisierte Tests oder Expert*innenratings), konnten empirische Studien Faktoren wie die berufliche Kompetenz der Lehrkraft als mögliche Einflussfaktoren identi‐ <?page no="280"?> fizieren (u. a. Duijm/ Schoonen/ Hulstijn 2018; Jansen et al. 2021). Mit den höchst komplex ablaufenden Urteilsprozessen bei beurteilenden Lehrpersonen und dem Zusammenspiel interner und externer Faktoren beschäftigen sich jedoch kaum Erhebungen (siehe die Meta-Studie von Südkamp/ Kaiser/ Möller 2012). Die vorliegende Studie befasst sich mit der Beurteilung von mündlichen Sprachproben in der Zielsprache Französisch durch Lehramtsstudierende und ausgebildete Lehrpersonen, speziell im Zusammenhang mit Einflussfaktoren wie persönliche Eigenschaften der Beurteiler*innen (sprachliche Kompetenzen und Berufserfahrung) sowie Merkmale der Beurteilungsskala (ganzheitliche oder analytische Beurteilungen). Dabei bildet das Rahmenmodell DiaCoM (Loibl/ Leuders / Dörfler 2020) den übergreifenden theoretischen Rahmen, um das Zusammenspiel verschiedener Bereiche zu untersuchen. 2 Theoretischer Hintergrund In den letzten drei Jahrzehnten wurden die diagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften, vor allem im Bereich der Urteilsgenauigkeit, immer häufiger untersucht (siehe u. a. die Meta-Studien von Hoge/ Coladarci 1989 und Südkamp et al. 2012). Einzelne Studien konzentrieren sich dabei auf den Einfluss von situativen Merkmalen. In der Studie von Dünnebier/ Gräsel/ Krolak-Schwerdt (2009) wurde als Anker Klassenarbeitsnoten fiktiver Schüler*innen vorgegeben, die angeblich von anderen Lehrpersonen bewertet wurden, bevor die Lehr‐ kräfte ihr eigenes Urteil über die Leistungen abgeben sollten. So zeigten die Autoren in ihrer Studie, wie solche Informationen (z. B. das Wissen über eine vermeintliche Klausurnote) die diagnostischen Urteile von (angehenden) Lehrkräften beeinflussen und ggfs. verzerren können. Ebenso gibt es Befunde zum Einfluss von persönlichen Merkmalen der Lehrkräfte (z. B. berufliche Erfahrung oder Einstellungen) auf ihre Urteilsakkuratheit (Baumert/ Kunter 2006; Krola-Schwerdt/ Böhmer/ Gräsel 2009). Im Bereich der Beurteilung mündlicher Sprachproduktionen liefern neuere Studien ebenfalls Hinweise auf situative oder persönliche Merkmale von Lehr‐ kräften, die mögliche Einflüsse auf Urteile haben können (Hochstetter 2011; Dünkel/ Knigge/ Wilbert 2020; Elder/ Kim 2013; Huang 2013; Nakatsuhara 2011). Nur wenige Studien haben allerdings das Zusammenspiel mehrerer Merkmale untersucht (Kang/ Rubin/ Kermad 2019; Kim 2009). Kang/ Rubin/ Kermad (2019) konnten beispielsweise den Einfluss von minimalen Trainingseinheiten auf die Verringerung von Urteilsverzerrungen durch einen nicht-muttersprachlichen Akzent bei der Beurteilung von mündlichen englischen Sprachproben nach‐ weisen. 280 Stéfanie Witzigmann <?page no="281"?> Insgesamt ist der Forschungsstand zur Urteilsbildung und dem Zusammen‐ spiel mehrerer Faktoren aber als unzureichend einzustufen (Herppich et al. 2018). Um die Urteilsbildung in einen Theorierahmen einzubetten und erforschbar zu machen, entwickelten Loibl et al. (2020) das Rahmenmodell DiaCoM (Explaining Teachers‘ Diagnostic Judgements by Cognitive Modeling). Es bietet einen Untersuchungs- und Interpretationsrahmen für die Analyse von kognitiven Urteilen bzw. Urteilsprozessen von Lehrpersonen, indem gleichzeitig untersucht wird, welche Informationen beim Beurteilen von der Lehrkraft wahrgenommen werden und wie diese Informationen verarbeitet werden (Leu‐ ders/ Loibl/ Dörfler 2020). Das DiaCoM-Rahmenmodell versteht sich somit als forschungsheuristisches Modell, welches die kognitive Urteilsbildung und -bildungsprozesse einer Lehr‐ kraft über Lernende oder über situative Merkmale (z. B. Aufgabenschwierig‐ keiten) in einer diagnostischen Situation zu erklären versucht. Es besteht aus vier Komponenten: die Merkmale der diagnostischen Situation (Situationscha‐ rakteristika, SC), die Merkmale der Lehrkraft (Personencharakteristika, PC), die interne Informationsverarbeitung bei der Bildung eines diagnostischen Urteils (diagnostisches Denken, DD) und die beobachtbare diagnostische Verbalisie‐ rung der Lehrkraft (diagnostisches Verhalten, DV). Zur Generierung von Erklä‐ rungswissen bei der kognitiven Urteilsbildung müssen die vier Komponenten des Rahmenmodells dem jeweiligen Untersuchungskontext und den jeweiligen Forschungsfragen entsprechend spezifiziert werden. Die Situationscharakteristika (SC) verdeutlichen den Kontext, der der Lehr‐ kraft präsentiert wird, z. B. Sprachproduktionen in Videovignetten. Diese diagnostische Situation enthält Informationen (d. h. Hinweisreize), die die Lehrkraft wahrnehmen kann (oder auch nicht). Bei der Beurteilung der Leistung eines Lernenden sind die relevanten Situationsmerkmale beobachtbare Merk‐ male (z. B. sprachliche oder inhaltliche Merkmale). Darüber hinaus können auch allgemeinere situative Merkmale die Beurteilung beeinflussen (z. B. die Struktur der Beurteilungsskala). Zu den Personencharakteristika (PC) gehören die Eigenschaften der urtei‐ lenden Personen (z. B. Alter, Geschlecht, Einstellungen, beruflicher Hinter‐ grund, Wissen oder Erfahrung), die je nach Diagnosesituation einen gewissen, teilweise signifikanten Einfluss auf das Urteil haben können (siehe u. a. Eckes 2015; Shaw 2007). Die diagnostische Situation in Kombination mit persönlichen Merkmalen (z. B. Sprachkenntnisse oder Unterrichtserfahrung) ist diejenige, die einen dia‐ gnostischen Prozess in der Person auslöst (diagnostisches Denken, DT). Wenn Lehrkräfte mündliche Fremdsprachenkenntnisse beurteilen, werden mehrere 281 Einfluss fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen <?page no="282"?> kognitive Prozesse in Gang gesetzt (z. B. die Wahrnehmung von inhaltlichen bzw. sprachlichen Merkmalen und die Integration dieser Einzelmerkmale in ein Gesamturteil). Diese Prozesse können sich wiederum in beobachtbarem diagnostischem Verhalten (DB) niederschlagen (z. B. verbale Äußerungen oder schriftliche Antworten), das als Indikator für Beurteilungsprozesse genutzt werden kann. 2.1 Die diagnostische Situation als Einflussfaktor beim Beurteilen Bei der Beurteilung von mündlichen Sprachproduktionen kann die Struktur der Bewertungsskala einen entscheidenden Einfluss auf die Urteilsprozesse haben. Man unterscheidet zwischen holistischer und analytischer Beurteilung (vgl. Bachman/ Palmer 2010; Chuang 2009; Grotjahn/ Kleppin 2017; Harsch/ Martin 2013; Grotjahn/ Kleppin 2008). Bei der holistischen Beurteilung wird die zu beurteilende Leistung als Ge‐ samtkonstrukt betrachtet und auf die getrennte Beurteilung einzelner Teildi‐ mensionen nicht näher eingegangen. Auch wenn die holistische Beurteilung durchaus auf mehreren Einzelmerkmalen beruhen kann, wird die Leistung der Lernenden mit einem einzigen Gesamturteil erfasst. In der Regel beurteilen die Lehrkräfte die Sprachproduktion relativ schnell nach deren Darbietung und auf der Grundlage ihres gewonnenen allgemeinen Eindrucks. Hier bieten holistische Urteile den Vorteil, die implizite Verwendung einzelner sprachlicher Merkmale aufzuzeigen (Hinger/ Stadler 2018; Knoch 2011). Bei der analytischen Beurteilung wird das Sprachkonstrukt in einzelne Teildimensionen differenziert, die entsprechend getrennt voneinander beurteilt werden. Bei mündlichen Sprachproduktionen zählen hierzu sprachliche As‐ pekte wie Aussprache, Wortschatz, grammatikalische Korrektheit, aber auch inhaltliche Aspekte wie Kommunikationsstrategien oder Kohärenz, die dann jeweils separat beurteilt werden. Dabei bieten kriteriale Beurteilungsskalen mit deskriptiven Konnektoren eine höhere Präzision und Eindeutigkeit der Kriterien, sind jedoch, vor allem für wenig erfahrene Beurteiler*innen, an‐ spruchsvoller und weniger handhabbar als beispielsweise Punktwertskalen mit bezifferten Ausprägungen (siehe u. a. Brookhart 2013; Grotjahn/ Kleppin 2017; Drese 2008). Empirische Studien zeigen, dass das sprachliche Konstrukt meist in beiden Urteilsmodi (holistisch und analytisch) zuverlässig beurteilt werden kann (siehe u. a. Chuang 2009; Metruk 2018). Genaue Beurteilungen der mündlichen Sprachproduktion sollten möglichst auf konstruktrelevanten Merkmalen basieren. Im Bereich der mündlichen Produktion lassen sich diese Merkmale in den Bereichen der kommunika‐ tiven Sprachkompetenzen identifizieren: linguistische Kompetenz, pragmati‐ 282 Stéfanie Witzigmann <?page no="283"?> 1 Für eine ausführlichere Beschreibung dieser Hinweisreize und deren Einfluss auf die Urteilsprozesse cf. Witzigmann und Sachse (2020). sche Kompetenz und soziolinguistische Kompetenz (Europarat 2001). In der vorliegenden Studie wurden sechs Merkmale auf der Ebene der sprachlichen und pragmatischen Kompetenz (Phonologie, Wortschatz, Grammatik, Geläufig‐ keit, Verständlichkeit und Kommunikationsstrategien) ausgewählt. Im Rahmen dieses Beitrags wird hierauf nicht näher eingegangen 1 . 2.2 Einfluss von Personencharakteristika auf den Beurteilungsprozess Zu den persönlichen Merkmalen der Beurteiler*innen gehören diejenigen Ei‐ genschaften (wie Alter, Geschlecht, Einstellungen, beruflicher Hintergrund, Wissen oder Erfahrung), die das Urteil beeinflussen können (siehe z. B. Eckes 2015; Shaw 2007). Die Berücksichtigung dieser Personencharakteristika ist wichtig, da möglichst genaue Urteile über sprachliche Fähigkeiten der Ler‐ nenden als zentrale Voraussetzung für einen adaptiven Unterricht gelten. Im Bereich der Fremdsprachenforschung, insbesondere bei mündlichen Beurtei‐ lungen, konnten erste Studien bereits einen Einfluss von Lehrkraftmerkmalen auf die Beurteilungen zeigen (u. a. Bachman/ Lynch/ Mason 1995; Lumley/ McNa‐ mara 1995). Neuere Studien haben ebenfalls versucht, den Zusammenhang zwischen Personencharakteristika und Beurteilungen von Sprechfertigkeiten zu untersuchen (u. a. Carey/ Mannell/ Dunn 2011; Sundqvist et al. 2018; Kim 2009; Yan/ Ginther 2018; Zhang/ Elder 2011). Einen Schwerpunkt bilden hierbei Studien, die einen Vergleich zwischen erfahrenen und unerfahrenen (Lehr-)Per‐ sonen untersuchten (Winke/ Gass/ Myford 2013). Bisherige Studien zum Einfluss von Lehrerfahrung auf Beurteilungen von mündlichen Sprachproben haben gemischte Ergebnisse geliefert. Während einige frühere Studien nahelegen, dass Lehrkräfte strenger urteilen als Nicht-Lehrkräfte (Hadden 1991), deuten andere Studien auf das Gegenteil bzw. auf keinen signifikanten Unterschied zwischen beide Gruppen hin (Hsieh 2011; Huang 2013). Hsieh (2011) fand zwar keinen signifikanten Unterschied zwischen ausgebildeten Lehrkräften und Nicht-Sprachstudierenden beim Beurteilen der allgemeinen Sprechfertigkeit in Sprachproben potentieller internationaler Lehrassistenten, allerdings scheinen ausgebildete Lehrkräfte auf andere Merkmale zu achten und entsprechend zu gewichten (Akzent und Verständlichkeit wurden von den Lehrkräften milder beurteilt). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Isaacs / Thomson (2013), die ebenfalls die Beurteilungen von erfahrenen Lehrkräften und Lai*innen (keine Sprachstudierenden) untersuchten. Sie konnten bei ihren drei untersuchten Merkmalen Verständlichkeit, Akzent und Redefluss keine signifikanten Unter‐ 283 Einfluss fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen <?page no="284"?> schiede zwischen beiden Gruppen feststellen. Allerdings erzielten die erfah‐ renen Lehrkräfte untereinander ein höheres Maß an Übereinstimmung als die Gruppe der Lai*innen. Letzteres konnte auch in der Studie von Duijm et al. (2018) bestätigt werden. Die meisten Studien über die Rolle der persönlichen Eigenschaften der beurteilenden Personen bei mündlichen Sprachproduktionen erlauben keinen exakten Vergleich untereinander, was auf Unterschiede in der Methodik und in der Operationalisierung des beruflichen Hintergrundes, der (Lehr-)Erfah‐ rung der Beurteiler*innen sowie der Situation und des Sprachniveaus der Sprecher*innen zurückzuführen ist. In den oben beschriebenen Studien wurden auch meist keine Vergleiche mit externen Kriterien wie Expert*innenbewer‐ tungen vorgenommen. Angesichts der heterogenen empirischen Befundlage bleibt unklar, welches Zusammenspiel von Lehrkraftmerkmalen zu akkurateren Urteilen führt. In den oben beschriebenen Studien ist der wesentliche Ein‐ flussfaktor vermutlich die unterschiedliche Sprachkompetenz der (Lehr-)Per‐ sonen. Keine dieser Studien führte einen Wissenstest zur Kontrolle der Wir‐ kung von Inhaltswissen auf die Beurteilungen durch. Dabei lassen sich lt. Duijm / Schoonen / Hulstijn (2018) zwei wesentliche Hintergrundmerkmale der Rater als einflussreich identifizieren: die Exposition gegenüber der Zielsprache und die sprachliche Kompetenz der beurteilenden Person. Obwohl sich Duijm et al. (2018) nur auf die Merkmale Sprachgenauigkeit und Sprachfluss konzen‐ trierten, fanden sie heraus, dass eine hohe Exposition gegenüber der Sprache die Sensibilität der Rater erhöht, Verbesserungen in diesen Merkmalen wahrzu‐ nehmen. Diese Ergebnisse könnten darauf hindeuten, dass hohe sprachliche Kompetenzen und das implizite Wissen über wesentliche Sprachmerkmale in mündlichen Proben besonders wichtig sind, um diese zu erkennen und akkurat beurteilen zu können. 3 Forschungsfragen und Ziel der Studie In diesem Beitrag wird untersucht, inwieweit ein Personencharakteristikum wie die Sprachkompetenz einen Einfluss auf die Beurteilungsakkuratheit von erfahrenen Lehrkräften und Lehramtsstudierenden beim Beurteilen von münd‐ lichen Sprachproben hat. Da frühere Forschungen die Sprachkompetenzen der erfahrenen oder unerfahrenen Beurteiler*innen nicht untersuchten, bleibt unklar, ob und auf welche Art und Weise dieses Personencharakteristikum einen Einfluss auf die Urteilsakkuratheit hat. Bei der Situation wird von zwei unterschiedlichen diagnostischen Urteilen ausgegangen: ein erstes, holistisches Gesamturteil, gefolgt von skalengestützten analytischen Urteilen zu bestimmten 284 Stéfanie Witzigmann <?page no="285"?> sprachlichen und inhaltlichen Merkmalen und ein anschließendes zweites Ge‐ samturteil. Das Darbieten zweier unterschiedlicher Urteilsmodi bietet zusätzlich die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Situation ebenfalls einen Einfluss auf die Urteile bei den Gruppen der erfahrenen Lehrkräfte und Lehramtsstudierende hat. Als Benchmark (sog. „wahrer“ Wert) für die zwei Gesamturteile dienen empirisch überprüfte Expert*innenratings (Witzigmann/ Sachse 2020). Wie aus der oben beschriebenen Forschungsliteratur ersichtlich, mangelt es an Studien, die den Einfluss von Personencharakteristika (Erfahrung und Fachwissen) und von Situationscharakteristika auf die Urteilsbildung bei mündlichen Sprach‐ proben untersuchen. Vor dem dargestellten Hintergrund wird von folgenden Forschungsfragen ausgegangen: 1. Unterscheiden sich die Sprachkompetenzen der erfahrenen Lehrkräfte von jenen der Lehramtsstudierenden? 2. Inwieweit beeinflussen die Sprachkompetenzen der erfahrenen Lehrkräfte und der Lehramtsstudierenden die Gesamturteile (holistisches Gesamtur‐ teil und zweites Gesamturteil nach analytischen Einzelurteilen)? Entsprechend dem in Abschnitt 2 aufgezeigten Forschungsbedarf wurde analy‐ siert, welche Sprachkompetenzen (schriftlich und mündlich) in beiden Gruppen vorzufinden sind. Die Messung von Personencharakteristika sowie die Spezi‐ fizierung der diagnostischen Situation (erstes holistisches Gesamturteil und zweites nach einem analytischen Scoring) werden helfen, die Informationsver‐ arbeitung bei Urteilen von mündlichen Sprachproduktionen von (zukünftigen) Französischlehrkräften besser zu verstehen. 4 Methode 4.1 Stichprobe Die Studie besteht aus einer Gesamtstichprobe von 132 beteiligten Personen. Die Gruppe der erfahrenen Lehrkräfte bestand aus 62 Lehrkräften, von denen jeweils die Hälfte Grundschullehramt (n = 31) und die andere Hälfte Gymnasi‐ allehramt (n = 31) studiert hatte. Das Durchschnittsalter der Lehrkräfte betrug 38,65 Jahre (SD = 8.36). Alle Lehrkräfte verfügten inkl. der Referendariatszeit über mindestens 5 Jahre Berufserfahrung (mit Ausnahme von insgesamt zwei Lehrkräften). Die durchschnittliche Berufserfahrung (nach dem Referendariat) lag bei 8,13 Jahren (SD = 4.92) für die Lehrkräfte der Primarstufe und bei 10,61 Jahren (SD = 7.35) für die Gymnasiallehrkräfte. Bei den Lehrkräften waren alle Proband*innen bis auf zwei männliche Gymnasiallehrkräfte weiblich. Die Durchführung der Untersuchung fand zu Beginn der Erhebung noch in den 285 Einfluss fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen <?page no="286"?> 2 Alle erfahrenen Lehrkräfte haben Französisch auf Lehramt studiert. 3 GU1 = Gesamturteil 1 Schulen statt, auf Grund der Covid-19 Pandemie wurden spätere Erhebungen im Homeoffice durchgeführt. Bei den Studierenden (sog. Noviz*innen) bestand die Gruppe aus insgesamt 70 Lehramtsstudierenden. Auch hier lässt sich die Gruppe in Lehramtsstudierende der Primarstufe (n = 38) und des Gymnasiallehramts (n = 32) unterteilen. Das Durchschnittsalter der Lehramtsstudierenden betrug 23,29 Jahre (SD = 3.35). Die durchschnittliche Fachsemesteranzahl lag bei 5,61 Fachsemestern (SD = 3.41) für die Studierenden der Primarstufe und bei 7,09 Fachsemestern (SD = 2.56) bei den Studierenden der Sekundarstufe II. 18,57% der teilnehmenden Lehramtsstudierenden waren männlich und 81,43% weiblich. Die Untersuchung der Studierenden fand in den jeweiligen Hochschulen statt. Bei allen teilneh‐ menden Personen, ob erfahrene Lehrkräfte oder Lehramtsstudierende, erfolgte die Teilnahme freiwillig. Zudem besitzen alle die Facultas für Französisch 2 bzw. ist Französisch eines ihrer gewählten Studienfächer. Zur Festlegung einer Benchmark diente eine Gruppe von Expert*innen (n = 13). Hierbei handelte es sich um Fachdidaktiker*innen der Zielsprache Franzö‐ sisch, die sich durch ihr bereichsspezifisches Wissen in der Domäne „Didaktik des Französischen“ auszeichneten (Professor*innen und Dozent*innen an Uni‐ versitäten). Die Urteile dieser Expert*innengruppe sind relativ homogen (ICC = .954, F = 32.95; p < .001), sodass sie im Kontext dieser Studie als aggregiertes Expert*innenurteil verstanden werden können (Witzigmann / Sachse 2020). 4.2 Untersuchungsdesign und Operationalisierung Erfahrene Lehrkräfte und Lehramtsstudierende, die an dieser Studie teilnahmen, bewerteten zunächst jeweils das Stimulusmaterial. Dieses bestand aus neun vi‐ deografierten Sprachproben von Schülerinnen und Schülern in der Zielsprache Französisch - Sprachniveau A1. Diese Videovignetten sind jeweils 2-3 Minuten lang und enthalten zwei unterschiedliche sprachliche Anforderungen: ein freies Gespräch mit standardisierten Fragen zu Familie, Hobbys und Lieblingstier sowie die Beschreibung einer kurzen Bildgeschichte (Comic). In einem ersten Durchgang wurde unmittelbar im Anschluss an jedes Video um ein erstes holistisches Gesamturteil auf einer Skala von 0-100% (100 % = perfekte Leistung) gebeten (GU1 3 ). Die Videovignetten konnten weder vor- oder zurückgespult werden, noch konnten irgendwelche Änderungen an den bereits erteilten Ge‐ samturteilen nachträglich vorgenommen werden. In einem zweiten Durchgang wurden die Videovignetten erneut präsentiert (diesmal mit der Möglichkeit 286 Stéfanie Witzigmann <?page no="287"?> 4 GU2 = Gesamturteil 2 die Videos vor- und zurückzuspulen) und beurteilt, jedoch erhielten die Teil‐ nehmer*innen hierfür ein Beurteilungsraster, bestehend aus linguistisch herge‐ leiteten Beurteilungskriterien, die jeweils mittels Ratingskalen zwischen 1-10 eingeschätzt werden sollten. Nach Ausfüllen des Beurteilungsrasters wurden die Teilnehmer*innen erneut aufgefordert, eine Gesamtbeurteilung auf der 0-100 % Skala abzugeben (GU2 4 ). Zunächst analysierte die Gruppe der Expert*innen nach dem oben beschrie‐ benen Verfahren das Stimulusmaterial. Hierbei zeigte sich, dass trotz unter‐ schiedlicher Bewertungsmaßstäbe zwischen den einzelnen Expert*innen die mündlichen Sprachproben zuverlässig bewertet wurden und Einigkeit hinsicht‐ lich der Rangfolge der zu beurteilenden Lernenden bestand. Die hohen Werte der Intraklassenkoeffizienten nahe bei 1 (ICC (2,1) = .954 (F = 32.95; p < .001) für das GU1 und ICC (2,1) = .946 (F = 23.25; p < .001) für das GU2) sprachen für eine sehr gute Interrater-Reliabilität der Expert*innen. Die hohe Gesamtva‐ rianzaufklärung (R 2 = .964) beim ersten holistischen Gesamturteil (GU1) sprach dafür, dass die Expert*innen die sprachlichen Hinweisreize zuverlässig in den authentischen Videovignetten wahrnahmen und implizit anwendeten. Die externe Fokussierung auf bestimmte sprachliche Merkmale durch das Beurtei‐ lungsraster brachte keine großen Veränderungen mit sich (Witzigmann/ Sachse 2020), was mit dem hohen Fachwissen und der fachdidaktischen Kompetenz der Expert*innen erklärt werden kann. Die Beurteilungen der Expert*innen werden somit im Rahmen der Studie als aggregiertes Expert*innenurteil bzw. als sogenannter „wahrer“ Wert angesehen. Nach einer anfänglichen Erprobung durch eine Paper-Pencil-Version konnten die zu evaluierenden Videovignetten in ein passwortgeschütztes Online-Com‐ puter-Tool eingebaut und programmiert werden. Dies ermöglichte eine an‐ schließende Erhebung der Wissenskomponente durch einen C-Test und eine kleine aufgezeichnete Sprachprobe der Teilnehmer*innen. C-Tests sind schrift‐ liche Tests zur Überprüfung der allgemeinen Sprachkompetenz (Eckes 2010; Grotjahn/ Klein-Braley/ Raatz 2002). Sie basieren auf dem Prinzip der reduzierten Redundanz. Da natürliche Sprachen redundant sind, enthalten sie mehr Infor‐ mationen, als zum Verständnis der Nachricht notwendig sind. Ist die Botschaft beschädigt, können die intakten Teile helfen, die vollständige Botschaft zu finden. Beim Ausfüllen der Lücken müssen die Teilnehmer*innen auf ihr Wissen über die Zielsprache zurückgreifen. Je differenzierter, umfassender und zugäng‐ licher dieses Wissen ist, desto besser werden die Teilnehmer*innen abschneiden (Eckes/ Grotjahn 2006). Untersuchungen zur psychometrischen Qualität von 287 Einfluss fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen <?page no="288"?> 5 Maurois, André. 1918. Les Silences du Colonel Bramble. Paris: Grasset, 61-63. C-Tests haben zahlreiche Belege für eine hohe Testreliabilität und Validität geliefert (u. a. Baghaei/ Grotjahn 2014; Chae/ Shin 2015; Grotjahn 2014; Harsch/ Hartig 2015). Im Rahmen dieser Studie beinhaltete der eingesetzte C-Test vier validierte Texte mit jeweils fünfundzwanzig Lücken. Insgesamt konnten somit maximal 100 Punkte erreicht werden. Die Bearbeitungszeit betrug für alle vier Texte insgesamt 20 Minuten. Eine rückwärts ablaufende Uhr zeigte den Teilnehmer*innen die ihnen zur Verfügung bleibende Zeit. Nach Ablauf der 20 Minuten konnten keine Änderungen an den Texten mehr vorgenommen werden. Die Erhebung der mündlichen Sprachkomponenten erfolgte durch das Vor‐ lesen eines Textes durch die Teilnehmer*innen. Hierbei handelte es sich um die leicht veränderte Version eines Auszugs aus einem Roman von André Maurois 5 . Durch das Klicken der entsprechenden einprogrammierten Taste und das Erlauben des Mikrofon-Zugriffs durch das Programm startete automa‐ tisch die Aufnahme. Da leider keine Aufnahmeüberprüfung einprogrammiert wurde, verzeichnete dieser Teilbereich 9.09% an fehlenden Werten (n = 12). Die Audiodaten wurden von zwei erfahrenen Muttersprachlerinnen nach einer Schulung doppelt beurteilt. Diese wurden nach vier Kriterien, die jeweils mittels Ratingskalen zwischen 1-10 eingeschätzt werden sollten, bewertet. Die Beurteilungskriterien waren Akzent, Satzmelodie/ Intonation, Lesefluss und Aussprachefehler, gefolgt von einem Gesamturteil auf einer Skala von 0-100% (100 % = perfekte Leistung). Die Interrater-Reliabilität wies sehr gute Werte beim Gesamturteil auf (ICC (1,1) = .959 für die Gruppe der erfahrenen Lehrkräfte und ICC (1,1) = .981 bei den Lehramtsstudierenden). Zuletzt umfasste das Online-Tool noch einen Fragebogen zur Erhebung der soziodemographischen Daten wie Geschlecht, Alter, Berufserfahrung bzw. Anzahl der Fachsemester, Französisch als Muttersprache, usw. 5 Ergebnisse FF1: Unterscheiden sich die Sprachkompetenzen der erfahrenen Lehrkräfte von jenen der Lehramtsstudierenden? Die deskriptiven Statistiken für die erhobenen inhaltlichen Sprachkompetenzen sind in Tab. 1 dargestellt und enthalten die Mittelwerte und Standardabwei‐ chungen für die Gruppen der erfahrenen Lehrkräfte und der Lehramtsstudier‐ enden. 288 Stéfanie Witzigmann <?page no="289"?> 6 Auch ohne die französischen Muttersprachler*innen gibt es einen signifikanten Unter‐ schied beim C-Test zw. den Lehrkräften und den Lehramtsstudierenden (t(99) = 3.73, p < .001, d = .746), keinen sign. Unterschied zw. den Studierenden der Primarstufe C-Test Audioaufnahme - GU Min Max M (SD) M (SD) Lehrkräfte (gesamt) 46 98 81.95 (10.97) 84.04 (12.37) Lehramtsstudierende (gesamt) 45 95 73.51 (12.61) 76.11 (17.40) Primarstufe Lehrkräfte 46 95 78.81 (12.80) 82.33 (12.98) Lehramtsstudierende 45 90 72.13 (13.17) 77.21 (17.33) Sekundarstufe II Lehrkräfte 65 98 85.10 (7.77) 85.93 (11.61) Lehramtsstudierende 48 95 75.16 (11.91) 74.83 (17.70) Tab. 1: Zusammenfassung der deskriptiven Statistik für die Gruppen der erfahrenen Lehrkräfte und der Lehramtsstudierenden (GU = Gesamturteil) Zur Überprüfung, ob ein Unterschied zwischen den erfahrenen Lehrkräften und den Lehramtsstudierenden besteht, wurde ein t-Test für unabhängige Stichproben mit IBM SPSS Statistics für Windows, Version 27 durchgeführt. Dieser zeigt einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Gruppen (t(130) = 4.08, p < .001) mit einer mittleren Effektstärke (d = .711). Erfahrene Lehrkräfte punkten im C-Test höher als die Lehramtsstudierenden. Wird nach Schularttyp unterschieden, so ist der Unterschied beim C-Test zwischen den Lehramtsstu‐ dierenden der Primarstufe und der Sekundarstufe II statistisch nicht signifikant (t(68) = 1.00, p = .321). Bei der Gruppe der erfahrenen Lehrkräfte ist der Unterschied zwischen den Lehrkräften der Primarstufe und der Sekundarstufe II wiederum statistisch relevant (t(49.49) = 2.34, p = 0.23, d = .594). Hier schneiden die Lehrkräfte der Sekundarstufe II besser ab als die Lehrkräfte der Primar‐ stufe. Da der Ausschluss der französischen Muttersprachler*innen an diesen Ergebnissen nichts änderte 6 , wurden diese aus den weiteren Berechnungen 289 Einfluss fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen <?page no="290"?> und Sek. II (t(54) = 1.50, p = .140) und einen sign. Unterschied zw. den Lehrkräften der Primarstufe und Sek. II (t(43) = -2.89, p = .006, d = .862). nicht ausgeschlossen und gewährleisten somit ein realistischeres Abbild der Studierenden- und Lehrerschaft. Die Ergebnisse der Audioaufnahmen zeigen ebenfalls einen wesentlichen Unterschied zwischen den erfahrenen Lehrkräften und den Lehramtsstudier‐ enden (t(111.95) = 2.90, p = .005, d = .521). Innerhalb der jeweiligen Gruppen der Lehrkräfte und Lehramtsstudierenden fallen bezüglich der Lehramtswahl (Primarstufe oder Sekundarstufe II) jedoch keine signifikanten Unterschiede auf. Über eine Korrelation nach Pearson wurde überprüft, inwieweit ein Zusam‐ menhang zwischen den Ergebnissen des C-Tests und den Ergebnissen der Audioaufnahmen besteht. Sowohl bei den erfahrenen Lehrkräften (r = .648, p < .001) als auch bei den Lehramtsstudierenden (r = .696, p < .001) korrelieren beide Variablen stark miteinander. Gerade für die Gruppe der Primarstufe (Lehr‐ kräfte: r = .735, p < .001; Studierende: r = .827, p < .001) ist der Zusammenhang zwischen den Werten der Audiodaten und denen des C-Tests besonders stark. Bei der Gruppe der erfahrenen Lehrkräfte konnte kein signifikanter Zu‐ sammenhang zwischen den Berufsjahren und den Ergebnissen des C-Tests festgestellt werden, allerdings korreliert die Anzahl der Berufsjahre, in welchen mindestens eine Französischklasse unterrichtet wurde, und die Ergebnisse des C-Tests, bedeutend miteinander (r s = .384, p = .002). Bei der Gruppe der Lehr‐ amtsstudierenden konnte ebenfalls ein Zusammenhang zwischen der Anzahl an Fachsemestern und den Ergebnissen des C-Tests (r s = .395, p < .001) festgestellt werden. FF2: Inwieweit beeinflussen die Sprachkompetenzen der erfahrenen Lehrkräfte und der Lehramtsstudierenden die Gesamturteile (holistisches Gesamturteil - GU1 und zweites Gesamturteil nach analytischen Einzelurteilen - GU2)? Um zunächst zu testen, ob die Sprachkompetenzen die Gesamturteile beein‐ flussen oder nicht, wurden lineare Regressionen mit den Ergebnissen des C-Tests bzw. der Audioaufnahmen und den beiden Gesamturteilen (GU1 und GU2) als abhängige Variable durchgeführt. Nur für die Gruppe der Studierenden konnte ein signifikanter Einfluss der Sprachkompetenzen (C-Test - GU1: β = .399; t(628) = 5.694; p < .001 - GU2: β = .332; t(628) = 5.089; p < .001 und Audiodaten - GU1: β = .259; t(565) = 4.840; p < .001 - GU2: β = .162; t(565) = 3.219; p = .001) auf die Gesamturteile festgestellt werden. Es zeigte sich, dass höhere Sprachkompetenzen mit positiveren Gesamturteilen der Videovignetten 290 Stéfanie Witzigmann <?page no="291"?> 7 Die Differenz der Quadratsummen zwischen den Urteilen der Probanden und den Ex‐ pert*innenurteilen wurde ebenfalls berechnet. Aus einer perfekten Übereinstimmung zwischen Probandenurteil und Expert*innenurteil resultiert der Wert 0. Da die Ergeb‐ nisse mit jenen der Korrelationen (Rangkomponente) in dieser Studie vergleichbar sind, wurde die in der Literatur bevorzugte Angabe der Rangkomponente als Indikator der Urteilsgenauigkeit gewählt. einhergehen. Bei der Gruppe der Lehrkräfte zeigte sich bei dieser berechneten Regression kein signifikanter Einfluss. Um zu überprüfen, inwieweit die Sprachkompetenzen einen Einfluss auf die Urteilsakkuratheit haben, wurden weitere Regressionen durchgeführt. Wie gut die Lehrkräfte und Lehramtsstudierenden die mündlichen Sprachproben der Schüler*innen (gemessen als mittleres Expert*innenurteil) einschätzen können, wurde als sogenannte Rangkomponente berechnet 7 . Die Rangkomponente be‐ rechnet die Korrelation zwischen den Gesamturteilen der Teilnehmer*innen und dem Mittelwert der Expert*innenurteile (KOR_GU1 und KOR_GU2). Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse der regressiv berechneten Einflüsse des C-Tests mit den Korrelationen als abhängige Variable. Lehrkräfte (Konstante) Regressionskoeffizient β Standard‐ fehler T-Wert Sig. KOR_GU1 (.649) .002 .001 2.735 .008 KOR_GU2 (.802) -7,17E-5 .002 -.047 .963 Lehramtsstudierenden (Konstante) Regressionskoeffizient β Standard‐ fehler T-Wert Sig. KOR_GU1 (.557) .002 .002 1.273 .207 KOR_GU2 (.445) .004 .002 2.091 .040 Tab. 2: Regressionsgewichte für die abhängige Variable der Rangkomponente Es zeigt sich, dass bei der Gruppe der Lehrkräfte die Sprachkompetenzen einen wesentlichen Einfluss auf die Urteilsakkuratheit beim ersten holistischen Gesamturteil haben. Je höher die Ausprägung der Sprachkompetenzen ist, desto höher die Annäherung an das Expert*innenurteil. Beim Zweiturteil, also nach den skalengestützten analytischen Urteilen auf Grundlage des Beurteilungsras‐ ters, ist der Einfluss der Sprachkompetenzen dagegen nicht nachweisbar. 291 Einfluss fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen <?page no="292"?> Bei der Gruppe der Lehramtsstudierenden sind die Ergebnisse gegenläufig. Beim Ersturteil zeigt sich kein signifikanter Effekt, beim Zweiturteil dagegen findet sich ein signifikanter Einfluss der Sprachkompetenzen auf die Urteilsak‐ kuratheit. 6 Diskussion und Limitationen Im Mittelpunkt der Studie stand die Frage, ob Personencharakteristika wie die eigenen Sprachkompetenzen einen Einfluss auf die Beurteilung von münd‐ lichen Sprachproduktionen bei zwei unterschiedlichen Urteilsmodi (holistisches Gesamturteil und Zweiturteil nach einem analytischen Scoring) haben. In diesem Beitrag wurde die Beurteilungsakkuratheit erfahrener Lehrkräfte und Lehramtsstudierender der Primarstufe und Sekundarstufe II verglichen und dabei der Einfluss der Sprachkompetenzen der Teilnehmer*innen als Variable berücksichtigt. Als Benchmark dienten zuvor aggregierte Expert*innenurteile. Bezogen auf die erste Forschungsfrage zeigen die Ergebnisse, dass erfahrene Lehrkräfte signifikant höhere Sprachkompetenzen aufweisen als Lehramtsstu‐ dierende. Dies könnte mit der Zeit (Angaben in Monate), die erfahrene Lehr‐ kräfte nach dem Studium im Ausland verbrachten (M = 14.89, SD = 33.65) erklärt werden. Auch verbringen erfahrene Lehrkräfte im Monat durchschnittlich etwas mehr Zeit mit dem Lesen französischer Texte (M = 8.44, SD = 10.92), dem Hören der französischen Sprache (M = 11.29, SD = 18.60) und aktiver Kommunikation auf Französisch (M = 44.47, SD = 62.42) als Lehramtsstudierende (Lesen: M = 7.45, SD = 8.45; Hören: M = 7.44, SD = 9.98; aktive Kommunikation: M = 26.54, SD = 58.98). Während sich die Ergebnisse des C-Tests der Lehr‐ amtsstudierenden der Primarstufe und der Sekundarstufe II nicht signifikant voneinander unterscheiden, findet sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Lehrkräften der beiden Schultypen. Eine mögliche Erklärung könnte bei der unterrichtsbedingten Benutzung der Zielsprache in den Französischklassen liegen. Je nach Schulstufe werden andere Sprachkompetenzen für die Vorberei‐ tung des Unterrichts und für das Unterrichten selbst von der Lehrkraft verlangt. So setzen Abiturklassen weitaus höhere Sprachkompetenzen als abschließende Grundschulklassen voraus. In der Tat konnte auch ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Lehrkräften der Primarstufe und den Lehrkräften der Sekundarstufe II bezogen auf die Anzahl der unterrichteten Berufsjahre in Französischklassen (t(41.07) = 3.123, p = .003, d = .793) festgestellt werden. Ein weiteres zentrales Ergebnis dieser Untersuchung sind die hohen Korre‐ lationen zwischen den Ergebnissen des C-Tests und jenen der Audioaufnahmen der Teilnehmer*innen. Dies bestätigt die Annahme, dass C-Tests durchaus 292 Stéfanie Witzigmann <?page no="293"?> allgemeine Sprachkenntnisse messen können, inklusive der mündlichen Fähig‐ keiten von Probanden (vgl. Eckes/ Grotjahn 2006). Zum anderen bestätigen die Ergebnisse die Daten von Arras/ Eckes/ Grotjahn (2002), die eine Korrelation von r = .64 (p < .001) zwischen der Durchführung eines C-Tests für Deutsch als Zielsprache und den Subtests des „mündlichen Ausdrucks“ (MA) des stan‐ dardisierten TestDaF nachweisen konnten. So scheinen Personen mit hohen C-Test-Ergebnissen tendenziell auch hohe mündliche Sprachkompetenzen zu besitzen. Dass die Korrelationen für die Gruppe der Primarstufe höher ausfallen, lässt sich vermutlich mit dem erhöhten Gebrauch der mündlichen Sprache im Unterricht erklären. Wenig überraschend ist die Tatsache, dass die allgemeinen Sprachkompe‐ tenzen der Lehramtsstudierenden besser ausfallen, je höher ihre Fachsemester sind. Interessanter ist hingegen, dass die Berufserfahrung alleine keinen Ein‐ fluss auf die Sprachkompetenzen hat. Lehrkräfte, die keine Französischklasse unterrichten, scheinen sich außerhalb des Unterrichts nicht sonderlich viel mit der französischen Sprache auseinanderzusetzen. Denn je höher die Zahl der unterrichteten Berufsjahre in Französischklassen, desto höher punkteten die Teilnehmer*innen im C-Test. So scheint eine aktive Auseinandersetzung mit der Sprache im Rahmen von Unterrichtsvorbereitungen, Anwenden der Zielsprache im Unterricht selbst und Nachbereiten des Unterrichts einen signifikanten Einfluss auf die Sprachkompetenzen der Teilnehmer*innen zu haben. Bei der Frage, inwieweit die Sprachkompetenzen einen Einfluss auf die Urteile haben, ergibt sich eine sehr interessante Befundlage. Für die Gruppe der Lehramtsstudierenden, d. h. die Gruppe der Noviz*innen, konnte ein signi‐ fikanter Einfluss der Sprachkompetenzen auf beide Gesamturteile festgestellt werden. Da die Regressionskoeffizienten positiv sind, bedeutet dies, dass je höher die Sprachkompetenzen bei den Lehramtsstudierenden sind, desto höher fallen ihre Gesamturteile aus. Mit Blick auf die kognitive Lernentwicklung von Lernenden können etwas mildere Urteile aufgrund stärkerer Stimulierung auch positive Auswirkungen auf die Lernentwicklung der Schüler*innen haben, gerade bei schwächeren Lernenden (s. McElvany et al. 2009). Es bleibt die spannende Frage, ob Sprachkompetenzen einen Einfluss auf die Urteilsakkuratheit haben bzw. ob die Urteilssituation dabei eine Rolle spielt. Angesichts der kontrollierten Variablen (erstes Gesamturteil - GU1 und zweites nach dem analytischen Scoring des Beurteilungsrasters - GU2) sprechen die Ergebnisse für einen Einfluss der Sprachkompetenzen auf die Gesamturteile. Bei den erfahrenen Lehrkräften beeinflusst der Zeitpunkt des Urteils den Zusammenhang zwischen Sprachkompetenz und Gesamturteil. Dies bedeutet, dass beim ersten holistischen Gesamturteil hohe Sprachkompetenzen 293 Einfluss fremdsprachlicher Sprachkompetenzen beim Beurteilen <?page no="294"?> zu valideren Urteilen führen. Je höher die Sprachkompetenzen der Lehrkräfte sind, desto näher gleichen sie sich dem aggregierten Expert*innenurteil an. Beim Zweiturteil, nach den analytischen Beurteilungen durch das Beurteilungs‐ raster, scheinen die Sprachkompetenzen keine Rolle mehr zu spielen. Dies deutet darauf hin, dass die Urteile der Lehrkräfte mit weniger hohen Sprach‐ kompetenzen beim Zweiturteil sich den Urteilen der Lehrkräfte mit hohen Sprachkompetenzen angleichen. Bei der Gruppe der Lehramtsstudierenden ist der Einfluss der Sprachkom‐ petenzen beim Zweiturteil, d. h. nach den analytischen Einzelurteilen des Beurteilungsrasters, signifikant. So führen bei den Noviz*innen hohe Sprach‐ kompetenzen alleine nicht zu akkurateren Urteilen, sondern erst in Kombina‐ tion mit dem Beurteilungsraster. Die Ergebnisse deuten somit darauf hin, dass bei geringer Berufserfahrung mit Französischklassen hohe Sprachkompetenzen und das Benutzen eines Beurteilungsrasters zu akkurateren Urteilen führen. Vor dem Hintergrund eines Zusammenspiels mehrerer Variablen beim Beur‐ teilen mündlicher Sprachproduktionen lässt sich als wichtige Implikation ab‐ leiten, dass der Erwerb diagnostischer Fähigkeiten in diesem Bereich einen stär‐ keren Fokus in der Praxis und Forschung benötigt. Einschränkend muss gesehen werden, dass in diesem Beitrag nur wenige Merkmale berücksichtigt wurden. In ergänzenden Studien sollten weitere Variablen hinzugezogen werden, um zu untersuchen, welche Merkmale als Einflussfaktoren verantwortlich sind. 7 Implikationen für die Aus- und Weiterbildung Die in dieser Studie dargestellten Ergebnisse bieten einen möglichen Ansatz‐ punkt zum besseren Verständnis von Urteilen (angehender) Lehrpersonen, da akkurate Urteile über mündliche Sprachproduktionen einen entscheidenden Beitrag zur Leistungsrückmeldung für die Lernenden und der entsprechenden Unterrichtsanpassung leisten. Besonders bedeutend ist dies im Rahmen der Lehrkräfteaus- und Weiterbildung, da hier bis dato nur wenige Studien verschie‐ dene Einflussfaktoren bei der Urteilsbildung untersuchten. Wie bereits ausgeführt, verlangen akkurate Urteile hohe Sprachkompetenzen und Berufserfahrung in Französischklassen. Ein Förderansatz für Lehrkraftaus- und Weiterbildung könnte in der Stärkung dieser Komponenten liegen. Daher sollte bereits während des Lehramtsstudiums auf einen gezielten Aufbau der zielsprachlichen Kompetenzen geachtet werden, indem möglichst viele Angebote zur Sprachpraxis angeboten werden und auf ein hohes Angebot an zielsprachlichen Lehrveranstaltungen geachtet wird. Gleichwohl sollten über das Studium hinaus, gerade bei nicht unterrichteten Französischklassen, 294 Stéfanie Witzigmann <?page no="295"?> die Förderung der Sprachkompetenzen (bspw. durch Reisen in frankophonen Ländern, Lesen, Hören und aktive Kommunikation in der Zielsprache) nicht außer Acht gelassen werden. Vor dem Hintergrund der geringen Expertise in diagnostischer Kompe‐ tenz bei Lehramtsstudierenden sollte dieser Bereich ebenfalls stärker in der Ausbildung berücksichtigt werden. Wie von Hochstetter (2011) und Witzig‐ mann/ Sachse (2021) indiziert, kann das Nutzen eines Beurteilungsrasters zu akkurateren Urteilen führen. Hierzu sollten während des Studiums Kenntnisse über verschiedene Beurteilungsbögen erlangt und entsprechend auf ihre Prak‐ tikabilität erprobt werden. Zur Ausbildung diagnostischer Urteilsbildung wäh‐ rend des Studiums sollte zudem der Verweis auf konstruktirrelevante Merkmale (wie das Aussehen der Lernenden) erfolgen und bekannte Urteilsfehler (wie Halo-Effekt und Urteilstendenzen) thematisiert werden. Literatur Arras, Ulrike / Eckes, Thomas / Grotjahn, Rüdiger. 2002. „C-Tests im Rahmen des ‚Test Deutsch als Fremdsprache‘ (TestDaF): Erste Forschungsergebnisse“, in: Rüdiger Grot‐ jahn (ed.): Der C-Test. Theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen. Bochum: AKS-Verlag, 175-209. Bachman, Lyle F. / Lynch, Brian K. / Mason, Maureen. 1995. „Investigating variability in tasks and rater judgments in a performance test of foreign language speaking“, in: Language Testing, 12, 239-257. Bachman, Lyle F. / Palmer, Adrian. 2010. Language testing in practice. 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Gesamtstrategie der Kultusministerkonferenz zum Bildungsmonitoring. 2015 (https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ pdf/ Themen/ Schule/ Qualitaetssicheru ng_Schulen/ 2015_06_11-Gesamtstrategie-Bildungsmonitoring.pdf, 16.02.2021) Abwägen von Qualität und Praktikabilität Zur Entwicklung eines Beurteilungsrasters für Sprechkompetenzen im Französischunterricht der Sekundarstufe I Sibylle Seyferth 1 Kontext und Problembeschreibung Die Verbreitung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001, folgend GeR) als Referenzwerk für Curricula und Prüfungen sowie die bildungspolitische und fachwissenschaftliche Diskussion um die Einführung der Bildungsstandards zur Definition der Qualitätskriterien des Bildungssystems in Deutschland hat die schulische Leistungsmessung näher ins Zentrum der Fremdsprachendidaktiken gerückt (cf. Bausch et al. 2005; Meissner 2011; Pöhlmann et al. 2010, 14). Die mangelnde deutsche Tradition der stan‐ dardisierten Leistungsmessung und -beruteilung in Spracherwerbssituationen schien jedoch für die Entwicklung und Erforschung geeigneter Instrumente zunächst nicht förderlich. Dabei boten die mit den Bildungsstandards einherge‐ henden Veränderungen auch Chancen. Mit den eingeführten standardbasierten Tests und ihrer Auswertung im Rahmen des Bildungsmonitorings 1 werden nicht nur bildungspolitische und ökonomisch-gesellschaftliche Ziele verfolgt. Vertreterinnen und Vertreter der Fremdsprachendidaktik und der Sprachlehr- und -lernforschung nehmen informelle, kriterienorientierte Tests mit ihrer diagnostischen Funktion längst in den Fokus (cf. Grotjahn 2009; Grünewald 2014; Harsch/ Schröder 2010). Das formative Testen im Schulalltag (classroom based language assessment) in Form einer kriterienorientierten und somit möglichst fairen und objektiven Leistungsmessung kommunikativer Kompe‐ tenzen kann ein nützliches Instrument der Qualitätssicherung sein, das sowohl <?page no="302"?> 2 cf. ausführlich: Seyferth (2020) (Dissertation) 3 Ähnliches gilt für das Europäische Sprachenportfolio (https: / / www.coe.int/ en/ web/ po rtfolio, 16.02.2021). 4 Der Begriff „Beurteilung“ wird hier in Abgrenzung zu „Bewertung“ verwendet, mit ersterer geht eine Punkte- oder Notenvergabe einher (summativer Ansatz). bildungspolitischen Zielen als auch fremdsprachendidaktischen Ansprüchen genügt. Eine Voraussetzung hierfür ist, die Lehrkräfte aus- und weiterzubilden, ihnen wirksame Instrumente an die Hand zu geben und sie möglichst bei der Begleitforschung der entwickelten und eingesetzten Instrumente einzubinden. Mit dem Forschungsprojekt zur Überprüfung der funktionalen kommuni‐ kativen Kompetenzen und ihrer Operationalisierung für mündliche Kompe‐ tenzen 2 , das in diesem Beitrag vorgestellt wird, wurde folgender Forderung nachgekommen: Wenn das Ziel des modernen Fremdsprachenunterrichts die Entwicklung kommuni‐ kativer Kompetenz von Anfang an ist, müssen die Schüler auch in regelmäßigen Abständen eine Rückmeldung über ihr tatsächliches Sprachkönnen und nicht nur über ihr Sprachwissen erhalten. Im Zentrum der kompetenzorientierten Leistungsmessung sollten also die funktionalen kommunikativen Kompetenzen stehen […] (Wagner/ Werry 2015, 579). Durch regelmäßige, differenzierte Rückmeldungen zum Sprachstand und die Reflexion über den eigenen Lernprozess wird auch die metakognitive Kompe‐ tenz der Lernenden geschult. Feedback zu den überprüften Sprechkompetenzen ist lernpsychologisch in hohem Maße relevant. Nach Little und Erickson (2015, 122) ist die sprachliche Handlungsfähigkeit eng mit der eigenen Identität verbunden, was den Lernenden durch Selbstevaluationen, effektives Feedback durch die Lehrkraft sowie Peer-Verfahren bewusst gemacht werden kann. Die Evaluation durch die Gruppe und die Lehrkraft können Little und Erickson zufolge (2015, 122) dieses Selbstkonzept bestätigen oder verändern. Kriterie‐ norientierte Beurteilungsraster zur Überprüfung mündlicher kommunikativer Kompetenzen können, auch im Unterricht gemeinsam mit den Lernenden abgestimmt und eingesetzt, dabei ein wichtiges Instrument sein. Eben diese sprachliche Identität und Handlungsfähigkeit sind die Hauptkonzepte des GeR 3 , auf den sich die Bildungsstandards und Curricula der Bundesländer beziehen. Kriterienorientierte Testverfahren können zudem die Reflexion der Lehrenden über die Effektivität des eigenen Unterrichts fördern und bei geschulter Ver‐ wendung eine Auseinandersetzung mit den eigenen subjektiven Annahmen bei der Beurteilung und Bewertung 4 von Schülerleistungen begünstigen (cf. Arras 2010). 302 Sibylle Seyferth <?page no="303"?> 5 Senator für Bildung und Wissenschaft (ed.). 2006. Französisch/ Spanisch als zweite Fremdsprache. Bildungsplan für das Gymnasium. Jahrgangsstufe 6 - 10. Freie Hansestadt Bremen (http: / / www.lis.bremen.de/ sixcms/ media.php/ 13/ 06-12-06_franzspa_gy_2._Fr emdspr.pdf, 17.02.2021). 6 Für den Kontext von high stakes exams wurde dies breiter erforscht, z. B. von Holzknecht et al. (2018) oder Harsch/ Martin (2012). Die Entwicklung und Untersuchung von Instrumenten zur Professionalisie‐ rung von Lehrkräften im Bereich der mündlichen Leistungsmessung stellt ein Forschungsdesiderat dar (Burwitz-Melzer 2014, 25), welches gerade bei der aktuellen Tendenz zu höherer Standardisierung von Lernprozessen und -ergebnissen auch bei Kindern und Jugendlichen im Sinne der Output-Orien‐ tierung von zentraler Bedeutung ist. Dabei steht auch die Beurteilungskom‐ petenz der Lehrkräfte (language assessment literacy, cf. Fulcher 2012; Taylor 2013; op.cit. Harding/ Kremmel 2016) als eine Voraussetzung für effektive und verantwortungsvolle Leistungsmessung fremdsprachlicher Kompetenzen im Vordergrund. Das in diesem Beitrag vorgestellte Forschungsprojekt bietet als Beitrag zur Unterstützung der Lehrkräfte im Land Bremen eine Anforderungsanalyse an bestehende mündliche Testinstrumente, die für den dortigen schulischen Kontext geeignet wären, sowie einen Vorschlag für ein lokal verwendbares Raster zur Leistungsbeurteilung von Sprechkompetenzen zwecks Feedbacks im Französischunterricht der gymnasialen Sekundarstufe I. Es basiert auf einem eigenständig entwickelten Konstrukt, welches das lokale Curriculum 5 und den GeR berücksichtigt, jedoch keinen konkreten Lerngegenstand antizipieren kann. So zielt es primär nicht auf eine Leistungsbewertung mit Punkte- oder Notenvergabe ab. Der im Folgenden dargestellte und diskutierte Forschungs‐ prozess zeigt beispielhaft auf, wie und mit welchen Grenzen die Entwicklung, Validierung, Überarbeitung und Pilotierung eines Beurteilungsrasters für den intenen schulischen Kontext, teils in Kooperation mit Lehrkräften, gelingen kann. 6 In einem Folgeschritt ist es möglich, dieses Beurteilungsinstrument entsprechend dem situativen Bedarf der Gruppen von Lernenden anzupassen. In Ergänzung zu dem Forschungsprojekt wird der Frage nachgegangen, inwieweit das Companion zum GeR (2020) einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Beurteilungsrasters leisten kann. 303 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="304"?> 7 Dies entspricht der Gruppe der Fachlehrkräfte innerhalb einer Schule. 2 Zusammenfassung der Studie 2.1 Forschungsgegenstand In den nationalen Bildungsstandards der Ständigen Konferenz der Kultusmi‐ nister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) ist 2003 festge‐ legt worden, welche Kompetenzen in der ersten modernen Fremdsprache in Lernaufgaben entwickelt und in Testaufgaben gemessen werden sollen. Als Orientierung werden in den Bildungsstandards für Englisch und Französisch als erste Fremdsprache für den Mittleren Schulabschluss die Deskriptoren der Niveaus des GeR für die „Funktionale kommunikative Kompetenz“ als Teil der „Sprachlichen Kompetenz“ herangezogen (Sekretariat der Ständigen KMK 2004, 8). In der fachdidaktischen Diskussion wurde auf die Problematik der Überprüfbarkeit dieser Kompetenzen insbesondere im mündlichen Bereich hingewiesen: „Dennoch bleibt eine objektive, valide und reliable Bewertung mündlicher Leistungen bislang ein Desiderat“ (Nieweler 2010, 215). Das Spre‐ chen als Teilfertigkeit wird im Rahmen der Überprüfung der Bildungsstandards in der Sekundarstufe I bisher nicht getestet. Das Institut für Qualitätsentwick‐ lung im Bildungswesen (IQB) hat zwar Testaufgaben hierzu entwickelt und erprobt, das Durchführen von Schulungen für Prüfende zur Durchführung von standardbasierten Tests erschien jedoch vor allem aus Mangel an Ressourcen nicht realisierbar (cf. Porsch/ Tesch/ Köller 2010, 178sq.). Mit Bezug auf die Bildungsstandards werden in den meisten Curricula der Bundesländer für die erste und zweite Fremdsprache in den Jahrgangsstufen 6 bis 10 Kompetenzen genannt, die die Schülerinnen und Schüler am Ende eines Beurteilungszeitraums erreichen sollen. Von diesen Kompetenzen lassen sich durch die Fachkonferenz 7 Kriterien zur Leistungsbeurteilung ableiten. Letztere soll den Lernenden und ihren Erziehungsberechtigten kommuniziert werden und damit transparent sein. Wie kriterien- und kompetenzorientierte Überprü‐ fungen der mündlichen Leistungen konkret gestaltet werden sollen, wird in bildungspolitischen Dokumenten wie dem Bildungsplan Bremen nicht weiter erläutert und damit den Lehrkräften überlassen (cf. Senator für Bildung und Wissenschaft Bremen 2006). Hieraus ergeben sich die folgenden aufeinander aufbauenden Forschungsfragen: 304 Sibylle Seyferth <?page no="305"?> 8 Am Gymnasium in Bayern mit Abitur nach acht Jahren sollen die Schülerinnen und Schüler laut Lehrplan zum Ende der Jahrgangsstufe 10 in Französisch als erste oder zweite Fremdsprache das Niveau B1+ (GeR) erworben haben (cf. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München 2004). In Niedersachsen sollen die Ler‐ nenden am Ende der 10. Klasse laut Kerncurriculum dem Zielniveau B1 entsprechend „interaktiv“ und dem Zielniveau B1+ entsprechend „zusammenhängend“ sprechen können (Niedersächsisches Kultusministerium 2009, 17sq.). 1. Wie beurteilen Lehrkräfte derzeit im Französischunterricht der Sekundar‐ stufe I in Bremen die mündlichen kommunikativen Kompetenzen und wie berücksichtigen sie dabei den Bildungsplan und den GeR? 2. Inwieweit kann ein Raster zur Beurteilung von Sprechkompetenzen aus einem anderen Bundesland (Beispiel Nordrhein-Westfalen) von Französi‐ schlehrkräften in Bremen (Sek. I) zur Beurteilung von Sprechkompetenzen ihrer Lernenden genutzt werden? 3. Wie kann ein valides Beurteilungsraster für mündliche kommunikative Kompetenzen für den Französischunterricht der gymnasialen Sekundar‐ stufe I in Bremen entwickelt werden? Im Zentrum des Forschungsprojekts steht die Entwicklung eines Rasters zur Leistungseinschätzung und -beurteilung von Sprechkompetenzen zwecks Feed‐ backs im Französischunterricht der gymnasialen Sekundarstufe I in Bremen. Das Entwicklungsprojekt ergab sich aus den Ergebnissen einer qualitativen Vorstudie unter Lehrkräften, einer Dokumentenanalyse der bildungspolitischen Voraussetzungen sowie der Analyse bereits vorhandener Beurteilungsraster. 2.2 Forschungsdesign und Vorstudien Ein Charakteristikum des Forschungsdesigns besteht in der theoriegeleiteten Entwicklung eines Instruments zur Leistungsbeurteilung unter Einbezug von Sprachlehrkräften. Die Beziehung zwischen Forscherin und Forschungspart‐ nern und -partnerinnen jeweils als Expertinnen und Experten wurde daher in jedem der Forschungsschritte reflektiert (cf. hierzu ausführlicher Seyferth 2019). Eine Dokumentenanalyse des Bildungsplans Bremen für Französisch / Spa‐ nisch als zweite Fremdsprache in der gymnasialen Sekundarstufe I und ein Ver‐ geleich mit den Curricula anderer Bundesländer ergab, dass die Beschreibungen der Zielkompetenzen in den einzelnen Bereichen der mündlichen Kommunika‐ tion zum Mittleren Bildungsabschluss spezifisch formuliert sind. Das Zielniveau in Bremen liegt mit B1(-) leicht unter dem Niveau der meisten Bundesländer (cf. Senator für Bildung und Wissenschaft 2006, 19). 8 Dieses Niveau sowie die 305 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="306"?> 9 Cf. Qualitäts- und Unterstützungs-Agentur - Landesinstitut für Schule Nord‐ rhein-Westfalen 2018. 10 Cf. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München 2004. Deskriptoren zur Beschreibung der mündlichen kommunikativen Kompetenzen mussten bei der Entwicklung des Kriterienrasters für die Verwendung im lokalen Unterricht berücksichtigt werden. Ziel einer Felderkundung war es, den Kontext des Forschungsvorhabens (Schulpraxis) in Bezug auf die Leistungsüberprüfung der mündlichen kommuni‐ kativen Kompetenzen in Französisch zu beleuchten. Die befragten Französisch‐ lehrer und -lehrerinnen verschiedener Bremer Oberschulen und Gymnasien (n = 8) beurteilten im Jahr 2012 diese Kompetenzen sehr unterschiedlich. Sie berücksichtigten dabei die Bildungspläne und den GeR zumeist nicht be‐ wusst. Desweiteren fühlten sich diese Personen unterschiedlich gut in den Beurteilungskompetenzen für das Mündliche ausgebildet und wünschten sich Materialien und Fortbildungen dazu. In Nordrhein-Westfalen (NRW) hatten die befragten Lehrkräfte aus zwei veschiedenen Gymnasien (n = 5) im Jahr 2014 bereits mindestens eine mündliche Klassenarbeit durchgeführt, nachdem sie zuvor darin geschult worden waren, eine solche zu erstellen. Sie gaben mehrheitlich an, sich in der Beurteilung mündlicher Leistungen eher sicher zu fühlen und keine weiteren Materialien oder Fortbildungen zu wünschen. Zudem berichteten sie von positiven Auswirkungen der Einführung der mündlichen Klassenarbeit auf den Unterricht wie die stärkere Fokussierung des Sprechens in der Fremdsprache. Dies lässt die Vermutung eines positiven Washback-Effekts zu. Die Erkenntnisse aus NRW sind insofern limitiert, als sie sich vorwiegend auf Fragen zur Einführung einer mündlichen Klassenarbeit zwecks Notenvergabe beziehen, was mit dem für Bremen entwickelten Raster nicht intendiert ist. Die inhaltlich-vergleichende Auswertung der Interviews mit Lehrkräften in NRW bot jedoch die Möglichkeit, verschiedene Aspekte des Beurteilens mündlicher Leistungen aufgrund ihres Erfahrungsschatzes zu beleuchten. Dieser war unter den befragten Bremer Lehrkräften sehr begrenzt. Im nächsten Forschungsschritt war zu klären, ob ein bereits vorhandenes Raster aus einem anderen Bundesland für den Einsatz in Bremen adaptierbar ist. Einige Bundesländer geben in ihren landesinternen Curricula für die ersten und zweiten modernen Fremdsprachen die Option vor, eine schriftliche Klassenar‐ beit pro Schuljahr durch eine mündliche zu ersetzen (z. B. Nordrhein-Westfalen 9 , Bremen); nur in wenigen Ländern ist dies Pflicht (z. B. Bayern 10 ). Etwa die Hälfte der Bundesländer schlägt den Lehrkräften zur Bewertung dieser mündlichen Tests zu diesem Zweck erstellte und online abrufbare Raster vor. Aus der Ana‐ lyse der Bewertungsraster der Bundesländer mit vergleichbarem Schulsystem 306 Sibylle Seyferth <?page no="307"?> 11 Cf. Anhang 5 unter www.wvttrier.de/ anhang/ seyferth.zip (z. B. Berlin, Brandenburg) und insbesondere dem aus Nordrhein-Westfalen 11 folgt die Erkenntnis, dass keines direkt in Bremen genutzt werden kann, da die Vorgaben im Bildungsplan und den entsprechenden Curricula der Länder dafür zu unterschiedlich sind. Einige Ansätze sind zwar im Bereich der Kriterien ähn‐ lich, jedoch nicht bezüglich der Deskriptoren, der Abstufungen der Leistungen und der Anbindung an den GeR. Die Notwendigkeit, ein spezielles und valides Beurteilungsraster für mündliche Kompetenzen für den Französischunterricht der Sekundarstufe I in Bremen zu entwickeln, wurde somit deutlich. 2.3 Entwicklungsschritte Beurteilungsraster Die vorgestellte Entwicklungsarbeit orientiert sich an den gängigen Quali‐ tätskriterien für Sprachtests. Nach Bachman und Palmer (1996/ 2010) sowie Messick (1989) sollten Sprachtestentwickelnde den Nutzen eines Tests recht‐ fertigen. Der Einsatz des Rasters soll zur Einschätzung oder Überprüfung von Lernerleistungen differenzierte Rückmeldungen zum Lernerfolg ermöglichen sowie die Erwartungen an denselben transparenter machen. Es wurde wie bereits erwähnt nicht primär zur Notenvergabe erstellt. Die Konsequenzen aus der Arbeit mit dem Kriterienraster sind beschränkt, da es ausschließlich zur informellen und formativen Leistungseinschätzung oder -überprüfung im Rahmen des Unterrichts eingesetzt werden soll. Was die Objektivität betrifft, so sollten die Ergebnisse der Testteilnehmenden unabhängig von den Beurtei‐ lenden möglichst gleich sein. Dazu leisten die Kriterien und Deskriptoren einen Beitrag. Fairness und Transparenz sind Hauptgedanken beim Nutzen der Skala: Es soll ein einheitlicher Bezugsrahmen für mündliche Tests und/ oder Klassenarbeiten für alle Lernenden zum Ende der Sekundarstufe I gefunden werden. Die Praktikabilität des Beurteilungsrasters konnte eingeschränkt nach der Pilotierung beurteilt werden. Ein weiteres Qualitätsriterium betrifft die Auswirkungen auf die Lernenden und auf das Lernen. Als impact ist eine Im‐ plementierung von mündlichen Überprüfungen im Schulcurriculum vorstellbar. Für den Unterricht und das Lernen würde dies z. B. bedeuten, dass das Mündliche einen größeren Stellenwert im Unterricht einnehmen muss. Dieser und weitere Washback-Effekte sind denkbar. Das Raster hilft den Lehrkräften weiterhin, im Anschluss an die mündlichen Überprüfungen ein zeitnahes, differenziertes, lernendenorientiertes sowie mündliches und schriftliches Feedback zu geben, mit dem auch Hinweise zum weiteren Lernen verbunden sind. Zu beachten ist bei formativer Leistungsmessung zudem die Verbindung zwi‐ schen den anvisierten Lernergebnissen, den dahin führenden Lernaktivitäten 307 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="308"?> und ihrer Überprüfung (constructive alignment, Little/ Erickson 2015). Die Lern- oder Testaufgaben werden in der Regel von den Lehrkräften gestellt und orientieren sich an den Unterrichtszielen und -inhalten, die wiederum auf den Lehrplan abgestimmt sein sollten. Die im Unterricht eingesetzten Lehrwerke und Aufgaben beziehen sich in der Praxis optimalerweise ebenso auf dieses Curriculum. Das Curriculum bzw. der Bildungsplan Bremen ist wie der GeR Teil des dem Beurteilungsraster zugrundeliegenden Konstrukts. Somit ist also bei der Rasterentwicklung durch das Konstrukt ein inhaltlicher Bezug zum Unterricht hergestellt. Inhaltsvalidität und Authentizität betreffen das Kriterium Aufgabenbewältigung, dessen Deskriptoren authentische Situationen (z. B. informelles Gespräch), Sprachhandlungen (z. B. ein Gespräch in Gang halten) und Sprachfunktionen (z. B. bitten, etwas zu wiederholen) beispielhaft abbilden. Ein weiteres Qualitätsmerkmal ist die Aktualität mit der Frage, inwieweit sich das Beurteilungsinstrument am aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und den aktuellen bildungspolitischen Rahmenbedingungen für seinen Einsatz orientiert. Den Ansprüchen an die Konstruktvalidität muss das vorliegende Raster insoweit genügen, als dass es die Vorgaben der Bildungsstandards, des Bildungsplans sowie die wichtigsten Aspekte der Unterrichtsinhalte mit aufnimmt. Dies ist durch die Auswahl der Kriterien und ihre Beschreibung auf verschiedenen Referenzniveaus des GeR gewährleistet. Dazu dienen zum einen das definierte Testkonstrukt und zum anderen die Validierungsschritte, die die Entwicklung begleiten. Diese beziehen sich vor allem auf die Frage, ob mit dem Raster tatsächlich differenziert beurteilt werden kann, was nach einer Erwerbs- und Übungsphase beurteilt werden soll. Bei jeder Validierung durch Experten und Expertinnen aus dem Hochschulbereich (Forschende, Fremdsprachenlehrkräfte, Studierende) wurde daher unter anderem über‐ prüft, ob sich die Deskriptoren den ausgewählten Kriterien zuordnen lassen und inwieweit sie trennscharf sind. Abbildung 1 zeigt die Entwicklungs- und Validierungsschritte des Projekts. 308 Sibylle Seyferth <?page no="309"?> Entwicklungsschritt Methode der Validierung Begründung / Ziel Testkonstrukt Inhaltlich-qualitative Validierung: Abgleich mit GeR und Bildungsplan Konstruktvalidität sichern Erstentwurf Empirisch qualitativ/ quantitativ: Sortieraufgabe I und Diskussion Aussagekraft der Kriterien und Deskriptoren abklären Erste Überarbeitung Empirisch qualitativ/ quantitativ: Sortieraufgabe II und Diskussion Verständlichkeit und Aussagekraft der Deskriptoren verbessern Zweite Überarbeitung Pilotierung: Beurteilen von aufgenommenen Lernerleistungen durch Lehrkräfte und Experten und Expertinnen, Diskussion Praktikabilität und Reliabilität (eingeschränkt) abklären Sample / Modell Bewertungsskala Vorschlag: Erprobung (nicht Teil des Projekts) Reliabilität und Objektivität messen, Praktikabilität sichern Abb. 1 Entwicklungsschritte des Beurteilungsrasters An dieser Stelle soll die Konstruktdefinition nicht en détail wiedergegeben, sondern kurz erläutert werden, auf welcher Basis das entwickelte Beurtei‐ lungsraster fußt. Es wurde zunächst mit den theorie- und empiriebasierten Modellen der kommunikativen Kompetenz von Canale und Swain (1980) sowie Bachman und Palmer (1996/ 2010) gearbeitet, die auch der GeR aufgreift. Den Vorgaben der Bildungsstandards (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2004) und des Bildungsplans (Senator für Bildung und Wissenschaft 2006) folgend wurde jeweils ein Raster für die zwei Kompetenzbereiche „Zusammenhängendes Spre‐ chen“ und „An Gesprächen teilnehmen“ erstellt. Zu ihrer Entwicklung wurden ausgewählte Deskriptoren von Aspekten der Sprachbeherrschung, bezogen auf bestimmte Kompetenzen (GeR Kapitel 5), und ausgewählte Deskriptoren für kommunikative Aktivitäten (GeR Kapitel 4) herangezogen und verbunden, um die Kompetenzziele auf der Zielkompetenzstufe des Bildungsplans (Niveau B1(-)) und benachbarten Niveaus zu beschreiben. Durch die Vewendung der Deskriptoren wird der Bezug zum Curriculum gewährleistet und der Nutzen für die Lernenden und Lehrenden deutlich (GeR 2001, 174sq.). Die Deskriptoren 309 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="310"?> des GeR wurden in diesem Entwickungsprojekt schließlich mit denen des Bildungsplans Bremen für die 10. Klasse ergänzt. Berger (2015, 317) empfiehlt, dass die Deskriptoren eines Beurteilungsrasters für produktive Kompetenzen jeweils die Komponenten „performance features“ und „qualification“ enthalten sollten. So sollte eine Verbindung zwischen der Aufgabenerfüllung (Was kann ich? ) und der qualitativen Einschätzung (Wie gut kann ich es? ) bestehen. Für den Erstentwurf des Beurteilungsrasters ergaben sich Deskriptoren zu den folgenden Kriterien: Zusammenhängendes Sprechen: ● Aufgabenerfüllung ● Wortschatz (Spektrum und Korrektheit) ● Grammatik (Spektrum und Korrektheit) ● Aussprache/ Intonation ● Themenentwicklung/ Kohärenz und Kohäsion An Gesprächen teilnehmen: ● Aufgabenerfüllung (Sprachfunktionen, soziolinguistische Kompetenz, Ge‐ nauigkeit) ● Wortschatz (Spektrum und Korrektheit) ● Grammatik (Spektrum und Korrektheit) ● Aussprache/ Intonation ● Interaktion (Sprecherwechsel, Kooperation) In den Validierungsschritten wurde zunächst auf qualitative Methoden zur Entwicklung von Skalen nach dem GeR Anhang A (Europarat 2001, 200-209) zur Entwicklung von Deskriptoren der Sprachkompetenz zurückgegriffen. In einem ersten Schritt begutachtete und überarbeitete ich selbst die Formulierung der Deskriptoren. Dabei wurden Eindeutigkeit, Klarheit, Verständlichkeit und Kürze der Formulierungen überprüft und optimiert. Anschließend wurde in Anlehnung an Harsch (2010 und Harsch/ Martin 2012) mit Expertinnen und Experten gearbeitet, um die Unabhängigkeit der Deskriptoren mittels einer so genannten Sortieraufgabe zu überprüfen. Das Verfahren der Sortieraufgabe ist nach dem GeR (Europarat 2001, 202) „beson‐ ders geeignet für die Entwicklung von Deskriptoren für curriculumbezogene Kategorien wie z. B. Kommunikative Sprachaktivitäten“. Dabei ‚sortieren‘ Ex‐ pertinnen und Experten die Deskriptoren des Rasters in einer Listenansicht und in ungeordneter Reihenfolge, indem sie ihnen jeweils nacheinander die Kriterien und Niveaus des Rasterentwurfs zuordnen. So zeigt sich einerseits, welche Deskriptoren eindeutig zugeordnet werden und damit klar und relevant 310 Sibylle Seyferth <?page no="311"?> sind, und andererseits, welche falsch zugeordnet oder gar aussortiert werden und damit unnütz, unklar oder nicht trennscharf sind (cf. Europarat 2001, 204). Die Sortieraufgabe wurde mit 6 Sprachlehrkräften im Hochschulbereich und 12 Expertinnen und Experten der Fremdsprachendidaktiken (Professoren und Professorinnen, Doktoranden und Doktorandinnen) durchgeführt. Im Vorfeld der Sortieraufgabe wurden die Expertinnen und Experten anhand eines Ange‐ bots im Internet gebeten, sich mit den Niveaus des GeR vertraut zu machen. Der Grad ihrer Kompetenz wurde hierbei jedoch nicht evaluiert oder festgehalten. Die Auswertung der ersten Sortieraufgabe durch Auszählen der korrekten Zuordnungen und der jeweils alternativen Wahl der Kriterien und Niveaus ergab, dass die Kriterien „Aufgabenerfüllung: An Gesprächen teilnehmen“, „Interaktion“, „Aufgabenerfüllung: Zusammenhängendes Sprechen“ und „Ko‐ härenz / Kohäsion“ nicht ausreichend trennscharf waren. Da das Kriterium „An Gesprächen teilnehmen“ meist mit dem Kriterium „Interaktion“ verwechselt wurde, wurde Letzteres in einem Überarbeitungsschritt in das Kriterium „Auf‐ gabenerfüllung: An Gesprächen teilnehmen“ integriert. Das Kriterium „Aufga‐ benerfüllung: Zusammenhängendes Sprechen“ konnte nicht eindeutig von dem Kriterium „Kohärenz / Kohäsion“ getrennt werden. Daher wurde Letzteres in das Kriterium „Aufgabenerfüllung: Zusammenhängendes Sprechen“ integriert. Beide Kriterien der Aufgabenerfüllung wurden so inhaltlich erweitert, mussten daraufhin jedoch gekürzt werden. Nicht nur die Trennschärfe, sondern auch die Praktikabilität sprach für die Tilgung jeweils eines Kriteriums. Um die zweite Entwurfsfassung des Beurteilungsrasters zu validieren, wurde erneut eine Sortieraufgabe durchgeführt, diesmal bewusst mit anderen Experten und Expertinnen, nämlich Studierenden im Master of Education und (nur teilweise denselben) Sprachlehrkräften aus dem Hochschulbereich (n = 14). Zur quantitativen Auswertung der Daten aus der Sortieraufgabe wurde den 18 Deskriptoren (Items, cf. Tabelle 1) sowie den Kriterien und Niveaus jeweils ein Code zugeordnet. Die Zuordnungen der Expertinnen und Experten wurden anschließend in einer Matrix festgehalten und Übereinstimmungen und Abwei‐ chungen errechnet. Die Ergebnisse (cf. Tabelle 1) zeigen, dass die Übereinstim‐ mung bei der Zuordnung der Deskriptoren zu den Kriterien hoch war. Nur bei drei Deskriptoren lag die Übereinstimmung unter 70 %, was auf Probleme bei der Eindeutigkeit der Deskriptoren hindeutet. Diese wurden daraufhin in der qualitativen Analyse genauer betrachtet und anschließend überarbeitet. Die Übereinstimmung bei der Zuordnung der Deskriptoren zu den Niveaus fiel insgesamt schlechter aus. Hier kam es zu häufigeren Abweichungen. Diese Aufgabe ist etwas schwieriger, da sie mit einem guten Verständnis der Referenz‐ niveaus des GeR durch die Expertinnen und Experten verbunden ist, welches 311 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="312"?> 12 Die definitiven Versionen des Beurteilungsrasters als Download: http: / / www.wvttrier. de/ anhang/ seyferth.zip. vor der Sortieraufgabe nicht systematisch ermittelt wurde. Allerdings habe ich die Zuordnungen der Experten und Expertinnen miteinander korrelieren lassen. Dabei wurde deutlich, welche zwei Personen nicht ausreichend vorgebildet waren, sodass ihre Zuordnungen entsprechend eingeschätzt werden konnten. Acht von 18 Deskriptoren wurden mit einer Übereinstimmung von unter 70 % zugeordnet, zwei mit unter 30 %, sodass diese beiden überarbeitet werden mussten. Die entsprechenden Deskriptoren wurden vor allem dann überprüft, wenn sie vermehrt in eine Richtung abwichen, sodass der Mittelwert der Zuordnungen nicht mehr der korrekten Zuordnung entsprach (Items 21 und 24). Hieraus ergab sich die Überarbeitung der Deskriptoren für A2 und A2+ des Kriteriums „Aufgabenerfüllung Zusammenhängendes Sprechen“, da sie bei der Zuordnung zu oft verwechselt wurden. Die Expertinnen und Experten gaben in einer Feedbackrunde zudem hilfreiche Rückmeldungen und Überarbeitungshin‐ weise zu den Formulierungen der Deskriptoren, insbesondere hinsichtlich der Niveaus. So wurde Item 21 (Aufgabenerfüllung Zusammenhängendes Sprechen, Niveau A2+) von „Kann etwas erzählen und über Aspekte des eigenen alltäg‐ lichen Lebensbereichs in Form einer einfachen Aufzählung berichten. Kann erklären, was er/ sie mag oder nicht mag.“ geändert in „Kann etwas erzählen oder in Form einer einfachen Aufzählung über Aspekte des eigenen alltäglichen Lebens berichten. Kann etwas kurz beschreiben, vergleichen und erklären, was er/ sie mag oder nicht mag.“ Item 24 (Aufgabenerfüllung Zusammenhängendes Sprechen, Niveau A2) wurde von „Kann eine einfache Beschreibung von Menschen, Lebens- oder Arbeitsbedingungen, Alltags‐ routinen, Vorlieben oder Abneigungen usw. geben. Kann Wortgruppen durch Konnektoren wie ‚und‘, ‚aber‘‘ weil’ verknüpfen.“ geändert in „Kann Menschen und ihren Alltag sowie Vorlieben oder Abneigungen kurz beschreiben und dabei Wortgruppen durch einfache Konnektoren wie ‚und‘, ‚aber‘‘ ‚weil‘ verknüpfen.“ 12 312 Sibylle Seyferth <?page no="313"?> Item Kriterium Niveau 9 85,7143 64,2857143 10 85,7143 50 11 100 78,5714286 12 100 85,7142857 13 100 78,5714286 14 50 78,5714286 16 92,8571 57,1428571 17 100 78,5714286 20 85,7143 92,8571429 21 78,5714 14,2857143 23 100 64,2857143 24 64,2857 28,5714286 26 92,8571 64,2857143 29 78,5714 71,4285714 30 92,8571 57,1428571 31 71,4286 78,5714286 33 78,5714 78,5714286 34 64,2857 50 Tab. 1: Korrekte Zuordnung bei der zweiten Sortieraufgabe in Prozent (%) In dem Pilotierungsworkshop, der auf die zweite Überarbeitung des Rasters folgte, waren fünf Französischlehrerinnen aus dem Bremer Sekundarschulbe‐ reich sowie eine Expertin aus dem Hochschulbereich in der Lage, Lernerleis‐ tungen, die bei einer mündlichen Prüfung in einem Französischkurs der 10. Klasse in einem Bremer Gymnasium per Audio-Aufnahmegerät aufgenommen worden waren, mit dem entwickelten Raster zu beurteilen: Sie konnten zu jeder Leistung jeweils einen passenden Deskriptor eines Kriteriums identifizieren und auf dieser Grundlage entscheiden, ob die beschriebene Leistung von dem oder der Lernenden ‚gerade‘ oder ‚gut‘ erreicht wurde. Allerdings führte die Arbeit mit dem entwickelten Raster in dieser simulierten Prüfungssituation nicht immer mehrheitlich zu gleichen Beurteilungen. Hierauf wird im folgenden Abschnitt eingegangen. 313 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="314"?> 3 Diskussion der Forschungsergebnisse und Konsequenzen 3.1 Diskussion der Ergebnisse Als ein Ergebnis der Entwicklungsschritte ist festzuhalten, dass es auch mit begrenzten Mitteln möglich ist, ein Beurteilungsraster für mündliche kommuni‐ kative Kompetenzen für den lokalen Kontext zu entwickeln, zu validieren und zu pilotieren. Es ist gelungen, qualitätssichernde Maßnahmen der standardisierten Testentwicklung auf die Entwicklung eines Instruments des classroom-based language assessment anzuwenden. Die curricularen Vorgaben für den gewählten Kontext wurden dabei berücksichtigt und die Kriterien und Deskriptoren dem Konstrukt entsprechend umgesetzt. Für die teils große Bandbreite von Beurteilungen derselben Leistung bei der Pilotierung kann es unterschiedliche Ursachen geben: erstens eine feh‐ lende Schulung der ‚Prüfenden‘ und zweitens die Qualität der Deskriptoren. Möglicherweise war den Lehrkräften im Pilotierungsworkshop zugunsten der Diskussion über die Prüfungsleistungen und die Beurteilungsmethode zu wenig Zeit für die Schulung im Umgang mit dem Raster eingeräumt worden. Wei‐ tere Gründe für differierende Beurteilungen bei der Pilotierung können ein unübersichtlicher Aufbau und unzureichende Inhalte des Rasters sein. Da die Kriterien konstruktvalide sind, im Rahmen der Sortieraufgaben von Experten und Expertinnen geprüft und teils überarbeitet wurden, können diese als vorrangige Problemquelle ausgeschlossen werden. Das Rasterdesign wurde im letzten Überarbeitungsschritt übersichtlicher gestaltet. Vielmehr müssen also die Deskriptoren einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Ein Problem könnte aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zum GeR in mangelnder Konkretheit liegen. Durch den Interpretationsspielraum, den die Formulierungen des GeR bewusst bieten, da sie in diversen Kontexten als Referenz dienen sollen, könnte es zu einem unterschiedlichen Verständnis derselben gekommen sein. Eine Teilnehmerin der Pilotierung benannte in einer schriftlichen Evaluation genau diesen Punkt des subjektiv unterschiedlichen Verständnisses der Deskriptoren und der mangelnden Kenntnisse über die Skalen des GeR, welche auch vor dem Pilotierungsworkshop nicht evalutiert wurden. Grundkenntnisse des GeR sowie eine Schulung im Umgang mit dem Beurteilungsraster sind daher empfohlene Voraussetzungen für seinen adäquaten Einsatz. Eine Teilnehmerin kritisierte, dass mit dem Beurteilungsraster nicht direkt Noten vergeben werden können. Dieser Punkt führt zur Problematik der Leistungsmessung im Rahmen der Kompetenzorientierung: Cumming (2009, 92) liefert eine treffende Beschreibung des internationalen Bildungsmonitorings und damit auch des deutschen: 314 Sibylle Seyferth <?page no="315"?> 13 Das Verfahren ist beispielsweise dargestellt in Hennemann/ Perlmann-Balme/ Stelter (2016). Most educational systems have, over the past two decades, established new curriculum policies that define standards for students’ intended achievements in languages in terms of benchmarks, competencies, or attainment levels. […] These policies can permit the alignment of curricula and assessment through criterion-referenced forms of assessment. Die Verbindung von Leistungsmessung und Curriculum kann Cumming zufolge also durch kriterienorientiertes Testen gelingen. Dieser Ansatz wurde auch für dieses Forschungsprojekt gewählt. Allerdings fehlen für Deutschland die entsprechenden Benchmarks, also auf die Zielniveaus bezogene Referenzleis‐ tungen produktiver Kompetenzen von Lernenden, die von Expertinnen und Experten beurteilt worden sind. 13 So kann für die Sprache Französisch in der Sekundarstufe I beispielsweise nicht beantwortet werden, wie der Regelstan‐ dard zum Mittleren Schulabschluss oder zum Ende der jeweiligen Klassenstufen zu definieren ist. Kontext und Lehrkräfte müssten in ein lokales oder natio‐ nales Benchmarking mit einbezogen werden. Dies würde eine Beurteilung einer möglichst großen Zahl von Kandidatenleistungen durch Expertinnen und Experten bedeuten, mit der zusätzlichen Möglichkeit, Bestehensgrenzen (cut scores) festzulegen. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der doppelten Zielsetzung, welche mit der Entwicklung des Beurteilungsrasters verfolgt wurde: Zunächst soll eine differenzierte Rückmeldung zum Leistungsstand bzw. -fortschritt eines Schülers oder einer Schülerin über einen längeren Zeitraum gegeben werden (diagnoseorientiert), gleichzeitig sollen die Kompetenzen an einem bestimmten (Ziel-)Standard gemessen werden (prüferorientiert), der im Bil‐ dungsplan Bremen mit B1(-) benannt wird. North (2012, 19) begründet diese beiden Orientierungen von Beurteilungsskalen folgendermaßen: Learners and their teachers may find it helpful to be able to map or profile in relevant categories the progress being made towards a particular objective, and to identify strengths, weaknesses and areas which for any number of reasons might represent a personal goal (diagnosis-orientated). Finally, achievement may be assessed for certification in relation to specific standards defined in terms of levels of the framework (assessor-oriented). Das Messmodell wurde aus dem GeR übernommen, da kein eigenes für den schulischen Fremdsprachenunterricht vorliegt. Dieses Modell müsste auf den Schulkontext übertragbar sein, und genau hier liegt das Problem: Das Mess‐ 315 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="316"?> 14 Download: http: / / www.wvttrier.de/ anhang/ seyferth.zip. 15 Cf. Council of Europe. 2016. Piloting new descriptor scales from a proposed extended version of the CEFR illustrative descriptors. (https: / / rm.coe.int/ 1680703acd, 10.02.2021). 16 Council of Europe. 2020. CEFR- Companion Volume. (https: / / rm.coe.int/ common-europe an-framework-of-reference-for-languages-learning-teaching/ 16809ea0d4, 10.02.2021). modell des GeR ist für die formative Leistungsmessung zu grob, weshalb in diesem Projekt die Deskriptoren aus dem GeR durch diejenigen (teils konkre‐ teren) des Bildungsplans ergänzt und zusammen überarbeitet wurden. Zur besseren Abstufung wurden sie in (gerade) ‚erfüllt‘ und ‚gut erfüllt‘ unterteilt. Folgendes Problem ergibt sich aus den nach der begrenzten Pilotierung als zu vage identifizierten Deskriptoren: Vagheit und/ oder „norm-referenced relational description“ kann zu falschen Interpretationen führen (North 2012, 29.). North (2012, 31) zufolge sei es schwierig, diese vagen Deskriptoren zu vermeiden. Eine Möglichkeit bestehe jedoch darin, die Deskriptoren mit Gruppen von Lehrkräften zu präzisieren, damit sie als Referenz bei kriterienorientierter Leistungsbeurteilung dienen können. Ein Schritt in diese Richtung ist die Veröffentlichung des Beurteilungsrasters als editierbare Version, in der die Lehrkräfte die Deskriptoren durch eigene Präzisierungen ergänzen können. 14 Bei jeder möglichen Konkretisierung und Aktualisierung des Rasters sollten die überarbeiteten und neuen Skalen des GeR herangezogen werden. In der Zeit des Forschungsprojekts wurde der GeR um einige Skalen, etwa zur Sprach‐ mittlung und Plurilingualität, erweitert. Diese wurden validiert (2015/ 2016) und in zwei Phasen pilotiert (2016 - 2018). 15 Zudem wurden veraltete Begriffe aktualisiert und zeitgemäße Themen wie Mediennutzung integriert. Die Ergän‐ zungen sind auf den Internetseiten des Europarats veröffentlicht 16 , konnten jedoch in diesem Forschungsprojekt noch nicht berücksichtigt werden. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit dieses neue Dokument Hilfestellung bei einer Konkretisierung der Deskriptoren des entwickelten Beurteilungsrasters geben kann. Welche der Aspekte im Companion sollten bei der Bearbeitung beachtet werden, die insbesondere für Schülerinnen und Schüler („young learners“) im Rahmen des monologischen und dialogischen Sprechens von Bedeutung sind? Relevant können zunächst allgemeine Änderungen sein, welche die verwendeten Deskriptoren betreffen: So wird im gesamten Dokument der Ausdruck „native speakers“ durch „users of the target language“ und „foreign accent“ durch „influenced by the other languages they speak“ ersetzt. Für dieses Projekt relevante Ergänzungen von Skalen im Companion könnten weiterhin z. B. folgende sein: ● „Giving information“ (A2) (Europarat 2020, 63), 316 Sibylle Seyferth <?page no="317"?> 17 Cf. das hier relevante Dokument für die Altersgruppe 11 - 15 Jahre: Council of Europe. 2018. Collated representative samples of descriptors of language competences developed for young learners. (https: / / rm.coe.int/ collated-representative-samples-descriptors-you ng-learners-volume-2-ag/ 16808b1689, 15.02.2021). ● Ergänzung „online-conversation und discussion“ (Europarat 2020, 85), wobei hier die Deskriptoren meines Erachtens eher die Erwachsenenrealität be‐ schreiben, sie führen von schriftlicher Kommunikation (A1, A2, B1) zu mündlicher (ab B1+), ● Ergänzung: „Using telecommunications“, oral interaction (Europarat 2020, 81), hier erscheint für Jugendliche z. B. der Deskriptor für A2+ auch für das Mündliche relevant: „Can use telecommunications with their friends to exchange simple news, make plans and arrange to meet.“ ● Überarbeitete Deskriptoren im Bereich der Aussprache: umfassendere Be‐ schreibung von „sound articulation“ und „prosodic features“ („phonological control“, Europarat 2020, 134). Diese Umformulierungen und Ergänzungen bieten Ansatzpunkte zur Weiter‐ entwicklung und Konkretisierung einiger Deskriptoren in den Kriterien Auf‐ gabenstellung und Aussprache. Gerade in Hinblick auf die Mediennutzung umfasst das Companion Volume inhaltlich aktuelle, validierte Deskriptoren. Von Interesse sind zudem die ergänzenden Dokumente des Europarats zum Thema „young learners“ von 2018, in welchen die Deskriptoren des GeR und anderer Referenzsysteme mit Relevanz für die Altersgruppen 7 - 10 und 11 - 15 Jahre zusammengestellt sind und zudem mit den „I can“-Deskriptoren des Europäischen Sprachenportfolios abgeglichen werden. 17 Ihren Nutzen für die Überarbeitung des Beurteilungsrasters genauer zu prüfen, wäre eine weitere Aufgabe für die Zukunft. 3.2 Konsequenzen für die schulische Praxis Das oben beschriebene Dilemma zwischen Kompetenzorientierung und schu‐ lischer Leistungsmessung erscheint zurzeit unauflösbar. Ein Lösungsansatz für Bremen könnte sein, ein lokales Benchmarking durchzuführen, bei dem Lehrkräfte und weitere Experten und Expertinnen aus Schule und Unterricht, Universität, Bildungsbehörde und Landesinstitut für Schule mündliche Lerner‐ leistungen in Französisch nach den Vorgaben des Bildungsplans einschätzen. Diese Lernerleistungen mit Beurteilungen wären als Referenzen zu definieren und für Lehrkräfte zu illustrieren. Folgende Praxisszenarien sind unmittelbar vorstellbar: Französischlehrkräfte können mit dem vorgestellten Raster überprüfen, inwieweit eigene oder von 317 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="318"?> Dritten übernommene Bewertungsraster den bremischen Vorgaben entspre‐ chen. Eine zukünftige Verwendungsart kann zudem sein, basierend auf dem entwickelten Beurteilungsraster einen differenzierten und über einen längeren Zeitraum zu wiederholenden Lernbericht für mündliche Kompetenzen zu erstellen und ihn ggf. für die Dokumentation in einem (Europäischen Spra‐ chen-)Portfolio der Lernenden zu verwenden. So würde das Raster als Diagno‐ sewerkzeug und zu einer halbjahresübergreifenden Lernfortschrittskontrolle eingesetzt werden können. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Französischlehrkräfte das Raster in Zusammenarbeit in einer Fachkonferenz selbst weiterentwickeln, indem sie die Zielkompetenzen angepasst an eine konkrete Verwendungssituation genauer beschreiben und damit die Deskriptoren der Aufgabenerfüllung in der editierbaren Version des Rasters konkretisieren. So würde detaillierter festgehalten, welche im Unterricht entwickelten Kompetenzen erwartet und überprüft werden. Auf diese Art wäre die Verknüpfung zwischen Lehr- und Lernzielen auf der einen Seite und dem Testgegenstand auf der anderen Seite greifbarer hergestellt (constructive alignment) und würde eine spezifische und differenzierte Leistungsbeurteilung ermöglichen. Zusammenfassend werden folgende vier Verwendungsszenarien für das entwickelte Beurteilungsraster skizziert: 1. Überprüfung der eigenen oder von Dritten übernommenen Bewertungs- oder Beurteilungsraster in Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit dem Bildungsplan Bremen (Referenzinstrument); 2. Erstellung eines differenzierten Lernberichts für das Mündliche, ggf. auch für ein Sprachenportfolio; 3. Beurteilung von Lernerleistungen durch die Lehrkraft und durch Mitler‐ nende (Peer-Feedback) zum Ende einer Lernaufgabe im Unterricht ggf. mit Ergänzungen in den Deskriptoren; 4. Konkretisierung des Beurteilungsrasters in einer Fachkonferenz zur Ver‐ einheitlichung von mündlichen Tests und ihrer Beurteilung in einer Klas‐ senstufe, ggf. durch Ergänzung der Deskriptoren und Durchführung eines Benchmarkings. 4 Zusammenfassung und Perspektiven Die Ergebnisse des Forschungsprojekts zeigen, dass ein konstruktvalides Beur‐ teilungsraster für den Zweck des effektiven Feedbacks zum Lernstand und/ oder zur Lernentwicklung erstellt worden ist, welches die curricularen Vorgaben im Bundesland Bremen berücksichtigt. Parallel zur Entwicklungsarbeit und zusätz‐ 318 Sibylle Seyferth <?page no="319"?> lich zur Interviewstudie hätten durch teilnehmende Beobachtung an schulischer Leistungsbeurteilung in den entsprechenden Jahrgangsstufen sowie durch eine stärkere Mitwirkung von Französischlehrkräften am Entwicklungsprozess die Bedürfnisse der Zielgruppe adäquater berücksichtigt werden können. Durch Einbezug tatsächlicher Unterrichtsinhalte können die Deskriptoren des Rasters jedoch in einem weiteren Schritt konkreter formuliert werden. In der vorgeschlagenen Zusammenarbeit in einer Fachkonferenz zur Weiter‐ entwicklung des Rasters sollten einige Diskussionspunkte aus dem Pilotierungs‐ workshop im Mittelpunkt stehen und in der Entwicklung eines Leitfadens zur individuellen Bearbeitung des Rasters münden. Sie beziehen sich inbesondere auf folgende Fragen: ● Wie lassen sich die Deskriptoren eindeutiger und kürzer formulieren? ● Wie lässt sich innerhalb eines Niveaus differenzierter beurteilen? ● Wie lässt sich eine Gewichtung der Kriterien erreichen, welche die dienende Funktion von Grammatik und Wortschatz widerspiegelt? ● Wie lassen sich die Deskriptoren der Aufgabenerfüllung an die konkrete Testaufgabe anpassen und von den benachbarten Niveaus abstufen bzw. abgrenzen? ● Wie kann eine Bestehensgrenze ermittelt werden, aufgrund derer Noten vergeben werden können? Weitere Forschungsarbeit wäre daran anknüpfend im Bereich des class‐ room-based language assessment von Mehrwert, und zwar zu den Fragen, wie sich mit Lehrkräften zusammen Instrumente und Handlungshilfen für die Leistungsüberprüfung im Fremdsprachenunterricht entwickeln lassen, welche die Bedürfnisse der Lehrkräfte ebenso berücksichtigen wie das jeweilige For‐ schungsinteresse. Diese doppelte Strategie führt zu der Frage, wie sich die Language Assessment Literacy von Fremdsprachenlehrkräften in konkreten Entwicklungsszenarien vertiefen lässt (cf. Seyferth 2019). Innovationen in der Fremdsprachendidaktik sind schließlich am effektivsten mit Lehrkräften und nicht nur für Lehrkräfte zu gestalten, worauf es in der Forschungsliteratur mehrfach Hinweise gibt (cf. Cheng/ Curtis 2004; Hutterli 2011; Konrad et al. 2018; Taylor 2013). Deutlich wurde in diesem Projekt einmal mehr, dass sich Akteure der schulischen Sprachtestentwicklung und -durchführung in Zeiten der Kompe‐ tenzorientierung in Deutschland in einem Dilemma befinden. Der Kompetenz‐ orientierung folgend sollten im Unterricht zwar (Teil-)Kompetenzen überprüft und ein Kompetenzzuwachs in einem Rahmen gemessen werden, der in den bildungspolitischen Dokumenten mit Niveaus des GeR gesteckt wird. Viele 319 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="320"?> Hilfsmittel hierzu stehen jedoch bisher nur mittelbar mit den Niveaus des GeR und/ oder den konkreten Unterrichtsinhalten in Verbindung. Ferner ist eine direkte Anbindung von Schulnoten an die kompetenzorientierte Beurteilung aufgrund fehlender Bestehensgrenzen und den damit zusammnenhängenden nötigen empirischen Grundlagen bisher nicht erfolgt (cf. Harsch 2017). Beurtei‐ lungen aus der Arbeit mit Kriterienrastern können jedoch in die Notenvergabe einfließen. Da die Leistungsüberprüfung eine verantwortungsvolle Aufgabe im Unter‐ richtsalltag darstellt, sind Lehrkräften Instrumente an die Hand zu geben, die der Qualität, der Praktikabilität und den aktuellen Erfordernissen des eigenen Unterrichts (Kontext) genügen. Die Möglichkeiten der Lehrkräfte zur Mit- und Weiterentwicklung solcher Intrumente zu fördern, sollte Teil des bildungspoli‐ tischen Ziels der Qualitätssicherung im Fremdsprachenunterricht sein. Literatur Arras, Ulrike. 2010. „Subjektive Theorien als Faktor bei der Beurteilung fremdsprach‐ licher Kompetenzen“, in: Annette Berndt / Karin Kleppin (ed). 2020. Sprachlehrfor‐ schung: Theorie und Empirie. Festschrift für Rüdiger Grotjahn. Frankfurt am Main: Peter Lang, 169-179. Bachman, Lyle F. / Palmer, Adrian S.. 1996. Language Testing in Practice. Oxford Univer‐ sity Press. Bachman, Lyle F. / Palmer, Adrian S.. 2010. Language Assessment in Practice. Oxford University Press. 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Mündliche Leistungsmessung im Fremdsprachenunterricht. Ent‐ wicklung eines Beurteilungsrasters für Sprechkompetenzen im Französischunterricht zum Ende der gymnasialen Sekundarstufe I in Bremen. Studien zur Fremdsprachendi‐ daktik und Spracherwerbsforschung, 16, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München. 2004. Die mündliche Prüfung gemäß GSO § 54. (http: / / www.isb-gym8-lehrplan.de/ contentserv/ 3.1.neu/ g8. de/ index.php? StoryID=26786, 17.02.2021). Taylor, Linda. 2013. „Communicating the theory, practice and principles of language testing to test stakeholders: Some reflections“, in: Language Testing, 30/ 3, 403-412. Wagner, Erik / Werry, Hanno. 2015. „Kompetenzorientierter Fremdsprachenunterricht: neue Formen der Leistungsmessung in Klassenarbeiten und ihre Wirkung auf den Un‐ terricht“, in: Jessica Böcker / Anette Stauch (ed.): Konzepte aus der Sprachlehrforschung - Impulse für die Praxis. Frankfurt am Main: Peter Lang, 569-592. 323 Abwägen von Qualität und Praktikabilität <?page no="324"?> Welchen Weg sollen Lehrende einschlagen, damit Lernende eine gute mündliche Kompetenz entwickeln können? Eine internationale Autor: innenschaft gibt in diesem Band praxisorientierte Antworten für die schulische Sekundar- und Primarstufe sowie die Erwachsenenbildung. Die fachdidaktischen Ansätze in den Beiträgen bauen auf im Feld erforschtem Wissen auf und stellen überwiegend empirische Forschungsprojekte vor. Auf Basis der Datengrundlagen werden konkrete Vorschläge für eine praktische Umsetzung entwickelt. Quel chemin les enseignant.e.s doivent-ils.elles emprunter pour que les apprenant.e.s développent de bonnes compétences orales? Ce volume tente de répondre à cette question à travers une série de contributions, issues d’un groupe international d’auteur.e.s. Les approches didactiques émanent en grande partie de recherches sur le terrain et présentent majoritairement des projets empiriques. Sur la base de ces données, des idées concrètes de mise en œuvre sont proposées, orientées vers la pratique tant dans l’enseignement secondaire que primaire ainsi que dans la formation pour adultes. Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 22 ISBN 978-3-8233-8496-0