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Sprachliche Variation

1028
2024
978-3-8233-9497-6
978-3-8233-8497-7
Gunter Narr Verlag 
Florian Busch
Christian Efing
10.24053/9783823394976

Sprache ist geprägt von Variation. In der täglichen Variabilität des Sprechens und Schreibens drückt sich nicht nur aus, wie flexibel und wandelbar sprachliche Strukturen sind - Variation entfaltet vor allem soziale Bedeutung und übernimmt konkrete Funktionen. Der Band führt in ausgewählte Variationsphänomene des Deutschen ein und zeigt ihre Relevanz für den schulischen Sprachunterricht. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der kommunikative Alltag von Schüler:innen, dessen sprachliche Heterogenität aus sprachwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive beleuchtet wird. Der Band thematisiert die curricularen Kernbereiche Grammatik, Orthographie und Sprachreflexion. Er zeigt an authentischen Beispielen und Unterrichtsideen, welche lebensweltlichen Bezüge diese Themen im Deutschunterricht motivieren können (z.B. digitale Kommunikation, Sprechen in Peergroups).

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8497-7 LinguS 12 www.narr.de Sprache ist geprägt von Variation. In der täglichen Variabilität des Sprechens und Schreibens drückt sich nicht nur aus, wie flexibel und wandelbar sprachliche Strukturen sind - Variation entfaltet vor allem soziale Bedeutung und übernimmt konkrete Funktionen. Der Band führt in ausgewählte Variationsphänomene des Deutschen ein und zeigt ihre Relevanz für den schulischen Sprachunterricht. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der kommunikative Alltag von Schüler: innen, dessen sprachliche Heterogenität aus sprachwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive beleuchtet wird. Der Band thematisiert die curricularen Kernbereiche Grammatik, Orthographie und Sprachreflexion. Er zeigt an authentischen Beispielen und Unterrichtsideen, welche lebensweltlichen Bezüge diese Themen im Deutschunterricht motivieren können (z.B. digitale Kommunikation, Sprechen in Peergroups). Sprachliche Variation LinguS 12 BUSCH / EFING · Sprachliche Variation Sprachliche Variation LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis FLORIAN BUSCH CHRISTIAN EFING <?page no="1"?> Sprachliche Variation <?page no="2"?> LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis Herausgegeben von Sandra Döring und Peter Gallmann LinguS 12 <?page no="3"?> Florian Busch / Christian Efing Sprachliche Variation <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823394976 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2566-8293 ISBN 978-3-8233-8497-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9497-6 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0482-1 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 1 7 1.1 11 1.1.1 13 1.1.2 15 1.2 18 1.3 24 1.4 26 2 27 2.1 27 2.2 29 2.3 33 2.4 36 2.5 43 2.6 50 2.7 54 2.8 55 2.9 57 3 59 3.1 59 3.2 61 3.3 64 3.3.1 65 3.3.2 68 3.4 74 3.5 75 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale soziolinguistische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte einer strukturorientierten Soziolinguistik Konzepte einer handlungsorientierten Soziolinguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachdidaktische Perspektiven auf sprachliche Variation Aufbau dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variation und Schreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiben als soziale Praxis: Literalität und literale Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textorientiertes und interaktionsorientiertes Schreiben . . Typen der skriptural-graphischen Variation . . . . . . . . . . . . Buchstabenvariation im digitalen Schreiben . . . . . . . . . . . . Interpunktionsvariation im digitalen Schreiben . . . . . . . . . Digitale Schriftlichkeit als Gegenstand des Deutschunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variation und Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundbedingungen und Besonderheiten mündlicher Kommunikation und gesprochener Sprache . . . . . . . . . . . . Flexionsmorphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbalmorphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nominalmorphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianz im syntaktischen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grammatische Variation zwischen geschriebener und gesprochener Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3.6 77 3.7 78 3.8 82 3.9 83 4 85 4.1 85 4.2 87 4.3 90 4.4 93 4.5 105 4.5.1 105 4.5.2 106 4.5.3 107 4.6 108 4.7 108 5 111 5.1 112 5.2 117 5.3 121 5.3.1 121 5.3.2 126 5.4 129 5.4.1 131 5.4.2 133 5.5 137 5.6 138 5.7 139 141 147 Didaktisches Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . weil-Verbzweitsätze - ein Vorschlag zur Didaktisierung . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten Kommunikative Stile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit(en) . . . . . . . . . . . . . . Gastarbeiterdeutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnolektale Sprechweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorschlag einer Didaktisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kennenlernen authentischer (formaler und funktionaler) Merkmale von Ethnolekten . . . . . . . . Der Film „Fack Ju Göhte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse von journalistischen und Lehrmaterialien Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variation und Sprachideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Reflexionen über Sprache und Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardsprachideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der Sprachideologieforschung . . . . . . . . . . . . . . Sprachideologie und Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachideologie und Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachideologien und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardsprachideologie und Schulbücher . . . . . . . Monolingualismus und mehrsprachige Klassenzimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungshinweise zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Einleitung Und wenn ich ‚Frikadellen‘ sage, so begreift sie es nicht, denn es heißt hier ‚Pflanzerln‘; und wenn sie ‚Karfiol‘ sagt, so findet sich wohl nicht so leicht ein Christenmensch, der darauf verfällt, dass sie Blumenkohl meint; und wenn ich sage ‚Bratkartoffeln‘ so schreit sie solange ‚Wahs! ‘ bis ich ‚Geröhste Kartoffeln‘ sage, denn so heißt es hier, und mit ‚Wahs‘ meint sie ‚Wie beliebt‘. (Thomas Mann, Buddenbrooks) Mit diesen Worten beklagt sich Tony Buddenbrook in Thomas Manns Gesellschaftsroman bei ihren Eltern über ihre Münchner Köchin (vgl. auch Neuland 2006a: 9). Der Sprachgebrauch der süddeutschen Bediensteten erscheint der aus dem norddeutschen Lübeck stammenden Tony nicht nur fremd, sondern stellt die alltägliche Kommunikation offenbar auch auf die Probe. Dass ein und dieselbe Sache dort Blumenkohl und hier Karfiol heißen kann, nimmt Tony als Störung im reibungslosen kommunikativen Ablauf wahr, der doch durch die gemeinsame Beherrschung einer Sprache, nämlich des Deutschen, sichergestellt sein sollte - oder nicht? Tatsächlich ist der Umstand, dass Sprecher: innen denselben Inhalt mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln ausdrücken, alles andere als unge‐ wöhnlich. In der Sprachwissenschaft bezeichnen wir diese Eigenschaft aller natürlicher Sprachen als sprachliche Variabilität. Wird von diesem Potenzial Gebrauch gemacht, haben wir es mit sprachlicher Variation zu tun. Ob jemand die Variante Blumenkohl oder die Variante Karfiol nutzt, geht nicht mit unterschiedlichen referenziellen Bedeutungen einher (gemeint ist stets das Gemüse), sondern gibt vor allem über die regionale Verortung der Sprechenden Aufschluss. Beide Varianten sind also Ausprägungen einer gemeinsamen Variable, die je nach regionaler Sprechweise unterschiedlich realisiert wird: Während in den meisten Regionen Deutschlands sowie in der Schweiz vom Blumenkohl die Rede ist, nutzt man in Bayern und in Österreich auch die Variante Karfiol. Welche Varianten von Sprecher: innen gewählt werden, ist dementspre‐ chend nicht zufällig verteilt, sondern korrespondiert mit außersprachlichen Faktoren. Die Region ist dabei nur eine unter vielen möglichen außersprach‐ lichen Dimensionen, mit denen wir sprachliche Variation im alltäglichen Sprachgebrauch erklären können. Variation kann in dieser Weise auch Rückschlüsse auf die Kommunikationssituation (eher formell oder eher <?page no="8"?> informell), das genutzte Medium (gesprochen oder geschrieben) oder auch soziale Zugehörigkeiten zulassen (beispielsweise zu einer Alters- oder Be‐ rufsgruppe, einem Freundeskreis oder auch einer Subkultur). Zudem können wir Variation entlang der Zeit beobachten: Wie wir gegenwärtig Deutsch sprechen, unterscheidet sich zum Beispiel erheblich vom Sprachgebrauch deutschsprachiger Menschen aus dem 19. Jahrhundert. Auch Sprachwan‐ del ist in diesem Sinne ein Phänomen sprachlicher Variabilität. Weiterhin können wir feststellen, dass sich sprachliche Variation nicht bloß auf lexikalische Variation wie Blumenkohl vs. Karfiol beschränkt, sondern dass sie alle sprachstrukturellen Ebenen durchzieht. Wir finden im Deutschen: • Aussprachevariation (beispielsweise artikulieren einige Sprecher: in‐ nen ein gerolltes Zungen-R, während andere ein Zäpfchen-R gebrau‐ chen), • Schreibvariation (beispielsweise <ph>gegenüber <f>-Schreibungen wie in Delphin und Delfin), • morphologische Variation (beispielsweise wählen wir manchmal eine lange und manchmal eine kurze Genitivendung, z. B. des Buches oder des Buchs) und auch • syntaktische Variation (z. B. die Variante der Distanzstellung von Pronominaladverbien im norddeutschen Sprachgebrauch: da kann man einiges mit erreichen vs. damit kann man einiges erreichen). • Zudem können wir pragmatische Variation beobachten (etwa hin‐ sichtlich der Frage, wann eine Anrede per Du oder per Sie gewählt wird - und ab welchem Moment man jeweils geneigt ist, vom Sie zum Du zu wechseln). Wer sich mit Phänomenen wie diesen beschäftigt, erkennt schnell: Variation ist kein exotischer Störfall von Sprache, sondern vielmehr ihr Normalfall. Entsprechend ist auch die Idee, wir könnten ‚das Deutsche‘ als homogene Sprache sprechen, unterrichten oder sprachwissenschaftlich beschreiben, zum Scheitern verurteilt. In der Sprachwirklichkeit begegnen uns stattdes‐ sen Varietäten und Stile des Deutschen - also spezifische Sprech- und Schreibweisen, die sich aus einem gemeinsamen Auftreten bzw. einer be‐ stimmten Konstellation von verschiedenen Variablenausprägungen ergeben und die wir nur unter Einbezug ihrer kommunikativen Kontexte erklären können. 8 1 Einleitung <?page no="9"?> Die Beschäftigung mit sprachlicher Variation ist daher auch immer eine Beschäftigung mit dem Verhältnis von Sprache und Gesellschaft. Die sprachwissenschaftliche Disziplin, die sich dieser wechselseitigen Bezie‐ hung annimmt, ist die Soziolinguistik. Ihr geht es darum, herauszuarbei‐ ten, wie sprachliche Variation einerseits aus gesellschaftlichen Bedingungen hervorgeht, anderseits aber auch selbst Mittel von Sprecher: innen ist, soziale Wirklichkeit zu konstruieren. In letzterer Perspektive wird sprachliche Variation dann nicht als etwas gefasst, dem Sprecher: innen aufgrund ihrer sozialen Position ausgeliefert wären, stattdessen steht die stilistische Funktion sprachlicher Variation im Fokus (etwa wenn jemand nur in ganz bestimmten Situationen bestimmte regionale Aussprachevarianten verwendet, um sich zum Beispiel als Repräsentant: in einer Region erkennen zu geben). Wie wir an der eingangs zitierten Klage Tony Buddenbrooks außerdem gesehen haben, ist sprachliche Variation in besonderem Maße geeignet, Sprachreflexion anzuregen. Variation hat das Potenzial, Sprecher: innen bewusst zu werden. Einerseits neigen Sprecher: innen dann dazu, nach Erklärungen für das Nebeneinander von Varianten zu suchen, andererseits geht die metasprachliche Beschäftigung meist auch mit der Bewertung von Varianten einher. Durch ihr Sprechen über Variation zeigen Menschen ihre Spracheinstellungen an, indem sie etwa eine bestimmte Variante oder auch ganze Varietäten vielleicht als ‚(un-)höflich‘, ‚(un-)sympathisch‘, ‚gebildet‘ oder ‚dümmlich‘ wahrnehmen und beschreiben. Auch die Frage, ob eine Variante für einen bestimmten situativen Kontext als ‚angemessen‘ oder ‚unangemessen‘ gilt, kann in dieser Weise von den Sprecher: innen reflektiert und metasprachlich artikuliert werden. Referenzpunkt für sol‐ che Bewertungen ist dabei häufig der eigene Sprachgebrauch - so auch in Tonys Beschwerde über ihre Münchner Köchin: Dass unter anderem Karfiol als markierte, auffällige Form genannt wird, über die Tony den Kopf schüttelt, ergibt sich vor allem aus ihrem gewohnten norddeutschen Sprachgebrauch. Gleichzeitig zeigt sich in Tonys Ausführungen dabei auch, wie der als fremd empfundene Sprachgebrauch nicht bloß mittels einer außersprachlichen Dimension erklärt und charakterisiert wird (nämlich der regionalen Herkunft der Sprecherin), sondern dass das Sprechen der Köchin zudem als derb und unhöflich bewertet wird. So inszeniert Tony die Köchin in ihrer metasprachlichen Erzählung als schreiend und stellt die Formen wahs und wie beliebt einander nicht bloß als regionale, sondern auch als pragmatische Varianten gegenüber (‚unhöflich‘ vs. ‚höflich‘, vor allem aber 1 Einleitung 9 <?page no="10"?> auch ‚ungebildet‘ vs. ‚gebildet‘). Auf Grundlage ihres Sprachgebrauchs wird die Köchin von Tony regional und auch sozial positioniert. Wir sehen also: Sprachliche Variation beschränkt sich mitnichten darauf, dass Sprecher: innen mit unterschiedlichen sprachlichen Formen dieselbe Funktion bzw. Bedeutung ausdrücken. Stattdessen können wir nachvollziehen, wie der Gebrauch von Varianten interpretierbar sein kann - zum einen für uns in einer analysierenden, sprachwissenschaftli‐ chen Perspektive von außen, indem wir die Korrespondenzen zwischen sprachlichen Formen und sozialen Kontexten systematisch erklären; zum anderen auch aus Perspektive der Sprecher: innen, die Variation als sozial und kommunikativ funktional verwenden und bei anderen wahrnehmen. Beiden Perspektiven werden wir in diesem Buch nachgehen, wenn wir auf den folgenden Seiten unterschiedliche Gegenstandsbereiche sprach‐ licher Variabilität sowie soziolinguistische Konzepte und methodische Verfahren kennenlernen, mit denen sich Variation als zentrales Phänomen alltäglicher Kommunikation beschreiben und erklären lassen kann. Ein besonderer Fokus unserer Darstellungen wird dabei auf der Rolle von Variation in der und für die Schule liegen. Neben der soziolinguistischen Be‐ schäftigung mit Variabilität wird daher stets eine sprachdidaktische Per‐ spektivierung stehen. Diese motiviert sich nicht nur bildungspolitisch aus der curricularen Verankerung des Themas, sondern vor allem aus der zentra‐ len Beobachtung, dass Variationsphänomene, die Schüler: innen aus ihrem kommunikativen Alltag kennen, einen hervorragenden Lebensweltbezug bieten, um im Unterricht Reflexion über Sprache und Kommunikation anzuregen und die Variabilität sprachlicher und kommunikativer Strukturen zu thematisieren. Das eigene Sprechen in Freundeskreis und Familie, das alltägliche Schreiben in informellen Kontexten (vor allem mittels digitaler Medien), aber auch der rezipierte Sprachgebrauch in alltäglichen Unterhal‐ tungsmedien ermöglichen den Schüler: innen einen Vergleich zu den in der Schule geforderten und geförderten Sprachgebräuchen. Auf Grundlage einer solchen Beschäftigung mit dem eigenen sprachlichen Repertoire, also mit der Gesamtheit sprachlicher Mittel, über die ein Individuum produktiv und rezeptiv verfügt, können Schüler: innen sprachliche Heterogenität als systematisch und funktional erkennen. Diese „innere Mehrsprachigkeit“ (Wandruszka 1979: 28) eines Individuums kann dann als „situativ funk‐ tionale Mehrsprachigkeit“ (Bredel & Pieper 2021: 80) gefördert werden, die es Sprecher: innen erlaubt, sich hinsichtlich Kommunikationssituation, Adressat: innen und kommunikativen Handlungszielen angemessen und 10 1 Einleitung <?page no="11"?> effektiv auszudrücken - und damit kommunikativ und sozial erfolgreich an unserer Gesellschaft teilzuhaben. Im Folgenden werden wir als Ausgangspunkt für dieses Vorhaben zu‐ nächst in die terminologischen und konzeptuellen Grundlagen einführen. In Abschnitt 1.1 lernen wir zentrale soziolinguistische Begriffe kennen, die wir in den späteren Kapiteln dieses Buches aufgreifen und auf konkrete Variationsphänomene beziehen werden. In Abschnitt 1.2 werfen wir dann einen genaueren Blick auf die Rolle von sprachlicher Variation in der germanistischen Sprachdidaktik, um in Abschnitt 1.3 abschließend über den Aufbau dieses Buches zu informieren. 1.1 Zentrale soziolinguistische Begriffe Mit sprachlicher Variabilität als Eigenschaft natürlicher Sprachen beschäfti‐ gen sich verschiedene sprachwissenschaftliche Disziplinen. So lässt sich ei‐ nerseits aus einer systemlinguistischen Perspektive nach einer „sprach‐ systematische[n] Erklärung grammatischer Varianten“ (Hennig 2017: 25) fragen. Beispielsweise ließe sich so unter die Lupe nehmen, welchen „Ein‐ fluss [die] lautliche[…] und morphologische[…] Struktur von Substantiven auf die Kennzeichnung des Genitivs [nimmt] (die wichtigsten Varianten sind hier -s und -es)“ (ebd.: 25). Variation wird dann als ein sprachinternes, systemimmanentes Phänomen analysiert. Andererseits steht dem eine soziolinguistische Perspektive gegenüber, die Variation in Hinblick auf außersprachliche bzw. kommunikative Fakto‐ ren beschreibt und damit kontext-bezogene Erklärungsansätze entwickelt. Beispielsweise würde die morphologische Variation der kurzen und der langen Genitivendung von Substantiven (-s und -es) dann mit Blick auf kom‐ munikative Kontexte untersucht werden, um in Erfahrung zu bringen, ob es eine systematische Verteilung gibt, in welchen Situationen Sprecher: innen die lange und in welchen die kurze Endung verwenden. In Betracht kommt hier etwa die Annahme, dass die (In-)Formalität der Kommunikationssitu‐ ation oder auch die sprachliche Medialität, nämlich ob gesprochen oder geschrieben wird, mit der Variantenwahl zusammenspielen (vgl. Konopka & Fuß 2016: 254). Die Theorien und Konzepte, die in der Soziolinguistik seit den 1970er Jah‐ ren entwickelt wurden, um die zweitgenannte Perspektive auf sprachliche Variation auszuarbeiten, sind äußerst divers und gehen mit der Ausdifferen‐ 1.1 Zentrale soziolinguistische Begriffe 11 <?page no="12"?> zierung des Faches in vielfältige soziolinguistische Traditionen einher (für eine hervorragende fachgeschichtliche Darstellung vgl. Spitzmüller 2022). Um uns einen Überblick über die verschiedenen Ansätze zu verschaffen, die auch in diesem Buch eine Rolle spielen werden, können wir vereinfachend zwischen Forschungstraditionen einer strukturorientierten Soziolingu‐ istik und denen einer handlungsorientierten Soziolinguistik unterscheiden. Als strukturorientiert bezeichnen wir dabei solche Ansätze, denen es darum geht, 1. Varietäten als strukturelle Subsysteme einer Sprache zu beschreiben und 2. Variation anhand der Korrelation mit sozialstrukturellen Faktoren zu erklären. So wollen strukturorientierte Ansätze primär darstellen, wie sich der Sprachgebrauch zwischen Teilen der Bevölkerung unterscheidet. Durch‐ aus in den Blick gerät aber auch die Frage, wie Individuen einer Gesell‐ schaft systematisch variieren, also zum Beispiel gegenüber verschiedenen Adressat: innen unterschiedliche Formen verwenden. Im anglophonen Raum lassen sich Arbeiten der quantitativen Variationslinguistik diesen Erkenntnisinteressen zuordnen (vgl. Labov 1972; Tagliamonte 2008), in der deutschsprachigen Forschung hat sich in dieser Ausrichtung die Varietätenlinguistik etabliert (vgl. Sinner 2014). Demgegenüber stehen Ansätze einer handlungsorientierten Soziolin‐ guistik, deren Fokus auf den kommunikativen und sozialen Funktionen von Variation in spezifischen Kommunikationskontexten liegt. Diesen Ansätzen geht es weniger um die ‚großen‘ strukturellen Dimensionen einer Gesell‐ schaft, sondern Variation wird auf der Ebene konkreter kommunikativer Ereignisse als kommunikative Ressource in den Blick genommen, mit deren Hilfe Sprecher: innen soziale Bedeutungen und damit soziale Wirklichkeit konstruieren. Disziplinär ist diese Sichtweise in der Ethnographie des Sprechens (vgl. Hymes 1979), der Sprachanthropologie (vgl. Duranti 2009) und auch der Interaktionalen Soziolinguistik (vgl. Gumperz 1982; Hinnenkamp 2018) zuhause. Im Folgenden werden wir beide Perspektiven anhand ihrer zentralen Konzepte kennenlernen. 12 1 Einleitung <?page no="13"?> 1.1.1 Konzepte einer strukturorientierten Soziolinguistik In der germanistischen Varietätenlinguistik hat sich zur Beschreibung der außersprachlichen Faktoren, mit denen sprachliche Variation korrespon‐ diert, in Anschluss an das diasystematische Modell von Coseriu ([1988] 2007: 24 f.) vor allem eine Unterscheidung in drei Variationsdimensionen durchgesetzt: Demnach lässt sich Variation danach klassifizieren, ob sie durch • diatopische (räumliche), • diastratische (sozialstrukturelle) oder • diaphasische (situative) Faktoren erklärbar ist (vgl. auch Sinner 2014: 66). Eine Sprache wie ‚das Deutsche‘ versteht sich nach dieser Auffassung als eine Gesamtheit aus Varietäten, die jeweils durch eine dieser Dimensionen besonders geprägt sind. Häufig ist hierbei von spezifischen Lekten die Rede: Beispielsweise werden Dialekte und Regiolekte als diatopische Varietäten beschrieben, Soziolekte und Ethnolekte gelten als diastratische Varietäten und Funk‐ tiolekte (mit Bezug auf die Kommunikationsfunktion des Sprachgebrauchs) sowie Mediolekte (mit Bezug auf das Medium des Sprachgebrauchs) lassen sich als diaphasische Varietäten klassifizieren. Diese Konzeptualisierung steht innerhalb der Soziolinguistik durchaus auch in der Kritik, da die genannten außerspachlichen Faktoren oftmals viel zu grob sind, um Sprachgebrauch erklären zu können. Was etwa kann man sich angesichts der enormen Vielfalt unterschiedlicher Lebens- und Kommunikationsstile von Jugendlichen als ‚die Jugendsprache‘ vorstellen (vgl. Spitzmüller 2022: 143)? Zudem gilt es zu bedenken, dass tatsächlicher Sprachgebrauch nie nur hinsichtlich einer außersprachlichen Dimension ausgerichtet ist, sondern sich stets in ein Netz unterschiedlicher Dimensio‐ nen einfügt. Diese anderen Aspekte geraten allerdings aus dem Blick, wenn man beispielsweise einen Dialekt wie das Ostmitteldeutsche als diatopische Varietät definiert (Wo spricht man Ostmitteldeutsch? ), obwohl die jeweiligen Sprachgebrauchsformen durchaus auch eine diastratische Dimension (Wer spricht Ostmitteldeutsch? ) sowie eine diaphasische Dimension (In welchen Situationen wird Ostmitteldeutsch gesprochen? ) aufweisen. In der Gesamtheit der Varietäten des Deutschen (in der Varietätenarchi‐ tektur, Flydal 1952) kommt der Standardvarietät eine besondere Bedeutung zu. 1.1 Zentrale soziolinguistische Begriffe 13 <?page no="14"?> Als Standardvarietät oder auch Standardsprache verstehen wir eine überregional gebrauchte, normierte und kodifizierte Varietät. Ihre For‐ men sind also in Nachschlagewerken festgeschrieben. Standardvarietä‐ ten entstehen in historischen Prozessen der Standardisierung. Für das Deutsche liegt etwa ab dem 17. Jahrhundert eine überregionale deut‐ sche Standardsprache zunächst als Schriftsprache vor. Erst ab dem frühen 19. Jahrhundert betreffen institutionelle Bemühungen um Standardisierung auch die mündliche Aussprache: Zunächst findet sich die Normierung der Bühnenaussprache von Theaterschauspieler: innen (vgl. Siebs 1969), später kommt dann dem Sprechen in Radio und Fernsehen ein Vorbildcharakter für die überregionale und formelle Aussprache des Deutschen zu (vgl. Dürscheid & Schneider 2019: 19-21). Sprachliche Standardisierung bedeutet hierbei stets die Minimierung von Variation (sowohl auf Ebene der Lexik, der Grammatik als auch hinsichtlich der Schreibung und Lautung), indem in der Regel pro Variable eine Variante als Standardvariante lizensiert wird. Auf Grundlage dieser sprachhistorischen Prozesse kommt der Standard‐ varietät die kommunikative Funktion einer Verkehrssprache zu, derer sich Sprecher: innen bedienen, wenn sie in überregionalen Kommunikationskon‐ texten unauffällig agieren wollen. Zudem ist die besondere gesellschaftliche Stellung des Standards durch seinen Gebrauch in den öffentlichen Medien sowie in (staatlichen) Institutionen fest verankert. Vor diesem Hintergrund spielt die Beherrschung der Standardvarietät auch eine entscheidende Rolle für eine gesellschaftliche Teilhabe. Der Gebrauch des Standards als Varietät, der das größte Maß gesellschaftlichen Prestiges beigemessen wird, ist in vielen gesellschaftlichen Kontexten eine zentrale Voraussetzung, sozial und kommunikativ erfolgreich handeln zu können. Dementsprechend stellt der Standard auch die Zielvarietät in Prozessen der sprachlichen Bildung dar. Da die Standardsprache im Regelfall nicht als Erstsprache erlernt wird, muss sie in formalen Lernprozessen erworben werden. Der Vorstellung einer völlig einheitlichen Standardvarietät müssen wir jedoch in verschiedener Hinsicht einen Riegel vorschieben: Es lassen sich durchaus Phänomene von Standardvariation beobachten (vgl. Eichinger & Kallmeyer 2008). Einerseits liegt diese vor, wenn mindestens zwei konkur‐ rierende Formen von den Sprecher: innen als standardsprachlich wahrge‐ nommen werden, in den sprachlichen Nachschlagewerken keine eindeutige 14 1 Einleitung <?page no="15"?> Standard-Lizensierung zu finden ist und dementsprechend sprachliche Zweifelfälle bestehen (vgl. Klein 2018). Solche Variationsphänomene sind häufig Indikatoren für Sprachwandel im Prozess. Andererseits handelt es sich beim Deutschen um eine plurizentrische bzw. pluriareale Sprache, da für Deutschland, Österreich und die Schweiz zwar große Überschneidun‐ gen in dem vorliegen, was als Standarddeutsch gilt, aber jeweils hinsichtlich spezifischer Formen lexikalische, grammatische und pragmatische Varia‐ tion zwischen den Standardvarietäten vorliegt. In diesem Sinne können wir durchaus - auf den ersten Blick möglicherweise irritierend - von diatopischer Standardvariation sprechen (vgl. Dürscheid & Schneider 2019: 72-86). Zuletzt ist außerdem zu fragen, inwieweit die kodifizierte Norm einer Standardvarietät tatsächlich im alltäglichen Sprachgebrauch realisiert wird. Eine Sprachwissenschaft, der es nicht darum geht, Sprachgebrauch vorzuschreiben (präskriptiv), sondern die stattdessen den tatsächlichen Sprachgebrauch von Menschen beschreiben möchte (deskriptiv), ist gut damit beraten, den Standard nicht bloß in kodifizierten Regelwerken zu verorten. Stattdessen gilt es, in der Sprachwirklichkeit zu beobachten, welche Formen Sprecher: innen als unauffällige, überregionale und formelle Varianten verwenden, welche regionalen Gebrauchsstandards also im kommunikativen Alltag für das Deutsche zu erfassen sind (vgl. ebd.: 11; vgl. auch Berend 2008). So würden wir beispielsweise die lexikalischen Varianten Brötchen und Semmel nicht etwa mit der Unterscheidung ‚Standard vs. Dialekt‘ beschreiben. Stattessen entsprechen beide Formen den jeweils unauffälligen Varianten eines Gebrauchsstandards in unterschiedlichen deutschsprachigen Regionen. 1.1.2 Konzepte einer handlungsorientierten Soziolinguistik Während strukturorientierte Studien danach streben, sprachliche Variation in einer Gesellschaft anhand von abstrahierenden soziodemographischen Faktoren zu erklären, rücken handlungsorientierte Arbeiten demgegenüber möglichst nah an konkrete Kommunikationsereignisse heran. Sprachge‐ brauch wird dann primär nicht als etwas konzeptualisiert, das sich aus der Stellung von Sprecher: innen in der Gesellschaft ableiten ließe bzw. das sozial determiniert wäre. Stattdessen interessiert man sich dafür, wie Akteur: innen durch kommunikatives Verhalten - also durch den Gebrauch spezifischer Varianten - Kontexte selbst lokal definieren. Beispielsweise lautet eine Fra‐ gestellung in dieser Perspektive dann nicht mehr, wie formell-institutionelle 1.1 Zentrale soziolinguistische Begriffe 15 <?page no="16"?> Situationen dazu führen, dass Sprecher: innen bestimmte Varianten wählen (vom Kontext zum Sprachgebrauch). Stattdessen würde man analytisch rekonstruieren, mit welchen Varianten Sprecher: innen eine formell-insti‐ tutionelle Situation kommunikativ erschaffen (vom Sprachgebrauch zum Kontext). Im Forschungsprozess einer solchen Interaktionalen Soziolin‐ guistik (vgl. Gumperz 1982; Hinnenkamp 2018) geht es dann darum, Schritt für Schritt nachzuvollziehen, mit welchen sprachlichen bzw. kom‐ munikativen Mitteln Akteur: innen in Gesprächen Kontexte anzeigen und wie dieser Zeichengebrauch von anderen Interaktionsteilnehmenden inter‐ pretiert und weiterbearbeitet wird. Im Fokus stehen also kommunikative Prozesse der Kontextualisierung. Wenn uns beispielsweise interessiert, wie Sprecher: innen eine formell-institutionelle Situation kontextualisieren, dann kann unser analytischer Blick unter anderem auf die Anredeprono‐ men fallen: Indem sich die Sprecher: innen gegenseitig siezen, zeigen sie einander handlungsrelevanten Kontext an. Sie kreieren (auch) durch ihren Pronomengebrauch eine formelle Gesprächssituation. Der Gebrauch und die Interpretation von solchen Formen als Kontex‐ tualisierungshinweise erfolgen in der Regel habitualisiert, folgen also bestimmten sozialen Routinen. Für die wechselseitige Interpretation ist dementsprechend ein geteiltes Hintergrundwissen der Sprecher: innen nö‐ tig, das die geäußerten Formen mit Eigenschaften des Kontextes verknüpft. Auer (1986: 24) spricht hier von geteilten Wissensrahmen (frames) bzw. Interpretationsschemata, die nicht bewusst aufgerufen werden müssen, sondern die routinehaft zur Interpretation von sozialen Situationen heran‐ gezogen werden. Auf Grundlage ihrer geteilten Interpretationsschemata können Sprecher: innen dann beispielsweise von der pronominalen Anrede mit Sie oder du auf bestimmte Kontextqualitäten zurückschließen. Die verbalen und non-verbalen Mittel, die in dieser Weise als Kontex‐ tualisierungshinweise funktionalisiert werden können, lassen sich dabei potenziell auf allen sprachlichen Strukturebenen finden. Auer (1986) gibt hierzu einen Überblick: Kinetik und Proxemik [also Positionierung und Bewegungsverhalten im Raum, Anmerkung von F.B. und C.E.], Prosodie (Tonhöhenverlauf, Lautstärke, Ge‐ schwindigkeit, Rhythmus und Gliederung in Tongruppen, Akzent), Blickverhal‐ ten, zeitliche Platzierung (Pausen, Simultansprechen), Varietäten-/ Sprachwahl, lexikalische Variation sowie sprachliche Formulierungen. (Auer 1986: 26) 16 1 Einleitung <?page no="17"?> Auers Liste spiegelt dabei den starken Fokus der Interaktionalen Soziolingu‐ istik auf Face-to-Face-Gespräche wider. Kontextualisierungsverfahren wer‐ den hier vor allem in Merkmalen der Mündlichkeit identifiziert. Mittlerweile hat sich allerdings durchaus auch eine Soziolinguistik der Schriftlichkeit formiert, die dezidiert an Konzepte der Interaktionalen Soziolinguistik anknüpft und untersucht, wie in der geschriebenen Kommunikation Kon‐ textualisierung vollzogen wird (vgl. Spitzmüller 2012; Androutsopoulos & Busch 2020). In dieser Perspektive werden dann beispielsweise Kontextuali‐ sierungsverfahren mittels graphematischer oder typographischer Variation in Texten untersucht. Zentral - egal ob im Gesprochenen oder im Geschrieben - ist in jedem Fall, dass eine kontextualisierende Form in der Regel keine eindeutig festgelegte Bedeutung aufweist, sondern der situativen Interpretation offen‐ steht, die sich in der Regel aus dem Zusammenwirken mehrerer Merkmale ergibt: Die eine Form signalisiert, wie die andere gemeint sein könnte, und andersherum. Beispielsweise würde ein Wechsel von einem informel‐ len Smalltalk zwischen befreundeten Kolleg: innen in einen formelleren Gesprächsabschnitt, in dem es um Berufliches geht und die Sprecher: innen in ihren institutionellen Rollen sprechen, wohl nicht nur durch sprachliche Mittel angezeigt werden, sondern beispielsweise auch durch einen Wechsel in den Körperhaltungen. Das gemeinsame Auftreten (Kookkurrenz) von Kontextualisierungs‐ hinweisen wird in der Interaktionalen Soziolinguistik auch mit dem Kon‐ zept des sozialen Stils gefasst (vgl. Selting 2008). Im Unterschied zum Varietäten-Begriff, mit dem Soziolinguist: innen Sprachgebrauch ‚von au‐ ßen‘ vermessen, hebt der Begriff des sozialen Stils darauf ab, dass eine Variantenbündelung von den Beteiligten selbst als spezifisch erkannt und kontextualisierend verwendet werden kann. Soziale Stile erscheinen dann als typische Sprech- oder Schreibweisen einer bestimmten Kommuni‐ kationssituation oder sozialen Gruppe. In diesem Sinne ‚gehören‘ Stile bestimmten Akteur: innen bzw. Akteursgruppen und können genutzt wer‐ den, um soziale Zugehörigkeit bzw. soziale Identität anzuzeigen (vgl. Spitzmüller 2022: 199). Gleichzeitig ergibt sich aus dieser sozialen Verortung von gemeinsam auftretenden Varianten als erkennbare Stile aber auch die Möglichkeit der Nachahmung bzw. der Re-Kontextualisierung. Stile werden dann als ‚fremde Stimme‘ in die eigene Rede integriert und übernehmen damit wiederum neue Funktionen. Solche Übernahmen werden Stilisierungen 1.1 Zentrale soziolinguistische Begriffe 17 <?page no="18"?> genannt (vgl. ebd.: 200; Hinnenkamp 2018: 155). Temporäre Inszenierungen von fremden Stilen haben dabei häufig karikierenden Charakter (beispiels‐ weise, wenn in einer Lästersequenz der Sprachgebrauch einer Person nach‐ geäfft wird und damit eine sozial bewertende Charakterisierung einhergeht). Teils können Stilisierungen aber auch affirmative Haltungen zum Ausdruck bringen; beispielsweise, indem Sprecher: innen durch Stilisierung versuchen, die positiven Werte, mit denen ein sozialer Stil verbunden ist (vielleicht eine besondere Coolness oder auch eine besondere Autorität), für die eigene Identitätskonstruktion nutzbar zu machen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass der Fokus auf kommuni‐ kative Praktiken von Menschen es der handlungsorientierten Soziolingu‐ istik ermöglicht, nachzuvollziehen, wie sprachliche Variation entscheiden‐ den Anteil an der alltäglichen Herstellung von Bedeutung trägt. Während wir mittels einer strukturorientierten Perspektive verstehen können, wie he‐ terogen sprachliche Ressourcen in einer Gesellschaft verteilt sind und nach welcher Systematik spezifische Varianten gemeinsam auftreten, erlauben uns handlungsorientierte Konzepte wie etwa die Kontextualisierungstheo‐ rie, die Funktion dieser Varianten in konkreten Kommunikationsereignissen zu erklären. 1.2 Sprachdidaktische Perspektiven auf sprachliche Variation Die in den vorausgehenden Abschnitten diskutierten Aspekte sprachlicher Variation haben vielfältige sprachdidaktische Bezugspunkte bzw. können diese haben. Zwar stehen im Deutschunterricht traditionell Bemühungen im Mittelpunkt, standardsprachliche Normen in Lautung, Orthographie, Wortschatz und Grammatik zu vermitteln, um Schüler: innen zu einer Standard- und Bildungssprache als Zielvarietät zu führen. Die Vielfalt und Variation des Deutschen kann in diesem Prozess aber eine wichtige Funktion als Anlass für Sprach- und Normenreflexion innehaben. Diese wiederum ist notwendige Voraussetzung, um Schüler: innen mit der kom‐ munikativen Kompetenz auszustatten, die eigene innere Mehrsprachigkeit in funktionaler Weise nutzbar zu machen, den variablen Sprachgebrauch, der sie alltäglich umgibt, sinnvoll zu interpretieren, und somit schließlich ein sozial und kommunikativ erfolgreiches Leben zu führen. In Anschluss an Neuland (2004) gilt es daher, das unbewusste, implizite und vor-theoretische 18 1 Einleitung <?page no="19"?> Sprachgefühl, mit dem Schüler: innen Variation zunächst begegnen, zu einem Sprachdifferenzbewusstsein zu entwickeln. Teil des Aufbaus eines Sprachdifferenzbewusstseins, mit dem Schüler: in‐ nen sprachliche Heterogenität durchdringen können, ist es, Normen nicht einfach nur als Selbstzweck zu befolgen, sondern hinsichtlich ihrer Funk‐ tionen und ihrer Variabilität wahrzunehmen und zu verstehen. Dass Normen hierbei im Plural stehen, ist zentral: Zwar steht die Standardnorm im Zentrum der Sprachenbildung, diese jedoch als kommunikativ funktional zu begreifen, kann gerade auch unter Betrachtung der Normenvielfalt gelingen, die wir in Varietäten und Stilen abseits der Standardsprachlichkeit finden können. Der Lehrkraft kommt somit nicht nur die Aufgabe zu, (Stan‐ dard-)Norminhalte zu vermitteln und ihre Anwendung sowie Einhaltung zu kontrollieren. Durch einen normreflektierenden Sprachunterricht sollten außerdem Normierungsprozesse und Normlegitimationen transparent gemacht und kommunikative Geltungsbereiche von Normen aufgezeigt werden. Den Schüler: innen kann so vermittelt werden, dass die souveräne Beherrschung sprachlich-kommunikativer Normen Grundvoraussetzung für kommunikativen und sozialen Erfolg ist und dass dabei der Standard‐ norm eine gesellschaftlich besonders zentrale Rolle zukommt, diese aber niemals absolut ist und je nach Sprachgebrauchskontext auch andere, lokale sprachliche und kommunikative Normen (etwa von Freundeskreisen, Subkulturen, Institution usw.) eine Rolle spielen können. Aufgabe sprachdidaktischen Handelns ist es dabei immer auch, den Schüler: innen mehr zur Verfügung zu stellen als bloße Deskription: Deskriptives Forschen darf […] nicht gegen das Bedürfnis ausgespielt werden, in bestimmten Handlungskontexten Informationen über präskriptive Normen und ihren Geltungsanspruch zu bekommen. (Peyer 2014: 350) Dieses Zugänglichmachen von präskriptiven Normen kann dabei mittels der Beschäftigung mit den Grenzen einer (Standard-)Norm gelingen. So könnte ein Weg sein, Standardvariation zum Unterrichtsthema zu machen, um auf dieser Basis dann grundsätzlicher über die Variabilität von Sprache nachzudenken. Bredel & Pieper (2021: 76) entwerfen diesbezüglich eine Dreigliederung (vgl. Tab. 1). 1.2 Sprachdidaktische Perspektiven auf sprachliche Variation 19 <?page no="20"?> Beispiele 1. systembedinge, feste Formen mit fordert den Dativ Kanne schreibt man mit zwei n Das Präteritum von schwimmen heißt schwamm Der Plural von Vater ist Väter 2. sprachliche Zweifelsfälle Der Friede/ der Frieden Ende diesen/ dieses Jahres substanziell/ substantiell Alptraum/ Albtraum 3. Sprachgebrauchsvarian‐ zen viele Grüße liebe Grüße herzliche Grüße freundliche Grüße beste Grüße Tab. 1: Feste Formen - Zweifelsfälle - Gebrauchsvarianzen (in Anlehnung an Bredel & Pieper 2021: 76) Während die Standardnorm nur in der ersten Kategorie der festen Formen Variation unterbindet bzw. für Schüler: innen die Gefahr sanktionierter Normverletzungen bedeutet, kann die zweite Kategorie Gelegenheit bieten zu reflektieren, „wie das Sprachsystem funktioniert und dass es manchmal gute Gründe gibt zu zweifeln“ (ebd.). Die dritte Kategorie schließlich kann das Augenmerk der Schüler: innen auf die pragmatisch-kommunikative und auch soziale Varianz von Sprachgebrauch lenken und damit zu der Erkenntnis befähigen, dass sich Sprachgebrauch einer binären Bewertung in ‚richtig vs. falsch‘ häufig entzieht. Gerade für die letztere Perspektive kann dabei auch die Beschäftigung mit sozial bedingter Sprachvariation abseits der geschriebenen Standardsprache eine wertvolle didaktische Ressource sein. Im Rahmen einer soziolinguis‐ tisch informierten sprachdidaktischen Perspektive auf Variation können Sprecher: innen und Schreiber: innen dann als Akteur: innen in den Blick genommen werden, die sprachliche Mittel aus ihrem Repertoire auswählen und im Sinne eines individuellen oder gruppentypischen Sprachgebrauchs einsetzen. Am Beispiel von Soziolekten kann Schule den Schüler: innen deutlich machen, dass sie als Individuen und Gruppen einen aktiven Beitrag zu Prozessen des Sprachgebrauchs- und Sprachnormwandels leisten. Generell hat sich die germanistische Sprachdidaktik des Themas Variation und Varietäten in der Vergangenheit nicht gerade ausführlich angenommen. 20 1 Einleitung <?page no="21"?> Neuland jedoch hat sich kontinuierlich sowohl auf theoretisch-allgemei‐ ner (Geschichte, Ziele und Vorgehen bei der Behandlung sprachlicher Varietäten im Deutschunterricht, vgl. etwa Neuland 1994, 2004, 2006a, b) als auch auf konkreter Ebene (etwa Jugendsprache als Gegenstand des Deutschunterrichts, vgl. etwa Neuland 2003, 2006c, 2008) intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, warum, wozu und wie andere Varietäten als die Standardsprache innerhalb des Deutschunterrichts thematisiert werden sollten. Dabei sind das Potenzial und die verschiedenen Gründe offensichtlich, warum und mit welchen Zielen der Deutschunterricht Nonstandardvarie‐ täten behandeln sollte (nach Neuland 2004: 4-7; Neuland 2006a: 15 f., 24; Neuland 2006b: 61; Neuland & Peschel 2013: 211): • Motivation durch das Anknüpfen an die Spracherfahrungen und Interessen der Lernenden oder aber gerade durch die Andersartigkeit. • Einblick in die innere Heterogenität und Komplexität der deutschen Sprache. • Einsicht, dass auch nonstandardsprachliche Varietäten unter bestimm‐ ten Kommunikationsbedingungen eine kommunikativ, sozial und funktional angemessene Wahl darstellen können. • Ausbau der Stilkompetenz der Lernenden im Kontext von Sprachviel‐ falt und Sprachwandel. Hierin enthalten ist das Ziel des Verstehens int‐ rakultureller Differenzen (Sprach- und Kulturbewusstheit) zwischen verschiedenen Dialekten und Soziolekten, Fachsprachen und sozialen Stilen. • Vertiefte Kenntnisse der mehrdimensionalen Normen und Ge‐ brauchsweisen der deutschen Sprache, Entwicklung eines nicht nur normgebundenen, sondern normreflektierenden Sprachdifferenz‐ bewusstseins. Zusammenfassend lassen sich als Ziele die Entwicklung von sprachreflexi‐ ven Kompetenzen (Sprachnormbewusstsein, Sprachdifferenzbewusstsein, Stilkompetenz), sprachanalytischen Kompetenzen sowie von sprach‐ produktiven Kompetenzen auf Seiten der Lernenden anführen, wobei die Grundlage aller drei anzustrebenden Kompetenzen eine rezeptive Kom‐ petenz (als passive Kenntnis) in der jeweiligen Varietät ist. Rezeptive, reflexive und analytische Kompetenzen sind dabei weitaus wichtiger als die produktiven Kompetenzen, da die Schüler: innen nicht vordergründig die Verwendung der thematisierten Sprachgebräuche lernen sollen, sondern 1.2 Sprachdidaktische Perspektiven auf sprachliche Variation 21 <?page no="22"?> anhand der Beschäftigungen „vielmehr etwas über die deutsche Sprache gelernt werden [soll]“ (Neuland & Peschel 2013: 211). Zwei der Lernziele bzw. Kompetenzbereiche wollen wir dabei im Folgen‐ den gesondert hervorheben: die Sprachnormenkritik und Sprachkritik‐ kompetenz. So lässt sich an sozial bedeutsamer Sprachvariation hervorra‐ gend zeigen, dass die Sprachnormen, die die Schüler: innen oft für generell verbindlich halten, keine absoluten Normen, sondern nur Normen der standardsprachlichen Varietät sind. Soziolekte stellen demgegenüber einen anderen Normengeltungsbereich dar, der einen Sprachgebrauch ermöglicht und verlangt, der standardsprachlich eventuell sanktioniert würde. Umge‐ kehrt kann die Befolgung standardsprachlicher Normen im Geltungsbereich eines Soziolekts einen Verstoß darstellen, mit dem man die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe in Frage stellen würde (vgl. die Ausführungen zu sozialem Stil weiter oben). Über die semantischen und pragmatischen Besonderheiten sowie die Sprachnormen von Sprachgebräuchen abseits des geschriebenen Standards zu reflektieren, führt dabei gleichzeitig auch zu einer Reflexion der (Gültig‐ keit und Beschränktheit von) standardsprachlichen Normen sowie zu einer Reflexion der Funktion, Entstehung und des Wandels von Sprachnor‐ men. Lernende sollen dadurch nicht nur „Verständnis für die Funktionen der Standardvarietät“, sondern „auch der soziolektalen, ethnolektalen und dialektalen Varietäten“ entwickeln, indem „Normen vermittelt, aber auch problematisiert werden“ (Bittner & Köpcke 2008: 76), was kontrastiv oft leichter fällt. So wird Lernenden die Normenvielfalt und -konkurrenz im Deutschen sowie die Tatsache deutlich, dass Normen kein Selbstzweck sind, sondern dass die souveräne Beherrschung der sprachlich-kommunikativen Normen Grundvoraussetzung für kommunikativen und sozialen Erfolg ist und dass Sprachwandel und Sprachvielfalt nicht als ‚Sprachverlotterung‘ und ‚-niedergang‘ zu gelten haben, sondern als (oft funktionaler) Reichtum anzusehen sind. Sprache wird dann als zentrale menschliche Fähigkeit deutlich, die mehr als ein reines Mittel des Informationsaustausches ist, sondern zum Beispiel auch Identitätskonstruktionen und -demonstrationen leistet. In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept einer didaktischen Sprachkritik mit dem Ziel der Ausbildung einer Sprachkritikkompetenz (Kilian 2020, Kilian et al. 2016: 114-173) zu sehen. Es greift sehr ähnliche Aspekte auf und hat ‚mündige Bürger: innen‘ zum Ziel, die fähig zu linguis‐ tisch begründeten Entscheidungen und Positionierungen in Bezug auf die 22 1 Einleitung <?page no="23"?> kommunikativen und kognitiven Leistungen von Sprache, Sprachnormen und Sprachgebrauch sind (Kilian et al. 2016: 114 f.) - und damit (selbst-)kri‐ tisch auf fremden und eigenen Sprachgebrauch sowie auf den öffentlichen Diskurs über Sprache und ihre gesellschaftliche und mediale Bewertung schauen können. So ist es beispielsweise sinnvoll und wünschenswert, wenn Jugendliche, die jugendspezifische oder ethnolektale Sprachstile sprechen, sich einerseits reflexiv damit auseinandersetzen (können), wie diese Sprechweisen von äl‐ teren Sprecher: innen des Deutschen wahrgenommen und auf die Sprecheridentität projiziert werden (z. B. als Indiz für fehlende Sprachkompetenz, fehlende Intelligenz und eine aggressive und ggf. integrationsunwillige Grundhaltung); und wenn sie sich andererseits auch explizit mit Argumen‐ ten verbal gegen die öffentliche Verunglimpfung ihrer Sprechweisen wehren können. Sprachkritischer Deutschunterricht setzt dabei als Beurteilungshinter‐ grund und Maßstab tendenziell die Leitnorm der geschriebenen Standard‐ sprache voraus, die als Ausgangs- und Zielpunkt diachroner, diatopischer, diaphasischer und diastratischer Variation vorgelagert bleibt (Kilian et al. 2016: 117). Dabei ist das Ziel eine Sprach(kritik)kompetenz sowie Sprachre‐ flexionskompetenz, d. h. nicht einfach die (ggf. unreflektierte) Normkennt‐ nis und -befolgung, sondern die Befähigung einer jeden Lernerin bzw. eines jeden Lerners zur bewussten und intentionalen Befolgung (z. B. sprachliche Korrektheit und funktionale Ange‐ messenheit) oder bewussten und intentionalen Durchbrechung (z. B. situativ, ästhetisch oder ideologisch) dieser Normen. (Kilian 2020: 413) Erst vor dem Hintergrund der Existenz und Kenntnis verschiedener sprach‐ licher Variationsmöglichkeiten entstehen der Bedarf und die Möglichkeit einer bewussten Reflexion und Entscheidung für das eigene Sprachverhal‐ ten und die funktional und situativ angemessene Auswahl aus dem eigenen Repertoire. Ziel ist letztlich nicht die einzelne konkrete Bewertung (als Produkt), sondern vielmehr der Weg dorthin: die Erarbeitung der Entschei‐ dung, Begründung und Positionierung (Kilian et al. 2016: 163). Schüler: innen lernen dann, dass nonstandardsprachliche Varianten und Varietäten nicht pauschal abzuwerten sind, sondern vor dem Hintergrund ihrer funktionalen Angemessenheit und mit Blick auf die Leistungen ihrer sprachlichen Mittel bei der Lösung kommunikativer und kognitiver Aufgaben zu bewerten und zu beurteilen sind. 1.2 Sprachdidaktische Perspektiven auf sprachliche Variation 23 <?page no="24"?> Im Sinne einer steigenden Abstraktion kann man die sprachkritische Auseinandersetzung mit Sprachvariation demnach in drei verschiedene Ziele differenzieren (Kilian 2020: 413): 1. (v. a. standardsprachliche) Normenkenntnis 2. Sprachreflexionskompetenz (Sprachbewusstheit) 3. Sprachkritikkompetenz Empirische Studien legen jedoch nah, dass in der unterrichtlichen Reali‐ tät Lehrkraft-Bewertungen immer noch einem normativen Konzept von Standardsprache zu folgen scheinen, das keine Variation zulässt und Abwei‐ chungen schlicht als ‚Fehler‘ deklariert (vgl. Kilian 2020: 418). Hier möchten wir mit dem vorliegenden Buch einen Ansatz- und Reflexionspunkt bieten, indem wir die soziolinguistischen Beschreibungen und Erklärungen vielfäl‐ tiger Phänomene an die didaktischen Ziele und praktischen Erfordernisse des schulischen Deutschunterrichts anbinden. 1.3 Aufbau dieses Bandes Die Ziele der folgenden Kapitel sind damit gesteckt: Es geht uns darum, in ausgewählte Gegenstandsbereiche aktueller soziolinguistischer Forschung einzuführen, ihre zentralen theoretischen Konzepte und empirischen Ergeb‐ nisse darzustellen und damit ein Verständnis für die kommunikativen und sozialen Funktionen sprachlicher Variation im Deutschen zu vermitteln. Dreh- und Angelpunkt, der uns bei der Auswahl der jeweiligen Schlaglichter leitet, ist dabei der kommunikative Alltag von Schüler: innen, dessen sprach‐ liche Heterogenität nicht nur aus sprachwissenschaftlicher Perspektive durchdrungen werden soll, sondern der aus sprachdidaktischer Perspektive als Gegenstand des Deutschunterrichts beleuchtet und ausgearbeitet wird. Dementsprechend liegt mit diesem Band auch keine allgemeine Einfüh‐ rung in die Soziolinguistik vor (wie sie jüngst etwa Spitzmüller 2022 oder Neuland 2023 vorgelegt haben) und er verfolgt auch nicht die Absicht, das differenzierte Themenfeld sprachlicher Variation in seiner Gänze darzule‐ gen. Stattdessen werden in den folgenden vier Kapiteln solche Themen im Mittelpunkt der Diskussion stehen, für die sich ein direkter Bezug auf die sprachdidaktische Praxis in der Schule ergibt. Dies ist in Kap. 2 zunächst die Beschäftigung mit Variation und Schreibung. Schriftlichkeit wird als soziolinguistischer Gegenstand konturiert und graphische Variation als 24 1 Einleitung <?page no="25"?> Mittel sozialer Kontextualisierung beleuchtet. Das Kapitel spitzt dann auf die Rolle von Schreibvariation im Kontext digitaler Medien zu und adressiert so einen Gegenstandsbereich, der sich zum einen als alltagsprägend im Leben von Schüler: innen abzeichnet, zum anderen aber auch anschlussfähig für die reflexive Vermittlung orthographischer Kompetenzen ist. Kap. 3 schließt daran mit einem breiten Blick auf Variation und Gram‐ matik an. Wir thematisieren hier grundsätzlich das Verhältnis geschriebe‐ ner und gesprochener Sprache und zeigen auf, wie mit entsprechenden Kommunikationsbedingungen spezifische Variationsphänomene und ent‐ sprechende kommunikative Funktionalitäten einhergehen. Ein besonderer Fokus wird dabei auf Entwicklungstendenzen und Zweifelsfällen im Bereich der Verbal- und Nominalflexion sowie auf syntaktischen Phänomenen lie‐ gen, um auf funktionale Variation abseits der Standardvarietät aufmerksam zu machen. Nach diesem systematischen Blick auf grammatische Variation folgt mit Kap. 4 eine Beschäftigung mit Variation und kommunikativen Stilen am Beispiel von Ethnolekten. Wir werden uns hierfür noch einmal allgemeiner mit dem Konzept des kommunikativen Stils beschäftigen und die pragmatische Funktionalisierung von Variation in den Blick nehmen. Das Kapitel führt schließlich exemplarisch in zwei zentrale Themen der germanistisch-soziolinguistischen Sprachkontaktforschung ein - nämlich zunächst in das Phänomen ‚Gastarbeiterdeutsch‘, dann in gegenwärtige Tendenzen eines ethnolektalen Sprechens. In Kap. 5 nehmen wir dann abschließend eine Metaperspektive auf die Themengebiete dieses Buches ein, indem wir uns mit Variation und Sprachideologie beschäftigen. Wir werden hierbei zentrale Konzepte ken‐ nenlernen, um die gesellschaftlichen Reflexionen von sprachlicher Variation untersuchen zu können, und damit auch der sozialen Dynamik auf den Grund gehen, auf deren Basis sprachlichen Formen soziale Bewertungen zugeschrieben werden. Das Kapitel verfolgt dabei eine dezidiert kritische Perspektive auf den Themenkomplex Sprache und Macht und ergänzt so einen zentralen Diskurstrang gegenwärtiger soziolinguistischer Forschung. In dieser Weise werden Sie auf den folgenden Seiten mit Themen in Be‐ rührung kommen, die den curricularen Kernbereichen Orthographie, Gram‐ matik und Sprachreflexion entsprechen. Anhand authentischer Beispiele werden Sie erfahren, welche lebensweltlichen Bezüge dieser Themen jeweils eine Nutzbarmachung für den Deutschunterricht motivieren können. So wird jedes Kapitel den Bogen zu didaktischen Potenzialen schlagen und 1.3 Aufbau dieses Bandes 25 <?page no="26"?> Ideen für den Unterricht liefern, nachdem zentrale sprachwissenschaftliche Konzepte und empirische Ergebnisse eingeführt wurden. Zudem wird jedes Kapitel mit einer Reihe von Übungsaufgaben abgeschlossen, zu denen wir Sie herzlich einladen, um Gelesenes zu reflektieren oder weiterzudenken. Die Literaturhinweise an den Kapitelenden enthalten nur die wichtigsten Quellen, die in diesem Band zitiert werden. Das vollständige Verzeichnis, in dem die gesamte zitierte sowie unserer Ansicht nach wichtige weiterfüh‐ rende Literatur aufgeführt ist, findet sich bei der Präsentation dieses Bandes unter www.narr.de. 1.4 Weiterführende Literatur Ein ausführliches Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel finden Sie unter www.narr.de. Bittner, Andreas; Köpcke, Klaus-Michael (2008): Sprachwandel- oder Verlotterungs‐ prozesse. Versuch einer Versachlichung. In: Denkler, Markus et al. (Hrsg.): Frisch‐ wärts und unkaputtbar. Sprachverfall oder Sprachwandel im Deutschen. Münster: Aschendorff, S.-59-80. Dürscheid, Christa; Schneider Jan G. (2019): Standardsprache und Variation. Tübin‐ gen: Narr Francke Attempto. Kilian, Jörg (2020): Didaktische Sprachkritik und Deutschunterricht. In: Niehr, Thomas; Kilian, Jörg; Schiewe, Jürgen (Hrsg.): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart: Metzler, S.-413-421. Neuland, Eva (2006): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Unter‐ richt. Zur Einführung. In: Neuland, Eva (Hrsg.): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht. Frankfurt/ Main: Lang, S.-9-27. Spitzmüller, Jürgen (2022): Soziolinguistik. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. 26 1 Einleitung <?page no="27"?> 2 Variation und Schreibung In diesem Kapitel werden wir uns mit Schrift und Schreibungen als soziolin‐ guistischen Gegenständen beschäftigen. Wir stellen dar, wie Schreibungen je nach Kontext anderen Angemessenheitsnormen unterliegen und wie Schreibende graphische Varianten als Kontextualisierungshinweise funk‐ tionalisieren. Um diese Kontextgebundenheit nachvollziehen zu können, gilt es zunächst, Schreiben als sozial ausdifferenzierte, variable Praxis zu perspektiveren (→ 2.1) und die Unterscheidung von textorientiertem und interaktionsorientiertem Schreiben kennenzulernen (→ 2.2). Wir wer‐ den uns dann den formalen Variationstypen von Schreibungen zuwenden (→ 2.3), um anschließend ausgewählte Formbereiche in ihren kommuni‐ kativen und sozialen Funktionen nachzuvollziehen. Anknüpfend an die alltägliche Schreibpraxis von Schüler: innen werden wir dabei vor allem Variation digitaler Schreibungen in mobilen Messenger-Anwendungen in den Blick nehmen: zuerst hinsichtlich von varianten Wortschreibungen (→ 2.4), dann mit Bezug auf den Gebrauch von Interpunktionszeichen (→ 2.5). Abschließend wird das Kapitel außerdem einen Ausblick geben, wie sich eine funktionale Perspektive auf Schreibvariation in digitalen Medien als Ressource für den Deutschunterricht nutzbar machen lässt (→ 2.6). 2.1 Schreiben als soziale Praxis: Literalität und literale Praktiken Wohl kaum einer Institution des öffentlichen Lebens kann eine so immense Bedeutung für die gesellschaftliche Verankerung von Schriftlichkeit bei‐ gemessen werden wie der Schule. Nicht nur findet Schriftspracherwerb wesentlich in der Schule statt - schulischer Alltag ist auch neben dem Schreibunterricht im engeren Sinne maßgeblich durch geschriebene Spra‐ che geprägt. Schüler: innen lesen und schreiben Texte in verschiedenen Unterrichtsfächern, hinsichtlich unterschiedlicher Aufgabenstellungen und kommen so täglich mit einer Vielzahl von schulischen Textsorten in Berüh‐ rung. Aber auch abseits fachlicher Inhalte ist die Organisation des schuli‐ schen Alltags auf Schrift angewiesen. Stundenpläne, Hausaufgabenhefte, Aushänge an schwarzen Brettern, Elternbriefe - das soziale Leben der Schule wird maßgeblich durch Geschriebenes strukturiert und organisiert. <?page no="28"?> Eine solche Einbindung von geschriebener Sprache in ein soziales Hand‐ lungsfeld wie der Schule lässt sich mit dem Konzept der Literalität (engl. literacy) beschreiben. Als Literalität versteht man zuvorderst „die Fähigkeit, lesen und schrei‐ ben zu können“ (Dürscheid 2016: 54). Dies umfasst grundsätzlich die sprachliche Kompetenz, Wörter in einer schriftlichen Form zu produzie‐ ren bzw. zu rezipieren, geht aber über eine solche rein technische Lesart hinaus, indem vor allem auch die soziale und kulturelle Einbettung von Schriftlichkeit in den Blick genommen wird. Literale Personen sind in der Lage, ihren sozialen Alltag mittels geschriebener Sprache erfolgreich zu bewältigen, partizipieren also kompetent an der Schriftkultur einer Gesellschaft. Literalität wird in dieser Weise als soziale Praxis gefasst, die sich nicht abseits der spezifischen Kontexte beschreiben lässt, in die Schreiben und Lesen jeweils eingebettet sind und in denen Schrift erst ihre soziale Bedeu‐ tung erlangt (vgl. Barton & Hamilton 1998; Pabst & Zeuner 2011). Wenn Menschen beispielsweise Graffiti, Philosophieklausuren oder Einkaufslisten produzieren, dann nutzen sie jeweils ähnliche, wenn nicht sogar identische Schrifttechnologien (etwa ein alphabetisches Schriftsystem und einen Stift). Was es jedoch jeweils heißt bzw. eben sozial bedeutet, zu schreiben, das ist zwischen diesen drei Verwendungskontexten von Schrift grundverschieden (Wer entwirft Graffiti und wer verfasst Philosophieklausuren und Einkaufs‐ zettel? An welche Leser: innen wenden sich die Texte jeweils und welche sozialen Beziehungen etablieren sie? Wie öffentlich oder privat sind die Texte jeweils? Welche materiellen Voraussetzungen gehen mit den Texten jeweils einher? Welche institutionellen Rahmungen hat für diese Texte jeweils Bestand? usw.). Wir schreiben (und lesen) also immer aus einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Position heraus und schreiben uns - in einem ganz wörtlichen Sinne - in soziale Kontexte ein. In Anschluss an die Forschungstradition der New Literacy Studies können wir diese soziale Einbettung von Schriftlichkeit mittels zweier Konzepte nachvollziehen (vgl. Gee 2015): Jede Begebenheit im Alltag, die den Gebrauch von Schrift beinhaltet, lässt sich zunächst als literales Ereignis (engl. literacy event) verstehen. Hier geht es darum, deskriptiv zu erfassen, 28 2 Variation und Schreibung <?page no="29"?> wie Menschen Schrift in ihre Handlungen einbeziehen. Solche literalen Ereignisse sind in ihrer kontextuellen Einbettung immer einzigartig. Wenn beispielsweise eine Schülerin einen Aushang für das schwarze Brett ihrer Schule entwirft, um Gitarrenunterricht anzubieten, dann ist das ein lokali‐ sierbares Ereignis, das in seiner Spezifik nur ein einziges Mal realisiert ist bzw. wird. Zugleich wird allerdings auch deutlich, dass die Aktivität, ein Papier mit einem Angebot zu beschreiben und es an einer öffentlichen Tafel anzubringen, einem Handlungsmuster folgt, das über das Einzelereignis hinausgeht. Der Aushang ist weder der erste seiner Art, noch wird er der letzte bleiben. Literale Ereignisse lassen sich in dieser Weise als Realisierung von Handlungsroutinen verstehen, die wir literale Praktiken (engl. literacy practices) nennen. Literale Praktiken sind Aktivitätstypen, die sich um die Verwendung von Schrift zur Lösung von wiederkehrenden Aufgaben in einer Ge‐ meinschaft ausgebildet haben - zum Beispiel eben die Praktik, Aushänge an schwarze Bretter anzubringen. Literalität wird hier nicht als individuelle, kognitive Fähigkeit, sondern als materialisiertes Handlungsmuster von sozialen Kollektiven perspektiviert. Praktiken sind im impliziten Handlungswissen von Mitgliedern einer Ge‐ sellschaft verankert und stellen gewissermaßen die Anleitungen dar, wie sozial eingebettete Aktivitäten ausgeführt, aber vor allem auch sinnhaft in‐ terpretiert werden können. Dabei kann sich das Wissen über Praktiken und damit auch die Bewertung von Praktiken zwischen verschiedenen sozialen Gruppen natürlich beträchtlich unterscheiden. Was es beispielsweise sozial bedeutet, Graffiti im öffentlichen Raum anzubringen, darüber dürfte es wohl keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens geben (vgl. Tophinke 2019). 2.2 Textorientiertes und interaktionsorientiertes Schreiben Der Blick auf die verschiedenen literalen Praktiken, die uns im Alltag begegnen, verdeutlicht nun, dass wir es nicht mit einer homogenen Lite‐ 2.2 Textorientiertes und interaktionsorientiertes Schreiben 29 <?page no="30"?> ralität zu tun haben. Stattdessen stellt sich der Gebrauch von Schrift in Gesellschaften eher als ein Mosaik verschiedener Literalitäten bzw. eben verschiedener literaler Praktiken dar. Einen besonderen Status haben dabei schulische literale Praktiken (vgl. Feilke 2016; Leßmann 2020), da sie den Grundstein des Schriftspracherwerbs bilden. Was in unserer Gesellschaft als prototypische Schriftlichkeit gilt und welchen normativen Ansprüchen Texte sich stellen müssen, ist maßgeblich also durch die literalen Praktiken der Schule bestimmt. Es lohnt sich daher, einmal zu reflektieren, welche literale Praxis in der Schule eigentlich gepflegt wird: Die Literalität, die im schulischen Unterricht erworben und eingeübt wird und so den Status einer ‚prototypischen Schriftlichkeit‘ erlangt, zielt auf Texte zur asynchronen Kommunika‐ tion ab. Die Produktion und die Rezeption eines solchen Textes sind also raum-zeitlich voneinander entkoppelt - das, was irgendwann und irgendwo geschrieben wurde, wird irgendwann und irgendwo einmal gelesen. Häufig ist außerdem ungewiss, wer den Text lesen wird und auf welches Vorwissen dabei zurückgegriffen werden kann. Damit Texte trotz ihrer situativen „Zerdehnung“ (vgl. Ehlich 1994) verständlich bleiben, ergeben sich daher bestimmte Anforderungen an ihre Strukturen: Sie müssen sich ihren eigenen Kontext, ihre eigene Situation schaffen. Dazu bedarf es des Einsatzes spezifischer lexikalischer, grammatikalischer sowie pragmatischer Mittel. (Becker-Mrotzek & Böttcher 2006: 57) Beispielsweise können hypotaktische Konstruktionen oder auch der Ausbau von Nominalgruppen durch Attribute helfen, Information zu verdichten und Texte für Lesende mit wenig inhaltlichem Vorwissen verständlich zu machen. Mit den Rahmenbedingungen der Kommunikation über raum-zeit‐ liche Distanz gehen also bestimmte sprachstrukturelle Phänomene einher, deren Erwerb mitunter im Zentrum des schulischen Sprachunterrichts steht. In Anschluss an Beißwenger & Storrer (2012) können wir diese Phänomene als charakteristisch für textorientiertes Schreiben erkennen - also für ein Schreiben, das die Produktion eines textuellen Schreibprodukts zum Ziel hat, das seine Produktionssituation überdauert und in entkoppelte Rezeptionssituationen überführt werden kann. Zudem besteht für textorientiertes Schreiben in der Regel eine besondere Erwartung an die Normkonformität von Schreibungen. Während im gespro‐ chenen Standard Variation auf unterschiedlichen Strukturebenen üblich ist, ist der Freiraum bei der Produktion eines geschriebenen Standards deutlich 30 2 Variation und Schreibung <?page no="31"?> eingeschränkter. Für ihn gilt die Norm der Orthographie - also eine kodifizierte Rechtschreibung. Für das Deutsche ist diese vom Rat für deutsche Rechtschreibung in einem amtlichen Regelwerk niedergelegt. Hier wird geregelt, welche Wortverschriftungen als ‚korrekt‘, also orthographisch, gelten. Insbesondere für Texte im Kontext von Schule und öffentlichen Behörden ist die Orientierung am orthographischen Regelwerk bindend. Aber auch in anderen Kontexten der Textproduktion hat die Orthographie einen hohen Geltungsanspruch und abweichende Schreibungen können für Schreiber: innen eine soziale Sanktionierung bedeuten, beispielsweise, wenn ein Bewerbungsschreiben, das unorthographische Schreibungen enthält, mit einer Absage quittiert wird. Da Schriftlichkeit traditionell - und natürlich auch geprägt durch die individuellen Erfahrungen mit Schrift in der Schule - vor allem mit textori‐ entiertem Schreiben in standardsprachlichen Kontexten assoziiert ist, bei der durch Reglementierung Variation minimiert wird, verwundert es wenig, dass geschriebene Sprache in der Soziolinguistik lange Zeit nicht als rele‐ vanter Forschungsgegenstand erkannt wurde (vgl. dazu Spitzmüller 2012). Die Fixierung der Soziolinguistik auf gesprochene Variation hat sich in den letzten Jahren jedoch mehr und mehr gelöst. Verschiedene Studien, die sich als Soziolinguistik der Schriftlichkeit zusammenfassen lassen, haben sich mit der Varianz von Schreibung in ganz unterschiedlichen Kontexten beschäftigt (vgl. u. a. Lillis 2013; Schuster & Tophinke 2012; Spitzmüller 2013; Androutsopoulos & Busch 2020). Eine Triebfeder dieser Entwicklung war dabei, dass literale Praktiken abseits von institutionalisierter Schriftlichkeit im Zuge der Digitalisierung an gesellschaftlicher Sichtbarkeit und alltägli‐ cher Relevanz gewonnen haben. Mittels digitaler Medien wird vermehrt auch in Kontexten des sozialen Nahbereichs (also mit der Familie, den Freund: innen, dem Sportverein usw.) geschrieben, in denen lange Zeit vornehmlich mündlich kommuniziert wurde. Spätestens durch die gesamtgesellschaftliche Verbreitung von Mes‐ senger-Anwendungen auf Smartphones (wie z. B. WhatsApp, Threema oder Signal) differenzieren und mobilisieren sich die literalen Ereignisse im Alltag und neue literale Praktiken bilden sich heraus. Mit dem Smartphone in der Hosentasche kann potenziell rund um die Uhr Kommunikation mittels Schrift begonnen oder weitergeführt werden - und das mit Kommunikati‐ onspartner: innen aus ganz unterschiedlichen sozialen Bereichen. Dass sich die Strukturen dieses digitalen Schreibens fundamental von traditionellen Texten unterscheiden, erstaunt nicht: Digitale Medien ermög‐ 2.2 Textorientiertes und interaktionsorientiertes Schreiben 31 <?page no="32"?> lichen es, Schrift nun auch zur quasi-synchronen Kommunikation zu nutzen (vgl. Dürscheid 2003). Das Ziel des Schreibprozesses ist dann nicht ein textuelles Schreibprodukt zur ‚zerdehnten‘ Kommunikation, sondern der interaktive Austausch von Schreibenden innerhalb einer geteilten Kom‐ munikationssituation. Zwar findet die schriftliche Produktion in der Regel unter dem Ausschluss der Rezipient: innen statt, sodass die Nachricht erst nach dem Abschicken vom kommunikativen Gegenüber gelesen werden kann und die Kommunikation damit eben nicht als vollständig synchron, sondern nur als quasi-synchron zu bezeichnen ist. Dennoch zeigt sich, dass die sprachliche Komposition von digitalen Textnachrichten in der Regel nicht zum Ziel hat, ein kontextüberdauerndes Schreibprodukt herzustellen, wie wir es im textorientierten Schreiben beobachten. Vielmehr wird ein wechselseitiges Verständnis der Beteiligten, also eine gemeinsam hervorge‐ brachte Interaktion angestrebt. Beißwenger & Storrer (2012) stellen dem textorientierten Schreiben daher den Begriff des interaktionsorientierten Schreibens gegenüber. Als textorientiertes Schreiben versteht man Schreibhandlungen, die auf die Produktion eines kontextüberdauernden Textes abzielen. Schrei‐ ber: innen sind darum bemüht, einen monologischen Text herzustellen, der ‚aus sich heraus‘ in verschiedenen Rezpetionskontexten verstanden werden kann. Als interaktionsorientiertes Schreiben bezeichnet man demgegen‐ über Schreibhandlungen, die auf ein gemeinsames Verständnis von mindestens zwei Schreiber: innen innerhalb einer geteilten Kommuni‐ kationssituation abzielen. Schreiber: innen sind darum bemüht, eine gemeinsame kommunkative Aktivität durchzuführen. Während das textorientierte Schreiben also primär am Kommunikationsprodukt aus‐ gerichtet ist, steht beim interaktionsorientierten Schreiben der Kommu‐ nikationsprozess im Vordergrund. Auch die spezifische Konstellation des interaktionsorientierten Schreibens geht dabei mit dem Gebrauch bestimmter sprachlicher Strukturen einher. 32 2 Variation und Schreibung <?page no="33"?> Wo es textorientierten Schreiber: innen darum geht, sprachliche Äußerun‐ gen zu schaffen, deren kontextüberdauernde Verständlichkeit gesichert ist, stehen Schreiber: innen in interaktionalen Kontexten vor der Aufgabe, ihre Nachrichten situativ einzupassen. In knappen Beiträgen müssen sie verdeutlichen, wie sie meinen, was sie schreiben. Viele Zeichenressour‐ cen, die ein solches gegenseitiges Verstehen in mündlichen Interaktionen sichern (insbesondere Prosodie, Gestik und Mimik) stehen in schriftba‐ sierten Interaktionen nicht zur Verfügung. Demensprechend ist die Va‐ riation von Wortschreibungen selbst ein bedeutsamer Bereich, aus dem Kontextualisierungshinweise geschöpft werden. Der Grad an Variation im interaktionsorientierten Schreiben ist daher tendenziell höher als im textorientierten Schreiben. Wenn beispielsweise nicht die orthographische Wortform Hallo, sondern ein um Buchstabenwiederholung (auch: Buchsta‐ beniteration) ergänztes Haaaaalllllooooo einen Chat eröffnet, dann lässt sich an der Schreibform eine besonders emphatische interaktionale Haltung ablesen. Mit solchen Schreibungen erschaffen die Beteiligten situativen Kontext - ermöglichen also Rückschlüsse auf ihre soziale Beziehung und den kommunikativen Zweck ihrer Interaktion. Schreiber: innen manipulieren so innerhalb von Grenzen, die sich aus dem Schriftsystem des Deutschen ergeben, eine Wortschreibung, um kommunikative Bedeutung anzuzeigen. Welche Variationsmuster dafür wiederkehrend Teil des interaktionsorien‐ tierten Schreibens werden, werden wir im Folgenden genauer unter die Lupe nehmen. 2.3 Typen der skriptural-graphischen Variation Geschriebene Sprache kann potenziell auf allen strukturellen Ebenen vari‐ ieren. Während Textsorten als literale Praktiken im oben skizzierten Ver‐ ständnis also durchaus mit der Realisierung von spezifischen lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Varianten einhergehen, richten wir hier den Fokus auf Variation, die die Schreibung im engeren Sinne betrifft. Unser Interesse gilt damit skriptural-graphischer Variation - der Varia‐ tion, die Akteur: innen betreiben, wenn sie sprachliche Äußerungen mittels Schrift materialisieren und dabei im Rahmen ihrer Möglichkeiten vielfältige Entscheidungen treffen (vgl. dazu Spitzmüller 2013: 209 ff.): Schreibe ich per Hand oder nutze ich eine Maschinenschrift? Welches Schriftsystem nutze ich? Welche Schriftart verwende ich (etwa eine Schreibschrift oder Comic 2.3 Typen der skriptural-graphischen Variation 33 <?page no="34"?> Neue )? Welche Buchstabenfolge nutze ich im Rahmen oder außerhalb des Rahmens der deutschen Orthographie, um eine Wortform zu verschriften (etwa Delphin oder Delfin)? Deutlich wird, dass Schreibende routiniert eine Vielzahl von Stellschrau‐ ben bedienen, um ihrer schriftlichen Äußerung eine visuelle Gestalt zu verleihen. Die Breite des Variationspotenzials, aus dem ausgewählt wird, ist dabei zum einen durch die medialen Strukturen bedingt, die nur ein be‐ stimmtes Schriftinventar zur Verfügung stellen. Wenn etwa eine bestimmte Schriftart verwendet werden soll, muss diese auf dem Schreibgerät instal‐ liert sein usw. Zum anderen sind das Spektrum und die Wahl möglicher Verschriftungsvarianten abhängig von der literalen Kompetenz der Schrei‐ benden. So geht dem alphabetischen Schreiben zunächst eine Kenntnis um Phonem-Graphem-Korrespondenzen voraus: Das Phonem / p/ lässt sich im Deutschen beispielsweise mit dem Graphem <p> repräsentieren. Für das Phonem / k/ kommen die Buchstaben(-kombinationen) <k>, <ck>, <kk>, <qu>, <g> in Frage. Andersherum kann das Graphem <s> sowohl die Phoneme / s/ und / z/ repräsentieren. Da das Phonem-Inventar des Deut‐ schen nicht eins zu eins auf das Graphem-Inventar des Deutschen abbildet, sind für ein und dasselbe Lautbild unter Umständen verschiedene Verschrif‐ tungsvarianten möglich. Neef (2005: 2) zeigt dies am Beispiel des Wortes Wal, das [vaːl] ausgesprochen wird und damit den Phonem-Graphem-Kor‐ respondenzen des Deutschen entsprechend als <Val>, <Vaal>, <Vahl>, <Wal>, <Waal> oder <Wahl> verschriftet werden könnte. Die Spanne dieser Schreibungen bezeichnet Neef (ebd.) als „graphematischen Lösungsraum“. Die verschiedenen Schreibungen sind graphematische Varianten. Deutlich wird an diesem Beispiel nun aber auch, dass nicht alles, was hinsichtlich der Phonem-Graphem-Zuordnungen möglich ist, auch der geltenden Rechtschreibung entspricht. Wer den Meeressäuger orthogra‐ phisch korrekt schreiben will, der muss die Variante <Wal> wählen. Die Orthographie engt Variation also ein, indem sie in der Regel nur eine einzige Variante lizensiert (vgl. dazu Dürscheid 2016: 129). Für andere Wortschreibungen sind in seltenen Fällen aber durchaus verschiedene Schreibungen durch das Regelwerk zugelassen. Dies ist insbesondere bei Fremdwortschreibungen der Fall und betrifft etwa die Variation von <ph> und <f> (also zum Beispiel Typografie vs. Typographie), trifft aber auch auf die normgerechte Variation von <ss> und <ß> zwischen schweizerischen und bundesdeutschen Schreibungen zu (beispielsweise Strasse vs. Straße). Wir haben es dann mit orthographischen Varianten zu tun (als Spezialfall 34 2 Variation und Schreibung <?page no="35"?> der graphematischen Variation). Tabelle 2 stellt die verschiedenen Typen von skriptural-graphischer Variation im Überblick dar. Variationstyp Beispiele für mögliche Varianten skriptural-systematische Variation Alphabetschrift vs. logographische Schrift (bspw. acht vs. 8) schrifttechnische Variation Handschrift vs. Computerschrift typographische Variation Times New Roman vs. Comic Sans graphematische Variation cool vs. kuhl orthographische Variation Phantasie vs. Fantasie Tab. 2: Überblick zu Typen der skriptural-graphischen Variation (nach Spitzmüller 2013: 215) Formal bieten Schreibungen also vielfältige Variationsmöglichkeiten, die sich schriftstrukturell beschreiben lassen. Aus soziolinguistischer Perspek‐ tive ist daran anschließend zu fragen, inwiefern diese Schreibvarianten in der literalen Praxis kommunikativ und sozial bedeutsam werden. Wir untersuchen dann beispielsweise, ob es für Beteiligte einen kommunikativen Unterschied macht, ob ein Brief mit der Hand oder mit dem Computer geschrieben wurde, welche Funktion die Wahl von Times New Roman oder Comic Sans erfüllt oder welche kommunikative Rolle graphematische Varianten spielen. Skriptural-graphische Varianten werden dann also hin‐ sichtlich ihrer kommunikativen und sozialen Funktion als Kontextualisie‐ rungshinweise (→ 1.1.2) untersucht. Im Folgenden werden wir dies mit Blick auf digitale Alltagsschriftlichkeit demonstrieren, um anschließend aufzuzeigen, in welcher Weise der schuli‐ sche Sprachunterricht die außerschulische Schreibpraxis als Ressource be‐ trachten kann. Wir widmen uns dabei insbesondere zwei graphematischen Formenbereichen, aus denen durch Variation im interaktionsorientierten Schreiben routinehaft Kontextualisierungshinweise geschöpft werden: Es geht uns um die Variation von Graphemen und von Interpunktion. Natürlich sind die Mittel, die im interaktionsorientierten Schreiben als Kontextualisie‐ rungshinweise herangezogen werden, damit nicht erschöpfend beschrieben. So prägen beispielsweise auch Abkürzungen und Emojis das alltägliche 2.3 Typen der skriptural-graphischen Variation 35 <?page no="36"?> Schreiben in digitalen Medien. Auf diese Formen werden wir im Folgenden nur am Rande eingehen. 2.4 Buchstabenvariation im digitalen Schreiben Alltägliches interaktionsorientiertes Schreiben zeichnet sich dadurch aus, dass es in der Regel in informellen Beziehungskonstellationen stattfindet. Das Schreiben mittels WhatsApp ist typischerweise ein Schreiben mit Freund: innen oder Familienangehörigen. Diese soziale Verortung literaler Praxis ist insofern an Phänomene der graphematischen Variation gebunden, als diese informellen Kontexte mit einer niedrigeren Obligation gegenüber der kodifizierten Orthographie einhergehen. Kurz gesagt: Im informellen Schreiben mittels digitaler Medien ist der Spielraum für sozial akzeptierte (und teils sogar erwartete) Schreibvariation erhöht. Das betrifft etwa die Großschreibung von Nomen, die in vielen Chats nur sporadisch betrieben wird, sowie die generelle Nachsicht gegenüber unabsichtlichen Tippfehlern (also zum Beispiel Buchstabendrehern). Die normativen Ansprüche, die an geschriebene Äußerungen gestellt werden, sind vielfach abgemildert. Daraus resultiert schließlich auch ein Variantenreichtum von Schrei‐ bungen. Wo die Standardschriftlichkeit durch die Reduktion von Variation gekennzeichnet ist, bietet sich Schreiber: innen die Vielfalt, aus verschiede‐ nen Schreibvarianten auszuwählen und so ergänzende kommunikative und soziale Bedeutung zu codieren. Diese Vielfalt sollte allerdings nicht als Beliebigkeit missverstanden werden. Orthographische Varianten bilden auch im informellen Schreiben das Rückgrat von Äußerungen und nicht jede Variante eignet sich glei‐ chermaßen als Kontextualisierungsmittel. Variationsbeschränkungen durch soziale Normierung sind also nicht ganz und gar aufgehoben. Schreibungen auch abseits des orthographischen Standards legitimieren sich dadurch, dass sie von den Kommunikationsbeteiligten als funktionale und damit kon‐ text-angemessene Schreibungen angenommen werden können. Wird ein Nomen wie Prinzessin etwa als prinzessin kleingeschrieben, kann dies von den Kommunikationspartner: innen als funktional wahrgenommen werden - in der Regel als Mittel, um die Tippgeschwindigkeit und damit den interaktionalen Fluss zu erhöhen. Eine Verschriftung wie printzessin, de‐ ren <tz>-Schreibung der orthographischen Phonem-Graphem-Zuordnung widerspricht, weist dieses Erklärungspotenzial hingegen nicht auf. Hier 36 2 Variation und Schreibung <?page no="37"?> scheint schlicht ein Kompetenzfehler vorzuliegen, der keinen funktionalen Bezug zum kommunikativen Kontext aufweist. Solche Schreibungen wer‐ den zwar im kommunikativen Prozess meist nicht gesondert thematisiert, bleiben aber Fehlschreibungen, die Schreibende auch im interaktionsori‐ entierten Schreiben eher vermeiden, wenn sie können. Indem solche Fehl‐ schreibungen an die individuelle Rechtschreibkompetenz gebunden sind, bilden sie außerdem keine überindividuellen Muster, die wir als typische Merkmale des interaktionsorientierten Schreibens analysieren würden. Die Schreibvarianten, die wir demgegenüber als wiederkehrende Muster in Chats beobachten können, sind funktional interpretierbar. Für einen großen Teil dieser Schreibungen ist dies zum Beispiel dadurch gewährleistet, dass sie als Repräsentationen typischer Merkmale informeller Sprechstile gelesen werden können. Charakteristika der mündlichen Aussprache wer‐ den dann in eine schriftliche Form übertragen und konstituieren so eine „emulierte Mündlichkeit“ (Bittner 2003: 253). Diese schriftlichen Abbildungen von lautlichen Phänomenen, die ei‐ nem bestimmten kommunikativen Zweck dienen, bezeichnen wir als phonostilistische Mittel (vgl. Spillner 2009: 1548). Beispielsweise enthalten Textnachrichten immer wieder geschriebene Ver‐ schleifungen wie kommste statt kommst du und auch Elisionen am Ende von Wörtern (zum Beispiel is statt ist) finden ihren Weg in die informelle Schriftlichkeit. Das ist nun auch deswegen bemerkenswert, weil die Struktur dieser Formen maßgeblich durch Phänomene der Aussprache begründet ist, die im Geschriebenen gar nicht existent sind. Zum Beispiel erzeugt das Aufeinanderfolgen von Verben und Personalpronomen der 2. Person Singu‐ lar (etwa kommst du, bist du, kennst du usw.) ein schwer auszusprechendes Konsonantencluster der zwei dentalen Plosive / t/ und / d/ . Im Mündlichen wird diese Schwierigkeit insofern aufgelöst, als eine verschmolzene Aus‐ sprache im gesprochenen Standard üblich ist (etwa kommstu, bistu, kennstu), die in informellen Sprechstilen im Nebensilbenvokal weiter abgeschwächt wird (etwa kommste, biste, kennste). Diese strukturelle Herleitung ist für geschriebene Verschleifungsformen nicht plausibel, denn hier geht mit zwei aufeinanderfolgenden Konsonanten kein produktionstechnisches Pro‐ blem einher. Im Gegenteil: Spätestens seit flächendeckender Ausstattung 2.4 Buchstabenvariation im digitalen Schreiben 37 <?page no="38"?> mit Autokorrektur-Software bedeutet es für Schreibende in vielen Fällen sogar mehr Tippaufwand, Formen zu realisieren, die nicht der im System hinterlegten Variante entsprechen. Wenn Schreibende also die Variante kennste statt kennst du wählen, dann spielt dabei nicht etwa eine Ökono‐ misierung ihres Tippaufwandes, sondern vielmehr die Hinwendung zu einem bestimmten Schreibstil die entscheidende Rolle. Ein Phänomen, das in der informellen Mündlichkeit besonders auffällig ist, wird mit den Mitteln der Schrift nachgeahmt, um so den kommunikativen Kontext, der typischerweise mit dieser Form assoziiert ist, in der aktuellen Schreibsitu‐ ation anzuzeigen: Wer kennste statt kennst du schreibt, der definiert die vorliegende Kommunikation als informell, möglicherweise vertraut und freundschaftlich. Indem ein informeller Kontext im digitalen Schreiben den Default bildet - Kommunikation per Messenger-App den Beteiligten in der Regel zunächst einmal als informell gilt, solange ihr Kontext nicht aktiv umgedeutet wird -, überrascht es wenig, dass diese Varianten von emulierter Mündlichkeit relativ häufig genutzt werden. Mitunter fügen sie sich sogar in eine Ge‐ brauchsnorm der informellen Schriftlichkeit und entsprechen dann der erwarteten, unauffälligen Form. Das ist beispielsweise bei e-reduzierten Verbformen der 1. Person Singular der Fall. Eine Schreibung wie ich komm später noch vorbei anstelle von ich komme später noch vorbei bleibt stilistisch in der Regel unauffällig, da entsprechende Auslassungen üblich sind. Gegenüber diesen unauffälligen Schreibvarianten lassen sich in den WhatsApp-Chats allerdings vereinzelt Schreibungen beobachten, die als stilistisch markiert erscheinen und selbst eine neue Kontextqualität in die Interaktion einbringen. Das kann zum Beispiel die Verschriftung einer regiolektalen Aussprache sein, die dann mit den Standardvarianten in der direkten Umgebung kontrastiert und so eine spezifische Bedeutung entfal‐ tet. Solche Schreibungen zeichnen sich formal dadurch aus, dass gegenüber der orthographischen Variante ein oder mehrere Grapheme ersetzt werden und so eine andersartige Lautung angezeigt wird. Es liegt dann eine phono‐ stilistische Graphemsubstitution vor. In dem folgenden WhatsApp-Chat wählt beispielsweise der 15-jährige, aus Hamburg stammende Tobias die Variante luschdig statt lustig in Reaktion auf ein wohl witzig gemeintes Bild, das Timm in die Interaktion einbringt und in Nachricht 2 distanzierend einem Lehrer der beiden, Herrn Schmid, zuordnet. 38 2 Variation und Schreibung <?page no="39"?> (1) 1 22: 20: Timm: [Bild ausgelassen] 2 22: 20: Timm: Ein Witz Für Herr Schmid 3 22: 20: Tobias: Nhaaaaa 4 22: 20: Tobias: Der ischluschdig 5 22: 21: Timm: Luschdig luschdig Timm realisiert hier nicht nur in Nachricht 3 eine emphatisch gedehnte süd‐ deutsche Variante der Negationspartikel nein, sondern fügt dieser Inszenie‐ rung von Regiolekt außerdem noch Nachricht 4 bei, die einerseits durch die Verschleifung von ist + lustig sowie andererseits durch die Repräsentation der / s/ -Palatalisierungen (ist zu isch und lustig zu luschdig) gekennzeichnet ist. Timm steigt in Nachricht 5 in diese Inszenierung ein, indem er die Form luschdig ebenfalls aufnimmt. Tobias und Timm parodieren so die Stimme ihres Lehrers, die sie mit der Selektion sprachlicher Varianten anzeigen. Diese Varianten lassen sich als ‚süddeutsch‘ lesen und werden in Abgren‐ zung zu den eigenen (norddeutschen) Stimmen von Tobias und Timm zur sozialen Positionierung funktionalisiert. Diese Positionierungsaktivität findet nicht nur in Bezug auf das Bild statt, das von Tobias und Timm in dieser Weise als ‚unlustig‘ bewertet wird, sondern eben auch in Bezug auf die Person des Lehrers, gegenüber dem sich die beiden Schüler abgrenzen. Beispiele wie diese verdeutlichen, dass Schreibvariation in der digitalen Kommunikation mehr sind als bloße Abweichungen von der orthographi‐ schen Norm. Die Variationsspielräume eröffnen die stilistische Möglichkeit, durch Schreibung soziale und kommunikative Bedeutung anzuzeigen. Der Bezug auf Phänomene der Mündlichkeit ist dabei nicht die einzige Quelle für funktionale Schreibvarianten. Schreibungen in digitalen Interak‐ tionen konstituieren sich immer wieder auch durch Selektionen innerhalb des graphemischen Systems, Manipulationen visuell re‐ präsentierter Sprache ohne Entsprechung zur Phonie. (Androutsopoulos 2007: 83) Solche Schreibvarianten, die gegenüber der orthographischen Variante gleichlautend sind, werden als graphostilistische Mittel bezeichnet. 2.4 Buchstabenvariation im digitalen Schreiben 39 <?page no="40"?> Gemessen an der Häufigkeit phonostilistischer Schreibungen kommen sie in deutschsprachigen Textnachrichten eher selten vor und sind daher nicht Teil eines unauffälligen Gebrauchsstandards. Dennoch lassen sich Rebusschreibungen (wie N8 für Nacht) sowie lautlich invariante Graphem‐ substitutionen (wie boi statt boy) als überindividuelle Schreibpraktiken beobachten. Besonders produktiv ist dabei Schreibvariation, die dem letzten Beispiel entspricht: die Verschriftung von (in der Regel englischsprachigen) Fremd- und Lehnwörtern nach den Phonem-Graphem-Korrespondenzen des Deutschen - zum Beispiel: • cool als kuul oder kuhl • sorry als sorri • easy als isi • ciao als tschau (vgl. Felder 2020: 104 f.) Gewissermaßen im Kontinuum zwischen phonostilistischen und graphos‐ tilistischen Schreibungen verorten sich schließlich außerdem Schreibvari‐ anten, die ebenfalls als typisches Merkmal interaktionsorientierter Schrift‐ lichkeit gelten müssen: Buchstabeniterationen, also die Wiederholung von Buchstaben, und Majuskelschreibungen, bei denen ein Wort in durchgängigen Großbuchstaben verschriftet wird. Anders als die bislang diskutierten Schreibungen zeichnen sie sich dadurch aus, dass Variation hier nicht einzelne segmentale Elemente einer Wortschreibung betrifft, sondern die Variationspraxis sich auf eine ganze Wortgestalt erstreckt. Im Fall der Buchstabeniteration wird die Wortgestalt horizontal expandiert (wenn zum Beispiel die Fokuspartikel so als sooooooooo verschriftet wird), bei Majuskelschreibungen liegt eine vertikale Expansion vor (wenn zum Beispiel das Adverb sofort als SOFORT verschriftet wird). Es liegt in vielen Fällen nah, Buchstabeniterationen wie sooooo als phonosti‐ listische Mittel zu analysieren, die eine gedehnte Aussprache repräsentieren. Ein Argument, dass diese Perspektive durchaus plausibel ist, liefert die Beobachtung, dass die meisten Buchstabeniterationen Vokalgrapheme betreffen, die sich ohne weiteres gedehnt aussprechen lassen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass sich die Schreibpraxis von ihrer phonostilistischen Basis insofern teilweise emanzipiert, als Schreibende auch konsonantische Plosivgrapheme wie <k> oder <p> sowie digraphische Grapheme wie <ck> oder <ch> iterieren (vgl. Kalman & Gergle 2014). Bei solchen Schreibungen kommt eine rein lautliche Interpretation an ihre Grenzen. Stattdessen stellen wir fest, dass die Modulation von Wortge‐ stalten vielfach einem grundsätzlichen ikonischen Prinzip folgt, das auf einer 40 2 Variation und Schreibung <?page no="41"?> Analogie von kommunikativer Funktion und Zeichenmaterial beruht: Ein Mehr an pragmatischer Gewichtung wird durch ein Mehr an sprachlicher Substanz ausgedrückt (vgl. Androutsopoulos 2018: 730). Neben der Buchstabeniteration liegt mit der Majuskelschreibung eine zweite produktive Schreibstrategie vor, mit der Wortverschriftungen wie‐ derkehrend intensiviert werden. Auch für die Majuskelschreibung in di‐ gitalen Medien gibt es eine gewisse Tradition einer phonostilistischen Interpretation: Die durchgängige Großschreibung wird - sowohl von den Schreibenden selbst als auch von Linguist: innen - häufig als graphische Re‐ präsentation einer erhöhten Lautstärke bzw. prosodischen Akzentuierung gedeutet. Für Schreibungen wie zum Beispiel HALLO? ? ? ! ! ! , mit denen im Chat nach einer ausbleibenden Antwort ‚gerufen‘ wird, kann das plausibel sein. Die Majuskelschreibung ist dann ein phonostilistisches Mittel. Ande‐ rerseits gilt es aber auch zu bedenken, dass die intensivierende Auszeich‐ nung von sprachlichem Material durch prosodische Mittel im Gesprochenen einerseits und durch Majuskelschreibung im Geschriebenen andererseits zwar funktional zu vergleichen sind, sich daraus aber nicht zwingend jederzeit eine direkte Bezugnahme der zwei Verfahren ableitet (vgl. Müller 2016: 112). Es ist daher linguistisch zielführender nach den Funktionen von Majuskelschreibungen im interaktionsorientierten Schreiben zu fragen, ohne diese stets auf lautliche Phänomene zurückzuführen. In einer solchen autonomen Perspektive auf Majuskelschreibung kann man dann zunächst unterscheiden, ob ganze Passagen einer Textnachricht großgeschrieben sind oder ob sich die graphische Auszeichnung nur auf ein einzelnes Wort beschränkt. In ersterem Falle dient Majuskelschreibung dazu, Handlungszüge als intensiviert aus dem interaktionalen Zusammen‐ hang herauszuheben. Häufig geschieht dies im Kontext von Bewertungen, bei denen ein Gegenstand thematisiert wird, gegenüber dem eine positive oder negative Haltung angezeigt wird. In der folgenden Lästersequenz zwischen Lisa und Nelly, in der es um das neue WhatsApp-Profilfoto (pf) des Klassenkameraden Donald geht, können wir einen solchen intensivierten bewertenden Handlungszug beobachten. (2) 1 07: 07: Lisa: Hast du Donalds pf gesehen 2 07: 08: Lisa: [Bild ausgelassen] 3 07: 08: Nelly: Wassss ist er dummm 4 07: 08: Lisa: SOOO SAU HÄSSLICH! ! 2.4 Buchstabenvariation im digitalen Schreiben 41 <?page no="42"?> Eine zweite Verwendungsweise von Majuskelschreibung betrifft einzelne Wörter. Hier besteht der relevante Kontrast, der durch die Großschreibung angezeigt wird, nicht zwischen einem Handlungszug und seiner Umgebung, sondern zwischen einem Wort und seinem unmittelbaren Ko-Text. Majus‐ kelschreibung dient hier dazu, einen semantischen Fokus innerhalb einer Äußerung zu etablieren. Dementsprechend sind es vor allem Nomen, die in durchgängigen Majuskeln geschrieben werden (beispielsweise heißt es in ei‐ ner Textnachricht […] deprimierend das wir nicht mal einen FERTIGKUCHEN hin bekommen haben - es ist also nicht irgendein Kuchen, dessen Zuberei‐ tung missglückt ist, es handelt sich sogar um einen FERTIGKUCHEN). Damit können wir deutlich erkennen: Schreiber: innen nutzen vielfältige graphemische Varianten, um ihre Äußerungen den Kontexten des interakti‐ onsorientierten Schreibens entsprechend zu entwerfen. Mit der Informalität der dort gepflegten sozialen Beziehungen, aber auch mit den spezifischen kommunikativen Aktivitäten, die Chatpartner: innen mittels Schrift umsetzen, gehen verschiedene Verschriftungsvarianten einher. Diese Schreibungen sind in ihren Kontexten funktional. Sie entsprechen zwar in vielen Fällen nicht der orthographischen Variante, es würde aber zu kurz greifen, sie schlicht als ‚Fehler‘ oder ‚Abweichung‘ zu analysieren. Stattdessen können wir beschrei‐ ben, wie Schreiber: innen durch Buchstaben-Selektionen stilistisch handeln, um kommunikative und soziale Effekte zu erzielen. Tabelle 3 gibt eine Übersicht über die häufigsten graphemischen Varianten im interaktionsorientierten Schreiben, die zu diesem Zweck herangezogen werden. Graphemische Varianten Beispiele Phonostilistische Reduzierung hab, is, nich Phonostilistische Verschleifung kommste, gehts, isso Phonostilistische Substitution dankö, bidde, luschdig Graphostilistische Substitution N8, @rbeiten, kuhl Buchstabeniteration soooo, guuuut, Kuuuuuchen Majuskelschreibung SOFORT Tab. 3: Überblick zu graphemischen Varianten im interaktionsorientierten Schreiben 42 2 Variation und Schreibung <?page no="43"?> 2.5 Interpunktionsvariation im digitalen Schreiben Neben dem Umgang mit Buchstaben ist das Schreiben in digitalen Medien außerdem durch Variation im Formenbereich der Zeichensetzung bzw. Interpunktion gekennzeichnet. Bei Interpunktionszeichen handelt es sich um nicht-alphabetische Schriftzeichen, die von Schreiber: innen verwendet werden, um ihre Texte zu gliedern und somit leichter rezipierbar zu machen. Interpunktionszeichen fungieren als textuelle Grenzsignale und reichern den Text um syntaktische, semantische und mitunter pragmatische Infor‐ mationen an. Zu unterscheiden sind einerseits „Satzzeichen im engeren Sinne“ (u. a. der Punkt <.>, das Komma <,> und das Ausrufezeichen <! >), die Sätze und Teilsätze markieren, und andererseits „Hilfszeichen“ (u. a. der Apostroph <’> und der Divis <->), die „an oder in Wortformen“ gesetzt werden und so morphologische Grenzen anzeigen (Gallmann & Sitta 1996: 170 f.). Wie der graphematische Bereich der Phonem-Graphem-Zuordnung ist auch der Bereich der Zeichensetzung durch das amtliche Regelwerk orthographisch normiert (für einen Überblick vgl. Dürscheid 2016: 195 f.). Dabei ist zwar durchaus festzustellen, dass Interpunktionsgebrauch grund‐ sätzlich ein breiterer Freiraum zur stilistischen Variation zugestanden wird (beispielsweise bleibt es Schreiber: innen überlassen, ob sie eine Parenthese mit Gedankenstrichen, Klammern oder Kommata kennzeichnen wollen), die Auszeichnung hypotaktischer Strukturen durch Kommata ist aber in den meisten Fällen durch das Regelwerk eindeutig gefordert. Ebenso vergleichbar mit dem Bereich der Phonem-Graphem-Zuordnung gelten im informellen Schreiben auch hinsichtlich der Zeichensetzung andere Gebrauchsnormen. Wir stellen in aktuellen Messenger-Nachrichten insbesondere fest, dass Kommasetzung zur Gliederung von Hypotaxen, aber auch der Satzpunkt am Ende von Nachrichten von vielen Schreiber: innen ausgelassen werden, während Frage- und Ausrufezeichen teils sogar in iterierter Form Verwendung finden. Crystal (2015: 327) beschreibt auf Basis dieser Beobachtung, dass das digitale Schreiben gleichermaßen durch ei‐ nen Minimalismus und einen Maximalismus von Interpunktion gekenn‐ zeichnet sei. Zudem können einige Zeichenformen, die im textorientierten Schreiben nur selten genutzt werden, im interaktionsorientierten Schreiben eine erhöhte Sichtbarkeit gewinnen: So werden etwa die Auslassungspunkte <…>, die in der textorientierten Schriftlichkeit eine eher marginale Rolle spielen, bemerkenswert häufig herangezogen, um Textnachrichten zu been‐ den (vgl. Busch 2021a: 309). Es zeigt sich gewissermaßen auf den ersten Blick: 2.5 Interpunktionsvariation im digitalen Schreiben 43 <?page no="44"?> Interpunktionszeichen werden auch im interaktionsorientierten Schreiben genutzt - allerdings mit teils innovativen Funktionen. Androutsopoulos (2018: 725) stellt diesbezüglich fest, dass sich die Varianz von digitaler Interpunktion gegenüber der Interpunktion der textorientier‐ ten Standardschriftlichkeit in drei Variationsmustern manifestiert - und zwar in ihrer „Nichtsetzung, Mehrfachsetzung und Anderssetzung“. Wäh‐ rend die Nichtsetzung von syntaktisch-segmentierenden Zeichen und die Mehrfachsetzung von Ausrufe- und Fragezeichen in der Linguistik schon früh als Merkmal von digitalem Schriftgebrauch beschrieben wurde, sind Anderssetzungen lange wenig beachtet worden. Neuere Studien zeigen jedoch, dass der Gebrauch von Interpunktionszeichen in der interaktionso‐ rientierten Schriftlichkeit mit neuen, spezifischen Funktionen einhergeht (u. a. Vandergriff 2013; Busch 2021b). Während in der textorientierten Schriftlichkeit Interpunktion den Leser: innen vor allem in der De-Codierung von grammatisch-syntaktischen Strukturen anleitet, ist Interpunktion in digitalen Textnachrichten ein Mittel zur Strukturierung von Interaktion. Durch sie werden interaktionale Sequenzen organisiert (also z. B. angezeigt, ob auf einen Beitrag eine Antwort erwartet wird oder ob ein Thema als abgeschlossen gelten kann) und die Haltung zum eigenen Beitrag kontextu‐ alisiert (also z. B. angezeigt, ob eine Äußerung als Andeutung oder Vorwurf zu interpretieren ist). Dieses interaktionale Interpunktionsprinzip (vgl. Busch 2021b) hängt wesentlich mit der Stellung des Zeichens innerhalb der Textnachricht zusammen: Während syntaktische Grenzmarkierungen auch im interaktionsorientierten Schreiben nicht völlig verloren gehen und im Inneren von Nachrichten teils noch zu beobachten sind, findet interaktionale Interpunktion vor allem am Ende von Nachrichten statt. Im Folgenden werden wir diese innovativen Funktionen von Interpunktion an vier Zeichenformen exemplarisch darstellen, indem wir die Funktionen des Punktes <.>, des Fragezeichens <? >, des Ausrufezeichens <! > sowie der Auslassungspunkte <…> in Messenger-Nachrichten betrachten. Dass gerade der Punkt im interaktionsorientierten Schreiben eine kom‐ munikative Funktion erfüllt, mag zunächst überraschen. Wohl kaum ein anderes Interpunktionszeichen erscheint uns in der textorientierten Schrift‐ lichkeit so kommunikativ neutral wie der Punkt. Wer einen Punkt in der Zeitung, im Schulaufsatz oder im Roman liest, wird diesen als Satzschlusszei‐ chen syntaktisch interpretieren und kaum auf die Idee kommen, die Form als Signal für die Beziehungsqualität zwischen sich und der Autor: in anzuneh‐ men. Diese Lesart des Zeichens hat sich in einigen sozialen Gemeinschaften 44 2 Variation und Schreibung <?page no="45"?> des interaktionsorientierten Schreibens in den letzten Jahren allerdings geändert. Der Punkt hat hier (am Ende von Nachrichten) seine neutrale Unauffälligkeit eingebüßt - schon deshalb, weil er sehr selten gesetzt wird. Busch (2021a: 309) konnte beispielsweise für ein Datenset von Schüler: innen zeigen, dass der Punkt mit einer Häufigkeit von 72,1 Setzungen auf 1.000 Wörter das häufigste Interpunktionszeichen des schulischen Schreibens ist, währen das Zeichen in WhatsApp-Chats derselben Schüler: innen mit einer Häufigkeit von nur 3,7 Setzungen auf 1.000 Wörter einen hinteren Rang einnimmt. Die traditionelle Funktion des Punktes, eine syntaktische Konstruktion als abgeschlossen zu markieren, übernehmen dort andere Zeichenformen wie etwa andere Satzzeichen, Emojis und Emoticons, aber natürlich auch die visuelle Rahmung von Textnachrichten in Form von Sprechblasen. Dieser Funktionsverlust des Punktes sorgt allerdings nicht dafür, dass das Zeichen ganz und gar verschwinden würde. Vielmehr erhöht es die kommunikative Sichtbarkeit derjenigen Punkte, die trotz der neuen Gebrauchsnorm gesetzt werden. Eine nähere Analyse solcher Ausnahmepunkte zeigt, dass diese besonders häufig am Ende von responsiven, dispräferierten Nachrichten stehen, in Nachrichten also, die eine Antwort überbringen, die sozial weniger erwünscht ist. Das sind beispielsweise Absagen von Einladungen. Eine Nachricht wie Hast du am Freitag also morgen zeit? wird dann etwa mit der Nachricht Nein. Leider nicht. beantwortet, also mit einem finalen Punkt. Teils finden sich aber auch längere Nachrichtensequenzen, die ein Thema kontrovers diskutieren und in denen eine Nachricht mit finalem Punkt den interaktionalen Austausch beendet. Der Punkt signalisiert in diesen Fällen den Unwillen, eine Interaktion fortzuführen. Das Zeichen kontextualisiert dann die eigene Äußerung als ‚letztes Wort‘, zeigt also eine strikte Haltung an. Das Satzzeichen ist hier der sprichwörtliche Punkt, der eine Diskussion beendet. Diese Signalisierung von Endgültigkeit auf der einen Seite, aber auch der kontrastive Verweis auf ein formelles (in der Regel textorientiertes) Register, den der Punkt im interaktionsorientierten Schreiben leistet, führt weiterhin dazu, dass er als Zeichen emotionaler und sozialer Distanz gelesen werden kann. Der Punkt am Ende einer Nachricht zeigt dann an, dass vom Normalstatus einer informellen, freundschaftlichen Interaktion abgewichen wird und ein kommunikatives bzw. soziales Problem vorliegt. Ein Beispiel, in dem diese Lesart von den Beteiligten ganz explizit gemacht wird, liefert 2.5 Interpunktionsvariation im digitalen Schreiben 45 <?page no="46"?> die folgende WhatsApp-Interaktion zwischen den 17-jährigen Martin und Frank: (3) 1 13: 53: Martin: Hast du villeicht trotzdem lust dich heute abend zu verab‐ reden? - 2 13: 54: Frank: Ne. Sorry. - 3 13: 55: Martin: Leicht angepisst oder wie? - 4 13: 55: Martin: Wegen. Und. So. - 5 13: 55: Frank: Nö. - 6 13: 55: Martin: Wieso dann die punkte 😂 - 7 13: 56: Frank: Um meinen Gedanken zu beenden : ) Bin gerade sehr müde. - 8 13: 57: Martin: Hahaha achso Die Nachrichten 1 und 2 entsprechen hier dem typischen Sequenzmuster eines Verabredungsvorschlags und seiner Ablehnung mit finaler Punkt‐ setzung. Franks Nachricht 2 ist hier auch dadurch sozial markiert, dass er seine dispräferierte Handlung nicht weiter erklärt, abschwächt oder möglicherweise einen Alternativtermin vorschlägt. Diese Einsilbigkeit mag nun auch Martins Wahrnehmung der Punktsetzung bestärken, die dieser in den Nachrichten 3, 4 und schließlich 6 artikuliert: Er vermutet, der Punktgebrauch sei ein Ausdruck von Franks ‚Angepisstheit‘. Zwar weist Frank diese Interpretation mit dem Hinweis auf die ‚ordnende‘ Funktion des Punktes in Nachricht 7 zurück - deutlich wird aber auch, dass in dieser Gemeinschaft das Potenzial besteht, Punkte als Kontextualisierungsmittel für kommunikative ‚Anspannung‘ zu lesen. Das Beispiel zeigt, wie sehr die Gebrauchsnormen der informellen In‐ terpunktion mitunter von den kodifizierten Zeichensetzungsregeln eman‐ zipiert sind. Ob, wie, wann und wo ein Interpunktionszeichen gesetzt wird, ist in der Praxis des interaktionsorientierten Schreibens für viele Schreiber: innen eine Sache des interaktionalen Kontextes und weniger eine der syntaktischen Struktur. Diese Tendenz zum interaktionalen Prinzip lässt sich auch in einer Klasse von Interpunktionszeichen beschreiben, die schon im textorientierten Schreiben insbesondere kommunikativ interpretiert werden: Frage- und Ausrufezeichen. Bredel (2011), die einen funktionalen Zugang zur Interpunktion entwickelt, beschreibt für diese Zeichenklasse 46 2 Variation und Schreibung <?page no="47"?> den funktionalen Wert, das Verhältnis von Schreiber: in und Leser: in zu mo‐ dulieren. Die Zeichen markierten „vom Default abweichende Rollen“ (ebd.: 49) im kommunikativen Prozess. So weise das Fragezeichen beispielsweise aus, dass nicht etwa die Schreiber: in über ein bestimmtes Wissen verfüge, sondern der Leser: in entsprechendes Wissen zugeschrieben werde (vgl. ebd.: 54). Dass nun gerade das Fragezeichen im interaktionsorientierten Schreiben eine wichtige Rolle spielt, überrascht nicht. Es wird mit deutlichem Abstand als häufigstes Interpunktionszeichen in WhatsApp-Chats verwendet (vgl. Busch 2021a: 309). Seine kommunikative Funktion geht dabei über die aus der textorientierten Schriftlichkeit bekannte hinaus, indem Wissen der Leser: in nicht nur zugeschrieben wird, sondern dass mit dem Gebrauch des Fragezeichens immer auch eine direkte Aufforderung verbunden ist, dieses Wissen zu artikulieren. Damit moduliert das Zeichen nicht nur die kommunikative Rollenverteilung, sondern koordiniert darüber hinaus interaktionale Beteiligungsstrukturen - indem es Leser: innen auffordert, zu Schreiber: innen zu werden. Hierbei sind auch Gebrauchsweisen zu beobachten, bei denen sich das Fragezeichen in grammatischer Hinsicht von seiner verbalen Begleitäußerung entkoppelt und ausschließlich die direk‐ tive Funktion, der Aufforderungscharakter des Zeichens, im Vordergrund steht. Zu denken ist hier beispielsweise an die verbreitete Praxis, einzelne Fragezeichen (ganz ohne sprachlichen Ko-Text) als Textnachricht zu ver‐ senden, um eine Interaktionspartner: in zu einer Antwort zu motivieren, wenn diese zu lange auf sich warten lässt und die Gefahr besteht, dass die Interaktion abreißt. Weiteren Ausbau erfährt diese Funktionalisierung außerdem dadurch, dass Schreiber: innen von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Intensität der Aufforderung durch Iterationshäufigkeit anzuzeigen. Je mehr Frage‐ zeichen gesetzt werden, desto dringender wird eine Reaktion erbeten. Ähnlich den in Kapitel 2.4 diskutierten Buchstabeniterationen ist also auch für die kommunikativen Interpunktionszeichen die Ikonizität der Formeniteration Grundlage für eine produktive Schreibstrategie. Im Fall von Fragezeichen ist für jugendliche Schreiber: innen beobachtet worden, dass immerhin 11,5 % aller Setzungen in iterierter Form realisiert werden - für Ausrufezeichen liegt der Wert sogar bei 50,5 % (vgl. Busch 2021a: 338). Ausrufezeichen treten in den untersuchten Daten also häufiger in iterierter als in einzelner Form auf. Die ikonische Interpretation folgt dabei dem Muster ‚je mehr Ausrufezeichen, desto höher der Grad angezeigter Expressivität‘. 2.5 Interpunktionsvariation im digitalen Schreiben 47 <?page no="48"?> Bislang haben wir damit zwei wesentliche Eigenschaften von Interpunk‐ tion im interaktionsorientierten Schreiben kennengelernt: Zum einen ist eine tendenzielle Nichtsetzung von syntaktischen Grenzsignalen festzu‐ stellen (die die Basis für die neue kommunikative Funktion des Punktes bildet), zum anderen bemerken wir einen gehäuften Gebrauch von Frage- und Ausrufezeichen (die dann einer sozialen Konvention zur Expressivität entsprechen). Um dieses Bild zu vervollständigen, möchten wir abschließend außerdem auf die Auslassungspunkte eingehen, die in den zugrunde gelegten Daten gleich hinter dem Fragezeichen als zweithäufigstes Inter‐ punktionszeichen auffallen (vgl. Busch 2021a: 309). Diese hohe Frequenz ist auch deswegen bemerkenswert, weil das Zeichen im schulischen Schreiben derselben Jugendlichen kaum eine Rolle spielt. In der Messenger-Kommu‐ nikation steht das Zeichen jedoch immer wieder am Ende, aber teils auch im Inneren von Nachrichten. Seine Formseite ist dabei hochvariabel. Mal erscheinen die Auslassungspunkte als einfach-iterierter Punkt <..>, mal entsprechen sie der kodifizierten Variante <…> und mal treten sie als expandierte Varianten wie <….> oder <…..> auf. Die Funktion der Zeichen richtet sich dabei vor allem nach ihrer Stel‐ lung in der Nachricht (vgl. Androutsopoulos 2020): Auslassungspunkte im Inneren von Nachrichten stehen in der Regel an der Grenze verschiedener Teilhandlungen. Beispielsweise segmentieren sie dann den Gruß von der Frage (z. B. in der Nachricht moinsen… hast du heute zeit? : D). Androut‐ sopoulous geht davon aus, dass Auslassungspunkten hier eine Funktion als „Allzweck-Segmentierer“ (ebd.: 155) zukommt, indem sie durch das orthographische Regelwerk weniger normativ festgelegt sind als beispiels‐ weise das Komma oder der Punkt. Segmentierende Auslassungspunkte können so variabel Wörter, Phrasen oder Sätze untergliedern und bilden so gewissermaßen semantische Pakete, in die eine Textnachricht strukturiert ist. Stehen Auslassungspunkte am Ende einer Nachricht, entfalten sie hinge‐ gen eine Andeutungsfunktion. Wer einen Beitrag mit <…> beendet, gibt zu verstehen, dass es eigentlich noch mehr zu schreiben gäbe. Das kann insbesondere dann eine relevante Schreibstrategie sein, wenn dispräferierte Handlungszüge realisiert werden, die potenziell als unhöflich wahrgenom‐ men werden könnten. Beispielsweise erfordern Absagen in Verabredungs‐ sequenzen (Leider passt es mir doch nicht…) oder auch direkte Handlungsauf‐ forderungen (Schick mir doch bitte die Fotos…) eine Begründung, um sozial akzeptabel zu sein. Diese liefern die Auslassungspunkte zwar nicht, deuten 48 2 Variation und Schreibung <?page no="49"?> aber doch an, dass die Schreiber: in um das gesichtsbedrohende Potenzial der Nachricht weiß. Auslassungspunkte sind in diesen Fällen Mittel der kommunikativen Abschwächung und können als Höflichkeitsverfahren analysiert werden. In anderen Fällen leiten Auslassungspunkte die Leser: in an, den nötigen Schluss aus einer Äußerung zu ziehen. In der folgenden Chat-Sequenz erwähnt Julian beispielsweise nicht explizit, dass er den Roman von Günter Grass für den Deutschunterricht noch nicht gelesen habe - seine Einlassung, dass er das Buch gerade erst gekauft habe, lässt in Kombination mit den Auslassungspunkten und dem Emoji allerdings nur einen Schluss zu: (4) 1 12: 23: Julian: Hast du grass eigentlich schon gelesen 2 12: 23: Julian: Ich habs mir gerade grkauft… 😕 3 12: 24: Max: Nö werd ich vor schulbeginn auch net mache 😂 Ähnlich wie das Fragezeichen fordern Auslassungspunkte im interaktions‐ orientierten Schreiben Leser: innen also auf, selbst in Aktion zu treten und Wissenselemente, die nur angedeutet sind, beizusteuern, um so zu einer umfänglichen Interpretation einer Textnachricht zu gelangen. Während ein beitragsfinaler Punkt einen interaktionalen Strom strikt beendet, halten Auslassungspunkte die Interaktion in diesem Sinne offen. Indem ein zentra‐ ler Teil der Äußerungsbedeutung unausgesprochen bleibt und der jeweiligen Ausdeutung der Beteiligten unterliegt, geht mit dem Zeichen außerdem eine gewisse Vagheit einher. Wo im interaktionsorientierten Schreiben Auslassungspunkte stehen, dort ist man gut beraten, zwischen den Zeilen zu lesen. Damit können wir zusammenfassend feststellen, dass sich Schreiber: in‐ nen auch in informellen, digitalen Kontexten unterschiedlicher Formen aus dem Interpunktionsinventar des Deutschen bedienen. Interpunktion ist eine fundamentale Zeichenressource, um geschriebene Interaktionen zu strukturieren und durch zusätzliche kommunikative und soziale Bedeutung zu kontextualisieren. In diesem Sinne ist digitale Zeichensetzung nicht bloß durch strukturellen Minimalismus und Maximalismus geprägt, wie dies Crystal (2015) konstatiert, sondern variiert auch in funktionaler Hinsicht. Je nach Schreibkontext sind für Schreiber: innen nicht nur unterschiedliche Interpunktionszeichen mehr oder weniger relevant, mitunter erlangen diese 2.5 Interpunktionsvariation im digitalen Schreiben 49 <?page no="50"?> Zeichen in interaktionalen Sequenzen gegenüber ihren traditionellen Ver‐ wendungsweisen innovative Funktionen. 2.6 Digitale Schriftlichkeit als Gegenstand des Deutschunterrichts Der variante Gebrauch von Schrift in digitalen Medien, der den literalen Alltag in dieser Weise prägt, bietet sich in verschiedener Hinsicht als Gegenstand des schulischen Deutschunterrichts der Sekundarstufe II an. Die Beschäftigung mit der eigenen alltäglichen Schreibpraxis in unterschiedli‐ chen Medien kann helfen, Lernziele in den Kompetenzbereichen Schreiben und Lesen sowie Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen und Sprache und Sprachgebrauch reflektieren zu erreichen. Nachdem das Aufgreifen der literalen Online-Praktiken in dieser Hinsicht für den Deutschunterricht durchaus eine längere Tradition besitzt (für einen Literaturüberblick vgl. Waibel 2010, grundsätzlich zum digitalen Deutschunterricht vgl. Wampfler 2017 sowie den Sammelband von Gailberger & Wietzke 2018), sind in den vergangenen Jahren vermehrt auch sprach- und mediendidaktische Arbei‐ ten publiziert worden, die sich dezidiert mit mobiler Messenger-Kommuni‐ kation auseinandersetzen. So wägen zum Beispiel Bonderer & Dürscheid (2019) die Pro- und Contra-Argumente der Thematisierung von WhatsApp im Unterricht ab und präsentieren einen Vorschlag für eine Unterrichtsein‐ heit zu Emojis. Beißwenger (2018) sowie Fladrich & Imo (2019) plädieren ebenfalls für eine Behandlung von WhatsApp im Deutschunterricht und legen in ihren Unterrichtsvorschlägen jeweils einen Fokus auf die Besonder‐ heiten des interaktionsorientierten Schreibens. Wir schließen im Folgenden an diese Überlegungen an und stellen dabei - anknüpfend an die zwei vorausgegangenen Abschnitte - Schreibvariation als Gegenstand des Deutschunterrichts in den Mittelpunkt unserer Darstellung. Dabei kann und sollte es natürlich nicht darum gehen, Schüler: innen in ihrer digitalen Schriftlichkeit ‚zu verbessern‘ und normative Erwartungen der textorientierten Standardschriftlichkeit an Schreibungen in interakti‐ onsorientierten, informellen Kontexten heranzutragen. Stattdessen ist es gerade im Gegenteil wünschenswert, die alltägliche Ausdifferenzierung von literalen Praktiken als Anknüpfungspunkt für Fragen nach Variation, wechselnder Angemessenheit und Funktionalität von Schreibungen für den Unterricht nutzbar zu machen. Übergeordnetes Vermittlungsziel ist 50 2 Variation und Schreibung <?page no="51"?> ein kontextübergreifendes Verständnis von Schrift als funktionales und kontextsensitives Kommunikationsmittel. Im Vergleich mit dem interakti‐ onsorientierten Schreiben können Schüler: innen so auch Erkenntnisse über Formen und Funktionen des textorientierten Schreibens erreichen. Die Orthographie des geschriebenen Standards wird dann als Hilfsmittel für ein reibungsloses Gelingen asynchroner Kommunikation reflektiert. Ein solches aktives Verständnis der Funktionen des Standards und seiner gesellschaftlichen Verankerung ist im Deutschunterricht insofern besonders wichtig, als stets die latente Gefahr einer defizit-orientierten Wahrneh‐ mung von Orthographie durch die schulische Praxis der Korrektur und der Benotung besteht. So hat Orthographie für Schüler: innen vor allem dann eine alltägliche Relevanz, wenn Regeln nicht eingehalten werden und dementsprechend Sanktionen drohen. In dieser defizit-orientierten Praxis spielt sich dann zum Beispiel ein, dass Kommata primär deswegen gesetzt werden, weil ein fehlendes Komma einen Zeichensetzungsfehler bedeuten würde - und nicht etwa, um syntaktische Grenzen anzuzeigen und damit einen besseren Leseprozess sicherzustellen. Die Förderung einer funktiona‐ len Perspektive auf Schreibung und Zeichensetzung ist daher enorm wichtig, um dieser Tendenz entgegenzuwirken. Orthographische Normierung kann dann von den Schüler: innen auch über Bewertungskontexte hinausgehend als relevante Fundierung schriftlicher Kommunikation erkannt werden. Die Thematisierung außerschulischer Schreibpraxis - gerade in digita‐ len Medien - hat das Potenzial, ein solches funktionales Verständnis zu fördern, indem Schüler: innen die Kontextsensitivität von Schreibungen in ihrem eigenen sozialen Alltag verdeutlicht wird. Als Unterrichtsmaterial eignen sich daher besonders auch die eigenen Messenger-Interaktionen. Beispielsweise könnten Schüler: innen mittels WhatsApp Web Passagen aus ausgewählten eigenen WhatsApp-Chats in ein Textdokument kopieren, dort anonymisieren und schließlich als Untersuchungsgegenstand in den Unter‐ richt mitbringen. Auch das Anfertigen und die Bearbeitung von Screenshots (auch aus anderen Anwendungen des interaktionsorientierten Schreibens) kann ein technisch niedrigschwelliger Weg sein, authentische Chats für den Unterricht zu gewinnen. Die Passagen lassen sich dann auf sprachliche Auffälligkeiten untersuchen, die als funktionale und mitunter sozial bedeut‐ same Varianten im Kontext ihres Gebrauchs interpretiert werden können. Zudem können Schüler: innen so auch an eine vergleichende Perspektive auf Schreibungen in unterschiedlichen Situationen herangeführt werden. Sie können untersuchen, wie sich ihr eigenes Schreiben je nach Adressat: in, 2.6 Digitale Schriftlichkeit als Gegenstand des Deutschunterrichts 51 <?page no="52"?> Medium und kommunikativer Handlung verändert und geschriebene Spra‐ che damit als variables Kommunikationsmittel reflektieren, das sie bereits - mal bewusster, mal unbewusster - souverän und stilsicher beherrschen. Eine Unterrichtseinheit zu Schreibungen in digitalen Medien sollte den Schüler: innen hierfür eine Analyse in zwei methodischen Schritten vermit‐ teln: Zuerst geht es darum, sprachstrukturelle Formen als kontextspe‐ zifisch zu identifizieren. Welche Schreibungen finden sich zum Beispiel nur in WhatsApp-Chats, nicht aber in Schultexten, und wie lassen sich diese Formen strukturell beschreiben? Hierzu gehört dann die grundlegende Beschäftigung mit orthographischen Prinzipien und den Phänomenen von Buchstabenvariation, die in Kapitel 2.4 vorgestellt wurden. Dabei kann die Analyse phonostilistischer Schreibungen die grundsätzlich phonetische Strukturierung alphabetischer Schriftsysteme verdeutlichen. Schüler: innen können feststellen, dass sie lautliche Merkmale gesprochener Umgangs‐ sprache (also Reduktionsformen und Verschleifungen), dialektale Ausspra‐ che oder emphatische Dehnungen ohne Weiteres mit Rückgriff auf die Phonem-Graphem-Korrespondenzen des Deutschen verschriften können, ohne dass die entsprechenden Schreibungen in Wörterbüchern zu finden sein müssen. Schüler: innen können so erkennen, dass für eine lautliche Wortgestalt potenziell unterschiedliche Schreibungen möglich sind und erst der Akt der Normierung eine Variante als orthographisch korrekte Schreibung lizensiert. So kann es gelingen, das phonetische Prinzip als Basis des alphabetischen Schreibens anschaulich zu thematisieren, aber auch sein Zusammenspiel mit anderen Schreibprinzipien, insbesondere dem Stammprinzip, zu reflektieren und damit ein tiefes Verständnis des deutschen Schriftsystems zu erwerben (vgl. Steinig & Ramers 2020). Ein ähnliches formenbezogenes Vorgehen lässt sich außerdem auch an Interpunktionsformen anlegen, wie wir sie in Kapitel 2.5 dargestellt haben. Zuerst sollten die Besonderheiten von Interpunktionsgebrauch im inter‐ aktionsorientierten Schreiben identifiziert und strukturell beschrieben werden: • Welche Interpunktionszeichen werden genutzt und welche findet man nur selten oder überhaupt nicht? • Welche Interpunktionszeichen werden vielleicht anders als im textori‐ entierten Schreiben in wiederholter Form gebraucht? Hier kann dann zum Beispiel auffallen, dass Kommata im textorientierten Schreiben nur selten genutzt, Satzschlusszeichen am Ende von Nachrichten 52 2 Variation und Schreibung <?page no="53"?> häufig ausgelassen oder durch Emojis ersetzt und Frage- und Ausrufezei‐ chen in wiederholter Form realisiert werden. Auch ein besonders häufiger Gebrauch von Auslassungspunkten am Ende von Nachrichten könnte Schü‐ ler: innen auffallen. Im zweiten methodischen Schritt geht es dann darum, die von den Schü‐ ler: innen identifizierten Formmerkmale funktional zu interpretieren. Für die funktionale Analyse ist der Vergleich zwischen textorientiertem und interaktionsorientiertem Schreiben ebenfalls hilfreich. So kann im Vergleich der zwei Schreibkontexte zum Beispiel reflektiert werden, dass Tippfehler im interaktionsorientierten Schreiben in Kauf genommen werden, um die Geschwindigkeit des Nachrichtenaustausches zu erhöhen, oder auch dass syntaktische Interpunktionszeichen häufig verzichtbar erscheinen, weil in den meisten Textnachrichten ein eher parataktischer Satzbau vorliegt. Andere Formen wiederum können als Kontextualisierungshinweise erkannt werden, die eine Interaktion als informell ausweisen oder bestimmte kom‐ munikative Haltungen anzeigen. Hierbei können die Schüler: innen etwa phonostilistische Merkmale untersuchen und so grundsätzlich herausar‐ beiten, dass die gesprochene Umgangssprache eine wichtige Ressource ist, um informelle Schreibungen zu produzieren. Die Analyse kann aber darüber hinausgehen, indem die interaktionale Funktion von bestimmten Formen, etwa von andeutenden Auslassungspunkten oder emphatischen Buchstabenwiederholungen, nachvollzogen wird. An solchen Schreibungen können Schüler: innen erkennen, welchen kommunikativen Effekt mitunter unauffällige Schriftzeichen entfalten, indem sie der Frage nachgehen, wie sich die Bedeutung einer Nachricht ändern würde, wenn eine andere Schreibvariante gewählt worden wäre: Welche Lesart käme also zum Bei‐ spiel zustande, wenn eine Nachricht nicht mit drei Ausrufezeichen, sondern mit einem Punkt oder Auslassungspunkten beendet worden wäre? Welchen Unterschied würde es machen, wenn zum Beispiel statt isso die Vollform ist so gewählt worden wäre? Welche Rolle spielen Emojis beispielsweise bei der Absage einer Verabredung? Fragen wie diese helfen, das eigene Schreiben funktional zu reflektieren und die kommunikative und soziale Funktion von Variation zu verstehen. Die konkreten Analysegegenstände sind dabei natürlich sehr abhängig von den Chat-Ausschnitten, die Schüler: innen in den Unterricht einbrin‐ gen. Der Fokus auf die eigene Schreibpraxis hat aber den Vorteil, dass die Schüler: innen als Expert: innen für Schreibungen auftreten können, die in ihrem Alltag tatsächlich eine Rolle spielen. Die eigenen literalen 2.6 Digitale Schriftlichkeit als Gegenstand des Deutschunterrichts 53 <?page no="54"?> Praktiken abseits der Schule werden so als Kommunikationskultur mit eigenen Gebrauchsnormen ernst genommen und als eine gleichwertige literale Praxis unter anderen reflektiert. Die Aufgabe der Lehrkraft ist es, das vorhandene Reflexionspotenzial über Kontextangemessenheit und Funktionalität von Sprachformen nun auch auf andere Schreibkontexte zu übertragen und deutlich zu machen, dass eben auch in einer schulischen Erörterung oder einem Bewerbungsschreiben sprachliche Mittel funktional herangezogen werden. So können dann die Kontextkonstellationen des textorientierten Schreibens im Vergleich zu eigenen literalen Praktiken der Freizeit behandelt werden. 2.7 Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir uns mit Schrift und Schriftlichkeit als Ge‐ genstand der Soziolinguistik beschäftigt und digitale Kommunikation als Forschungsfeld kennengelernt, in dem funktionale Schreibvariationen zu beobachten sind. Wir haben dafür zunächst das Konzept der Literalität herangezogen und Schriftlichkeit in den diversen literalen Praktiken einer Gesellschaft verortet. Schrift ist in dieser Perspektive mehr als ein bloßes Aufzeichnungsmittel, um sprachliche Zeichen zu fixieren, sondern wird in seiner Funktion betrachtet, soziale Handlungen herzustellen. Literale Praktiken lassen sich grundsätzlich danach unterscheiden, ob ihnen ein textorientiertes oder ein interaktionsorientiertes Schreiben zugrunde liegt. Textorientiertes Schreiben zielt auf die Hervorbringung eines schriftlichen Produktes ab, das situationsübergreifend der asynchronen Kommunikation dient. Interaktionsorientiertes Schreiben ermöglicht hingegen den wechsel‐ seitigen, (quasi-)synchronen Austausch von Beteiligten in einer gemeinsa‐ men Situation, die mittels digitaler Medien hergestellt wird. Wir haben weiterhin betrachtet, inwiefern literale Praktiken mit ver‐ schiedenen Typen von skriptural-graphischer Variation einhergehen und wie geschriebene Varianten kommunikativ und sozial bedeutsam werden können. Ein besonderer Fokus galt dabei der graphematischen Variation - also dem variablen Umgang mit den Phonem-Graphem-Korrespondenzen des Deutschen. Diese Variationstypen konnten wir anhand des Schriftge‐ brauchs in Messenger-Interaktionen nachvollziehen. Es zeigte sich, dass in den informellen Kontexten des interaktionsorientierten Schreibens neue Gebrauchsnormen Bestand haben, die sich teils von der orthographischen 54 2 Variation und Schreibung <?page no="55"?> Norm unterscheiden. Dabei haben wir zum einen festgestellt, dass infor‐ melle Sprechstile eine wichtige Ressource phonostilistischer Schreibungen darstellen (kommste, ich hab usw.). Zum anderen konnten wir aber auch graphostilistische, lautlich invariante Schreibungen sowie Buchstabenwie‐ derholungen und Majuskelschreibungen als Varianten des interaktionsori‐ entierten Schreibens identifizieren und ihre kommunikativen Funktionen nachvollziehen. Als zweiten Formbereich widmeten wir uns der Zeichensetzung. Auch hierbei wurde deutlich, dass sich im interaktionsorientierten Schreiben eigene Interpunktionspraktiken ausgebildet haben. Diese interaktionale Funktionalisierung von Interpunktion konnten wir exemplarisch für den Punkt, das Ausrufezeichen, das Fragezeichen und die Auslassungspunkte nachvollziehen. Damit wurde sowohl für den Bereich der Wortschreibung als auch für den Bereich der Zeichensetzung deutlich, dass Varianten, die nicht der orthographischen Verwendung entsprechen, in vielen Fällen nicht bloß als abweichend, sondern vielmehr als funktional gefasst werden sollten. Eine solche Perspektive auf Schreibvariation wurde dann als Grundlage für eine reflexive und produktive Behandlung dieser graphischen Phäno‐ mene im Deutschunterricht erkannt. Schüler: innen können anhand ihrer eigenen literalen Praktiken in digitalen Medien erarbeiten, wie Sprach- und Schriftgebrauch kontextsensitiv variiert und je nach Adressat: in, kommunikativer Aktivität und Medium unterschiedliche Angemessenheits‐ normen gelten. Mit Blick auf die lebensweltliche Relevanz, die mobile Messenger-Anwendungen derzeit für Schüler: innen innehaben, sollte der Deutschunterricht solche Reflexionen anregen und begleiten - und im besten Falle in ein funktionales Verständnis von Standardschriftlichkeit überführen, um eine defizit-orientierte Wahrnehmung von Orthographie zu überwinden. 2.8 Aufgaben 1. Rekapitulieren Sie Ihre letzte Woche und notieren sich, in welchen Situationen und zu welchen kommunikativen Zwecken Sie in diesem Zeitraum Schrift gebraucht haben. Welche literalen Praktiken prägen Ihren Alltag und welche sprachlichen Varianten sind für diese Praktiken jeweils charakteristisch? 2.8 Aufgaben 55 <?page no="56"?> 2. Recherchieren Sie in Comic-Heften nach graphematischer Variation. Welche Funktion kommt diesen Schreibungen in dieser Gattung zu? 3. Markieren Sie im folgenden Chat-Ausschnitt alle Varianten, die Sie auf die Kontextbedingungen des interaktionsorientierten Schreibens zurückführen. Welche Kontextualisierungshinweise geben sich Anne und Otto hier? 01 20: 46: 37: Anne: Was machst du eigendlich so an halloween-… 🎃🎃👻 02 20: 47: 36: Otto: Geh mit tim und max irgendwas machen du 03 20: 50: 17: Anne: Geh mit lena, vllt vanessa, cem und caro irgend etwas machen-… ich mag halloween nicht sooo gerne denn ich erschrecke mich immer und ich bin auch immer das opfer das erschreckt wird -… 😄😳😔 04 20: 51: 43: Otto: Hehe 😈👹🙅🏼 05 20: 52: 12: Anne: Achso und marie 06 20: 52: 47: Anne: Ich werde immer erschreckt-… das ist echt gemein 😔 07 20: 53: 16: Otto: Haha jaaaa 😈😈 08 20: 54: 40: Anne: Ich war letztes halloween 20 sekunden in SCHOCKSTARRE das war sooooo heftig man fast ein herz stillstand 😔 09 20: 55: 15: Otto: Oh man 😂😬 10 20: 56: 06: Anne: Jaaaa ich werde immer geärgert mal gucken was dieses jahr so ist-… aber ich lasse mich nicht erschrecken 😌 11 20: 56: 57: Otto: Ja ja 😁😂 12 20: 57: 46: Anne: Nicht ja ja ich werde mich NICHT erschrecken-… diesmal werde ich die anderen erschrecken 13 20: 58: 48: Otto: Ok 😂❤ 14 21: 00: 01: Anne: Jaa ❤❤❤❤❤ bei mir ist nur so ein bisschen das problem man kann mich mit jeder kelinen sache todest erschrecken 😄☺ 15 21: 00: 38: Otto: Ich weiß 😂😈 16 21: 01: 49: Anne: Ja leider 😔😄 ich werde dich aber auch irgendwann mal erschrecken 17 21: 02: 21: Otto: Hoff nicht 😂 56 2 Variation und Schreibung <?page no="57"?> 2.9 Weiterführende Literatur Ein ausführliches Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel finden Sie unter www.narr.de. Androutsopoulos, Jannis; Busch, Florian (2020): Register des Graphischen. Skizze eines Forschungsansatzes. In: Androutsopoulos, Jannis; Busch, Florian (Hrsg.): Register des Graphischen. Variation, Interaktion und Reflexion in der digitalen Schriftlichkeit. Berlin, Boston: de Gruyter, S.-1-29. Beißwenger, Michael (2018): -WhatsApp, Facebook, Instagram & Co.: Schriftliche Kommunikation im Netz als Thema in der Sekundarstufe. In: Gailberger, Steffen; Wietzke, Frauke (Hrsg.): Deutschunterricht in einer digitalen Gesellschaft. Unter‐ richtsanregungen für die Sekundarstufen. Weinheim: Beltz Juventa, S.-91-124. Spitzmüller, Jürgen (2012): Vom ‚everyday speech‘ zum ‚everyday writing‘. (An‐ ders-)Schreiben als Gegenstand der interpretativen Soziolinguistik. In: Schuster, Britt-Marie; Tophinke, Doris (Hrsg.): Andersschreiben. Formen, Funktionen, Tradi‐ tionen. Berlin: Schmidt, S.-115-133. Steinig, Wolfgang; Ramers, Karl Heinz (2020): Orthografie. Tübingen: Narr Francke Attempto. Storrer, Angelika (2018): Interaktionsorientiertes Schreiben im Internet. In: Depper‐ mann, Arnulf; Reineke, Silke (Hrsg.): Sprache im kommunikativen, interaktiven und kulturellen Kontext. Berlin, Boston: de Gruyter, S.-219-244. 2.9 Weiterführende Literatur 57 <?page no="59"?> 3 Variation und Grammatik In diesem Kapitel zeigen wir, dass es nicht die eine (einzige, richtige) Grammatik des Deutschen gibt, sondern dass auch Grammatik dem Sprach‐ wandel unterliegt und dass Variation zumeist funktional zu erklären ist (vgl. auch Hennig 2018). Im Folgenden legen wir grammatische Variationsphä‐ nomene schwerpunktmäßig aus dem Spannungsfeld von gesprochener und geschriebener Sprache und ausgehend von den systematischen sprachlichen Teilbereichen der deutschen Grammatik dar, da davon auszugehen ist, dass Sprachwandel als Auslöser von Variation oft seinen Ausgangspunkt in der gesprochenen Sprache hat. Denn diese verfügt als weniger normierte Ausprägung der Sprache grundsätzlich über eine höhere Variabilität als die kodifizierte Schriftsprache. Im Folgenden werden dabei zugunsten einer morphologischen und syntaktischen Perspektive (Fokus auf Grammatik) die Ebenen der Laute, Silben und Prosodie sowie die nonverbale Kommunika‐ tion ausgeblendet. Es ist angesichts der generellen Dominanz der Wahrnehmung der Gram‐ matik ‚durch die Schriftbrille‘ (Skriptizismus) angebracht, nach einer Vor‐ bemerkung (→ 3.1) erst kurz etwas zum Verhältnis und zu den Kommuni‐ kationsbedingungen von gesprochener und geschriebener Sprache zu sagen, die die Variationen oft erst bedingen und vor deren Hintergrund sich die Funktionalität der variierenden Formen zeigt (→ 3.2). Danach beleuchten wir zunächst flexionsmorphologische Variation im Verbal- (u. a. Tempus) und Nominal- (u. a. Kasus)-Bereich (→ 3.3) sowie Variation im Satzbau (→ 3.4), ehe grammatische Variation noch einmal rückblickend auf die be‐ trachteten Phänomene zwischen gesprochener und geschriebener Sprache verortet wird (→ 3.5). Schließlich diskutieren wir das didaktische Potenzial grammatischer Variation (→ 3.6) und reflektieren dabei insbesondere das in der Öffentlichkeit oft hervorgehobene Beispiel der Verbzweitstellung bei weil-Sätzen (→ 3.7). 3.1 Vorbemerkung Sprachliche Variation im Bereich der Grammatik des Deutschen thematisie‐ ren zu wollen, erfordert eine Klärung, was mit ‚dem Deutschen‘ gemeint ist. Gemeinhin denken Sprachnutzende beim ‚Deutschen‘ an die Standard‐ <?page no="60"?> sprache. Die Grammatik des Deutschen wird in diesem Zusammenhang am ehesten mit den Normen der kodifizierten Schriftsprache assoziiert - die zudem als homogen wahrgenommen werden; es dominiert der Glaube an die Existenz der einen existierenden Grammatik des (Standard-)Deut‐ schen, die auch im Unterricht Deutsch als Fremdsprache gelehrt wird. Die Sprachöffentlichkeit denkt hierbei schnell an den Grammatik-Duden (vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 5 zur Sprachideologie in Bezug auf die Standardsprache). Doch die Lage ist weitaus komplexer, und die sprachliche Variation versteckt sich genau hinter dieser Komplexität, die im Folgenden ausein‐ anderdividiert wird. Es beginnt schon damit, dass es auch ‚den Gramma‐ tik-Duden‘ nicht gibt. Zunächst einmal verbinden viele Sprachnutzende, selbst Germanistik-Studierende, mit ‚dem Duden‘ ohnehin oft nur den Rechtschreib-Duden, der nur rudimentäre grammatische Angaben enthält. Doch selbst bei den tatsächlich die Grammatik fokussierenden Duden-Bän‐ den gibt es mehrere: Einerseits gibt es die ‚große‘ Duden-Grammatik als (mittlerweile 2022 neu erarbeiteten) Band 4 der Duden-Reihe mit knapp 1350 Seiten, die für sich in Anspruch nimmt, „unentbehrlich für richti‐ ges Deutsch“ (Dudenredaktion 2016) zu sein und die damit eine weitere (Norm-)Frage aufwirft, nämlich die, was denn ‚richtiges‘ Deutsch ist und wer das festlegt. Andererseits gibt es eine ‚kleine‘ Duden-Grammatik (Hoberg & Hoberg 2016) mit gut 450 Seiten, eine „Duden Schulgrammatik Deutsch“ und schließlich, als Band 9 der Duden-Reihe, auch noch ein Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (Hennig 2021), das viele grammatische Fragen thematisiert und behauptet, „richtiges“ und „gutes Deutsch“ zu vermitteln. „Gutes Deutsch“ scheint demnach nicht identisch mit „richtigem Deutsch“ zu sein. Der Titel dieses Werkes zeigt bereits, dass Grammatik offenbar nicht immer eindeutig und einheitlich ist, denn Zweifelsfälle gibt es nur dort, wo es Variation und Varianten gibt. Zu fragen ist nun, wie und wodurch es zu solchen Varianten und Zweifels‐ fällen kommt - und ob es dann überhaupt sinnvoll ist, von einer (einzigen) Grammatik des Deutschen zu sprechen. Die Antworten sollen im Folgenden anhand konkreter Phänomene exemplifiziert werden. Als Ursache auch grammatischer Varianten kommen die ‚traditionellen‘ Dia-Ebenen des Deutschen (→ 1.1.1) in Frage. Aus diachroner Perspektive kann Sprachwandel dazu führen, dass Varianten koexistieren, etwa die stark flektierte Partizipform gewunken zum eigentlich schwach flektierenden Verb winken mit der vormals üblichen 60 3 Variation und Grammatik <?page no="61"?> Form gewinkt. Die Sprachteilhabenden, die mit beiden Formen konfrontiert sind, fragen sich, welche Form ‚richtig‘ oder/ und ‚gut‘ ist, da sie noch keine als veraltet empfinden. Aus diatopischer Perspektive ist etwa dialekt‐ ale Variation ursächlich für die Koexistenz verschiedener Formen (die Butter neben der Butter im Bairischen oder Schwäbischen). Aus diastrati‐ scher Perspektive werden koexistente Formen auf die Zugehörigkeit der Sprecher: innen zu einer bestimmten Bildungs- oder Sozialschicht zurückgeführt, so etwa die Verwendung der auxiliaren tun-Periphrase (Ich tu das kochen.) oder das Auslassen von Artikeln und/ oder Präpositionen (Ich geh Kino.). In diaphasischer Perspektive existieren etwa alltagssprachliche Formen (widersprechen) neben fachsprachlichen (juristisch: Widerspruch einlegen). Aus diamedialer Perspektive wird die Diskussion geführt, ob die gesprochene Sprache einer eigenen Grammatik folgt (vgl. etwa Fiehler et al 2004; Hennig 2006) - und inwiefern die Sprachverwendung im Kontext digitaler, interaktiver Medien eigene grammatische Formen hervorbringt. 3.2 Grundbedingungen und Besonderheiten mündlicher Kommunikation und gesprochener Sprache Fiehler et al. (2004) stellen elf Thesen zu gesprochener Sprache auf. Hierin betonen sie unter anderem, dass diese keineswegs als in sich homogen anzusehen ist, sondern gekennzeichnet sei „durch eine große Vielfalt und Varianz“ (Fiehler et al. 2004: 22). Zudem sei die Realisierung gesprochener Sprache jeweils von der kommunikativen Praktik geprägt, in der kommu‐ niziert werde - und variiere somit je nach Praktik. Kommunikative Praktiken werden als „Grundformen der Verständi‐ gung“ und „gesellschaftlich herausgebildete konventionalisierte Verfah‐ ren zur Bearbeitung rekurrenter kommunikativer Zwecke“ angesehen (Fiehler et al. 2004: 16), die soziale Regeln und Konventionen beinhalten. Die wesentlichen Eigenschaften gesprochener Sprache ließen sich aus den Grundbedingungen mündlicher Kommunikation herleiten. Hierbei zeige 3.2 Grundbedingungen und Besonderheiten mündlicher Kommunikation 61 <?page no="62"?> sich, dass viele Phänomene der gesprochenen Sprache, die gemeinhin der Medialität der Mündlichkeit zugeschrieben würden, eigentlich durch die Prozesshaftigkeit, d. h. insbesondere die Kommunikationsbedingungen der Interaktivität und Synchronizität, aber auch anderer Bedingungen (Multi‐ modalität, Kurzlebigkeit/ Flüchtigkeit, Wechselseitigkeit, Zeitlichkeit/ chro‐ nologische Linearität, Institutionalität usw.), zu begründen seien. Die Merkmale gesprochener Sprache, die sich hieraus ergeben, haben oft keinen exklusiven Charakter. Sie kommen also nicht nur in gesprochener Sprache vor, sondern sie sind präferentiell, d. h., sie treten in höherer Frequenz als in geschriebener Sprache auf. Zum Beispiel findet man in gesprochener Sprache, auch bei gebildeten Sprechern, mehr parataktische Satzkonstruktionen als in der geschriebenen Sprache, in der Parataxe aber durchaus auch vorkommt. Daher stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, von einer (einzigen) Gram‐ matik des Deutschen als einem System mit zwei verschiedenen Realisierun‐ gen auszugehen - oder von zwei Systemen/ eigenständigen Grammatiken, die ggf. eine gemeinsame Schnittmenge aufweisen. Hierhin gehört auch die Diskussion um einen (eigenen) ‚gesprochenen Standard‘ des Deutschen (vgl. etwa Schneider 2011). Unter Würdigung der Eigenständigkeit und Gleichberechtigung von gesprochener Sprache entwickelt Hennig (2006) eine Theorie der Grammatik der gesprochenen Sprache unter konsequenter Kopplung gram‐ matischer Formen an ihre (mündlichen) Produktionsbedingungen und Funktionen und macht grammatische Variation somit im Form-Funkti‐ ons-Zusammenhang erklärbar. Als theoretischen Hintergrund wählt sie dafür Coserius Theorie des Sprechens (1988) mit der Dreiteilung in Sys‐ tem-Norm-Rede sowie die Nähe-Distanz-Theorie von Ágel & Hennig (2006) nach Koch & Oesterreicher (1985). Variation zwischen gesprochener und geschriebener Grammatik wird hier (auf der Ebene von Prototypen) unter‐ teilt in primäre und sekundäre Unterschiede (Hennig 2006: 109). Dabei sei für primäre Unterschiede ein eigener Grammatikbegriff der gesprochenen Sprache sinnvoll, da es hier funktionale Unterschiede im Vergleich zur ge‐ schriebenen Sprache auf Systemebene gebe; sekundäre Unterschiede seien auf der Normebene verankert und entsprächen lediglich in der Gesellschaft konventionalisierten Gebrauchsregularitäten. Primäre Unterschiede liegen dann vor, wenn die gesprochene oder die geschriebene Sprache über eine Möglichkeit, eine Form oder ein Verfahren der jeweils anderen medialen Realisierung nicht verfügt. So seien etwa 62 3 Variation und Grammatik <?page no="63"?> • Konstruktionsabbrüche/ -wechsel (Anakoluthe: Was ist, sagen wir / / was entspricht mehr der Moral? ), • Abbrüche, bei denen man den Zuhörer ergänzen lässt, was nicht mehr ausgesprochen wird (Aposiopesen: Verdammte Sch…; Ich würde ihn am liebsten-…) und • Ellipsen (Einmal Köln und zurück.) (Beispiele z. T. aus Schwitalla 2012: 118 f.) ein primärer Unterschied und gesprochensprachlich eigene grammatische Formen der Textstrukturierung, die in geschriebener Sprache zwar auch vorkommen können, dann aber in anderer (z. B. stilistischer) Funktion. Sekundäre Unterschiede bestehen dort, wo sprachliche Mittel in gespro‐ chener wie in geschriebener Sprache für bestimmte gleiche Funktionen exis‐ tieren, es aber (auf Norm-Ebene) eine Bevorzugung dieses Form-Funktions‐ zusammenhangs in einer der beiden medialen Realisierungsformen gibt, z. B. die unterschiedliche Bevorzugung bestimmter Tempora (z. B. beim Präteritum), Mechanismen der Redewiedergabe, Wortstellungsphänomene u. a. Grundsätzlich sei die Abgrenzbarkeit von primären und sekundären Unterschieden allerdings schwer. Hieraus leitet Hennig (2006: 119) ein sechsgliedriges Grammatikmodell ab: Es gibt eine Grammatik des Systems (Gesamtheit funktionaler Opposi‐ tionen) und eine Grammatik der Norm (gesellschaftlich festgelegte Reali‐ sierung des Systems); beide Ebenen werden jeweils differenziert in eine gemeinsame und eine je spezifische Grammatik von gesprochener und geschriebener Grammatik. Vor dem Hintergrund der hier fokussierten funktionalen grammatischen Variation sind dabei insbesondere die auf den primären Unterschieden auf Systemebene basierenden unterschiedlichen funktionalen Systemgram‐ matiken interessant, die Hennig als Nähegrammatik (Grammatik des Systems der gesprochenen Sprache) vs. Distanzgrammatik (Grammatik des Systems der geschriebenen Sprache) bezeichnet. Auf Basis dieser theoretischen Grundlage werden im Folgenden zunächst exemplarisch verschiedene grammatische Variationen zwischen geschriebe‐ ner (Standard-)Grammatik und gesprochener Grammatik aufgeführt, formal wie funktional erläutert und ggf. in ihrer Entstehung und Existenz begründet (z. B. durch Analogiebildung o. dgl.). Viele solcher Phänomene werden von uns im Alltag gar nicht bemerkt. So wissen wir zum Beispiel, dass der Genitiv von die Nacht lautet: der Nacht. 3.2 Grundbedingungen und Besonderheiten mündlicher Kommunikation 63 <?page no="64"?> Dennoch benutzen wir in spezifischen Kontexten wie selbstverständlich auch die Sprachvariante des Nachts (im Bett grübeln), die in Analogie zu den Maskulina des Morgens, des Mittags, des Abends entstanden ist. Ähnlich liegt der Fall bei einem Ausdruck wie im Herbst diesen Jahres (statt im Herbst dieses Jahres). Dieser entstand im Rahmen einer semantischen ( Jahreszeiten), aber auch einer grammatischen Reihenbildung, da die Pronomen hier den -es-Ersatz durch schwaches -en nachvollziehen, den die Adjektive bereits vollzogen haben. Grundlegend ist hier - und nur in diesem Kontext - die Analogie zu im Herbst letzten/ vorigen/ nächsten Jahres, obwohl noch kaum jemand außerhalb dieses Kontextes grammatische Formen wie *die Hosen diesen Kindes oder *der Fahrer diesen Autos verwendet. Auch verschiedene, parallel existierende Varianten der Verbkonjugation sind gang und gäbe (etwa gewinkt/ gewunken). Grammatische Varianten gehören also zu unse‐ rem sprachlichen Alltag. 3.3 Flexionsmorphologie Beispiele für grammatische Varianten im Bereich der Flexion lassen sich zahlreich und auf verschiedensten Ebenen finden und sind auf phoneti‐ sche, dialektale, diachrone u. dgl. Einflüsse oder Gründe rückführbar, wie die folgende Übersicht zeigt (vgl. Klein 2018: 192): • Präteritumbildung: X haute/ hieb • 1. Pers. Präsens: ich haue/ hau’ • Partizip II: gesendet/ gesandt, geschlussfolgert/ schlussgefolgert • Imperativ: iss/ ess • Periphrastische Verbformen (Hilfs- + Vollverb): X ist/ hat geschwommen • Pluralformen: Bogen/ Bögen, Bunde/ Bünde, Denkmale/ Denkmäler, Piz‐ zas/ Pizzen/ Pizze, Balkons/ Balkone, Globen/ Globusse • Genitivbildung: des Krieges/ Kriegs, des Präsidenten/ Präsident, des Bärs/ Bären • Komparativ-/ Superlativbildung: dümmer/ dummer, edler/ edeler, weites‐ treichende/ weitreichendste, bestbezahlteste/ bestbezahlte • Adjektivflexion: rosa/ rosanes Hemd Dabei scheint es generell in der Bewertung der (Richtigkeit oder des angeblichen ‚Verfalls‘ von) Sprache durch die Öffentlichkeit so zu sein, dass 64 3 Variation und Grammatik <?page no="65"?> (deutlicher) flektierende Formen als die höherwertigen angesehen werden (Klein 2018: 195). Dennoch ist im Deutschen seit vielen Jahrhunderten ein Abbau flektie‐ render morphologischer Muster zu beobachten, mit dem jedoch ein Aufbau neuer Strukturen des Sprachsystems einhergeht, die die Flexionsfunktio‐ nalitäten übernehmen und z. T. neue Aufgaben erfüllen. (Auf solche Weise entstand im Übrigen der Artikel im Deutschen.) 3.3.1 Verbalmorphologie 3.3.1.1 Der Wandel von starken zu schwachen Verben Prinzipiell gibt es im Deutschen zwei Verbklassen: starke und schwache Verben. Starke Verben sind historisch primär und gekennzeichnet durch einen Vokalwechsel/ Ablaut, die Endungslosigkeit der 1. und 3. Pers. Sg. Präteritum sowie ein Partizip II auf {-en}: singen, sang, gesungen. Schwache Verben sind erst später durch einen Grammatikalisierungspro‐ zess entstanden und gekennzeichnet durch das Präteritalsuffix {-te} sowie ein Partizip II auf {-t}: lachen, lachte, gelacht. Aktuell befinden sich ca. 50 Verben im Übergang von der starken zur schwachen Flexion (löschen, behelfen, backen, laden, raten, gleiten, kneifen, schwören, flechten etc., z.B.: weben, wob, gewoben > weben, webte, gewebt) (Klein 2018: 204), was zu parallel existierenden Flexionsvarianten und Zweifelsfällen führt, die bisweilen diatopisch (ich habe/ bin geschwommen; ich fragte/ frug) und semantisch differenziert sind (er schor das Schaf/ sie scherte sich zum Teufel; gehängt/ gehangen …). Schwache Imperativformen starker Verben (geb, nehm(e), werf, les statt gib, nimm, wirf, lies) gelten nach wie vor als standardsprachlich nicht korrekt, sind aber umgangs- und insbesondere gesprochensprachlich verbreitet und auch schriftlich zu finden. Die Imperativform scheint dabei zumeist die erste Flexionsform zu sein, die die Konjugation ändert, das Partizip II hingegen die letzte Form (ich melkte statt ich molk, aber immer noch ich habe gemolken statt ich habe gemelkt) (Bittner 1996). Heute werden weniger als 5 % der Verben stark konjugiert, von den für das Althochdeutsche belegten ca. 400 ablautenden und unregelmäßi‐ gen Verben sind heute weniger als die Hälfte stark flektierend geblieben. Der Wandel von starker zu schwacher Konjugation kann angesichts der quantitativen Dominanz schwacher Verben als Analogie und als „Stärkung 3.3 Flexionsmorphologie 65 <?page no="66"?> regelhafter Strukturen“ (Klein 2018: 202) bzw. „Reorganisation statt Deka‐ denz“ (Dammel 2014: 51) verstanden werden. Dennoch sind starke Verben nicht vom Untergang bedroht, da sie sich stabil dort halten, wo sie häufig verwendet werden. Wegener (2007: 37) betont hier als Funktion das stärkere Differenzierungspotenzial der starken Verben: Zum Beispiel ist die Unterscheidung von (sie) gehen - gingen erheblich deutlicher und besser erkennbar als die zwischen (sie) suchen - suchten. Wenn heutzutage neue Verben gebildet oder aus anderen Sprachen ent‐ lehnt werden, handelt es sich jedoch immer um schwach flektierte Verben (simsen - simste, surfen - surfte, zoomen - zoomte). Gründe für den Wechsel von starker zu schwacher Flexion gibt es neben der Analogie weitere. Insbesondere stellt die Bildungsweise der schwachen Verben die kognitiv besser verarbeitbare Flexionsweise dar, da sie transpa‐ renter, uniformer und ikonischer ist (Bittner 1996). Darüber hinaus ist es ökonomischer, wenn Uneindeutiges bzw. Überflüssiges beseitigt wird und funktional Eindeutiges bzw. Notwendiges erhalten bleibt. Wenn innerhalb eines Teilsystems der Grammatik miteinander konkurrierende Formen existieren (hier: starkes und schwaches Konjugationsverhalten), streben die Sprechenden ein Minimum an Kriterien und Regeln bei größtmöglicher Eindeutigkeit an. Bei starken Verben jedoch besteht sogar bei Muttersprach‐ ler: innen bisweilen keine Einigkeit über die korrekten Formen und bei verschiedenen Generationen ist Uneinigkeit sogar erwartbar. 3.3.1.2 brauchen Ebenfalls stark in der Sprachöffentlichkeit diskutiert ist die Verwendung von brauchen mit Infinitiv ohne zu (du brauchst das nicht Ø machen) in verneinten oder einschränkenden Sätzen mit einem Infinitiv. Bei dieser semantischen Bedeutung von brauchen liegt eine syntaktische Analogie zum ähnlichen Modalverb müssen (du musst das nicht machen) vor. In der gesprochenen Sprache ist diese Tendenz der Verwendung von brauchen in der Bedeutung von ‚müssen‘ als und wie ein Modalverb bereits weitgehend verbreitet und wird gestützt durch die Elision der Personalendungen in der 1. und 3. Person Singular in der gesprochenen Sprache (ich brauchØ, du brauchst, er brauchØ), die den regulären Endungen der Modalverben (ich mussØ, du musst, er mussØ) entsprechen (Lehmann o.-J.). 66 3 Variation und Grammatik <?page no="67"?> 3.3.1.3 Tempus Im Tempusbereich fallen in Zusammenhang mit einer Tendenz zur funktio‐ nalen Neutralisierung von Perfekt und Präteritum zwei Entwicklungsten‐ denzen ins Auge, die das Entstehen bzw. die Verbreitung neuer Tempus-Vari‐ anten in breitere Bereiche des Sprachgebrauchs betreffen. Das erste sich neu entwickelnde Tempus ist der am-Progressiv, auch Rheinische Verlaufsform genannt (ich bin am Schlafen). Progressivformen sind in anderen germani‐ schen Sprachen wie dem Englischen und Niederländischen etabliert und könnten das deutsche Tempussystem im Fall einer Grammatikalisierung sinnvoll erweitern, jedoch gibt es klare regionale Präferenzen (Vorkommen v. a. in West- und Südwestdeutschland) und syntaktische Beschränkungen ( ? ich bin einen Apfel am Schälen) (vgl. hierzu auch den „Atlas der Alltags‐ sprache“ [www.atlas-alltagssprache.de] und die Aufgaben unter → 3.8). Weitere Tempus-Varianten sind das recht unsystematisch und eher idio‐ lektal verbreitete so genannte (Doppelte) Perfekt II (Ich habe den Computer schon runtergefahren gehabt.) und (Doppelte) Plusquamperfekt II (Er war hingefallen gewesen.) in den Funktionen etwa der Markierung von Vorver‐ gangenheit und der Verstärkung temporaler Aspekte im modalen Kontext. 3.3.1.4 Modus Die auffälligste Variante im modalen Bereich ist sicherlich die Verbreitung der analytischen Konjunktivbildung mit würde (ich würde kommen statt ich käme), die auch eine formale Erleichterung bei weitgehend unbekannt gewordenen Formen im Zuge des Rückgangs der Konjunktiv II-Verwendung darstellt (ich würde helfen statt ich hülfe). Doch auch der Konjunktiv I befindet sich in bestimmten Kontexten auf dem Rückzug, so etwa bei markierter indirekter Rede, wo er redundant ist (Er hat gesagt, dass er heute kommt/ komme.). In diesem Umfeld ist auch eine zunehmend fehlende Diffe‐ renzierung zwischen Konjunktiv I und II zu beobachten und der Konjunktiv II wird bei Formgleichheit von Konjunktiv I und Indikativ bevorzugt (Peter sagt, Paul komme/ käme heute bestimmt.). Insgesamt ist die Konjunktivverwendung, generell wie in formaler Hin‐ sicht (analytisch oder synthetisch) oft eine Frage des passenden (situativ angemessenen) oder persönlichen Stils ( ? Flöhest Du mit mir aus der Kneipe, hülfest Du mir.) 3.3 Flexionsmorphologie 67 <?page no="68"?> 3.3.1.5 Auxiliare tun-Periphrase Weitere Varianten im Verbalbereich betreffen die Verwendung der auxilia‐ ren tun-Periphrase, die fast nur im Gesprochenen anzutreffen und stilistisch und diastratisch stark markiert ist. Hier steht das Vollverb des Satzes im Infinitiv, folgt auf ein auxiliares tun und bildet die rechte Satzklammer (Ich tu sie hören.). Diese Form gilt als umgangssprachlich und standardsprachlich nicht korrekt und findet sich selten bis gar nicht in geschriebener Sprache. Lediglich die Variante mit einem Vollverb im Vorfeld (Hören tut man sie nicht.) gilt als standardsprachlich korrekt. Die Verwendung im Konjunktiv II (Ich höre sie selten, täte ich jetzt mal sagen.) ist dialektal verbreitet. Funktional erklärbar ist die auxiliare tun-Periphrase morphologisch wie inhaltlich durch folgende Aspekte: • allgemeiner eine günstigere Prosodie, spezieller: die Dismabiguierung (z. B. Sie TUT doch arbeiten. oder Sie tut doch ARBEITEN. vs. ambiges Sie ARBEITET doch.) • die Umgehung von komplexen Morphemen • den Ausdruck von Unerwartetem • die Möglichkeit zur Redeplanung • das inhaltliche Entgegensetzen/ Verstärken/ Widersprechen • das Ankündigen einer Handlung Schließlich kann im Kontext von Flexions-Varianten im Verbalbereich die Tendenz zur Trennung auch nicht-trennbarer Verben erwähnt werden, die zu Zweifelsfällen führt (er übergeneralisiert/ um nicht zu übergeneralisieren vs. er generalisiert über/ um nicht überzugeneralisieren). 3.3.2 Nominalmorphologie Auch im Nominalbereich treten im - v. a. gesprochenen - Deutschen zahl‐ reiche grammatische Varianten auf. Hier wären an dieser Stelle zahlreiche Phänomene wie etwa die Genusunsicherheit (der/ das Laptop, der/ das Virus, der/ die/ das Joghurt-…) oder die Pluralmarkierung bei deutschen (Jungen(s), Onkel/ Onkels/ Onkeln) wie bei Fremdwörtern (Pizzas/ Pizzen, Taxis/ Taxen) thematisierenswert, aber im Folgenden wird speziell der Kasus-Bereich am Beispiel zweier Entwicklungstendenzen hervorgehoben: 1. der (angebliche) Rückgang des Genitivs, den insbesondere der Sprach‐ kritiker Bastian Sick mit seiner Buchreihe „Der Dativ ist dem Genitiv 68 3 Variation und Grammatik <?page no="69"?> sein Tod“ ins Licht der deutschen Öffentlichkeit gerückt und nicht unbedingt zurecht kausal mit einem angeblichen Erstarken des Dativs in Verbindung gebracht hat, sowie 2. Deklinationsklassenwechsel bei den schwachen Maskulina. 3.3.2.1 Verschiebungen in der Kasuswahl Einer der (Hinter-)Gründe, warum Bastian Sick im Titel seiner Buchreihe ein Erstarken des Dativs als Ursache für einen Genitivrückgang ausmacht, darf vermutlich in dem Paradenbeispiel ausgemacht werden, das die Öf‐ fentlichkeit seit Jahrzehnten diskutiert: den partiellen Kasuswechsel bei der Präposition wegen, die traditionell den Genitiv regiert, aber schon seit geraumer Zeit oft mit dem Dativ verwendet wird, was von vielen Sprachteilhaber: innen immer noch als stilistisch unschön empfunden wird, auch wenn das Phänomen bereits 1986 im Rechtschreib-DUDEN erwähnt wurde. Der Kasus erfüllt verschiedene Funktionen - wie etwa die Beziehungen innerhalb eines Satzes zu verdeutlichen, die Interpretation bestimmter Präpo‐ sitionalphrasen zu erleichtern - und wird entweder durch Rektion (bei Verben, Adjektiven, Nomen, Präpositionen), Kongruenz (die Nominalphrase erhält den Kasus von einer Bezugs-Nominalphrase: Er bemächtigte sich [der Festung] als [des wichtigsten Zugangs zum Pass].) oder semantische Kasuszuweisung (Sie trat [festen Schrittes] in den Ring.) ausgelöst. Nach Braun (1998: 111) gibt es im Deutschen 31 Grundformen von Satzmodellen mit je unterschiedlicher Häufigkeit. Dabei sind Veränderungen v. a. an folgenden Positionen zu beobachten: 1. Subjekt - Prädikat - Genitivobjekt → Rückgang 2. Subjekt - Prädikat - Dativobjekt → Rückgang 3. Subjekt - Prädikat - Akkusativobjekt → Zunahme 4. Subjekt - Prädikat - Präpositionalobjekt → Zunahme Diese Veränderungen (nicht zugunsten des Dativs, sondern des Akkusativs und der Präpositionalobjekte) stehen in einem Wechselverhältnis: die Zu‐ nahme von 3. und 4. bedingt Abnahme von 1. und 2. In allen Fällen haben wir es mit Bewegungen im Bereich der Verbrektion zu tun. Der Genitiv befindet sich demnach nur als Genitivobjekt auf dem Rück‐ zug; es gibt nur noch etwa 14 Verben mit Genitiv-Objekt (sich annehmen, sich bedienen, bedürfen, sich befleißigen, gedenken, sich rühmen …), die zumeist als 3.3 Flexionsmorphologie 69 <?page no="70"?> veraltend oder förmlich und fern der Alltagssprache angesehen werden und in Dialekten und in der Umgangssprache auch wohl nie verbreitet waren. Stabil ist der Genitiv hingegen in festen Wendungen: sich eines Besseren besinnen, seines Amtes walten, das spottet jeder Beschreibung, das entbehrt jeder Grundlage, guter Dinge sein, viel Aufhebens, meines Wissens, unseres Erachtens (ebd.). Daneben stehen Verben mit schwankender Rektion: jemandes/ eines Din‐ ges achten - auf jdn./ etw. achten; sich einer Sache erinnern - sich an eine Sache erinnern; sie spottet seiner - sie spottet über ihn; er besinnt sich seiner Kraft - auf seine Kraft; er klagt ihn des Diebstahls an - wegen Diebstahl. Es ist jedoch auch in anderen Bereichen ein Genitiv-Rückgang zu konsta‐ tieren, so bei prädikativen Adjektiven (begierig, kundig, eingedenk, mächtig, voll), die mittlerweile oft mit der Präposition von verwendet werden, sowie bei Präpositionen (kraft, behufs, betreffs, um …willen, wegen, hinsichtlich, bezüglich, angesichts), bei denen tatsächlich ein Ersatz durch den Dativ zu beobachten ist. Bisweilen wirkt hier die Genitivverwendung schon unangemessen manieriert ( ? wegen Urlaubs geschlossen; ? Wegen dieses Mistes rufst Du mich an? ), sodass man konstatieren kann, dass in solchen Fällen der Dativ auch im Geschriebenen bereits als Normalfall zu gelten hat (Glück & Sauer 1997: 49-52). Umgekehrt weitet sich in gewissen Kontexten der Genitiv jedoch auch aus - zum Teil auf Kosten des Dativs, wie bei einigen Präpositionen (gemäß, entgegen, nahe, trotz). Insbesondere (v. a. nachgestellte) Genitivattribute sind nach wie vor sehr beliebt, weiten sich im Amtsdeutsch eventuell sogar aus und sind auch im Gesprochenen resistent gegenüber einer Ablösung durch Präpositionalausdrücke mit von, und auch der prädikative Genitiv (ich bin deiner Meinung) ist stabil. Die Tendenzen der Akkusativierung und Präpositionalisierung sind unter anderem zu erklären durch die größere Ökonomie und Funkti‐ onsleichtigkeit (Braun 1998: 113): • Präpositionen differenzieren Verbaussagen genauer (statt einheitlicher Artikel): achten auf, anklagen wegen, sich erinnern an. Ein Problem ist jedoch, dass Präpositionen zum Teil die Merkmale der Orts- und Richtungsangabe aufgegeben haben (in warten auf etw. hat auf nur eine figurativ-idiomatische Bedeutung). 70 3 Variation und Grammatik <?page no="71"?> • Eine formale Vielfalt bedeutet einen Verlust an Ökonomie und eine größere Anstrengung für die Sprachfähigkeit und das Gedächtnis, was ein Argument insbesondere für Fremdsprachenlernende ist. Die Akkusativierung ist rückführbar auf eine zunehmende Umwandlung von Verbbeständen und vor allem das Vordringen von Verben mit be-Präfix (ornative Verben/ Verben des Versehens: jdm. einen Zuschuss geben > jdn. bezuschussen), aber auch auf andere Präfixe (privative Verben/ Verben des Enteignens: jdm. den Mut nehmen > jdn. entmutigen) (ebd.: 114). Während die Tendenz zur Präpositionalisierung der grundlegenden Sprachwandeltendenz vom Synthetischen zum Analytischen entspricht, ist die Akkusativierung als Kasus-Substitution ein Indiz dafür, dass die Kasuswahl als arbiträr bzw. semantisch unmotiviert empfunden wird. 3.3.2.2 Verschiebungen bei der Kasusmarkierung Ein anderer Fall liegt vor, wenn nicht der Kasus wechselt, sondern der Kasus anders als standardmäßig markiert oder flektiert wird. Hierunter fällt einerseits die an die umgangssprachliche Aussprache (phonologische Reduktion) angelehnte reduzierte Verschriftung des Akkusativs (Kein[en] Schutt abladen! ; Mach kein[en] Scheiß, Glück & Sauer 1997: 53). Aber auch der Dativ wird schriftlich bisweilen nicht mehr normgemäß markiert: mit neuem PräsidentØ, seinem PilotØ; zum bloßen ErfüllungsgehilfeØ. Hier wie in ande‐ ren Fällen auch im Akkusativ (Die Prinzessin küsst den Prinz, Köpcke 2005) liegt entweder ein Markierungsverzicht oder ein Flexionsklassenwechsel im Sinne einer Vereinheitlichung und Vereinfachung vor. Dieser erscheint dann funktional, wenn formalen Differenzierungen, die eine Sprache komplexer machen, „keine inhaltlichen Differenzierungen gegenüberstehen“, sondern die formalen Differenzierungen „grammatischen Ballast“ bedeuten (Wege‐ ner 2007: 43). Gehäuft fehlt die Kasusmarkierung bei schwachen Maskulina, wo dieses Fehlen dann als Flexionsklassenwechsel (von schwach zu stark) interpretiert wird. Mit Wegener ist die Ko-Existenz starker und schwacher Maskulina „dann kein grammatischer Ballast, wenn diese Klassen dem Hörer zusätzliche Information vermitteln“ (ebd.). Diese zusätzliche Information ist eine se‐ mantische, da der Flexionsklassenwechsel als semantische Remotivierung der schwachen Maskulina zu interpretieren ist, denn es wird ein Hinweis auf das semantische Merkmal [+/ belebt] gegeben: Schwache Maskulina tragen 3.3 Flexionsmorphologie 71 <?page no="72"?> fast immer das Merkmal [+/ belebt] (ebd.), sodass ein Wechsel belebter Maskulina aus der gemischten Deklinationsklasse (z. B. bei Autor) in die Klasse der schwachen Maskulina eine semantische Motivation hat. Dennoch sind gerade im Bereich der schwachen Maskulina viele Norm‐ verletzungen zu beobachten, wenn schwache Maskulina wie starke behan‐ delt werden. Die Gruppe der schwachen Maskulina zeigt hier einerseits Abbautendenzen, wenn in Dativ und Akkusativ Singular die Deklinations‐ endungen entfallen (Die Prinzessin küsst den PrinzØ, dem BärØ); andererseits gibt es aber eben auch Belege für Aufbauprozesse - offenbar insbesondere bei fremden Maskulina und Neutra auf -or (die Meinung von dem Autoren) (Köpcke 2005: 68 f.; vgl. auch Thieroff 2003). Köpcke erarbeitet eine Prototypikalitätsskala für schwache Maskulina, anhand der die Abbautendenzen erklärbar sind: prototypisch schwach Beispiele: Matróse Kurde Falke Fürst Bär Stein prototypisch stark mehrsilbig unbet. vor bet. Silbe Pänultimabet. [+menschl.] Pänultimabet. ausl. Schwa [+menschl.] Pänultimabet. ausl. Schwa [+belebt] monosyll. [+menschl.] monosyll. [+belebt] monosyll. [-belebt] Abb. 1: Prototypikalitätsskala für schwache Maskulina (Köpcke 2005: 72) Prototypisch für schwache Maskulina sind demnach Mehrsilber mit Pä‐ nultimabetonung, finalem Schwa-Laut und dem semantischen Merkmal [+menschlich]. Je weiter rechts auf der Skala eine Form anzusiedeln ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Deklinationsmarkierungen der schwachen Maskulina entfallen. Prinz als Einsilber und Bär als Einsilber mit dem semantischen Merkmal [-menschlich] sind demnach keine prototypi‐ schen schwachen Maskulina und deswegen anfällig für Markierungsabbau und Kandidaten für einen Flexionsklassenwechsel, wie Köpcke (2005: 76 f.) auch empirisch nachweisen konnte. Da die normalerweise gemischt flektierenden Maskulina auf -or zumeist aber ebenso die Merkmale des linken Pols der Prototypikalitätsskala für schwache Maskulina aufweisen, nämlich Mehrsilbigkeit und das semanti‐ sche Merkmal [+menschlich] und zudem die Pluralbildung auf -en erfolgt 72 3 Variation und Grammatik <?page no="73"?> und im Plural eine Pänultimabetonung vorliegt (Autóren also analog wie bei Matrósen), ist empirisch gestützt (Köpcke 2005: 79) zu vermuten, dass diese Ähnlichkeitsrelationen die Ursache für die geänderten Kasusmarkierungen (des Autors > des Autoren) bzw. für den Flexionsklassenwechsel hin zu den schwachen Maskulina sind. Kasus(markierungs)wechsel sind größtenteils also nicht willkürlich und bedingt durch Unsicherheiten (Die Bedienung des Automatens durch den Mensch, Thieroff 2003), sondern sie sind zumeist funktional und syste‐ matisch interpretierbar als „Tendenzen zur Regularisierung und damit zur Vereinfachung“ (Wegener 2007: 47) am Beispiel der Flexionsklassenwechsel etwa von schwacher zu starker (des Funken/ des Funkens) oder von gemisch‐ ter zu schwacher Flexion. Insbesondere der von der Sprachkritik kritisierte Wegfall von Kasusen‐ dungen (Rückkehr zum PlanetØ der Affen) scheint auch aus anderem Grunde „systemangemessen“ (ebd.: 48) und funktional, da man schwache Akkusa‐ tiv- oder Dativ-Singularformen in artikellosen Kontexten nicht als solche erkennen kann, sondern als Plural interpretiert, etwa wenn „ein Wort auf Konsonanten endet, ein Orchester mit Dirigenten auftritt“ (ebd.; vgl. aus der Presse auch Ägyptischer Polizist schießt Christen nieder, BILD, 12.1.2011). Heute wird der Kasus oft durch den Artikel markiert (zu Grabe tragen > zum Grab tragen), was im Genitiv zum Beispiel auch zu Redundanzen führt (der Preis des Wassers), die zum Teil abgebaut werden (der Bau des Potsdam-Cen‐ terØ) (ebd.). Im Bereich des Genitivs sind Kasusmarkierungsänderungen (des Bubs statt des Buben; des Markgrafs statt des Markgrafen) einerseits durch die Prototypikalität des -s als Genitivmarker, andererseits aber auch durch den Erhalt der Silbenstruktur zu erklären. Wegener prognostiziert insgesamt einen Verlust der Markierung des Dativ Singular, nicht aber des Genitiv Singular und Dativ Plural. Für die letzten beiden Fälle geht sie vielmehr von einer „Aufspaltung der deutschen Sprache in Schriftdeutsch und Umgangsdeutsch“ aus, „dass sich also zwei Systeme, zwei Grammatiken herausbilden werden. Zu zahlreich sind die Kontexte, in denen es ohne Kasussuffix zu uneindeutigen Phrasen kommt bzw. käme“ (ebd.: 50). Die gesprochene Sprache ginge dann zur präpositio‐ nalen Lösung über, die es auch bereits im Geschriebenen für Stoffsubstantive und Pluralformen gibt (der Preis von Wasser) (ebd.; vgl. hierzu auch Paulfranz 2013). 3.3 Flexionsmorphologie 73 <?page no="74"?> 3.4 Varianz im syntaktischen Bereich Das meistdiskutierte Phänomen im Bereich der Syntax ist sicherlich die weit verbreitete, aber noch weitgehend auf das Gesprochene beschränkte Verbzweit-/ Hauptsatzwortstellung nach den Subjunktionen weil, obwohl und während (Ich konnte nicht kommen, weil ich war krank.). Syntaktisch liegt hier Verbzweitstellung wie in Hauptsätzen, lexikalisch der Wandel von einer prototypischen Subjunktion in Richtung einer Konjunktion wie denn vor. Interessant ist hier eine Betrachtung des Phänomens aus funktionaler Perspektive, die deutlich macht, dass die geänderte Verbstellung (bzw. Wortart) in vielen Fällen nicht einfach eine fehlerhafte Abweichung von der Standard-Satzstellung ist, sondern dass die Verbzweitstellung erhebliche semantische und (diskurs-)pragmatische Implikationen hat und auch in gewissen syntaktischen Kontexten nicht vorkommen kann, also durchaus systematisch ist. In Kapitel 3.7 wird dieses Phänomen aus didaktischer Perspektive vertieft und in seiner Funktionalisierung dargestellt. Weitere syntaktische Varianten betreffen etwa die Ausklammerung (Er kam schneller zurück als erwartet. statt Er kam schneller als erwartet zurück.) und die Ausgliederung (Wirklich: Das war aber nett von Klaus.) sowie die registerabhängige Favorisierung von Gliedsätzen gegenüber der Verwendung von Nominalgruppen oder die Verwendung von Funktions‐ verbgefügen statt von einfachen Verben (etwa im Bereich der Rechts- und Verwaltungssprache: das zu erstellende, aber noch nicht vorliegende Gutachten; Widerspruch einlegen). Im Kontext der Kommunikation in digitalen Medien sowie der jugend‐ sprachlich-ethnolektalen Kommunikation finden sich Varianten der Auslas‐ sung/ Einsparung von Artikel, Subjekt und Objekt als herkunftssprachliche Interferenzen oder Form einer situativen und strukturellen Ellipse (Ich geh Kino.; Der ist Pitbull.; Muss erst Computer heile machen.), schriftlich beim interaktionsorientierten Schreiben in digitalen Medien ebenso die Verwendung von aus Comics bekannten Inflektivkonstruktionen (*wildmit‐ denarmenwink*). Als „dichte Konstruktionen“ bezeichnet man schließlich ein weiteres Phänomen in der mündlichen Interaktion, das nicht als Ellipse erklärt wird und charakterisiert ist zum Beispiel durch die uneigentliche Verbspitzen‐ stellung (Weglassen eines unbetonten Pronomens oder Adverbs im Vorfeld: [Das] Weiß ich. [Da] Rechne ich nicht mit) im narrativen Präsens (komm an das Auto daneben ran, steig aus, seh nix) sowie durch (zum Teil subjektlose) 74 3 Variation und Grammatik <?page no="75"?> Infinitkonstruktionen und minimale Setzungen (es ging auf einmal aus heiterem Himmel los, keine Luft mehr gekriegt, super Herzrasen, und und Kopfschmerzen, die Ohren gingen zu, schwindelig) - mit der Funktion und Wirkung von Dynamik und Dramatik durch Verkürzung bzw. Verdichtung (Günthner 2006). Auch im syntaktischen Bereich wird damit klar, dass die Existenz von Varianten immer auf einen Auslöser/ Grund oder eine Funktion rückführbar ist. 3.5 Grammatische Variation zwischen geschriebener und gesprochener Sprache Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass grammatische Variation in Form der Abweichung von standardgrammatischen Formen vor allem in medialer Mündlichkeit zu beobachten ist - so etwa die Verwendung von weil-Verbzweitsätzen, die schriftlich kaum nachweisbar sind. Dennoch gibt es grammatische Variationen auch in medialer Schriftlichkeit, und zwar nicht nur in konzeptionell mündlicher Internetkommunikation, sondern auch in konzeptionell schriftlicher Kommunikation wie der Verwaltungs‐ sprache. Doch hier müssen Varianten als deutlich seltener gelten als in kon‐ zeptioneller und medialer Mündlichkeit, wo viele der Varianten zu entstehen scheinen - um dann ggf. von hier in die Schriftlichkeit zu diffundieren. Wenn dies auf breiter Ebene passiert, deutet sich ein umfassender Sprachwandel an, für den die Ko-Existenz von Varianten immer schon ein Hinweis ist. Eine Zwischenstufe könnte hier die medial schriftliche, aber konzeptionell mündliche interaktionsorientierte Internetkommunikation etwa via Chat sein. Hier lassen sich Ellipsen (Bin aber wohl dabei.; Kannst auch gerne noch jemanden mitbringen.) so zahlreich nachweisen, dass Dürscheid & Frick (2016: 87) erklären, dass „das elliptische Schreiben selbst zu einem Kennzeichen der digitalen Schriftlichkeit geworden“ sei. Auch weitere Va‐ rianten lassen sich in Chats nachweisen, etwa der am-Progressiv (→ 3.3.1.3). Warum diese gesprochensprachlichen Varianten auch im Geschriebenen auftauchen, lässt sich einerseits als Resultat der medialen und technischen sowie der Produktions- und Interaktionsbedingungen im Chat erklären, die als (Quasi-)Synchronizität und Interaktivität beschrieben werden können (→ 2.2). Gleichzeitig sind diese Varianten ein Stilmittel, mit dem zwischen textvs. interaktionsorientiertem Schreiben in Distanzvs. Nähesprache 3.5 Grammatische Variation zwischen geschriebener und gesprochener Sprache 75 <?page no="76"?> unterschieden und das zur Image-Arbeit oder als Kontextualisierungshin‐ weis eingesetzt wird: Mündlichkeitsmarker, Regionalismen, Code-Switching usw. können durch lokale Kontraste zu vorangehenden Beiträgen oder zu den Normen einer Gemeinschaft unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllen, u. a. die Formalität der Interaktion oder die Ernsthaftigkeit des Themas markieren, Übertreibung, Ironie, oder Wechsel in eine andere Interaktionsmodalität signalisieren. (Androutsopou‐ los 2003: 187) Hierbei ist hervorzuheben, dass es demnach keinen Automatismus der Kopplung von (digitalem) Medium und Sprachverwendung bestimmter grammatischer Varianten gibt. Doch auch in Printtexten finden sich bisweilen (gesprochensprachliche oder mediale eigene) grammatische Varianten, wie ein Zitat aus der Ta‐ geszeitung Die Welt veranschaulicht, das mit weil-V2, einer Ellipse und dem am-Progressiv gleich mehrere Nonstandardvarianten enthält: „Weil, heute ist ZDF dran am Übertragen und nicht Sat 1.“ (Welt, 14.11.2001, nach Schwitalla & Betz 2006) Hier wird deutlich, wie Varianten, die in der Mündlichkeit funktional begründet sind, im Geschriebenen als Kontextua‐ lisierungshinweis genutzt werden, um „Mündlichkeit“ zu stilisieren. Das Auftreten gesprochensprachlicher Elemente in Zeitungstexten scheint dabei sowohl von den Faktoren Autor, Textsorte (eher in meinungs‐ betonten Textsorten wie Kritik und Kommentar) und Rubrik (eher im Feuil‐ leton) abzuhängen wie auch von der einzelnen Zeitung (eher in der BILD als in der FAZ) (Betz 2006: 185). Eine Analyse von Tageszeitungskommentaren auf gesprochensprachliche Syntax interpretiert Sturm (1998: 31) gar so, dass man von „einem Vorbild der umgangssprachlichen Syntax für diese argumentative Textsorte“ sprechen könne. Dieser Trend zur Aufnahme gesprochensprachlicher Phänomene in Zei‐ tungen, der für 1965 noch nicht zu beobachten ist, ist dabei nicht grundsätz‐ lich als Ausdruck von konzeptioneller Mündlichkeit zu werten (Betz 2006: 197). Funktional scheint „Mündlichkeit“ in geschriebenen Texten „als eine Art Kontextualisierung von Authentizität, Natürlichkeit, Jugendlichkeit, Unbekümmertheit um strenge Normen etc.“ (Schwitalla& Betz 2006: 399) zu dienen. Hierbei geht es im Grunde um eine Art vorgestellte Mündlich‐ keit, also um ein Konzept von Mündlichkeit. Dementsprechend werden nur einige saliente Formen herangezogen, um Mündlichkeit zu stilisieren, 76 3 Variation und Grammatik <?page no="77"?> während andere aus linguistischer Perspektive relevante Merkmale von gesprochener Sprache nicht in dieser Form verwendet werden. Ohne solch eine Aufnahme gesprochensprachlicher Merkmale in die Schriftlichkeit würden beide Sprachgebräuche sich dauerhaft zwangsläufig immer weiter - ggf. bis hin zu einer Diglossie - auseinanderentwickeln, sodass nur ein Nachvollzug gesprochensprachlichen Sprachwandels durch die Schriftsprache (z. B. die Übernahme des Dativs nach wegen als Variante) dies verhindern kann. 3.6 Didaktisches Potenzial Die in diesem Kapitel exemplarisch angeführten grammatischen Varianten der deutschen Gegenwartssprache sind nicht nur aus linguistischer Per‐ spektive interessant, sondern auch aus (fremd-)sprachendidaktischer. An‐ knüpfungspunkt in Lehrplänen für die Thematisierung von grammatischen Varianten ist der Lernbereich Sprachreflexion bzw. Sprachbewusstheit/ -sein bzw. Sprachgebrauch untersuchen, konkret: die Auseinandersetzung mit Sprachvariation im Kontext von Sprachwandel/ Entwicklungstendenzen, Ju‐ gendsprache, Fachsprachen oder Dialekten. Grundsätzlich sollen Schüler: in‐ nen erkennen, dass es nicht die eine homogene Grammatik des Deutschen gibt, sondern verschiedene Normengeltungsbereiche, insb. des Gesproche‐ nen vs. Geschriebenen - und dass es demnach auch alles andere als eindeutig ist, was ein Grammatikfehler ist (vgl. Hennig 2012). Deutschsprechende und -lernende erhalten durch die Auseinanderset‐ zung mit diesen Phänomenen auf reflexiver Ebene einerseits einen wichti‐ gen Einblick in die Vielfalt, Heterogenität und Wandelbarkeit des Gegen‐ wartsdeutschen auch auf der Ebene von Sprachnorm und Sprachsystem - und insbesondere in die unterschiedlichen Normen und den unterschied‐ lichen Sprachgebrauch in Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit. Dabei lernen sie zwischen normativer (schriftsprachlicher) und deskriptiver (mündli‐ cher) Grammatik zu unterscheiden und können durch die Reflexion der Phänomene im Grammatikunterricht die Funktionalität der Neuerungen erkennen und die Perspektive der öffentlichen Sprachkritik hinterfragen lernen, nonstandardsprachliche Sprachvarianten seien Fehler und ein In‐ diz für Sprachverfall. Zum anderen lernen die DaF-Lernenden frühzeitig, wie Deutsch wirklich gesprochen wird, sie erhalten einen Einblick in die Sprachrealität und werden auf reale Gespräche mit Deutschsprachigen 3.6 Didaktisches Potenzial 77 <?page no="78"?> vorbereitet - zunächst vor allem im Bereich der Rezeption. Zum Lernen einer (Fremd-)Sprache gehört damit auch der Erwerb des Wissens, welche Sprachformen von wem (in welchem Alter, in welcher Region) in welchem Medium und in welcher Situation verwendet werden - und inwieweit und ggf. wann es angemessen ist, diese Formen auch als DaF-Lerner: in produktiv zu verwenden. Bei der Thematisierung dieser Phänomene im DaF-Unterricht ist daher immer zwingend darauf hinzuweisen, dass es sich um Abweichungen von der Norm der Standardvarietät des Deutschen handelt, dass es aber verschiedene Normengeltungsbereiche gibt und auch Nonstandardnormen ihre eigene Berechtigung und Funktion haben und Standardabweichungen daher oftmals nicht als Fehler zu gelten haben, son‐ dern nur nach der Kontextangemessenheit und angemessenen Registerwahl zu beurteilen sind und generell gesprochene Sprache spezifischen und ande‐ ren Bedingungen und Normen unterliegt als Schriftsprache. Dabei muss aber stets der Unterschied zwischen realen individuellen sprachsystematischen Fehlern, zwischen Zweifelsfällen der deutschen Sprachgemeinschaft und zwischen bereits etablierten (neuen) Sprachformen deutlich herausgearbei‐ tet werden. Die Vielfalt des Deutschen und die geographische Verteilung der verschie‐ denen grammatischen Varianten des Nonstandards kann dabei gut unter Einbezug der Karten des „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (https: / / www .atlas-alltagssprache.de/ ) vermittelt werden. Ebenso sinnvoll ist ein Einbe‐ zug der Variantengrammatik des Standarddeutschen für das Geschriebene (http: / / mediawiki.ids-mannheim.de/ VarGra/ index.php/ Start). Und viel‐ leicht ermutigt und erleichtert es den einen oder anderen Fremdspra‐ chenlernenden des Deutschen ja sogar zu sehen, dass auch Deutsch-Erst‐ sprachler: innen mit dem Deutschen - zum Beispiel insbesondere mit dem Genussystem (der/ das Dotter, der/ das Euter, der/ das Laptop …), und nicht nur bei Fremdwörtern - so ihre Unsicherheiten und Schwierigkeiten (Efing & Wengel 2010) haben und dass diese zum Teil auch ihre handfesten, überindividuellen Gründe haben. 3.7 weil-Verbzweitsätze - ein Vorschlag zur Didaktisierung Zum Abschluss des Kapitels wird ein Unterrichtsbeispiel vorgestellt (Wengel & Efing 2014), das grammatische Variation in Form und Funktionalität 78 3 Variation und Grammatik <?page no="79"?> anhand der omnipräsenten und viel diskutierten Verbzweitsätze (V2-Sätze) mit weil aufgreift. Ausgangspunkt können reale weil-V2-Sätze aus Texten von Schüler: innen sein - oder die beiden folgenden authentischen Beispiele: (1) „Es ist ein fröhlich erzähltes Gedicht, weil es sind die Wörter Herrlichkeit und lichterheilig drinne sind.“ (5. Klasse, Gymnasium; Inhaltsangabe zum Rilke-Gedicht „Advent“) (2) „Auch die Wechselseitigkeit, die Höffe vorschlägt, finde ich angebrachter, weil die völlige Gleichberechtigung gibt es bei einer ‚Demokratie‘ auch nicht, obwohl diese angestrebt werden sollte.“ (angehende Abiturientin) Auf den ersten Blick bestätigen beide Sätze das Urteil der Öffentlichkeit, dass die Fähigkeit von Schüler: innen zur Verwendung der „korrekten“ Verbletztstellung im Nebensatz (insbesondere nach weil) zurückgeht bzw. der standard- und schriftsprachlich verpönten Verwendung der Verbzweit‐ stellung weicht. Auf den zweiten Blick aber fällt auf: Mangelnde Kompetenz und fehlendes Wissen um die „korrekte“ Verb(letzt)stellung im Nebensatz können nicht der Grund für diese Verwendung sein, denn beide Schülerin‐ nen zeigen auch, dass sie eigentlich wissen, wo das Verb im Nebensatz zu stehen hat, nämlich an letzter Stelle (bzw. dass weil eine Subjunktion ist): Die Fünftklässlerin vermischt Verbzweit- und Verbletztstellung, indem sie das Verb „sind“ gleich zweimal verwendet - wohl weil mündlicher und schriftli‐ cher Usus zugleich aktiviert wurden; die angehende Abiturientin verwendet die Subjunktion obwohl, bei der in mündlicher Umgangssprache ebenfalls regelmäßig die standard-unangemessene Verbzweitstellung zu verzeichnen ist, mit Verbletztstellung: „obwohl diese angestrebt werden sollte“. Das Wissen um die Verbstellung scheint also bei beiden Schülerinnen implizit vorhanden; es fehlt jedoch die Fähigkeit, sich dieses Wissen explizit zu machen und den eigenen Sprachgebrauch zu reflektieren. Den Schülerinnen fällt die Uneinheitlichkeit ihrer Verbstellung offenbar nicht auf, so dass sie sie nicht korrigieren und von sich aus vermutlich auch nicht bewusst reflektieren würden, ob und inwiefern die eine Verbstellung eventuell (un)angemessener sein könnte als die andere - und wovon diese Beurteilung der Angemessenheit abhängt. Somit ist es Aufgabe des Sprachunterrichts, Schüler: innen zur Reflexion des (eigenen) Sprachgebrauchs und der ihm zugrunde liegenden Normen sowie des Geltungsbereichs dieser Normen zu bewegen. An der Thematisierung der Verbstellung im Nebensatz lässt sich 3.7 weil-Verbzweitsätze - ein Vorschlag zur Didaktisierung 79 <?page no="80"?> in einem sprachgebrauchs- und normenreflektierenden Deutschunterricht zeigen: 1. weil ist in der Standardsprache eine Subjunktion. Die schrift- und standardsprachliche Grammatik verlangt im Nebensatz, der durch eine Subjunktion eingeleitet wird, die Verwendung des Verbs an der letzten Stelle im Satz; die Verwendung des Verbs an der zweiten Stelle im Satz ist das Kennzeichen eines Hauptsatzes. Abweichungen von dieser Verbstel‐ lung werden im Bereich der Normen der Schrift- und Standardsprache als unzulässig, ungrammatisch und damit als Fehler angesehen. Auch die andere Interpretationsmöglichkeit: dass sich weil von einer Subjunktion zu einer Konjunktion wandelt, die nun einen Hauptsatz einleitet, gilt standardgrammatisch als falsch. 2. In der mündlichen, umgangssprachlichen Kommunikation trifft man re‐ gelmäßig (und historisch im Sprachwandel betrachtet auch wohl immer häufiger) auf die Verbzweitstellung auch in Teilsätzen - insbesondere dann, wenn sie mit weil eingeleitet werden, allerdings auch bei den Subjunktionen (bzw-. den neuen Konjunktionen) obwohl, während und wobei. Diese Abweichung gegenüber der schriftsprachlichen Norm fällt in mündlicher Kommunikation oft nicht einmal mehr auf und gilt daher als durchaus angemessen. Schriftliche und mündliche Normen sollten dabei nicht gegeneinander ausgespielt werden. 3. Schüler: innen müssen diese Konkurrenz zweier getrennter Normen‐ systeme zwischen schriftlichem und mündlichem Sprachgebrauch, zwischen schriftlichem Standard und mündlicher Realität, erkennen, diesbezüglich Sprachbewusstheit ausbilden, um ihre mündlichen Sprechgewohnheiten (Verbzweitstellung im Nebensatz nach weil, ob‐ wohl, während, wobei) nicht auch in den schriftlichen Sprachgebrauch zu übertragen. Doch Schüler: innen können und müssen am Thema Verbstellung noch etwas viel Spannenderes lernen: Die in der Öffentlichkeit oft als Sprachverfall ge‐ geißelte Verbzweitstellung im weil-Satz, für die die Sprachwissenschaft eine Reihe von nachvollziehbaren Gründen wie auch syntaktischen Einschrän‐ kungen anführen kann, hat in vielen Fällen eine semantische Funktion; das heißt, die Verbstellung beeinflusst und verändert die Bedeutung und Aussage eines Satzes. Und in diesen Fällen ist es damit keine Frage mehr von (mangelnder) Sprachkompetenz, an welcher Stelle das Verb steht, sondern eine Frage der intendierten Satzbedeutung. Schüler: innen dies zu vermitteln 80 3 Variation und Grammatik <?page no="81"?> heißt, ihnen zu ermöglichen, ihre eigene Sprachverwendung zu reflektieren und sich syntaktisch sprach-bewusst und im Bewusstsein des Unterschieds zwischen den Normen mündlicher und schriftlicher Kommunikation zu verhalten; dies könnte helfen, im Schriftlichen unangemessene Sätze wie die oben zitierten zu vermeiden. Darüber hinaus liefert solch ein Unterricht Schüler: innen einen Einblick in die Frage der Bewertung von sprachlichen Phänomenen und Sprachgebrauch, die oft nicht sinnvoll mit dem Gegensatz‐ paar richtig/ falsch, sondern eher mit den Polen angemessen/ unangemessen bewertet werden können. Hierbei bekommen Schüler: innen Argumente an die Hand, öffentliche Sprachkritik zurückzuweisen, zu widerlegen und aufzudecken, dass öffentliche Sprachkritik oft a) unreflektiert mündlichen und umgangssprachlichen Sprachgebrauch an den Normen der Schriftlich‐ keit und Standardsprache misst und b) unreflektiert Sprachwandel als Sprachverfall deutet und dabei die Funktion der neuen sprachlichen For‐ men übersieht. Der syntaktische Gegensatz von weil-Verbzweitsätzen und weil-Verbletztsätzen ist also funktional zu interpretieren und nicht als Abbau der Nebensatzwortstellung in weil-Sätzen; weil-Verbzweitsätze und weil-Verbletztsätze sind semantisch nicht synonym, damit nicht gegenein‐ ander austauschbar und nicht in grammatisch falsch vs. richtig aufteilbar (Der Junge hat Angst, weil er ist ganz blass. [Die Vermutung, dass er Angst hat, gründet auf der Blässe.] vs. Der Junge hat Angst, weil er ganz blass ist. [Die Blässe ist der Anlass für die Angst.]). Weil-Verbzweitsätze sind - in ihrer semantisch-funktionalen Abweichung von der schriftsprachlichen Norm - systematisch. Der Verbzweitstellung in weil-Sätzen kann verschiedene Funktionen haben, von denen für den Deutschunterricht vor allem eine, nämlich die epistemische, Funktion sinnvollerweise zu thematisieren ist. Epistemische Funktion meint, dass der Kausalsatz mit weil nicht eine Begründung für den im Hauptsatz erwähnten Sachverhalt beinhaltet (propositionale Begründung: Ich kann nicht kommen, weil ich krank bin.), sondern eine Begründung für die Schlussfolgerung bzw. Annahme des Sprechers, warum er glaubt, der im Hauptsatz erwähnte Sachverhalt sei wahr (epistemische Begründung: Moritz hat sich ein Bein gebrochen, weil er trägt einen Gips.). Weil-Sätze mit Verbletztstellung eignen sich nicht für epistemische Einstel‐ lungsbegründungen, während sich denn-Sätze, die ebenfalls Verbzweitstel‐ lung aufweisen, für epistemische Begründungen eignen (Moritz hat sich ein Bein gebrochen, denn er trägt einen Gips.). Während denn-Sätze dabei im Mündlichen wie Schriftlichen angemessen sind, da denn als koordinierende 3.7 weil-Verbzweitsätze - ein Vorschlag zur Didaktisierung 81 <?page no="82"?> Konjunktion immer in Hauptsätzen mit Verbzweitstellung steht, gelten weil-Verbzweitsätze nur im Normbereich der Mündlichkeit als angemessene syntaktische Variante für die epistemische Begründung. Eine konkrete Didaktisierung dieses Themas inkl. Unterrichtsmaterialien findet sich bei Wengel & Efing 2014. 3.8 Aufgaben 1. Suchen Sie im „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (www.atlas-allt agssprache.de), hier insb. über das thematische Register und Kap. 5 „Grammatik“, exemplarisch Karten zu grammatischen Varianten heraus (z. B. zum am-Progressiv, zur tun-Periphrase…) und informieren Sie sich zur diatopischen Verbreitung und stilistischen Markierung der Phänomene. 2. Stellen Sie eine eigene Internetrecherche zur Frequenz des Vorkommens bestimmter Phänomene auf. Definieren Sie hierfür ein bestimmtes Kor‐ pus - z. B. die Kommentare zu einem bestimmten YouTube-Video oder eigene WhatsApp-Chats - und analysieren Sie, welche von der Stan‐ dardgrammatik abweichenden grammatischen Varianten (z. B. weil-V2) Sie wie oft im Korpus finden. 3. Erklären Sie die grammatische Flexion in folgendem Briefkastenflyer: 82 3 Variation und Grammatik <?page no="83"?> 3.9 Weiterführende Literatur Ein ausführliches Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel finden Sie unter www.narr.de. Atlas zur deutschen Alltagssprache. (https: / / www.atlas-alltagssprache.de/ ; letzter Abruf am 18.06.2024). Hennig, Mathilde (2012): Was ist ein Grammatikfehler. In: Günthner, Susanne et al. (Hrsg.): Kommunikation und Öffentlichkeit: Sprachwissenschaftliche Potenziale zwischen Empirie und Norm. Berlin, Boston: de Gruyter, S. 121-148 (https: / / www. uni-giessen.de/ fbz/ fb05/ germanistik/ absprache/ sprachtheorie/ dateien/ texte-hen nig/ grammatikfehler/ view; letzter Abruf am 18.06.2024). Klein, Wolf Peter (2018): Sprachliche Zweifelsfälle im Deutschen. Theorie, Praxis, Geschichte. Berlin, Boston: de Gruyter. Schneider, Jan Georg (2011): Hat die gesprochene Sprache eine eigene Grammatik? Grundsätzliche Überlegungen zum Status gesprochensprachlicher Konstruktio‐ nen und zur Kategorie ‚gesprochenes Standarddeutsch‘. Zeitschrift für germanis‐ tische Linguistik 38: 165-187. Wegener, Heide (2007): Entwicklungen im heutigen Deutsch - Wird Deutsch einfacher? Deutsche Sprache 1: 35-62. 3.9 Weiterführende Literatur 83 <?page no="85"?> 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten In diesem Kapitel wenden wir den Blick (noch) weiter weg von sprachsys‐ tematischer Variation hin zu pragmatischen und soziolinguistischen bzw. soziostilistischen Fragen der Variation im Sprachgebrauch. Hierfür erläutern wir zunächst der Begriff der kommunikativen Stile (→ 4.1), ehe wir auf zunächst allgemeiner und theoretischer sowie begrifflicher Ebene den Zusammenhang von Variation mit Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt darlegen (→ 4.2). Dieses Themenfeld exemplifizieren wir dann anhand der beiden Sprachkontaktphänomene Gastarbeiterdeutsch (→ 4.3) sowie aktueller ethnolektaler Sprechweisen (→ 4.5). Abschließend schlagen wir didaktische Umsetzungsmöglichkeiten dieser Thematik im Deutschunter‐ richt vor. 4.1 Kommunikative Stile Sprachliche Variation finden wir nicht nur auf Ebene des Sprachsystems (etwa im Bereich Orthographie, Grammatik), sondern in soziolinguistischer Perspektive auch auf der Ebene der Verwendung des Systems, also im Bereich der Pragmatik. Sprache bzw. Kommunikation werden in dieser Perspektive nicht vorrangig als grammatisches System gesehen, sondern als System der Produktion symbolischer Bedeutung. Das heißt, um die (Variation der) Bedeutung von Kommunikation zu erfassen, muss ihr (gesellschaftlicher, situativer) Kontext jeweils mit in den Blick genommen werden. In bzw. aus diesem Zusammenspiel der Nutzung bestimmter sprachlicher Formen in bestimmten Kontexten entsteht die Bedeutung einer Aussage, die nicht nur in der Semantik der verwendeten Wörter und Strukturen liegt, sondern die auch eine Ebene der sozialen Positionierung, der (Selbst-)Inszenierung und Darstellung von Personen beinhaltet, die sich durch ihre kommunikativen Aktivitäten und sprachli‐ chen Handlungen als eben diese Personen (oder Rollen) darstellen und die anderen Anwesenden durch ihre Sprachverwendung ggf. Rollen zuweisen. Stilistische Merkmale sind demnach Kontextualisierungshinweise: Sprache findet nicht nur in einer gegebenen, zu interpretierenden Situation, auf <?page no="86"?> die man reagieren muss, statt, sondern sprachliche Interaktion verändert, gestaltet diese Situation. Im Gefüge einer Schulklasse z. B. werden Rol‐ lenzuweisungen stark über die sprachliche Ebene (re-)produziert: der „Klassenclown“ redet anders als die „Coole“, mit dem „Streber“ oder der „Außenseiterin“ redet man, deren und die eigene soziale Rolle verbal un‐ terstreichend, anders als mit der „angesagten Anführerin“. Zu erfassen sind solche sozialen kommunikativen Stile im Rahmen einer Ethnographie der Kommunikation (nach Hymes 1962 und Gumperz 1972), auf die ihre Konzeption auch zurückgeht, die in der deutschsprachigen Forschung insbe‐ sondere am Leibniz Institut für Deutsche Sprache in Mannheim im Rahmen der Projekte „Kommunikation in der Stadt“ und „Kommunikative soziale Stilistik“ vorangetrieben wurde (Kallmeyer & Keim 2003). Demnach gilt: Kommunikative soziale Stile sind Mittel der Bildung sozialer Identität, schaffen sozialen Zusammenhalt in‐ nerhalb der Bezugswelten und markieren Unterschiede zu Anderen. Markante soziale Stile ermöglichen Angehörigen einer sozialen Welt die Entfaltung von sozialer Präsenz auf wichtigen Schauplätzen der politischen bzw. kulturell-poli‐ tischen Auseinandersetzung. Die Ausprägung von Stil schafft Identitätssymbole, über die auch die Positionierung von Angehörigen eines Milieus bzw. von Akteuren einer sozialen Welt in einem übergreifenden gesellschaftlichen Rahmen möglich wird. (Kallmeyer & Keim 2003: 37) Wie wir kommunizieren, ist demnach nicht ein reines Befolgen von vor‐ gegebenen grammatischen und Text-Mustern und -Normen, die wir mit im Deutschen vorgegebenen Wörtern füllen, sondern Kommunikation wird eine stilistische Wahl und Setzung im Rahmen einer Situationsinter‐ pretation und -mitgestaltung und damit eine stilistische Positionierung und (Selbst-)Inszenierung auf Basis der Auswahl aus verschiedenen Alternativen bzw. Variationsmöglichkeiten. Kommunikative (soziale) Stile sind demnach Ausdruckssysteme, die auf Sprachvariation basieren und soziale Identität symbolisieren (und damit symbolisches Kapital im Sinne Bourdieus). In verbaler Interaktion wird soziale Realität nicht nur reflektiert, sondern auch produziert. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung wollen wir uns im Folgenden dem Thema der so genannten Ethnolekte widmen, die auch in der sprach‐ interessierten medialen Öffentlichkeit in den letzten Jahren breit diskutiert wurden und die wir als kommunikative Stile mit sozialsymbolischem Po‐ tenzial zur Selbstpositionierung auffassen. Dafür holen wir zunächst ein 86 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="87"?> wenig aus und gehen kurz auf Sprachkontaktsituationen und die Geschichte des Gastarbeiterdeutschen ein, um dann die (neuen, eigenen) sprachlichen Strukturen (Varianten als Ressourcen für die Stilbildung) wie Funktionen der Ethnolekte im Gegensatz einerseits zum Gastarbeiterdeutsch, anderer‐ seits zum Standarddeutschen herauszuarbeiten. Schließlich wollen wir mit Blick auf die öffentliche Diskussion sowie die linguistische Beschreibung zeigen, dass Ethnolekte nicht als Sprachverfall oder Indiz für mangelnde Sprachkompetenz zu werten sind - und wie dies im Deutschunterricht herausgearbeitet werden kann. 4.2 Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit(en) Bislang haben wir vor allem Variation innerhalb einer Sprache bzw. eines Sprachsystems fokussiert. Eine andere Art von Sprachvariation entsteht bzw. wird ermöglicht, wenn es zu Sprachkontakt zwischen verschiedenen Sprachsystemen oder historischen Einzelsprachen und damit zu Sprachva‐ riation auf Basis von Mehrsprachigkeit kommt (→ 1, vgl. den LinguS-Band „Spracherwerb und Mehrsprachigkeit“). Hier ist zu differenzieren einerseits zwischen individueller und gesellschaftlicher, andererseits zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit. Die innere Mehrsprachigkeit als eine situativ funktionale Mehrspra‐ chigkeit bezieht sich dabei auf die Kompetenz, verschiedene Varietäten und Register innerhalb einer historischen Einzelsprache sozial und funktional angemessen zu beherrschen. Die äußere Mehrsprachigkeit meint hingegen die individuelle Kom‐ petenz in den Erst-, Herkunfts- und Fremdsprachen und reicht von einer rudimentären Kommunikationskompetenz auf niedrigstem Niveau bis hin zu umfassender Sprachhandlungskompetenz in allen vier Fertigkei‐ ten (Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen) und im Sprachmitteln (Hufeisen & Efing 2017). 4.2 Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit(en) 87 <?page no="88"?> Zusammen bilden innere und äußere Mehrsprachigkeit die individuelle Mehrsprachigkeit, d. h. das individuelle Sprachenrepertoire der Spre‐ cher: innen. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit meint die Existenz ver‐ schiedener Einzelsprachen innerhalb eines sozialen, politischen oder geo‐ graphischen Gebildes, wobei die verschiedenen Sprachen keinen offiziellen Status (etwa als Amtssprache) haben müssen. In Deutschland verweist man oft auf die Schweiz mit ihrer zumindest gesellschaftlichen Mehrspra‐ chigkeit, da es hier vier offizielle Landessprachen gibt (Deutsch, Franzö‐ sisch, Italienisch, Rätoromanisch). Individuelle Mehrsprachigkeit ist auch in der Schweiz nicht zwangsläufig verbreitet und kommt am häufigsten in Sprachgrenzregionen und bei Rätoromanisch-Sprachigen vor. Doch ist gesellschaftliche Mehrsprachigkeit auch außerhalb der Schweiz tendenziell ein Normalfall (→ 5) und gilt im Prinzip auch für Deutschland, das zwar als Amtssprache nur Deutsch aufweist. Doch spielen regional (z. B. Minderhei‐ tensprachen wie Dänisch oder Sorbisch), branchenspezifisch (z. B. Englisch in der Wirtschaft und Wissenschaft) wie national weitere Sprachen (z. B. Türkisch, Russisch, Arabisch) eine nicht unerhebliche Rolle im Alltag vieler in Deutschland Lebenden - und auch auf den Schulhöfen deutscher Schulen. Der hiermit bestehende Sprachkontakt führte und führt zu speziellen, soziolinguistisch interessanten gegenseitigen Beeinflussungen und damit zu Sprachvariation, die immer auch soziale Implikationen für die Identität der Sprechenden hat. Inwieweit Sprache und Sprachvariation als eigener oder von außen an Sprecher: innen herangetragener Identitätsfaktor gelten können, lässt sich besonders gut an Gruppen von Sprechenden und Sprachen aufzeigen, die durch (Arbeits- oder Flucht-)Migration nach Deutschland gekommen sind. Sprache, Identität und Ethnizität sind in diesen Gruppen wie generell nicht statisch miteinander verknüpft und auch Ethnizität wird sozial konstruiert (Busch 2013: 59). Da sprachliche Merkmale sozial markiert sind, nutzen Sprecher: innen die vielfältigen sprachlichen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, um (ggf. hybride) Identität(en) zu konstruieren. Solch eine Form der Variation des sprachlichen Stils und sozialer Stilisierung als Mittel, um Zugehörigkeit und Differenz zu markieren, ist etwa aus Jugendgruppen bekannt. Inwieweit individuelle Identität und Spracher‐ halt der Herkunftssprache bzw. Sprachmischung mit dem Deutschen als Indiz für eine hybride oder multiple Identität und die Zugehörigkeit zu zwei Kulturen miteinander zusammenhängen - auch in der Fremdwahrneh‐ mung, da Zuhörer: innen Sprachen und Sprachgemeinschaften gegenüber 88 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="89"?> bestimmte Einstellungen haben -, zeigt ein von Tracy kolportiertes Zitat einer türkischstämmigen Frau: isch könnte nie einen Mann lieben wenn er meine Sprache nischt kann * die Mischsprache * einen Türken nich und auch keinen Deutschen (Tracy 2011: 77). In diesen individuellen Repertoires können Mischvarietäten, Dialekt und standardnahe Formen als individuelle Ressource nebeneinander existieren und sich funktional ergänzen (ebd., vgl. auch das Konzept des Translan‐ guaging, nach dem Zwei- oder Mehrsprachige zwischen ihren Sprachen wechseln, um mit ihrer Umwelt zu interagieren, → 5.4.2). Die soziolinguistische Mehrsprachigkeitsforschung fragt hierbei „nicht nach isolierten Sprachressourcen, sondern nach ihrer Zusammenführung in Sprachenrepertoires“ als Gesamtheit sprachlicher Wahlmöglichkeiten (Sprachen, Varietäten, Sprechstile), so, wie es von Kallmeyer & Keim (2003, s. o.) und Keim (2007a, b) für das Sprachrepertoire der Mannheimer tür‐ kisch-deutschen „Powergirls“ beschrieben wurde (bestehend aus unauffäl‐ ligem Umgangsdeutsch, Stadtteilsprache, Gastarbeiterdeutsch, Mannheimer Stadtdialekt für das Deutsche, schulisch erworbenem Standardtürkisch sowie durch Regionalmerkmale und Kontakterscheinungen geprägtes Non‐ standardtürkisch und zusätzlich einem deutsch-türkischen Mischcode). Res‐ sourcen und Repertoires verändern sich zwangsläufig in Abhängigkeit der Sprachkontakte und normativen Anforderungen, insbesondere in Zeiten größerer Umbrüche wie Einschulung (Rolle der Standardsprache) oder Eintritt in eine Ausbildung/ einen Beruf. Mit Androutsopoulos gesprochen „ermöglicht das Begriffspaar Ressourcen und Repertoires eine differenzierte Erfassung individueller und gruppenspezifischer Mehrsprachigkeit und bildet ein Korrektiv gegen die Fehleinschätzung von (jungen, unprivile‐ gierten) Sprechenden, die auf eine einzelne, stigmatisierte Sprechweise reduziert werden“ (Androutsopoulos 2017: 57) und denen man mangelnde Sprachkompetenz und „doppelte Halbsprachigkeit“ im Deutschen wie in ihrer Herkunftssprache unterstellt. Ein Individuum ist gesellschaftlich dann erfolgreich, wenn es über ein breites mehrsprachiges Repertoire verfügt und dieses angemessen einzusetzen weiß - und wenn die beherrschten Sprachen und Varietäten gesamtgesellschaftlich oder in den einschlägigen Peergroups, in denen das Individuum verkehrt, sprachideologisch mit einem ausreichenden Prestige ausgestattet sind, um entweder sozial anerkannt oder beruflich erfolgreich zu werden (→ 5). 4.2 Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit(en) 89 <?page no="90"?> Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, das Phänomen der Ethnolekte klar zu differenzieren vom so genannten Gastarbeiterdeutsch der Arbeits‐ migrant: innen der ersten Generation. 4.3 Gastarbeiterdeutsch Als Gastarbeiterdeutsch wird die sozial stigmatisierte, rudimentäre und früher pidginisiertes Deutsch (Clyne 1968) genannte Sprachform bezeichnet, die von der ersten Generation von Arbeitsmigrant: innen in Deutschland ab Mitte des 20. Jh. gesprochen wurde. Gastarbeiterdeutsch war das Ergebnis ei‐ nes ungesteuerten Zweitsprachenerwerbs und blieb ohne weiteren Ausbau. Diesen Prozess der funktionalen und strukturellen Stagnation einer Sprache bezeichnet man auch als Pidginisierung oder, im Falle der Stagnation der sprachlichen Entwicklung eines Einzelnen, als Fossilierung. Der Begriff der Pidginisierung hat sich in Anlehnung an so genannte Pidginsprachen gebildet, bei denen es sich um meist in ehemaligen Kolonialgebieten entstandene sprachliche Varietäten mit starker funk‐ tionaler und struktureller Vereinfachung handelt. Übertragen auf die Sprachentwicklung der Arbeitsmigrant: innen beschreibt er eine über längere Zeit stagnierende (fossilierte) Lernersprache, die sich durch ver‐ einfachte phonologische, morphologische und syntaktische Strukturen sowie durch einen stark reduzierten Wortschatz und die Tendenz zur Umschreibung auszeichnet. Der Begriff der Pidginisierung ist tendenziell negativ konnotiert und daher heutzutage nicht mehr gebräuchlich. Auch das Pseudopidgin (foreigner talk) von Deutschen gegenüber Gastarbeitern (Tendenzen der Vereinfa‐ chung und Reduktion, z. B. Duzen, Verwendung unflektierter Formen), das deren Lernersprache festigte, wird als pidginisierte Varietät beschrieben und kritisiert. Der, über die verschiedenen Gruppen und Herkünfte von Arbeitsmigrant: innen hinweg, Einheitlichkeit suggerierende Begriff des Gastarbeiterdeutsch ist begründet in den sprachlichen Parallelen der Lernersprachen, die sich unabhängig von der jeweiligen Herkunftssprache sprachsystematisch durch einen starken Akzent sowie eine reduzierte 90 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="91"?> Lexik und reduzierte grammatische Struktur auszeichnen. Pragmatisch auffällig ist das gängige Duzen. Im Unterschied zu Lernersprachen (Lern‐ ervarietäten) im Zuge beispielsweise des gesteuerten Fremdsprachener‐ werbs ist das Gastarbeiterdeutsch kein Zwischenstadium, das sich noch weiterentwickelt, sondern ein fossiliertes Stadium der Sprachentwicklung im Deutschen, das daher von der nicht-linguistischen Öffentlichkeit als defizitäres Deutsch wahrgenommen wurde. Verantwortlich für diese Fossilierung im Deutschen als Zweitsprache war nicht ausschließlich das biologische Alter der Migrant: innen bei Beginn des Deutschlernens ( Jüngere lernen tendenziell leichter/ schneller), sondern hierzu zählten auch Faktoren wie die soziale Integration in die Aufnah‐ megesellschaft, die Einstellung zur Sprache, kommunikative Bedürfnisse, Bildungshintergrund usw. (Dittmar & Şimşek 2017: 197). Wie der Begriff Gastarbeiter bereits andeutet, gingen die bundesrepublikanische Politik und Bevölkerung ebenso wie zum Teil die Arbeitsmigrant: innen selbst davon aus, dass der jeweilige Arbeitsaufenthalt einer als Gast und damit ein vorübergehender sei, weshalb ein systematisches Lernen des Deutschen und eine dauerhafte Integration in die deutsche Gesellschaft nicht zwin‐ gend erforderlich seien. Die meisten Gastarbeiter: innen jedoch blieben in Deutschland und holten ihre Familien nach. Trotz dieser Umorientierung aber wurde der unsystematische, ungelenkte Erwerb des Deutschen als Zweitsprache nicht durch einen gesteuerten Deutsch-Erwerb ergänzt. Linguistisch-strukturell lässt sich, über die verschiedenen Herkunfts‐ sprachen hinweg, Gastarbeiterdeutsch wie folgt charakterisieren (Keim 1984): Tendenz zu analytischer Wortbildung kontroll machen anstatt kontrollieren, te‐ lefon machen anstatt telefonieren Verwendung der Negationspartikel nix vor dem Verb ich nix arbeit anstatt ich arbeite nicht / ich habe keine Arbeit Verwendung des Zahladjektivs viel aber des viel schwer anstatt aber das ist sehr schwer Verbendstellung ich dir helfen anstatt ich helfe dir Verwendung des Verbs im Infinitiv (Ausfall der Verbflexion) du arbeiten viel anstatt du arbeitest viel 4.3 Gastarbeiterdeutsch 91 <?page no="92"?> Ausfall von Subjekt, Verb, Artikel, Prä‐ position, Personalpronomen, Tempus‐ markierung und bis jetzt 8 jahre diese firma arbei‐ ten auch anstatt ich arbeite bis jetzt 8 Jahre bei dieser Firma; aber meine firma alles frau anstatt aber in meiner Firma arbeiten/ sind nur Frauen; ich chef rufen anstatt ich rufe den Chef; nur ausländer kommen die maschine anstatt nur Aus‐ länder kommen an die Maschine Tab. 4: Sprachliche Charakteristika von Gastarbeiterdeutsch Die Bezeichnung Gastarbeiterdeutsch und die hier vorgenommene lingu‐ istische Beschreibung gilt so lediglich für die erste Generation von Ar‐ beitsmigrant: innen, für die das Gastarbeiterdeutsch tatsächlich das einzig verfügbare Kommunikationsmittel im Deutschen war. Gastarbeiter: innen konnten ihr Deutsch demnach nicht gezielt als kommunikativen sozialen Stil einsetzen, da das Gastarbeiterdeutsch ihre einzige deutschsprachige Ressource war. Bereits für die zweite Generation der Arbeitsmigrant: innen, die Kinder der ersten Generation, verlagerte sich der Stellenwert des Gast‐ arbeiterdeutschen im individuellen Kompetenz-Repertoire des Deutschen und es wurde zu einer Varietät unter anderen, die nur für ganz spezifi‐ sche kommunikative Zwecke eingesetzt wird - wie etwa insbesondere als distanzierte Stilisierung. Das Gastarbeiterdeutsch erfährt hier eine klar soziokulturelle Aufladung und Bedeutung (vgl. etwa Keim 2007a, b), wobei es eine stigmatisierte Varietät auch in der Verwendung durch Migrant: innen der Folgegenerationen bleibt. Keim (ebd.) schildert eine Situation, in der es innerhalb einer türkischen Familie in Deutschland um die Zimmeraufteilung in der Wohnung geht. Auf die Äußerung der Mutter in Gastarbeiterdeutsch: „die wollen/ jedes will zimmer, ich was machen“ reagiert die Tochter mit der ebenfalls und bewusst defizitären Konstruktion „was machen, hier sitzen wohin gehen“. Die Verwendung des Gastarbeiterdeutschen durch die Tochter ist hier als Kritik und Karikatur (an) der Mutter, ihrer Rat- und Hilflosigkeit sowie Sprache, zu verstehen. Als weitere Funktionen der Gastarbeiterdeutsch-Verwendung durch die Tochter nennt Keim (ebd.) die Distanzierung vom sozialen Status der Mutter und belegt dies durch das Verwendungsbeispiel „nix. isch putzen, ausländer immer putzen nix deutsche“, mit dem die Tochter ihre Mutter und deren Tätigkeit und Sicht‐ weise auf Deutsche herabsetzt und sich davon distanziert. Es geht in der Situation darum, dass anlässlich einer Gartenparty eine deutsche Freundin 92 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="93"?> anbietet, der Tochter beim Putzen zu helfen. Die Tochter lehnt dies aber mit dem die Mutter karikierenden, auf Gastarbeiterdeutsch artikulierten Verweis ab, dass Deutsche nicht putzen müssen, sondern hierfür die Türken bereitstehen. Somit bleibt Gastarbeiterdeutsch eine stigmatisierte Varietät auch in der Verwendung durch die Folgegenerationen. Dass diese Gastarbeiter‐ deutsch mit dieser Funktion einsetzen (können), liegt daran, dass es für sie eben nicht mehr die einzige Kommunikationsmöglichkeit im Deutschen ist, sondern sie über ein weit größeres Repertoire des Deutschen im Standardwie Nonstandardbereich verfügen. Hieraus sollen im Folgenden die mit den Folgegenerationen der Arbeitsmigrant: innen assoziierten ethnolektalen Sprechweisen in ihrer sozialen Funktion erläutert werden. 4.4 Ethnolektale Sprechweisen Die Soziolinguistik greift die speziellen Sprachgebrauchsweisen der zwei‐ ten und folgender, zunächst v. a. türkischsprachiger, Generationen unter der Bezeichnung der Ethnolekte bzw. ethnolektale Sprechweisen auf und versucht, Interferenzen zwischen dem Türkischen und dem Deutschen aufzuzeigen. Allerdings stellt die Forschung schnell fest: „Türkisch sprechen nicht nur die Türken“ (Dirim & Auer 2004) und analysiert die verschiedenen Transformationen von Ethnolekten und Prozesse der De-Ethnisierungen hin zum polyethnischen Sprechstil. An Phänomenen des „Multisprech“, der Sprachkreuzungen, der Stilisierung und der Hybridität, am „Spiel mit Stil“, z. B. in Jugendszenen und auch in satirischen Medienformaten, stoßen variations- und gar varietätenlinguistische Ansätze an ihre Grenzen und machen konstruktivistischen Platz, die der sozialsymbolischen Funktion des Sprachgebrauchs einen besonderen Stellenwert beimessen und die Konzep‐ tion des kommunikativen sozialen Stils als Erklärfolie heranziehen (s. o.). Die Beschreibung der Formen und Funktionen ethnolektaler Sprechweisen, die Entwicklung von Ethnolekten hin zur De-Ethnisierung sowie die Bezüge zu anderen Varietäten im Rahmen der individuellen Sprecherrepertoires und auch im europäischen Vergleich (vgl. Kern & Selting 2011) werden im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. 4.4 Ethnolektale Sprechweisen 93 <?page no="94"?> Gehen wir aus von einer kurzen Definition: Ethnolekte sind formal eine mischsprachliche, mündlich gesprochene Kontaktvarietät aus Elementen des Deutschen und der Herkunftsspra‐ chen von ursprünglich Migrantenkindern der zweiten oder dritten Ge‐ neration, die in multilingualen und multiethnischen urbanen Gruppen eine identitätsstiftende Funktion übernimmt. Sie sind jedoch keine Lern‐ ervarietäten (wie das Gastarbeiterdeutsch), auch wenn einige Merkmale, wie z. B. Simplifizierungen und Übergeneralisierungen, Ähnlichkeiten mit Lernervarietäten haben. In natürlichen Gesprächen hört sich das (in Berlin) zum Beispiel so an: (1) Seda: Isch bin eigentlisch mit meiner Figur zufrieden und so, nur isch muss noch bisschen hier abnehmen, ein bisschen noch da. Dilay: So bisschen, ja, isch auch. - Seda: Teilweise so für Bikinifigur und so, weißt doch so. […] - Dilay: Isch hab von allein irgendwie abgenommen. Isch weiß auch nisch, wie. Aber dis is so, weißt doch, wenn wir umziehen so, isch hab keine Zeit, zu essen, keine Zeit zu gar nix. […] Heute muss ich wieder Solarium gehen. - - (Wiese 2012: 9) (2) Elif: Isch kann misch gut bewegen, wa? Ischwöre. Egal, was für ein Hiphopmusik isch höre, ey, mein Körper drinne tanzt voll, lan. […] - Aymur: Was steht da auf ihre Hose? […] „Melinda“ oder so. - Deniz: Melissa. Mann, die is ein Püppschen, lan. - Juri: Ihre Schwester is voll ekelhaft, Alter. Ischwöre. - Sarah: Ey, weißte, Mann. Lara is ihre Schwester, wa. Die ähneln sisch bisschen. […] - Juri: Die mit den Knutschfleck immer hier. Du kennst. 94 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="95"?> Elif: Mann, die hat tausend. Jeden Tag nen neuen Freund, Mann. - Aymur: Ja. Und die hat immer hier Knutschfleck. […] - Juri: Manschmal, wenn isch tanze, isch geh an Spiegel, isch mach so. […] - - (Wiese 2012: 11 f.) Die grammatischen Besonderheiten gegenüber der Standardsprache betref‐ fen in großen Teilen Deutschlands insbesondere systematische prosodische und phonetische („gestoßenes Sprechen“, Koronalisierung [ç > ʃ], apikales [r]) sowie syntaktische Besonderheiten (Ausfall der Artikel und Präposi‐ tionen, gehäufte Dativ-Verwendung als kasusunterspezifizierte, morpho‐ logisch einfachere Universalformen, bei denen zwischen Abweichungen im Kasusgebrauch vs. bei den Kasusformen schwer zu unterscheiden ist, → 3). Lexikalisch und pragmatisch auffällig ist die häufige Verwendung lexikalischer Routinen (krass, konkret, weißt du, ich schwör). Typisch für Ethnolekte ist aber auch das so genannte Code-Switching und Code-Mixing. Code-Switching (Code = Sprache, Varietät, Register oder Stil) bezeichnet das zumeist funktional oder thematisch bedingte, lokal bedeutsame oder einen neuen Kontext eröffnende Wechseln von einem Code A in einen anderen Code B an bestimmten Stellen oder aufgrund bestimmter Auslöser. Mit Code-Mixing sind Phänomene der fließenden Sprachbzw. Codemi‐ schung von auch mehr als zwei Codes innerhalb von Wörtern (Flexion) und Konstruktionen (feiern yaptım ‚ich feierte/ feiern machte ich‘; bilderlar ‚Bild + dt. Plural -er + türk. Plural -lar) oder Sätzen gemeint, die erheblich schneller und öfter wechseln, sodass sprachliche Grenzen verschwimmen und lokale Wechsel keine spezifische, konkrete Bedeutung oder Funktion mehr haben, sondern generell als symbolisches, soziolektales Mittel zum Ausdruck einer eigenständigen sozialen Identität der Sprecher: innen zu sehen sind (z. B. in Abgrenzung zu Deutschen oder den türkischen Eltern). 4.4 Ethnolektale Sprechweisen 95 <?page no="96"?> Der Code-Mix kann dabei selbst wieder Teil eines Code-Switchings wer‐ den, indem er funktional mit einem standardsprachlichen Stil kontras‐ tiert. Code-Mixing kann im ethnolektalen Kontext die Normalform der Ingroup-Kommunikation sein (Beispiele bei Keim & Cindark 2003: 384, 389). Heutzutage werden Ethnolekte stark durch die Medien stilisiert und verbreitet („Ghetto-Deutsch“, „Kanakisch-Deutsch“) und von Deutsch-Erst‐ sprachler: innen übernommen (Dirim & Auer 2002). Soziolinguistisch lässt sich dabei eine wiederkehrende Konnotation von Ethnolekten mit Härte, Agressivität, Coolness und Machotum beobachten. Gesellschaftlich gelten Ethnolekte in der breiten und medialen Öffent‐ lichenkeit, ähnlich wie das Gastarbeiterdeutsch, als stigmatisiert und defizitär gegenüber der deutschen Standardsprache. Dass sie von den Sprecher: innen zumeist gezielt und funktional (z. B. als Identitätsausweis), innovativ sowie durchaus kreativ nur in bestimmten Situationen - und hier angemessen - eingesetzt werden und dass die Sprecher: innen auch andere, prestigeträchtigere Varietäten des Deutschen beherrschen, wird von der Öffentlichkeit oft ignoriert. Generell trifft man auf ethnolektale Sprechweisen eher bei jüngeren Sprecher: innen, weshalb Ethnolekte oft auch als eine Art multiethnische Jugendsprache (Wiese 2012) bezeichnet werden, die an der Schnittstelle bzw. im Sprachkontakt verschiedener Sprachen und Varietäten des Deut‐ schen entsteht: Abb. 2: Ethnolekte als Mischsprache im Sprachkontakt (vgl. Efing 2023: 242) Ethnolekte sind demnach aus linguistischer Sicht ein Beleg für kreative Prozesse der Sprachmischung sowie ein Ort des sehr schnellen Sprachwan‐ 96 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="97"?> dels, was Wiese zur Bezeichnung als „dynamischer Turbodialekt“ (Wiese 2012: 17) verleitet. Die Kategorisierung und Bezeichnung als „Dialekt“ (Wiese 2012) ist jedoch aus (sozio-)linguistischer Sicht verwirrend und nicht haltbar. Da sich neben der Literatur die mediale Öffentlichkeit wie auch die Comedy-Szene (Erkan und Stefan, Bülent Ceylan, Kaya Yanar …) sehr früh dem Phänomen der Ethnolekte zugewendet hat, verschwimmen die Grenzen zwischen realen ethnolektalen Sprechweisen und Sprecher: innen‐ gruppen und deren fiktionalen, karikaturhaften medialen Inszenierungen sehr schnell, wobei Medienakteur: innen einerseits zu Meinungsmachern (vor allem bezüglich der Bewertung) und andererseits zu Verfälschern der authentischen Sprechweisen werden. Diese mediale, bisweilen (sprach-)ideologische Karikierung und kli‐ scheehafte Verzerrung der realen ethnolektalen Sprechweisen macht dabei nicht bei sprachlichen Merkmalen halt, sondern koppelt Sprache auf zum Teil gefährliche, manipulative Art an soziale und kulturelle Aspekte (→ 5.3.1). Sprachlich finden sich in den medialen Inszenierungen etwa grammatische Phänomene („Fehler“), die keine Basis im authentischen Ethnolekt haben (dem als durchgängiger Definitartikel, gefahrt als Partizip: „Es war ma ein krass geile alte Tuss, dem hatte Stiefkind. Dem alte Tuss hat immern in sein Spiegeln geguckt un den angelabert: […] Dann sin auf Arbeit gefahrt […] un sin Klinik gefahrt“, „Kanakisch - Deutsch“ [Eichborn-Verlag] 2003). Hiermit und parallel dazu schaffen die Medien sprachliche wie außersprachliche Stereotypen und koppeln Ethnolekte an gewisse (oft kriminelle) soziale und Bildungs-Milieus. Genau diese Verzerrungen (statt authentischer Verwendungsbeispiele) in zudem unauthentischen und damit dysfunktionalen Kontexten werden dann nicht selten von Verlagen als Unterrichtsmaterial aufbereitet und auch von seriösen Medien wie dem SPIEGEL verbreitet (→ 4.5.3). Ein authentisches Bild der Sprecher: innengruppen, sprachlichen Formen und Funktionen wird im Folgenden aus soziolinguistischer Perspektive beschrieben. Die Existenz von Ethnolekten - als europäisches Phänomen - ist seit min‐ destens Mitte der 1990er Jahre bekannt, als Hauptträger gelten männliche Jugendliche, die ursprünglich v. a. türkischstämmig waren, doch gilt dies, wie zu zeigen sein wird, so heute nicht mehr. Entstanden sind Ethnolekte im urbanen Umfeld der Großstädte, in denen viele Migrant: innen der zweiten 4.4 Ethnolektale Sprechweisen 97 <?page no="98"?> oder dritten Generation wohnten. Deren Herkunftssprachen bestimmten u. a. durch Interferenzen die sprachlichen Merkmale der Ethnolekte mit. Der defizitären Sicht der Öffentlichkeit auf Ethnolekte setzt Heike Wiese (2013: 45) aus linguistischer Sicht eine bewusst (und evtl. etwas übertrieben) positive Interpretation der sprachlichen Merkmale und Innovationen von Ethnolekten entgegen, wenn sie diese als v. a. zwei Arten grammatischer Entwicklungen interpretiert: • einerseits als quantitativen Ausbau bzw. Systematisierung von Nonstan‐ dardkonstruktionen anderer Varietäten gegenüber dem Sprachgebrauch in vergleichbaren, aber stärker monoethnischen/ monolingualen Grup‐ pen (z. B. die Verwendung von voll: Das ist (voll, ganz, total, sehr) schön.); • andererseits als grammatische Innovationen, die auf vorhandenen Mus‐ tern des Deutschen aufbauen, diese aber qualitativ verändern und weiterentwickeln (z. B. es gibs nich mehr sowas wie früher; ich war gestern bauhaus und habe geguckt welche sorten gibs). Dabei muss letztlich ungeklärt bleiben, ob es tatsächlich, wie von Wiese dargestellt, die vorhandenen, vergleichbaren deutschen Konstruktionen (etwa Verzicht auf Präposition und Artikel beim Sprechen über Haltestellen: Ich steig Alexanderplatz aus.) sind, die die Ethnolekte aufgreifen, in andere Kontexte setzen und verbreiten, oder ob es nicht doch auch andere Interpretationen - wie die der Interferenz, Sprachökonomie und gram‐ matischen Vereinfachung - gibt. Die prototypischen sprachlichen Merkmale, die schließlich kennzeichnend für ethnolektales Sprechen sind, können grob wie folgt zusammengefasst werden (vgl. u. a. Dirim & Auer 2004, Auer 2003, Keim & Knöbl 2007, Keim 2011: 163 f.): Auf der phonetisch-phonologischen Ebene • Koronalisierung (Verschiebung des Artikulationsortes bei der Ausspra‐ che des stimmlosen palatalen Frikativs / ç/ in Richtung auf postalveola‐ res / ʃ/ ): isch statt ich • Reduktion des / ts/ zu / s/ : swei statt zwei • Gerolltes / r/ • Nicht-Vokalisierung von auslautendem / r/ • Fehlen von Glottalverschlüssen • Kürzung langer Vokale 98 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="99"?> • „gestoßenes Sprechen“ • Phonetische (segmentale und suprasegmentale) Interferenzen der Her‐ kunftssprachen Auf der morphologischen und syntaktischen Ebene • Nomen ohne Artikel und Präposition (fast nur in Ortsangaben! ) bzw. mit von der Standardsprache abweichender Präposition: Wenn wir überhaupt Hochzeit gehen; sich von anderen Leuten wehren • Veränderung des Valenzrahmens/ von Subkategorisierungsregeln (sel‐ ten): Mit dem du geheiratet hast statt den du geheiratet hast • Veränderung der Genera: gutes Gewinn; ein Ohrfeige geben • Fehlende Kongruenz oder von der Standardsprache abweichende Kon‐ gruenzregelung in komplexen Nominalphrasen (ggf. auch als Genu‐ sproblem zu werten): schlechten Gewissen gehabt; steht einer Deutscher • Häufiges Fehlen von (in)definiten Artikeln: da wird Messer gezogen; sonst bist du toter Mann, hast du Problem? • Umwandlung der Satzstellung in Subjekt-Verb-Objekt-Sätzen, z. B. Verbdrittstellung, Topic-Drop: Morgen, ich komme dich besuchen; Jetzt ich bin 18, wollte ich keine Hektik machen • Nicht-Setzen anaphorischer und suppletiver Pronomen: Als ich kennen‐ gelernt hab… statt als ich ihn/ sie kennengelernt habe Auf der lexikalischen und pragmatischen Ebene • Türkische Anreden als Diskursmarker • Beschimpfungen (siktir lan ‚verpiss dich, Mann‘) • Einfluss des Türkischen und Arabischen: lan ‚Typ, Mann‘, moruk ‚Alter‘, yallah ‚los, schnell‘ • Anglizismen ( Jugendsprache) • Passe-Partout-Verben (gehen, machen - ich mach Dich Messer/ Kranken‐ haus), Passe-Partout-Substantive (ding(s)) • Bereiche: Anrede, Redebeginn/ -schluss, Bekräftigung, ritualisierte Flü‐ che und Beleidigungen (typisch Jugendsprache) • Häufige Verwendung von neuen Funktionswörtern (Fokus- und Dis‐ kursmarkern) (so, ischwör, lassma, musstu, kuxu) 4.4 Ethnolektale Sprechweisen 99 <?page no="100"?> Vergleicht man die ethnolektalen Merkmale mit denen des Gastarbeiter‐ deutschen, fällt als Gemeinsamkeit vor allem der Ausfall von Artikeln und Präpositionen auf. Es überwiegen aber die Unterschiede: Die Ethno‐ lekt-Sprecher: innen flektieren (wenn auch zum Teil nach anderen Mustern als in der Standardsprache) Nomen und Verben, sie befolgen weitgehend die Wortstellung in Haupt- und Nebensätzen gemäß den Normen der deut‐ schen Standardsprache (Ausnahme: Verbdrittstellung) und sie beherrschen auch die Satzklammer. Vor allem zeigt sich das größere Repertoire der Ethnolekt-Sprecher: innen darin, dass sie nicht auf eine fossilierte Varietät beschränkt sind, sondern dass bei ein und demselben Sprecher eine große Variabilität der genannten Phänomene zu verzeichnen ist; d. h., dass ihnen die ‚korrekten‘, standardsprachlichen Regeln bekannt sind und sie sie an die jeweilige Situation anpassen können. Ethnolekte sind demnach kein Beleg für mangelnde Sprachkompetenz im Deutschen, sondern funktional ein Ausdruck eines neuen deutsch-türkischen (oder andersbzw. multi-eth‐ nischen) Selbstbewusstseins, einer neuen Identität der Sprecher: innen. Nach Auer ist der (türkische) Ethnolekt demnach „zwar kompatibel mit natürlichen Vereinfachungsstrategien und lernertypischen Interferenzen“, doch sind die Sprecher: innen in der Lage, diese Vereinfachungsstrategien gezielt, „selektiv und situationsspezifisch zu Zwecken der Selbst-Stilisierung als ethnischer Gruppe ein[zu]setzen“ (Auer 2003: 260). Das bedeutet, dass Ethnolekte, im Gegensatz zum Gastarbeiterdeutsch, bewusst, gezielt und damit funktional - auch im Zuge eines Code-Swit‐ chings - eingesetzt werden. Als Haupt-Funktionen des ethnolektalen Sprechens lassen sich, sich jeweils gegenseitig überlappend oder bedin‐ gend, nennen: • Selbst-Stilisierung (zu einer ethnischen/ sozialen Gruppe) als Aus‐ druck eines neuen multi-ethnischen Selbstbewusstseins, einer neuen Identität: der Ethnolekt wird zu einem We-Code gegenüber dem Deut‐ schen als They-Code; hiermit verbunden eine Funktion als • Jugendsprache (z. B. Provokation und soziale Abgrenzung); in diesem Zusammenhang insbesondere eine Funktion der • Gruppenstabilisierung nach innen (Ingroup-Kommunikation zur Herstellung der Peergroup-Beziehung, als Ausdruck sozialer Zugehö‐ rigkeit) durch Verwendung gegenüber und in Anwesenheit von Peers, während die Verwendung von Standardsprache eine soziale Distanz aufmacht; 100 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="101"?> • Gruppenabgrenzung nach außen (zur Erwachsenensprache/ -welt); • die Nutzung in scherzhaften Situationen; • die Nutzung hinsichtlich Aussagen, die man nicht mit der „eigenen Stimme“ tätigen will: Anmachsprüche, derbe Witze, Anzüglichkeiten etc. Zu diesen Funktionen, die ausschließlich für die primären Sprecher: innen gel‐ ten, kommen weitere hinzu, wenn Außenstehende, etwa Medienakteur: innen, sich ethnolektaler Sprechweisen bedienen und diese, partiell vergleichbar dem foreigner talk, imitieren und karikieren. Hier zu nennen wäre eine diskrimi‐ nierende Funktion (Inszenierung, Verstärkung und angebliche Bestätigung von Stereotypen wie Dummheit oder Aggressivität). Weitere Funktionen solcher imitierenden Outgroup-Kommunikation sind die Darstellung von eigener Medienkompetenz oder die Nutzung ethnolektaler Elemente für eine innovative Sprachnutzung. Um den Unterschied zwischen diesen Sprecher: innengruppen in der Authentizität des jeweiligen Ethnolekts zu verdeutlichen, unterteilt Auer (2003) ethnolektales Sprechen in die drei Klassen eines primären, sekun‐ dären und tertiären Ethnolekts: Den primären Ethnolekt sprechen die ursprünglichen, zunächst meist, aber nicht ausschließlich türkisch‐ stämmigen Sprecher: innen. Deren Ethnolekt wurde dann von Medienak‐ teur: innen aufgegriffen und karikierend verzerrt zu einem „medial-sekun‐ dären“ Ethnolekt. Über diese mediale Verbreitung (vgl. etwa Androutsopoulos 2001, 2007; Androutsopoulos & Lauer 2013) und Kontaktmöglich‐ keit begannen auch andere als die ursprünglichen Sprecher: innen, v. a. deutschstämmige Sprecher: innen, ethnolektal zu sprechen: den tertiären Ethnolekt. medial-sekundärer Ethnolekt (crossing I) De-Ethnisierung zum Soziolekt (deutsche und drittethnische Sprecher) primärer Ethnolekt (v.a. türkische Sprecher) tertiärer Ethnolekt (crossing II) (v.a. deutsche Sprecher) Abb. 3: Primärer, sekundärer und tertiärer Ethnolekt (Auer 2003: 257) 4.4 Ethnolektale Sprechweisen 101 <?page no="102"?> Da mit diesem Prozess der Weitergabe und Verbreitung von ethnolektalem Sprechen zwangsläufig dessen ethnische Verwurzelung verschwand und Ethnolekte andere, neue Funktionen übernahmen, spricht Auer hier von der „De-Ethnisierung zum Soziolekt“, die eine Ausbreitung des primären Ethnolekts unter nicht-türkischen Jugendlichen meint. Wird der sekundäre Ethnolekt in den Medien noch als Symbol ethnischer Stereotypisierung genutzt und stilisiert, konnotiert mit Kontext-Merkmalen wie Aggression, Kriminalität und Macho-Kultur, erhält der tertiäre Ethno‐ lekt, durchaus getrieben durch die mediale Anerkennung, ein ganz eigenes (Subgruppen-)Prestige und eine erweiterte Identitätsfunktion auch für nicht ethnisch definierte Gruppen. Vor allem männliche Jugendliche, die Deutsch als Erstsprache sprechen, eignen sich ethnolektale Ressourcen an, um „cool“ zu wirken. Durch diesen Prozess bilden sich im de-ethnisierten Ethnolekt sprachliche Gemeinsamkeiten über verschiedene Regionen hinweg aus. Als diese gelten v. a. die bereits für den primären Ethnolekt genannten (nach Auer 2003: 263, der betont, dass alle folgenden Beispiele von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund stammen): • Wegfall des Artikels: Möchte Ausbildung machen; was macht Fußball? • Wegfall von Präpositionen (und Artikeln)/ veränderte Präpositionen: Die geht so Laden rein; wenn ich jetzt Bäckerei arbeite • Fehlen von Pronomen: Weil ich hör die und die haben [es] mir beigebracht • Variation der Kongruenz: Weil manche türkische Leuten, die können überhaupt kein Deutsch • Genusabweichung: Aber der eine wollte doch deutsche Geld haben Trotz der De-Ethnisierung behält bzw. erhält das Türkische ein besonderes Prestige, das sich darin zeigt, dass es auch zur Übernahme längerer Sequen‐ zen auf Türkisch durch Nicht-Türken kommt, etwa bei Begrüßungssequen‐ zen oder dem Fragen nach der Uhrzeit. Auch pragmatische Elemente des Türkischen wie Interjektionen und Routineformeln werden übernommen. Parallel zu diesem sprachlichen Einfluss des Türkischen kommt es auch zur Übernahme anderer türkischer Kultureme wie der Musik. Mit der Auflösung des Ethnolekts als männlich geprägter Genderlekt im Rahmen der häufigeren Verwendung des Ethnolekts auch durch Frauen/ Mädchen wird aus dem de-ethnisierten Ethnolekt schließlich ein Soziolekt, der auch von bildungsnahen, aufstiegsorientierten Jugendlichen und in formelleren Situationen verwendet wird, sodass ein Übergang in die Um‐ gangssprache festzustellen ist. Ein typischer Verwendungskontext bleibt 102 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="103"?> dennoch die Nutzung in multiethnischen Vierteln, jedoch ohne ethnische Eingrenzung der Sprechgruppe. Die enge Verquickung von ethnolektalen Sprechweisen und sozialer Iden‐ tität und Selbst-Stilisierung sowie von (Häufigkeit und Art der) Verwendung und sozialer Aspiration kann sehr schön an den Arbeiten von Keim (etwa 2007, 2011) aufgezeigt werden, die vier verschiedene Gruppen innerhalb eines Großstadt-„Ghettos“ der Stadt Mannheim herausarbeitet, von denen hier zwei näher vorgestellt werden sollen: • Die sich (als reclaim) selbst so bezeichnenden „Kanaken“ oder „Proll-Türken“ sind als Street-corner-Society eine ethnisch gemischte Gruppe aus Jugendlichen mit keinem oder nur einem einfachen Schul‐ abschluss und geringen Ausbildungschancen. Die Gruppenangehöri‐ gen sehen als ihre wichtigsten Eigenschaften Härte, Coolness und Macho-Sein, sie sind in ihrem Selbstbild ein cooler Türke, ein Loser mit geringer Bildung und einer Anti-Schul-Haltung, der sehr auf das „Ghetto“ orientiert ist. Der verwendete Ethnolekt ist eher ein primärer Ethnolekt. • Die „Powergirls“ (ebenfalls eine Selbstbezeichnung), oft Schwestern der „Kanaken“, gehen fast alle auf eine weiterführende Schule oder streben eine solche Schule und ein Leben außerhalb des „Ghettos“ an. Die Älteren distanzieren sich vom Bild der Gastarbeiter: innen und ihrer Sprache, pflegen aber Beziehung zu ihren Eltern und ih‐ rem türkischen Umfeld. Das Leitbild der Gruppe sind Frauen, die cool, fit, schulisch erfolgreich und schön sind und sich aggressiv zur Wehr setzen können. Die Familiensprache ist Türkisch, das zum Teil auch mit den Freundinnen gesprochen wird. Während in den ersten Schuljahren die Stadtteilsprache vorrangiges Kommunikationsmittel ist, treten mit zunehmender Schulerfahrung deutsche Standardformen in den Vordergrund. Bei den Gymnasiastinnen unter den Powergirls ist das Standarddeutsche sogar die vorherrschende Varietät. Dennoch sind bei der Gruppe die Übernahme von männlichen Anredemustern ebenso zu beobachten wie „grobe“ Prosodie-Muster (laut, manchmal fast schreiend, hervorgestoßenes Sprechen, starke Dehnung der letzten (betonten) Silbe). Hierzu gehört gruppenkulturell die häufige Demons‐ tration von Aggressionsbereitschaft, insbesondere durch nonverbale und prosodische Mittel, sowie eine geringe Ausprägung von Regeln des Respekts im Umgang miteinander. Außerhalb des „Ghettos“, in 4.4 Ethnolektale Sprechweisen 103 <?page no="104"?> Situationen der Außenwelt oder der akademischen Ausbildung, wird kein Gebrauch vom Ghetto-Stil gemacht, sondern die Powergirls sind in der Lage, verschiedene Varietäten zu verschiedenen Zwecken zu verwenden. Innerhalb des „Ghettos“ sprechen sie variationsreich und funktional bewusst Mannheimer Dialekt zur Karikatur des „dummen Deutschen“, Gastarbeiterdeutsch zur Karikatur der „zurückgebliebenen Türken“ der ersten Generation sowie ethnolektales Deutsch, um einen ungebildeten türkischen Macho der zweiten Generation darzustellen. Dieses Code-Switching hat dabei also eine klare soziale und rhetorische Funktion. Auch kann Code-Mixing zwischen den Sprachen und Varie‐ täten beobachtet werden, das die eigene Identität, das neue Selbstbild der Gruppe symbolisiert: weder türkisch noch deutsch, gebildet, „taff “, beruflich und sozial erfolgreich. Bereits 2003 haben Kallmeyer/ Keim den Sprachgebrauch der Powergirls als kommunikativen sozialen Stil auf Basis eines sehr breiten Repertoires aus Mannheimer Türkisch, Türkisch der Türkei (inkl. „bäurischem Türkisch“) und verschiedenen deutschen Varietäten und Sprechstilen (Gastarbeiter‐ deutsch, Stadtteilsprache, Mannheimerisch) beschrieben, das abwechselnd oder auch im Rahmen von Code-Mixing oder -Switching verwendet werde. Dabei würde zum Teil sehr bewusst und funktional gewechselt. Grundsätzlich zeigen die Untersuchungen von Keim, dass sich das Code-Mixing bei denjenigen, die im „Ghetto“ bleiben, stabilisiert; wer das „Ghetto“ verlässt, bei dem schleicht sich das Code-Mixing aus. Je nach Selbstverortung im „Ghetto“ oder außerhalb ist eine höhere oder nied‐ rigere Normenkonvergenz/ -divergenz bezüglich der Ghettonormen oder der Mehrheitsnormen beobachtbar, was zeigt, dass Sprache, insbesondere ethnolektales Sprechen, und Selbstbild eng miteinander verknüpft sind. Als Fazit lässt sich konstatieren, dass Ethnolekte in multiethnischen Großstadtvierteln gesprochen werden und in ihren sprachlichen Merkmalen überindividuell systemhaft und nicht in sich fehlerhaft sind. Die öffent‐ lich-medialen Sprachverfallsklagen angesichts ethnolektaler Sprechweisen resultieren aus dem geringen „sozialen Marktwert“ der Sprecher: innengrup‐ pen (sozial Schwächere), der auf die Sprache übertragen wird (vgl. Wiese 2011: 79). Dabei sind die ethnolektalen Formen nicht als mangelnde Sprach‐ kompetenz oder als doppelte Halbsprachigkeit, sondern als kommunikativer sozialer Stil und Ausdruck der multiplen Sprecher: innenidentität zu verste‐ hen, die für Migrant: innen der zweiten oder dritten Generation oft eine 104 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="105"?> hybride aus Herkunfts-, deutscher und einer eigenen neuen Jugendkultur ist. Ethnolekte sind keine Ausländer-, sondern eine Inländervarietät von in Deutschland geborenen jungen Menschen und im Gegensatz zu Gastar‐ beiterdeutsch keine Lernervarietät. Vielmehr können die Sprecher: innen funktional (diskursive und soziale Gründe) zwischen Standardvarietät und Ethnolekt variieren und verfügen über eine innere Mehrsprachigkeit und ein breites Repertoire: Deutsch wird mit Deutschen, Türkisch mit den Eltern und Ethnolekt als etwas Eigenes der Jugendlichen mit den Peers gesprochen. Jede: r Sprecher: in beherrscht und verwendet auch (und mehrheitlich) stan‐ dardnahe Formen (z. B. Auer 2013 für die Koronalisierung [nur in 6 % der Fälle] und den Ausfall von Präpositionen [9 %] und des indefiniten [13 %] und definiten Artikels [16 %]). 4.5 Vorschlag einer Didaktisierung Die Wirkung und Funktion speziell von Ethnolekten und ihren Normbrü‐ chen vor dem Hintergrund und Maßstab der Standardsprache für insbeson‐ dere Fragen der Gruppenidentität lässt sich aus verschiedenen Perspektiven mit Schüler: innen erabeiten. Im Folgenden werden drei Zugänge aufge‐ zeigt, die die stilistische Wirkung von ethnolektalen Sprechweisen nach innen (Zusammenhalt innerhalb der Sprecher: innengruppe) wie nach außen (Sprachverfall-Diskussion in der medialen Öffentlichkeit) verdeutlichen. 4.5.1 Kennenlernen authentischer (formaler und funktionaler) Merkmale von Ethnolekten Die Schüler: innen nähern sich ethnolektalen Sprechweisen auf fomaler wie funktionaler Ebene durch Brainstorming zu sprachlichen Formen und möglichen Funktionen, das Lesen von Fachtexten zu Ethnolekten oder durch mündlichen oder schriftlichen (bspw. Merkmalslisten) Lehrkraft-Input. Da‐ nach sollten möglichst authentische Dialoge analysiert werden mit Blick vor allem auf die stilistische Wirkung und Funktion (als kommunikativer sozialer Stil und Identitätsmarker). Insbesondere die Phänomene des funk‐ tionalen Code-Swichtings und Code-Mixings sollten hervorgehoben werden - und die Bewertung, dass diese Phänomene, wie auch Artikeleinsparun‐ gen und dergleichen, im Gegensatz zur medialen Darstellung kein Indiz 4.5 Vorschlag einer Didaktisierung 105 <?page no="106"?> für mangelnde Sprachkompetenz sind, da die Sprecher: innen auch anders sprechen können. Gleichzeitig kann weitergehend erarbeitet werden, warum Ethnolekte von Außenstehenden imitiert werden und dass dies ein Hinweis auf ein offenes oder verdecktes Subgruppen-Prestige ist. Funktionen solcher Out‐ group-Kommunikation sind etwa auch die Darstellung von eigener Medi‐ enkompetenz oder eine kreative, innovative Sprachnutzung. Der Gegensatz von primärem und sekundärem Ethnolekt sollte dann durch die Auseinandersetzung mit Beispielen der Thematisierung in der me‐ dialen Öffentlichkeit vertieft werden, um die Sprachreflexion und Sprach‐ kritikkompetenz zu schulen. 4.5.2 Der Film „Fack Ju Göhte“ Der „Ghettofilm“ (Rösch 2016: 14) „Fack Ju Göhte“ von Bora Dağtekin erzählt die Geschichte eines ehemaligen Häftlings, der auf der Suche nach seiner damaligen Beute durch verschiedene Umstände zum (Aushilfs-)Lehrer einer Problemklasse wird. Da der Lehrer einen ähnlichen sozialen Hintergrund wie die Schüler: innen hat, entwickelt sich zwischen beiden Seiten ein gutes Verhältnis - nicht zuletzt auch aufgrund einer „gemeinsamen Sprache“, die auf beiden Seiten als (filmisch inszeniert) ethnolektal geprägt zu beschrei‐ ben ist. Auch wenn diese Inszenierung sicherlich nicht authentisch und zudem übertrieben ist, lässt sich anhand des Films u. a. herausarbeiten, a) was - zumindest in der medialen Öffentlichkeit - sprachliche Merkmale von Ethnolekten sind, b) inwiefern die ethnolektale Sprechweise mit der sozialen Stellung der Protagonist: innen und ihrer Rolle als Angehörige einer „Parallelgesellschaft“ verknüpft ist (wer spricht wie - und wie ist das im Film sozial konnotiert? ), c) inwiefern nicht nur das Handeln, sondern auch die „gemeinsame Sprache“ dazu führt, dass die Klasse den neuen Lehrer akzeptiert und respektiert, d) inwiefern ethnolektale Sprechweisen auch eine Reaktion darauf sind, wie die Gesellschaft die Sprecher: innen behandelt und sieht - und dass von ethnolektalen Sprechweisen nicht auf den Charakter einer Figur rückgeschlossen werden kann, da ethnolektales Sprechen ein Rollenverhalten ist, das auch verändert werden kann. Dies zeigt der angedeutete „Ausbruch“ aus der Parallelgesellschaft: Im Anschluss - oder bereits parallel - sollten die im Film inszenierten ethnolektalen Formen linguistisch analysiert und mit den Ergebnissen der Linguistik zu authentischen Ethnolekten konfrontiert werden. Dieser 106 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="107"?> Vergleich sollte sich auf die formale wie die funktionale Ebene beziehen, und es ist sinnvoll, bei der Besprechung explizit auch das Modell Auers (2003) der primären, sekundären und tertiären Ethnolekte einzuführen, um die Inszeniertheit des Ethnolekts im Film zu verdeutlichen. 4.5.3 Analyse von journalistischen und Lehrmaterialien In Weiterführung der filmischen Inszenierung, die letztlich eine positive, wohlwollende ist, sollten sich die Schüler: innen auch mit den - weit häufi‐ geren - negativen Darstellungen der Ethnolekte und ihrer Sprecher: innen in den Medien auseinandersetzen. Hierfür bieten sich etwa die folgenden drei Beispiele an, die mit Blick auf die übertriebene Parodierung der Sprechweise und das soziale, stigmatisierende Bild der Sprecher: innen, das entworfen wird, hin analysiert werden sollten. Es war ma krass frustrierte Tuss, dem hatte Stiefkind. Das hat immer in sein Spiegel geguckt un den angelabert: Spiegel, Spiegel an Wand, wer ist dem geilsten Tuss in Land? (Haruna 2012: 13) Weisstu, hab isch Karre, Alder, weisstu geile Karre! Abern Kumpel von misch hat scheissndreck Karre, weisttu, hat schwule Golf, Alder! Dem is net unkonkret, aber dem is net Sportwagen. Weisstu, hat schon Perversverbreiterung drangemacht un dem Scheissndreck tiefern gelegt. Alder, schwarse Ruckscheinwerfer hat noch drangeklatscht un dem perversesten Alufelgen, wo du besorgen kannst, isch schwör! („Sprache, Medien, Lesen und Literatur. Themenheft Zentralabitur. Klett, nach: https: / / www2.klett.de/ sixcms/ media.php/ 229/ 10_Tuss_Zaimoglu.pdf) Was soll der Scheiß? So reden die Bewohner dieser Welt. Ey Mann, ey. Nutte. Killer. Krass. Es gibt viele ‚sch‘- und ‚ch‘-Laute in dieser Sprache, kaum noch ganze Sätze. Dreckische Deutsche, so reden sie. […] Respekt bekommt, wer die eigene, also die türkische oder libanesische Schwester vor Sex und Liebe und diesem großen glitzernden Westen schützt und selbst deutsche Schlampe fickt. Ohne Artikel. Wie sie eben reden. (DER SPIEGEL 14/ 2006) Ausgehend von diesen Beispielen könnten vertiefend auch die Unterschiede zwischen Gastarbeiterdeutsch, foreigner talk und Ethnolekten erarbeitet werden. 4.5 Vorschlag einer Didaktisierung 107 <?page no="108"?> 4.6 Aufgaben 1. Warum ist die Verwendung ethnolektaler Sprechweisen kein Indiz für mangelnde Sprachkompetenz der jeweiligen Sprecher: innen? Begrün‐ den Sie ausführlich auf formaler wie auf funktionaler Ebene und bezie‐ hen Sie die Unterschiede zwischen Gastarbeiterdeutsch und Ethnolekten mit ein. 2. Erstellen Sie eine dreispaltige Tabelle, in der Sie auf verschiedenen Ebenen (Form, Funktion, Sprecher: innengruppe …) die Unterschiede zwischen primärem, sekundärem und tertiärem Ethnolekt zusammen‐ stellen. 3. Erarbeiten Sie, als Vorbereitung für eine Umsetzung der Idee aus Kapitel 4.5.2, die Art, wie ethnolektale Sprechweisen formal und funktional in „Fack Ju Göhte“ dargestellt werden. 4. Analysieren Sie, wie in Kap. 4.5.3 von den Schüler: innen gefordert, die zitierten Textstellen mit Blick auf die (stigmatisierende) Darstellung von Ethnolekten und Ethnolekt-Sprecher: innen und formulieren Sie einen kurzen Absatz zum Zusammenhang (zur Darstellung des Zusammen‐ hangs) von ethnolektaler Sprechweise und sozialer Gruppen-Identität. 5. Erstellen Sie einen Stundenverlaufsplan (oder ausführlichen Unter‐ richtsentwurf) wahlweise zu einer Unterichtsstunde/ -einheit zu Kap. 4.5.1, 4.5.2 oder 4.5.3. 4.7 Weiterführende Literatur Ein ausführliches Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel finden Sie unter www.narr.de. Androutsopoulos, Jannis (2007): Ethnolekte in der Mediengesellschaft. Stilisierung und Sprachideologie in Performance, Fiktion und Metasprachdiskurs. In: Fand‐ rych, Christian; Salverda, Reinier (Hrsg.): Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen. Tübingen: Narr, S.-113-155. Auer, Peter (2003): ‚Türkenslang‘ - ein jugendsprachlicher Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen. In: Häcki Buhofer, Annelies (Hrsg.): Spracherwerb und Lebensalter. Tübingen, Basel: Francke, S.-255-264. Auer, Peter (2013): Ethnische Marker im Deutschen zwischen Varietät und Stil. In: Deppermann, Arnulf (Hrsg.): Das Deutsch der Migranten. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2012, Berlin, New York: de Gruyter, S.-9-40. 108 4 Variation und kommunikative Stile: am Beispiel von Ethnolekten <?page no="109"?> Keim, Inken (2011): Form und Funktion ethnolektaler Formen: türkischstämmige Jugendliche im Gespräch. In: Eichinger, Ludwig M.; Plewnia, Albrecht; Steinle, Melanie (Hrsg.): Sprache und Integration. Über Mehrsprachigkeit und Migration. Tübingen: Narr, S.-157-187. Keim, Inken; Knöbl, Ralf (2007). Sprachliche Varianz und sprachliche Virtuosität von türkischstämmigen „Ghetto“-Jugendlichen in Mannheim. In: Fandrych, Christian; Salverda, Reinier (Hrsg.): Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen. Tübingen: Narr, S.-157-200. 4.7 Weiterführende Literatur 109 <?page no="111"?> 5 Variation und Sprachideologie In den vorausgegangenen Kapiteln dieses Buches haben wir das Vermö‐ gen von Sprachbenutzer: innen kennengelernt, ihren Sprachgebrauch in verschiedener Hinsicht zu variieren. Variabilität zeigte sich uns als zen‐ trales Merkmal und Mittel sprachlicher Kommunikation, das einerseits die Passung von sprachlichem Handeln und kommunikativem Kontext ermöglicht (als kontext-angemessener Sprachgebrauch) und anderseits Sprechenden der Hervorbringung und Umdeutung von Kontext dient (als kontext-kreierender Sprachgebrauch). Wenn Sprechende bzw. Schrei‐ bende die Wahl zwischen sprachlichen Formen haben, dann lässt sich diese Wahl in der Regel also kommunikativ und sozial interpretieren. Varianter Sprachgebrauch sorgt dann für ein kommunikatives Mehr, das der Deutung durch Rezipient: innen offensteht. In diesem letzten Kapitel wollen wir nun der Frage nachgehen, auf welchen metakommunikativen Grundlagen diese Interpretationen vollzogen werden. Welche gesellschaft‐ lich geteilten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster liegen den sozialen Bedeutungen, die sprachlicher Variation beigemessen werden, zugrunde? Welche Werturteile fällen Akteur: innen einer Gesellschaft über bestimmte sprachliche Varianten? Auf welcher Basis werden diese Urteile getroffen? Und: Welche Konsequenzen ergeben sich für Sprechende, wenn sie aufgrund ihres Sprachgebrauchs - ob sie wollen oder nicht - sozial verortet werden? Wir begeben uns damit solchen Vorstellungen und Annahmen auf die Spur, mit denen Menschen die sprachliche Heterogenität ihres Alltags sinn‐ haft ordnen. Beobachtete sprachliche Varianten werden von den Akteur: in‐ nen einer Gesellschaft in Bezug zu sozialen Faktoren gesetzt und so in ihrem Gebrauch und Nicht-Gebrauch erklärbar gemacht. Vor allem aber dienen solche metasprachlichen Überzeugungen der Bewertung von Sprache und Sprachgebrauch. Welche Formen gelten Menschen etwa als ‚gutes Deutsch‘ (vgl. Burkhardt 2007) und wie kommt es zu dieser Zuschreibung? Welcher Wert wird in unserer Gesellschaft Dialekten zugemessen und in welchen Situationen erscheint es angemessen, Dialekt zu sprechen? Wie bewerten Akteur: innen den Einfluss von digitalen Medien auf den sprachlichen Wan‐ del? Welche Werthaltungen pflegen Menschen gegenüber Anglizismen? Wird die Mehrsprachigkeit von Schüler: innen durch Lehrkräfte eher als Chance oder doch (auch) als Problem wahrgenommen? Und macht es <?page no="112"?> für diese Wahrnehmung ggf. einen Unterschied, ob Schüler: innen neben dem Deutschen zum Beispiel das Türkische oder aber beispielsweise das Französische nutzen, um ihren kommunikativen Alltag zu bestreiten? Fragen wie diese werden wir im folgenden Kapitel aus Perspektive der Sprachideologieforschung beantworten. Wir wollen dabei aufzeigen, wie sprachliche Variation durch die metakommunikative Reflexion von Spre‐ cher: innen mit kommunikativer und sozialer Bedeutung aufgeladen wird, wie solche Aufladungsprozesse mit gesellschaftlichen Machtstrukturen einhergehen und wie diese Dynamiken schließlich auch für die Schule von zentraler Bedeutung sind und deswegen kritisch reflektiert werden sollten. Dafür werden wir in einem ersten Abschnitt zunächst klären, was wir unter Sprachideologien verstehen und anhand welcher kommunikativen Phänomene wir sie als linguistische Forschungsgegenstände untersuchen können (→ 5.1). Ein besonderes Augenmerk legen wir dabei auf die soge‐ nannte Standardsprachideologie, die sich als dominantes metasprachli‐ ches Wahrnehmungsmuster in westlichen Gesellschaften herausstellt und dementsprechend große Implikationen für unser aller Nachdenken über Sprache mit sich bringt (→ 5.2). Nachdem wir das Forschungsfeld in die‐ ser Weise abgesteckt haben, werden wir uns den Methoden zuwenden, mit denen die Sprachideologieforschung metasprachlichen Annahmen in Gemeinschaften auf den Grund geht (→ 5.3). Dabei stellen wir zuerst diskursanalytische Ansätze in den Mittelpunkt (→ 5.3.1), um danach eine interaktionsanalytische Perspektive auf Sprachideologien kennenzulernen. Abgeschlossen wird das Kapitel schließlich mit einer Diskussion der Rolle von Sprachideologien für den Unterricht in der Schule (→ 5.4). Hierbei wer‐ den wir standardsprachideologische Konzeptualisierungen in Schulbüchern unter die Lupe nehmen (→ 5.4.1) sowie die Situation mehrsprachiger Klas‐ senzimmer unter dem sprachideologischen Einfluss des Monolingualismus kritisch diskutieren (→ 5.4.2). Eine Zusammenfassung der zentralen Inhalte schließt das Kapitel - und dieses Buch - ab (→ 5.5). 5.1 Gesellschaftliche Reflexionen über Sprache und Sprachgebrauch An den eingangs aufgeworfenen metasprachlichen Fragen und den öffent‐ lichen Diskussionen, die sich um sie drehen, können wir gut erkennen, dass gesellschaftliche Reflexionen über Sprache und Sprachgebrauch zwar 112 5 Variation und Sprachideologie <?page no="113"?> vordergründig auf bestimmte sprachliche Formen abzielen (auf ganze Ein‐ zelsprachen, spezifische Varietäten und Stile oder manchmal auch auf einzelne phonologische, graphematische, morphologische oder syntaktische Merkmale), sich in den metasprachlichen Bewertungen von Variation dann aber primär soziale Bewertungen von Sprecher: innen manifestieren: Ein als spezifisch wahrgenommener Sprachgebrauch wird als Indiz für Eigenschaften von Sprechenden verstanden. So wird dann beispielsweise aus der Verwendung der Präposition wegen mit Dativ auf mangelnde Bildung geschlossen, der Gebrauch von Anglizismen als ‚prätentiös‘ oder ein fran‐ zösischer Akzent als ‚verführerisch‘ bewertet, um nur einige kursierende Ideen dieser Art zu nennen. Solche Vorstellungen, Bewertungen und Rationalisierungen über Spra‐ che, Sprachgebrauch und Sprecher: innen bzw. Schreiber: innen bezeich‐ nen wir als Sprachideologien (vgl. Silverstein 1979; für einen aktuellen Überblick B. Busch 2019). Der zugrunde gelegte Ideologie-Begriff ist dabei (anders als man es aus all‐ tagssprachlichen Zusammenhängen kennt) weder ausschließlich politisch noch per se als abwertend zu verstehen (vgl. Spitzmüller 2005a: 254). Stattdessen schließt er an Vorstellungen insbesondere postmarxistischer Philosophie an, dass soziale Gemeinschaften notwendigerweise jeweils spe‐ zifische Weltsichten (bzw. Weltanschauungen) entwickeln (vgl. Mannheim 1985 [1929]). Soziale Wirklichkeit wird also immer von einem bestimm‐ ten Standpunkt aus perspektivisch wahrgenommen, interpretiert bzw. für eine und von einer Gemeinschaft als gültig konstruiert. Wahrnehmung und Sinnherstellung sind in diesem Sinne stets an eine (soziale) Position gebunden, die nicht zu hintergehen ist. Die Wahrnehmung der Welt und damit auch das Sprechen über die Welt kann also niemals un-ideologisch sein. Dementsprechend ist auch die Wahrnehmung und das Sprechen über Sprache und Sprachgebrauch als Teil unserer sozialen Wirklichkeit nie neutral, sondern gebunden an Sprachideologie als gemeinschaftlich geteiltes Interpretationsgerüst. Die Heterogenität sprachlicher Ausdrucksmittel, die eine Gesellschaft durchzieht, wird durch Sprachideologien gewissermaßen sozial geordnet, indem spezifische Sprech- und Schreibweisen Personenty‐ pen und kommunikativen Aktivitäten zugeschrieben werden. 5.1 Gesellschaftliche Reflexionen über Sprache und Sprachgebrauch 113 <?page no="114"?> Ein sprachliches Verhalten wird so für die Mitglieder einer Gemeinschaft als typisch für eine bestimmte soziale Identität oder auch kommunikative Aktivität erkannt bzw. angenommen (auch, wenn sich diese Zuordnungen nicht zwingend mit der empirisch überprüfbaren Wirklichkeit decken müs‐ sen). Auf dieser Grundlage werden sprachliche Formen innerhalb einer Gemeinschaft mit sozialer Indexikalität aufgeladen. Als soziale Indexikalität wird die semiotische Kraft von Sprachformen verstanden, soziale Personentypen und interpersonale Beziehungen anzuzeigen (vgl. Agha 2007: 14). Beispielsweise kann in dieser Weise eine koronalisierte Aussprache des stimmlosen palatalen Frikativs / ç/ in Richtung eines postalveolaren / ʃ/ (zum Beispiel isch statt ich) als zentrales lautliches Merkmal eines ethnolektalen Sprechens wahrgenommen werden (→ 4), das seinerseits wiederum auf be‐ stimmte typisierte Personenkonzepte verweist (etwa von Aggressivität und Machotum). Eine Aussprache wird so innerhalb der Gemeinschaft, in der die sprachideologische Konzeptualisierung Bestand hat, zum interpretierbaren Verweis (also zum Index) auf soziale Zugehörigkeiten und Eigenschaften der Sprechenden. Gleichzeitig ist es ein wesentliches Merkmal von (sprachlichen) Ideolo‐ gien, dass sie den Gemeinschaften, in denen sie Gültigkeit haben, unsichtbar bleiben. Ideologie tritt als ‚common sense‘, als ‚gesunder Menschenverstand‘ bzw. als unbewusste ‚Brille‘, durch die wir die Welt und Sprache wahrneh‐ men, in Erscheinung und reduziert die Spanne und Komplexität möglicher Weltdeutungen auf ein als natürlich empfundenes Erklärungsmodell sozialer Differenzen (vgl. Errington 2000: 115). So ist beispielsweise im globalen Norden eine Nationalsprachenideologie zu beobachten, die es vielen Menschen ganz natürlich erscheinen lässt, dass Nationalstaaten jeweils eine einzige Nationalsprache ‚zugeordnet‘ ist (vgl. Makoni & Pennycook 2007). Dass diese Ordnung der sozialen Welt und von sprachlicher Heterogenität dabei zum einen verhältnismäßig jung und zum anderen eurozentristisch ist (zurückgehend auf die Diskurse der Aufklärung im 18. Jahrhundert, vgl. Haarmann 1995; Gardt 2000), wird dabei im Rahmen einer ideologischen Naturalisierung vielfach ausgeblendet. Dies wiederum hat Konsequenzen dafür, mit welchen sozialen Zuschreibungen die Mitglieder einer Gesell‐ 114 5 Variation und Sprachideologie <?page no="115"?> schaft, in denen die Nationalsprachenideologie wirkt, den Gebrauch von Sprachen versehen, die keinen Status als Nationalsprache beanspruchen können. Die Nationalsprachenideologie geht so mit einer „Ideologie des Monolingualismus“ (B. Busch 2021: 148) einher, die die mehrsprachige Lebensrealität von vielen Menschen als Abweichung vom angeblichen Normalfall Einsprachigkeit marginalisiert. Hier entstehen sprachideologi‐ sche Unterscheidungen zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘, bei denen Wertungen, die vordergründig Sprache betreffen, hintergründig Nationalidentitäten konstruieren und damit immer auch Mechanismen sozialer Exklusionen und Abwertungen in Gang setzen (vgl. Stukenbrock 2005; Flubacher 2014). Sprachideologien sind in diesem Sinne sowohl Aus‐ druck bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse als auch Mittel der Reproduktion dieser Machtverhältnisse, indem sie spezifischen Sprech- und Schreibweisen sozialen Wert verleihen bzw. absprechen und damit zu einer naturalisierten Hierarchisierung sprachlicher Ressourcen und ihrer Sprecher: innen führen (vgl. Bourdieu 2017). Sprachideologien drücken sich dabei einerseits implizit in den kommu‐ nikativen Praktiken von Gemeinschaften aus, also beispielsweise in den konventionalisierten Sprach-, Varietäten- oder Stilwahlen in spezifischen Kommunikationssituationen (etwa, wann und wo Dialekt und wann und wo standardnäher gesprochen wird) oder im Zuge von Stilisierungspraktiken, bei denen durch den Gebrauch spezifischer sprachlicher Mittel soziale Stereotype aufgerufen und als fremd markiert werden (vgl. etwa die in Kap. 4 beschriebenen Stilisierungen von Ethnolekten). Andererseits zeigen sich Sprachideologien aber auch explizit im Sprechen bzw. Schreiben über Sprache und Sprachgebrauch. In solchen metasprachlichen Diskursen wird die soziale Bedeutung sprachlicher Variation ausgehandelt. Dabei lassen sich in der Regel verschiedene diskursive Positionen erkennen, vertreten durch unterschiedliche soziale Akteur: innen, die aus ihren jeweiligen Positionen heraus für bestimmte Interpretationsgerüste sprachlicher Varianz argumen‐ tieren. Besonders wirkmächtig sind solche expliziten sprachideologischen Debatten (vgl. Blommaert 1999), wenn sie in der Öffentlichkeit der Massen‐ medien ausgetragen werden und dementsprechend weite gesellschaftliche Verbreitung erfahren. So lesen wir in den Feuilletons beispielsweise in beständiger Regelmäßigkeit über den Einfluss des Englischen auf das Deut‐ sche, die Rolle von Jugendlichen für den Sprachwandel oder den Nutzen bzw. Nicht-Nutzen von gendergerechter Sprache. In diesen öffentlichen Diskur‐ sen wird zwar einerseits deutlich, dass sprachideologische Debatten in der 5.1 Gesellschaftliche Reflexionen über Sprache und Sprachgebrauch 115 <?page no="116"?> Regel mehrstimmig sind und verschiedene Deutungen von sprachlicher Variation kursieren, dass aber andererseits sozial hegemoniale Positionen dominieren, also eine besonders ‚laute‘ Stimme im öffentlichen Diskurs haben und damit die gesellschaftliche Wahrnehmung von sprachlicher Variation besonders prägen (vgl. ebd.: 9). Aus soziolinguistischer Sicht sind Sprachideologien daher zum einen von großem Interesse, weil sie uns Aufschluss darüber geben, wie die soziale Bedeutung von Variation für Mitglieder einer Gesellschaft hergestellt wird - welche geteilten Wahrnehmungs- und Denkmuster also soziale Indexikalität konstruieren und so der sozialen Interpretation von Phänomenen, wie wir sie in den vorausgehenden Kapiteln dieses Buches kennengelernt haben, zugrunde liegen. Zum anderen eröffnen uns die Analysen von Sprachideo‐ logien aber auch einen Blick dafür, wie durch sprachliche Variation und durch die Bewertung von sprachlicher Variation soziale Differenz in Gesell‐ schaften hergestellt und fortwährend reproduziert wird. Gerade für eine kritische Soziolinguistik, die ihre soziale Verantwortung darin erkennt, diese Ungleichheiten aufzudecken und sprachliche Diskriminierung mit der Absicht benennt, zu einer gerechteren Gesellschaft beizutragen (vgl. Maitz & Elspaß 2011; B. Busch 2019: 118; Spitzmüller 2022: 6 f.), ist die Analyse von Sprachideologien daher zentral. Darüber hinaus ergibt sich das linguistische Interesse an Sprachideolo‐ gien aus der Rolle, die die gesellschaftliche Reflexion über Sprache für Sprachwandelprozesse spielt. Im Fokus steht also auch, wie Sprachideo‐ logien Sprachgebrauch motivieren oder demotivieren - etwa, indem als prestigeträchtig wahrgenommene Varianten von Sprecher: innen häufiger gewählt werden als stigmatisierte Varianten. Beispielsweise zeigt Vieregge (2018), dass einige Präpositionen, die ursprünglich den Dativ regieren (wie dank oder gegenüber) in formelleren Kontexten zunehmend auch mit Genitivrektion zu beobachten sind und damit dem vielbeschriebenen Sprachwandelprozess der Kasuswahlverschiebung von der Genitivzur Dativrektion entgegenlaufen (→ 3). Äußerungen wie Sie konnten dank des guten Wetters einen Ausflug machen sind mittlerweile also relativ üblich und für viele Sprecher: innen als standardnahe Formen unauffällig. Erklären lässt sich diese Tendenz mit der sprachideologischen Aufwer‐ tung des Genitivs einerseits und der Abwertung des Dativs andererseits. So zeigt sich in Vieregges Fragebogenstudie, dass Befragte variierenden Präpositionalkasus nicht nur mit Bezug auf die Formalität oder Informalität einer Kommunikationssituation reflektieren, sondern dass an die Genitiv‐ 116 5 Variation und Sprachideologie <?page no="117"?> variante außerdem Sprechereigenschaften wie Bildung und Professionalität gebunden werden (während die Dativvariante zwar als sympathischer, aber auch als ungebildeter wahrgenommen wird). Sprachkritische Stimmen im öffentlichen Metasprachdiskurs, die dem Genitiv häufig den baldigen Tod bescheinigt haben und insbesondere den Gebrauch der Präposition wegen mit Dativ als ‚falsch‘ und ‚ungebildet‘ im Bewusstsein vieler Sprecher: innen verankerten (→ 3), spielen also empirisch messbar in die Sprachwandeldy‐ namik der Präpositionalkasus hinein. Eine Sprachideologieforschung, die sich solcher Phänomene annimmt, will damit also nicht bloß auf einer scheinbar entkoppelten Metaebene Phänomene „on top“ zu traditionellen linguistischen Forschungsgegenständen beobachten. Stattdessen steht das dynamische Wechselspiel zwischen gesellschaftlich zirkulierenden Ideolo‐ gien, sprachlichen Handlungen und sprachlichen Strukturen als ganzheit‐ licher Gegenstand im Mittelpunkt der Überlegungen dieser soziokulturell orientierten Linguistik (vgl. Silverstein 1985). 5.2 Standardsprachideologie Die Beispiele für sprachideologische Phänomene, die wir bislang angeführt haben, deuten es bereits an: Die wirkmächtigsten Ideologien in der gesell‐ schaftlichen Reflexion über und Bewertung von Sprache im deutschspra‐ chigen Raum kreisen um die Vorstellung, dass es das eine ‚richtige‘ und ‚gute‘ Deutsch gäbe (→ 3.1). Jegliche Variation gerät in dieser Sichtweise zur Abweichung und die deutsche Standardsprache wird zum übermächtigen Fixpunkt jeglichen sprachlichen Handelns erhoben. Die Vorstellung, für eine Sprache wie das Deutsche könne man eine homogene, allgemeingültige Standardvarietät annehmen, die korrekter, funktionaler, wertvoller - und letztlich schlicht - besser als alle anderen Varietäten dieser Sprache sei, nennen wir Standardsprachideologie. Ideologie dieser Art kann in den meisten westlichen Ländern beobachtet werden und basiert auf sprachlichen Standardisierungsprozessen (vgl. Mil‐ roy & Milroy 1999; Milroy 2001). Für das Deutsche können wir einen solchen Prozess, bei denen einzelne Varianten gegenüber anderen Varianten 5.2 Standardsprachideologie 117 <?page no="118"?> als Standard lizensiert wurden, ab dem 15. Jahrhundert beobachten (vgl. Mattheier 1991). Das Standarddeutsche tritt dabei zuerst als überregional genutzte Varietät der geschriebenen Sprache auf, manifestiert sich schließ‐ lich am deutlichsten in der kodifizierten Orthographie (1876 findet die Erste Orthographische Konferenz mit dem Ziel einer einheitlichen deutschen Rechtschreibung statt) und findet seinen Weg ab dem frühen 20. Jahrhundert auch in die gesprochene Sprache - erst vermittelt über die Normierung der deutschen Bühnenaussprache von Theaterschauspieler: innen (vgl. Siebs 1969), später dann durch den Vorbildcharakter des Sprechens in Radio und Fernsehen (vgl. Dürscheid & Schneider 2019: 17-21). Die angestrebte Vereinheitlichung des Deutschen war und ist dabei jedoch im tatsächlichen Sprachgebrauch niemals total. Stattdessen beobachten wir insbesondere im Gesprochenen ein Nebeneinander von regional verschie‐ denen Gebrauchsstandards (→ 1). Variation zwischen den verschiedenen deutschen Gebrauchsstandards findet sich auf allen sprachlichen Ebenen. Beispiele umfassen lexikalische Phänomene wie Semmel vs. Brötchen (süd‐ deutscher vs. norddeutscher Gebrauchsstandard), Wortbildungen wie gril‐ lieren vs. grillen (Schweizer vs. bundesdeutscher Gebrauchsstandard), auch phonologische Phänomene (etwa das gerollte Zungenspitzen-R im südli‐ chen Gebrauchsstandard vs. das nicht gerollte Zäpfchen-R in nördlichen Gebrauchsstandards) sowie syntaktische Muster (etwa die Distanzstellung von Pronominaladverbien im norddeutschen Gebrauchsstandard: da kannst du dich nicht genug für bedanken). Selbst im Bereich der Orthographie finden wir Variation (→ 2). Angesichts dieser Variationsphänomene haben wir es also, wenn von ‚dem Standard‘ als vollständig vereinheitlichte Varietät die Rede ist, mit einer sprachideologischen Vorstellung zu tun, die der Sprachwirklichkeit in keiner Weise entspricht. Auch bzw. gerade mit dem Standard als ideolo‐ gisches Konstrukt geht aber seine große gesellschaftliche Wirkmächtigkeit einher: Durch Standardideologie werden nicht nur spezifische sprachliche Formen als ‚korrekt‘ lizensiert, sondern vor allem wird auch die vorausge‐ hende Idee etabliert, man könne Sprachgebrauch anhand der Dichotomie ‚richtig vs. falsch‘ kategorisieren. Diese Vorstellung kann uns durchaus verblüffen, denn wie wir in diesem Buch in verschiedener Hinsicht gesehen haben, ist die Variabilität von Sprachgebrauch ja eigentlich eine Grundeigenschaft natürlicher Sprachen und erweist sich als wichtige kommuni‐ kative Ressource. 118 5 Variation und Sprachideologie <?page no="119"?> Standardideologische Überzeugungen in Gesellschaften wirken dieser Variabilität jedoch entgegen. Beispielsweise wird dann auf Basis der Idee, dass es nur eine korrekte Variante geben könne, ein Nebeneinander der Varianten wegen + Genitiv und wegen + Dativ zurückgewiesen und nur die Genitiv-Variante als Standardform akzeptiert (obwohl wegen + Dativ zumindest in gesprochen Gebrauchsstandards für viele Sprecher: innen eine unauffällige Variante darstellt). Zudem geht die verengende Auswahl jeweils einer Variante als Standard mit der Konstruktion sozialer Auf- und Abwertung einher. Die Überlegenheit des Standards steht dann gegenüber einem ex negativo definierten Nonstandard-Sprachgebrauch, der soziale Stigmatisierung erfährt. Formen wie wegen + Dativ geraten so zum Index sozialer Unterlegenheit. Sprachideologische Bewertungen dieser Gestalt speisen sich dabei auch aus dem Umstand, welche Formen überhaupt als Standardformen gesetzt sind - nämlich jene, die weitestgehend der Sprache der oberen Mittel‐ schicht entsprechen (vgl. Lippi-Green 2012: 67). Die sprachideologische Festlegung einer Sprachform als ‚korrekt‘ ist also an eine bestimmte soziale Gruppe gebunden, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung Geltungskraft auf das sprachliche Handeln anderer Teile der Gesellschaft ausüben kann. In dieser Weise geht aus Standardisierungsprozessen auch immer gesellschaftliche Regulation hervor: Um sich erfolgreich in einer standardideologisch geprägten Gesellschaft zu bewegen, müssen sich Indi‐ viduen einen entsprechenden Sprachgebrauch aneignen. Die Verwendung sprachlicher Formen (zum Beispiel wegen + Genitiv) wirkt dann wie ein Schlüssel zu bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, die Sprecher: innen von anderen Formen verwehrt bleiben. Entsprechend sind jene sozialen Milieus bevorteilt, deren familiärer Sprachgebrauch bereits nah an der standardsprachlichen Zielnorm angesiedelt ist und deren sprachliche Sozia‐ lisation entsprechend wenig Ressourcenaufwand erfordert, um den Anfor‐ derungen der Standardsprachideologie zu entsprechen. Beispiele für diese Wirkungsmechanismen gibt es viele: Denken wir etwa an die hohe Relevanz einer Standardschriftlichkeit im Kontext von Bewerbungsschreiben, an den sprachlichen Habitus, der im Rahmen eines Universitätsstudiums verlangt wird, oder auch an die argumentative Autorität, die einem Standardsprach‐ gebrauch gegenüber anderen Varietäten im Zuge öffentlicher Debatten eingeräumt wird. Wesentliche gesellschaftliche Schaltstellen lassen sich nur mittels standardsprachlicher Formen bedienen. 5.2 Standardsprachideologie 119 <?page no="120"?> Aus Perspektive einer kritischen Soziolinguistik lässt sich in diesen Wir‐ kungsmechanismen ein sogenannter Linguizismus erkennen, verstanden als ideologisches Konstrukt, das der Diskriminierung sprachlich definierter Gruppen zugrunde liegt (vgl. Maitz & Elspaß 2011: 225). Wer beispielsweise aufgrund einer regionalen Aussprache nach dem Bewerbungsgespräch eine Absage erhält, der erfährt Linguizismus. Zugrunde liegen solchen standardsprachideologischen Diskriminierungen in deutschsprachigen Ge‐ sellschaften verschiedene Ideologeme (also Teil-Überzeugungen, aus denen sich die Standardideologie zusammensetzt). Maitz & Elspaß (2011) sowie Maitz & Foldenauer (2015) nennen die im Folgenden zusammengetragenen ideologischen Annahmen: • Homogenismus: Annahme, dass Einzelsprachen ein einheitliches Sys‐ tem ohne Variation aufweisen (z. B. ‚einheitliches Hochdeutsch‘), • Purismus: Annahme, dass eine Sprache von Einflüssen anderer Spra‐ chen geschützt werden müsse (z. B. das Deutsche vor Anglizismen), • Dekadentismus: Annahme, dass andere Varietäten einen negativen Einfluss auf die Standardsprache hätten (z. B., dass ethnolektales Spre‐ chen von Jugendlichen eine Gefahr für das Standarddeutsche sei), • Konservativismus: Annahme, dass ältere Sprachformen stets die bes‐ seren seien und Sprachwandel als ‚Sprachverfall‘ negativ zu bewerten sei (z. B., dass wegen + Genitiv besser als wegen + Dativ sei), • Sprachlicher Elitismus: Annahme, dass der Sprachgebrauch der obe‐ ren bzw. gebildeteren Schicht wertvoller und korrekter sei, • Hannoverismus: Annahme, dass das in Norddeutschland gesprochene Standarddeutsch besser und korrekter sei als das im Süden gesprochene Standarddeutsch. Bei allen diesen Annahmen spielen kontextuelle Faktoren von Sprachge‐ brauch keine Rolle. Stattdessen stellen sie Vorstellungen von ‚dem (kor‐ rekten) Deutschen‘ dar, bei denen weder stilistische Unterscheidungen zwischen informellen und formellen Kommunikationskontexten noch die Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache bedacht werden. Für die Sprachwissenschaft ergibt sich aus diesen gesellschaftlich viru‐ lenten Annahmen ein Auftrag: Einerseits können empirische Analysen von Sprachgebrauch die Systematik und die kommunikative Funktion von sprachlicher Variation aufzeigen und damit den homogenisierenden Vorstellungen über Sprache entgegenwirken. In den vorausgehenden Kapi‐ 120 5 Variation und Sprachideologie <?page no="121"?> teln haben wir verschiedene Beispiele für eine solche Forschung kennen‐ gelernt. Andererseits können gesellschaftliche Sprachideologien selbst als Forschungsobjekt in den Blick genommen werden. Die linguistische Ana‐ lyse deckt dann auf einer Metaebene auf, mit welchen Konzeptualisierungen Sprachgebrauch sozialer Wert beigemessen wird und wie Sprachideologie und sprachliches Handeln miteinander in Bezug stehen. 5.3 Methoden der Sprachideologieforschung Um dem Wechselspiel zwischen Sprachideologie, Sprachgebrauch und Sprachstruktur auf die Spur zu kommen, bedarf es integrierender Metho‐ den. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit Ansätzen beschäftigen, die Sprachideologien als Diskursphänomene untersuchen (→ 5.3.1). Daran anschließend nehmen wir einen Blickwinkel ein, der die Rolle von Sprach‐ ideologien in Interaktionen rekonstruiert (→ 5.3.2). 5.3.1 Sprachideologie und Diskurs In der linguistischen Forschung zu Sprachideologien sind diskursanalyti‐ sche Ansätze besonders präsent. Dies überrascht nicht, werden Ideologien doch als sozial geteilte Werthaltungen verstanden, die sich auf der Ebene gesellschaftlicher Debatten manifestieren. Die Analyse von Sprachideolo‐ gien ist dementsprechend damit beschäftigt, diesen Debatten nachzuspüren und sie anhand von verschiedenen, aber aufeinander bezogenen diskursiven Ereignissen offenzulegen und in ihrer Musterhaftigkeit zu erklären (also beispielsweise anhand von Zeitungsartikeln, Büchern, Fernsehbeiträgen, Spielfilmen, Werbeanzeigen, Gesetzestexten usw., die sich als Instanzen eines Diskurses erkennen lassen). Studien dieser Art nahmen zum Beispiel öffentliche Metadiskurse über Anglizismen (vgl. Spitzmüller 2005b; Pfalzgraf 2019), Rechtschreibreformen (vgl. Johnson 2005; Ewald 2020), gendergerechte Formulierungen (vgl. Kasper 2022), Ethnolekte (Androutsopoulos 2007; 2011) und das Schreiben in digitalen Medien (vgl. Thurlow 2006; Brommer 2007; Spitzmüller 2013) unter die Lupe. Dabei zeigte sich als wiederkehrendes Ergebnis, dass sich diese Debatten weniger um sprachliche Strukturen an sich drehen, sondern vielmehr die (Un-)Angemessenheit von spezifischen Formen verhandelt wird, um dann von dieser pragmatischen (In-)Adäquanz wiederum auf 5.3 Methoden der Sprachideologieforschung 121 <?page no="122"?> Eigenschaften der Sprechenden zu schließen. In diesem Sinne liegen hier also nicht nur metasprachliche Diskurse vor, sondern wir haben es (präziser gesagt) mit metapragmatischen Diskursen zu tun: sprachliche Handlun‐ gen, die sprachliche Handlungen betreffen. In metapragmatischen Diskursen konstruieren sprachideologische Ak‐ teur: innen typische Verwendungsweisen von sprachlichen Formen. Dies beinhaltet die Assoziation mit bestimmten kommunikativen Aktivitäten und Situationen (dialektales Sprechen wird dann zum Beispiel mit familiären Kontexten verbunden) sowie kommunikativen Haltungen (etwa gelten Anglizismen dann mitunter als ‚wichtigtuerisch‘, eine ethnolektale Sprech‐ weise als ‚aggressiv‘). Zudem geht mit dieser Verortung von Sprachgebrauch auch die Konstruktion ‚typischer Sprecher: innen‘ einher. So zeigt Spitz‐ müller (2013) beispielsweise, dass in deutschsprachigen Pressetexten zum Thema ‚Sprache im Internet‘ zwischen 1995 und 2013 vornehmlich der soziale Typus ‚Jugendliche‘ mit dem Sprachgebrauch in digitalen Medien verbunden wird (ebd.: 281). Es entstehen also Bündel von sozialen Vorstel‐ lungen, die an bestimmte sprachliche Varianten geknüpft werden. Diesen Prozess der Aufladung von sprachlichen Formen mit sozialer Bedeutung bezeichnen wir als soziale Registrierung (vgl. Agha 2007). Eine Form gilt dann als sozial registriert, wenn sie für die Mitglieder einer Gemeinschaft als zugehörig zu einem sozialen Typus erkennbar ist, wenn sie also im weiter oben geschilderten Sinne sozial interpretierbar ist. Das diskursanalytische Vorgehen der Sprachideologieforschung hat nun zum Ziel, die Dynamiken dieser Registrierungsprozesse offenzulegen und zu erklären, mit welchen kommunikativen Verfahren die Zugehörigkeit einer Form zu spezifischen sozialen Werten vorausgesetzt, erklärt, argumentiert und bewertet wird. Irvine & Gal (2000) beobachten diesbezüglich drei Prozesse, die in metapragmatischen Diskursen der Konstruktion von sprach‐ licher Differenz als Ausdruck sozialer Differenz dienen: Ikonisierung, Löschung und die Herstellung fraktaler Rekursivität. Als Ikonisierung bezeichnen Irvine & Gal den diskursiven Prozess, bei dem sprachliche Formen als Abbild der inhärenten Charakteristik einer sozialen Gruppe konzeptualisiert werden (vgl. ebd.: 37). Ein bestimmter 122 5 Variation und Sprachideologie <?page no="123"?> Sprachgebrauch wird also als unmittelbarer Ausdruck des Wesens einer sozialen Gruppe naturalisiert. Androutsopoulos (2007) zeigt beispielsweise am öffentlichen Metadiskurs über Ethnolekte auf, wie die kommentierten ethnolektalen Sprechweisen von Schüler: innen in multiethnischen Stadttei‐ len in den journalistischen Texten als Ausdruck einer „Problemjugend mit Migrationshintergrund“ (ebd.: 124) geschildert werden (→ 4). Der im Metadiskurs als unmoralisch bewertete Sprachgebrauch stellt sich in den untersuchten journalistischen Texten als Ausdruck der generellen kulturellen und sozialen Andersartigkeit der thematisierten Schüler: innen gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft dar. Dies geht auch mit der diskursiven Verengung auf bestimmte Sprachgebrauchsweisen einher, die anhand stereotyper Beispiele illustriert werden (etwa, wenn in einem Spiegel-Artikel Koronalisierungen als lautliche Merkmale von Ethnolekten ausgerechnet anhand des Ausdrucks dreckische Deutsche vorgeführt werden, vgl. ebd.: 141). Im Prozess der Ikonisierung nehmen so sprachliche Klischees ihren Anfang, die dann das Material für Stilisierungen liefern (→ 4). Der ‚typische Ethnolekt-Sprecher‘ im medialen Diskurs ist in dieser Weise ein aggressiver, männlicher Jugendlicher, dem Äußerungen wie Isch mach disch messa, Alta! in den Mund gelegt werden (vgl. Könning 2020: 340). Eine solche soziale Ikonisierung von Sprachverhalten geht dabei zwin‐ gend mit der diskursiven Löschung solcher Sprecher: innen und Sprachge‐ brauchsweisen einher, die sich nicht in das zugrunde gelegte sprachideolo‐ gische Raster einpassen lassen. Sprachstrukturen, die sich der etablierten sozialen Ordnung als inkonsistent widersetzen, erfahren also eine Aus‐ blendung, indem sie als Ausnahmen marginalisiert werden oder völlig aus der Diskussion verschwinden. Wiese (2017) stellt beispielsweise dar, dass ‚typische Ethnolekt-Sprecher: innen‘ im entsprechenden Metadiskurs anhand zweier Dichotomisierungen konstruiert werden: einerseits anhand der Unterscheidung ‚deutsch‘ vs. ‚nicht-deutsch‘, andererseits mit Bezug auf eine Verortung in einer ‚höheren‘ vs. einer ‚niedrigeren‘ sozialen Schicht (vgl. ebd.: 348 f.). Aus dieser doppelten Dichotomisierung ergibt sich die Kon‐ struktion einer wir-Gruppe (‚deutsche Angehörige einer höheren Schicht‘, deren Bildungsgrad sich im kompetenten Gebrauch des ‚Hochdeutschen‘ ausdrücke), aus deren Perspektive im Metadiskurs Ethnolekt-Sprecher: in‐ nen als die ‚Anderen‘ exkludiert werden (als ‚nicht-deutsche Angehörige einer niedrigen Schicht‘). In dieser Konstruktion von Ausgrenzung und Abwertung erfahren also nicht nur solche Ethnolekt-Sprecher: innen eine diskursive Löschung, deren familiärer Hintergrund keine rezente Migrati‐ 5.3 Methoden der Sprachideologieforschung 123 <?page no="124"?> onsgeschichte beinhaltet; auch Sprecher: innen, deren Lebensumstände und Biographien sich nicht in das Bild einer prekären ‚niedrigen Schicht‘ pressen lassen, sind im metapragmatischen Diskurs über Ethnolekte ausgeblendet (vgl. ebd.: 349). Dabei zeigt soziolinguistische Forschung, dass ethnolektales Sprechen eher an multiethnisch geprägte urbane Lebensräume als an indivi‐ duelle Migrationsgeschichten gebunden ist und Sprecher: innen in der Regel über ein breites sprachliches Repertoire verfügen (das auch das Standard‐ deutsche umfasst und ein kontextsensitiven Sprachgebrauch ermöglicht). Dementsprechend finden sich sehr wohl auch weibliche Universitätsabsol‐ ventinnen mit und ohne familiäre Migrationsgeschichte, deren Repertoire aufgrund ihrer Biographie ethnolektale Formen beinhaltet (vgl. Bunk & Pohle 2019; Truan & Oldani 2021). Wie wir gesehen haben, stellen Dichotomisierungen einen zentralen Ordnungsmechanismus sprachideologischer Debatten dar - sowohl auf Seite der sprachlichen Formen (Standard vs. Nonstandard) als auch auf sozialer Seite (Wir vs. die Anderen). Irvine & Gal (2000: 38) beschreiben weiterführend, dass häufig auf beiden Seiten dieser Dichotomien nachste‐ hende Differenzierungen konstruiert werden, die ebenfalls binär aufgebaut sind. Die wir-Gruppe oder auch die Gruppe der Anderen werden im Diskurs dann beispielsweise weiter untergliedert (etwa in die ‚guten Migrant: in‐ nen‘ und die ‚schlechten Migrant: innen‘) und auch für diese eingebettete Gegenüberstellung werden sprachliche Differenzen angenommen. Diese sprachideologischen Übertragungen auf nachgelagerte Diskursebenen be‐ zeichnen Irvine und Gal als fraktale Rekursivität. Eine entsprechende Dynamik finden wir beispielsweise auch im Metadiskurs zur digitalen Schriftlichkeit. Während hier auf einer ersten Ebene ‚Jugendliche‘ gegen‐ über ‚Erwachsenen‘ als typische Nutzer: innen von sprachlichen Formen des interaktionsorientierten Schreibens konstruiert werden (→ 2), wird die sprachideologische Opposition zwischen ‚korrektem Deutsch‘ und ‚defizi‐ tärer Internetsprache‘ auf einer rekursiven Ebene auch auf die Differenz zwischen ‚Mädchen‘ und ‚Jungen‘ oder zwischen ‚guten Schüler: innen‘ und ‚schlechten Schüler: innen‘ projiziert. Die Machtverhältnisse, die in der Aufwertung der einen sprachlichen Ressourcen und in der Abwertung der anderen sprachlichen Ressourcen eingeschrieben sind, können so immer wieder in Stellung gebracht werden, um in Gesellschaften hierarchische Ordnungen zu (re-)produzieren. Die sozialen Registrierungen, die sich anhand dieser drei Dimensionen in sprachideologischen Diskursen beobachten lassen, laufen dabei nicht nur 124 5 Variation und Sprachideologie <?page no="125"?> in Form expliziter metapragmatischer Zuschreibungen ab, sondern sind in vielen Fällen implizit in sprachliches Handeln sowie in die (medialen) Re‐ präsentationen sprachlichen Handelns eingeschrieben. Implizite Sprach‐ ideologien kommen so zum Beispiel in fiktionalen Medienangeboten wie Videospielen, Filmen oder Romanen zum Tragen, in denen sprachliche Variation zur Differenzierung und Charakterisierung von Charakteren ver‐ wendet wird. Beispielweise konnten Goorimoorthee et al. (2019) zeigen, wie englische Akzente zur Konstruktion sozialer Hierarchie in der fiktiven Welt des Fantasy-Videospiels „Dragon Age: Origins“ genutzt werden. Die ver‐ schiedenen Figuren des Spiels sprechen Englisch mit britischem, nordame‐ rikanischem sowie französischem und spanischem Akzent. Die Zuordnung von Akzent zu Figur folgt dabei nicht nur einer systematischen Verteilung hinsichtlich der verschiedenen Völker der Fantasy-Welt (Zwerge und Elfen als sozio-ökonomisch schlechter gestellte Völker sprechen tendenziell nord‐ amerikanisches Englisch, während Menschen als sozio-ökonomisch besser gestelltes Volk vornehmlich einen britischen Akzent aufweisen). Es zeigt sich zudem, dass nicht-native Akzente durchgängig genutzt werden, um soziale Devianz anzuzeigen. So wird im Spiel beispielweise Englisch mit spanischem Akzent exotisierten und wenig vertrauenswürdigen Figuren zugeordnet und damit im Kontrast zum ‚normalen‘ Sprechen mit britischem oder nordamerikanischem Akzent als fremd, zwielichtig und tendenziell negativ markiert. Die soziale Hierarchisierung von Aussprachevarianten des Englischen findet Eingang in eine fiktive Welt und wird in Gestalt des Videospiels als massenmediales Produkt mit großer gesellschaftlicher Reich‐ weite reproduziert. Auch wenn die im Spiel konstruierten ‚Normalfälle‘ der englischen Aussprache in der realen Welt eigentlich vergleichsweise wenig Sprecher: innen des Englischen abbilden (vgl. Crystal 2007), manifestiert und normalisiert sich die Hegemonie dieser Standardvarietäten so doch immer wieder in medialen Produkten. Ähnliches kann man auch für die mediale Repräsentation von Varietäten des Deutschen feststellen. Beispielsweise lässt sich an Comedy-Forma‐ ten im deutschen Fernsehen beobachten, wie dialektaler Sprachgebrauch inszeniert wird, um spezifische soziale Stereotype aufzurufen. Gleichzei‐ tig sorgen solche Beiträge selbst immer wieder aufs Neue für soziale Registrierungen entsprechender Varianten mit sozialen Stereotypen. Beson‐ ders deutlich zeigt sich dies hinsichtlich ostdeutscher Varietäten, deren mediale Darstellung oft nicht nur als Abweichung einer Standardlautung, sondern auch entlang der Binarität Westdeutschland vs. Ostdeutschland 5.3 Methoden der Sprachideologieforschung 125 <?page no="126"?> als sozial abweichend (aus westdeutscher Sicht) markiert wird. Dies kann entweder geschehen, indem ein ostdeutscher Sprachgebrauch selbst zur einzigen Pointe wird - man denke an die vogtländische Aussprache des Kompositums Maschen-Draht-Zaun, auf der Stefan Raab im Jahr 1999 einen kommerziell erfolgreichen Comedy-Song aufbaute (vgl. Hepp 2010). Oder aber ostdeutsche Lautung fügt sich als ein Mosaikstein in eine mediale Cha‐ rakterzeichnung ein, ohne dass Sprachgebrauch selbst explizit zum Thema gemacht würde. Wenn beispielsweise in einer politischen Satiresendung das stereotype Bild eines Neonazis nicht nur durch dessen Aussagen und visuelle Erscheinung, sondern auch durch eine sächsische Aussprache inszeniert wird (vgl. das Konzept der „medial-sekundären Varietät“ in → 4), handelt es sich zwar nicht im engeren Sinne um einen metasprachlichen Beitrag, sehr wohl aber um eine metapragmatische Registrierung. Solche Beiträge liefern damit wiederum die Grundlage einer sozialen Stigmatisierung aller Sächsisch-Sprecher: innen, deren Varietät medial im oben beschriebenen Sinne sprachideologisch ikonisiert wird. 5.3.2 Sprachideologie und Interaktion Sprachideologische Diskurse in Massenmedien repräsentieren und registrie‐ ren alltäglichen Sprachgebrauch also nicht nur, sondern wirken so auch in alltäglichen Interaktionen, indem sie den Beteiligten Erklärungsrahmen für sprachliche Variation liefern. In dieser Hinsicht lassen sich Sprachideologien auch aus einer interaktionalen Perspektive untersuchen. Von Interesse ist dann, welche Sprachideologien in Gesprächen für die Beteiligten relevant sind, um sozialen Sinn herzustellen. Wenn wir zum Beispiel an Stilisierungen von Ethnolekt in Face-to-Face-Interaktionen denken (→ 4), dann lässt sich die kommunikative Funktion solcher distanzierenden Inszenierungen einer ‚fremden‘ Stimme nur analytisch nachvollziehen, wenn wir wissen, welche sozialen Konzepte die Beteiligten mit entsprechenden Varianten verbinden. Dementsprechend entsteht ein komplexes Bezugsgefüge: einerseits auf einer Mikroebene zwischen den Beteiligten eines Gesprächs untereinander - andererseits zwischen den Beteiligten des Gesprächs und den sozialen Werten, mit denen eine Sprachform auf einer diskursiven Ebene registriert ist. Spitzmüller (2013: 273) stellt diese Zusammenhänge mit seinem Modell der metapragmatischen Positionierung dar, das im Folgenden erklärt wird (Abb. 4). 126 5 Variation und Sprachideologie <?page no="127"?> Die Grundidee des Modells besteht darin, die Kopplung von situierten Interaktionen an situationsübergreifende Ideologien aufzuschlüsseln. Die linke Seite des Modells greift hierfür das Stance-Modell von Du Bois (2007) auf. Interaktionale Haltungen, die Gesprächsbeteiligte zueinander und zu ihrem Gesprächsgegenstand einnehmen, werden dort mithilfe eines Drei‐ ecks nachvollzogen: Indem zwei Akteur: innen einen Gesprächsgegenstand explizit oder (häufiger) implizit bewerten, positionieren sie sich zu ihm (nämlich eher affirmativ oder eher distanzierend). Die so konstruierten Po‐ sitionen stehen dann auch zueinander in einem Verhältnis; die Akteur: innen sind also zueinander ausgerichtet, stehen sich (metaphorisch gesprochen) näher oder ferner. Abb. 4: Metapragmatische Positionierung (Spitzmüller 2022: 279) Spitzmüller (2013) weist nun daraufhin, dass auch Sprachgebrauch selbst als ein solches Evaluationsobjekt im Zentrum sozialer Positionierung stehen kann. Indem eine sprachliche Form bzw. ein spezifischer Sprachgebrauch entweder explizit metakommunikativ bewertet wird oder auch durch die Tatsache implizit evaluiert wird, dass ein bestimmter Sprachgebrauch praktiziert wird, können sich Akteur: innen zueinander ausrichten. Wenn beispielsweise ein: e Sprecher: in in einer Lästerinteraktion Anglizismen 5.3 Methoden der Sprachideologieforschung 127 <?page no="128"?> verwendet wie oh my god, das Verhalten von ihr war so cringe, dann lässt sich in der Reaktion der Gesprächspartner: innen, die beispielsweise einen ähnlichen sprachlichen Stil produzieren oder aber vielleicht distanzierend die Nase rümpfen, die Haltung nachvollziehen, die die Gesprächsbeteiligten zueinander einnehmen. Sprachideologie ist für diesen Prozess nun deswegen wichtig, weil Be‐ wertungen auf ideologischer Basis getroffen werden. Wenn beispielsweise durch die Imitation einer Rede mit gehäuften Anglizismen eine Person als lächerlich und prätentiös inszeniert wird, dann kann dies gelingen, weil die sprachlichen Formen (wie weiter oben beschrieben) sozial registriert sind. Durch den Gebrauch von Anglizismen wird es möglich, nicht einfach nur eine individuelle Person zu karikieren, sondern einen Personentypus aufzurufen, der im Metasprachdiskurs über Anglizismen gesellschaftlich etabliert wurde und damit für große Teile der Bevölkerung erkennbar ist. Durch die soziale Indexikalität der Formen kann ein solcher Typus dann in einer interaktionalen Situation aufgerufen und relevant gemacht werden. Spitzmüller (2013) stellt dies in seinem Modell (Abb. 4) durch ein zweites Dreieck auf der rechten Seite dar. Sprachgebrauch bzw. eine Sprachform werden hier in ihren Bezügen zu Personentypen (den Vorstellungen von typischen Sprecher: innen) dargestellt. Zudem verweisen sprachliche Formen immer auch auf Verhaltenstypen, die ihrerseits mit Personentypen verknüpft sind. So können wir beispielsweise versuchen, einen Personentypus zu para‐ phrasieren, den eine stilisierende Parodie von oh my god, das Verhalten von ihr war so cringe aufruft. Dem zugrunde liegt dann einerseits die ana‐ lytische Beschäftigung mit den entsprechenden sozialen Registrierungen (wer sind die typischen Sprecher: innen? ) sowie die Rekonstruktion des interaktionalen Kontexts (welche weiteren indexikalischen Zeichen wurden in der Situation verwendet? ). Möglicherweise zeichnet sich so das stereotype Bild eines ‚Millennials aus der Großstadt‘ ab, vielleicht auch das einer ‚Social-Media-Influencerin‘ oder schlicht das eines ‚Jugendlichen‘, das durch Anglizismen-Gebrauch angezeigt wird. In jedem Fall sind diesen Personen‐ typen jeweils auch Verhaltenstypen zugeordnet, die durch die sprachlichen Formen ebenso aufgerufen werden. ‚Millennials aus der Großstadt‘ werden dann vielleicht als ‚prätentiös‘ parodiert, ‚Social-Media-Influencerin‘ als ‚oberflächlich‘, ‚Jugendliche‘ vielleicht als ‚rebellisch‘ oder auch als beson‐ ders ‚cool‘. 128 5 Variation und Sprachideologie <?page no="129"?> Damit zeigt sich nun außerdem, dass sich Interaktionsbeteiligte nicht nur untereinander ausrichten (im linken Dreieck des Modells), sondern dass diese Positionierungsaktivität immer auch gegenüber den sprachideo‐ logischen Registrierungen von sprachlichen Formen (im rechten Dreieck) vollzogen wird. Personen- und Verhaltenstypen werden von den Beteilig‐ ten durch Sprachgebrauch aufgerufen sowie bewertet und dienen damit der eigenen Positionierung. Wer sich beispielsweise selbst distanzierend gegenüber ‚neumodischem‘, ‚oberflächlichem‘ und ‚prätentiösem‘ Anglizis‐ men-Gebrauch bzw. den mit ihnen registrierten Personen- und Verhaltens‐ typen positioniert, nimmt damit für sich selbst eine bestimmte entgegenlau‐ fende soziale Verortung in Anspruch (etwa ‚konservativ‘ oder besonders ‚tiefsinnig‘ zu sein) (vgl. Spitzmüller 2007). Das Verhältnis zwischen Interaktionen und gesellschaftlich geteilten Sprachideologien ist also durch komplexe Bezüge gekennzeichnet. Zudem müssen wir bedenken, dass sich Sprachideologien aus der Verkettung von einzelnen Kommunikationssituationen ergeben. Der Weg führt also nicht bloß von den Sprachideologien, auf deren Grundlage Sinn hergestellt wird, zu den Interaktionen. Sprachliche Formen werden durch ihren stetigen Gebrauch bzw. durch ihre Bewertungen in Interaktionen überhaupt erst mit ideologischen Konzeptualisierungen verbunden. Beispielsweise ist jede In‐ teraktion, in der ein ‚prätentiöser‘ Personenbzw. Verhaltenstypus mithilfe von Anglizismus-Stilisierungen entworfen wird, Glied in einer Verkettung aus sozialen Zuschreibungen, die wir weiter oben als soziale Registrierung kennengelernt haben. 5.4 Sprachideologien und Schule Für die gesellschaftliche Verbreitung von Sprachideologien spielt die Schule eine entscheidende Rolle. Als zentraler Ort sprachlicher Sozialisation prägt sie wie keine andere Institution, in welchen Kategorien in der Bevölkerung über Sprache und Sprachgebrauch nachgedacht wird. Insbesondere der schulische Schriftspracherwerb stellt eine fundamentale metasprachliche Erfahrung im Leben von Individuen dar, die die Grundlage standardideolo‐ gischer Wahrnehmungsmuster liefert: Sprache wird als etwas erlebt, das ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sein kann - wobei der Gebrauch falscher Varianten unmittelbar mit sozialer Sanktionierung einhergeht (in Form schlechter No‐ 5.4 Sprachideologien und Schule 129 <?page no="130"?> ten und den jeweiligen Konsequenzen, die sich aus diesen Noten weiterhin ergeben). Befragungen konnten zeigen, dass die Rechtschreibung von Schüler: in‐ nen vor diesem Hintergrund nicht etwa als kommunikativ funktional reflek‐ tiert wird (etwa als Mittel, um eine orts- und zeitübergreifende Schriftkom‐ munikation zu sichern, → Kap. 2), sondern aus einer defizit-orientierten Perspektive einzig als Hürde auf dem Weg zu guten Noten wahrgenommen wird (vgl. F. Busch 2021: 512). Anstelle einer Vermittlung der funktionalen Werte der Orthographie etabliert sich so vor allem die standardideologische Binarität von ‚richtigem‘ und ‚falschem‘ Sprachgebrauch im alltäglichen Spracherleben von Schüler: innen. Dabei wäre es wichtig, sprachliche Va‐ riation - sowohl im Geschriebenen als auch im Gesprochenen - abseits standardideologischer Bewertungsmuster im Unterricht zu thematisieren, um Schüler: innen einerseits ein fundiertes Wissen über Sprachgebrauch im Kontext zu vermitteln und damit andererseits auch zur Reflexion über kom‐ munikativ angemessenes Sprechen und Schreiben zu befähigen. Eine solche Forderung steht dabei im Einklang mit aktuellen Lehrplänen, die dezidiert die Thematisierung sprachlicher Variation als funktional im Unterricht nen‐ nen. So heißt es beispielsweise im Rahmenplan Deutsch des Bildungsplans für das achtstufige Gymnasium (Sekundarstufe I) in Hamburg, dass [n]eben der hochdeutschen Allgemeinsprache […] die vielfältigen Ausdrucks‐ möglichkeiten unterschiedlicher Soziolekte und gegebenenfalls Dialekte sowie des Niederdeutschen z. B. im Rollenspiel erprobt und reflektiert [werden]; dabei sollen Freiräume für individuellen Sprachgebrauch eröffnet bzw. erhalten bleiben und genutzt werden. (Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung 2011: 11) Voraussetzung hierfür ist, dass Lehrkräfte mit linguistischen Kenntnissen über die Systematik und Funktionalität von sprachlicher Variation ausge‐ stattet sind, um einem standardideologischen Unterricht, der einen geschrie‐ benen Standard als ‚korrektes Deutsch‘ verabsolutiert, entgegenzuwirken (vgl. Dürscheid & Schneider 2019: 28). So lässt sich in der schulischen Praxis teils beobachten, dass Lehrer: innen selbst bei solchen Varianten, die gleichermaßen kodifizierte Standardformen sind (etwa die lange und die kurze Genitivendung wie bei des Buches vs. des Buchs), eine Form präferieren und diese dann als ‚korrekte‘ Variante vermitteln (vgl. Davies & Langer 2014: 302). Lehrkräfte treten in dieser Weise nicht nur als Normautoritäten auf, die eine standardsprachliche Norm im Sprachgebrauch ihrer Schüler: in‐ 130 5 Variation und Sprachideologie <?page no="131"?> nen durchsetzen, sondern schlüpfen immer wieder auch in die Rolle von Normgeber: innen, indem sie selbst festlegen, welche Formen ‚richtig‘ und welche ‚falsch‘ seien (vgl. ebd.). Dieses standardideologische Bemühen um Variationslosigkeit ist mit dem ebenfalls in Lehrplänen formulierten Auftrag zu erklären, Schüler: innen Kompetenzen des ‚Standarddeutschen‘ bzw. des ‚Hochdeutschen‘ oder der ‚hochdeutschen Allgemeinsprache‘ zu vermitteln - ohne dass definiert würde, welche sprachlichen Formen und Konstruktionen damit eigentlich genau gemeint sind (vgl. ebd.: 309; → 1.2). 5.4.1 Standardsprachideologie und Schulbücher Zudem lässt sich auch in Schulbüchern eine standardideologische Konzeptu‐ alisierung von sprachlicher Variation beobachten. Ein direkter Rückschluss von den in Schulbüchern vermittelten Sprachideologien auf den Unterrichts‐ alltag ist dabei gewiss nicht zulässig; dass Schulbücher allerdings von den meisten Lehrkräften zumindest fragmentarisch in ihren Unterricht integriert werden, ist bekannt (vgl. Gehrig 2014: 230). Entsprechend kann eine diskursanalytische Untersuchung der Repräsentation von sprachlicher Variation ein probater Zugang zu schulischen Sprachideologien sein. Eine entsprechende Studie legen Maitz & Foldenauer (2015) zu bayrischen Schulbüchern vor, die insofern eine Sonderstellung gegenüber Schulbüchern aus anderen Bundesländern einnehmen, als der Dialekt in Bayern weit verbreitet ist und die Erziehung zur Standardsprache als Leitvarietät dort einen besonderen Stellenwert besitzt. Auf Basis eines umfangreichen Un‐ tersuchungskorpus von Lehrmaterialien von Mittelschulen, Realschulen und Gymnasien arbeiten sie heraus, wie durch Stilisierungen von Nonstan‐ dardvarietäten (insbesondere Dialekten, Jugendsprache und ethnolektalem Deutsch) sowie tendenziöse Aufgabenstellungen standardsprachideologi‐ sche Überzeugungen wie sprachlicher Homogenismus, Hannoverismus und Dekandentismus konstruiert werden. Beispielsweise vollzieht die Studie nach, wie in Deutsch-Schulbüchern Dialektgebrauch als Kommunika‐ tionsbarriere inszeniert wird, indem bestimmte lexikalische Formen (die eigentlich regionalen Gebrauchsstandards entsprechen) als unverständlich dargestellt werden. In einem der untersuchten Schulbücher wird in dieser Weise etwa in einem Comic gezeigt, wie ein Mädchen in Frankfurt mit der als „Schwäbisch“ bezeichneten Äußerung „I hätt gern a Semml, bitte“ (ebd.: 224) ein Brötchen bestellen möchte und daraufhin nur in das verständnislose Gesicht der Backwaren-Verkäuferin blickt. Dass regionale Standardformen 5.4 Sprachideologien und Schule 131 <?page no="132"?> wie Semmel überregional unverständlich seien - noch dazu unter Einbezug der Kommunikationssituation und gestischer Ressourcen - erscheint dabei doch einigermaßen unrealistisch, wie Maitz & Foldenauer (2015) ausführen: Die geschilderten Kommunikationssituationen wären […] gewiss auch mithilfe einer regional markierten Varietät zu meistern […]. In der Mündlichkeit können nämlich eventuelle Kommunikationsbarrieren spontan und problemlos durch gegenseitige sprachliche Anpassung […], Umschreibung und/ oder durch nonver‐ bale Mittel leicht überwunden werden. Hätte übrigens der Lehrbuchautor und/ oder der Lehrplan keine standardistische Grundeinstellung gehabt, hätte man aus den inszenierten Kommunikationsschwierigkeiten umgekehrt die Schluss‐ folgerung herleiten können, dass im Rahmen des Deutschunterrichts bei den Schülern eine zumindest passive Kompetenz in unterschiedlichen regionalen Varietäten des Deutschen aufgebaut werden soll, damit eventuellen Kommunika‐ tionsschwierigkeiten auch auf diesem Wege vorgebeugt werden kann […]. (ebd.: 224 f.; Herv. i. Orig.) Statt für passive Kompetenz in regionalen Varietäten, wie sie in der Deutsch- und insbesondere der Dialektdidaktik (vgl. Klotz & Sieber 1993) eigentlich schon seit den 1980er-Jahren gefordert wird, wird im von Maitz & Folden‐ auer analysierten Schulbuch stattdessen für den zwingenden Gebrauch des ‚Standards‘ argumentiert: Der zum Comic gehörende Aufgabentext weist die Verantwortung für die gescheiterte Kommunikation dem sprechenden Mädchen zu und fragt die Schüler: innen, wie man sich in einer solchen Situation stattdessen hätte ausdrücken müssen (vgl. ebd.: 224). Zudem stellen Maitz & Foldenauer fest, dass die repräsentierte Äußerung statt eines Dialekts „vielmehr den gesprochenen Gebrauchsstandard im schwäbischen Gebiet abbildet“ (ebd.: 225). Dass die Äußerung dennoch als überregional unverständlicher Dialekt inszeniert und an die Seite von Bairisch und Fränkisch gestellt wird, liegt die sprachideologische Auffassung zugrunde, dass die deutsche Standardsprache überregional einheitlich sei (Homogenis‐ mus) und dabei solchen sprachlichen Formen entsprechen würde, die in Norddeutschland verwendet werden (Hannoverismus) (vgl. ebd.). Auf Grundlage der Untersuchung ihres Schulbuch-Korpus kommen Maitz & Foldenauer (2015) zu dem Schluss, dass in bayrischen Deutsch-Schulbü‐ chern standardsprachideologische Annahmen sowohl die Repräsentation von Sprachwirklichkeit als auch die Bewertung von Sprachrichtigkeit „kon‐ sequent und unreflektiert“ (ebd.: 232) durchziehen und dabei mit einer Stigmatisierung von Sprecher: innen regionaler und jugendsprachlicher 132 5 Variation und Sprachideologie <?page no="133"?> Varietäten einhergehen. Gleichwohl die Schule vor der Aufgabe stehe, Schü‐ ler: innen auf ein Leben in einer durch und durch standardsprachideologisch geprägten Gesellschaft vorzubereiten, dürfe sprachliche Diskriminierung mittels solcher Perspektivierungen nicht reproduziert und Schüler: innen aufgrund ihrer Erstsprachen (nämlich zum Beispiel aufgrund ihres süd- oder ostdeutschen Regiolekts) stigmatisiert werden. Statt Schüler: innen also sprachliche Selbstzweifel zu vermitteln, brauche es vielmehr die Kompetenz, standardistische Sprachideologien kritisch zu hinterfragen (vgl. ebd.: 233). 5.4.2 Monolingualismus und mehrsprachige Klassenzimmer Diese Überlegungen treffen auch dann zu, wenn sich sprachliche Heteroge‐ nität in der Schule nicht nur aus verschiedenen Varietäten des Deutschen, sondern außerdem aus verschiedenen anderen Einzelsprachen zusammen‐ setzt, die Schüler: innen in ihrer Primärsozialisation erworben haben (vgl. Lengyel 2016: 501). Im Zuge von Migrationsprozessen sind ‚mehrsprachige Klassenzimmer‘ (vgl. Krifka 2014) in diesem Sinne eher Regel als Ausnahme. Was diese gesellschaftliche Mehrsprachigkeit für die Schule bedeutet, war und ist dabei seit Langem Gegenstand öffentlicher, didaktischer und sprach‐ wissenschaftlicher Debatten, in denen sich verschiedene Sprachideologien kristallisieren. Allen voran steht dabei die Ideologie des Monolingualis‐ mus - die Annahme, gesellschaftliche Einsprachigkeit stelle den Normalfall dar (→ 5.1). Während Deutschland de facto schon lange ein mehrsprachiges Land ist bzw. es schon immer war, können wir eine solche Einsprachigkeits‐ ideologie entsprechend sowohl im öffentlichen Sprachgebrauch deutscher Institutionen (juristisch in Form der alleinigen Amtssprache verankert) als auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung erkennen (vgl. Adler & Beyer 2018). Der Sprachwirklichkeit zum Trotz wird die Komplexität der mehrsprachigen Kommunikationsalltage einer Migrationsgesellschaft, in der Individuen über diverse sprachliche Repertoires verfügen und je nach Kommunikationskontext unterschiedliche Sprachen verwenden, zur Vorstellung einer monolingualen Nation reduziert. In der Schule drückt sich diese sprachideologische Konstruktion „in der Selbstverständlichkeit [aus], mit der das Deutsche als Gegenstand und Medium des Lernens ebenso wie der schulischen Zielsetzungen und als Indikator für die Evaluation von Leistungen gilt“ (Gogolin 2008 [1994]: 117). Gewissermaßen sind alle Prozesse des schulischen Bildungssystems auf den Gebrauch des Deutschen als einzige Sprache ausgerichtet, während 5.4 Sprachideologien und Schule 133 <?page no="134"?> andere Sprachen von Schüler: innen entweder ausgeblendet bleiben oder gar als Probleme bzw. abweichende Störfälle der monolingualen Norm wahrgenommen werden. Gogolin (2008 [1994]) beschreibt diese Situation als den „monolinguale[n] Habitus der multilingualen Schule“ und führt ihn auf die zentrale Rolle der Schule bei der Herausbildung der Natio‐ nalsprachenideologie zurück. In den letzten Jahren kann jedoch zunehmend sowohl in den sprachdidaktischen Debatten wie in ersten Curricula eine explizite Thematisierung anderer Herkunftssprachen der Schüler: innen im Bereich Sprachreflexion festgestellt werden. Denn die Vorstellung, mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit ginge per se eine Bildungshürde einher, ist sprachwissenschaftlich nicht zu halten, wie etwa auch Tracy (2014: 30) betont: „Das Gehirn ist jedenfalls kein Behälter, in dem der einer Sprache zur Verfügung stehende Platz beschränkt wäre. Lernzuwächse in der einen Sprache bedeuten keinen Verlust für die andere.“ Die Vermittlung bildungs‐ sprachlicher Kompetenzen im Deutschen, die fraglos eine Kernaufgabe der Schule ist, schließt also nicht den Einbezug anderer Sprachen in den Unterricht als Mittel des Erklärens und Verstehens aus. Im Gegenteil zeigen Ansätze einer heterogenitätssensiblen Didaktik auf, inwiefern ein mehrsprachiges Klassenzimmer Ressource für den Unterricht sein kann (für Überblicksdarstellungen über entsprechende Unterrichtsmo‐ delle vgl. Schader 2000; Niedrig 2011). Ein erprobtes Modell stellt dabei beispielsweise das sogenannte Scaffolding (‚Gerüstbau‘) dar. Beim Scaffolding nähern sich Schüler: innen fachlichen Inhalten pha‐ senweise und unter Hilfestellung an und eignen sich so auch die Verwendung der Bildungssprache schrittweise an (vgl. Lengyel 2016: 512 f.). Wesentlicher Teil dieses Prozesses ist es, den Lerngegenstand zunächst in der Unterrichtssituation mit allen zur Verfügung stehenden kommunikati‐ ven Mitteln zu erschließen und erst in anschließenden Phasen Wissen auf einer abstrakteren Ebene bildungssprachlich zu verbalisieren. Das Konzept, möglichst das gesamte sprachliche Repertoire von Schü‐ ler: innen für das Lernen nutzbar zu machen, liegt dabei auch dem 134 5 Variation und Sprachideologie <?page no="135"?> momentan viel (und auch kritisch) diskutierten Modell des Translan‐ guaging zugrunde (vgl. García 2009; Jaspers 2018). Statt Mehrsprachigkeit als ein Nebeneinander von Einzelsprachen zu fas‐ sen, geht der Translanguaging-Ansatz von der Gesamtsprachigkeit von Sprecher: innen aus, die einen kontext-sensitiven und kommunikativ strate‐ gischen Sprachgebrauch ermöglicht. Mehrsprachiges Handeln wird dement‐ sprechend nicht als Wechsel zwischen separierten Einzelsprachen beschrie‐ ben, sondern gewissermaßen ‚als ein Schöpfen aus dem kommunikativen Vollen‘. Für die Unterrichtspraxis heißt dies, dass einerseits verschiedene sprachliche Handlungen mit verschiedenen sprachlichen Ressourcen voll‐ zogen (oder in Nebensequenzen zugelassen) werden können, dass aber auch innerhalb einer sprachlichen Handlung verschiedensprachliche Ressourcen kombiniert werden können: Je nach kommunikativer Reichweite bzw. Adressat/ innenkreis des sprachlichen Handelns, z. B. im Schreiben, verfassen die Schüler/ innen ihre Texte standard‐ sprachlich oder sprachenübergreifend; für Prozesse der Planung und Revision nutzen sie unabhängig davon sämtliche sprachlichen Ressourcen […]. (Gantefort 2020: 203) So kann dann beispielsweise punktuell von der einen in die andere Sprache gewechselt werden, um ein bestimmtes Wort oder eine Aufgabenstellung zu erklären. Ansätze wie diese haben zum Ziel, den monolingualen Habitus der Schule zu durchbrechen und damit auch die sprachideologische Perspekti‐ vierung von ‚Mehrsprachigkeit als Problem‘ durch eine Sichtweise von ‚Mehrsprachigkeit als Ressource‘ abzulösen. Der Sprachgebrauch, den Schüler: innen aus ihren Familien kennen, und damit auch die Identitäten, die mit diesen lebensweltlichen Kommunikationspraktiken assoziiert sind, werden so nicht mehr per se stigmatisiert, sondern als wertvolle Kommuni‐ kationsmittel angenommen und wertgeschätzt. Schüler: innen können so in ihrem Selbstverständnis als kompetente Sprecher: innen mehrerer Sprachen bestärkt werden, anstatt ihnen auf Basis der Monolingualismus-Ideologie Scham für die eigene, scheinbar ‚defizitäre‘ Sprachlichkeit zu vermitteln (vgl. Duarte & Gogolin 2016: 16). Zudem gehen Ansätze des Translanguaging über bilinguale Unterrichts‐ formen hinaus, die im „Kontext von Minderheiten- und Regionalsprachen bzw. im Kontext internationaler Elitenmobilität“ (B. Busch 2021: 188) entwi‐ 5.4 Sprachideologien und Schule 135 <?page no="136"?> ckelt wurden. Diesen bilingualen Modellen liegt „ein Verständnis von einem doppelten Monolingualismus zugrunde“ (ebd.), das keine sprachlichen Mi‐ schungen berücksichtigt und statt mit nur einer schlicht mit zwei strikt von‐ einander abgegrenzten standardsprachlichen Normen operiert. In solchen doppelt-monolingualen Ansätzen lässt sich zudem häufig eine sprachide‐ ologische Hierarchisierung von Einzelsprachen beobachten, indem Schüler: innen entweder möglichst schnell von einer Erstsprache zum Deut‐ schen (und hier spezifischer zur deutschen Bildungssprache) geführt werden sollen oder indem neben dem deutschsprachigen Unterricht zum Beispiel auch Unterricht auf Englisch oder einer anderen als ‚wertvoll‘ betrachteten Sprache in den Stundenplan integriert wird. Solange sich Mehrsprachigkeit in dieser Weise auf eine Addition einzelner prestigeträchtiger Sprachen beschränkt, wird in ihr aus dieser Perspektive eine besondere Qualifikation des Individuums erkannt. Demgegenüber gilt eine Mehrsprachigkeit, die (in der Regel außer-europäische) Sprachen mit weniger gesellschaftlichem Prestige sowie Sprachmischungen beinhaltet, in der öffentlichen Wahrneh‐ mung immer wieder als „Integrationshindernis und soziales Problem“ (Piller 2020: 339; vgl. auch Dirim 2010) - auch wenn sich diese Annahmen weder sprachsoziologisch nachweisen noch linguistisch herleiten lassen. Es han‐ delt sich eben nicht um ein sprachinternes Phänomen, sondern um ein Phänomen metasprachlicher Zuschreibungen: nämlich Sprachideologie. Wir sehen also, dass der Umgang mit mehrsprachigen Klassenzimmern hochgradig sprachideologisch geprägt ist. Öffentliche Diskurse, wie wir sie in Kapitel 5.3.1 kennengelernt haben, konstruieren nicht nur eine bestimmte Wertigkeit von verschiedenen Sprachen, sondern bestimmen damit auch unseren Blick, inwiefern wir Mehrsprachigkeit als Problem oder als Chance wahrnehmen. Dies wiederum hat direkte Auswirkungen auf den Unter‐ richtsalltag in mehrsprachigen Klassenzimmern. Im Unterrichtsgeschehen manifestieren sich Sprachideologien dann in den Interaktionen zwischen Lehrer: innen und Schüler: innen sowie zwischen den Schüler: innen in ei‐ ner Dynamik, wie wir sie in Kapitel 5.3.2 beschrieben haben: Bestimmte sprachliche Ressourcen sind mit sozialen Werten registriert und dienen der metapragmatischen Positionierung. Welche Positionierung Schüler: innen durch den Gebrauch ihrer Sprachen erfahren bzw. welche Positionierung sie selbst herstellen können, ist dabei eine Frage der Sprachideologien, die den schulischen Alltag durchziehen. Entsprechend wichtig ist es für Lehrkräfte und Schüler: innen, diese Ideologien zu reflektieren und zu hinterfragen, um ein Lernen ohne sprachliche Diskriminierung zu ermöglichen. 136 5 Variation und Sprachideologie <?page no="137"?> 5.5 Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir das Konzept der Sprachideologien kennen‐ gelernt und nachvollzogen, mithilfe welcher Theorien und Methoden diese untersucht werden können. Dabei wurde deutlich, dass Sprachideologien als geteilte Annahmen über Sprache und Sprachgebrauch grundlegend für die Erzeugung sozialer Bedeutung durch sprachliche Variation sind. Gleichzei‐ tig haben wir aber auch gesehen, wie unterschiedlich sprachliche Ideologien in Erscheinung treten können. Während sie sich einerseits in expliziten Metasprachdiskursen besonders eindrücklich beobachten lassen, konnten wir andererseits nachvollziehen, dass Sprachideologien wohl noch häufiger implizit ausgedrückt werden. So sind jegliche kommunikative Momente, in denen sprachliche Variation mit sozialer Bedeutung verknüpft wird, Aus‐ druck sprachideologischer Annahmen, deren Rekonstruktion Aufgabe der Sprachideologieforschung ist. Unser Forschungsinteresse ergab sich dabei zum einen aus dem Umstand, dass sprachlicher Wandel sich vielfach nur un‐ ter Einbezug der Sprachideologien von Sprecher: innen verstehen lässt (wie sich etwa in dem unerwarteten Anstieg von Genitiv-Verwendungen zeigte). Zum anderen thematisierten wir, dass Sprachideologien als Deutungsmuster von sozialer Wirklichkeit immer auch Ausdruck der Machtverhältnisse einer Gesellschaft sind und damit eine kritische soziolinguistische Erforschung erforderlich machen. Diese Perspektive haben wir vor allem hinsichtlich der Standardsprachi‐ deologie eingenommen, die sich in westlichen Gesellschaften als dominante Konzeptualisierung von Sprache und Sprachgebrauch finden lässt. Die Vor‐ stellung, es bei einer Sprache normalerweise mit einem homogenen System zu tun zu haben, zeigte sich uns als eine Verzerrung von Sprachwirklichkeit mit enormen sozialen Konsequenzen: Aus standardsprachideologischer Per‐ spektive wird Sprachgebrauch so stets in ‚richtig‘ und ‚falsch‘ eingeteilt, um daraus weiterhin soziale Zuschreibungen für bestimmte Personengruppen ableiten zu können (etwa Wir vs. die Anderen, die Gebildeten vs. die Ungebildeten etc.). Die sozialen Registrierungen von sprachlichen Formen in gesellschaft‐ lichen Diskursen zeigten sich uns zudem auch für die Analyse von Ge‐ sprächen als relevant. Auf Grundlage des Modells der metapragmatischen Positionierung von Spitzmüller (2022) konnten wir nachvollziehen, wie sprachliche Variation seine sozial positionierende Kraft stets aus dem Ver‐ weis auf sprachideologische Annahmen zieht. 5.5 Zusammenfassung 137 <?page no="138"?> Abschließend diskutierten wir außerdem, in welcher Weise die Schule ein Forschungsfeld der Sprachideologieforschung ist bzw. wie die Schule von Erkenntnissen der Sprachideologieforschung profitieren kann. Als zentraler Ort sprachlicher Sozialisation erkannten wir die Schule dabei als einen wesentlichen gesellschaftlichen Multiplikator sprachlicher Ideologien, ins‐ besondere der Standardsprachideologie sowie der Ideologie des Monolin‐ gualismus. So zeigte sich anhand der kritischen Beschäftigung mit der standardsprachideologischen Repräsentation von Variation in Schulbüchern einerseits (anhand von Maitz & Foldenauer 2015) sowie dem problemati‐ schen monolingualen Habitus in mehrsprachigen Klassenzimmern anderer‐ seits (vgl. Gogolin 2008 [1994]), wie die Schule sprachliche Hegemonien, teils auf Kosten ihrer Schüler: innen, aufrechterhält und reproduziert. Die Sprachideologieforschung kann hier Wege aufzeigen, sich dieser potenziell sprachdiskriminierenden Strukturen gewahr zu werden und schulische Sprachideologien dann bewusst in eine inklusive, heterogenitätssensible Bahn zu lenken. Entsprechende Unterrichtsmodelle und pädagogisch-didak‐ tische Ansätze (wie etwa die Praxis des Translanguaging) zeigen, wie dies in Abhängigkeit von Ressourcen im Idealfall gelingen könnte, und exemp‐ lifizieren damit auch das Grundanliegen dieses Buches: die ertragreiche Bezugnahme soziolinguistischer Forschung auf die schulische Praxis. 5.6 Aufgaben 1. Überlegen Sie, was unter der Bezeichnung ‚gutes Deutsch‘ verstanden wird. Bedenken Sie dabei auch, wer definieren kann, was als ‚gutes Deutsch‘ gilt, und für wen das Konzept relevant ist. 2. Führen Sie eine Online-Recherche zu der Frage durch, ob man die Präposition wegen mit Dativ nutzen sollte. Welche sprachideologischen Positionen finden Sie in den Online-Beiträgen? 3. Sehen Sie sich einen aktuellen deutschsprachigen Spielfilm an und notieren sich, wie sich die Sprechweisen der Figuren voneinander unterscheiden. Welche Lexik verwenden die Figuren? Welche Ausspra‐ chevarianten können Sie identifizieren? Inwiefern werden diese Mittel genutzt, um bestimmte Eigenschaften, Charakterzüge oder soziale Zu‐ gehörigkeiten der Figuren anzuzeigen? 138 5 Variation und Sprachideologie <?page no="139"?> 4. Überlegen Sie, in welchen alltäglichen Momenten Menschen von Lin‐ guizismus betroffen sein können. Wie könnte man diese Diskriminie‐ rungserfahrungen jeweils vermeiden? 5.7 Weiterführende Literatur Ein ausführliches Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel finden Sie unter www.narr.de. Busch, Brigitta (2019): Sprachreflexion und Diskurs. Theorien und Methoden der Sprachideologieforschung. In: Antos, Gerd; Niehr, Thomas; Spitzmüller, Jürgen (Hrsg.): Handbuch Sprache im Urteil der Öffentlichkeit. Berlin, New York: de Gruyter, S.-107-139. Davies, Winifred; Langer, Nils (2014): Die Sprachnormfrage im Deutschunterricht. Das Dilemma der Lehrenden. In: Plewnia, Albrecht; Witt, Andreas (Hrsg.): Sprachverfall? Dynamik - Wandel - Variation. Berlin, Boston: de Gruyter, S. 299- 322. Mattheier, Klaus J. (1991): Standardsprache als Sozialsymbol. Über kommunikative Folgen gesellschaftlichen Wandels. In: Wimmer, Rainer (Hrsg.): Das 19.-Jahr‐ hundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Berlin, Boston: de Gruyter, S.-41-72. Piller, Ingrid (2020): Sprachideologien und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen. In: Gogolin, Ingrid et al. (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wies‐ baden: Springer VS, S.-335-340. Wiese, Heike (2017): Die Konstruktion sozialer Gruppen: Fallbeispiel Kiezdeutsch. In: Neuland, Eva; Schlobinski, Peter (Hrsg.): Handbuch Sprache in sozialen Grup‐ pen. Berlin, Boston: de Gruyter, S.-331-351. 5.7 Weiterführende Literatur 139 <?page no="141"?> Lösungshinweise zu den Aufgaben Kapitel 2 Aufgabe 1 Grundsätzlich wäre zu unterscheiden, wann Schrift rezipierend und wann produzierend genutzt wird - wann im Alltag also gelesen und wann geschrieben wird. Um die Varianz im eigenen Repertoire literaler Praktiken zu reflektieren, lohnt sich insbesondere der Fokus auf das eigene Schrei‐ ben zu legen: In welchen Situationen schreibe ich regelmäßig? Welche Schreibmedien benutze ich dafür (Papier und Stift, mein Smartphone, einen Computer, den Touchbildschirm am Ticketautomaten)? Zu welchem Zweck schreibe ich? Will ich jemanden adressieren oder geht es mir primär darum, Information (für mich selbst) zu fixieren? Wie öffentlich oder privat ist mein Schreiben? Und schließlich ist zu überlegen, wie in diesen unterschiedlichen Schreibanlässen jeweils verschiedene Schreibformen eine Rolle spielen: Wann ist mir das Einhalten der orthographischen Norm besonders wich‐ tig? Wann kann ich mich von Rechtschreibregeln eher lösen und meine Schriftbilder variieren? Wann und wie nutze ich Emojis? Welche Rolle spielt Interpunktion in den verschiedenen Anlässen meines alltäglichen Schreibens? Aufgabe 2 Der Fokus der Recherche kann hier insbesondere auf phonostilistischen Schreibungen liegen. Zu denken ist an Buchstabeniterationen, die empha‐ tische Dehnungen emulieren, aber durchaus auch an die Inszenierung bestimmter sprechsprachlicher Phänomene wie Verschleifungen oder auch bestimmte Akzente. Zu prüfen ist dabei, inwiefern Schreibungen dieser Art der Charakterzeichnung innerhalb der erzählten Geschichte dienen. Auch der spezifische Gebrauch von Interpunktionszeichen kann hierbei in den Blick genommen werden. Welche Interpunktionszeichen werden überhaupt genutzt und welche kommunikativen Funktionen gehen mit ihrer spezifischen Setzung einher? <?page no="142"?> Aufgabe 3 Formen, die mit Blick auf ihre interaktionale Funktion insbesondere dis‐ kutiert werden können, sind Auslassungspunkte (in Nachrichten 01, 03, 06, 10 und 12), Buchstabeniterationen (in Nachrichten 03, 07, 08, 10, 14), Majuskelschreibungen (Nachrichten 08 und 12), phonostilistische Schrei‐ bungen (wie die reduzierte Endung von Verben in der ersten Pers. Sg. Präs.), zudem auch die Auslassung von Interpunktionszeichen (Kommata, Punkte, Fragezeichen), die Kleinschreibung von Substantiven und Eigenna‐ men sowie schließlich auch die Verwendung von Emojis. Zu fragen ist, inwiefern diese Sprachformen das gemeinsame kommunikative Handeln von Anne und Otto ermöglichen und unterstützen. Dabei wird deutlich, dass viele dieser Formen für Bewertungshandlungen herangezogen werden, mit denen die Schreibenden einander verdeutlichen, wie sie zum Thematisierten und damit auch zueinander stehen. Schreibvariation ist in dieser Sequenz also ein zentrales Mittel für Anne und Otto, um ihre soziale Beziehung auszugestalten. Kapitel 3 Aufgabe 1 Hier kann z. B. an den Karten zum am-Progressiv (https: / / www.atlas-alltags sprache.de/ r10-f10abcd/ , https: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-2/ f18a -b/ ) herausgearbeitet werden, dass es einerseits deutschlandweit verbreitete Formen gibt (Ich bin noch am überlegen, …), dass gewisse syntaktische Positionen (um ein Objekt erweitert) aber noch klar regional markiert sind (Er ist Äpfel am Schälen/ am Äpfel schälen.), die die Bezeichnung als rheinische Verlaufsform erklären. Aufgabe 3 Es interessiert die Form Dein, die ambivalent ist: Entweder interpretiert man sie a) (wahrscheinlicher) als Variation in der Kasusmarkierung: das standardsprachliche Flexionsmorphem {en} (Deinen Einkauf …) für die Akkusativmarkierung wurde analog zur phonetischen Reduktion in der mündlichen Realisierung ([daınәn] > [daın‘n] > [daın‘]) bewusst oder unbewusst weggelassen; b) als Kasuswechsel/ -ausfall: der Schreiber nutzt Nominativ statt Akkusativ. 142 Lösungshinweise zu den Aufgaben <?page no="143"?> Kapitel 4 Aufgabe 1 Während Gastarbeiterdeutsch tatsächlich die einzige deutsche Varietät war, die die Einwander: innen der ersten Generation beherrschten, und während diese tatsächlich aufgrund fossilierter, rudimentärer grammatischer Formen als Pidgin beschrieben wurde, beherrschen die Sprecher: innen von Ethnolekten ein breiteres Repertoire an deutschen Varietäten, dessen sie sich flexibel und damit sprachkompetent bedienen können. Beleg hierfür ist etwa die Tatsache, dass als typisch ethnolektal geltende Formen wie etwa der Ausfall von Artikel und/ oder Präposition nur in wenigen Gesprächssequenzen nachzuweisen sind, während die Sprecher: innen in den meisten Sequenzen Standardformen produzieren. Ethnolektale Formen werden bewusst und funktional als kommunikativer Stil eingesetzt, um eine bestimmte Sprecher: innen-Identität (z. B. eine hybride Iden‐ tität zwischen Herkunfts- und deutscher/ Wohnort-Kultur) und Interpretation der Gesprächssituation anzuzeigen. Aufgabe 2 z. B. - Form Funktion Sprechergruppe Primärer Ethnolekt Ausfall von Arti‐ kel und Präposi‐ tion, Genusbab‐ weichung → -4.4, S. 99 Ethnische Markie‐ rung, Selbst-Stilisie‐ rung, Gruppenabgren‐ zung/ -stabilisierung v. a. türkischstäm‐ mige Jugendliche Sekundä‐ rer Ethno‐ lekt Verabsolutie‐ rung des Dativs → 4.4, S. 107 Stilisierung/ Karikierung (ethnische Stereotypisie‐ rung) und Stigmatisie‐ rung/ Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrati‐ onshintergrund und/ oder aus bestimmten sozialen, bil‐ dungsferneren Schichten Comedians usw. in den Medien Tertiärer Ethnolekt Ausfall von Arti‐ kel und Präposi‐ tion sowie Pro‐ nomen → 4.4, S. 102 Soziolektale Markierung, Sprechen mit fremder Stimme, scherzhaft, Grup‐ penstabilisierung - Lösungshinweise zu den Aufgaben 143 <?page no="144"?> Aufgabe 3 Achten Sie z. B. darauf, welche Figuren ethnolektal sprechen; wie diese Figuren durch geäußerte Inhalte, Kleidung und Verhalten charakterisiert werden und welche Rolle die ethnolektale Sprechweise dabei spielt; wer mit wem ethnolektal spricht und wie die Ethnolekt-Sprechweise konnotiert ist (als dümmlich? als identitässtiftend? als Hierarchie-übergreifend Zusam‐ menhalt stiftend? -…). Aufgabe 4 Ethnolekt-Sprecher werden als stereotype, aggressive Machos dargestellt, die derb sprechen, Vulgärwörter verwenden und deren Sprechweise phone‐ tisch stark von der Standardlautung abweicht. Insgesamt werden sie als die - außerhalb der Medien nicht existierenden - Sprecher von sekundärem Ethnolekt dargestellt, die defizitäres Deutsch verwenden und dumm wirken (sollen). Aufgabe 5 Legen Sie zum Beispiel eine Tabelle zugrunde wie hier vorgestellt: Phase L-SuS-Interaktion, Arbeitsauftrag Sozial‐ form Lernziel Medien Einstieg - - - - Erarbeitung - - - - Sicherung - - - - Kapitel 5 Aufgabe 1 Zu unterscheiden ist hierbei einerseits zwischen der Reflexion dessen, was in gesellschaftlichen Diskursen als ‚gutes Deutsch‘ gilt, und anderseits der sprachwissenschaftlichen Problematisierung der Bewertung eines Sprach‐ gebrauchs als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘. Mit Blick auf den gesellschaftlichen Diskurs zu ‚gutem Deutsch‘ spielt die Standardsprachideologie eine zentrale Rolle. Als ‚gut‘ gilt oftmals ein solcher Sprachgebrauch, der gemessen an 144 Lösungshinweise zu den Aufgaben <?page no="145"?> der standardsprachlichen Norm ‚richtig‘ ist. Da der Standard wiederum vor allem anhand schriftlicher Texte reflektiert wird, verengt sich die Wahr‐ nehmung vielfach auf die geschriebene Standardvarietät. In diesem Sinne kommt dann auch solchen Akteur: innen eine besondere Deutungsmacht zu, was ‚gutes Deutsch‘ ist, die Richtigkeitskriterien von geschriebener Sprache herstellen und bewerten bzw. durchsetzen (hierzu gehören auch Lehrer: in‐ nen). Relevant ist das Konzept wiederum für alle Sprachbenutzer: innen: Wir alle werden aufgrund unserer sprachlichen Äußerungen bewertet. Problematisch wird dies, wenn Richtigkeitskriterien der geschriebenen, textorientierten Sprache auf mündliche Äußerungen angewandt werden und dann ggf. zu negativen Konsequenzen für Sprecher: innen führen. Neben der Richtigkeit ist - auch im gesellschaftlichen Diskurs - zudem aber immer auch die Frage der Angemessenheit relevant. Um ‚gutes Deutsch‘ zu gebrauchen, reicht es nicht, einen orthographisch korrekten Text zu produzieren; nötig ist etwa auch, stilistische Entscheidungen zu treffen und solche lexikalischen, syntaktischen und pragmatischen Varianten zu wählen, die den kommunikativen Erwartungen in den jeweiligen Kontexten entsprechen. Auch diese Erwartungen sind sprachideologisch begründet, sind aber kleinteiliger z. B. an Textsorten oder Gesprächstypen gebunden. Was ‚gutes Deutsch‘ ist, wandelt sich in dieser Perspektive also je nach Kommunikationssituation. Aufgabe 2 Die Rechercheergebnisse können daraufhin kategorisiert werden, ob eine absolute Auffassung von sprachlicher Richtigkeit vertreten wird (etwa: ‚we‐ gen‘ mit Dativ ist falsch) oder ob Aspekte kommunikativer Angemessenheit bedacht werden (etwa: ‚wegen‘ mit Dativ ist im Gesprochenen unauffällig). Zudem sollten die Rechercheergebnisse daraufhin überprüft werden, welche sozialen Zuschreibungen mit den verschiedenen Varianten verbunden wer‐ den: Wie beschreiben die Diskursteilnehmenden Personen, die wegen mit Dativ verwenden, und solche, die wegen mit Genitiv gebrauchen? Aufgabe 3 Die Charakterisierung von Figuren durch Sprachgebrauch ist ein zentrales filmisches Mittel. Die analytischen Beobachtungen sollten vor allem darauf ausgerichtet sein, die Kontraste zwischen dem Sprechen der verschiedenen Figuren herauszuarbeiten: Gibt es möglicherweise mehrsprachige Figuren? Lösungshinweise zu den Aufgaben 145 <?page no="146"?> Welche sprachlichen Repertoires werden für Figuren jeweils deutlich? Spre‐ chen Figuren mit Akzent? Welche Figuren wiederum sprechen standardnah? Gibt es bestimmte lexikalische Auffälligkeiten, etwa fachsprachliches oder subkulturelles Vokabular? Die Analyse kann so aufzeigen, welche sozialen Registrierungen von sprachlichen Formen Filmemacher: innen anzapfen, um Figuren in einen sozialen Kontext zu stellen. Dabei wäre in der Analyse auch kritisch zu reflektieren, inwieweit Filme in dieser Weise selbst soziale Klischees reproduzieren. Aufgabe 4 Hat ein Telefonat auf Arabisch in der S-Bahn zu genervtem Augenrollen der anderen Fahrgäste geführt? Dann wäre zu fragen, ob ein Telefonat auf Deutsch oder Französisch im gleichen Kontext dieselbe Reaktion her‐ vorruft. Welche Rolle spielte regiolektale Aussprache möglicherweise in Bewerbungs- oder Prüfungssituationen? Zu denken wäre also jeweils an alltägliche Momente, in denen sprachliche Variabilität einerseits bewusst wurde und daraus andererseits negative soziale Bewertungen resultierten. Ein Weg, solche Prozesse zu dekonstruieren und entsprechende Diskrimi‐ nierungserfahrungen in Zukunft zu verhindern, kann es sein, jeweils einen Vergleich zu suchen und sich zu fragen, ob und inwiefern der Gebrauch prestigeträchtiger Sprachformen in den jeweiligen Situationen einen inhalt‐ lichen und funktionalen Unterschied machen würde. 146 Lösungshinweise zu den Aufgaben <?page no="147"?> Literatur Kapitel 1 Ammon, Ulrich (2004): Standard Variety. In: Ammon, Ulrich; Dittmar, Norbert; Mat‐ theier, Klaus J.; Trudgill, Peter (Hrsg.): Sociolinguistics. 2. komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. (HSK 3.1). Berlin: de Gruyter, S.-273-283. Androutsopoulos, Jannis; Busch, Florian (2020): Register des Graphischen. Skizze eines Forschungsansatzes. In: Androutsopoulos, Jannis; Busch, Florian (Hrsg.) (2020): Register des Graphischen. Variation, Interaktion und Reflexion in der digita‐ len Schriftlichkeit. Berlin u. a.: de Gruyter, S.-1-29. Androutsopoulos, Jannis; Spreckels, Janet (2010): Varietät und Stil. Zwei Integrati‐ onsvorschläge. In: Ziegler, Evelyn; Scharloth, Joachim; Gilles, Peter (Hrsg.): Em‐ pirische Evidenzen und theoretische Passungen sprachlicher Variation. Frankfurt/ M. u. a.: Lang, S.-197-214. Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. Studium Linguistik 19: 22-47. Berend, Nina (2008): Regionale Gebrauchsstandards. Gibt es sie und wie kann man sie beschreiben? In: Eichinger, Ludwig M.; Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Standardvariation: Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? Berlin, New York: de Gruyter, S.-143-170. Birkner, Karin; Auer, Peter; Bauer, Angelika; Kotthoff, Helga (2020): Einführung in die Konversationsanalyse. Berlin, Boston: de Gruyter. Bittner, Andreas; Köpcke, Klaus-Michael (2008): Sprachwandel- oder Verlotterungs‐ prozesse. Versuch einer Versachlichung. In: Denkler, Markus et al. (Hrsg.): Frisch‐ wärts und unkaputtbar. Sprachverfall oder Sprachwandel im Deutschen. 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Er zeigt an authentischen Beispielen und Unterrichtsideen, welche lebensweltlichen Bezüge diese Themen im Deutschunterricht motivieren können (z.B. digitale Kommunikation, Sprechen in Peergroups). Sprachliche Variation LinguS 12 BUSCH / EFING · Sprachliche Variation Sprachliche Variation LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis FLORIAN BUSCH CHRISTIAN EFING