Verdrängen und Erinnern im Theater
Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Drama nach 1975
0703
2023
978-3-8233-9507-2
978-3-8233-8507-3
Gunter Narr Verlag
Denis Heuring
10.24053/9783823395072
Kennzeichnend für den Postfranquismus war eine erinnerungskulturelle Paradoxie, die sich durch das politisch-institutionelle Verdrängen des für die Menschen Unvergesslichen auszeichnete. Der Übergang zwischen Diktatur und Demokratie charakterisierte sich durch eine offizielle Rhetorik des Neuanfangs, des Konsenses und der Versöhnung, die Erinnerungen an Bürgerkrieg und franquistische Repression als Gefahr für die politische Konsolidierung Spaniens betrachtete und traumatischen Erfahrungen kaum diskursiven Raum gewährte.
Die Studie untersucht, inwiefern diese Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und unerfüllter memorialer Erwartung strukturgebend auf das Werk der Theatermacher José Sanchis Sinisterra, José Luis Alonso de Santos und Ignacio Amestoy Egiguren wirkte. Diese gehörten zu einer Gruppe von Dramatiker:innen, die den Franquismus erlebten und sich nach dem Tod Francos in der Rolle der Neuerer der spanischen Bühne wiederfanden. In ihren Dramen und Inszenierungen reagierten sie auf den pacto de silencio. Dabei changierten sie zwischen der mimetischen Darstellung von Vergangenem und performativen Akten des gemeinsamen Erinnerns, um erinnerungskulturelle Leerstellen abzubilden und das Theater zugleich zu einem wirkmächtigen Medium des kulturellen Gedächtnisses werden zu lassen.
<?page no="0"?> Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Drama nach 1975 Denis Heuring Verdrängen und Erinnern im Theater <?page no="1"?> Verdrängen und Erinnern im Theater <?page no="2"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 18 · 2023 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="3"?> Denis Heuring Verdrängen und Erinnern im Theater Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Drama nach 1975 <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395072 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-8507-3 (Print) ISBN 978-3-8233-9507-2 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0307-7 (ePub) Umschlagabbildung: Francisco de Goya: El sueño de la razón produce monstruos (Der Schlaf [Traum] der Vernunft gebiert Ungeheuer), 1797-1799, Capricho Nr. 43, Radierung, Madrid Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> I 9 1 9 2 19 3 29 4 41 II 53 1 56 2 66 III 81 1 83 2 87 2.1 87 2.2 97 3 101 3.1 105 3.2 109 3.3 118 Inhalt DAS NICHT-ERINNERN DES UNVERGESSLICHEN: SPANIENS UMGANG MIT DEN ERINNERUNGEN AN DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG NACH 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La transición - Spaniens Weg in die Demokratie . . . . . . . . . . Erinnern um des Vergessens willen - Spaniens Umgang mit der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Konflikt zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang in postdiktatorischen Übergangsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfrage: Zur Darstellbarkeit der Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung . THEATER IM ÜBERGANG: DIE GENERACIÓN DEL 82 UND DIE RE-PRÄSENTATION DES VERGANGENEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Sozialisation (1939-1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DIE ANWESENHEIT DES ABWESENDEN: ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION . . . . . . . . . . . . Mnemonische und historische Repräsentation bei Paul Ricœur Immaterielle Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Seienden zum Gewesenen - Erinnerung als Spur Immanuel Kant: Einbildungskraft, Erinnerung, Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materielle Repräsentation: Ästhetisierungsformen der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen . . . . . . . . Zwischen Semantik und Materie - Die Spaltung des Zeichens im dramatischen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Unheimliche der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Semantik und Pragmatik - Die Unterminierung des Zeichens im dramatischen Raum <?page no="6"?> 3.4 127 3.4.1 135 3.4.2 145 3.4.3 148 3.4.4 160 IV 173 1 175 1.1 175 1.2 181 1.2.1 181 1.2.2 186 1.3 217 2 239 2.1 239 2.2 245 2.3 256 2.4 278 2.4.1 278 Vom mimetischen zum performativen Erinnern . . . . . . Repräsentative (Un-)Ordnung - Ästhetik der Unentscheidbarkeit und ethisches Theater . . . . . . . . . . Vom Text zum Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der theatralische (Schwellen-)Raum: Zum hybriden Charakter der Theatersituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Überwindung des Als-Ob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER: DAS ERINNERUNGSKULTURELLE DRAMA VON JOSÉ SANCHIS SINISTERRA, JOSÉ LUIS ALONSO DE SANTOS UND IGNACIO AMESTOY EGIGUREN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Reduktion - José Sanchis Sinisterras Teatro Fronterizo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grenze zwischen Semantik und Materie - Die Spaltung des Zeichens im dramatischen Raum . . . . . . . Traum? Rausch? Oder Wunder? Positionen zu Carmelas Wiederkehr aus dem Jenseits . . . . . . . . . . . . . Die Wiederkehr als Ästhetisierungsform des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen . . . . . . . . . . . . . . . Erlebtes erinnern und Erinnertes erleben . . . . . . . . . . . Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhindertes, manipuliertes und verpflichtendes Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mémoire-répétition/ Mémoire-souvenir: Verhindertes Gedächtnis und Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende vom Anfang - Trauma und Initiation in El álbum familiar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zu wahrer Erinnerung - Fotografie und Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theater-Text und Intermedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 2.4.2 282 2.4.3 300 3 324 3.1 324 3.2 334 3.3 347 3.4 356 3.5 368 3.6 377 3.7 381 3.7.1 385 3.7.2 392 3.7.3 401 3.8 406 3.8.1 406 3.8.2 410 3.8.3 413 V 421 421 Ça-a-été statt Als-ob - Fotografie und der Modus des Gewesenseins in El álbum familiar . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählend erinnern - Zum Übergang zwischen wiederholender und wahrer Erinnerung . . . . . . . . . . . . An der Schwelle zur Demokratie: Dionisio Ridruejo---Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren . . . . . Spanien als Huis clos - Zur Tragik selbstverschuldeter Unmündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theatrales Tabu: Die Entstehungsgeschichte von Dionisio Ridruejo---Una pasión española . . . . . . . . . . . Gescheiterter Übergang? Zur Interdependenz von Schuld, Vergebung und Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Schuldfähigkeit statischer Figuren . . . . . . . . . . . . . Biomechanik: Körperwahrnehmung als Verdrängungsstrategie auf der Bühne . . . . . . . . . . . . . . Paratextuelle Bedrohung und paradoxales Symptom: Überlegungen zur zweifachen Wiederkehr Dionisio Ridruejos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Una pasión española: Spaniens Leidensweg zwischen 1933 und 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg zum Glauben oder: Dionisio als Erzengel Francos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Feuertaufe am Wolchow oder: Dionisio als gefallener Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Demokratie konvertiert oder: Dionisio als „primer hombre de la transición“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergebung der Sünden? Von moralischer Schuld zu politischer Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss mit dem Theater: Das Schuldbekenntnis als Ende des metatheatralen Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ - Zur Handlungsrelevanz des Erinnerns in christlicher Praxis und im erinnerungskulturellen Theater . . . . . . . . . . . . . Das Publikum als Gemeinde - Zur Möglichkeit einer christlich geprägten Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . EN RESUMEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerungskulturelle Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 423 426 VI 431 Die Re-Präsentation von Vergangenem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verdrängtes gemeinsam erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 1 Dass Franco keineswegs Anhänger einer monarchistischen Lösung war, stellte bereits José Mariá Toquero in Franco y Don Juan. La oposición manárquica al franquismo (1989) heraus. Es sei hier darauf verwiesen, dass die Monarchisten eine oppositionelle Grup‐ pierung innerhalb des Franquismus darstellte, vgl. hierzu Bernecker, Walther L. (Hgg.): „Die Rolle von Juan Carlos“, in: ders./ Collado Seidel, Spanien nach Franco, München 1993 (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 67), S.-150-170. 2 1975 bildeten sich die großen oppositionellen Organisationen, Junta Democrática und Plataforma Democrática, die sehr klar unter dem Einfluss der verbotenen Parteien der Kommunisten und Sozialisten standen. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die 1974 in Portugal stattgefundene „Nelkenrevolution“, die einen enormen Mobilisie‐ rungseffekt aller oppositionellen Gruppen auslöste. Vgl. Koniecki, Dieter: „Spanien - ein erfolgreicher politischer Demokratisierungsprozess - erneut auf dem Prüfstand“, in: Referat im Rahmen des internationalen Symposiums der Korea Democracy Foundation und Friedrich-Ebert-Stiftung zum 20. Jahrestag des Juni-Aufstandes; Politische Entwicklung nach der Demokratisierung: Die Erfahrungen und Erinnerungen von Korea, Spanien, Portugal und Griechenland, Seoul 2007, URL: http: / / library.fes.de/ pdf-files/ bueros/ seou l/ 05146.pdf [11. Dezember 2017]. I DAS NICHT-ERINNERN DES UNVERGESSLICHEN: SPANIENS UMGANG MIT DEN ERINNERUNGEN AN DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG NACH 1975 1 La transición - Spaniens Weg in die Demokratie „Franco ha muerto“ - in großen Lettern prangte diese Schlagzeile am 20. No‐ vember 1975 auf den Titelblättern der spanischen Tageszeitungen. Der schlichte, konstative Charakter dieser Aussage mutet angesichts der sich aus diesem histo‐ rischen Ereignis ergebenden politischen Handlungsaufträge aus heutiger Sicht geradezu ironisch an. Franco war tot - was folgte nun? Zwar hatte der selbst ernannte “caudillo“ bereits vor seinem Ableben über die Inthronisierung des bourbonischen Prinzen Juan Carlos und die damit verbundene Re-Etablierung der Monarchie verfügt 1 , doch lieferte die Klärung der personellen Nachfolge noch keine endgültige Antwort auf die Frage nach der zukünftigen politischen Ausrichtung des Landes. In den letzten Jahren des Franquismus hatten sich bereits unterschiedliche politische Lager formiert, deren Ziele sich zwischen den Extrempunkten der Weiterführung des franquistischen Systems bis hin zu dessen radikaler Demontage bewegten. 2 Diesen extremen Positionen stand der Wunsch nach gemäßigter Modernisierung und europäischem Anschluss auf <?page no="10"?> 3 Bernecker, Walther L./ Collado Seidel, Carlos: „Einleitung“, in: dies. (Hgg.), Spanien nach Franco, München 1993 (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 67) S.-8. 4 VgBernecker/ Collado Seidel, „Einleitung“, S.-8. 5 Bernecker/ Collado Seidel, „Einleitung“, S.-9. 6 Vgl. Desfor Edles, Laura: Symbol and ritual in the new Spain: The transition to democracy after Franco, Cambridge 1998 (= Cambridge cultural social studies), S.-41ff. der Grundlage der bestehenden Strukturen gegenüber. 3 Zu diesem Zeitpunkt war insbesondere für die Bevölkerung nicht abzusehen, ob der Tod Francos auch das Ende des Franquismus bedeutete; zudem hatte die Ermordung des Almirante Luis Carrero Blanco durch die baskische Terrororganisation ETA am 20. Dezember 1973 deutlich vor Augen geführt, welche Gefahr von den über Jahrzehnte hinweg unterdrückten Kräften auszugehen drohte. 4 In ihrer verbalen Nüchternheit spiegelte die zitierte Schlagzeile somit gewissermaßen die Stimmung einer Gesellschaft wider, die sich zwischen den Parametern der historischen Chance, der “nationalen Tragödie“ und der systemischen Un‐ gewissheit verorten musste. Während der nach der Ermordung Carrero Blancos ins Amt berufene Minis‐ terpräsident Carlos Arias Navarro keinen Zweifel an seiner Systemtreue sowie an der über den Tod hinausreichenden Loyalität zu Francisco Franco ließ, gab dessen rechtmäßiger Nachfolger, Juan Carlos de Borbón, im Rahmen seiner Antrittsrede am 22. November 1975 seine Ambitionen im Hinblick auf die „Öffnung und Demokratisierung des Systems“ 5 zu erkennen, ohne sich dieser Vokabeln explizit zu bedienen. Vor den Augen der Politiker des franquistischen Establishments sowie der Opposition und nationaler wie internationaler Medien kündigte er ein neues Kapitel in der spanischen Geschichte an. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass die Wortwahl des Königs einen Vorge‐ schmack auf die Rhetorik der Versöhnung und des Neubeginns lieferte, die den offiziellen Transitionsdiskurs in den folgenden Jahren bestimmen sollte. 6 Die Hervorhebungen in den im Folgenden zitierten Auszügen aus der Antrittsrede belegen deutlich eine Isotopie des Konsenses: Hoy comienza una nueva etapa de la Historia de España. Esta etapa, que hemos de recorrer juntos, se inicia en la paz, el trabajo y la prosperidad, fruto del esfuerzo común y de la decidida voluntad colectiva. […] La Institución que personifico integra a todos los españoles, y hoy, en esta hora tan transcendental, os convoco porque a todos nos incumbe por igual el deber de servir a España. Que todos entiendan con generosidad y altura de miras que nuestro futuro se basará en un efectivo consenso de concordia nacional. […] 10 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="11"?> 7 Sabín, José Manuel: La dictadura franquista (1936-1975): Textos y documentos, Torrejón de Ardóz Akal 1997 (= España sin espejo, 10), S.-391-396; [Hervorhebungen d. D. H]. 8 Vgl. Bernecker, Walther L.: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 1997, S. 127-142. Angetrieben durch die Technokraten des Opus Dei, die infolge der 1957 durchgeführten Regierungsumbildung Teil des Kabinetts wurden, erfolgte eine grund‐ legende Modernisierung der antiquierten spanischen Wirtschaftsstruktur. Die vom Opus Dei intendierte Öffnung nach Europa bedingte eine radikale ökonomische Liberalisierung, durch die sich das einstige Agrarland allmählich zu einer weitgehend modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft nach europäischem Muster ent‐ wickeln konnte. 9 Vgl. Bernecker, Walther L.: Spanien-Handbuch, Tübingen 2006, S.-197. 10 Bernecker, Walther L.: „Vergangenheitsdiskurse in Spanien zwischen Verdrängung und Polarisierung“, in: Großbölting, Thomas/ Hofmann Dirk, Vergangenheit in der Gegenwart, Göttingen 2008 (= Genshagener Gespräche, 12), S.-43. Un orden justo, igual para todos, permite reconocer dentro de la unidad del Reino y del Estado las peculiaridades regionales como expresión de la diversidad de pueblos que constituyen la sagrada realidad de España. El Rey quiere serlo de todos a un tiempo y de cada uno en su cultura, en su historia y en su tradición. […] Si todos permanecemos unidos, habremos ganado el futuro. 7 Die Herausforderung, vor der Juan Carlos I stand, ergab sich aus der Diskrepanz zwischen politisch-systemischem Stabilisierungsstreben und gesellschaftlicher Realität sowie den daraus resultierenden Konfliktpotentialen. Zwar hatten die ideologischen Säulen des Systems bereits ab den 50er Jahren zu bröckeln be‐ gonnen, doch repräsentierten der Franquismus und seine Vertreter bis dato noch immer die herrschende Ordnungsmacht. Der politische Sonderweg, den Spanien nach Beendigung des Bürgerkriegs eingeschlagen hatte und der das Land lange von den europäischen Nachbarn abschottete, wurde trotz einer ökonomischen Öffnung 8 bis zuletzt nicht vom Regime in Frage gestellt. Stattdessen wurden die franquistischen Propagandisten nicht müde, die unter dem Lemma des „Anti-Spanien“ subsumierten Feindbilder des Liberalismus, des Kommunismus, des Sozialismus und der Freimaurerei am Leben zu halten, um sie im nächsten Moment zu stigmatisieren. 9 Zum Zeitpunkt von Francos Tod war, so der Historiker Walther L. Berne‐ cker, die Ideologie des Franquismus überlebt und der Wunsch nach einem Systemwechsel in weiten Teilen der Zivilgesellschaft verbreitet: „Schon in der Spätphase des Franquismus - dies haben repräsentative Umfragen ergeben - war eine Mehrheit der Spanier für einen Wandel hin zur Demokratie […].“ 10 Die Ironie dieses zivilgesellschaftlichen Mentalitätswandels liegt darin begründet, dass die Vertreter des Systems einen nicht geringen Beitrag zur ideologischen Unterminierung des Franquismus geleistet hatten. Die Entwicklung zu einem 1 La transición - Spaniens Weg in die Demokratie 11 <?page no="12"?> 11 Altrichter, Helmut/ Bernecker, Walther L. (Hgg.): Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S.-312f. 12 Diese Europa-Euphorie führte zu einem erneuten Beitrittsantrag im Jahr 1977. Zwar schwand der anfängliche Glaube an Europa als Modernisierungsgarant in den folgenden Jahren, jedoch war ein Rückzug aufgrund des außenpolitischen Drucks (EG-NATO Junktim) aus realpolitischer Sicht nicht ratsam. Vgl. Bernecker, Spanien-Handbuch, S.-200ff. 13 Vgl. Desfor Edles, Symbol and ritual in the new Spain, S.-26ff. sowie S.-41 ff. modernen Industriestaat nach europäischem Vorbild, die Öffnung des Landes für den Tourismus und die stetige Schwächung der zensorischen Maßnahmen in Presse und Bildung ließen die Weiterführung des spanischen Sonderwegs nach Francos Tod als unmöglich erscheinen: Das Ergebnis der franquistischen Politik widersprach in nahezu jedem Punkt den ursprünglichen Intentionen: Am Ende der Franco-Herrschaft war die spanische Gesellschaft politisierter, urbanisierter und säkularisierter denn je, die Arbeiter und Studenten waren so aufsässig wie noch nie, die Autonomie- und Selbstständig‐ keitsbewegungen der Regionen ausgeprägter als zu jedem anderen Zeitpunkt der neueren spanischen Geschichte, Sozialisten und Kommunisten bei den ersten Wahlen nach Francos Tod so erfolgreich wie nie zuvor, die spanische Wirtschaft finanziell und technologisch vom internationalen Kapitalismus in geradezu beängstigendem Ausmaß abhängig. 11 Die politische Elite Spaniens war davon überzeugt, dass die Modernisierung des Landes sowie sozialökonomische und damit politische Stabilität nur durch die Integration in die Europäische Gemeinschaft (EG) funktionieren konnte. Nach einem gescheiterten, vom Opus Dei angestoßenen Mitgliedschaftsgesuch aus dem Jahr 1962 - Voraussetzung war eine demokratische Grundordnung - witterte man nun die Chance, diesem Gesuch erneut Ausdruck zu verleihen und Spanien auf diese Weise im Schoße Europas zu stabilisieren. 12 Die Angst, diese historische Gelegenheit durch innenpolitische Konflikte zwischen franquisti‐ schem Establishment und den politischen Oppositionsgruppen zu gefährden, sollte in den Jahren nach 1975 zur Triebfeder des realpolitischen Handelns und bestimmend für den offiziellen Umgang mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit werden. 13 In seiner Proklamationsrede am 22. November 1975 forderte König Juan Carlos I die Spanierinnen und Spanier dazu auf, ja er appellierte gewissermaßen an ihren Großmut, die eigene Person hinter die Sache der staatlichen Stabilisie‐ rung zu stellen: „Que todos entiendan con generosidad y altura de miras que nuestro futuro se basará en un efectivo consenso de concordia nacional.” Das sich hieraus ergebende komplexe Spannungsverhältnis zwischen der unabweisbaren 12 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="13"?> 14 Bernecker, Walther L./ Brinkmann, Sören: Kampf der Erinnerungen: der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, Nettersheim 2006, S.-231. 15 Vgl. Bernecker, Walther L./ Collado Seidel, Carlos: „Einleitung“, in: dies. (Hgg.), Spanien nach Franco, München 1993 (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 67), S.-10f. 16 Vgl. Desfor Edles, Symbol and ritual in the new Spain, S. 6: „Yet, since the death of Franco in 1975, Spain has not only transformed itself from dictatorship to democracy from the inside out; it has done it through a remarkably quiescent process of reform and ‘strategy of consensus’.” 17 Weder politischer noch zivilgesellschaftlicher Druck beendete das autoritäre System. Ein aktiv herbeigeführter Bruch hätte jedoch die politisch-institutionelle wie auch die gesellschaftliche Bereitschaft erhöht, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Einem politischen System, das aus der Ablehnung des Bestehenden hervorgegangen wäre, wäre der Wunsch nach der Befreiung von franquistischer Ideologie einge‐ schrieben gewesen. Die Konsenspolitik der transición ist dahingegen Konsequenz der personellen und ideologischen Kontinuitäten innerhalb der politischen Elite. Präsenz vergangener sowie gegenwärtiger Konflikte innerhalb der Zivilgesell‐ schaft und der systemisch verordneten, auf eine stabile Zukunft gerichteten Maxime der Eintracht bildete zu diesem Zeitpunkt die fragile Basis für die politische Transition: „Nicht ideologische Maximalforderungen, sondern Kon‐ sensfindung (consenso) wurde zur Richtschnur der Politik und begründete die zentralen Weichenstellungen des demokratischen Übergangs“ 14 , konstatieren Bernecker und Brinkmann. Weder ein Bruch noch eine Weiterführung des Franquismus waren die angestrebten Ziele. Vielmehr wurde ein langsamer Wandel eingeleitet, der die franquistische Legalität für ihre eigene Ersetzung instrumentalisieren sollte. Der consenso wurde zum politischen Leitmotiv er‐ hoben, an dem sich die konkurrierenden Parteien in den folgenden Jahren zu orientieren hatten. 15 Der Umstand, dass Francisco Franco eines natürlichen Todes starb, hatte zur Folge, dass jede Form der politischen Veränderung aus dem alten System heraus erwachsen musste. 16 Mit Franco starb das Staatsoberhaupt, nicht der Franquismus. Die Tatsache, dass ein Systemwechsel nicht etwa durch politi‐ schen oder zivilgesellschaftlichen Druck, also durch Wahlen, Demonstrationen oder einen politischen Umsturz, sondern erst durch das Ableben des führenden Repräsentanten des Systems ermöglicht worden war, brachte eine personelle Kontinuität innerhalb des politischen Apparates sowie in weiten Teilen der öffentlichen Verwaltung und des Gerichtswesens mit sich. 17 Franquisten und Oppositionelle waren angehalten, ideologische Graben‐ kämpfe zu vermeiden, um die systemische Stabilisierung nicht zu gefährden. Bis auf den rechtskonservativen búnker, den reaktionären Teil des herrschenden franquistischen Establishments, versuchten deshalb alle Gruppierungen, einen 1 La transición - Spaniens Weg in die Demokratie 13 <?page no="14"?> 18 Morán, Gregorio: El precio de la transición, Barcelona 1991, S.-21. 19 Vgl. Morán, El precio de la transición, S.-21. 20 Arias Navarro strebte angeblich eine Öffnung an, jedoch vermochte er es nicht, über wirksame Mittel zur Kontrolle der Regierung zu verfügen. Ein Fortbestand dieser Machtkonzentration - die Regierung war lediglich dem König verpflichtet - wäre zur strukturellen Grundlage eines neuen autoritären Systems geworden. Arias Navarro wurde deshalb insbesondere von der demokratischen Opposition abgelehnt, die ihm vorwarf, radikale Veränderungen zu erschweren. Vgl. Rubio Llorente, Francisco: „Der verfassungsgebende Prozeß“, in: Bernecker/ Collado Seidel, Spanien nach Franco, S. 128f. paktierten Weg in die Demokratie einzuschlagen. Der spanische Historiker Gregorio Morán betont in seiner Monographie El precio de la transición die sich durch den natürlichen Tod des Diktators ergebende Schwierigkeit, verfeindete Lager für eine einträchtige Transition innerhalb der alten Strukturen zu ge‐ winnen: „Lo cierto es que el franquismo no se desmoronó, ni fue derribado, y que los planteamientos políticos del conjunto de las fuerzas democráticas hubieron de ser rápidamente adaptados […].“ 18 Der Weg in die Demokratie konnte angesichts der Konsenspolitik kaum über die intensive Beschäftigung mit den vergangenen Verbrechen sowie der raschen Thematisierung der Schuldfrage führen. 19 Eine Schlüsselrolle kam in dieser transitorischen Phase dem Politiker Adolfo Suárez González zu, der kurz vor Francos Tod zum Generalsekretär des fran‐ quistischen Movimiento Nacional aufgerückt war. Adolfo Suárez löste auf Erlass des spanischen Königs den wenig reformerischen, in seiner franquistischen Solidarität stagnierenden Arias Navarro im Juli 1976 ab und bemühte sich im Anschluss, die Vertreter der unterschiedlichen politischer Lager mit diplomati‐ schem Geschick für die allmähliche Reformierung des Systems zu gewinnen. 20 Mit dem von ihm auf den Weg gebrachten und von den cortes im November 1976 ratifizierten ‚Gesetz für die politische Reform’ (Ley para la reforma política) wurde ein Jahr nach Francos Tod der Grundstein für den gemäßigten Demokra‐ tisierungsprozess gelegt. Diese Reform, die von der spanischen Bevölkerung im Rahmen eines Referendums angenommen wurde, sah die Ersetzung der cortes durch ein frei gewähltes Zweikammernparlament (Kongress und Senat) mit verfassungsgebenden Vollmachten vor. Schrittweise war es nun möglich, erste Gesetzesinitiativen zu verabschieden, ohne gegen die von Franco installierten Leyes fundamentales zu verstoßen. Die Soziologin Laura Desfor Edles unterstreicht in ihrer Analyse der spa‐ nischen Transition die immense Bedeutung des Gesetzes im Hinblick auf den gemäßigten, radikale Brüche vermeidenden Abbau der franquistischen Strukturen: „The Law of Political Reform […] recognized the principles of popular sovereignty, universal suffrage, and political pluralism, and prepared 14 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="15"?> 21 Desfor Edles, Symbol and ritual in the new Spain, S.-6. 22 Desfor Edles, Symbol and ritual in the new Spain, S.-14f. 23 Rubio Llorente, „Der verfassungsgebende Prozeß“, S.-137. 24 Rubio Llorente, „Der verfassungsgebende Prozeß“, S.-141. for the legal abolition of the chief Francoist institutions.“ 21 Diese entscheidende Weichenstellung war, so der allgemeine Tenor, das Ergebnis der von der Zivil‐ gesellschaft im Rahmen eines Referendums befürworteten Konsenspolitik. Die Vermeidung innenpolitischer Konflikte und die damit zusammenhängende Zu‐ rückstellung parteipolitischer Ambitionen zum Zwecke der Demokratisierung hatte sich offensichtlich als erfolgreiche Strategie für den Übergang bewährt. Aus heutiger Perspektive scheint dies den Beginn eines Paktes zwischen Politik und Zivilgesellschaft zu markieren, der im Hinblick auf die sozialen, kulturellen und ethischen Konsequenzen noch genauer zu untersuchen sein wird: Spanish consensus was based on a general moderation in respect to the traditional political demands of the radicals and the commitment to a minimum of welfare state policies by the conservatives. In other words, both regime and opposition elites came to define democracy as their most important goal, and both regime and opposition elites - and the masses - came to define violence as an inappropriate means to achieve it. 22 Die Vollendung des politischen Übergangs von der Diktatur zu einem demokra‐ tischen System sollte mit der Verabschiedung einer Verfassung geleistet werden, die Ergebnis des Willens aller im Parlament vertretenen Parteien sein sollte. Die gemeinsame Ausarbeitung der Verfassungstexte bot der politischen Elite die Möglichkeit, die Konstruktion der Konsensideologie innerhalb der spanischen Gesellschaft weiter zu festigen. Der Verzicht der Regierung, als alleinige verfas‐ sungsgebende Instanz aufzutreten und stattdessen die politische Opposition an diesem Prozess zu beteiligen, zielte laut Francisco Rubio Llorente darauf ab, „die Legalität und die Macht, die bei der Regierung und der Regierungspartei lagen, mit der demokratischen Legitimität in Übereinstimmung zu bringen, die trotz der Wahlergebnisse von der früheren antifranquistischen Opposition beansprucht wurde.“ 23 Der von einer Verfassungskommission vorgeschlagene Text wurde vom Parlament am 31. Oktober 1978 verabschiedet, am 6. Dezember desselben Jahres per Referendum vom Volk angenommen und trat schließlich am 29. Dezember in Kraft. Selbstverständlich wurde dieser historische Akt als Resultat der erfolgreichen Einigungspolitik gefeiert: „In den abschließenden Reden wurde vor allem der Gedanke der Eintracht und der paktierten Verfassung betont, die auf dem Weg des Konsenses erreicht worden sei.“ 24 1 La transición - Spaniens Weg in die Demokratie 15 <?page no="16"?> 25 El País (1978): „El salto a un nuevo día“, URL: https: / / elpais.com/ diario/ 1978/ 12/ 07/ esp ana/ 281833225_850215.html [1. Dezember 2017]. 26 Zit. nach Desfor Edles, Symbol and ritual in the new Spain, S.-105. 27 Walther L. Bernecker verweist auf die kaum mehr überschaubare Forschungsliteratur zur transición und spricht vom Zeitraum 1975-1978 als „Transition im engeren Sinn“. Vgl. Bernecker, „Vergangenheitsdiskurse in Spanien zwischen Verdrängung und Pola‐ risierung“, S. 231. Der für die UCD an der transición beteiligte Politiker Salvador Sán‐ chez-Terán unterscheidet zwischen einer Phase der politischen Transition (1975-1978) und einer Phase der politischen Konsolidierung, die mit dem Eintritt Spaniens in die EG endete. Vgl. Sánchez-Terán, Salvador: La transición: Síntesis y claves, Barcelona 2008. Einen Tag nach dem Referendum sprach die spanische Tageszeitung El País vom erfolgreichen Abschluss des politischen Übergangs: „Los votos […] pusieron fin a la transición posfranquista.“ 25 Vor der Abstimmung hatten die politischen Verantwortlichen des Übergangsprozesses versucht, die Wähler zur Annahme der Verfassung zu bewegen, indem sie sich rhetorischer Schwarz-Weiß-Malerei bedienten. Gebetsmühlenartig wiederholten sie, dass die Entscheidung für die Verfassung das Ende der franquistischen Strukturen bedeuten und ihre Stimme somit gleichermaßen einen Beitrag zur endgültigen Demontage der Diktatur leisten würde. Die Dichotomie Diktatur-Demokratie hatte den offiziellen politischen Diskurs geprägt, der die Bedeutung des Refe‐ rendums in seiner “heilsbringenden“ Funktion geradezu religiös stilisierte. Das folgende, am 26. November 1978 von der Zeitung El Socialista publizierte Zitat des Parteichefs der PSOE, Felipe Gonzalez, führt diesen rhetorischen Fatalismus deutlich vor Augen: The choice today is Constitution or dictatorship; any other exposition is false, since the Constitution is the only path to democracy. The enemies of democracy have made the Constitution the symbol of their ferocious attacks. We in favor of democracy have the duty to make the Constitution the symbol of our fight for liberty. 26 In der Tat schien der spanische Übergang geradezu vorbildlich vollzogen worden zu sein. Die im Jahr 1978 von Politik und Presse an den Tag gelegte Euphorie sowie die Überzeugung, mit der sie vom endgültigen Abschluss des Transitionsprozesses berichteten, ließ kaum Platz für Zweifel. Ein Blick in die Forschungswelt macht jedoch deutlich, dass weder in Bezug auf den Beginn noch hinsichtlich des Abschlusses der transición Einigkeit herrscht. Vielmehr scheinen der Tod Francos sowie das Inkrafttreten der neuen Verfassung heuristi‐ schen Wert zu haben, wenngleich die Wahl dieser Eckpunkte durchaus verständ‐ lich ist. 27 Entsprechend formuliert der Journalist und Literaturwissenschaftler 16 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="17"?> 28 Buckley, Ramón: „La doble transición“, in: Gracia García, Jordi/ Rico, Francisco (Hgg.), Historia y Crítica de la Literatura Española, Tomo 9, Los nuevos nombres. 1975-2000, Barcelona 2000, S.-69. 29 Vgl. Tezanos Tortajada, José Félix: „La crisis del franquismo y la transición democrática en España“, in: ders. u. a. (Hgg.), La Transición democrática española, Madrid 1989 (= Colección Politeia, 6), S.-9ff. 30 Vgl. Vilarós, Teresa M.: El mono del desencanto: Una crítica cultural de la transición española, 1973-1993, Madrid 1998, S.-1-21. Ramon Buckley: „[…] la transición española tiene límites vaporosos, y sobre el principio y el final del proceso hay disparidad de opiniones.“ 28 Aufgrund der einschneidenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse datiert Buckley selbst den Beginn der Transition auf das Jahr 1968. Nach Meinung der Historikerin Paloma Román Marugán wie auch des Politikers und Historikers Javier Tusell setzte der Übergangsprozess mit Francos Tod ein und endete mit dem symbolkräftigen Sieg der von Felipe Gonzalez angeführten Sozialistischen Partei (PSOE) im Jahr 1982. Der Sieg der antifran‐ quistischen Opposition kann insbesondere vor dem Hintergrund des ein Jahr zuvor abgewehrten Putschversuchs des franquistischen Generals Tejero als entschiedene Absage der Bevölkerung an die reaktionären politischen Kräfte des Landes verstanden werden. Der Versuch, den Demokratisierungsprozess durch einen Staatsstreich zu ersticken, hatte nicht nur vor Augen geführt, welche Gefahr noch immer von den extremen, die Einigungspolitik ablehnenden Kräften ausging, sondern hatte zudem zur Folge, dass die Rhetorik der Versöh‐ nung und des Konsenses den offiziellen Diskurs stärker denn je prägen sollte. Deutlicher als zuvor versuchte die politische Elite, ein Bild des Zusammenhalts zu vermitteln. 29 Der Abschluss der Transition wird des Weiteren an die Aufnahme Spaniens in die Europäische Gemeinschaft (EG) im Jahr 1986 und der damit verbun‐ denen Erfüllung des immer wieder betonten Wunsches nach Europäisierung gebunden, die im Falle Spaniens mit einer Überwindung des nationalen Rück‐ ständigkeitskomplexes, des sogenannten Tercermundismo, gleichgesetzt wurde. Die Kulturwissenschaftlerin Teresa Vilarós betrachtet diesen Europäisierungs‐ prozess jedoch erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht am 1. November 1993 als endgültig abgeschlossen, denn ab diesem Zeitpunkt war Spanien dazu angehalten, nationale Ambitionen vor der Folie der europäischen Idee zu denken. 30 Die unterschiedlichen Forschungspositionen belegen die Komplexität des postdiktatorischen Übergangsprozesses, der nur durch einen differenzierteren Blick Rechnung getragen werden kann. In der Folge soll deshalb von einer politisch-historiographischen und eine kulturwissenschaftlich-soziologische 1 La transición - Spaniens Weg in die Demokratie 17 <?page no="18"?> 31 Zweifelsohne ist vor dem Hintergrund dieser Trennung folgendem Ausspruch des UCD-Politikers Sánchez Terán zumindest aus politischer Warte zuzustimmen. Vgl. Sánchez-Terán, La transición: Síntesis y claves, S. 15: „Todos los protagonistas y estudiosos de la Transición […] coinciden en el contenido esencial de la misma: el paso pacífico de la Dictadura del General Franco a la Democracia instaurada por la Constitución de 1978.“ 32 Smith, Gary: „Ein normatives Niemandsland? Zwischen Gerechtigkeit und Versöh‐ nungspolitik in jungen Demokratien“, in: ders./ Margalit, Avishai (Hgg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Frankfurt a. M. 1997 (= Edition Suhrkamp, 2016), S.-14. Sichtweise ausgegangen und zwischen einer politischen und einer sozialen Transition unterschieden werden. Diese Differenzierung ist wegweisend für die vorliegende Studie, weil sie sich mit dem noch näher zu beleuchtenden, pa‐ radoxalen Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit des systemischen Vergessens und der Unabweisbarkeit individueller und sozialer Erinnerung in Beziehung setzen lässt. Zweifelsohne findet der Übergang zur Demokratie mit der Verabschiedung einer demokratischen Verfassung einen formalen Abschluss 31 , jedoch impliziert die rein technische Etablierung eines Rechtsstaates keineswegs, dass die in der Verfassung verankerten Werte- und Normvorstellungen unmittelbar in den zivilgesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen aufgehen. Vielmehr bildet die politisch-systemische Rahmung die Grundlage dafür, dass sich eine in den zu überwindenden Strukturen gewachsene Zivilbevölkerung überhaupt zu einer modernen, rechtsstaatlichen Gesellschaft entwickeln kann, denn erst die Achtung der bürgerlichen Grundrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Wahrung der Würde des Menschen ermöglichen die zivilgesellschaftliche Erlernung dessen, was aufgeklärte demokratische Rechtsstaatlichkeit bedeutet. Gary Smith unterstreicht die modellgebende Funktion der Jurisdiktion in diesem Zusammenhang: „Jede postautoritäre Justiz muß in ihrem Bemühen um einen Übergang in eine sittliche Gesellschaft versuchen, der noch jungen Demokratie Werte einzuprägen.“ 32 Es fällt deshalb mit Blick auf postdiktatorische Systeme schwer, die Inkraftsetzung einer demokratischen Verfassung - auch wenn dies die systemische Grundvoraussetzung darstellt - mit dem erfolgreichen Abschluss des Übergangsprozesses gleichzusetzen. 18 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="19"?> 33 Morán, El precio de la transición, S.-12f. 34 Rodrigo Rodrigo, Javier: „La Guerra Civil: Memoria, Olvido, Recuperación e Instrumen‐ tación“, in: Hispania Nova: Revista de Historia Contemporánea, 6 (2006), URL: http: / / his panianova.rediris.es/ 6/ dossier/ 6d025.pdf [12. Dezember 2017], S.-16. 2 Erinnern um des Vergessens willen - Spaniens Umgang mit der Vergangenheit Spaniens Weg in die Demokratie brachte es mit sich, dass die politische Verantwortung nach 1975 in den Händen derer lag, die wie Juan Carlos I oder Adolfo Suárez entweder selbst Emporkömmlinge des franquistischen Sys‐ tems waren oder zur clandestinen Opposition gehört hatten. Aus verfeindeten Lagern wurde also eine imaginierte Einheit geformt, die ihre ideologischen Dif‐ ferenzen zum Zwecke der systemischen Stabilisierung mithilfe einer Rhetorik des Konsenses und des Neubeginns diskursiv zu überspielen suchten. Gregorio Morán, dessen Monographie El precio de la transición eine kritische Analyse des Übergangsprozesses darstellt, verweist auf den erschwerenden Umstand, dass dem Systemwechsel kein radikaler Bruch vorausging, der eine eindeutige Positionierung zum Geschehenen ermöglicht hätte: La estabilidad del sistema democrático estaba vinculada […] a una serie de falsedades consensuadas. O lo que es lo mismo, una clase política de doble procedencia - de la dictadura y de la oposición ilegal - interpretaba que solo ellos podían darle estabilidad al nuevo régimen, porque dado que la sociedad no había sido la que formalmente forzara el cambio, no había más remedio que construirle un mundo político paradisíaco. Todo para la sociedad, pero sin ella. 33 Die Konsequenz der personellen Kontinuitäten sowie der diskursiven Kon‐ struktion von innenpolitischer und gesellschaftlicher Einheit implizierte ein Nicht-Erinnern dessen, was diese innenpolitische Einheit oder den europäischen Anschluss hätte gefährden können. Der spanische Historiker Javier Rodrigo stellt im Hinblick auf die diskursive Verdrängung des spanischen Bürgerkriegs sowie der Franco-Diktatur fest, dass die Jahre der transición durch eine defizitäre Vergangenheitspolitik charakterisiert sind: „No hubo, de tal modo, una política de la memoria en sentido positivo tal y como hoy la entendemos, de ‘rehabili‐ tación simbólica de las víctimas, reconocimiento público de su sufrimiento, construcción de monumentos y celebración de ceremonias‘.” 34 Die politische Anerkennung der begangenen Verbrechen und des Leids der Opfer in Form symbolischer Akte wäre jedoch laut dem Historiker Albrecht Graf von Kalnein angesichts der bis 1975 bestehenden asymmetrischen Kräfte‐ verhältnisse unerlässlich gewesen. 35 Er verweist auf die von Spanien verpasste 2 Erinnern um des Vergessens willen - Spaniens Umgang mit der Vergangenheit 19 <?page no="20"?> 35 Vgl. Kalnein, Albrecht Graf von: „Gedächtnis-Lücke. Bemerkungen zur Aufarbeitung der Franco-Diktatur in Spanien“, in: Assmann, Wolfgang/ ders. (Hgg.), Erinnerung und Gesellschaft. Formen der Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Berlin 2011, S. 181-194. Avishai Margalit betont, dass der Umgang mit der Vergangenheit unmittelbar mit der politischen Ausgangssituation der Übergangsregierung zu tun hat. „[…] nur ein totaler Sieg über das verbrecherische Regime, wie der Sieg der Alliierten über Deutschland, [ermöglicht] ein Richten über die Vergangenheit […]. In allen anderen Fällen schließt der [politische] Neuanfang notwendigerweise eine gewisse Kooperation mit den ehemals Regierenden ein. Das bedeutet, daß ein Neuanfang immer mit der Forderung nach dem Vergessen der Vergangenheit verbunden ist: Erinnern ist ein Hindernis auf dem Weg zu Versöhnung und Vergebung.“ Vgl. Margalit, Avishai: „Gedenken, Vergessen, Vergeben“, in: Smith, Gary/ ders. (Hgg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Frankfurt a.-M. 1997 (= Edition Suhrkamp, 2016), S.-193. 36 Assmann, Aleida: „Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft. Vier Modelle für den Umgang mit traumatischer Vergangenheit“, in: Assmann, Wolfgang/ Kalnein, Albrecht Graf von (Hgg.), Erinnerung und Gesellschaft. Formen der Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Berlin 2011, S.-35. 37 Assmann, „Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft“, S.-33. Chance, der gesellschaftlichen Spaltung mit der öffentlichen Aufarbeitung begangenen Unrechts zu begegnen. Diese Idee des transitorischen Erinnerns zum Zwecke der Überwindung bestehender Konfliktivität ist nach von Kalnein unverzichtbar, um eine soziale Veränderung herbeizuführen. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann unterstreicht in ihrem 2009 erschienenen Aufsatz mit dem Titel „Von kollektiver Gewalt zu gemeinsamer Zukunft“ die Wichtigkeit der öffentlichen Klärung und Anerkennung der Schuldfrage für die soziale Transition in postautoritären Systemen: In Post-Diktatur-Gesellschaften gelten die Anerkennung und Erinnerung an das Leid der Opfer als wichtiger Teil einer sozialen Umwandlung, die auf den politischen Systemwandel folgen muss. Mit anderen Worten: Der politische Transitionsprozess muss durch einen gesellschaftlichen Transformationsprozess ergänzt und vertieft werden. Innerhalb des neuen kulturellen Rahmens können Erinnerungspraktiken und -rituale einen Prozess der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Vergangenheit einleiten und damit zu deren Anerkennung sowie zur Versöhnung im Sinne einer Überwindung der trennenden traumatischen Geschichte führen. […] Das Ziel besteht vorrangig darin, die Gewaltgeschichte hinter sich zu bringen und hinter sich zu lassen, um eine gemeinsame Zukunft zu gewinnen. 36 Laut Aleida Assmann repräsentiert der offene Umgang mit schlimmen Gescheh‐ nissen eine Form der Vergangenheitspolitik, die insbesondere in „traumatisch gespaltenen Gesellschaften“ 37 zur Überwindung der Konflikte sowie zur not‐ wendigen Stärkung zivilgesellschaftlicher Einheit führen und erinnerungskul‐ turelle Ambivalenz und Spannung verhindern kann. Hervorzuheben ist, dass 20 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="21"?> 38 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S.-695. 39 Thomas Nagel äußerte sich sinngemäß auf einer Tagung des Aspen Instituts im Wye Woods Conference Center im Februar 1988. Zit. Nach Weschler, Lawrence: A Miracle, A Universe: Settling Accounts with Torturers, New York 1990, S.-4. 40 Der Verweis auf die in der „Phänomenologie des Geistes“ getätigte Differenzierung zwischen Begriff und Gegenstand hat weitreichende ethische Implikationen. Der Umgang mit schuldhaften Taten kann vor dieser Folie nur dann in ein Verzeihen münden, wenn die Bezeichnung bzw. Versprachlichung dieser Taten stattgefunden hat. Vgl. zur Differenzierung von Begriff und Gegenstand: Hegel, G.W.F: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988 (= Philosophische Bibliothek, 414), S.-71. Assmann die Bedeutung der öffentlichen Erinnerung für die soziale Transition betont, die sich in bestimmten Praktiken und Ritualen vollziehen und zur wichtigen Korrespondenz und Projektionsfläche individueller Leiderfahrungen werden kann. Auch der französische Philosoph Paul Ricœur, eine der Leitfiguren dieser Studie, spricht sich mit Blick auf Gesellschaften im Übergang dafür aus, beste‐ henden Dissens im öffentlichen Raum zuzulassen, da dieser ansonsten unter der Oberfläche der artifiziellen Einheit zu schwelen droht. Erinnerung werde durch ihre Verdrängung zur latenten Bedrohung für die Gegenwart. Ricœur betrachtet deshalb die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit als conditio sine qua non der gesellschaftlichen Transformation während des Übergangs von einer autoritären zu einer demokratischen Ordnung: Aber besteht nicht der Fehler dieser imaginären Einheit genau darin aus dem offizi‐ ellen Gedächtnis die Beispiele von Verbrechen, die die Zukunft vor den Irrtümern der Vergangenheit schützen könne, zu streichen, die öffentliche Meinung der Wohltaten des Dissenses zu berauben und so die konkurrierenden Gedächtnisse zu einem ungesunden Leben im Untergrund zu verdammen? 38 Dass die öffentliche Anerkennung des erfahrenen Leids nicht nur konstitutiv für zivile Versöhnung, sondern ebenso für die Etablierung eines Rechtsstaates ist, betont der amerikanische Philosoph Thomas Nagel, der in seinen ethischen Ab‐ handlungen der Allgemeingültigkeit moralischer Prinzipien auf den Grund geht. Nagel nimmt an, dass das, was geschah, nur dann vor den Augen aller geschah, wenn es offiziell anerkannt und damit Teil des öffentlichen Bewusstseins wird. 39 Eingang in das öffentliche Bewusstsein und damit in das kulturelle Gedächtnis erhalten Erfahrungen einzig und allein über Sprache und die darauf folgende mediale Fixierung dieser Erfahrungen. Das bedeutet, Anerkennung wird erst dann möglich, wenn Begriff und Gegenstand (bzw. Geschehenes) voneinander getrennt werden. 40 2 Erinnern um des Vergessens willen - Spaniens Umgang mit der Vergangenheit 21 <?page no="22"?> 41 Morán, El precio de la transición, S.-87. 42 Ricœur, Geschichte, Gedächtnis, Vergessen, S.-695. 43 Pérez Ledesma, Manuel, „Memoria de la guerra, olvido del franquismo”, in: Letra Internacional, 67 (2002), S.-34-39. 44 In seinen Studien zu Bürgerkrieg und Diktatur in der spanischen Geschichtswis‐ senschaft nimmt der galizische Historiker Xosé-Manoel Núñez die franquistische Geschichtsklitterung in Augenschein: „Während der Diktatur Francos wurde aus‐ schließlich der ‚Märtyrer‘ des ‚Kreuzzuges‘ gedacht - das heißt der Gefallenen des franquistischen Lagers, die für ‚Gott und Vaterland‘ ihr Leben geopfert hatten. Das franquistische Regime etablierte unter großen Anstrengungen eine ‚Erinnerungspo‐ litik‘, die eine Dämonisierung des Gegners und die Auslöschung der Erinnerung an die Zweite Republik zum Ziel hatte, um das ‚kollektive Gedächtnis‘ im Sinne der politischen Interessen des Regimes zu formen.“ Vgl. Núñez, Xosé-Manoel: „Ein endloser Statt begangene Verbrechen nachträglich juristisch zu verhandeln, optierten die Politiker der spanischen Transition für die Verabschiedung eines Amnestie‐ gesetzes, das den demokratischen Übergang konsolidieren sollte. Zwei Jahre nach Francos Tod verabschiedeten die cortes die Ley de Amnistía, durch das die Schuldfrage aus dem politischen Diskurs ausgenommen werden konnte. Das systemische Vergessen wurde auf diese Weise legitimiert, das politische Nicht-Erinnern des biographisch Erfahrenen hatte den Segen der Jurisdiktion erlangt, wodurch die Auseinandersetzung mit Schuld und Verbrechen nun nicht mehr nur als unvernünftig, sondern, unter Rekurs auf Justitia, nun ebenso als subversiv galt. „Había que garantizar que nadie pudiera utilizar el pasado para desentrañar el presente.“ 41 Das Gesetz amnestierte die Gewalttaten der unter‐ schiedlichen politischen Lager sowie der Sicherheitskräfte des Franco-Regimes, was zur Freilassung zahlreicher Strafgefangener führte, in der Hoffnung, diese würden sich entweder ihrer politischen Überzeugungen entledigt haben oder sie würden zumindest darauf verzichten, diese öffentlich zu propagieren. Dass ein solcher Rechtsakt durchaus Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit Vergangenheit hat, stellt Ricœur kritisch heraus: „Die Amnestie grenzt so nahe an die Amnesie und setzt das Verhältnis zur Vergangenheit außerhalb des Feldes an, in welchem die Problematik des Vergebens zusammen mit dem Dissens ihren richtigen Platz fände.“ 42 Dass eine Mehrheit der Spanier einen politischen und gesellschaftlichen Neuanfang ohne gegenseitige Schuldaufrechnung befürwortete, wohl aus Angst vor dem erneuten Aufflammen der Konflikte, arbeitet Manuel Pérez Ledesma in seinem Aufsatz „Memoria de la guerra, olvido del franquismo“ aus dem Jahr 2002 heraus. 43 Ein weiterer Grund für die bei einem Großteil der Bevölkerung fest‐ zustellende Akzeptanz des Ausbleibens erinnerungskultureller Bestrebungen könnte laut Walther L. Bernecker mit der starken Instrumentalisierung von Erinnerung während des Franquismus 44 zusammenhängen, die zu einer zuneh‐ 22 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="23"?> Erinnerungskrieg? Bürgerkrieg, Diktatur und Erinnerungsdiskurs in der jüngsten spanischen Geschichtswissenschaft“, in: Neue Politische Literatur, 55 (2010), S.-27. 45 Vgl. Bernecker, „Vergangenheitsdiskurse in Spanien zwischen Verdrängung und Pola‐ risierung“, S.-45ff. 46 Einer der bekanntesten Vertreter der spanischen movida, Pedro Almodóvar, insistierte darauf, dass es er a-politische Filme machen wolle (Vgl. hierzu Bernecker/ Brinkmann, Kampf der Erinnerungen, S. 277). Auf das Politische des bewusst Unpolitischen soll hier nur am Rande verwiesen werden. 47 Vgl. die genannten Bernecker 2006, 2008; Bernecker/ Collado Seidel 1993; Morán 1991; Vilarós 1998, Sevillano Calero 2003, Rodrigo 2006, Tusell Gómez 1993. Sowie: Núñez, Xosé-Manoel/ Stucki, Andreas: „Neueste Entwicklungen und Tendenzen der Postdiktatorischen Geschichtskultur in Spanien“, in: Troebst, Stefan (Hg.), Postdikta‐ torische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahmen und For‐ schungsperspektiven., Göttingen 2010 (= Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert), S. 205-224. Außerdem: Bernecker, Walther L.: „Spanischer Bürgerkrieg und Vergangenheitsbewältigung. Geschichtspolitik und Erinnerungsansprüche in der Demokratie 1975-2005“, in: UTOPIE kreativ, 191 (2006), S.-779-790. 48 Sevillano Calero, Francisco: „La construcción de la memoria y el olvido en la España democrática“, in: Ayer, 52 (2003), S.-299. 49 Sevillano Calero, „La construcción de la memoria y el olvido en la España democrática“, S.-304. menden politischen Indifferenz vor allem bei jüngeren Generationen geführt haben könnte. 45 Der Erfolg postmoderner Kulturbewegungen wie der movida im Spanien der 80er Jahre kann hier durchaus als Beleg für den Wunsch der jungen Generationen nach einer weitgehend politikfreien Szene verstanden werden, deren avantgardistische Attitüde sich nicht zuletzt über einen ideologischen Relativismus definierte. 46 Es verwundert angesichts dieser defizitären Vergangenheitspolitik, die au‐ genscheinlich von einem signifikanten Teil der Bevölkerung hingenommen wurde, nicht, dass im historiographischen Diskurs über die spanische Transition nicht selten von einem pacto de silencio die Rede ist, einem informellen “Schwei‐ gepakt“ zwischen politischer Elite, einzelnen Medienhäusern sowie der Bevöl‐ kerung 47 : La política de la memoria no ha reconstruido el pasado desde la verdad y el respeto de las diversas memorias colectivas que coexisten, sino desde la utilidad inmediata del olvido evasivo, que supone el silencio en la vida pública acerca de la guerra civil y, sobre todo, de la dictadura franquista. 48 [… ] Alberto Reig Tapia denunció el silencio y el olvido del pasado inmediato que, en su opinión, era consecuencia de un «consensus político» implícitamente acordado para favorecer el cambio no traumático en el país […]. 49 Y, en lo referido a las políticas hacia el pasado, la ausencia de algún tipo de cultura oficial del homenaje hacia esas y esos vencidos, o su presunto eclipse en los medios 2 Erinnern um des Vergessens willen - Spaniens Umgang mit der Vergangenheit 23 <?page no="24"?> 50 Rodrigo, „La Guerra Civil“, S.-21. 51 Vilarós, El mono del desencanto, S.-11. 52 Núñez, „Ein endloser Erinnerungskrieg? “, S.-27f. 53 Vgl. Juliá, Santos: Memoria de la guerra y del franquismo, Madrid 2006. 54 Xosé-Manoel Núñez betont, dass es in den Jahren 1976 und 1980 durchaus mediale Bezugnahme, Gedenkveranstaltungen sowie Forderungen nach Entschädigungen die schlimmen Erinnerungen in den öffentlichen Raum überführten (Vgl. Núñez, „Ein endloser Erinnerungskrieg? “, S. 28). In seinem Aufsatz „La construcción de la memoria y el olvido en la España democrática“ stellt Francisco Sevillano Calero die Bemühungen der Sociedad de Estudios de la Guerra Civil y del Franquismo (SEGUEF) heraus, die im Rahmen von Kongressen und durch wissenschaftliche Publikationen zur Erforschung des Bürgerkriegs sowie der Diktatur beitrugen. Nichtsdestotrotz schienen etliche Themenfelder gar keine Beachtung zu finden: , „[…] el tema de la memoria histórica del antifranquismo en la democracia continúa permaneciendo inédito en buena medida.“ Vgl. Sevillano Calero, „La construcción de la memoria y el olvido en la España democrática“, S.-304. de comunicación social, es juzgada como un reflejo consciente de un «pacto de olvido» y «pacto de silencio» de las elites políticas. Romperlo es lo que buscaría la “recuperación de la memoria”. 50 Que la táctica del consenso, de la reforma y del olvido funcionó en el caso español a la vista está. España pasó nítidamente de la dictadura a la democracia de un modo ciertamente ejemplar […]. Pero sí, hay que insistir, sin embargo, en la voluntad de olvido, quizás necesidad, que tuvieron los años de la transición […]. 51 In den Jahren der Übergangsphase zur Demokratie, der sogenannten transición - so eine etablierte These - habe zumindest implizit ein ‚Pakt des Schweigens‘ geherrscht, in dessen Folge eine öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit auf unbestimmte Zeit vertagt worden sei. […] Letztlich wurden der Bürgerkrieg und die Franco-Diktatur in den öffentlichen Debatten jahrelang verdrängt, und der politische ‚Konsens‘ während der transición beruhte auch auf dem Verlust der historischen Erinnerung. Die ‚Tabuisierung‘ der Vergangenheit im öffentlichen Raum war der unausgesprochene ‚Preis‘ für den größtenteils friedlichen Übergangsphase von der Diktatur zur Demokratie, er wurde somit auf Kosten der Opfer der Diktatur erreicht. 52 Diese Betrachtungsweise muss etwas differenziert werden. Denn bei dem Pakt handelte es sich nicht um das simple Beschweigen des Geschehenen, sondern vielmehr um eine bestimmte Form des Umgangs mit dem Geschehenen. Der Historiker Santos Juliá 53 weist darauf hin, dass die Vergessensrhetorik der Transition keineswegs mit einem praktizierten Ausblenden der Vergangenheit gleichgesetzt werden kann. 54 Tatsächlich redete und erinnerte die politische Öffentlichkeit unermüdlich, wenn auch mit dem Ziel, den Bürgerkrieg und seine Folgen von der politischen Debatte fernzuhalten. „Was heute wie ein Verzicht auf Erinnerung erscheinen mag, war der letztlich Versuch, die explosive Wir‐ 24 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="25"?> 55 Bernecker, Spanien-Handbuch, S.-245. 56 Vgl. Bernecker, „Vergangenheitsdiskurse in Spanien zwischen Verdrängung und Pola‐ risierung“, S.-245ff. 57 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses: Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, Frankfurt a.-M. 14 2014 (= Fischer Wissenschaft, 10083). 58 Vgl. Bernecker, Spanien-Handbuch, S.-261. 59 Desfor Edles, Symbol and ritual in the new Spain, S.-25. kungsmacht der Vergangenheit rhetorisch zu neutralisieren. Es handelte sich um ein Erinnern um des Vergessens willen.“ 55 Die vermeintliche Annäherung war somit eher Strategie der Distanzierung. 56 Die von Bernecker und Brinkmann beschriebene „Sternstunde der Fachhis‐ torie“, d. h. die von der politischen Elite initiierte Übertragung der Verantwor‐ tung für die Aufarbeitung und die Aufklärung der Vergangenheit in die Disziplin der Geschichtswissenschaften, erscheint vor diesem Hintergrund als Teil des politischen Kalküls interpretierbar zu sein. Unter Rekurs auf machttheoretische Überlegungen von Michel Foucault kann die Etablierung einer Disziplin nicht nur als Ordnungsgewinn, sondern ebenso als Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses angesehen werden. 57 Denn die Verwissenschaftlichung der Er‐ innerung durch die Historiographie ermöglicht nicht nur einen vermeintlich emotionsfreien Blick auf das Vergangene, sondern es reduziert aufgrund ihres memorialen Hoheitsrechts zudem die Wahrscheinlichkeit einer Thematisierung persönlicher Erlebnisse und individueller Schicksale in der öffentlichen Debatte. Die Instrumentalisierung der für jede Aufarbeitung essentiellen Beiträge der Historiker kann damit eine Degradierung individueller Erinnerung zur Folge haben, da diese im Gegensatz zur wissenschaftlichen Bewertung historischer Fakten doch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Auf diese Weise wird es im politischen Diskurs möglich, den empirischen Zugang zur Vergangenheit vor die affektbeladene Frage nach Schuld und Verantwortlich‐ keiten zu schieben. 58 Im Rahmen ihrer Medienanalyse zeigt die spanische Soziologin Laura Desfor Edles auf, dass es an öffentlicher Thematisierung der konfliktiven Vergangen‐ heit nicht mangelte. Allerdings dokumentiert sie eine im offiziellen Diskurs stattfindende Sakralisierung bestimmter Begriffe wie ‚consenso’, ‚reconcilia‐ ción’, ‚dialogo’, ‚compromiso’ oder ‚tolerancia’ sowie eine Profanisierung von Begriffen wie ‚Guerra Civil’, ‚dictadura’, ‚confrontación’, ‚intolerancia’, ‚extre‐ mismo’, ‚dogmatismo’: „[…] the sacred new beginning meant the putting behind of the old francoist era, and setting out on a new course for the future.“ 59 Vor diesem Hintergrund scheint es, als hätte die unter Franco vollzogene Instrumentalisierung der Vergangenheit mit dem Beginn des Demokratisie‐ 2 Erinnern um des Vergessens willen - Spaniens Umgang mit der Vergangenheit 25 <?page no="26"?> 60 Bernecker, Walther L.: „Beschweigen von Geschichte. Zur Vergangenheitsaufarbeitung in der spanischen Demokratie“, in: Reinhard, Wolfgang (Hg.), Krumme Touren. Anthro‐ pologie kommunikativer Umwege, Wien u.-a. 2007, S.-258. 61 Die Absenz der unmittelbare Vergangenheit im öffentlichen Raum stand Bemühungen gegenüber, ruhmreichere Kapitel der spanischen Historie hervorzuheben. Die zahlrei‐ chen Veranstaltungen rund um die 500-Jahrfeier der Entdeckung der Neuen Welt können hier als Beispiel herangeozogen werden. rungsprozesses kein Ende genommen. Im Unterschied zur franquistischen Erinnerungspolitik waren die Politiker der transición jedoch nicht auf den Erhalt von Feindbildern aus, sondern auf die Schaffung einer imaginären nationalen Einheit und Versöhnung. Diese Strategie war wider Erwarten nicht nur während der ausgehenden 1970er Jahre prägend. Auch der Wahlsieg der PSOE im Jahr 1982 ging keineswegs einher mit der zu erwartenden Auseinandersetzung mit dem Unrecht, unter dem nicht zuletzt diejenigen gelitten hatten, die dem linken politischen Spektrum angehört hatten oder immer noch angehörten: Über den Bürgerkrieg, noch mehr sogar über die ersten Jahre der Franco-Ära, legte sich zumindest im politischen Diskurs für längere Zeit eine Decke des gesellschaftlichen Schweigens; wahrscheinlich erachteten es die Demokratisierungsgenerationen nicht für ratsam, auf eine derart konfliktbeladene Epoche zurückzublicken. Auf dem Altar der Ausgleichsmentalität wurden auch jene Gedenkveranstaltungen geopfert, die viele von der Regierung 1986 bzw. 1989 oder auch 1996 erwartet hätten. Stattdessen lautete die offizielle, nach beiden Seiten einigermaßen abgesicherte Parole: „Nie wieder! “ 60 Einen Beleg für das in Spanien festzustellende Spannungsverhältnis zwischen der unauslöschlichen Präsenz des Erfahrenen auf biographischer Ebene und dem krampfhaften Versuch der politischen Zukunftsgerichtetheit liefert die offizielle Stellungnahme der sozialistischen Regierung zum 50. Jahrestag des Bürgerkriegsbeginns. Der Textauszug dient als Exempel für die beschriebene Strategie, Themen wie den Bürgerkrieg lediglich als rhetorischen Impulsgeber für einen Diskurs des Konsenses zu instrumentalisieren, ohne dabei die Bestre‐ bung intensiver Vergangenheitsaufarbeitung erkennen zu lassen. Am 18. Juli 1986 äußerte sich der spanische Präsident Felipe Gonzalez (PSOE) - nicht zuletzt aufgrund der wenige Monate später anstehenden Präsidentschaftswahlen - zur guerra civil. Dass nicht der Bürgerkrieg, sondern der Umgang mit dem Bürger‐ krieg bzw. das Leid der Kriegsopfer in das Feld öffentlicher Wahrnehmung zu rücken hätte, wird vom spanischen Präsidenten Felipe Gonzalez (PSOE) rhetorisch überspielt. 61 26 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="27"?> 62 Jiménez Piernas, Carlos: „Documentación sobre Política Exterior“, in: Revista de Estudios internacionales, 7/ 3 (1986), S.-979f. […] Una declaración gubernamental no es el lugar para analizar las causas de un acontecimiento de la magnitud de la Guerra Civil, ni para valorar las consecuencias que de ella se derivaron. El Gobierno quiere, sin embargo, llevar al ánimo de todos una doble convicción. Primero, que por su carácter fratricida, una guerra civil no es un acontecimiento a conmemorar, por más que para quienes la vivieron y sufrieron constituyera un episodio determinante en su propia trayectoria biográfica. Segundo, que la Guerra Civil española es definitivamente historia, parte de la memoria de los españoles y de su experiencia colectiva. Pero no tiene ya - ni debe tenerla - presencia viva en la realidad de un país cuya conciencia moral última se basa en los principios de la libertad y la tolerancia […]. El Gobierna expresa su convicción de que España ha demostrado reiteradamente su voluntad de olvidar las heridas abiertas en el cuerpo nacional por la guerra civil, su voluntad de vivir en un orden político basado en la tolerancia y la convivencia, en el que la memoria de la guerra sea, en todo caso, un estímulo a la Paz y el entendimiento entre todos los españoles. Para que nunca más, por ninguna razón, por ninguna causa vuelva el espectro de la guerra civil y el odio a recorrer nuestro país, a ensombrecer nuestra conciencia y a destruir nuestra libertad. Por todo ello el Gobierno expresa también su deseo de que el 50 aniversario de la guerra civil selle definitivamente la reconciliación de los españoles y su integración irreversible y permanente en el proyecto esperanzado que se inició a raíz del establecimiento de la democracia en la Monarquía encabezada por el Rey Don Juan Carlos, proyecto que fue recogido en la Constitución de 1978 y fue refrendado por el pueblo español para el que consagra definitivamente la Paz. 62 Erst Mitte der 1990er Jahre war seitens der Politik ein zunehmend offenerer Um‐ gang mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit auszumachen. Die Kritik an der Ausklammerung der Opfererinnerungen aus dem öffentlichen Bewusstsein war allerdings nicht später Einsicht geschuldet; vielmehr schien das plötzliche Erinnern genauso wie das vorherige Vergessen politisch motiviert zu sein. Vor den Wahlen im Jahr 1996 griffen die Sozialisten auf die im kommunikativen Gedächtnis präsenten Erinnerungen an Diktatur und Bürgerkrieg zurück, um Wählerstimmen zu generieren. Sie warnten, ein möglicher Wahlerfolg des konservativen Partido Popular wäre gleichbedeutend mit einer Wiederkehr des Franquismus. Das auf diese Weise neu entfachte Interesse an der Vergangenheit führte nun auch jüngere Generationen, die die letzten Jahre des Franquismus als Kinder oder Jugendliche erlebt hatten, an die Thematik heran. Die Enkel blickten mit zeitlichem und emotionalem Abstand auf das, was insbesondere die 2 Erinnern um des Vergessens willen - Spaniens Umgang mit der Vergangenheit 27 <?page no="28"?> 63 Vgl. Núñez, „Ein endloser Erinnerungskrieg? “, S.-30f. Großvätergeneration unmittelbar erlebt hatte und in Bälde nicht mehr erzählen können würde. 63 Vor diesem Hintergrund ist dem Historiker Santos Juliá zuzustimmen, wenn er die vereinfachende Annahme eines pacto de silencio ablehnt. Jedoch muss ebenfalls der Behauptung widersprochen werden, das Erinnern an den Bürger‐ krieg sowie an die Diktatur seitens der politischen Elite käme in den ersten beiden Jahrzehnten nach Francos Tod einer umfassenden und tiefgreifenden Vergangenheitspolitik gleich. Mit A. Reig Tapia ist vielmehr davon auszugehen, dass zumindest in den ersten beiden Dekaden der im offiziellen Diskurs durchaus festzustellende Rückgriff auf Bürgerkrieg und Diktatur eher auf die historisierende Distanzierung sowie die Festigung der zu konstruierenden nationalen Einheit abzielte. Bürgerkrieg und Diktatur gerieten zur rhetorischen Kontrastfolie, vor der dem Erreichten wie dem noch zu Erreichenden der Schein des Sakralen anzuheften schien. Die partielle Integration schlimmer Vergangen‐ heit in den offiziellen Diskurs diente somit eher ihrer Verdrängung als ihrer politisch-institutionellen Manifestierung. Selbst die von Santos Juliá angeführte Proliferation von Büchern über den Bürgerkrieg und den Franquismus während der Transition ist nicht gleichzusetzen mit der Objektivierung des subjektiven Leids in Form politisch-institutioneller Anerkennung und der Etablierung einer demokratischen Erinnerungskultur. Das Ausbleiben offizieller erinnerungskultureller Bestrebungen mündete, davon ist angesichts der zitierten Stellungnahmen auszugehen, in eine die spanische Transition kennzeichnende Aporie des Nicht-Erinnerns des Un-Ver‐ gesslichen, in eine erinnerungskulturelle Ambivalenz, die sich dadurch ergab, dass auf politisch-institutioneller Ebene keine Korrespondenz für das geschaffen wurde, was die Biographien der Individuen, die das System konstituierten, prägte. Der spanische Historiker Javier Tusell hebt die negativen Implikationen dieser Politik der desmemoria im Hinblick auf die während der transición festzustellende Verunsicherung bezüglich einer kollektiven spanischen Identität hervor. Diese identitäre Orientierungslosigkeit war nicht zuletzt darauf zurück‐ zuführen, dass das Geschehene keine Bestätigung in Form einer offiziellen Positionierung erfuhr: Hoy mismo los españoles no disponemos apenas de signos de identidad colectiva con los que podamos identificarnos como colectividad (…) Comprender a cada uno de los bandos en la guerra civil y también a unos y otros durante el régimen posterior es una obligación intelectual. El reproche sistemático y global de una tendencia a la otra con las armas del pasado no tiene nada de constructivo y sólo puede envenenar la 28 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="29"?> 64 Tusell, Javier: „El ocaso de la desmemoria“, in: El País, 27.06.1997, URL: https: / / elpais.c om/ diario/ 1997/ 06/ 27/ opinion/ 867362403_850215.html [12. Januar 2018]. 65 Vgl. Vilarós, El mono del desencanto, S.-13. 66 Die angesprochene Konfliktivität ergibt sich Paul Ricœur zufolge aus dem Umstand, dass es „keine historische Gemeinschaft [gibt], die nicht aus einer Beziehung entstanden wäre, die man ohne zögern mit dem Krieg vergleichen kann. Was wir als Gründungs‐ ereignisse feiern, sind im Wesentlichen Gewalttaten, die im Nachhinein durch einen prekären Rechtszustand legitimiert wurden. Was für die einen Ruhm bedeutet, war für die anderen Erniedrigung. Der Feier auf der einen Seite entspricht Abscheu auf der anderen. Auf diese Weise werden in den Archiven des kollektiven Gedächtnisses symbolische Verletzungen gespeichert, die nach Heilung rufen. Genauer gesagt: Was in der historischen Erfahrung als Paradox erscheint, nämlich ein Zuviel an Gedächtnis hier und ein Zuwenig an Gedächtnis dort, lässt sich in Begriffen des Widerstand, des Wiederholungszwangs reinterpretieren und wird schließlich der Prüfung durch die schwierige Arbeit des Erinnerns unterzogen.“ Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, convivencia presente. Pero la pretensión de que es indiferente lo que se hizo en el pasado o de que todos fueron iguales resulta por completo injustificable. 64 Tusells Behauptung, der Gedächtnisverlust verhinderte die Überwindung so‐ zialer Gräben und vergiftete das Zusammenleben der spanischen Bevölkerung, wird von Teresa M. Vilarós’ Annahme gestützt, der zufolge die Jahre nach Francos Tod von Euphorie und Enttäuschung gleichermaßen geprägt waren. Die neu erworbene Freiheit implizierte nämlich eine durch diskursive Ausschlie‐ ßungsmechanismen bedingte Un-Freiheit, die solange Bestand haben würde, wie das Unterdrückte selbst. 65 3 Zum Konflikt zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang in postdiktatorischen Übergangsgesellschaften Postdiktatorische Übergangsgesellschaften scheinen sich durch eine Aporie zu charakterisieren, die sich in der Unvereinbarkeit politischer Konsolidierung und der gleichzeitigen Überwindung ziviler Konfliktpotentiale konkretisiert. Denn während die auf systemische Stabilisierung abzielenden Politiker des Übergangs den Blick zurück vermeiden, haben zivilgesellschaftliche Grabenkämpfe ihren Ursprung in der Vergangenheit und überdauern systemische Veränderungen. Während also die Lenker der politischen Transition die Erinnerung an Diktatur und/ oder Bürgerkrieg als destabilisierend für den Demokratisierungsprozess wahrnehmen, bedarf es hinsichtlich der sozialen Transition der Thematisierung der Anfänge ziviler Konflikte, um diese zu überwinden. 66 Folglich scheint es 3 Zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang 29 <?page no="30"?> Vergessen, S. 128f. Vgl. zu dieser Thematik ebenso Derrida, Jacques: Mal d’Archive - Une impression freudienne, Paris 1995. 67 Adorno, Theodor W. „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“, in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.-M. 1963, S.-125f. im Hinblick auf einen Ausweg aus dem autoritären oder totalitären System in Richtung Demokratie zwei mögliche Formen des vergangenheitspolitischen Agierens zu geben: das bewusste Ausklammern bestimmter Erinnerungsin‐ halte aus dem offiziellen politischen Diskurs zum Zwecke der systemischen Stabilisierung oder die Aufarbeitung des Geschehenen auf die Gefahr hin, zivilgesellschaftliche Konflikte neu zu befeuern und auf diese Weise den po‐ litischen Konsolidierungsprozess zu gefährden. Welcher Weg eingeschlagen wird, hängt zweifelsohne von Faktoren wie der Schwere des Geschehenen, personaler Kontinuität im politisch-administrativen Apparat, den Motiven des Systemübergangs, gegenwärtiger politischer Stabilität etc. ab. Dabei scheint zu gelten: Je schwerwiegender die begangenen Taten sind, desto heftiger prallt der politisch-systemische Wunsch des Vergessens auf die moralische Pflicht des Erinnerns. Theodor W. Adorno lieferte in seinem im Jahr 1959 gehaltenen Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“, der als Aufforderung zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland zu verstehen ist, wohl eine der präzisesten Beschreibungen des unauflöslichen Spannungsverhältnisses zwischen den Polen des Vergessens und des Erinnerns: Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern. 67 Das „Gespenst dessen, was so monströs war“, überdauert den systemischen Neubeginn und konfrontiert das geschichtslose Handeln stets mit dem fauligen Grund, auf dem sich dieses Handeln vollzieht. In seinem Aufsatz „Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbe‐ wusstsein“ formulierte der deutsche Philosoph Hermann Lübbe eine Fragestel‐ lung, die sich zum politisch-kulturellen Paradigma bezüglich des Umgangs mit der traumatischen NS-Vergangenheit in der BRD entwickeln sollte. Der im Jahr 1983 anlässlich des 50.-Jahrestags der nationalsozialistischen Machtübernahme 30 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="31"?> 68 Lübbe, Hermann: „Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein“, in: Historische Zeitschrift, 236 (1983), S.-585. 69 Lübbe, „Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein“, S.-585. 70 Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik: die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergan‐ genheit, München 1996, S.-8. 71 Vgl. Kenkmann, Alfons/ Zimmer, Hasko (Hgg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen 2006. Mit Blick auf die Aufarbeitung der Verbrechen des südafrikanischen Apartheidsregimes formuliert Gunnar Theissen: „Häufig sind die Konfliktparteien nur dann bereit, einem Friedensschluss oder der Abgabe ihrer Macht an demokratische Kräfte zuzustimmen, wenn ihre eigenen Verbrechen unangetastet bleiben“; vgl. Theißen, Gunnar: „Chancen und Grenzen von Wahrheitskommissionen“, entstandene Text befasst sich mit dem paradoxalen Nicht-Thematisieren des Omnipräsenten, dem Nicht-Sagen des endlich Sagbaren. Die Fragestellung lautet: „Wie erklärt es sich, dass […] im Schutz öffentlich wiederhergestellter, normativer Normalität das deutsche Volk zum Nationalsozialismus in tempo‐ raler Nähe zu ihm stiller war als in späteren Jahren unserer Nachkriegsge‐ schichte? “ 68 Dieses von Lübbe als ‚kommunikatives Beschweigen’ benannte Phänomen wird von ihm keineswegs als simpler Verdrängungsprozess beschrieben, son‐ dern vielmehr als sozialpsychologisch notwendiges Ausklammern des Uner‐ träglichen zum Zwecke der „Verwandlung unserer Republik in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland.“ 69 Die Paradoxie des von Lübbe kreierten Ausspruchs besteht in der Kommuniziertheit des Nicht-Kommunizierens, wie sie sowohl im privaten als auch im institutionellen Bereich angenommen werden kann. Für das, was Lübbe „Nicht-Erinnern um der Demokratie willen“ nennt, findet der Zeithistoriker Norbert Frei unmissverständliche Worte: „Spä‐ testens seit Anfang der achtziger Jahre […] bestand in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ein breiter Konsens über die Auffassung, vor allem in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten sei die NS-Vergangenheit weitgehend verdrängt worden.“ 70 Dass die politischen Protagonisten der Transitionsgesellschaften der politi‐ schen Konsolidierung Priorität vor der nachhaltigen Überwindung sozialer Konfliktivität und der damit einhergehenden Aufarbeitung der Vergangenheit einräumen, verdeutlichen die Historiker Alfons Kenkmann und Hasko Zimmer in ihrem 2006 erschienenen Sammelband Nach Kriegen und Diktaturen. Die Konstituierung demokratischer Rechtsstaatlichkeit geht in den ersten Jahren nach dem Ende eines autoritären Systems häufig weder mit einer Beschäftigung mit den Schicksalen der Opfer noch mit einer flächendeckenden juristischen Verfolgung der Täter einher. 71 Mit Blick auf die demokratischen Gesellschaften, 3 Zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang 31 <?page no="32"?> in: Kenkmann/ Zimmer, Nach Kriegen und Diktaturen, S. 49. Ruth Fuchs und Detlef Nolte stellen fest, dass sowohl in Chile als auch in Argentinien „die Aufarbeitung der traumatisierenden Menschenrechtsverbrechen noch längst nicht abgeschlossen“ ist; vgl. Fuchs, Ruth/ Nolte, Detlef: „Die Aufarbeitung von Regimeverbrechen und der Demokratisierungsprozess in Lateinamerika. Argentinien und Chile in vergleichender Perspektive“, in: Kenkmann/ Zimmer, Nach Kriegen und Diktaturen, S.-31. 72 Simon, Dieter: „Verordnetes Vergessen“, in: Smith/ Margalit, Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, S.-37. 73 Simon, „Verordnetes Vergessen“, S.-35. 74 Zum Begriff der ‚Stunde Null’ äußerte sich ausführlich. In seinem Aufsatz „Gab es eine Stunde Null? “ stellt der Historiker Hans Günther Hockerts die vermeintliche ‚Stunde Null’ in Frage. Vgl. Hockerts, Hans Günther: „Gab es eine Stunde Null? Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Deutschland nach der bedingungslosen Kapitulation”, in: Grimm, Stefan/ Zirbs, Wieland, Nachkriegszeiten. Die Stunde Null als Realität und Mythos in der deutschen Geschichte (= Dialog Schule - -Wissenschaft. Deutsch und Geschichte), München 1996, S.-119-156. die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts aus autoritären Regimen entwickelten, stellt Richard J. Goldstone fest: „In manchen Fällen stellte sich die Frage, ob gar die Stabilität der neuen und noch zerbrechlichen Demokratie durch das Bestreben, die Vergangenheit öffentlich zu dokumentieren und sich ihr zu stellen, bedroht war.“ 72 Während ein System gewissermaßen über den “Vorteil“ der Geschichtsver‐ gessenheit verfügen kann und als manifest gewordene Reaktion auf das Über‐ wundene zukunftsgerichtet ist, ist das Individuum stets das, wozu es wurde. Personale Identität ist das Ergebnis der Biographie, die zwar verdrängt oder abgelehnt, aber niemals gelöscht werden kann. Oder wie es Dieter Simon in seinem Aufsatz „Verordnetes Vergessen“ formuliert: „[…] außerhalb unserer Erinnerung sind wir nicht.“ 73 Wo also die Politik des Schlussstrichs ( Juan Carlos: „Hoy empieza una nueva etapa en la historia de España.“) zum Heilmittel einer Übergangsgesellschaft wird, wo eine Grenze zwischen Gegenwart und Vergan‐ genheit gezogen und im öffentlichen Diskurs zumindest vorläufig eine bewusste Trennung von all dem markiert wird, was vor einer vermeintlichen 'Stunde Null' lag, 74 dort wird den leidvollen Erfahrungen derjenigen, die kriegerische Auseinandersetzung und diktatorische Repression miterlebt haben, der Zugang ins öffentliche Bewusstsein verwehrt und die politische Transition der sozialen Transformation der Gesellschaft vorangestellt. Das Ausbleiben staatlich initiierter, erinnerungskultureller Maßnahmen bringt es in diesem Fall mit sich, dass die Erinnerungen im Bereich der Subjekte verortet bleiben müssen. Die Aussetzung der nachträglichen Wiederherstellung von Gerechtigkeit durch die Anerkennung des Geschehenen und die Positionie‐ rung zur Schuldfrage scheint in manchen Fällen durch ein kollektives Streben 32 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="33"?> 75 In seinem Aufsatz „Menschen: Reste, Zeugnisse und Spuren. Ricœurs Spätwerk Ge‐ dächtnis, Geschichte, Vergessen mit und gegen Foucault gelesen“ nennt Burkhard Liebsch diesen Umgang mit dem schweren Erbe der Vergangenheit einen „klinischen“ und auf die „politisch-historische Gesundheit“ abzielenden Mechanismus. Vgl. Liebsch, Burkhard: „Menschen: Reste, Zeugnisse und Spuren. Ricœurs Spätwerk ‚Gedächtnis, Geschichte, Vergessen’ mit und gegen Foucault gelesen“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58/ 4 (2010), S.-538. 76 Vogt, Jürgen: Erinnerung ist unsere Aufgabe, Opladen 1991, S.-7. 77 Vgl. Rürup, Reinhard u. a. (Hgg.): Der lange Schatten des Nationalsozialismus : Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Göttingen 2014, S. 18: „Zu den typischen Merkmalen einer modernen Diktatur gehören: die Ausschaltung konkurrierender politischer Organisa‐ tionen; die Unterdrückung und Verfolgung der Opposition; das Fehlen einer Gewalteinteilung; die Ausschaltung einer Öffentlichkeit, die die Macht kontrollieren könnte; die Aufhebung des Rechts‐ staates und die Ausbildung eines Polizeistaates; die Nicht-Anerkennung eines gesellschaftlichen Plu‐ ralismus; die nach systemischer Ordnung gerechtfertigt zu werden. Die Konstruktion eines angestrebten Rechtsstaates stützt sich dann paradoxerweise auf die Absenz der diesen Staat doch eigentlich konstituierenden Grundüberzeugungen. 75 Das Er‐ gebnis ist, so Jürgen Vogt in Anlehnung an Theodor W. Adornos Überlegungen zur Aufarbeitung deutscher NS-Vergangenheit und am Beispiel des unmittel‐ baren deutschen Erinnerungsdiskurses nach 1945, die latente Anwesenheit des Abwesenden in der jungen Demokratie: „Daß die massive Abwehr der peinlichen und peinigenden Erinnerung, die Leugnung eigener Mitschuld nicht nur das Verhalten vieler Menschen, sondern auch das Klima von Öffentlichkeit, Politik, Justiz dominiert hat, dürfte allen noch gegenwärtig sein, die […] die fünfziger Jahre bewußt erlebt haben.“ 76 Die entstehende Diskrepanz zwischen der systemischen Möglichkeit des Vergessens und der menschlichen Unabweisbarkeit des Erinnerns erzeugt ein Spannungsverhältnis, das in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bzw. einer Anwesenheit des Abwesenden aufzugehen und damit ein paradoxales Grundmuster aufzuweisen scheint. Trotz der Unmöglichkeit einer schablonen‐ haften Analyse kann davon ausgegangen werden, dass die aus repressiven Re‐ gimen hervorgehenden sich demokratisierenden Transitionsgesellschaften ein gemeinsames Schicksal teilen, denn sie alle müssen die Säulen der Demokratie auf einem Grund errichten, der gepflastert ist von zivilgesellschaftlicher und politischer Konfliktivität, staatlicher Willkür, Ungerechtigkeit, Einschränkung und Verletzung der Menschenrechte, Repression und Verfolgung, Gewalt o.ä., ganz gleich in welchem Ausmaß. 77 Der Historiker Reinhard Rürup verweist 3 Zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang 33 <?page no="34"?> möglichst weitgehende Kontrolle der Gesellschaft durch die Bürokratie.“ 78 Vgl. Rürup, Der lange Schatten des Nationalsozialismus, S.-18ff. 79 Vilarós, El mono del desencanto, S.-5. 80 Rürup, Der lange Schatten des Nationalsozialismus, S.-21. 81 Meier, Christian: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns: Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010, S.-13. auf den Umstand, dass keine Diktatur ohne den Einsatz von Gewalt und Terror auskommt, selbst wenn sich die Machthaber mitunter auf eine breite Zustimmung der Bevölkerung - die sich meist aus der Ablehnung vorheriger Verhältnisse ergibt - stützen können. 78 Entsprechend bedeutet für Teresa M. Vilarós der Tod Francisco Francos das Ende „de un régimen autoritario y represivo, el fin de la tiranía, de la censura social, ideológica y política […].“ 79 Um das im Rahmen einer Diktatur - von Rürup allgemein als „Willkür- und Gewaltherrschaft“ 80 definiert - begangene Unrecht im Hinblick auf das hier zugrunde liegende gedächtnistheoretische Forschungsinteresse terminologisch zu fassen, soll daher zunächst auf den von Christian Meier formulierten, weitgefassten Begriff der ‚schlimmen Erinnerung’ rekurriert werden. Der Alt‐ historiker verwendet diesen Terminus in seinen unter dem Titel Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns (2010) veröffentlichten, komparatistisch angelegten Studien zum öffentlichen Umgang mit kriegerischer oder diktatorischer Vergangenheit: Schlimmes - dieses Wort soll hier und im folgenden ganz formal gebraucht werden: das heißt unabhängig vom absoluten Ausmaß und der Qualität dessen, was jeweils angerichtet worden ist. Die willkürliche Tötung einiger hundert Griechen [unter der Herrschaft der „dreißig Tyrannen“ in Athen in den Jahren 404/ 403 v. Chr., D. H.] soll also ebenso darunter fallen wie der weitgehend fabrikmäßige Mord an 6 Millionen Juden im Zeiten Weltkrieg. Wichtig ist nur, daß es um den Umgang mit sehr störender, zu schaffen machender Erinnerung gehen soll, und zwar für das Gemeinwesen. Die Frage ist, wie die [sic] damit fertig werden. 81 Entscheidend ist die Feststellung, dass es sich um stark konfliktive Erinne‐ rungsinhalte handelt, die das zivilgesellschaftliche Zusammenleben in der Demokratie aufgrund ihrer nicht schwindenden Bedrängnis für die Gegenwart nachhaltig negativ beeinflussen können. Die von Meier hervorgehobene Be‐ einträchtigung der gegenwärtigen zivilen Gemeinschaft rückt den Begriff der ‚schlimmen Erinnerung’ in die Nähe des pathologischen Trauma-Begriffs. Der Etymologie entsprechend manifestiert sich das Trauma, das traumatisierende Nicht-Mehr-Seiende, als gegenwärtige Wunde für das Individuum, was die zeitliche Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit unter der Last des 34 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="35"?> 82 Ehlert-Balzer, Martin: „Trauma“, in: Mertens, Wolfgang (Hg.), Handbuch psychoanaly‐ tischer Grundbegriffe, Stuttgart 4 2014, S.-962. 83 Kriegs- oder Diktaturerfahrungen gelten in der Psychoanalyse als sog. “echte“ Trau‐ mata. Diese müssen von den im Alltag immer wieder auftretenden kleinen traumati‐ schen Erlebnissen differenziert werden. Vgl. hierzu: List, Eveline: Psychoanalyse, Wien 2009, S.-113. 84 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-128. 85 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-128. 86 Rürup, Der lange Schatten des Nationalsozialismus, S.-31. Erlebten zusammenbrechen lässt. Die Gegenwärtigkeit des Vergangenen ist es, welche den Trauma-Begriff für die Textanalysen in dieser Studie noch besonders brauchbar werden lässt. Ein Trauma bezeichnet „ein Erlebnis, das von solcher Intensität ist, dass es die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten des Betroffenen überschreitet“ und dadurch „Angst, Schrecken und völlige Hilflo‐ sigkeit“ 82 in der Gegenwart auslösen kann. Zweifelsohne können Erfahrungen, die während eines Krieges oder unter einem repressiven Regime gemacht wurden, traumatisierend wirken. 83 Unter Rekurs auf Ausführungen des Psychoanalytikers Sigmund Freud recht‐ fertigt Paul Ricœur die Übertragung des der Psychoanalyse entstammenden Trauma-Begriffs auf Kollektive. Grundlage ist für ihn die unauflösliche Inter‐ dependenz individueller und kollektiver Identität, aus der die Möglichkeit der Anwendung pathologischer Kategorien auf die historisch-gesellschaftlicher Ebene erwächst: „Es ist die Bipolarität von persönlicher und gemeinschaftlicher Identität, die letzten Endes die Ausweitung der Freudschen Analyse der Trauer auf das Trauma der kollektiven Identität rechtfertigt.“ 84 Wie von individuellen Traumata ließe sich gemäß Ricœurs Überlegungen demnach von „kollektiven Traumen oder Verletzungen“ 85 sprechen. Führt man diesen Gedanken weiter, so wäre zudem die Rede von der “Erkrankung des kollektiven Gedächtnisses“ möglich, dessen pathologisches Leiden das Resultat einer schlimmen Vergan‐ genheit ist, die von den das Kollektiv konstituierenden Individuen unmittelbar oder mittelbar erlebt und nicht überwunden wurde. Dem inneren Konflikt auf der Ebene des Individuums entspräche das konfliktive Zusammenleben auf der Ebene des Kollektivs. Mit Blick auf die europäische Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts stellt Rürup heraus, dass die wie auch immer gearteten Bemühungen, diese traumatischen Erlebnisse zu übergehen, zum Scheitern verurteilt sind: „Die Diktaturerfahrungen, insbesondere die Erfahrungen der totalitären Regime, sind so tiefgreifend, ja so existentiell, dass sie sich nicht einfach abstreifen lassen“ 86 , weder vom Individuum und noch von Kollektiven. Die Frage nach dem „Wer? “ der Erinnerung war bis in die Moderne eine beinahe ausschließlich individualpsychologische und erfuhr erst durch die 3 Zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang 35 <?page no="36"?> 87 Vgl. hierzu Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einfüh‐ rung, Stuttgart 2011, S. 9. Die theoretische Auseinandersetzung mit den komplexen Konzepten Erinnerung und Gedächtnis als individualpsychologische Phänomene rei‐ chen bis in die Antike zurück und wurden unter Ausklammerung der sozialer Ge‐ dächtnistheorien bis weit ins 20. Jahrhundert vertreten. Die Gedächtnismetaphorik Platons (Wachstafel) oder Aristoteles’ (Siegel) lieferte erste Denkmodelle. Weitere wichtige Beiträge, die sich mit dem Ort sowie der Funktionsweise des Gedächtnisses beschäftigen, kamen u.a von Aurelius Augustinus, Giordano Bruno, Michel de Mon‐ taigne, John Locke, David Hume, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Sigmund Freud, Edmund Husserl, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann. Diese Auflistung kann angesichts der Unüberschaubarkeit der Gedächtnisforschung selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. 88 Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S.-17. sozial-konstruktivistischen Theorien des kollektiven Gedächtnisses, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom französischen Soziologen Maurice Halbwachs formuliert und durch den Ägyptologen Jan Assmann sowie die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann für kulturwissenschaftliche Unter‐ suchungen brauchbar gemacht wurden, eine konzeptionelle Erweiterung. 87 In Les cadres sociaux de la mémoire (1925), La topographie légendaire des évangiles en terre sainte. Étude de mémoire collective (1941) und in den im Nachlass La mé‐ moire collective (1950) zusammengefassten Studien richtet sich der französische Soziologen Maurice Halbwachs gegen Gedächtnistheorien, die das Erinnern als einen rein individualpsychologischen Vorgang ansahen. Mit der Öffnung der Gedächtnistheorie für das Kollektiv überwindet er gewissermaßen den Subjekti‐ vismus seines Lehrers Henri Bergson und markierte damit gleichermaßen einen Forschungsschwerpunkt, der sich von den Theorien seines Zeitgenossen Sig‐ mund Freud unterschied. Jede persönliche Erinnerung, so Halbwachs’ durchaus radikale Annahme, sei von sozialen Bezugsrahmen (les cadres sociaux) bedingt und durch Interaktion und Kommunikation geprägt. Astrid Erll zufolge bilden diese Bezugsrahmen „den umfassenden, sich aus der materialen, mentalen und sozialen Dimension kultureller Formationen konstituierenden Horizont, in den unsere Wahrnehmung und Erinnerung eingebettet ist.“ 88 Halbwachs' Leistung lag in der Zuordnung von Gedächtnis und sozialer Gruppe. Genauso wie Individuen bewohnen auch Gruppen ihre Vergangenheit und formen daraus 36 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="37"?> 89 Jan Assmann beschreibt den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Gruppen-Iden‐ tität in seinem Werk Das kulturelle Gedächtnis wie folgt: „Was einzelne Individuen zu einem […] Wir zusammenbindet, ist die konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbilds, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte, zum anderem auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt” (S.-16-17). 90 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis , , S.-42. 91 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-50. 92 Diese Bezeichnung geht auf den Ethnologen Jan Vansina zurück. Assmann übernimmt den Begriff, um den Zeitraum zu benennen, der zwischen den Gedächtnisrahmen klafft. Vgl. Vansina, Jan: Oral Tradition as History, 1985. ihre Gruppen-Identität. 89 Dabei verfahren sie selektiv, konstruktiv und stets in Abhängigkeit von gegenwärtigen Bedürfnissen. 90 An Halbwachs anknüpfend setzten sich Aleida und Jan Assmann intensiv mit der Unterscheidung zwischen vom Subjekt kommunizierter und institutionali‐ sierter Erinnerung, d. h. Erinnerung, die nicht mehr an Subjekte gebunden ist, auseinander und erweiterten die Gedächtnistheorie Halbwachs' zu einer Kul‐ turtheorie. Die Assmanns führten in ihrem 1988 publizierten Aufsatz „Schrift, Tradition, Kultur“ zwei Gedächtnisrahmen ein, die sie „kommunikatives“ und „kulturelles Gedächtnis“ nannten. Das kommunikative Gedächtnis entspricht dabei im Grunde dem, was Halbwachs unter mémoire collective verstand: Das kommunikative Gedächtnis umfaßt Erinnerungen, die sich auf die rezente Ver‐ gangenheit beziehen. Es sind Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis. 91 Dieser von Jan Assmann beschriebene Gedächtnishorizont umfasst drei bis vier Generationen bzw. ca. 80 Jahre. Im Anschluss daran entsteht eine Lücke, das sog. floating gap, ehe bestimmte Erinnerungen an neue, symbolische, objektive Träger geheftet werden können. 92 Diese symbolischen Träger bzw. Medien fungieren schließlich als Träger des kulturellen Gedächtnisses: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren >Pflege< sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt. 93 3 Zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang 37 <?page no="38"?> 93 Assmann, Jan: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: Assmann, Jan/ Hölscher, Tonio, Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.-M. 1988, S.-15. 94 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S.-28. 95 Die Bibel als Urtext der Kultur des christlichen Abendlandes gilt wohl als das promi‐ nenteste Beispiel dafür, dass die Identität stiftende Wirkung gemeinsamer Erinnerung nicht am Grad der Faktizität des Erinnerten zu messen ist. Vgl. hierzu Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 52: „Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird.“ 96 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-51. 97 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 51f. Auch Astrid Erll weist explizit auf die Problematik der zeitlichen Differenzierung hin. Vgl. hierzu Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2011, 128ff. Das kulturelle Gedächtnis wirkt aufgrund seiner normativen und formativen Kraft als Identität und Einheit stiftend für große Gemeinschaften und kann sowohl auf faktischer Vergangenheit als auch auf Mythen basieren; entschei‐ dend ist demnach nicht die Wahrhaftigkeit des Geschehenen, sondern vielmehr der fundierende Wert des Erinnerten für die dauerhafte kulturelle Stabilisie‐ rung einer Gemeinschaft; Assmann spricht in diesem Zusammenhang von Identitätskonkretheit. 94 Als symbolische, objektivierte Träger bzw. Medien des kulturellen Gedächtnisses können somit Zeichensysteme aller Art in Frage kommen, solange sie mnemotechnische Funktion erfüllen, d. h. Erinnerung und Identität stützen. 95 Ein historisches Dokument kann demnach ebenso als Erinnerungsort dienen wie ein Roman oder ein Dramentext. Jan Assmann relativiert die scheinbar klare zeitliche Trennung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, wenn er sagt, dass es sich bei den beiden Gedächtnisrahmen um „zwei Modi des Erinnerns“ handelt, „die man zunächst sorgfältig unterscheiden muß, auch wenn sie in der Realität einer geschichtlichen Kultur sich vielfältig durchdringen.“ 96 Entscheidender als die Frage nach dem zeitlichen Abstand zum Erinnerten ist demnach die Frage nach dem Modus des Erinnerns, dem modus memorandi bzw. der Art der Rezeption. Wirkt die Erinnerung an ein Ereignis für größere Gruppen „fundierend“, d. h. hat sie weitreichende Bedeutung für das kulturelle Selbstbild, oder ist sie nur von biographischem Interesse? 97 Beides kann der Fall sein. Der Zweite Weltkrieg stellt ein Ereignis dar, welches sowohl im Modus des kommunikativen Gedächtnisses, beispielsweise im Gespräch mit den Großeltern, als auch im fundierenden Modus des kulturellen Gedächtnisses erinnert wird, z. B. durch das Berliner Shoa-Mahnmal oder offizielle Gedenkakte. Wenn an dieser Stelle von der Einheit stiftenden Funktion der fundierenden Erinnerung gesprochen wird, so impliziert dies jedoch keinesfalls, dass die Vergangenheitsbezüge großer Kollektive stets homogenen und einmütig aus‐ 38 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="39"?> 98 Sandl, Marcus: „Historizität der Erinnerung/ Reflexivität des Historischen. Die Heraus‐ forderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnis‐ forschung“, in: Oesterle, Günter (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005 (= FdE 26), S.-100. 99 Vgl. Simon, „Verordnetes Vergessen“, S.-37. fallen. Stattdessen ist von einer „Pluralität von Vergangenheitsbezügen, die sich nicht nur diachron in unterschiedlichen Ausgestaltungen des kulturellen Gedächtnisses manifestiert, sondern auch synchron in verschiedenen Modi der Konstitution der Erinnerung, die komplementäre ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf Interaktion wie auf Distanz- und Speichermedien beruhende Entwürfe beinhalten können.“ 98 Wo liegt nun der Keim für die für Postdiktaturen potentiell anzunehmende, erinnerungskulturelle Ambivalenz, die in den hiesigen Ausführungen als Paradoxie der Anwesenheit des Abwesenden bzw. des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen verstanden wird? Der Ursprung des memorialen Konflikts liegt in den unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen der erinnernden Instanzen zum Zeitpunkt der Transition, oder, um mit Halbwachs zu sprechen, in den cadres sociaux begründet. Ohne das Risiko eines allzu vereinfachenden Blicks einzugehen, lässt sich behaupten, dass sich Übergangsgesellschaften, die den Ausgang aus einem autoritären System vollziehen und den Weg in die demokratische Rechtsstaatlichkeit einschlagen, vor der Herausforderung der scheinbaren Unvereinbarkeit zwischen politischen und sozialen Bedürfnissen und Zielsetzungen stehen. Und, dass der Wunsch, die Vergangenheit öffentlich zu dokumentieren und sich zu ihr zu positionieren, eine Bedrohung für das re‐ alpolitische Ziel der systemischen Stabilisierung innerhalb junger Demokratien darstellt. 99 Der im öffentlichen Raum stattfindende Umgang mit schlimmer Vergan‐ genheit, also die für alle sichtbare Manifestierung des im kommunikativen Gedächtnis Präsenten in Praktiken und Objektivationen des kulturellen Ge‐ dächtnisses stellt zur selben Zeit eine Notwendigkeit der sozialen wie auch eine Gefahr für die politische Transition dar. Die Neubildung einer kulturellen und nationalen Identität auf rechtsstaatlicher Basis scheint deshalb vielfach auf Kosten öffentlicher Erinnerung an das vorangegangene Unrecht angestrebt zu werden, droht sich diese doch wie ein Keil in die Homogenisierungs- und Stabilisierungsbestrebungen der Repräsentanten des neuen Systems zu bohren. Die Angst vor der destabilisierenden Wirkung des Vergangenheitsbezugs kann 3 Zwischen biographischem Rückblick und systemischem Neuanfang 39 <?page no="40"?> 100 Die 19. September 1946 an Sieger und Besiegte des Zweiten Weltkriegs gerichteten Worte Winston Churchills liefern einen Beleg für diese Behauptung und können als Exempel für die Rhetorik der West-Alliierten sowie der deutschen Nachkriegspolitik betrachtet werden: „We must all turn upon the horrors of the past. We must look to the future. We cannot afford to drag forward across the years that are to come the hatreds and revenges which have sprung from the injuries in the past.” Vgl. Churchill, Winston: „Speech delivered at the University of Zurich“, URL: https: / / rm.coe.int/ 16806981f3 [18. Januar 2017]. somit zum handlungsbestimmenden Motiv politischer Entscheidungsträger und Repräsentanten des offiziellen Diskurses werden. 100 Die Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen in postdiktatorischen Übergangsgesellschaften scheint somit an der Schwelle zwischen kommunika‐ tivem und kulturellem Gedächtnis verortet werden zu können. Das, was im kommunikativen Gedächtnis anwesend ist, kann im kulturellen Gedächtnis gleichzeitig weitestgehend absent bleiben, was zur Folge hat, dass die von Individuen gespeicherten und von sozialen Gruppen geteilten Erinnerungen an kriegerische Auseinandersetzungen und/ oder diktatorische Repression in der Latenz des kommunikativen Gedächtnisses (individuelles und soziales Gedächtnis) verharren und nur bedingt symbolische Repräsentation im öffent‐ lichen Raum erfahren (kulturelles Gedächtnis). Der Umstand, dass sich Erinnerungen medial veräußern - z. B. in Form von Romanen, historischer Fachliteratur oder TV-Diskussionsrunden - ist zwar durchaus Teil der Objektivierung der Erinnerungen, darf allerdings keineswegs gleichgesetzt werden mit der wirkmächtigen Symbolik des politisch-institu‐ tionellen Vergangenheitsbezugs. Mediale Präsenz der Vergangenheit in Form von Romanen, Geschichtsbüchern und TV-Talkrunden kann somit nicht als Argument gegen den Vorwurf der Ausklammerung schlimmer Erinnerung aus dem kulturellen Gedächtnis dienen. Zwar ist die Wichtigkeit der medialen Thematisierung im Hinblick auf die Formung des kulturellen Gedächtnisses anzuerkennen, jedoch ist diese nicht gleichbedeutend mit dessen Etablierung. Denn für die Verankerung im kulturellen Gedächtnis bedarf es eines hohen Grades an Geformtheit bzw. zum Zwecke der Langlebigkeit vorgenommenen Kodierung der Erinnerung, die sich entweder durch politisch-institutionelle Verankerung oder durch die gesellschaftliche Mythisierung eines Erinnerungs‐ ortes vollziehen kann. Erinnerungskultur und individuelle Erfahrungen müssen demzufolge nicht korrespondieren, vor allem dann nicht, wenn die biographische Erinnerung alles andere als systemisch fundierend wirkt. Um diese mögliche Diskrepanz nicht terminologisch zu verwässern, wird der Begriff der Erinnerungskultur unter 40 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="41"?> 101 Hockerts, Hans Günter: „Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungs‐ kultur, Geschichtswissenschaft“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 28 (2001), S.-16. 102 Vgl. Foucault, Michel/ Ott, Michaela: In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt a. M. 1999 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissen‐ schaft, 1585), S.-38-39. 103 Vgl. Freud, Siegmund: „Konstruktionen in der Analyse“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1936, S. 46: „Alles Wesentliche ist erhalten, und selbst was vollkommen vergessen scheint, ist noch irgendwie und irgendwo vorhanden, nur Rekurs auf den Historiker Hans Günter Hockerts von den Primärerfahrungen sowie von der zeitgeschichtlichen Forschung abgegrenzt: ‚Primärerfahrung‘ bezieht sich auf die selbst erlebte Vergangenheit […]. Was man […] ‚Erinnerungskultur‘ nennt, dient als lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit - mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke, von der Gedenkrede des Bundespräsidenten über die Denkmalpflege bis zum Fernseh-Info‐ tainment […]. Davon wird schließlich die zeitgeschichtliche Forschung abgegrenzt, in der Annahme, dass es charakteristische Unterschiede gibt zwischen Zeitgeschichte als persönlicher Erinnerung, als öffentlicher Praxis und als wissenschaftlicher Diszi‐ plin. 101 Der Eingang bestimmter Primärerfahrungen, seien diese am eigenen Leib erfahren oder vermittelt, in das kulturelle Gedächtnis ist an Autoritäten des öffentlichen Raums gebunden. Diese werden in erster Linie von politischen und medialen Entscheidungsträgern repräsentiert, die aufgrund ihrer gesell‐ schaftlichen Funktion über die symbolische Repräsentation von Vergangenheit verfügen, d. h. darüber bestimmen können, was im öffentlichen Raum wahr‐ nehmbar wird. 102 4 Forschungsfrage: Zur Darstellbarkeit der Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung Das beschriebene konfliktive Verhältnis zwischen kommunikativem und kultu‐ rellem Gedächtnis innerhalb postdiktatorischer Übergangsgesellschaften ergibt sich aufgrund der potentiell unterschiedlichen Präsenz, d. h. des divergierenden Fortbestehens von vergangenen Geschehnissen innerhalb der differenzierten Gedächtnisrahmen. Während auf der Ebene des kommunikativen Gedächt‐ nisses in der Regel von einer Präsenz der Vergangenheit in Form subjektiver Erinnerung ausgegangen werden kann, ja muss - ganz unabhängig von et‐ waigen Versuchen individueller Verdrängung oder sozialer Tabuisierung 103 - so 4 Zur Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung 41 <?page no="42"?> verschüttet, der Verfügung des Individuums unzugänglich gemacht.“ Sowie Kraft, Hartmut: Tabu. Magie und soziale Wirklichkeit, 2004, S. 69 f.: „Tatsachen, Erinnerungen, Meinungen, die von einer großen Mehrheit oder von einflussreichen Personen oder Institutionen innerhalb einer Großgruppe abgelehnt werden, können aus dem öffent‐ lichen Diskurs entfernt werden. Dies trägt zur Identitätsbildung […] bei, indem das Angemessene und sozial Erwünschte gegen das Unerwünschte abgegrenzt wird. Tabus geben eine Orientierung. Auf der anderen Seite können Tabus aber auch eine drin‐ gend notwendige kritische Diskussion behindern. Wer dann dieses Thema dennoch aufgreift, wird zum „Nestbeschmutzer“ oder sonst wie verunglimpft.“ Vgl. ebenso Saul Friedlanders Unterscheidung zwischen einer allgemeinen und einer tiefen Erinnerung. Während die allgemeine Erinnerung ein Versuch einer Etablierung überindividueller Erinnerungsformen ist - wie beispielsweise die Objektivationen des kulturellen Ge‐ dächtnisses -, so sind tiefe Erinnerungen traumatisch und nicht repräsentierbar. Die Annäherung von allgemeiner und tiefer Erinnerung ist damit von vornherein zum Scheitern verurteilt: „[ J]eder Versuch, ein kohärentes Selbst aufzubauen, scheitert an der renitenten Widerkehr der verdrängten und immer wieder auftauchenden tiefen Erinnerung.“ Friedlander, Saul: „Trauma, Transference, and ‘Working Through’ in Writing the History of the Shoah“, in: History and Memory, 4 (1994), S. 41; zitiert nach Young, James E.: „Postmoderne Geschichte und der Holocaust“, in: Stückrath, Jörn/ Zbinden, Jürg (Hgg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997 (= ZIF, Interdisziplinäre Studien, 2), S.-161. bedarf es im Hinblick auf den Eingang schlimmer Erinnerung in den Rahmen des kulturellen Gedächtnisses institutionalisierter Praktiken, die entweder aus‐ geführt werden oder nicht. Zwar wurde verdeutlicht, dass die Integration dunkler Kapitel der Vergangenheit in die gegenwärtige Erinnerungskultur konstitutiv für den sozialen Transformationsprozess sowie die individuelle und kollektive Identitätsbildung in Übergangsgesellschaften zwischen autori‐ tären und demokratischen Systemen ist. Jedoch liefert die empirisch belegte Tatsache, dass sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts die politischen Lenker junger Demokratien nicht selten für ein vorübergehendes Ausklam‐ mern destabilisierender Erinnerung aus dem offiziellen Diskurs sowie der öffentlichen Wahrnehmung entschieden haben, eine Erklärung für das tempo‐ räre erinnerungskulturelle Spannungsverhältnis. Erhalten die von Individuen und Gruppen vollzogenen Veräußerungen schlimmer Erinnerungen trotz ihrer überindividuellen Tragweite keine dazu korrespondierende Repräsentanz auf der Ebene des kulturellen, das heißt institutionalisierten Gedächtnisses, steht die Anwesenheit der Vergangenheit auf Subjektebene der in den Jahren des Übergangs festzustellenden Abwesenheit selbiger im kulturellen Gedächtnis ge‐ genüber. Anders gewendet, es kommt zur Gleichzeitigkeit des Nicht-Erinnerns auf politisch-institutioneller Ebene und der Präsenz des Unvergesslichen auf sozial-subjektiver Ebene. 42 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="43"?> 104 Koselleck, Reinhart: „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’. Zwei historische Kategorien“, in: ders. (Hg.), Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin 7 2010 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 757), S.-353. Aus dieser historischen Lebenswirklichkeit leiten sich die diese Studie prä‐ genden literatur- und theaterwissenschaftlichen Forschungsfragen ab: Wie lässt sich die erinnerungskulturelle Realität des Postfranquismus ästhetisch verarbeiten? Welcher Wirklichkeitsbegriff muss einer ästhetischen Darstellung von erinnerungskultureller Paradoxie zugrunde gelegt werden? Auf welche Weise lässt sich die Gleichzeitigkeit von systemischem Verdrängen und der Notwendigkeit des subjektiven Erinnerns dramatisch ausgestalten? Und: Über welche Möglichkeiten verfügt das Theater, nicht nur den Akt des Verdrängens mimetisch darzustellen, sondern als Medium der gemeinsamen Rezeption einen Akt des kollektiven Erinnerns innerhalb des theatralischen Raums zu initiieren, der sich in die Leerstellen der defizitären Erinnerungspolitik des Postfranquismus einschreibt? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, ist es an dieser Stelle zunächst notwendig, die paradoxe erinnerungskulturelle Wirklichkeit begrifflich zu fassen, um im Anschluss nach den Möglichkeiten der Darstellung dieser Wirklichkeit zu fragen. Die für folgende Überlegungen grundlegende Annahme einer erinnerungs‐ kulturellen Paradoxie lässt sich zunächst mit den von Reinhart Koselleck formulierten historischen Erkenntniskategorien des ‚Erfahrungsraums’ und des ‚Erwartungshorizonts’ näher beschreiben, die, „inhaltlich angereichert, die konkreten Handlungseinheiten im Vollzug sozialer oder politischer Bewegung leiten.“ 104 Dieser konzeptionelle Brückenschlag erscheint hier sinnvoll, weil er eine Antwort auf die Frage vorbereitet, auf welche Weise sich die erinne‐ rungskulturelle Paradoxie dramatisch und inszenatorisch ästhetisieren lässt. Koselleck liefert gewissermaßen einen geschichtswissenschaftlichen Unterbau, der erkenntnistheoretische Überlegungen mit der historischen Bedingtheit des Menschen in Beziehung setzt. Auf der Grundlage dieser diachronisch ausgelegten Erkenntniskategorien wird es möglich werden, der ästhetischen Umsetzung eines paradoxalen Wirklichkeitsempfindens nachzuspüren, dass als Folge einer irreduziblen Diskrepanz zwischen Erfahrenem (Bürgerkrieg und Diktatur) und Erwartbarem (erinnerungskulturelle Repräsentanz von Bürger‐ krieg und Diktatur) zu beschreiben ist. Dieser Ansatz bietet einen Zugang zur Beschäftigung mit erinnerungskulturellen Werken, der sich als theoretische Vertiefung des beschriebenen konfliktiven Verhältnisses zwischen kommuni‐ kativem und kulturellem Gedächtnis versteht. Im Folgenden sollen Kosellecks Annahmen kurz erläutert werden. 4 Zur Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung 43 <?page no="44"?> 105 Koselleck, „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’“, S.-362. Der konkrete Geschichtsverlauf sowie unsere historische Erkenntnis sehen sich von den formalen Kategorien des ‚Erfahrungsraums’ und des ‚Erwartungs‐ horizonts’ beeinflusst. Mit Blick auf den Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit stellt Koselleck eine sich zunehmend vergrößernde Diskrepanz zwi‐ schen Erfahrung und Erwartung fest und bezeichnet diese als Charakteristikum der frühen Moderne. Aussagen über die Zukunft auf Grundlage des Erfahrenen wurden im Anschluss an das Mittelalter durch den stetigen technischen Fort‐ schritt, die Entdeckung der Neuen Welt, physikalische Erkenntnisse und die damit einhergehende Komplexität der jeweiligen Realitäten erschwert. Waren die Konsequenzen dieser alles verändernden Wegmarken zunächst auf sozial höher gestellte Schichten beschränkt, so erfasste spätestens die Reformation breitere Bevölkerungsteile: „Terminologisch wurde der geistliche ‚profectus’ durch den weltlichen ‚progressus’ verdrängt oder abgelöst.“ 105 Die nun offene Zukunft befeuerte nicht nur den Glauben an die „irdische Daseinsverbesserung“, den Fortschritt, im Gegensatz zur dogmatischen Jenseits‐ orientierung, sondern sie bedeutete des Weiteren die Erschütterung bisher etablierter Welterklärungen. Poststrukturalistisch formuliert, gewissermaßen avant la lettre, könnte mit Blick auf den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit von einem sich einleitenden Abhandenkommen des in letzter Instanz gültigen Signifikats gesprochen werden. Gott wie auch der bis dato aufschlussreiche Rückbezug auf die gemachten Erfahrungen zum Zwecke des erklärenden Blicks in die Zukunft verloren zunehmend ihre absichernde Funktion, das erkenntnis‐ bringende Verhältnis von Ursache und Wirkung büßte an Gültigkeit ein. Vom 16. Jahrhundert an vergrößerte sich der Spalt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, was sich zwangsläufig auf die historisch jeweils geltenden Wirklichkeitsbegriffe auswirken musste. Die historischen Kategorien des Erfahrungsraums wie des Erwartungshori‐ zonts finden sich auch auf sprachlich-begrifflicher Ebene wieder. Koselleck unterscheidet Erfahrungsregistraturbegriffe (z. B. der im Spätmittelalter auf‐ kommende Terminus ‚Bund’, der im Kontext des Einungswesens Gebrauch fand), die von vergangener Wirklichkeit gesättigt sind, von zukunftsbezogenen Erfahrungsstiftungsbegriffen (z. B. die um 1800 geschaffenen Kunstwörter ‚Staa‐ tenbund’, ‚Bundesstaat’, Bundesrepublik’), die auf der Basis gemachter, wenn auch verborgener Erfahrung prognostische Funktion haben. Diesen Termini stehen die Erwartungsbegriffe gegenüber. Zu diesen werden beispielsweise Herrschaftsformen wie Monarchie, Aristokratie, Republik oder Demokratie gerechnet, die Koselleck zufolge um 1800 geschichtsphilosophisch überformt 44 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="45"?> 106 Koselleck, „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’“, S.-372. 107 Vgl. Koselleck, „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’“, S.-373. 108 Koselleck, „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’“, S.-373. 109 Koselleck, „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’“, S.-374. werden: „Die drei Verfassungsbegriffe werden zu einer Zwangsalternative ge‐ bracht: >Despotie oder Republik<, wobei die Alternativbegriffe einen zeitlichen Indikator erhalten. Der geschichtliche Weg führe fort von der Despotie der Vergangenheit hin zur Republik der Zukunft.“ 106 Für Immanuel Kant war der ‚Republikanismus’ ein dynamischer Begriff, der auf politischer Handlungsebene dem entsprach, was der kantische Fortschritts‐ gedanke im Allgemeinen einforderte. 107 Das Spannungsverhältnis zwischen erfahrener und erwarteter Herrschaftsform scheint, wie verdeutlicht wurde, be‐ sonders in Übergangsgesellschaften auf das politische Geschehen einzuwirken. Auch im transitorischen Spanien wurde die von großen Bevölkerungsteilen ersehnte democracia zum rein zukunftsgerichteten Bewegungsbegriff, der seine Strahlkraft aus den durch den Franquismus gemachten Erfahrungen bezog, ohne diese dafür explizit zu formulieren. Bewegungsbegriffe sollen „eine neue Zukunft erschließen […], neue Verfassungslagen stiften helfen.“ 108 „Das gesamte politisch-soziale Sprachfeld wird […] von der progressiv aufgerissenen Span‐ nung zwischen Erfahrung und Erwartung induziert.“ 109 Das bereits beschriebene Phänomen des desencanto während der Transition ergab sich - vor der Folie dieses Erklärungsmodells - aus einer Diskrepanz zwischen den gemachten Erfahrungen und den nicht erfüllten Erwartungen während des demokratischen Übergangs. Hans Blumenberg bietet in seinem Aufsatz „Wirklichkeitsbegriff und Mög‐ lichkeit des Romans“ aus dem Jahr 1964 erkenntnistheoretische Anknüpfungs‐ punkte an Kosellecks historische Kategorien. Das bei Koselleck als „Diskrepanz“ beschriebene Auseinanderdriften von Erfahrungsraum und Erwartungshori‐ zont seit der frühen Moderne korrespondiert bei Blumenberg mit der Schwelle zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff. Das mittelalterliche Weltverstehen und Welthandeln stützte sich auf eine ver‐ mittelnde Instanz zwischen Welt und Subjekt, die den Verdacht des Weltbetrugs absorbierte und die Grenze zwischen Physischem und Metaphysischem in den Nebel des Glaubens hüllte. Blumenberg spricht dementsprechend von garantierter Realität im Gegensatz zur sich zunehmend abzeichnenden Realität als Resultat einer Realisierung, in der der Empirie mehr Glauben geschenkt wurde als dem Transzendentalen. Diese Konzepte unterscheiden sich des Weiteren vom Begriff der Realität als das dem Subjekt nicht Gefügigen. Blumenberg zufolge kennzeichnet dieser Wirklichkeitsbegriff die Moderne um 1900. Uns 4 Zur Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung 45 <?page no="46"?> 110 Blumenberg, Hans: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Jauß, Hans Robert (Hg.), Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, München 2 1969, S.-13f. dient er in der Folge zur Erläuterung einer erinnerungskulturellen Paradoxie, die sich zwischen Erfahrung und Erwartung in die Gegenwart einschreibt. Der Hinweis auf die Konsequenzen der irreduziblen Diskrepanz für die Gegenwart ist von entscheidender Bedeutung, dient diese doch als Ausdrucksfläche für das Spannungsverhältnis zwischen dem zukunftsgerichteten Geistesvermögen der Erwartung und dem vergangenheitsgerichteten Geistesvermögen des Gedächt‐ nisses. Die von Koselleck angenommene Irreduzibilität zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont findet sich bei Blumenberg im Konzept der Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige wieder. In der Anerkennung der Komplexität der Realität, die die Erkenntnismöglichkeiten des Subjekts übersteigt, liegt paradoxerweise der Schlüssel zum Verständnis von Realität. Wirklichkeit zeigt sich im Moment des Widerstands gegenüber den Versuchen, diese zu erfassen: In diesem Wirklichkeitsbegriff wird die Illusion als das Wunschkind des Subjekts vorausverstanden, das Unwirkliche als die Bedrohung und Verführung des Subjekts durch die Projektion seiner eigenen Wünsche, und demzufolge antithetisch die Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende, und dies nicht nur als Erfahrung des Berührens, der trägen Masse, sondern auch und in letzter Zuspitzung in der logischen Form des Paradoxes. […] In diesem Sinne ist das der Analyse nicht mehr Zugängliche, das nicht weiter Auflösbare, das - in einer charakteristischen Wendung - ‚atomic fact‘, die elementare Konstante, signifikativ für diesen Wirklichkeitsbegriff. 110 Die Verknüpfung von Blumenbergs These, nach der der Wirklichkeitsbegriff seit Beginn der Moderne immer stärker im Konzept des Widerstands bzw. in der Figur des Paradoxons aufgeht, mit den von Koselleck formulierten historischen Kategorien ermöglicht nun eine terminologisch fundierte Beschreibung der erinnerungskulturellen Paradoxie im postfranquistischen Spanien sowie eine Klärung des Zusammenhangs von Wirklichkeitsbegriffen und deren ästheti‐ scher Verarbeitung. Wie gezeigt werden konnte, lässt sich im Hinblick auf das von der spanischen Bevölkerung Erlebte und dem Ausbleiben politisch-institu‐ tionalisierter, symbolischer Erinnerungspraktiken nach 1975 von einer irredu‐ ziblen Diskrepanz zwischen (subjektivem) Erfahrungsraum und (memorialem) Erwartungshorizont ausgehen, die in Anlehnung an Blumenbergs These der Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige zunächst als Widerstand erfahren 46 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="47"?> 111 Zit. nach Zbinden, Jürg: „Krise der Mimesis. Zur Rekonstruktion und Kritik von Paul Ricœurs Begrifflichkeit in ‚Zeit und Erzählung’“, in: Stückrath, Jörn/ ders. (Hgg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997 (= ZIF, Interdisziplinäre Studien, 2), S.-182. 112 Zbinden, Jürg, „Krise der Mimesis“, S.-182. 113 Der mimetische Zirkel orientiert sich an den von Martin Heidegger in Sein und Zeit etablierten Begriffen der Daseinsanalyse: Verstehen bzw. Vor-Struktur des Verstehens (I), Entwurf (II) und Auslegung bzw. Als-Struktur der Auslegung (III). Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. I, München 1988. 114 Ricœur, Zeit und Erzählung, S.-87. werden muss, zumindest bei den Bevölkerungsteilen, die zuvor identitäre Einschränkungen erlitten. In der Konsequenz verortet sich die memoriale Realität des Postfranquismus im Spalt zwischen gemachter Erfahrung und nicht eintretender Erwartung. Der Philosoph Paul Ricœur spricht mit Blick auf die von Koselleck beschrie‐ bene Diskrepanz zwischen den Transzendentalien der historischen Erkenntnis von einer „Dysfunktion des normalerweise waltenden Zusammenhangs zwi‐ schen Erwartung und Erfahrung“ 111 sowie von einer „Krise des historischen Bewusstseins“ 112 . Diese in der Lebenswelt festzustellende, zeitliche Dissonanz manifestiert sich Ricœur zufolge in einer „Aporetik der Zeitlichkeit“, bzw. der Zeiterfahrung. Der Begriff der ‚Krise’ bzw. die Frage, wie diese zu überwinden ist, bildet den Ausgangspunkt für seine Theorie der dreifachen Mimesis, die den Zusammenhang zwischen Lebenswelt und Narration durch die Prozesse der Präfiguration (Mimesis I), der Konfiguration (Mimesis II) und der Refiguration (Mimesis III) zu beschreiben versucht. 113 Die „Lebenswirklichkeit des Alltags“ (I), in der die Krise der Zeiterfahrung erlebt wird, und die „Lebenswirklichkeit des Lesers“ (III) werden durch das Mittelstück des literarischen Textes (II), das Feld des Als-ob, zusammengehalten. Auf der Stufe der Mimesis II wird Ricœur zu‐ folge die dissonante und heterogene Lebenswirklichkeit poetisch konfiguriert, und damit geordnet und strukturiert. Die Narration wird somit zum potentiellen Mittel gegen die existenzielle Krise der Zeiterfahrung. Zu dieser Annahme gelangt Ricœur, weil er von einer Korrelation zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung ausgeht: „Mit anderen Worten: daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“ 114 4 Zur Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung 47 <?page no="48"?> 115 Liebsch, Burkhard: „Geschichte als Antwort“, in: Stückrath, Jörn/ Zbinden, Jürg (Hgg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997 (= ZIF, Interdisziplinäre Studien, 2), S.-199. Vgl. ebenso Ricœur, Zeit und Erzählung, S.-87. 116 White Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.-M. 2008 (= Fischer Taschenbuchverlag, 18020), S.-15-62. 117 Ricœur, Zeit und Erzählung, S.-67. Ricœur ist der Überzeugung, der Mensch als verzeitlichtes Wesen strebe nach geschichtlicher Verständlichkeit des individuellen sowie kollektiven Lebens. 115 Geschichtstheoretische Annahmen wie die von Hayden White (Metahistory) oder Paul Ricœur korrespondieren mit Kosellecks Diskrepanz zwischen Erfah‐ rung und Erwartung wie auch mit Blumenbergs Theorie von der Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige. Auch hier wird es als Unmöglichkeit betrachtet, die Ereignisse der Lebenswelt, das Sein an sich, als Bedeutungsquelle zu betrachten. Vielmehr wird Sinn erst durch narrative Erzählstrukturen aufgebaut, dem Sein durch den Akt des Erzählens aufgeprägt. Historischen Geschehnissen sind nach Meinung von White und Ricœur narrative Eigenschaften nicht inhärent, sondern sie erhalten diese erst, wenn von ihnen erzählt wird. White spricht entsprechend von einer „Poetik der Geschichte“. 116 Ein Ereignis wird dement‐ sprechend erst dann zu einem tragischen, wenn jemand von dem Ereignis erzählt, als wäre es tragisch gewesen. Ricœur zufolge kreiert das Erzählen ein Reich des Als-ob. Wir erzählen die Geschehnisse folglich nicht, wie sie wirklich sind oder waren, sondern so, als ob sie so wären, wie wir davon erzählen: Wenn nun aber die Abfolge einem logischen Zusammenhang unterstellt werden kann, so beruht das darauf, daß die Vorstellungen des Anfangs, der Mitte und des Endes nicht der Erfahrung entnommen sind: es handelt sich nicht um Züge der tatsächlichen Handlung, sondern um Wirkungen, die aus dem Aufbau des Gedichtes hervorgehen. 117 Eine ästhetische Rekonstruktion von historischen Ereignissen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kann unter Einfluss dieser theoretischen Denkgebäude nur in einer postmodernen Darstellungsform aufgehen, da diese die Unmöglichkeit der Objektivität des von Subjekten Vermittelten anerkennt. Dies kann auch angesichts eines fundamentalen Unterschieds zwischen White und Ricœur behauptet werden. Zwar gehen beide von einer discordance der Lebenswelt aus, die erst durch die Erzählung einen Sinn erfährt, jedoch be‐ werten sie diesen Akt unterschiedlich. Während White das narrative Aufstülpen von Sinn als geradezu manipulativ wertet, ist das Erzählen für Ricœur ein bedeutender Teil des Verstehens und Erklärens, und damit eine der essentiellen und notwendigen Aufgaben der Historiographie. Das Leben soll, ja muss Ricœur 48 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="49"?> 118 Ricœur, Zeit und Erzählung, S.-90. 119 Carr, David: „Narrative Erzählformen und das Alltägliche“, in: Stückrath, Jörn/ Zbinden, Jürg (Hgg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997 (= ZIF, Interdisziplinäre Studien, 2), S. 199. Vgl. ebenso Ricœur, Zeit und Erzählung, S. 173. Zudem Ricœur, Zeit und Erzählung, S. 90: „Wenn zutrifft, dass die Fabel eine Handlungs‐ nachahmung ist, wird zunächst eine vorgängige Kompetenz erfordert: die Fähigkeit, die Handlung überhaupt an ihren Strukturmerkmalen zu erkennen.“ 120 Insbesondere gegen White, aber auch gegen die grundlegenden Annahmen Ricœurs aus Temps et récit, formierte sich ein wissenschaftlicher Gegen-Diskurs, der sich gegen die Behauptung des lebensweltlichen Mangels Struktur und v. a. an Sinn ausspricht. So formuliert z. B. David Carr: „Das Narrative ist weit davon entfernt, von der realen Welt abzuweichen oder ihr eine fremdartige Struktur aufzuzwingen; es teilt mit ihr eine gemeinsame Form, greift diese auf und macht sie zu einem Ausdrucks-, Reflexions- und Repräsentationsmittel. Leben […] stellt sich dar in Geschichten, weil es die Gestalt der Geschichten bereits besitzt.“ Zit. nach Carr, David: „Narrative Erzählformen und das Alltägliche“ (Carr, David: „Narrative Erzählformen und das Alltägliche“, S.-175-176). 121 Vgl. Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, S.-15. zufolge erzählt werden. Zudem geht er von einer Präfiguration der Lebenswelt aus (Mimesis I), die sich aus einer grundlegenden „Semantik der Handlung“ 118 ergibt, wodurch Geschehenssequenzen nicht vollends bedeutungslos aufgefasst werden. 119 Damit wehrt er sich gegen eine poststrukturalistische Geschichtsthe‐ orie, die seines Erachtens zur Krise der Mimesis und somit der Darstellbarkeit von Vergangenheit geführt hat. 120 Die anhand theoretischer Bezüge zur Geschichtswissenschaft, zur Ge‐ schichtsphilosophie wie zur Erkenntnistheorie erörterte Inkongruenz im Bezug auf Kosellecks Transzendentalien findet m. E. ihre begriffliche und daran anschließend auch ihre ästhetische Entsprechung in der Paradoxie des Nicht-Er‐ innerns des Unvergesslichen. Während die traditionelle Theorie der Mimesis auf dem Wirklichkeitsbegriff der „momentanen Evidenz“ gründet 121 , also auf der Annahme ontologischer Determiniertheit und Entsprechung, scheinen die konkurrierenden Erinnerungskulturen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. ihre ästhetische Entsprechung in der Figur des Paradoxons bzw. der logischen Aporie zu finden. Es wird zu prüfen sein, inwieweit die Annahme einer erinnerungskulturellen Realität, die sich den einzelnen Subjekten widersetzt, mit der Skepsis am Repräsentationsvermögen der Historiographie verknüpft werden kann. Der grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit wahrheitsgetreuer Vergangenheitsvermittlung scheint mit einem Wirklichkeitsbewusstsein ein‐ herzugehen, das sich am Widerstand und dem Paradoxon konstituiert, wie auch mit der Entwicklung von der historischen hin zur meta-historischen bzw. meta-historiographischen Fiktion. 4 Zur Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung 49 <?page no="50"?> 122 Dieser Aspekt nimmt Kritikern wie Santos Julián, die eine Politik des Vergessens im postfranquistischen Spanien ablehnen, den Wind aus den Segeln. Es handelte sich nicht um eine Politik des Vergessens, sondern um eine Politik des Nicht-Erinnerns. 123 Evans, Dylan (Hg.): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, S.-329. 124 Inwiefern die Literatur einen alternativen Lebensraum für das Un-Vernünftige bietet, zeigte Renate Lachmann, deren Studien über die Phantastik zu einem späteren Zeit‐ punkt für die hier formulierten Annahmen herangezogen werden soll. Entsprechend dieses Wirklichkeitsbewusstseins sowie einer Historiogra‐ phie-Kritik, die das Dilemma des Historikers aufzeigt, vermeintlich nie das zu erreichen, was er anstrebt, scheint die in dieser Studie etablierte Verwendung des Begriffs des Nicht-Erinnerns bzw. Verdrängens im Gegensatz zu dem des Vergessens sinnvoll. Denn die Negation des Erinnerns ist keineswegs als Äquivalent des passiven Vergessensprozesses zu verstehen. 122 Vielmehr behält sich das Konzept des Nicht-Erinnerns bzw. Verdrängens den für hiesige Zwecke bedeutenden Aspekt des aktiven und gleichermaßen zum Scheitern verurteilten Unterdrückens bei, wodurch sich die Paradoxie der Anwesenheit des Abwe‐ senden nicht nur auf grammatischer Ebene einschreibt, sondern gleichermaßen auf psychoanalytische Implikationen hingewiesen werden kann. Verdrängen bedeutet eben nicht Vergessen: Der Begriff der Verdrängung (…) bezeichnet den Vorgang, in dem gewisse Gedanken oder Erinnerungen aus dem Bewussten ausgeschlossen und ins Unbewusste gedrängt werden (…). Da die Verdrängung weder die Vorstellung noch die Erinnerungen zerstört, sondern nur in das Unbewusste verdrängt, kann dieses Material immer in entstellter Form zurückkehren, in Symptomen, Träumen, Versprechern, etc. 123 Auch auf Kollektive angewendet, ist ein Vergessen kollektiv relevanter Gedächt‐ nisinhalte im Sinne einer Zerstörung der Erinnerungen nicht möglich. Aller‐ dings, und dies wurde mit Blick auf die postfranquistische Erinnerungspolitik deutlich gemacht, mündet die Macht der systemischen Vernunft, der raison politique, die Lemmata wie reconciliación, comunidad und consenso preist, in einer Verdrängung bzw. in einem Versuch des Ausschlusses destabilisierender Erinnerungen aus dem politischen Diskurs. Damit einher geht zwangsläufig ein Ausbleiben des semiotischen Überführens schlimmer Erinnerung in das Feld des kulturellen Gedächtnisses, die der Übertragung des Erinnerungsauf‐ trags zwischen den Subjekten und den als reminder fungierenden Medien gleichkommt. Die Bewahrung des Geschehenen im kulturellen Gedächtnis, die symbolische Anerkennung der Relevanz des Geschehenen hinsichtlich der kollektiven Identität sowie die Verantwortlichkeiten im Hinblick auf das nicht abzuweisende Erbe werden somit zunächst ausgespart. 124 50 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="51"?> Die historischen Erkenntniskategorien sowie die Verknüpfung der Begriffe des ‚Erfahrungsraums’ und des ‚Erwartungshorizonts’ mit dem von Hans Blu‐ menberg geprägten Wirklichkeitsbegriff der Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, die in der Figur des Paradoxons und im Empfinden von Widerstand Ausdruck zu finden scheint, liefert uns den erkenntnistheoretischen Begriffs‐ apparat, um die für den Postfranquismus angenommene erinnerungskulturelle Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen zu beschreiben. Dieser Zugang, der sich auf geschichtstheoretische, erkenntnisphilosophische und sprachphilosophische Theorien stützt, soll eine Alternative zu dem in der literatur- und theaterwissenschaftlichen memoria-Forschung gängigen Rekurs auf die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie von Jan Assmann bieten, die häufig als Grundlage für Beschäftigungen mit den Themen Erinnerung, Vergessen oder Verdrängen herangezogen wird. Der Rekurs auf die kulturwis‐ senschaftlichen Theorien des kollektiven Gedächtnisses kann m. E. nur die Basis für die Beschreibung von erinnerungskultureller Wirklichkeit zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt darstellen. Mit Blick auf die zu leistenden Analysen soll es jedoch nicht darum gehen, aufzuzeigen, dass das Theater wie jedes andere Medium dazu in der Lage ist, auf politisch-gesellschaftliche Verdrängung erinnernd zu reagieren, sondern darum nach den Möglichkeiten zu fragen, auf welche Weise sich der Akt des Verdrängens, des Nicht-Erinnerns, dramatisch ausgestalten lässt, und wie diese Ausgestaltung zugleich einen Akt des kollektiven Erinnerns auf theatralischer Ebene zu initiieren vermag. Erst durch eine feingliederige Analyse des Verhältnisses der reproduktiven Einbil‐ dungskraft (Erinnerung) zur produktiven Einbildungskraft (Phantasie)‚ wird es m. E. möglich, das Potential des erinnerungskulturellen Theaters herauszuar‐ beiten. Erst diese Vorüberlegungen erlauben es, sich in der Folge der Fragestel‐ lung anzunähern, auf welche Weise sich eine paradoxe erinnerungskulturelle Lebenswirklichkeit dramatisch und theatralisch ausgestalten lässt. Inwiefern sich diese Herangehensweise von bereits geleisteten Analysen unterscheidet, soll nicht an dieser Stelle, sondern im Rahmen der jeweiligen Textanalysen erläutert werden. Bestehende Interpretationsperspektiven und Forschungsansätze werden zum gegebenen Zeitpunkt kontrastiv herangezogen, um den Versuch der Neuperspektivierung und theoretischen Vertiefung, den diese Studie im Hinblick auf die Beschäftigung mit erinnerungskulturellem Theater leisten möchte, zu verdeutlichen. Der Stand der Forschung wird somit nicht separat und in Form eines Teilkapitels vorangestellt, sondern zum Zwecke des Forschungsvorhabens in die Textanalysen integriert. Bevor das erinnerungskulturelle Potential des Mediums Theater im Rahmen einer theoretischen Beschäftigung mit den Grenzen zwischen Erinnerung und 4 Zur Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und memorialer Erwartung 51 <?page no="52"?> Phantasie, Fiktion und Diktion sowie Mimesis und Performativität diskutiert wird, sollen zunächst jedoch die Dramatiker in den Fokus rücken, für die die historische Zäsur des Jahres 1975 den Beginn einer biographisch-identitären und ästhetischen Herausforderung darstellte. Biographisch-identitär deshalb, weil ihre privaten Lebensumstände vor 1975 sowie ihre Zeit in der unabhän‐ gigen und clandestinen Theaterszene während des Franquismus nach dem Tod Francos der diskursiven Neuausrichtung zum Opfer fielen. Und ästhetisch daher, weil denselben Dramatikern nach 1975 die Aufgabe zufiel, Spaniens Theater zu modernisieren und an die europäische Szene anzupassen. 52 I SPANIENS UMGANG MIT DIKTATUR UND BÜRGERKRIEG <?page no="53"?> 125 Gumbrecht, Hans Ulrich: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012. Mit Blick auf das Deutschland der Nachkriegszeit definiert Gumbrecht die Latenz als „eigenartige Präsenz einer Vergangenheit […], die nicht aufhörte, obwohl sie doch anscheinend ihre Wirkung verloren hatte“ (S.-38). 126 Cabal, Fermín/ Alonso de Santos, José: Teatro español de los 80, Madrid 1985, S.-150. II THEATER IM ÜBERGANG: DIE GENERACIÓN DEL 82 UND DIE RE-PRÄSENTATION DES VERGANGENEN Das folgende Kapitel ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen der geleisteten Definition des Wirklichkeitsbegriffs, wie er unter Rekurs auf Ko‐ selleck, Blumenberg und Ricœur hinsichtlich der postfranquistischen Erinne‐ rungskultur erörtert wurde, und den diese Studie leitenden Fragen nach der dramen- und theaterästhetischen Reaktion auf das, was mit Hans-Ulrich Gumb‐ recht als Latenz der Vergangenheit bezeichnet werden könnte und hier als Nicht-Erinnern des Unvergesslichen beschrieben wurde. 125 Dieser Übergang soll durch die Beschäftigung mit den Autoren gelingen, denen aufgrund historischer Kontingenz die Rolle der Neuerer des postfranquistischen Theaters zufiel und für die die offizielle Rhetorik des Neuanfangs zur identitären Herausforderung wurde. Die komplexen politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die sich mit dem Tod Francos beschleunigten, veränderten die Vorzeichen für die Kunst- und Kulturschaffenden des Landes und forcierten eine Neubestimmung der Kunstformen. In einem 1985 publizierten Interview bezeugt José Luis Alonso de Santos, einer der Dramatiker, die sich plötzlich in der Rolle der Erneuerer der spanischen Theaterästhetik wiederfanden, rückblickend, dass die Notwendigkeit des Umbruchs auch auf Spaniens Bühnen spürbar war: Tengo la sensación, por una parte, de haber crecido excesivamente deprisa, por otra, de haber crecido excesivamente despacio. De repente tuve que dar la imagen de que sabía mucho antes de saber… […] Es decir, tuve que asumir un papel de líder y de maestro y todo eso, cuando aún no estaba preparado. Porque había una exigencia de cambio y nos vimos obligados a ocupar ese lugar. 126 Nach mehr als drei Dekaden politischer Repression befanden sich das Theater sowie die Theatermacher im Übergang. Die theoretischen Schriften, die Dra‐ mentexte sowie die Inszenierungen der Autoren und Dramaturgen, die die Wei‐ <?page no="54"?> 127 Nicht zu vergessen sind die personellen Kontinuitäten zwischen Franquismus und demokratischem System, die die Transitionspolitik mit sich brachte. terentwicklung der spanischen Bühne nach 1975 bestimmen sollten, fungierten dabei gleichermaßen als Raum selbstreferentieller sowie gesellschaftspolitischer Reflexion. Sie erneuerten die Theaterästhetik ihrer Vorgänger, ohne sich im autoreferenziellen Spiel der Postmoderne zu verlieren; vielmehr schienen sie dieses für den kritischen Blick auf die franquistische und postfranquistische Gesellschaft zu funktionalisieren. Die intendierte Neuverortung des Mediums Theater schloss damit nicht nur die Infragestellung bis dato dominanter Konzep‐ tionen von Theatralität ein, sondern vollzog sich in unmittelbarer Abhängigkeit von der das Medium umgebenden, sich verändernden Lebenswelt. Gleich Politik und Gesellschaft stand auch das Theater nach 1975 vor der Frage, wie eine Neuerung vor dem Hintergrund des Vergangenen von statten gehen sollte. Es wird in der Folge zu zeigen sein, inwiefern sich die hier im Fokus stehenden, allesamt der unabhängigen spanischen Theaterszene der 60er und 70er Jahre entstammenden Autoren gegen die den offiziellen Diskurs prägende Rhetorik der Versöhnung und des Neubeginns stellten, und zwar mit einem Theater, das die diskursive Konstruktion von gesellschaftlicher Versöhnung und politischer Stabilität ästhetisch in Frage stellte. Wer waren nun die Theaterschaffenden, die die Entwicklung der spanischen Bühne nach 1975 vorantrieben? Trotz berechtigter Vorbehalte gegenüber Ver‐ suchen, Vertreter bestimmter Disziplinen vereinfachend unter dem Begriff der ‚Generation’ zu subsumieren, soll im Hinblick auf das in dieser Studie verwendete Textkorpus auf die vom spanischen Dramatiker und Journalisten Ignacio Amestoy Egiguren (*1947) geprägte Bezeichnung der Generación del 82 rekurriert werden. Sich der Gefahr der terminologischen Nivellierung be‐ wusst, definiert Amestoy die Generación del 82, der er selbst angehört, unter Berücksichtigung der Heterogenität der zugerechneten Dramatikerinnen und Dramatiker und scheint dabei weniger stilistische Gemeinsamkeiten als viel‐ mehr das gemeinsame historische Schicksal sowie die ästhetische Sozialisation als verbindende Elemente anzuerkennen. Das Jahr 1982 ist das Jahr, in dem die sozialistische Partei erstmals die Regierungsgeschäfte übernahm und der Franquismus auf politischer Ebene endgültig überwunden schien. 127 Sus miembros tienen entre veinticinco y treinta y cinco años en 1975 a la muerte del dictador […]. Procedentes del teatro independiente por un lado o de otros sectores de la creación, o de la cultura y la enseñanza, por otro, no sufren la inclemencia de la censura como había ocurrido con la generación realista de Buero y Sastre […] y, sobre todo, con los underground. […] Esta generación del 82, verbigracia, tiene en todos y 54 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="55"?> 128 Amestoy Egiguren, Ignacio: „Introducción“, in: Medina Vicario, Miguel (Hg.), Prometeo equivocado, Madrid 1996 (= Antología teatral española, 29), S.-11-14. 129 Die hier behandelten Dramatiker feierten ihren Durchbruch am Theater nach 1975. Alonso de Santos wurde mit Viva el Duque nuestro Dueño (1975) einem größeren Publikum bekannt, Sanchis Sinisterra mit Ñaque o de piojos y actores (1981) und Ignacio Amestoy mit Mañana aquí a la misma hora (1979); vgl. hierzu u.-a. Pérez-Rasilla Bayo, Eduardo: „El teatro desde 1975“, in: Huerta Calvo, Javier (Hg.), Historia del teatro español, Vol. 2, Del siglo XVIII a la época actual, Madrid 2003, S.-2857. 130 Fernández Ariza, Carmen: „La memoria histórica en el teatro de la transición democ‐ rática“, in: Boletín de la Real Academia de Córdoba, 144 (2003), S.-218. cada uno de sus miembros una evolución tan personal como intransferible ya que en ningún momento podríamos decir que se establezca un grupo teatral en sentido estricto, con unos objetivos comunes y unos modos afines […]. Los miembros de esta generación son unos personajes poliédricos que aun teniendo una acusada querencia hacia el teatro no abandonan otras parcelas de la creación, de la comunicación o del saber: el cine y la televisión, la poesía, el ensayo y el periodismo… En casi todos ellos, la docencia. De esta forma, si la generación realista entroncaba con el más vigoroso drama moderno […], y los underground se ubican en las parcelas más evolucionadas de la vanguardia teatral […], la generación del 82 tiene que ver con una posmodernidad peculiar. 128 In gewisser Weise charakterisiert sich die Generación del 82 selbst durch ein transitorisches Moment. Als Kinder der posguerra erfuhren ihre Vertreter die unmittelbaren Folgen des Bürgerkriegs sowie die die privaten und öffentlichen Räume durchdringende franquistische Repression am eigenen Leib. Obgleich jedoch die Dramatiker ihre ästhetische Sozialisation noch in einem Umfeld der künstlerischen Unfreiheit durchlebten, fiel ihre Hauptschaffenszeit in die Phase der transición, in eine Zeit, die von der neu erworbenen Möglichkeit des unzensierten Ausdrucks sowie der rasanten Liberalisierung des Kulturmarktes geprägt war. 129 Auf dieses besondere Merkmal des Transitorischen wird im‐ plizit von der spanischen Literaturwissenschaftlerin Carmen Fernández Ariza verwiesen, wenn sie bei ihrer Beschreibung der hier im Fokus stehenden Dramatikergeneration auf die Diskrepanz zwischen der Phase der ästhetischen Prägung und derjenigen der beruflich-künstlerischen Entfaltung eingeht: „[U]n numeroso grupo de dramaturgos que se dieron a conocer precisamente durante ese período de transición. La mayoría habían escrito ya en tiempos de la dictadura, aunque nunca se revelaron en dicho oficio.“ 130 Die biographischen Phasen der ästhetischen Prägung und der beruflichen Entfaltung fallen mit den politisch-gesellschaftlichen Perioden des Franquismus und des Übergangs zusammen und werden deshalb als Grundstruktur für dieses Kapitel herange‐ II THEATER IM ÜBERGANG 55 <?page no="56"?> 131 Vgl. Pérez-Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S.-2855ff. 132 Vgl. Pérez Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S.-2855ff.; vgl. ebenso: Cabal/ Alonso de Santos, El teatro español de los 80, S.-149. 133 Vgl. Piñero, Margarita: Tres voces fundamentales: Teatro español contemporáneo. José Luis Alonso de Santos, José Sanchis Sinisterra y Fermín Cabal, Madrid 2011, S.-7. 134 Genaue Erläuterungen zum franquistischen Zensurapparat finden sich bei Neuschäfer, Hans-Jörg: Macht und Ohnmacht der Zensur. Literatur, Theater und Film in Spanien (1933-1976), Stuttgart 1991. 135 Vgl. Stenzel, Hartmut: Einführung in die spanische Literaturwissenschaft, Stuttgart 2 2005, S.-241. zogen. Des Weiteren dient die Zugehörigkeit der Dramatikergeneration zu den benannten Welten vor und nach der Zäsur 1975 als biographische Folie, auf der die formulierte These einer ästhetischen Umsetzung der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen argumentative Stärke erlangt. 1 Ästhetische Sozialisation (1939-1975) Zu den einflussreichsten Figuren der Generación del 82 gehörten dem spanischen Literaturhistoriker Eduardo Pérez-Rasilla zufolge neben dem genannten Ignacio Amestoy die Dramatiker José Sanchis Sinisterra (*1940), José Luis Alonso de Santos (*1942) und Fermín Cabal (*1948) an. 131 Als weitere, weniger prominente, jedoch durchaus signifikante Vertreter können u. a. Miguel Murillo Gómez (*1953), Ernesto Caballero (*1957), Ignacio del Moral (*1957), Paloma Pedrero (*1957), Concha Romero (*1945), Carmen Resino (*1941), Fernando Martín Ini‐ esta (1929 - 2009), Jerónimo López Mozo (*1942), Antonio Martínez Ballesteros (*1929), Juan Margallo (*1940), Alberto Miralles (1940-2004), Albert Boadella (*1943), Joan Font Malonda (*1949) oder Luis Matilla (*1938) genannt werden. 132 Dass Dramatiker wie Ignacio Amestoy, José Sanchis Sinisterra, Fermín Cabal oder José Luis Alonso de Santos, die als „voces fundamentales“ 133 der Generación del 82 bezeichnet werden können, erst nach 1975 öffentlich in Erscheinung traten, war neben ihrem vergleichsweise jungen Alter der repressiven Kultur‐ politik des Franquismus geschuldet, die durch ihre Zensurmaßnahmen jeder Ausprägung eines kritischen und reflexiven Theaters den Weg in die öffentliche Wahrnehmung versperrte. 134 In zahlreichen Rezensionen prangerte der renom‐ mierte Theaterkritiker Miguel Medina Vicario, der von Alters her ebenfalls zur Generación del 82 gerechnet werden kann, die ideologische Instrumentalisierung durch das Regime, den „estado de catalepsia“ des franquistischen Theaters, an. Der Wunsch nach hohen Zuschauerzahlen ließ die Säle der kommerziellen Teatros Nacionales Weichgekochtes und Wohlbekömmliches servieren. 135 56 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="57"?> 136 Medina Vicario, Miguel: Veinticinco años de teatro español (1973-2000), Madrid 2003, S.-44. 137 García Martínez, Anabel: El telón de la memoria: La Guerra Civil y el franquismo en el teatro español actual, Hildesheim 2016 (= Theorie und Praxis. Untersuchungen zu den kulturellen Zeichen, 26), S.-110. 138 Ruiz Ramón, Francisco: Historia del teatro español. Siglo XX, Madrid 5 1992, S.-297. 139 Mit unverfänglichen Komödien wie Usted peuede ser un asesino (1958) und La corbata (1963) feierte der regimetreue Theatermacher große Bühnenerfolge unter Franco. Vgl. Bauer-Funke, Cerstin: „Das Theater des 20. Jahrhunderts“, in: Rivero Iglesias, Carmen (Hg.), Spanische Literaturgeschichte. Eine kommentierte Anthologie, Paderborn 2014 (= UTB, 3988), S.-325-374. 140 Vgl. Piñero, Tres voces fundamentales, S.-9. Mientras España se debatía desesperadamente ante el aislamiento europeo o el mundo repasaba con horror las atrocidades de la locura nazi, en nuestros escenarios se disfrutaba de la pelada evasión. La carcajada o la ternura sensiblera, de la mano de una estética convencional tan al gusto del espectador de época, ponían en definitivo punto final al matrimonio teatro-sociedad. 136 (Rezension, veröffentlicht im Dezember 1976) Alison Guzmán weist in ihrer 2012 publizierten Untersuchung La memoria de la Guerra Civil en el teatro español: 1939 - 2009 auf die vom franquistischen Regime betriebene damnatio historiae der Erinnerungen der republikanischen Kriegsverlierer sowie auf die Instrumentalisierung und Klitterung historischer Ereignisse zum Zwecke der Ideologie- und Machtfestigung hin. Mit Blick auf die von Alison Guzmán untersuchten Dramen, die allesamt zwischen 1939 und 1969 entstanden, unterscheidet Anabel García Martínez zwei Formen des Theaters: [P]or un lado, el teatro que comparte y divulga sobre la escena la visión ideológica del régimen franquista, cosechando el éxito comercial y ofreciendo un escapismo fácil al público, y, por el otro, el teatro de la memoria disidente, […] marginado desde la distancia geográfica y emocional del exilio o, en territorio español, condenado a permanecer en el cajón del escritorio sin ser estrenado. 137 Sich dem seichten, von billiger Erotik, Herzschmerz und wenig spitzfindigem Humor geprägten teatro público 138 verweigernd, als dessen herausragender Vertreter wohl Alfonso Pasos (1926-1978) zu nennen ist 139 , reifte die Theater‐ konzeption der Generación del 82 im Schoße des Teatro independiente 140 , das sich konzeptionell u. a. an der unabhängigen Theaterbewegung Argentiniens, am nordamerikanischen Underground-Theater der 1950er Jahre sowie an den avantgardistischen Theatertendenzen in Frankreich, Deutschland und England der 1950er und 1960er orientierte und sich vornehmlich im universitären Rahmen realisierte. 141 1 Ästhetische Sozialisation (1939-1975) 57 <?page no="58"?> 141 Vgl. u.-a. Neuschäfer, Macht und Ohnmacht der Zensur, 1991. 142 Pérez-Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S. 2856 sowie Rubio Jiménez, Jesús: „Vom unabhängigen Theater zum Neocostumbrismo“, in: Floeck, Wilfried (Hg.), Spanisches Theater im 20.-Jahrhundert, Tübingen 1990, S.-311f. 143 Piñero, Tres voces fundamentales, S.-13. 144 Vgl. Floeck, Wilfried: „El teatro español contemporáneo (1939-1993). Una aproximación panorámica“, in: de Toro, Alfonso/ ders. (Hgg.), Teatro español contemporáneo. Autores y tendencias, Kassel 1995 (= Problemata literaria, 27), S.-4. Se trata de una promoción que ha compaginado la formación intelectual universitaria con el conocimiento y la práctica de la profesión teatral, consecuencia de su paso por el teatro independiente o por el universitario, en el que desempeñaron diversas funciones, antes incluso de dedicarse a la autoría teatral propiamente dicha. 142 Die Theater- und Literaturwissenschaftlerin Marga Piñero spricht mit Blick auf Sanchis Sinisterra, Alonso de Santos oder Fermín Cabal von „autores forjados bajo las duras condiciones del teatro independiente“ 143 - eine Cha‐ rakterisierung, die auch für die Weggefährten der genannten Dramatiker Gül‐ tigkeit beansprucht. Das demokratische Grundverständnis der unabhängigen Szene äußerte sich in der kritischen Haltung gegenüber dem Konzept der allei‐ nigen Autorenschaft, in der damit einhergehenden Bildung enthierarchisierter Gruppen und Kollektive sowie in dem Versuch, der Zentralisierung des spani‐ schen Theaterbetriebs mit Inszenierungen fernab von den Metropolen Madrid und Barcelona entgegenzuwirken. 144 Zu den einflussreichsten unabhängigen Theatergruppen der 60er und 70er Jahre gehörten u. a. Els Joglars und die Gruppe Comediants in Barcelona sowie das Teatro Estudio de Madrid (TEM), das Teatro Experimental Independiente (TEI), das Teatro Estable Castellano (TEC), Los Goliardos, Tábano, Ditirambo, G.I.T., El Gayo Vallecano, Cizalla, Gincacha, La Picota, Libélula, Bululú, Tiempo, Pequeño Zoo, Ademar, Canon, Zeta, Nasto oder Taller I in Madrid. Die Randexistenz der unabhängigen, in die Universitätssäle verbannten Szene, der es kaum möglich war, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, brachte es mit sich, dass sich viele Vertreter der Generación del 82 zunächst mit der konkreten Aufführungspraxis und erst nach 1975 mit dem Verfassen dramatischer Texte vertraut machten. Dieser unmittelbare Zugang zu Fragen der theatralen Umsetzung sollte die Autorinnen und Autoren der Generación del 82 nachhaltig prägen, weshalb ihre Dramen immer im Hinblick auf ihre potentielle Inszenierung zu lesen sind und nicht dem Genre des Lesedramas entsprechen. Die Zugehörigkeit zum Teatro Independiente wurde zu einer grundlegenden Erfahrung im ästhetischen Reifeprozess der in dieser Studie behandelten Dramatiker und zur Voraussetzung für die Erneuerung der postfranquistischen Dramen- und Theaterästhetik. 145 58 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="59"?> 145 Vgl. Piñero, Tres voces fundamentales, S.-14. 146 Vgl. Aznar Soler, „Introducción“, S.-11-31. Kurz vor Francos Tod waren José Luis Alonso des Santos, José Sanchis Sinisterra und Ignacio Amestoy Egiguren zu führenden Persönlichkeiten der unabhängigen Szene gereift, wodurch sich sowohl die ihnen zugefallene Ver‐ antwortung für eine Erneuerung der spanischen Bühne als auch der große Legitimationszuspruch der innovativen Vertreter der spanischen Theaterszene erklären. Als langjähriges Mitglied des Teatro Estudio de Madrid gründete José Alonso de Santos 1968 gemeinsam mit José Carlos Plaza die Gruppe Teatro Experimental Independiente (TEI). Bereits ein Jahr darauf rief er gemeinsam mit Juan Margallo die Gruppe Tábano ins Leben und im Jahr 1971 formierte er eine der renommiertesten unabhängigen Theaterkollektive Spaniens: das Teatro Libre de Madrid. Im Jahr 1958 wurde José Sanchis Sinisterra zum Direktor des Teatro Español Universitario (TEU) de la Facultad de Filosofía y Letras de Valencia berufen, wo er die Grupo de Estudios Dramáticos etablierte und die Asociación Indepen‐ diente de Teatros Experimentales (A.I.T.E.) unterstützte. Zeitgleich begann er Artikel für das Theatermagazin Primer Acto zu verfassen, das zu einer der wichtigsten Plattformen der unabhängigen Theaterszene wurde. Von 1960 bis 1966 fungierte Sanchis Sinisterra als Vizedirektor der Aula de Teatro de la Facultad de Filosofía y Letras in der Universität Valencia, wo er mehrere Jahre lang spanische Literaturwissenschaft unterrichtete und durch die Organisation von universitären Konferenzen den Austausch über der unabhängigen Szene förderte. 1977 gründete er die bis heute bestehende Gruppe El Teatro Fronterizo, eine Versuchslabor für experimentelle Theaterformen und ästhetisch innovative Stücke, die seit 1989 unter anderem in der von Sanchis Sinisterra gegründeten Sala Beckett in Barcelona zur Aufführung gelangen. 146 An der Universität von Bilbao leitete der gebürtige Baske Ignacio Amestoy bereits während seines Wirtschaftsstudiums, das er Anfang der 1960er Jahre aufnahm, die Aulas de Teatro y Cine. Nach seiner Rückkehr nach Madrid, wo er im Jahr 1967 Filosofía y Letras zu studieren begann, kam Amestoy in Kontakt mit der u. a. von Alonso de Santos gegründeten Gruppe Teatro Estudio de Madrid (TEM), wo er von Theatermachern wie William Layton, Miguel Narros, Betsy Buckley, Ricardo Doménech, Maruchi Fresno oder Alberto González Vergel lernte und gemeinsam mit Alonso de Santos, Francisco Vidal, Juan Margallo, Paca Ojea und anderen Stücke schrieb, inszenierte und spielte. Ende der 1960er Jahre zog Amestoy schließlich nach Pamplona und nahm an der Universidad de Navarra ein weiteres Studium auf (Ciencias de la Información). 1 Ästhetische Sozialisation (1939-1975) 59 <?page no="60"?> 147 Vgl. Doménech Rico, „Introducción“, S.-11-13. 148 Alonso de Santos, José Luis: „Principio y fin del Teatro Independiente“, in: Campus, 31 (1989), URL: http: / / www.um.es/ campusdigital/ TalComoEra/ alonsoSantos.htm [29. Dezember 2015]. Als Leiter der Grupo de Teatro de la Universidad de Navarra brachte er Cervantes, Ionescu, Lu Xun und Cocteau auf die Bühne. Seine universitären Projekte ergänzt Amestoy seit jeher durch journalistische Tätigkeiten für lokale und nationale Zeitungsverlage wie für das Fernsehen - bis heute schreibt Amestoy für die spanische Tageszeitung El Mundo - sowie durch die Förderung und Organisation von Theaterfestivals. Zu den bekanntesten Initiativen Amestoys gehört aus heutiger Sicht sicherlich die Veranstaltung La noche de Max Estrella, eine seit 1999 jährlich inszenierte Tour durch das Madrid aus dem Stück Luces de Bohemia. 147 In den unabhängigen Kollektiven, denen die drei Autoren allesamt ange‐ hörten, bestand, zumindest theoretisch, keine feste funktionale Zuordnung, wodurch sich die Verantwortlichkeiten vielfach erst im Laufe der Produktionen ergaben. Rückblickend berichtet José Luis Alonso de Santos, wie dieses multi‐ funktionale Modell ihn und seine Zeitgenossen mit jeder Faser des Theaterbe‐ triebs vertraut machte: Durante mi larga época (quince años) de Teatro Independiente tuve que asumir, al igual que muchos de mis compañeros, las diversas tareas de actor, director, autor, técnico, tramoyista, promotor, escenógrafo, chofer, mozo de carga, y todas y cada una de las mil actividades que implica el montaje de un espectáculo, desde el momento de su concepción hasta el de su representación. 148 Das Teatro independiente, das sich im Laufe der 50er Jahren reetabliert und parallel existierende Formen wie das Teatro de ensayo (Experimentiertheater) und das Teatro de cámara (Kammertheater) in sich aufgenommen hatte, bil‐ dete den ideologischen Gegenpol zum kommerziellen Theaterbetrieb. Es wies geltende bürgerliche Konventionen zurück und machte sich zum Zentrum so‐ zialkritischer Reflexion sowie zum Einfallstor für ästhetische Neuerungen. Zwar hatte der Militärputsch der Falangisten die Entwicklung des avantgardistischen Theaters der 20er und 30er Jahre unterbrochen, doch spätestens ab den 60er Jahren fand - unter veränderten politischen Vorzeichen - die unabhängige Szene zu diesem Erbe zurück: Desde la primera óptica, el golpe militar y la posterior instauración de un régimen dictatorial supuso un nuevo contexto histórico que trajo aparejado el ralentizamiento de los planteamientos teatrales más innovadores. Después de dos décadas de reajuste 60 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="61"?> 149 Pérez-Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S.-2643. 150 Cristina Santolaria Solano weist darauf hin, dass die Ausbildung der Schauspieler im Spanien der 1960er Jahre an den Methoden Stanislawskis orientiert war. Es war vor allem der einflussrieche amerikanische Schauspieler und Regisseur William Layton, der diese Methode in die unabhängige Theaterszene Spaniens einführte. Vgl. Santolaria Solano, Cristina: Fermín Cabal, entre el realismo y la vanguardia, Alcalá de Henares 1996, S.-792. 151 Alonso de Santos, „Principio y fin del teatro independiente“, URL: http: / / www.um.es/ c ampusdigital/ TalComoEra/ alonsoSantos.htm [29. Dezember 2015]. 152 Pérez-Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S.-2652. 153 Vgl. Piñero, Tres voces fundamentales, S. 13: „Podemos definir el Teatro Independiente como un movimiento que planto un teatro pese y/ o contra la dictadura fascista, mediante la búsqueda de otros modos de producción distintos a los convencionales.“ de la creación escénica al nuevo contexto político, en los años sesenta se retoman estos planteamientos para llevarlos a su consolidación definitiva. 149 Diese Entwicklung vollzog sich in Analogie zu einer generell im Nachkriegs‐ europa aufkommenden Beschäftigung mit Theorien, die bis dato bestehende Konventionen von Theater und Theatralität durch die Auseinandersetzung mit den Grundelementen des Mediums - Raum, Zeit, Figur, Handlung, mimetischem Spiel, Sprache, Zuschauer - neu perspektivierten. Die Aufnahme von Dramen- und Theatertheorien eines Antonin Artaud, Konstantin Stanislawski 150 , Peter Brook, Jerzy Grotowsky, Wsewolod Meyerhold, Eugenio Barba, Arthur Miller, Jerôme Savary, Samuel Beckett oder Bertolt Brecht beeinflussten das Schaffen der Vertreter der unabhängigen Szenen Europas und sorgten auch in Spanien dafür, dass sich die Vertreter der Generación del 82 von der Theaterästhetik ihrer Vorgängergeneration entfernen sollten. 151 Zeichnet sich das Theater der so genannten Generación realista mit ihren Hauptvertretern Antonio Buero Vallejo (1916-2000) und Alfonso Sastre (*1926) noch durch eine sich in der Ästhetik des Realismus zu findenden Entsprechung von Form und Inhalt aus, so treten diese beiden Komponenten im unabhängigen Theater der 60er und 70er Jahre immer weiter auseinander: „A medida que avanzaban los años sesenta, las diversas poéticas del realismo comenzaron a parecer insuficientes a los jóvenes creadores que, agrupados en torno al movimiento de Teatro Independiente, iniciaron de forma decidida la búsqueda de nuevas fuentes de renovación.” 152 Die kritische Spiegelung der gesellschaftlichen und politischen Gegeben‐ heiten des franquistischen Spaniens im Teatro independiente, das sich stets als Oppositionstheater verstand 153 , schloss eine zunehmende Präsenz neuer formaler Spielarten nicht aus. Diese konkretisierten sich ab den 60er Jahren vor allem in der Verwendung metatheatraler Formen, intertextueller Verweise, im Auftreten epischer Instanzen, der Aktivierung der Rezipienten sowie einer 1 Ästhetische Sozialisation (1939-1975) 61 <?page no="62"?> 154 Vgl. Pérez-Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S.-2652. 155 Amorós, Andrés: „Introducción“, in: Alonso de Santos, José Luis: El álbum familiar, Bajarse al moro, Madrid 11 2004, S.-10. 156 Vgl. Cornago Bernal, Oscar: „Poéticas del teatro desde 1940“, in: Huerta Calvo, Javier (Hg.), Historia del teatro español, Vol. 2, Del siglo XVIII a la época actual, Madrid 2003, S. 2649: „[…], sin duda, el acontecimiento fundamental en la búsqueda de nuevas poéticas realistas fue la llegada en los primeros años sesenta del teatro brechtiano.“ 157 Die in den Fokus rückenden Implikationen für das Verhältnis von Dargestelltem und Rezipienten unterscheiden die Infragestellung der Möglichkeiten der Wirklichkeitsdar‐ stellung Mitte des 20. Jh. von früheren Tendenzen in der Historischen Moderne. Diese durchstießen die vierte Wand nämlich nicht, obgleich sie mit vom Realismuskonzept des 19. Jh. brachen. Vielmehr erschufen sie eine eigene Realität, was sich in Begrifflichkeiten wie dem „Sur-Realismus“ widerspiegelt. stärkeren Gewichtung des performativen im Gegensatz zum mimetischen Darstellungsmodus. Die Wirklichkeitsillusion wurde zunehmend durch die Thematisierung der eigenen Materialität und Konstruiertheit gebrochen. 154 Die gesteigerte Komplexität der Inszenierungen des unabhängigen Theaters war somit nicht nur Reaktion auf die in der Frühphase zu übertölpelnde Zensur, diente sie doch gleichermaßen als Beleg für eine Weiterentwicklung der spani‐ schen Bühne unter Einfluss moderner und postmoderner Tendenzen aus der internationalen Theaterszene. Además del permanente espíritu crítico, el teatro independiente generó una peculiar estética, nacida, en parte, de las condiciones mismas de su existencia: autoría colectiva, menor importancia del texto, auge de la expresión corporal, ‚teatro pobre’, trucos para burlar la censura, renovación del lenguaje escénico… 155 Besondere Bedeutung für die hier von Andrés Amorós hervorgehobene „pecu‐ liar estética“ des Teatro independiente fiel in diesem Kontext der Rezeption Bertolt Brechts zu, der eine Antwort auf die Frage nach einem neuen Reali‐ smuskonzept zu liefern schien. 156 Die Theorie des epischen Theaters war ein Beleg dafür, dass die kritische Auseinandersetzung mit außerfiktionaler Realität nicht der Illusion der selbigen auf der Bühne bedurfte. Im Gegenteil, Brechts bewusster Illusionsbruch steigerte die politische Wirkmacht des Theaters im Hinblick auf die Lebenswelt des Zuschauers, und dies insbesondere aufgrund der Verwendung anti-mimetischer Techniken. Nachdem im Spanien der 40er Jahre ein Rückgriff auf Formen des realistischen Theaters zu verzeichnen war, der sich aufgrund der prekären ökonomischen und sozialen Situation der Kriegs- und Nachkriegszeit eingestellt hatte, begann spätestens mit der Rezeption Brechts ein Umdenken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem. 157 Brechts Theorie verhalf der dem Naturalismus in‐ härenten Intention der Wissenschaftlichkeit, die „unter der Herrschaft des 62 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="63"?> 158 Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas, 1880-1950, Frankfurt a. M. 1963 (= Edition Suhrkamp, 27), S.-115. 159 Vgl. Szondi, Theorie des modernen Dramas, S.-115ff. 160 Aznar Soler, Manuel: „Presentación“, in: Sanchis Sinisterra, José, La escena sin límites. Fragmentos de un discurso teatral, Ciudad Real 2 2012, S.-15 (FN 13). [aristotelischen] dramatischen Formgesetzes nur in thematischer Verhüllung auftreten durfte“ 158 , zur Praxis. Durch die Objektivierung des Subjektiven mittels Verfahren der Verfremdung durchbrach er die Illusion des Dargestellten und unterband die Immersion des nun zur kognitiven Stellungnahme aufgefor‐ derten Rezipienten. Das Aufwecken des schlummernden Kulturkonsumenten stellte das anti-diktatorische Potential der Brechtschen Theorie dar, die der unabhängigen oppositionellen Theaterszene die inszenatorischen Waffen gegen die franquistische Unterhaltungskultur lieferte. 159 Die im politischen Theater Brechts geübte Kritik an jeder Form der ideologischen Manipulation vollführte sich konsequenterweise sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene: Dem innerfiktionalen Aufdecken der Konstruiertheit von Machtverhältnissen folgte das Aufdecken der Konstruiertheit des theatralen Spiels. Dieser bewusste, aufklärerische Verweis auf die Gemachtheit des Dargestellten steht im Einklang mit der etwas später formulierten Ideologiekritik der Poststrukturalisten. Insbesondere das Werk von José Sanchis Sinisterra zeigt sich deutlich be‐ einflusst von der Theorie Brechts, denn sie lieferte ihm das Gerüst, das er benötigte, um die ihn beschäftigenden Fragen sowie seinen politischen Antrieb in innovative Inszenierungsformen zu überführen: „Descubrí a un autor que conciliaba las preocupaciones estéticas y la constitución de una poética con la lucha política. Pues era mi padre, era justamente lo que necesitaba para organizar ese caos culturalista, idealista, que tenía en la cabeza.” 160 Das Bestreben, die Gemachtheit des fiktionalen Spiels den Rezipienten vor Augen zu führen, zeigt sich genauso im dramatischen und theatralen Schaffen anderer Vertreter der Generación del 82. So hebt Cristina Santolarias in ihrer Monographie Fermín Cabal, entre el realismo y la vanguardia hervor, dass Cabals Ästhetik geradezu liminalen Charakter aufweist, vermengt sie doch Mechanismen der humoristischen Tradition Spaniens (Sainete, Farce, etc.) und setzt diese mit modernen Darstellungsformen in Beziehung. Dazu gehört neben dem Metatheater und den intertextuellen Verweisen auch die bewusste Aufhebung der räumlich-zeitlichen Logik sowie eines linear-logischen Geschichtsbewusstseins. Diese Gleichzeitigkeit von ethischer Kompromittierung und ästhetischer In‐ novation beschreibt der Literatur- und Theaterwissenschaftler Wilfried Floeck als besonderes Charakteristikum der Generación del 82. ‚Realismus’ wird viel‐ 1 Ästhetische Sozialisation (1939-1975) 63 <?page no="64"?> 161 Floeck, Wilfried: „¿Entre posmodernidad y compromiso social? ”, in: ders./ Vilches de Frutos, María Francisca (Hgg.), Teatro y sociedad en la España actual, Madrid/ Frankfurt a.-M. 2004 (Teoría y práctica del teatro, 13), S.-198. 162 Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, 1991. 163 Unter Rekurs auf Hans Bertens’ The Idea of Postmodernism (1995) spricht Wilfried Floeck von der Krise der Repräsentation als „el mínimo común denominador de la visión del mundo posmoderna.“ Vgl. Floeck, „¿Entre posmodernidad y compromiso social? ”, S. 190. mehr als Haltung verstanden denn als formal-strukturelles Paradigma. In seinem Aufsatz „¿Entre posmodernidad y compromiso social? “ beleuchtet Floeck Spaniens Dramen- und Theaterproduktion des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts und formuliert dabei bereits im Titel die im Text ausgeführte These der Co-Existenz postmoderner Formelemente und ethischer Implikation, ohne jedoch auf die Wichtigkeit der eben beschriebenen ästhetischen Soziali‐ sierung im Teatro independiente hinzuweisen. Mit Blick auf José Luis Alonso de Santos, Fermín Cabal und José Sanchis Sinisterra betont er, dass sich im Theater der Generación del 82 formal-ästhetische Neuerungen und Brüche in den Dienst der geübten ethisch-moralischen Kritik stellen: Las obras teatrales de Alonso de Santos, Cabal y Sanchis Sinisterra ilustran que el nuevo teatro que se desarrolla en la España democrática a partir de la segunda mitad de los años setenta, está marcado de manera creciente por una estética posmoderna, sin, por eso, renunciar a los planteamientos éticos y al compromiso social del teatro anterior [de la Generación Realista]. 161 Floeck plädiert somit für eine strikte Trennung eines mit Wolfgang Welsch 162 als ‚postmodern’ bezeichneten ideologischen Relativismus, der sich in extremer und fehlinterpretierter Form bis hin zur Indifferenz radikalisiert, von formalen Spielarten der Postmoderne, die aus der Skepsis gegenüber dem Zeichen und der sich daraus ergebenden Unmöglichkeit der Repräsentation erwachsen. 163 Diese semiotische Unsicherheit, der Zweifel an der Repräsentation durch das Zeichen, der die erkenntnistheoretische Fundierung poststrukturalistischer Philosophie darstellt, lieferte die Basis für anti-mimetische Verfahren, für die Dekonstruktion der räumlich-zeitlichen Logik, für intertextuelle Verweise sowie für metafiktionale Reflexion. Im Gegensatz zur historischen Moderne, deren ästhetische Verfahren stark an die Postmoderne erinnern, geht es in der Postmoderne weniger um die Darstellung einer unüberschaubaren, chaotischen und fragmentarsichen Wirklichkeit, sondern um die Infragestellung dessen, was überhaupt unter Wirklichkeit und Bedeutung zu verstehen ist. Die Lyo‐ tard’sche guerre au tout greift tiefer, wie Jeannette R. Malkin in ihrer Studie „Memory-Theater and Postmodern Drama“ mit Blick auf die Ähnlichkeiten und 64 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="65"?> 164 Malkin, Jeanette R.: Memory-Theater and Postmodern Drama, Michigan 1999, S.-18f. 165 José Sanchis Sinisterra spricht hinsichtlich der Bedeutung Brechts für das Theater gar von einer „reforma copernicana“; vgl. Sanchis Sinisterra, La escena sin límites, S.-97. 166 Insbesondere der hier behandelte José Sanchis Sinisterra kam früh mit den Theorien der französischen Poststrukturalisten in Berührung. 1960 unternimmt er eine Reise nach Paris, wo er als junger Akademiker mit den in Frankreich aufkommenden Geistesströmungen in Kontakt kam. Vgl. Piñero, Tres voces fundamentales, S.-24. Unterschiede zwischen moderner und postmoderner Theaterästhetik heraus‐ stellt. Der Anspruch, das große Ganze, die Wirklichkeit, durch Fragmentierung und Fragilisierung der Darstellung narrativ zu fassen, wird zugunsten der vermehrten Interaktion und Aktivierung der Zuschauer und Leser aufgegeben. Mit Blick auf Dramen und Aufführungen, die an historische Ereignisse und Abschnitte erinnern bzw. Vergangenheit ästhetisch rekonstruieren, bedeutet dies, dass die Rezipienten die eingesetzten Leerstellen innerhalb der Darstellung mit ihren eigenen Überlegungen zu füllen haben. Die Theaterstücke, die sich den Ereignissen der Vergangeneheit widmen, rücken den Fokus von der Geschichte auf die Erinnerungskultur; statt die kollektive Vergangenheit zu synthetisieren und ihr zu historiographischer Einheitlichkeit zu verhelfen, geht es darum, die je individuellen Erinnerungen zu aktivieren und innerhalb des Rezeptionsproz‐ esses zuzulassen. 164 Der bewusste Aufbau rezeptiver Uneindeutigekeit im Theater, das Spiel mit der Grenze zwischen Illusion und Lebenswelt, das den Rezipienten zur kognitiven Stellungnahme aufforderte und dabei gleichzeitig formale Muster aufbrach, etablierte sich im europäischen Theater der 60er Jahre u. a. dank der Theorie Brechts. 165 Spanischen Dramatikern des unabhängigen Oppositi‐ onstheaters diente sie - zumindest theoretisch - als innovatives Instrument, das sich gegen die manipulative Belämmerung der Bevölkerung innerhalb eines autoritären Systems ohne kulturelle Freiheit einsetzen ließ. 166 Brecht sah den Zuschauer als Bürger, nicht als Konsumenten. Er sprach dem Theater eine gesellschaftsverändernde Kraft zu und bediente damit den Anspruch der antifranquistischen Theaterszene. In seinem Aufsatz „Después de Brecht“ (1968) betont Sanchis Sinisterra das Bedeutungspotential einer intensiven Auseinan‐ dersetzung mit dem Theatermacher für den Anschluss der spanischen Bühne an die europäische Theateravantgarde und kritisiert auf diese Weise die in Spanien seiner Meinung nach ungenügende Ausreizung der brechtschen Theorie, die in den ausgehenden 60er Jahren zwar breit rezipiert, jedoch seines Erachtens nicht in genügender Weise umgesetzt wurde: Para incorporarnos sin papanatismos a las últimas tendencias del teatro occidental, deudoras en gran parte de Brecht, opuestas a veces pero nunca ajenas, sería necesario: 1 Ästhetische Sozialisation (1939-1975) 65 <?page no="66"?> 167 Sanchis Sinisterra, La escena sin límites, S.-96. 168 De Paco, Mariano: „El teatro español en la transición: ¿Una generación olvidada? “, in: Anales de Literatura Española, 17 (2004), S.-147 (FN 5). a) Un conocimiento exhaustivo de su aportación al teatro como teórico, como dramaturgo y como director escénico. b) Una selección de aquellas aportaciones válidas aquí y ahora. c) Una adaptación de las mismas a las peculiaridades de nuestra sociedad. 167 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung Das Streben nach ästhetischer Innovation war für die Vertreter des unabhän‐ gigen Oppositionstheaters nicht nur die Konsequenz der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theatertheorien, sondern gleichermaßen Grundlage für den politischen Kampf gegen die Strukturen des autoritären Systems aus dem Theater heraus. Das Entlarven des Illusorischen galt für die Propaganda des Regimes wie auch für das eigene Medium. Die ästhetische Sozialisation inner‐ halb des Teatro independiente bildete das Rüstzeug sowie den Ausgangspunkt für das Schaffen der Generación del 82 nach dem Beginn des Demokratisierungs‐ prozesses. Der Einführung der Meinungsfreiheit am 1. April 1977 folgte die am 27. Januar 1978 durch ein königliches Dekret besiegelte Darstellungsfreiheit bei Bühnenaufführungen. Die Abschaffung des Jahrzehnte währenden Zensurap‐ parats repräsentierte eine der signifikantesten Veränderungen, stellte diese doch einen symbolischen Sieg für all diejenigen dar, die sich während der Diktatur sowie der frühen Phase des Übergangs gegen die schöpferische Unfreiheit auf‐ gebäumt hatten. Folgender Auszug aus dem königlichen Dekret dokumentiert die grundrechtliche Fixierung des freien szenischen Ausdrucks: La libre expresión del pensamiento a través del teatro y demás espectáculos artísticos, como manifestación de un derecho fundamental de la persona, no puede tener otros límites que los que resulten del ordenamiento penal vigente, así como el respeto debido a los intereses generales. 168 Das Recht auf freie Meinungsäußerung, „la libre expresión del pensamiento“, kennt natürlicherweise auch nach dem Inkrafttreten der Abschaffung der Junta de Censura ihre Grenzen, auch wenn diese in einem demokratischen Rechtsstaat weitaus weniger deutlich markiert sind als in autoritären Systemen. Die Defi‐ nition des Sagbaren richtet sich laut Dekret an der bestehenden Rechtsordnung 66 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="67"?> 169 Vgl. Aznar Soler, Manuel: „Teatro español y sociedad democrática (1975-1995)“, in: ders. (Hg.), Veinte años de teatro y democracia en España, 1975-1995, Sant Cugat del Vallès 1996, S.-9. 170 Vgl. Rubio Jiménez, Jesús, „Vom unabhängigen Theater zum Neocostumbrismo“, FN 6. 171 Pérez Coterillo, Moises: „Presentación“, in: Matilla, Luis/ López Mozo, Jerónimo, Como reses, Madrid 1980, S.-5. 172 Cabal/ Alonso de Santos, Teatro español de los 80, S.-152. sowie den in erster Linie von der Politik und der Rechtssprechung bestimmten „intereses generales“ aus. Diese Formulierung belegt zum einen die stetige Abhängigkeit des öffentlichen Ausdrucks von den etablierten politischen Rah‐ menbedingungen (les cadres sociaux), zum anderen erlaubt ihre (notwendige) definitorische Uneindeutigkeit einen gewissen interpretatorischen Spielraum zugunsten der Exekutive. Die vom Consejo de Guerra veranlasste Aussetzung des Stücks La torna der katalanischen Gruppe Els Joglars Ende 1977 führte die Grenzen der freien Meinungsäußerung exemplarisch vor Augen; der von Albert Boadella geleiteten Truppe wurde vorgeworfen, das spanische Militär zu verunglimpfen. 169 Dass die Abschaffung der Zensur nicht mit der faktischen Etablierung künstlerischer Freiheit einherging, bewies des Weiteren ein am 7. April 1978 verabschiedeter königlicher Erlass, der eine Kommission zur Beurteilung von Schauspielen einsetzte. 170 Das Vorwort zu seinem Drama Como reses (1980) leitet Jerónomo López Mozo, einer der Vertreter der Generación del 82, mit folgenden Worten ein: Poco o nada ha ocurrido para el teatro durante la transición política de la dictadura a la democracia homologable, en el sustrato profundo de la realidad española […]: la constitución, la abolición de la censura como oficio, las hermosas palabras sobre la libertad de expresión… han venido acompañadas por el desmentido cruel de la realidad: el proceso de „Els joglars“, el sutil trasvase a formas de disuasión de los gestos censoriales, como la negativa de las subvenciones o las veladas advertencias; el especial cuidado puesto en dinamitar, precisamente, los resortes de renovación profunda del teatro en este país, en lo que se refiere a impedir la evolución de grupos y colectivos teatrales, que fueron durante la dictadura una forma activa de entender la resistencia cultural […]. 171 Trotz dieser Einschränkungen waren die Erwartungen der Kulturakteure nach Francos Tod groß. In einem Interview äußerte sich José Luis Alonso de Santos wie folgt über die historische Umbruchstimmung: „Hay que decir […] que eran tiempos muy especiales, se acababa la dictadura, la muerte de Franco, parecía que todo era posible […].“ 172 Die Zäsur, die das Jahr 1975 für Spanien darstellte, veränderte die politische Realität des Landes nachhaltig und setzte in der Folge 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung 67 <?page no="68"?> 173 García Lorenzo, Luciano: „El teatro español después de Franco (1976-1980)“, in: Segis‐ mundo. Revista hispánica de teatro, 14, (1980), S. 271-285. García Lorenzo resümiert die für das spanische Theater relevanten Veränderungen fünf Jahre nach Francos Tod. Die zeitliche Nähe zu den Ereignissen soll aufgrund des Mangels an historischer Distanz keineswegs als Nachteil betrachtet werden, sondern vielmehr als authentisches Dokument aus jener Zeit. Vgl. ebenso Stenzel, Hartmut: Einführung in die spanische Literaturwissenschaft, Stuttgart/ Weimar 2 2005, S.-241 ff. 174 Rubio Jiménez, „Vom unabhängigen Theater zum Neocostumbrismo“, S.-315. 175 Stenzel, Einführung, S.-242. neue kulturpolitische Vorzeichen: Zu den wichtigsten Maßnahmen im Hinblick auf das Theater gehörten auf politisch-institutioneller Ebene neben dem Ende der Zensur sicherlich die Schaffung des Kulturministeriums im Juli 1977 und der in das Ministerium integrierten Dirección general de Teatro y Espectáculos (später Dirección general de Teatro y Música), das 1985 im Instituto Nacional de las Artes Escénicas y de la Música (INAEM) aufging. Die Institution förderte die Dezentralisierung der spanischen Theaterlandschaft durch das die Gründung des staatlichen Centro Dramático Nacional (1977) und der Centros Dramáticos in den autonomen Regionen, die zum dem bereits 1971 gegründeten, in der Universität Murcia ansässigen Centro de Documentación Teatral hinzutraten. Die explizite Aufnahme des Theaters in die kulturpolitischen Strukturen Spaniens wurde durch die Wiederbelebung der Real Escuela de Arte Dramático in Madrid und des Instituto de Teatro in Barcelona komplementiert. 173 Die insbesondere durch die ab 1982 regierenden Sozialisten zur Verfügung gestellten Geldmittel für die Subventionierung des Theaters stiegen von 325,5 Millionen Peseten (ca. 3,2 Millionen Euro) im Jahr 1978 auf ca. 10 Milliarden Peseten (100 Millionen Euro) im Jahr 1986. 174 Dieser tiefgreifende Strukturwandel „führte […] zu einer deutlichen Erhöhung des institutionellen, von der Zentralregierung der Comunidades Autónomas sowie von Kreis- und Stadtverwaltungen geförderten Theaterangebots.“ 175 Neben den weiterhin bestehenden kommerziellen Bühnen etablierten sich während der ersten Jahre nach Francos Tod von öffentlicher Hand geförderte Theaterhäuser, die mit den privaten und alternativen Sälen in Konkurrenz traten. Trotz der Förderung verbesserte sich die Situation jedoch nicht in dem von den Kulturschaffenden erhofften Maße. Mit Blick auf das spanische Theater der transición stellen Javier Tusell und Genoveva García Queipo resümierend fest: „Die politischen Freiheiten brachten die kulturelle Landschaft nicht unmit‐ telbar zum Blühen. Obwohl alle Einschränkungen der künstlerischen Freiheit aufgehoben wurden, blieb die erwartete explosionsartige Entfaltung des künst‐ lerischen Schaffens aus.“ 176 Zumindest in den ersten Jahren des Postfranquismus machte die anfängliche Euphorie der lange Zeit marginalisierten Theaterszene 68 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="69"?> 176 Tusell, Javier/ García Queipo de Llano, Genoveva: „Die Kultur in der Zeit des politischen Umbruchs“, in: Bernecker, Walther L./ Collado Seidel, Carlos (Hgg.), Spanien nach Franco, München 1993 (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 67), S.-232. 177 Rubio Jiménez, „Vom unabhängigen Theater zum Neocostumbrismo“, 311ff. 178 Alberto Miralles fasst die Situation wie folgt zusammen: „[…] das Teatro independiente gab bei seiner Suche nach Stabilität, die ihren Ausdruck in der Fixierung auf einen festen Spielort fand, das Umherziehen und die Dezentralisierung, die es kennzeichneten, auf, Es glaubte, dass die Verbreitung der Kultur im Volk in einer aufblühenden Demokratie Sache des Staates sei, und verlor auf diese Weise seine gesellschaftliche Zielrichtung. Eng mit dem jeweiligen Autonomieprozess verbunden, unterstützte es automatisch die entsprechende Regierung und gab auf diese Weise auch seinen kritischen Anspruch auf. Der Theatersaal, der ihm Stabilität verschaffen sollte, hatte im Grunde eine gegenteilige Wirkung. Sein Erhalt bedeutet eine ständige finanzielle Belastung, un die Angst vor dem Konkurs oder der Schließung stützte das unabhängige Theater einerseits in die Abhängigkeit von Subventionen und ließ es andererseits mehr an den kommerziellen Erfolg, an die Konkurrenzfähigkeit mit den Modellen anderer, in der Regel offizieller Häuser mit einer entsprechenden technischen Ausstattung denken und brachte es dadurch auf den gefährlichen Weg der prächtigen, multifokalen und sehr teuren Schauinszenierungen, die es unmöglich machte, wie zuvor, die Kosten durch Überstunden der eigenen Schauspieler zu decken.“ Miralles, Alberto: „La progresiva domesticación de la vanguardia teatral durante la transición española“, in: Fernández Lera, Antonio (Hg.), Nuevas tendencias escénicas, La escritura teatral a debate, Madrid 1985 (Teoría escénica, 1), S.-29. Enttäuschung und Frustration Platz. In einem Beitrag zum spanischen Theater der 80er Jahre spricht Jesús Rubio Jiménez gar von einer „Krise des Teatro independiente“ 177 . Denn die bereits beschriebene politisch-ökonomische Öffnung des Landes sowie die zunehmende Lockerung der zensorischen Maßnahmen in den letzten Jahren der Diktatur hatte das Ende der unabhängigen Theater‐ szene bereits vor 1975 eingeläutet. Diese nur scheinbar paradoxe Entwicklung intensivierte sich nach Francos Tod. Denn der vermeintliche Freiheitsgewinn entpuppte sich als Vabanquespiel zwischen den neuen künstlerischen Mög‐ lichkeiten und den finanziellen Abhängigkeiten innerhalb des neoliberalen Kulturmarktes. Die landesweite Schaffung von Spielstätten sowie die staatli‐ chen Subventionen schufen ab Mitte der 70er Jahre Verbindlichkeiten für die Vertreter der unabhängigen Szene, die Unbekümmertheit der “Hoffnungslosen“, die grundlegend für das Schaffen des Teatro independiente war, wurde durch Wettbewerbsdruck und finanzielle Erwartungen ersetzt. 178 Der katalanische Dramatiker Josep María Benet i Jornet (*1940) betonte unter Bezug auf seine Mitstreiter die paradox wirkende Bedeutung der politischen Repression für den kreativen Prozess: 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung 69 <?page no="70"?> 179 Josep Maria Benet i Jornet zit. nach Ordóñez, Marcos: „Todo empezó en 1976“, in: El País, 06. Oktober 2007, URL: https: / / elpais.com/ diario/ 2007/ 10/ 06/ babelia/ 1191627599_ 850215.html [10. April 2016]. 180 So z. B. das Teatre Lliure in Barcelona oder das Teatro de la Abadía in Madrid; vgl. González, Antonio B.: „Teatro y gestión: Teatro de la Abadía de Madrid“, in: Floeck, Wilfried/ Vilches de Frutos María Francisca (Hgg.), Teatro y sociedad en la España actual, Madrid/ Frankfurt a.-M. 2004 (= Teoría y práctica del teatro, 13), S.-31-52. 181 Vgl. Vilches de Frutos María Francisca: „Creación autorial y gestión teatral: una interrelación en la escena española contemporánea“, in: Floeck, Wilfried/ dies. (Hgg.), Teatro y sociedad en la España actual, Madrid/ Frankfurt a. M. 2004 (= Teoría y práctica del teatro, 13" S.-20f. En los años cincuenta y sesenta […] Brossa, Espriu, Pedrolo o Joan Oliver tuvieron que trabajar en las catacumbas, porque el público era incapaz de asumirlos. Paradóji‐ camente, esa situación acabó ofreciéndonos una enorme libertad. Sabíamos que no importábamos a nadie y que nunca ganaríamos ni cinco céntimos, así que, de perdidos al río, escribimos lo que nos dio la gana. 179 Statt der Regeln des autoritären Systems galten nach 1975 die des freien Marktes, das Theater musste sich das hinsichtlich experimenteller Formen wenig geschulte Publikum erkämpfen, wirkte jedoch im Vergleich zum Varieté, zum Musiktheater oder zum Unterhaltungsfernsehen weit weniger attraktiv. Vor allem das Kino hatte dem Theater den Rang abgelaufen, Regisseure wie Carlos Saura, Víctor Erice, Fernando Fernán Gómez, Basilio Martín Patiño, Juan Antonio Bardem und Pedro Almodóvar brachten die Ängste, Hoffnungen und neuen Freiheiten einer Gesellschaft im Übergang auf die Leinwand. Dies hatte zur Folge, dass private Bühnen vor allem dann ein Stück in den Spielplan aufnahmen, wenn sie sich davon einen Kassenerfolg versprachen. Aber auch die Teatros públicos waren gezwungen, den marktwirtschaftlichen Anforderungen der neoliberalen Kulturpolitik gerecht zu werden. So bewahrten sich die öffentlichen Häuser ihre Eigenständigkeit lediglich ein gutes Jahrzehnt, bevor sie sich - nach einem merklichen Einbruch der Zuschauerzahlen Ende der 1980er Jahre - auf Formen der Mischfinanzierung mit Stiftungen oder Privatfirmen einließen. 180 Die Literaturwissenschaftlerin Francisca Vilches de Frutos sieht diese Ökonomisierung des öffentlichen Theaterwesens kritisch: Las medidas tomadas habían conducido a la marginación de los autores teatrales españoles de las salas públicas, en especial de los ya consagrados [die Generación realista, D. H.]. Además, los modelos de selección de las creaciones elegidas resultaban poco transparentes y no favorecían en muchas ocasiones las mejores propuestas. 181 Die Jahre zwischen 1976 und 1982 waren vom kulturpolitischen Versuch ge‐ prägt, einigen der dem Franquismus zum Opfer gefallenen Dramatikern eine 70 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="71"?> 182 Vgl. Floeck, „El teatro español contemporáneo (1939-1993)“, S. 30: Los cuernos des Don Friolera (1976), Divinas palabras (1976). 183 Vgl. Floeck, „El teatro español contemporáneo (1939-1993)“, S. 30: La casa de Bernarda Alba (1976), Así que pasen cinco años (1978/ 1979). 184 Floeck, „El teatro español contemporáneo (1939-1993)“, S. 30: El adefesio (1976), Noche de Guerra en el Museo del Prado (1978/ 1979). 185 Vgl. Floeck, „El teatro español contemporáneo (1939-1993)“, S. 30: Sastre (Taberna fantástica) und Buero (La doble historia del Doctor Valmy, 1976), Nieva (La carroza del plomo candente, 1976), Martín Recuerda (Las arrecogías del beaterio de Santa María Egiciaca (1987), Rodríguez Méndez (Las bodas que fueron famosas de Pingajo y la Fandanga, 1978), Riaza (Retrato de dama con perrito, 1978). erneute oder nachträgliche Berechtigung auf Spaniens Bühnen zu erteilen. In der so genannten Operación Restitución wurde an das avantgardistische Theater der 20er und 30er Jahre angeknüpft und während der Diktatur nicht aufgeführte Autoren wie Ramón del Valle-Inclán 182 , Federico García Lorca 183 oder Rafael Alberti 184 in die Spielpläne integriert. Diese Maßnahme war trotz ihrer symbo‐ lischen Bedeutung aus finanzieller Perspektive ebensowenig erfolgreich wie die Operación Rescate, die nachträgliche Aufnahme der von der franquistischen Zensur einst verbotenen Autorinnen und Autoren des inneren und äußeren republikanischen Exils in den Theaterkanon. Obwohl es einigen wenigen Vertretern der alten Theatergeneration auch nach 1975 gelang, Stücke auf die Spielpläne zu bringen 185 , waren diese Erfolge wohl vor allem der stilistischen Nähe zu den Stücken der jungen, nach 1975 in Erscheinung tretenden Theater‐ generation geschuldet und können nicht als nachträgliche Anerkennung des generationalen Gesamtwerks betrachtet werden. Das Theater als öffentliche Institution sah sich gezwungen, auf die veränderte Realität und die veränderten Erwartungen des Publikums zu reagieren, was insbesondere den Autoren schwerfiel, deren Schreiben über Jahrzehnte hinweg ein Schreiben gegen die Diktatur war. Der Verlust dieses Referenzpunktes ließ ihr bisheriges Werk als überdauert und das neu geschriebene als nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Diese Unzeitgemäßheit gründete sich nicht zuletzt auf der Diskrepanz zwischen ihrem Theaterverständnis und dem herrschenden Zeitgeist nach 1975: […] los efectos de la cultura del consenso y de la política de la reconciliación […] no quedaron sin repercusiones en los escenarios. En primer lugar, se puede constatar que los dramaturgos de la Generación Realista y los representantes del Nuevo Teatro Español y de sus adeptos más jóvenes, que bajo la dictadura franquista habían llevado 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung 71 <?page no="72"?> 186 Floeck, Wilfried/ García Martínez, Ana: „Memoria y olvido entre bastidores: Guerra civil y franquismo en el teatro español después de 1975“, in: Reinstädler, Janett (Hg.), Escribir después de la dictadura. La producción literaria y cultural en las posdictaduras de Europa e Hispanoamérica, Madrid/ Frankfurt a. M. 2011, S. 101. Die wohl bekanntesten Beispiele liefern die Dramatiker Alfonso Sastre (mit Ausnahme des bereits 1965 verfassten Stücks La sangre y la ceniza) und Antonio Buero Vallejo, dessen nach 1975 entstandenen Stücke wohl v.-a. aus Respekt vor dem Geleisteten gespielt wurden. 187 García Martínez, El telón de la memoria, S.-129. 188 Pérez Jiménez, Manuel: El teatro de la transición política (1975-1982): recepción, crítica y edición, Kassel 1998 (= Problemata literaria, 42), S.-85. 189 Pérez Jiménez, El teatro de la transición política (1975-1982), S.-85. una lucha difícil contra la censura, no pudieron alcanzar el éxito esperado después de la muerte de Franco. 186 Zwar gelang es Autoren wie Alfonso Sastre oder Antonio Buero Vallejo auch nach 1975, neben bereits Geschriebenem auch Neues zu inszenieren, doch der gesellschaftskritische, scharfzüngige Stil der Vertreter der Generación realista korrespondierte weder mit den Erwartungen des Publikums nach inhaltlicher und formaler Neuerung noch mit den während der Transition herrschenden Lemmata der Versöhnung und des Konsenses. 187 Dies zeigte sich deutlich an dem mangelnden Enthusiasmus, mit dem die Theaterkritik das 1979 aufgeführte Stück Jueces en la noche von Buero Vallejo kommentierte. Mariano de Paco erklärt die mediale Zurückhaltung damit, dass die von Buero Vallejo formulierte Kritik an der Wendehals- und Vergessenspolitik der Transitionspolitiker nicht mit dem Klima des Konsenses in Einklang zu bringen war. Die Feuilletonisten reagierten uneinsichtig angesichts des manichäistischen Stils und des existen‐ zialistischen Fatalismus, ein Attribut, das für die Generación realista charakte‐ ristisch war, jedoch am neuen Zeitgeist zu zerbrechen schien: Qué nos da en Jueces en la noche? Un retrato de esta España dividida con unas derechas malísimas y una izquierda celestial, angelical, si se me permiten tales adjetivos para denominar a los ‘rojos’, ya que tal palabra se pronuncia en más de una ocasión sobre las tablas […]. 188 [Ya] Nadie habla como en la vida: se habla como en el teatro - en el peor sentido de esta expresión - y, a veces, como en los periódicos, cuando la obra se vuelve panfletaria. Los personajes son tópicos, las palabras son tópicas. 189 [El País] 72 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="73"?> 190 Pérez Jiménez, El teatro de la transición política (1975-1982), S.-85. 191 Im Jahr 1985 feierte Alfonso Sastre einen Bühnenerfolg mit dem Stück La taberna fantástica. Nach der mäßigen Kritik an dem 1990 aufgeführten Werk Los últimos días de Emmanuel Kant beschloss er, keine Dramen mehr zu verfassen; vgl. Aznar Soler, „Teatro español y sociedad democrática (1975-1995)“, S.-14. 192 Vgl. Aznar Soler, „Teatro español y sociedad democrática (1975-1995)“, S. 14; vgl. zudem Rubio Jiménez, „Vom unabhängigen Theater zum Neocostumbrismo“, S. 315: „Nicht weniger bezeichnend für diese Jahre [des Übergangs, D.H.] ist die Tatsache, dass in den Schaltstellen sowohl der politischen Entscheidung, als auch der Theaterverwaltung eine altersbedingte Ablösung stattgefunden hat, die in vielen Fällen der Bewegung des Teatro independiente nahestehende Personen in die entsprechenden Ämter brachte.“ 193 Vgl. Doménech Rico, Fernando: „Introducción“, in: Amestoy Egiguren, Ignacio, Violetas para un borbón: la reina austríaca de Alfonso XII. Dionisio Ridruejo - Una pasión española, Madrid 2015 (= Letras hispánicas, 757), S.-14. Cae el autor en un maniqueísmo más extremado […]. Hay algo en que el autor de la experiencia y la autoridad de Buero Vallejo no debería haber caído: la acumulación de cargos contra un solo personaje. 190 [ABC] Trotz gewisser Erfolge 191 entsprachen die blockbildende, ideologische Schwarz‐ weißmalerei der Generación Realista weder der Komplexität einer sich demo‐ kratisierenden Übergangsgesellschaft noch dem Leitmotiv des Konsenses. Um auf die veränderte Realität antworten zu können, waren neben inhaltli‐ cher Zukunftsgerichtetheit, die sich auf dem Wunsch der Versöhnung gründete, neue theatrale Ausdrucksformen gefragt. Diese Aufgabe fiel jenen Vertretern des ehemaligen Teatro independiente zu, die den Übergang von einem autoritären zu einem demokratischen System meisterten, indem sie sich innerhalb der libe‐ ralisierten Theaterlandschaft sowohl durch ihre innovative Theaterästhetik als auch mittels ihrer beruflichen Anstellungen in Universitäten, in Theaterhäusern oder in der Kulturpolitik zu positionieren verstanden. Zu diesen gehörten José Sanchis Sinisterra, José Luis Alonso de Santos und Ignacio Amestoy. 192 Theoretische Abhandlungen, Artikel und Interviews bezeugen das Bewusst‐ sein der Generación del 82, die von Eduardo Pérez-Rasilla auch als Generación del cambio 193 bezeichnet wurde, bezüglich ihrer Verantwortung als Initiatorin einer notwendigen dramen- und theaterästhetischen Weiterentwicklung, die nicht zuletzt eine Reinigung der Ästhetik von der franquistischen Ideologie bedeutete. Die Aufnahme neuer Inhalte war demzufolge ebenso wichtig wie die Überwindung bestehender Formen. Im Manifest der im Jahr 1977 von José Sanchis Sinisterra ins Leben gerufenen Theatertruppe El Teatro Fronterizo, die als Alternative zum kommerziellen Theaterbetrieb den Grundgedanken des Teatro independiente fortführte, betont der Dramatiker die Verflechtung von Form 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung 73 <?page no="74"?> 194 Sanchis Sinisterra, La escena sin límites, S.-37. und Inhalt. Der Kampf gegen das durchideologisierte bürgerliche Theater des Franquismus könne nur durch die völlige Ablösung von bestehenden Inhalten und Formen vollzogen werden: Para crear una verdadera alternativa a este ‘teatro burgués’, no basta con llevarlo ante los públicos populares, ni tampoco con modificar el contenido ideológico de las obras representadas. La ideología se infiltra y se mantiene en los códigos mismos de la representación, en los lenguajes y convencionalismos estéticos que, desde el texto hasta organización espacial, configuran la producción y la percepción del espectáculo. El contenido está en la forma. Sólo desde una transformación de la teatralidad misma puede el teatro incidir en las transformaciones que engendra el dinamismo histórico. Una mera modificación del repertorio, manteniendo invariables los códigos específicos que se articulan en el hecho teatral, no hace sino contribuir al mantenimiento de ‘lo mismo’ bajo la apariencia de ‘lo nuevo’, y reduce la práctica productiva artística a un quehacer de reproducción, de repetición. 194 Diese Zitat führt vor Augen, dass sich Sanchis Sinisterra als einer der bedeu‐ tendsten Vertreter der neuen Theatergeneration der Notwendigkeit einer tran‐ sición teatral bewusst war, die parallel zu den gesellschaftlichen und politischen Transformationen durchgeführt werden musste. Dieser Übergang bedurfte seines Erachtens einer radikalen Infragestellung überlieferter ästhetischer Kon‐ ventionen. Die theoretische Basis für diesen Umbruch lieferte die Verschmelzung der Theorien des politischen Theaters, allen voran Brechts, mit den Überlegungen derjenigen, die zu den Ursprüngen des theatralen Spiels zurückkehrten (z. B. Peter Brook) oder die Grenzen zwischen Nachahmung und Erleben neu er‐ probten (z. B. Jerzy Grotowski, Antonin Artaud). Hinzu kam der Einfluss der strukturalistischen und poststrukturalistischen Philosophie auf das europäische Theater: Die radikale Infragestellung eines transzendentalen Signifikats und der damit einhergehenden Dekonstruktion diskursiver Konstruiertheit, des objektivierten Subjektiven, führte konsequenterweise zur Selbstreflexion auf dem Theater durch antimimetische Spielarten. Dieser Selbstreferentialität auf formaler Ebene folgte ein inhaltliches Um‐ denken. Auf Basis einer dem Franquismus geschuldeten anti-ideologischen Haltung, die ihren Ausdruck in der Skepsis gegenüber jeder Form des Ideolo‐ gieglaubens und des Universalismus fand, sowie angesichts der Ohnmacht ge‐ genüber der Komplexität gesamtstruktureller Prozesse und diskursiver Macht‐ strukturen, verweigerten sich die Dramatiker der Generación del 82 jeder Form 74 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="75"?> 195 Rubio Jiménez, „Vom unabhängigen Theater zum Neocostumbrismo“, S.-317. 196 Vgl. Piñero, Tres voces fundamentales, S.-15. eines explikativen, Lösungen anbietenden Theaters. Vielmehr richtete sich der Blick auf das Partikulare, das Individuelle und Überschaubare. Die Welt des Alltäglichen, des Durchschnittlichen und Individuellen rückte in den Fokus und verdrängte Utopien und deren figurale Repräsentanten zunehmend von der Bühne. Jesús Rubio Jiménez beschreibt das Theater der ausgehenden 70er und vor allem das der 80er Jahre als eines, dessen Schwerpunkt auf der Analyse der jungen demokratischen Gesellschaft und ihrer Probleme liegt. Das Leben in den Großstädten Madrid und Barcelona, Drogenkonsum, Kriminalität, Armut, Sexualität, häusliche Gewalt und soziale Marginalisierung werden zu gängigen Themen auf der Bühne. Während die Literatur- und Theaterwissenschaftler R.L. Sheenon und César Oliva mit Blick auf das Theater der Generación del 82 von „Neo-realism“ bzw. von „nuevo realismo“ sprechen, wählt Jiménez den Begriff des neocostumbrismo. Damit betont er den nicht von der Hand zu weisenden Rückgriff der Dramatiker der 80er Jahre auf traditionelle und volkstümliche Gattungen, die vielfach den formalen Rahmen für die Gesellschaftsanalyse bildeten. 195 Hinzu kam die Verwendung humorvoller Dialoge, die sich nicht selten durch einen ironischen Tonus auszeichneten oder sich in der Verwendung kolloquialer Ausdrücke konkretisierten - beides Belege für die der Generación del 82 eigene Tendenz der Verquickung traditioneller Formen und Sprechweisen sowie zeitgenössischer Themen und Darstellungstechniken. 196 Auf diese Weise verschmolzen die spanische Theatertradition mit den be‐ reits beschriebenen Einflüssen wichtiger Dramen- und Inszenierungstheorien des 20. Jahrhunderts sowie poststrukturalistischer Philosophie. Die meisten Stücke spielen in einem städtischen Milieu und zeigen Figuren der Mittel- und Unterschicht. Diese scheitern häufig an der sie umgebenden Welt, die mehr Einschränkung als Freiheit zur Verfügung zu stellen scheint. Insbesondere die Großstadt wird als feindlicher Schauplatz inszeniert, an dem Idealisten an den Rand gedrängt werden. Die überaus erfolgreichen Stücke Tú estás loco, Briones (1978) von Fermín Cabal oder Bajarse al moro (1985) von José Luis Alonso de Santos belegen diese Annahme beispielhaft. Das Interesse an den aktuellen Problemen der spanischen Bevölkerung ist eine Gemeinsamkeit der Vertreter der Generación del 82 und ist gleichermaßen ihr Schlüssel zum Erfolg. Denn auch das Publikum schien nach 1975 ein Theater zu bevorzugen, das sich mit den Problemen der Aktualität auseinandersetzt, ein Theater, das eher als gesellschaftlicher Reflexionsraum, denn als illusionisti‐ 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung 75 <?page no="76"?> 197 Cabal/ Alonso de Santos, Teatro español de los 80, S.-171f. 198 Piñero, Tres voces fundamentales, S.-22f. scher Gegen-Raum fungiert. Im Gespräch mit seinem Kollegen José Luis Alonso de Santos unterstreicht der Dramatiker Fermín Cabal diese Tendenz: Lo que a mí me gusta es, en principio, lo que me sale, donde yo siento que me lo paso bien escribiendo, es con los problemas de la gente que me rodea ahora; qué nos pasa, qué queremos, por qué sufrimos, por qué reímos, a quién amamos, qué esperamos de las cosas, de nosotros mismos, cuál es el problema que no nos deja hacer algo etc. Eso es lo que me atrae. Yo creo que eso es además lo que atrae al público. 197 Ähnliches lässt sich, ohne dabei der Gefahr einer vereinfachenden Generali‐ sierung anheim zu fallen, mit Blick auf die Dramen von Alonso de Santos behaupten. Die Nähe zu den Menschen und ihren Problemen, Sorgen und Wünschen macht ihn laut Francisco Umbral zu einem „cronista de ahora mismo“; und vor dem Hintergrund des in dieser Studie unternommenen Ver‐ suchs, eine Antwort auf die Frage nach möglichen Ästhetisierungsformen der spanischen Erinnerungspolitik im Drama nach 1975 zu liefern, ist folgendes Urteil von Marina Piñero von besonderem Interesse, zeigt es doch die Intention, außerliterarische Phänomene mit den im Drama und Theater zur Verfügung stehenden Mitteln fassbar zu machen. Die dabei entstehende Verbindung mit der außerfiktionalen Welt bleibt nicht bei der Integration derselben stehen, sondern wird durch die von Alonso de Santos beabsichtigte Kommunikation des Dargestellten mit dem Rezipienten fortgeführt, so dass letztlich ein Dialog zwischen fiktionaler und außerfiktionaler Welt entstehen kann: Los personajes reproducen en su microcosmo los mismos desajustes que ven en la sociedad. Esta cualidad hace que los personajes estén en continua lucha con el entorno, interrogándose siempre sobre su propio modo de estar en el mundo. Pero por encima de cualquier formulación, me parece importante resaltar el afán comunicativo y empático del teatro de Alonso de Santos para el que el público (“prójimo”, como dice en muchas de sus declaraciones, siguiendo en esta compasión por sus semejantes a su admirado maestro A. Chejov) es el factor determinante de su trabajo. De ahí su lenguaje tantas veces humorístico y cercano. Ese amor a sus semejantes unido al amor al teatro como forma comunicativa […] le perfilan como autor […], no solo bajo un punto de vista escénico, sino también estético y filosófico. 198 In ihren Inszenierungen griffen die Dramatiker der Generación del 82 häufig auf eine dem Milieu entsprechende, authentische Sprache zurück, die nicht vor Obszönitäten zurückschrak und dem Zuschauer die dunklen Seiten Spaniens 76 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="77"?> 199 Vgl. Rubio Jiménez, „Vom unabhängigen Theater zum Neocostumbrismo“, S.-24. 200 Pérez-Rasilla Bayo, Eduardo: „La memoria histórica de la postguerra en el teatro de la transición: la generación de 1982“, in: Anales de Literatura Española, 21 (2009), S.-144. präsentierte. Nicht nur aufgrund der Darstellung der einfachen Bevölkerung sowie des milieugetreuen, häufig derben Sprachgebrauchs, sondern ebenso aufgrund der festzustellenden komischen Elemente haftete den Stücken etwas sainetesques an. Rubio Jiménez stellt heraus, dass diese Komik nicht als be‐ langlose Heiterkeit zu verstehen ist, sondern in der Tradition der spanischen tragedia grotesca eines Arniches oder des esperpento eines Valle-Inclán. Den humoristischen Momenten haftet etwas Tragisches an, wodurch sie eine gesell‐ schaftskritische und entlarvende Funktion erfüllen. 199 Ihre sich in den 70er und 80er Jahren verändernden Lebensbedingungen, ihre Auseinandersetzung mit dem demokratischen, sich wandelnden Spanien aus dem Theater heraus forderte die Vertreter der Generación del 82 zwangsläufig zu einer Infragestellung der spanischen Erinnerungspolitik nach 1975 heraus. Neben den bereits angesprochenen Phänomenen wie Kriminalität, Drogen‐ konsum oder ökonomische Ungleichheit bildete ebenso der Umgang mit den Er‐ innerungen an den spanischen Bürgerkrieg sowie die Franco-Diktatur bzw. das Ausbleiben einer Überführung von Diktatur und Bürgerkrieg in das kulturelle Gedächtnis Spaniens eines der wichtigsten Motive in ihrem Theater. Angesichts der ihnen eigenen Zwischenposition nimmt es nicht Wunder, dass sich die Dramatiker um Sanchis Sinisterra, Ignacio Amestoy und Alonso de Santos in‐ tensiv mit den kollektiven und individuellen Erinnerungen an den Franquismus und den Bürgerkrieg beschäftigten. Das Vergessen dieser Geschehnisse wäre im Widerspruch zu der Notwendigkeit individueller Identitätskonstituierung gestanden, die insbesondere in Zeiten des Umbruchs eine Orientierung gebende Bedeutung zu erfahren scheint: „La Transición política sugiere, o exige, la necesidad de revisión, replanteamiento de la memoria individual y colectiva, y esta generación, que ahora se acerca a la madurez, se siente capacitada para la tarea y moralmente obligada a llevarla a cabo. Así la memoria histórica se convierte en un tema recurrente en su producción dramática.” 200 Das bereits beschriebene Spannungsverhältnis zwischen der unabweisbaren Präsenz des Vergangenen im kommunikativen Gedächtnis und der weitge‐ henden Absenz schlimmer Erinnerung im kulturellen Gedächtnis, also das Ausbleiben einer politisch-öffentlichen Manifestierung des Geschehenen in der sozial-empirischen Lebenswelt, repräsentiert demnach nicht einfach nur die gesellschaftspolitische Situation in den ersten Jahrzehnten nach 1975, sondern ist gleichbedeutend mit dem politischen Nicht-Erinnern dessen, was die Biogra‐ 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung 77 <?page no="78"?> 201 Pérez-Rasilla Bayo, „La memoria histórica de la postguerra en el teatro de la transición”, S.-144. phien dieser Generation konstituiert. Die defizitäre Erinnerungskultur betrifft die Dramatikergeneration unmittelbar, was nicht ohne Auswirkungen auf deren künstlerisches Schaffen bleiben konnte. Das natürliche Streben nach identitärer Gewissheit durch den bewussten Blick zurück schien durch den von Politik beschworenen Zeitgeist der Zukunftsgerichtetheit, durch eine den öffentlichen Diskurs prägende Rhetorik des Neubeginns und der Versöhnung konterkariert zu werden: „La conciencia de estar escribiendo para un tiempo nuevo implica la duda sobre la propia identidad personal e histórica […]“, schreibt der spanische Literaturwissenschaftler Eduardo Pérez-Rasilla mit Blick auf die Generación del 82 und fügt an: Tal vez por ello advertimos en muchas de sus propuestas escénicas un cierto tono de perentoriedad y una percepción de la fragilidad personal y colectiva, que se contrapesa con la voluntad decidida de reexaminar el proceso personal y colectivo, por el cual se ha llegado a la situación histórica presente. Así se produce una paradoja entre la firmeza con la que se afronta el proceso de recuperación de la memoria y el aturdimiento o el desconcierto que tal situación provoca. 201 Implizit spricht der Literaturwissenschaftlicher Eduardo Pérez-Rasilla die in der Folge zu treffende Unterscheidung zwischen Teatro histórico und einem Teatro de la memoria bzw. einem erinnerungskulturellen Theater an. Während es sich beim Geschichtsdrama um eine Spielform handelt, die den Fokus auf die Darstellung einer vergangenen, ergo historischen Situation oder Person legt, geht es im erinnerungskulturellen Drama vielmehr um den gegenwärtigen Umgang mit einem historischen Ereignis. Der analytische und motivische Blick richtet sich in diesem Fall auf die Gegenwart und ihr Verhältnis zur Vergangenheit. Das historische Drama hingegen weist der Gegenwart nur mittelbar Bedeutung zu, fungiert sie doch lediglich als Aussichtspunkt, von dem aus das Vergangene betrachtet wird. Jedoch kann auch diese Perspektive Erkenntnisse für die Gegenwart bringen. Die Annäherung sowie die Beschäftigung der genannten Vertreter der Ge‐ neración del 82 mit Themen aus der nationalen Historie muss vor der Folie des geschichtswissenschaftlichen, historiographischen und geschichtsphiloso‐ phischen Paradigmenwechsels verstanden werden. Die Annahme von der Unmöglichkeit ungefilterter, objektiver Darstellung von Geschehenem forcierte die vom Poststrukturalismus propagierte Skepsis an den Möglichkeiten der Repräsentation und heftete Zweifel an jeden Versuch einer naturgegeben 78 II THEATER IM ÜBERGANG <?page no="79"?> 202 Floeck/ García Martínez, „Memoria y olvido entre bastidores: Guerra civil y franquismo en el teatro español después de 1975”, S.-104. zeichengebundenen Aussage über Vergangenes. Die Autoren der Generación del 82 lehnten manichäistische Weltbildkonstruktionen oder einheitsstiftende Interpretationen historischer Ereignisse ab: La actitud de estos autores frente a la historia es la interrogación y la duda, mezclada con una buena dosis de escepticismo y completada por un componente irónico y hasta lúdico, pero que siempre manifiesta un auténtico compromiso ético frente a la historia reciente, que sirve a los autores para comprender su presente y construir un futuro mejor. 202 Die Subjektivität, Heterogenität und Dynamik semiotischer Re-Präsentationen von historischen Begebenheiten wurden entsprechend zu formgebenden Prin‐ zipien. 2 Berufliche Entfaltung zwischen ästhetischer Innovation und ethischer Verpflichtung 79 <?page no="81"?> 203 Floeck/ García Martínez, „Memoria y olvido entre bastidores: Guerra civil y franquismo en el teatro español después de 1975“, S.-97-120. III DIE ANWESENHEIT DES ABWESENDEN: ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION Auf Grundlage des Erörterten soll nun der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise die ausgewählten Dramatiker der als transitorisch charakteri‐ sierten Generación del 82, José Sanchis Sinisterra, José Luis Alonso de Santos und Ignacio Amestoy Egiguren, die Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unver‐ gesslichen dramatisch und im Hinblick auf die intendierte Aufführungssituation verarbeiteten. Es geht demnach nicht um einem Versuch der thematischen Klassifizierung der Dramen oder einer mit der erinnerungskulturellen Entwick‐ lung nach 1975 korrespondierenden Periodisierung des so genannten Teatro de la memoria, wie es beispielweise von Wilfried Floeck und Anabel García Martínez unternommen wurde. 203 Vielmehr wird das dramen- und theateräs‐ thetische Potential im Hinblick auf eine Überführung der beschriebenen erin‐ nerungskulturellen Spannung, die sich im Spalt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auftut, in den Fokus gerückt. Es wird zu zeigen sein, mit welchen Mitteln sich memoriale Uneindeutigkeit in die Fiktion hineinschreiben bzw. im Theater inszenieren lässt und wie auf diese Weise der Anspruch auf einen Mimesis-Begriff im Sinne der Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige formuliert zu werden scheint, der in sich die Möglichkeit birgt, einen performativen Akt des gemeinsamen Erinnerns zu initiieren. Um diese These zu stützen, bedarf es zunächst jedoch gedächtnisbzw. erkenntnistheoretischer Überlegungen, die das strukturelle Verhältnis von Erin‐ nerung und Phantasie, historischer Lebenswelt und Fiktion sowie mimetischer Darstellung und performativem Akt klären. Diese Vorgehensweise ist m. E. not‐ wendig, weil sich die Beschreibung der erinnerungskulturellen Wirklichkeit des Postfranquismus als einer sich der diachronischen Erkenntnis verweigernden Realität mit ontologischen und modalen Uneindeutigkeiten auseinandersetzen muss, scheinen diese doch für die ästhetische Darstellung der irreduziblen Diskrepanz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont geeignet. Diese Uneindeutigkeiten scheinen im Phänomen der Erinnerung bereits angelegt, handelt es sich doch um eine Behauptung über Vergangenes, das ontologisch, <?page no="82"?> im Sinne des Gewesenen, als existent betrachtet werden muss und daher einen Anspruch des In-der-Welt-Seins formuliert, zugleich jedoch zeitlich abwesend sein muss, um überhaupt erinnert werden zu können. Die Erinnerung bedarf also des Vertrauens darauf, dass das Erinnerte wirklich gewesen ist, um nicht in das Feld des Erfundenen abzukippen. Denn Erinnerung und Phantasie haben strukturell betrachtet denselben Ursprung, die Einbildungskraft. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Beantwortung der Frage, auf welche Weise sich die erinnerungskulturelle Wirklichkeit Spaniens ästhetisieren lässt, ist demnach die genaue Betrachtung der im Phänomen der Erinnerung ange‐ legten Paradoxie der Anwesenheit (ontologisch) des Abwesenden (zeitlich) sowie der Ausdrucksform, die eine modale Korrespondenz mit dieser onto‐ logischen Uneindeutigkeit darstellt: die Phantastik. Dabei wird sich zeigen, dass ein weitgefasster Begriff der Phantastik, der lediglich die ontologische Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein sowie die modale Grenze zwischen Fiktion und Diktion in den Blick nimmt, für die im Anschluss dargelegten Ästhetisierungsformen der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen fruchtbar gemacht werden kann. Die nun folgende theoretische Beschäftigung mit der Grenze zwischen Erinnerung und Phantasie, Diktion und Fiktion sowie Mimesis und Performanz verspricht einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Fragestellung, auf welche Weise sich eine erinnerungskulturelle Wirklichkeit, die sich aufgrund der irreduziblen Diskrepanz zwischen gemachter Erfahrung und nicht eintretender Erwartung ergibt, dramatisch darstellen und inszenatorisch gestalten lässt. Dabei wird sich zeigen, inwiefern die Einschreibung ontologischer und modaler Uneindeutigkeit in den dramatischen Text Chancen eröffnet, aus einem Stück über das Verdrängen von Erfahrenem eine Inszenierung des Erinnerns werden zu lassen. Anders gewendet, es wird deutlich werden, inwiefern der Versuch der mimetischen Darstellung des Verdrängens zugleich das Verdrängen des mimetischen Darstellungsmodus zugunsten eines performativen Erinnerungs‐ aktes ermöglicht. Exemplarisch wird dies an José Sanchis Sinisterras ¡Ay, Carmela! (1986), José Luis Alonso de Santos El álbum familiar (1982) sowie an Ignacio Amestoy Egigurens Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) zu untersuchen sein, da diese Stücke den Akt des Verdrängens nicht einfach nur dramatisch abbilden. Gleichzeitig, und dies ist in den Textanalysen darzulegen, weisen ¡Ay, Carmela! , El álbum familiar sowie Dionisio Ridruejo - Una pasión española den Rezipienten Rollen in einem gemeinsamen Akt des Erinnerns zu, dem sie sich nicht verweigern können. Als Leitfigur der folgenden Ausführungen sowie als steter Orientierungs‐ punkt der Studie fungiert der französische Philosoph Paul Ricœur (1913-2005). 82 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="83"?> 204 Die Zitate aus dem genannten Werk stammen allesamt aus der im Jahr 2004 auf deutsch erschienen Ausgabe: Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. Die französische Originalausgabe erschien im Jahr 2000 bei Éditions du Seuil. 205 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 49: „Falls wir einmal in radikaler Form benennen sollen, worum es hier geht, so handelt es sich um eine Phänomenologie der Erinnerung.“ 206 Auf die Epistemologie der Geschichte folgt eine Beschäftigung mit dem Vergessen und somit mit der conditio historica des Menschen. Im Epilog widmet sich Ricœur dem Verzeihen. Auf die genannten Säulen des Werks von Ricœur wird im Laufe der vorliegenden Arbeit immer wieder rekurriert und explizit Bezug genommen. 207 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 363: „Auf die mnemonische Repräsentation folgt in unserem Diskurs die historische.“ 208 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-361. 209 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-211. 1 Mnemonische und historische Repräsentation bei Paul Ricœur Paul Ricœur unterscheidet in seiner im Jahr 2000 veröffentlichten Monographie La mémoire, l’histoire, l’oubli 204 , die im Jahr 2004 unter dem Titel Gedächtnis, Geschichte, Vergessen auf deutsch erschienen ist, zwischen den Prozessen der mnemonischen Einschreibung oder Bewahrung von äußeren Wahrnehmungen im Individuum, respektive in den Individuen, und der Abrufung und Darstellung des einst Wahrgenommenen durch einen Prozess der Semiotisierung, durch den in der Folge Zeichen als Stellvertreter für die nichtmehrseienden Referenten fungieren. Diesem Zweischritt folgend erarbeitet Ricœur im ersten Teil seines Werks eine Phänomenologie des Gedächtnisses und der Erinnerung 205 , die sich mit der Einschreibung des Sinnlich-Empirischen in das Subjekt beschäftigt. Im zweiten Teil widmet er sich der an die Verwendung von Zeichen gekoppelten Darstellung der zuvor eingeschriebenen Wahrnehmungen; der Fokus wandert dabei von der Phänomenologie des Gedächtnisses auf die Epistemologie der Geschichtsschreibung. 206 Ricœur spricht im Hinblick auf diese gedächtnisthe‐ oretische Unterscheidung von „mnemonischer“ und „historischer Repräsenta‐ tion“ 207 und weist somit begrifflich auf die getrennten Prozesse der mentalen Bewahrung und der Re-Semiotisierung im Sinne einer historiographischen Phase („Die Repräsentation durch die Geschichte“ 208 ) hin, die der Sammlung und Bewahrung historischer Dokumente sowie der Operation des Erklärens und Verstehens dieser Dokumente vorausgeht. 209 In Anlehnung an die phäno‐ menologische Unterscheidung zwischen Noema, dem Erinnerten bzw. dem Erinnerungsgehalt, und Noesis, dem Akt des Erinnerns, könne die historische Repräsentation sowohl final, als fixiertes Objekt, wie auch prozessual, als Akt bzw. Operation in Präsenz begriffen werden. 210 Ricœur spricht mit Blick auf diese 1 Mnemonische und historische Repräsentation bei Paul Ricœur 83 <?page no="84"?> 210 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-49. 211 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-356. 212 Statt des Begriffspaars immateriell-materiell werden in der Folge auch andere Termini Verwendung finden. Dazu gehören intelligibel und sensibel bzw. latent und manifest. Unterscheidung von einer „Dialektik der Repräsentation“, „der Substitution und der Sichtbarkeit“. 211 Statt der Begriffe ‚mnemonisch’ und ‚historisch’ sollen in dieser Studie jedoch die weiter gefassten Konzepte der ‚immateriellen’ und ‚materiellen’ Repräsen‐ tation Verwendung finden. Dieses Aufgreifen eines der wesentlichen Unter‐ scheidungsmerkmale zwischen mnemonischer und historischer Repräsentation ermöglicht eine Terminologie, die sich nicht auf die Geschichtsschreibung als eine Form zeichenbasierter Darstellung von Geschehenem beschränkt, sondern jedweder semiotischen Vergegenwärtigung des Vergangenen gerecht wird. Die begriffliche Setzung der Eigenschaften ‚immateriell’ und ‚materiell’ geht keines‐ wegs einher mit der Verabschiedung der phänomenologischen Unterscheidung von Ricœur; stattdessen erlaubt sie es, das Feld der Geschichtsschreibung auf die Erinnerungskultur hin zu öffnen. Die Eigenschaft des ‚Materiellen’ impliziert die Bewegung vom Mentalen - der ‚immateriellen’, geistigen Bewahrung - in den Bereich der äußeren Wahrnehmung und damit vom Individuum zu einer möglichen inter-subjektiven Erinnerungsform. Die Übertretung der durch Annahme von Zeitlichkeit markierten Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die Verschränkung zwischen intelligibler Einschreibung und Sinnlichem, ist einzig über den Prozess der Semiotisierung und der dadurch vollzogenen sekundären Versinnlichung des einst Wahrgenommenen möglich. Es erscheint m. E. sinnvoll, die etablierten Repräsentations-Modi (immateriell, materiell) in Beziehung zu der Gegenüberstellung des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses zu setzen. Denn erst auf der Stufe der materiellen Repräsentation löst sich die Erinnerung vom Subjekt und damit vom Raum des Mentalen. 212 Die Verknüpfung der von Ricœur ausgearbeiteten Kategorien mit dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses erscheint noch aus einer anderen Per‐ spektive erkenntnisfördernd. Vielleicht erlaubt dieser Blickpunkt sogar eine Neuperspektivierung des von Jan Assmann formulierten Hinweises darauf, dass „Kollektive“, verstanden als gegenwärtiger Zusammenschluss von Indivi‐ duen, kein Gedächtnis haben können. Durch Gedächtnisfähigkeit zeichnen sich einzig und allein die Individuen aus, die als Träger der Erinnerungen das kommunikative Gedächtnis, eine der beiden Komponenten des kollektiven Gedächtnisses, konstituieren. Das kommunikative Gedächtnis bildet gleichsam die Voraussetzung und Grundlage für die Etablierung und Erweiterung des 84 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="85"?> kulturellen Gedächtnisses, ist doch jede Form der Semiotisierung, d. h. jede Art der Erschaffung vom kulturellen Objektivationen bzw. von Erinnerungst‐ rägern (reminder), stets an die diese Träger kreierenden Subjekte gebunden. Unabhängig von der Brisanz und der Relevanz zurückliegender Geschehnisse ist eine übergenerationelle Etablierung im kulturellen Gedächtnis nur über den Weg der Subjekte möglich und ist niemals unvermittelt. Das kommunikative Gedächtnis stellt demnach das diffuse Feld von Erinne‐ rungen dar, aus dem sich Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses inhaltlich speisen. Wie jeder andere ist auch dieser Prozess der Semiotisierung gebunden an die Akte der Selektion und der Konfiguration. Die synthetisierende und ordnende Kraft der Formen und Formate des kulturellen Gedächtnisses ergibt sich somit aus „Akten des Fingierens“ (Iser), die den Geschehnissen eine strukturierende und vielfach ideologische Setzung aufstülpen. Kollektive können kein Gedächtnis haben, genauso wenig wie Monumente, Gedenkmärsche, Zeremonien oder Schweigeminuten als Spielarten des kultu‐ rellen Gedächtnisses gedächtnisfähig sind. Vielmehr sind sie reminder, also Auslöser subjektiver Erinnerungsakte, die einzeln oder in Kollektiven statt‐ finden können, ohne dass die Situation des gemeinschaftlichen Erinnerns mit der Gemeinschaftlichkeit der Erinnerung gleichgesetzt werden könnte. Als objektivierte Fixpunkte sind die reminder übergenerationell und werden von den jeweiligen Subjekten mit ihren eigenen Vorstellungen und Erinnerungen mit Leben gefüllt. Diese Setzung von Objektivationen könnte in Anlehnung an den französi‐ schen Psychoanalytiker Jacques Lacan mit einer Überführung aus dem diffusen Feld subjektiver Erinnerungen in die „symbolische Ordnung“ gleichgesetzt werden. Zwar entspricht das lacanianische Konzept des Realen nicht der gedächtnistheoretischen Kategorie des kommunikativen Gedächtnisses, doch teilen diese beiden Konzeptfelder den Aspekt des Chaotischen, Anti-Struktu‐ rellen und Diffusen. Während sich die Unsagbarkeit des Realen aus der Un‐ möglichkeit der völligen Ausleuchtung des Unbewussten ergibt, charakterisiert sich die Unsagbarkeit des kommunikativen Gedächtnisses durch die unüber‐ schaubare Gleichzeitigkeit und Heterogenität existierender Erinnerungen. Die Eingliederung einer Erinnerung in die symbolische Ordnung, ihre Benennung mittels eines Signifikanten, löst sie aus dem diffusen Feld des kommunikativen Gedächtnisses heraus. Durch diesen Prozess wird ein bis dato unbeschriebenes Geschehen als identitätsstiftendes Ereignis fixiert. Die Geschehnisse in Spanien zwischen 1936 und 1939 waren unübersichtlich und verliefen an unterschiedli‐ chen Orten zur selben Zeit. Einem Teil dieser Geschehnisse ist es gemein, dass sie im Kontext eines politischen Konflikts zwischen den bis dahin regierenden 1 Mnemonische und historische Repräsentation bei Paul Ricœur 85 <?page no="86"?> Republikanern und den putschenden Kräften der Falangisten zu sehen sind. Doch bietet diese Gemeinsamkeit keine Möglichkeit, der Heterogenität der Kriegswirren und der sozialen Implikationen gerecht zu werden. Erst die nach‐ trägliche Benennung als ‚Bürgerkrieg’ und die damit vollzogene Überführung der Erinnerungen an das Erlebte in die symbolische Ordnung vermittelt den Anschein der Übersichtlichkeit, der Synthese, die den Geschehnissen durch das Sprechen von einem historischen ‚Ereignis’ aufgestülpt wird. In der Folge sollen die beiden Schwellen zwischen der originären Wahrnehmung und der Bewahrung im Subjekt (1) sowie zwischen der im Subjekt bewahrten Er‐ innerung und der Re-Präsentation des einst Wahrgenommenen näher betrachtet werden (2). Der Nachvollzug des Weges von der Wahrnehmung eines sich vollziehenden Ereignisses bzw. eines vermittelten Ereignisses, über die mentale Bewahrung des Wahrgenommenen, hin zur inter-subjektiven Erinnerung in Form einer Re-Semiotisierung erlaubt die Beschreibung der Teilschritte, die der Begriff der ‚Erinnerung’ impliziert. Warum ist dieser Nachvollzug wichtig? Weil er aufzeigt, dass sich die Ästhetisierungsmöglichkeiten der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen aus den Übergängen zwischen Wahrneh‐ mung und intelligibler Bewahrung sowie zwischen intelligibler Bewahrung und Re-Semiotisierung ergeben. Wird das Seiende zum Gewesenen, so verliert es an ontologischer Überzeugungskraft. Wird das Gewesene in Form eines sekun‐ dären Körpers zum stellvertretenden Seienden, so ist es auf das Vertrauen der anderen Subjekte angewiesen, die den ontologischen Anspruch des Erinnerten entweder akzeptieren oder als Erfindung interpretieren können. Der Verlust des sinnlich Wahrnehmbaren und der Übertritt des Wahrgenommenen in den Geist des Subjekts repräsentiert m. E. bereits eine potentiell phantastische Bewegung bzw. eine Bewegung, die die subjektiven Erkenntniskategorien auf die Probe stellen. Genauso verhält es sich, wenn Immaterielles erneut das Feld der Wahrnehmung betritt, einen Raum also, der für Immaterielles unbestimmt ist. Die in der Folge beschriebenen Grenzen zwischen Materie und immaterieller, mentaler Repräsentation sowie zwischen immaterieller und re-materialisierter Repräsentation sollen ebenso mit Begriffen der Semiotik in Beziehung gesetzt werden, um sie für die Beschäftigung mit der dramatischen und theatralen Re‐ präsentation der Erinnerungskultur im postfranquistischen Spanien fruchtbar zu machen. Diese scheint sich ja gerade dadurch auszuzeichnen, dass sie dem unabweisbaren In-der-Welt-Sein des Gewesenen keine semiotische Repräsen‐ tanz gewährt, die eine soziale Transformation und eine diese implizierende demokratische Form des kollektiven Erinnerns auf den Weg bringen würde. 86 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="87"?> 213 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 151 sowie S. 44: „Mit der Erinnerung trägt das Abwesende die zeitliche Markierung des Vorher.“ Ebenso S. 24: „Die leitende Idee […] ist die einer Differenz zwischen zwei Ausrichtungen, zwei Intentionalitäten: die eine, die der Einbildungskraft, ist auf das Phantastische, die Fiktion, das Irreale, das Mögliche, das Utopische ausgerichtet; die andere, die des Gedächtnisses, auf die vorhergehende Realität, wobei das ‚Vorher’ die zeitliche Markierung par excellence der ‚erinnerten Sache’, des ‚Erinnerten’ als solchem, darstellt.“ Vgl. ebenso Aristoteles: „Über Gedächtnis und Erinnerung“, in: Flashar, Hellmut (Hg.), Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd.-14, II, Parva Naturalia, Berlin 2004, 449 b 28. 214 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-79. 2 Immaterielle Repräsentation 2.1 Vom Seienden zum Gewesenen - Erinnerung als Spur Die Setzung der apriorischen Wahrnehmung als conditio sine qua non der Erin‐ nerung ist von entscheidender Bedeutung. Denn erst durch die Koppelung an Zeitlichkeit unterscheidet sich das Erinnerungsvermögen von seiner scheinbar größten Widersacherin innerhalb der abendländischen Erkenntnisphilosophie, der Einbildungskraft bzw. der Phantasie. In seiner Abhandlung De memoria et reminiscentia gibt Aristoteles einen essentiellen Hinweis, den Platon in seiner vorausgehenden anamnêsis-Theorie aufgrund seiner Vorstellung von der Erinnerung als einem Wiedererkennen der im Stadium der Vor-Leiblichkeit von der Seele geschauten Ideen schuldig geblieben war. Aristoteles stellt Ricœur zufolge als erster fest, dass „das Gedächtnis mit Vergangenheit verbunden ist und dass diese Vergangenheit die meiner Eindrücke ist“ 213 und etabliert damit einen Referenzpunkt im Bereich der zeitlich zurückliegenden Wahrnehmung. Die von Ricœur als Falle der Imagination bezeichnete Gefahr für die Erinnerung, seinen ontologischen Anspruch im Sog der schöpferischen Einbildungskraft zu verlieren, hängt mit der bereits erwähnten Paradoxie der Anwesenheit des Abwesenden zusammen. Wir haben immer gesagt, daß die Anwesenheit des Abwesenden das gemeinsame Merkmal von Einbildungskraft und Gedächtnis ist, während ihr Unterscheidungs‐ merkmal auf der einen Seite in der Suspendierung jeglicher Realitätssetzung und der Vorstellung eines Irrealen, auf der anderen Seite in der Setzung eines vorgängigen Realen besteht. 214 Der Aspekt der Abwesenheit ist im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen mnemonischer/ immaterieller und memorialer/ materieller Repräsentation zwei‐ 2 Immaterielle Repräsentation 87 <?page no="88"?> 215 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-433. 216 Vgl. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917), Den Haag 1966. 217 Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S.-30. 218 Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 2015 (= Philosophische Bibliothek, 664), S.-296. 219 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-64. 220 Im ersten Band von Zeit und Erzählung schreibt Paul Ricœur unter Verweis auf Augustinus: „Mag auch die Vergangenheit nicht mehr sein und dem Ausdruck des Augustinus zufolge nur in der Gegenwart der Vergangenehit greifbar sein, die für den Historiker zu Dokumenten geworden sind, so bleibt doch bestehen, daß die Vergan‐ genheit stattgefunden hat. Wohl ist das Ereignis in der gegenwärtigen Wahrnehmung nicht präsent, doch bestimmt es die historische Intentionalität, indem es ihr eine fach zu perspektiveren, als Absenz der vergangenen Dinge sowie als Absenz des durch das Zeichen Repräsentierten. 215 Auf mnemonischer bzw. immaterieller Stufe ergibt sich die Abwesenheit aufgrund des Übergangs vom Seienden im Sinne der reinen und einfachen Wahrnehmung im Sinne Husserls hin zum Nichtmehrseienden bzw. Gewesenen. Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins aus dem Jahre 1905 zufolge setzt das Stadium des Nichtmehrseienden bzw. Gewesenen ein, wenn sich ein Zeitraum zwischen die zurückliegende Wahr‐ nehmung und das gegenwärtige Sein bzw. die gegenwärtige Wahrnehmung geschoben hat, die ein Nachfühlen des soeben noch Gewesenen - Husserl nennt dieses Phänomen der Fortdauer der Wahrnehmung ‚Retention’ oder ‚primäre Erinnerung’ 216 - nicht mehr erlaubt. Der Phänomenologie der Erinnerung gemäß sei dann nicht mehr von Retention zu sprechen, sondern von ‚Repro‐ duktion’ bzw. ‚sekundärer Erinnerung’, die einem zu überwindenden Zeitraum gegenübersteht. „Die sekundäre Erinnerung ist keine Präsentation mehr, son‐ dern Re-Präsentation.“ 217 Das Feld der empirischen Wahrnehmung wurde zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen, die Körperlichkeit des wahrgenommenen Objekts im Falle einer Memorisierung durch eine mentale Re-Präsentation ersetzt. Henri Bergson spricht im Hinblick auf die veränderte Seinsweise des Geis‐ tigen von ‚Virtualität’, „jene Existenz, die den Dingen des Geistes eigen ist.“ 218 Ricœur weist explizit auf den zeitlichen Abstand zum Originären hin: „Ent‐ scheidend ist, dass das reproduzierte Zeitobjekt mit keinem Bein mehr in der Wahrnehmung steht […]. Es hat aufgehört. Es ist wirklich vergangen.“ 219 Der Status des „Gewesen-Seins“ ist der vergangenen Realität jedoch nicht mehr zu nehmen, wodurch ihre Fixierung im In-der-Welt-Sein im Heideggerschen Sinne abgesichert ist. 220 Diese Feststellung ist insbesondere im Hinblick auf die Ab‐ grenzung von der Phantasie als schöpferischer Kraft relevant, denn auch wenn, 88 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="89"?> realistische Note verlieht, die für jede Literatur noch so “realistischen“ Anspruchs immer unerreichbar sein wird“; vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung, S.-129. 221 Vgl. Ricœur, Paul: Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, Münster 2002, S. 7: „Der Leser eines historischen Textes erwartet, daß der Autor ihm eine ‘wahre Erzählung’ vorlegt und keine Fiktion. So stellt sich die Frage, ob, wie und bis zu welchem Punkt dieser stillschweigende Pakt bei der Lektüre von der Geschichtsschreibung eingehalten werden kann.“ 222 Broad, Charlie Dunbar: The nature of existence, Cambridge 1988, S.-325. 223 Vgl. hierzu Linda Hutcheons Feststellung hinsichtlich der Ausführungen Hayden Whites: „Hayden White feels that the dominant view of historians today has gradually come to be that the writing of history in the form of narrative representations of the past is a highly conventional and indeed literary endeavor — which is not to say that they believe that events never occurred in the past.“ Vgl. Hutcheon, Linda: „The Postmodern Problematizing of History”, in: English Studies in Canada, XIV (1988), S.-374. 224 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-433. wie später mit Kant zu zeigen sein wird, veräußerte Erinnerung und veräußerte Phantasie denselben Ursprungsort zu haben scheinen, so differenzieren sie sich vor allem durch ihren ontologischen Status. Auf den daraus abzuleitenden Wahrheitsanspruch stützt sich nicht zuletzt die Historiographie, die ihren on‐ tologischen Geltungsanspruch auf einen impliziten Pakt mit dem Leser stützt. 221 Dass Geschichte als Repräsentation des Vergangenen als wahrheitsgemäß angenommen wird, scheint sich bei genauerer Betrachtung eher aus der Ur‐ teilshoheit des Historikers sowie aus den vorliegenden Zeugnissen abzuleiten, statt aus einer der Vergangenheit anhaftenden ontologischen Eindeutigkeit. Der amerikanische Philosoph Charlie Dunbar Broad folgerte dementsprechend bereits 1927, d. h. weit vor poststrukturalistischen Geschichtstheoretikern wie Hayden White: „[M]emory consists of a judgement about an imaginatum.“ 222 Dieser Blick darf selbstverständlich nicht die Faktizität von Geschehenem per se in Frage stellen; davon distanzieren sich ebenso postmoderne Interpreten wie Hayden White, obwohl ihnen dieser Vorwurf zu Genüge und teils ohne Grundlage zum Vorwurf gemacht wurde. 223 Statt Zweifel an der Faktizität historischer Ereignisse zu säen, möchten Vertreter einer poststrukturalistischen Historiographie-Kritik vielmehr auf die rhetorische und diskursive Determi‐ niertheit der retrospektiven Darstellung dieser Ereignisse hinweisen. Der ontologische Anspruch des Gewesenseins bzw. Nichtmehrseienden mündet in einer Paradoxie der Anwesenheit (ontologisch) des Abwesenden (zeitlich): „In diesem Sinne würde das vorher die Wirklichkeit bedeuten, aber die Wirklichkeit in der Vergangenheit. In diesem Punkt grenzt die Epistemologie der Geschichte an die Ontologie des In-der-Welt-Seins“ 224 , präzisiert Paul Ricœur. 2 Immaterielle Repräsentation 89 <?page no="90"?> 225 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 291. Rémi Brague schreibt in seiner Einführung zu Henri Bergsons Materie und Gedächtnis: „Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß das einmal Erlebte jetzt nicht mehr existiert, genauso wie es keinem einfallen würde, sich einzubilden, daß der Teil der Welt, den wir nicht sehen, zu existieren aufhört“ Vgl. Brague, Rémi: „Einleitung“, in: Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 2015 (= Philosophische Bibliothek, 664), S. XVIII. 226 Ricœur, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, S.-15. 227 Ricœur Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, S.-18. 228 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-50. 229 Detel, Wolfgang: Grundkurs Philosophie, Band 3: Philosophie des Geistes und der Sprache, Stuttgart 2015 (= Reclams Universal-Bibliothek, 19346), S.-12. [D]as mnemonische Phänomen besteht, wie man gesagt und immer wieder gesagt hat, darin, dass dem Geist eine abwesende und noch dazu nicht mehr seiende, sondern gewesene Sache gegenwärtig ist. Die Erinnerung, ob sie nun einfach als Präsenz und in dieser Eigenschaft als pathos evoziert, ob sie aktiv in der durch die Erfahrung des Wiedererkennens abgeschlossenen Operation gesucht wird, die Erinnerung ist die erneute Vergegenwärtigung, ist Re-Präsentation. 225 Paul Ricœur definiert die individuelle Erinnerung somit zweifach und orientiert sich dabei an der aristotelischen Differenzierung zwischen der bloßen „Anwe‐ senheit einer Sache der Vergangenheit im Geiste“ und der „Suche nach einer solchen Anwesenheit“ 226 . In De memoria et reminiscentia festigt Aristoteles diese Differenzierung durch die begriffliche Trennung zwischen mneme und anamnesis. In der vorliegenden Studie werden den definitorischen Ansätzen Ricœurs Folge geleistet: Erinnerung ist sowohl statisch zu begreifen, „als anwe‐ sendes Vorstellungsbild einer abwesenden Sache, die vorher gesehen ist“ als auch dynamisch, als „In-Erinnerung-Rufen (rappel)“ 227 . Gemeinsam ist beiden Perspektiven die Zuordnung des Gedächtnisvermögens, der Erinnerungen sowie der Erinnerungsakte in den Bereich des Mentalen, des Geistes, und damit der Innerlichkeit des Individuums. Der Geist (lat. mens) ist der potentielle Hort all dessen, „was wir unter bestimmten partikulären Umständen getan, empfunden oder gelernt haben.“ 228 Die Erinnerung hat sich, wie der französische Philosoph Henri Bergson in seinem Werk Matière et Mémoire (1896) bildlich festhält, von der die äußere Wahrnehmung bindenden Materialität der Objekte befreit und bewegt sich fortan im Reich des Geistes. Auch in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes, die stark von den Theo‐ rien der Phänomenologie geprägt ist, wird der Geist eines Organismus „als die Gesamtheit seiner mentalen Zustände“ definiert, zu denen unter anderem „Emp‐ findungen, Stimmungen, Gefühle, Träume, Erinnerungen, Wünsche, Absichten, Interessen, Gedanken, Meinungen, Überzeugungen und Erwartungen“ 229 ge‐ 90 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="91"?> 230 Nagel, Thomas: „What is it like to be a bat? “, in: The Philosophical Review, 83, 4 (1974), S.-436. 231 Nagel, „What is it like to be a bat? “, S.-436. hören. Die im und am Gehirn physikalisch messbaren Aktivierungsmuster lassen keine Rückschlüsse auf die je individuelle Qualität dieser Zustände zu. Das Empfinden von Angst ist individuell, auch wenn die begriffliche Beschreibung dieser Empfindung eine affektive Deckungsgleichheit zwischen den Subjekten suggeriert. Zwar lassen sich die Hirnregionen von Gefühlen wie Angst und damit konkrete Materie als physiologischer Geschehensort von Angst feststellen, welchen Gehalt dieses Gefühl jedoch mit sich bringt, ist durch die an der zerebralen Materie ausgerichteten Messung schlichtweg nicht zu eruieren. In seinem berühmt gewordenen, 1974 publizierten Aufsatz „What is it like to a bat? “ nimmt sich der amerikanische Philosoph Thomas Nagel diesem Geist-Körper-Problem an und tritt dabei den reduktionistischen Bemühungen, Erlebnisgehalte naturwissenschaftlich zu erklären, entgegen: [W]e have at present no conception of what an explanation of the physical nature of a mental phenomenon would be. Without consciousness the mind-body problem would be much less interesting. With consciousness it seems hopeless. The most important and characteristic feature of conscious mental phenomena is very poorly understood. 230 Die proklamierte Subjektivität mentaler Erlebnisgehalte, der sog. Qualia, resul‐ tiert beim Menschen unter anderem aus den zuvor gemachten Erfahrungen: „[T]he fact that an organism has conscious experience at all means, basically, that there is something it is like to be that organism.“ 231 Der naturwissenschaft‐ liche Versuch, mentale Zustände, zu denen eben auch die Erinnerungen zu rechnen sind, auf Materie zurückzuführen und anhand dieser zu erklären, leugnet somit einen semantischen Restbestand, die Qualia. Vor dieser Folie wird es möglich, die Annahme der Immaterialität von Vorstellung zu untermauern. Dass Erfahrungen, die ein Ablösen der materiellen Seite der wahrgenom‐ menen Objekte und die Bewahrung der Vorstellungsseite im (Zustands-)be‐ wusstsein implizieren, nicht ohne Einfluss auf gegenwärtige und zukünftige Wahrnehmung ist, betonte Henri Bergson bereits in seinem Werk Matière et Mémoire (1896). Bei seiner Untersuchung des Verhältnisses zwischen Wahrneh‐ mung und Gedächtnis unterstreicht er die Interdependenz beider Vermögen, eine Annahme, die gut fünfzig Jahre später im bereits erwähnten Konzept der cadres sociaux von Maurice Halbwachs aufgenommen werden sollte: 2 Immaterielle Repräsentation 91 <?page no="92"?> 232 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991 (= Philosophische Bibliothek, 441), S. 55. An dieser Stelle ist der Einfluss auf Marcel Prousts Umgang mit dem Phänomen der Erinnerung in der Recherche deutlich nachvollziehbar. Die sog. mémoire involontaire setzt eine Identität von Wahrnehmungen voraus, die die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu durchstoßen scheinen. 233 Bergson, Materie und Gedächtnis, 1991, S. 67; Hinweis: Die Jahreszahl wird hier deshalb aufgeführt, weil mit zwei unterschiedlichen Ausgaben des Werks gearbeitet wurde. 234 Vgl. Koselleck, „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’“, S.-354 f. Unsere Wahrnehmungen sind zweifelsohne von Erinnerungen durchsetzt, und um‐ gekehrt kann eine Erinnerung wieder gegenwärtig werden, daß sie von irgendeiner Wahrnehmung den Körper leiht und sich ihm einfügt. Die beiden Vorgänge, Wahr‐ nehmung und Erinnerung, durchdringen sich fortwährend und tauschen fortwährend etwas von ihren Substanzen aus. 232 Die von Bergson angenommene Verknüpfung von Wahrnehmung und Materie, wird in diesem Zitat deutlich. Die von außen auf das Individuum einwirkende Wahrnehmung versteht er in Abgrenzung zu den Affektionen, bei denen es sich um Bilder handelt, die man „von innen“ her kennt. Der Leib ist insofern einzigartig, als dass er von innen wie auch von außen erfahren werden kann und somit Subjekt und Objekt zugleich ist. Die äußere Wahrnehmung ist an gegenwärtige Materialität geknüpft. Der Leib erscheint noch aufgrund eines weiteren Aspekts eine Schlüsselrolle in Bergsons Gedächtnisphilosophie einzunehmen. Er erscheint geradezu als die Quelle der Paradoxie der Anwesenheit des Abwesenden. Denn er ist nicht nur Ausgangs- und Zielpunkt gegenwärtigen Empfindens und Wahrnehmens, sondern ebenso Kristallisationspunkt, in dem sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu verschränken scheinen: Aber schon jetzt können wir vom Leibe als der vorrückenden Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit sprechen, der vordringenden Spitze, die unsere Vergan‐ genheit unaufhörlich in unsere Zukunft stößt. 233 Der Leib fungiert nach dieser Definition als gegenwärtiger Träger des Geistes, der Vergangenheit in Form von Erinnerungen in sich kulminiert, in gegenwär‐ tige und zukünftige Wahrnehmungen einflechtet und unsere Handlungsweisen auf diesem Weg determiniert. Er wird er zum Bindeglied zwischen gemachter und vermittelter Erfahrung, die sich in der Gegenwart unserem Verhalten bewusst oder unbewusst aufprägen, sowie unserer Erwartung im Sinne der vergegenwärtigten Zukunft. Im Individuum verschränken sich somit die von Koselleck etablierten Erkenntniskategorien der Erfahrung und der Erwartung. 234 92 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="93"?> 235 O’Daly, Gerard: „Remembering and Forgetting in Augustine, Confessions X”, in: Haver‐ kamp, Anselm/ Lachmann, Renate (Hgg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993 (= Poetik und Hermeneutik, 15), S.-31-46. Es nimmt nicht Wunder, dass die nicht zu negierende Existenz der mentalen Innerlichkeit zu Beschreibungsversuchen veranlasste. Über die Frage, wo und in welcher Form Wahrgenommenes im menschlichen Subjekt kulminiert, gibt es daher je nach erkenntnisbzw. gedächtnistheoretischer Positionierung un‐ terschiedliche Veranschaulichungsversuche. Die Philosophiegeschichte neigte seit der Antike dazu, die im Geist bewahrte Erinnerung passivisch zu definieren, was in der Folge den häufigen Gebrauch von Metaphern, insbesondere von Raummetaphern, zur Beschreibung der geistigen Fortdauer zurückliegender Wahrnehmungen im Gedächtnis begünstigte. Die Tendenz zur Verbildlichung zeugt dabei vom Primat des Gesichtssinns innerhalb des philosophischen Gedächtnisdiskurses. Ihren Anfang nimmt diese eidetische Tradition bei Platon und Aristoteles, die sich der Metaphern des Taubenschlags und des Wachsblocks bedienen, um den zwischen Wahrnehmung und Erinnerung stattfindenden Ein‐ schreibevorgang sowie den Speicherort für Wahrgenommenes zu beschreiben. Ein weiteres anschauliches Beispiel liefert Augustinus im zehnten Buch seiner Bekenntnisse, in dem er das Gedächtnis mit einem Magazin vergleicht, das das Wahrgenommene aufbewahrt und bei Bedarf zur Verfügung stellt. Während einige Erinnerungen willkürlich hervordrängen, muss nach anderen gesucht werden. 235 Das passivistische Verständnis der Erinnerung gründete sich auf dem Ge‐ danken, dass es für das Subjekt keine Möglichkeit der willkürlichen Einfluss‐ nahme auf den Erinnerungsbehälter gäbe. Diese Annahme rechtfertigt sich scheinbar durch die Unmöglichkeit des aktiven Vergessens. Der Imperativ „Vergiss es! “ ist aporetisch, lässt sich doch nur aktiv verdrängen, nicht jedoch vergessen. Beim Vergessensimperativ handelt es sich um eine unter dem Begriff des ‚double bind’ bekannte kommunikationstheoretische Paradoxie, denn jeder Versuch des aktiven Vergessens mündet hier zwangsläufig in die Erinnerung an das, was vergessen werden soll. Der Hinweis auf die Metaphorisierung des Gedächtnisses führt nun zu einer Problematik, die bei der Beschäftigung mit dem Konzept der immateriellen Repräsentation zu berücksichtigen ist: Die Metapher dient als mediale Prothese für die Vorstellung des Gedächtnisses bzw. der Gedächtnisinhalte, die, und dieser Aspekt rückt im Folgenden in den Fokus, durch die Immaterialität des Mentalen und damit durch die Unmöglichkeit der intersubjektiv-sinnlichen Vergewisserung charakterisiert sind (Vgl. Qualia). Strukturell knüpft diese Problematik an das Paradoxon der Anwesenheit des Abwesenden an, kann das 2 Immaterielle Repräsentation 93 <?page no="94"?> 236 Das cartesianische Subjekt kann sich seiner Existenz einzig über die Feststellung des eigenen Zweifels sicher sein. Selbst wenn die Existenz aller Dinge und Subjekte angezweifelt werden kann, so kann das Subjekt, in letzter Instanz, nicht daran zweifeln, dass es zweifelt. 237 Vgl. Detel, Philosophie des Geistes und der Sprache, S.-86. 238 Sommer, Manfred: „Husserls ‘Krisis’“, in: Stückrath, Jörn/ Zbinden, Jürg (Hgg.), Meta‐ geschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997 (= ZIF, Interdisziplinäre Studien, 2), S.-34. denkende Subjekt doch spätestens seit Descartes nicht ohne die Überzeugung von der Existenz der eigenen Vorstellung, einer res cogitans, gedacht werden. 236 Mit Thomas Nagel gesprochen: „[…] we know what is it like to be us“ - selbst wenn diese Gewissheit auf einer nicht empirisch überprüfbaren Annahme fußt. Somit weist die Beschreibung der Bewahrung von Erinnerung mithilfe von Metaphern nicht nur auf die eidetische Tradition hin, sondern ebenso auf das zwangsläufige Scheitern jedes Beschreibungsversuchs dessen, was Gedächtnis ist. Der wichtige Schluss lautet: Ein Sprechen von Gedächtnis ist nicht in Begriffen von Substanzen möglich, sondern ausschließlich in Begriffen von In‐ tentionen. 237 Gedächtnisleistung lässt sich nämlich nur als abstraktes Vermögen und unter Verweis auf die konkreten Erinnerung an ‚etwas’ beschreiben, nicht jedoch als substantielle Struktur. Erst das ‚etwas’ führt etwas vor das innere Auge, in Form von Vorstellungen, die gewissermaßen als mentale, immaterielle Zeichen das innerlich zur Darstellung zu bringen suchen, was einst äußerlich wahrgenommen wurde. Diese Sichtweise lehnt sich an die Husserlsche Phä‐ nomenologie an, die das Bewusstsein im Hinblick auf seine Intentionalität definiert: „Bewußtsein besteht wesentlich darin, daß Gegenstände sich ihm darstellen; und das Phänomen, dem die Phänomenologie ihren Namen verdankt, ist nichts anderes als der Gegenstand in der Weise, wie er uns vermöge der intentionalen Verfassung des Bewußtseins gegeben ist.“ 238 Umgekehrt ergibt sich auch die Gegenständlichkeit eines Gegenstands erst durch die Bezugnahme des Bewusstseins auf diesen Gegenstand. Erst wenn eine Erinnerung den subjektiv-geistigen Bereich verlässt, bedarf sie erneut eines Körpers, der als Medium im inter-subjektiven, sinnlich-empi‐ rischen Raum fungiert. Folglich wird die fehlende empirische Materialität der Vorstellung nicht nur beim Versuch der Beschreibung des Gedächtnisses durch den Rückgriff auf eine mediale Prothese kompensiert, sondern diese wird ebenso bei jedweder Veräußerung der Erinnerung notwendig. Diese mediale Prothese krankt jedoch aufgrund des jedem Zeichen inhärenten Paradoxons, nämlich der Unerreichbarkeit des Bezeichneten durch das Bezeichnende, wodurch Aussagen 94 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="95"?> 239 Vgl. Detel, Philosophie des Geistes und der Sprache, S. 91. Vgl. ebenfalls Sommer, Manfred: „Husserls ‚Krisis’, S. 26: Husserl verstand die Mathematik als Kunstfertigkeit, nicht als Theorie. In der Mathematik sind schon die elementarsten Grundlagen ungeklärt. Denn: „Überall, wo wir Zeichen benutzen - und wir benutzen sie fast überall -, können wir beobachten, daß Begriffe und Zeichen sich von ihrer Anschauungsbasis ablösen und losgelöst weiterentwickeln. Diese Verselbstständigung bedeutet zugleich den Verlust der Rückbindung an die Grundlage, der alle der alle Begriffe und Symbole ursprünglich ihren Sinn verdanken“ (S.-28). 240 Detel, Philosophie des Geistes und der Sprache, S.-90. über das Mentale über den Weg der Analyse von Materie von vornherein erschwert werden. Entsprechend möchte die vorliegende Studie den Naturwissenschaften, die der Philosophie des Mentalen stets mit der Materialität des Gehirns und der dort physikalisch messbaren Vorgänge argumentativ entgegentreten, unter Berufung auf die Philosophie des Geistes und der Phänomenologie im Zeichen Bergsons, Husserls und Ricœurs nicht nachgeben. Schon Edmund Husserls wies darauf hin, dass die Reduzierung der Frage nach dem Mentalen, dem Geistigen oder dem Intelligiblen auf den naturwissenschaftlichen Standpunkt schlichtweg keinen Sinn mache. Husserl, selbst Mathematiker, war der Meinung, die natur‐ wissenschaftlichen Analysen seien nicht mit unseren Erfahrungen, unseren Erlebnissen und unserer Logik vereinbar bzw. reichten nicht aus, subjektive Erlebnisgehalte (Qualia) zu beschreiben. 239 Rückschlüsse von der Materie auf die Vorstellung bzw. von der Materie auf den semantischen Gehalt sind hier un‐ möglich. Die empirisch belegte Korrelationsthese, nach der bestimmte mentale Zustände stets dieselben neuronalen Aktivitätsmuster hervorrufen (z. B. Furcht > Aktivierung der Neuronen in der Amygdala), ermöglicht zwar Aussagen über das funktionale, für die Verhaltenssteuerung vorteilhafte Subjekt-Bewusst‐ sein, der innere Zustand des Subjekts, „der subjekt-bewusste Zustände mit einer zusätzlichen Qualität (z. B. einer Erlebnisqualität) verbindet, und dem Subjekt ermöglicht, zu fühlen oder zu wissen, wie es ist, in diesem Zustand zu sein“ 240 , bleibt trotz physikalischer Messverfahren weiterhin im Verborgenen. In diesem Kontext kann von der Privatheit des (Zustand-)Bewusstseins gesprochen werden. Der Gedanke der Immaterialität der Vorstellung, der die Struktur des Ge‐ dächtnisses als Negativum erscheinen lässt, findet sich auch bei einigen der er‐ wähnten Gedächtnismetaphern, u. a. bei Platon, in dessen Wachsblockmetapher der Hohlraum der Spur die Unmöglichkeit der Beschreibung des Innerlichen auszudrücken scheint. Das Bild des Abdrucks (typos) bzw. der Eindrücke (pathe‐ mata) macht auf die materielle Negativität der Wahrnehmungsspur aufmerksam und verknüpft sie mit der Erinnerung: „Und was sich dann abbildet, daran 2 Immaterielle Repräsentation 95 <?page no="96"?> 241 Platon: Theätet, Stuttgart 2012 (= Reclams Universal Bibliothek, 6338), S.-163. 242 Siegmund, Gerald: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersu‐ chungen zur Funktion des Dramas, Tübingen 1996 (= Forum Modernes Theater, 20), S.-181. 243 Ricœur, Paul: „Erinnerung und Vergessen“, in Breuninger, Renate u. a. (Hgg.), Erinne‐ rung - Entscheidung - Gerechtigkeit, Ulm 1999 (= Bausteine zur Philosophie, 13), S.-12. 244 Derrida, Jacques: „Die différance“, in: Engelmann, Peter (Hg.), Postmoderne und Dekon‐ struktion, Stuttgart 1990 (= Reclams Universal-Bibliothek, 8668), S.-107. 245 Der Begriff ‚Vorstellung’ wird hier zunächst als Einbildungskraft bzw. im Bewusstsein zustande gekommenes Bild eines Gegenstands oder Vorgangs (lat. repraesentatio) verstanden. erinnern wir uns und wissen es, solange sich das Abbild hiervon auf dem Block befindet. Was aber ausgelöscht und nicht abgebildet werden konnte, das vergessen wir und wissen es nicht.“ 241 Der Abdruck definiert sich folglich negativ, über das Nichtsein bzw. das Gewesensein des Verursachers. Ähnlich verhält es sich m. E. mit den „Erinnerungsspuren“ von Sigmund Freud. Die durch Wahrnehmungen eingekratzten Bahnen in den Freudschen Wunderblock zeichnen sich nicht etwa durch Materialität aus, wovon beispiels‐ weise Gerald Siegmund in seiner Dissertation Theater als Gedächtnis (1966) ausgeht 242 , sondern gerade durch ihre Immaterialität. Der Hohlraum der Spur ist leer, und ermöglicht dennoch einen semantischen Rückbezug. Das materielle Nichts wird zur Quelle für Bedeutung. In einem 1999 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Erinnerung und Vergessen“ bringt Paul Ricœur das Verhältnis von Nicht-Materialität und Bedeutung auf den Punkt: „Die Spur bedeutet ihre Ursache, ohne sie zu zeigen.“ 243 Die sich aus dieser semiotischen Unbestimmtheit ergebende Neuperspekti‐ vierung, nach der Bedeutungs- und Wirklichkeitskonstruktion nicht auf der sta‐ bilen Reziprozität zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem fußen können, scheint den poststrukturalistischen Gedanken der Spur im Sinne Derridas avant la lettre zu benennen. Jacques Derrida beschreibt die Spur als „Simulacrum eines Anwesens“ 244 , das das unmittelbare Entschwinden der Materialität nur noch erahnen lässt. Auch hier ergibt sich die Chance auf semantische Bestimmung (wenn überhaupt) einzig und allein aus der Grundannahme materieller Abwe‐ senheit. Auf Basis dieser Annahme und im Anschluss an die notwendigen Vorüberle‐ gungen ist nun eine Differenz zwischen Vorstellung 245 und empirischem Zeichen abzuleiten, um die es in der Folge und im Hinblick auf literaturtheoretische und geschichtswissenschaftliche Implikationen gehen soll. In der klassischen Semiotik eines F. de Saussure besteht das Zeichen aus einer materiellen Seite sowie einer Vorstellungsseite, die sich komplementär und reziprok zueinander 96 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="97"?> 246 Vgl. Böhme, Hartmut/ Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.-M. 1983. verhalten. Ein Zeichen, so die klassische strukturalistische Denkweise, kann weder ohne die Vorstellungsseite noch ohne die materielle Seite existieren. Diese Interdependenz, die über die Existenz und Nicht-Existenz des Zeichens zu entscheiden scheint bzw. darüber, wann Wahrgenommenes überhaupt den Status eines Bedeutungsträgers erhält, verliert mit Blick auf die beschriebene Anwesenheit des Mentalen bei gleichzeitiger Abwesenheit des sinnlich-empiri‐ schen Referenten an Überzeugungskraft, d. h. aus diachronischer Perspektive. Jeder historiographische Impetus würde von vornherein im Keim erstickt, wenn den Annahmen über die Faktizität eines vergangenen Ereignisses im Sinne des In-der-Welt-Seins erst einmal durch die Bindung des semantischen Gehalts an Materie zum Existenzrecht verholfen werden müsste. Das „Dasein“ des Gewesenen liegt dem Wesen des Gewesenen a priori zu Grunde; dafür braucht es keine materielle Kodierung a posteriori. Nichtsdestotrotz, und dieser Gedanke wird uns im Laufe der Ausführungen immer wider beschäftigen, sagt der ontologische Status des Vergangenen als Gewesenem noch nichts über dessen potentielle Integration ins kollektive Gedächtnis aus. Gewesenes ist somit per se immer potentiell Bedeutungsträger, auch wenn es kein materielles Komplement aufweist. Die Materialität scheint jedoch die Grenze zum kulturellen Kollektiv zu ziehen, für das Gewesenes immer erst dann bedeutend wird, nachdem es sich materialisiert hat. Ontologisch betrachtet, muss somit dem Immateriellen, der Spur, das Potential eines Bedeutungsträgers zugesprochen werden. Die dargelegte Annahme vom immateriellen Quell der Erkenntnis markiert den Beginn der Problematik, die sich zwischen der Erinnerung und der Einbil‐ dungskraft im Sinne der Phantasie auftut und auf die im Rahmen eines kurzen Exkurses zu Immanuel Kant eingegangen werden soll. Die Grenze zwischen Erinnerung und Phantasie Erkenntnisse rückt den Fokus auf den Umgang mit Erinnerung, genauer, auf den Gebrauch und Missbrauch des Gedächtnisses, das aufgrund des Aspekts der zeitlich bedingten Abwesenheit bewusster oder unbewusster Manipulationen zum Opfer fallen kann. 2.2 Immanuel Kant: Einbildungskraft, Erinnerung, Phantasie Die strukturelle Nähe zwischen Erinnerung und Vorstellung veranlasste Imma‐ nuel Kant zu mehreren Abgrenzungsversuchen, die nicht zuletzt auf dessen le‐ benslangen Impetus zurückzuführen sind, das „Andere der Vernunft“ 246 als Fehl‐ leitung der Erkenntnismöglichkeiten zurückzuweisen. Die Schrift gegen den 2 Immaterielle Repräsentation 97 <?page no="98"?> 247 Interessanterweise setzt Kant in der ersten Version der Kritik der reinen Vernunft noch auf die Einbildungskraft als Erkenntnisquelle neben Sinn und Apperzeption. Er streicht sie allerdings in der zweiten Version; vgl. Böhme/ Böhme, Das Andere der Vernunft, S.-233f. 248 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 2000 (= Philosophi‐ sche Bibliothek, 490), 66. Geisterseher Swedenborg zeugt von der Zielsetzung, die Einbildungskraft dem Verstand unterzuordnen. 247 Die „facultas imaginandi“ fungiert in Kants erkennt‐ nisphilosophischem Theoriegebäude als Bindeglied zwischen „Anschauungen“ und „Begriffen“ und erhebt sich durch die somit vollzogene Verschränkung empiristischer und rationalistischer Philosophietraditionen zur conditio sine qua non der kantianischen Wende. Im §28 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1799) definiert Kant die Einbildungskraft wie folgt: Die Einbildungskraft (facultas imaginandi), als ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes, ist entweder produktiv, d. i. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren (exhibitio originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht; oder reproduktiv, der abgeleiteten (exhibitio derivativa), welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüt zurückbringt. - Reine Raumes- und Zeitanschauungen gehören zur ersteren Darstellung; alle übrige [sic] setzen empirische Anschauung voraus, welche, wenn sie mit dem Begriffe vom Gegenstande verbunden und also empirisches Erkenntnis wird, Erfahrung heißt. […] Die Einbildungskraft ist (mit anderen Worten) entweder dichtend (produktiv) oder bloß zurückrufend (reproduktiv). 248 Kant zufolge handelt es sich bei der Einbildungskraft um ein Vermögen, Abwe‐ sendes zu vergegenwärtigen, sei es, weil dieses Nichtmehrseiend oder Nichts‐ eiend ist. Der Prozess der Vergegenwärtigung, der vor diesem Hintergrund zeitlich und ontologisch definiert werden muss, meint bei Kant zunächst, den reinen Anschauungsformen, die den Erfahrungen und Sinneswahrnehmungen vorausgehen, das Abwesende in Form einer Vorstellung zur Disposition zu stellen. Die „reine Anschauung“ stammt dabei nicht, wie etwa bei der äußeren Wahrnehmung, von außen, sondern ist im Erkenntnissubjekt als Bedingung jeder empirischen Anschauung verortet. Die reine Anschauung verhält sich somit apriorisch zu den Objekten der Wahrnehmung, welche die reinen An‐ schauungsformen erst affizieren. Zeit und Raum sind Kant zufolge solche Anschauungsformen, die nicht den nach außen gerichteten Sinnen selbst entspringen, sondern Bedingungen für die Einordnung derselben darstellen. Sowohl sinnliche, äußere bzw. empirische Anschauung als auch intelligible, innere Anschauungen bilden ergo die Voraussetzungen für die Erkenntnis, auch 98 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="99"?> 249 Vgl. Eisler, Rudolf (Hg): Kant Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß, Hildesheim u.-a. 9 1984, S.-614ff. 250 Kant, Anthropologie, S.-80. 251 Kant, Anthropologie, S.-81. 252 Zit. nach Eisler, Kant Lexikon, S.-175. 253 Kant, Anthropologie, S.-61. 254 Kant, Anthropologie, S.-67. der historischen, die erst durch ein Zusammenspiel mit den reinen Begriffen möglich wird. 249 Die Lektüre des § 34 der Anthropologie macht deutlich, dass Kant die Erinnerung mit einem Zeit-Bewusstsein auf Seiten des erinnernden Subjekts verknüpft: „Das Vermögen, sich vorsätzlich das Vergangene zu vergegenwär‐ tigen, ist das Erinnerungsvermögen […].“ 250 Die Annahme der Vorsätzlichkeit wiederholt sich in Kants Gedächtnis-Definition. Das Gedächtnis ist für Kant „die vormalige Vorstellung willkürlich zu reproduzieren vermögend, das Gemüt also nicht bloßes Spiel von jener [der Phantasie], d. i. schöpferische Einbildungs‐ kraft, muß sich nicht darein mischen, denn dadurch würde das Gedächtnis untreu. - Etwas bald ins Gedächtnis fassen, sich leicht worauf besinnen und es lange behalten, sind die formalen Vollkommenheiten des Gedächtnisses.“ 251 Das Gedächtnis ist der Teil der reproduktiven Einbildungskraft, der nicht einfach assoziativ, sondern bewusst und auswählend arbeitet. Bedeutend ist die Be‐ wusstheit bzw. die Willkür (i.S. von Wollen) des Vergegenwärtigungsprozesses. Damit einher geht nämlich das Wissen um die Nicht-Identität zwischen der Repräsentation des Erinnerten in Form einer Vorstellung und dem Erinnerten als Nichtmehrseiendem. Von der Imagination als unwillkürlichem Spiel der Phan‐ tasie ist das Gedächtnis entfernt, weil „bei dieser [der Imagination] die Bilder in einem natürlichen Zusammenhange fließen, in jenem [dem Gedächtnis] aber nach Willkür aufgeweckt werden, folglich mit Bewusstsein.“ 252 Die produktive Einbildungskraft ist insbesondere mit Verweis auf den Selbst‐ determination des Subjekts von der reproduktiven Einbildungskraft zu trennen. So schließt Kant an seine Definition der Einbildungskraft die Feststellung an: „Die Einbildungskraft, sofern sie auch unwillkürlich Einbildungen hervorbringt, heißt Phantasie. Der, welcher diese für (innere oder äußere) Erfahrungen zu halten gewohnt ist, ist ein Phantast.“ 253 Und zu Beginn des §30 schreibt Kant: „Die Originalität (nicht nachgeahmte Produktion) der Einbildungskraft, wenn sie zu Begriffen zusammenstimmt, heißt Genie; stimmt sie dazu nicht zusammen, Schwärmerei.“ 254 Schwärmer und Phantasten sind folglich Opfer ihrer Einbildungen. Ohne das Zusammenspiel zwischen Anschauungsformen und Begriffen ist sowohl das Erkennen als auch das willkürliche Komponieren 2 Immaterielle Repräsentation 99 <?page no="100"?> 255 Kant, Anthropologie, S. 70ff.: „Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt ebenso oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns.“ 256 Die aristotelische Abgrenzung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung im neunten Kapitel seiner Poetik überzeugt vor diesem Hintergrund wenig. Während es die Aufgabe des Geschichtsschreibers sei, das wirklich Geschehene mitzuteilen, schildere die Dichtung die Dinge, die geschehen könnten, also „das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit Mögliche.“ Vgl. Aristoteles: Poetik, Stuttgart 2012 (= Reclams Universal-Bibliothek, 7828), S.-29. und Arrangieren der originären Einbildungen - die eigentliche Aufgabe des Dichters - unmöglich. 255 Die strukturelle Nähe von Erinnerung und Phantasie ergibt sich folglich aus der von Kant beschriebenen Abhängigkeit beider Prozesse von der Einbil‐ dungskraft. Aus der Subjektgebundenheit, die kennzeichnend für jede Form der Präsentation oder Repräsentation des Abwesenden ist, ergeben sich zwangs‐ läufig apologetische Anforderungen an die Geschichtsschreibung, die sich vom schöpferischen Weltbezug abzugrenzen hat. 256 Es ist sowohl Sache der Dichtung als auch der Geschichtsschreibung, das Ab‐ wesende zu vergegenwärtigen. Die Verschränkung von Geschichtsschreibung und Dichtung liegt im Nullpunkt der Gegenwart, in der gemeinsamen Existenz des Historiographen und des Dichters, die gleichermaßen ihre Blickposition in dem durch die Zeit wandernden Nullpunkt einnehmen und sich dem widmen, was sich der Gegenwärtigkeit entzieht, sei es, weil es vergangen ist oder weder existent ist noch war. Während sich das Nicht-Seiende, dem sich die Dichtung widmet, auf gegenwärtig Nicht-Seiendes und Noch-Nicht-Seiendes bzw. das, was sein könnte, beziehen kann, rückt die Geschichtsschreibung das Nicht-Mehr-Seiende bzw. Gewesene in den Fokus. Der Unterschied liegt damit im ontologischen Anspruch des jeweils Abwesenden. Diese Ausführungen machen deutlich, wie fragil der Wahrheitsanspruch der reproduktiven Einbildungskraft ist. Dieser beruht deshalb nicht zuletzt, und dies ist vor allem mit Blick auf postdiktatorische Gesellschaften von Bedeu‐ tung, auf inter-subjektiver Anerkennung des Geschehenen. Werden subjektive Erinnerungen nicht von anderen Subjekten anerkannt, so kann diesen ihr ontologischer Anspruch des Gewesenseins verwehrt werden; der Status des Imaginären bleibt erhalten, die inter-subjektiv nicht anerkannte Erinnerung wandert in den Bereich der Phantasie. Mit Ricœur gesprochen, würde Vorhe‐ riges somit in das Feld des Unwirklichen hinüberdriften: „Gewiß, die Gegenwart [le présent] ist im Paradox der Anwesenheit [la présence] des Abwesenden enthalten - einem Paradox, das der Imagination des Unwirklichen und dem Gedächtnis des Vorherigen gemeinsam ist.“ 257 Es erscheint vor Hintergrund des 100 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="101"?> 257 Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit, Essen 2000, S.-25. 258 Vgl. White, Metahistory, S.-15ff. 259 In Materie und Gedächtnis definiert Henri Bergson das Gedächtnis als „ein von der Materie absolut unabhängiges Vermögen“. Vgl. Bergson, Materie und Gedächtnis, 2015, S.-82. 260 Der Philosoph Edward Casey unterschiedet in seinem Hauptwerk zwischen den Gegensätzen des „Keeping memory in mind“ und „Pursuing Memory beyond Mind“; vgl. Casey, Edward S.: Remembering. A Phenomenological Study, Bloomington 1987. Erörterten stimmig, wenn Haydn White als einer der Hauptvertreter poststruk‐ turalistischer Historiographie-Kritik in Metahistory, seinem opus magnum, von der Poetik der Geschichte spricht. 258 3 Materielle Repräsentation: Ästhetisierungsformen der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen Der Exkurs zu Immanuel Kant brachte die Erkenntnis, dass die reproduktive Einbildungskraft, die Erinnerung, nur über den zeitlichen Rückbezug zur em‐ pirisch-physischen Welt von der Phantasie zu trennen ist. Dies ist besonders deshalb von Bedeutung, weil sich die Erinnerung aufgrund des Verlusts der Ma‐ terialität im Sinne Bergsons, der Absenz des einst Wahrgenommenen, genau wie die Phantasie, der Vorstellung des Nichtseienden oder Noch-Nicht-Seienden, der Einbildungskraft bedienen muss. 259 In der Folge rückt der zweite der eingangs etablierten Repräsentations-Modi in den Blick, die materielle Repräsentation. Damit findet gleichermaßen eine theoretische Rückkopplung zur beschriebenen Notwendigkeit der Semiotisie‐ rung zum Zwecke einer Überführung der Erinnerungen vom individuell-subjek‐ tiven in das kulturelle Gedächtnis und, damit einhergehend, zum Gedanken der Übertragung des Erinnerungsauftrags an die die Subjekte überdauernden kul‐ turellen Objektivationen. Bei der Beschäftigung mit der materiellen, physischen bzw. intersubjektiv wahrnehmbaren Repräsentation tritt folglich das Konzept des kulturellen Gedächtnisses auf den Plan, eines Gedächtnisses jenseits des Geistes. 260 Von der inneren Repräsentation des Äußeren durch die Vorstellung geht der Gang nun zur äußeren Repräsentation des Inneren durch das Zeichen. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass Paul Ricœur seinen Fokus dabei auf die Geschichtsschreibung legte, die sich primär des Mediums Schrift bedient. Dieser „repräsentierenden Phase“, die an eine literarische oder schriftliche Formgebung gekoppelt ist, gehen die „dokumentarische“ und „erklärende/ ver‐ stehende“ Phase voraus. Erst mit der Vermittlung, der Re-Präsentation findet 3 Materielle Repräsentation 101 <?page no="102"?> 261 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-213. 262 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-213. Ricœur zufolge die historiographische Operation ihren Abschluss: „In der Tat ist die Schrift die sprachliche Schwelle, die die historische Erkenntnis immer schon überschritten hat, wenn sie sich vom Gedächtnis entfernt und sich auf das dreifache Abenteuer der Archivierung, der Erklärung und der Repräsentation einlässt.“ 261 Die historische Intention sei dabei „die präsente Repräsentation von absenten Dingen der Vergangenheit.“ 262 Bevor genauer auf die Gebundenheit der historischen Erkenntnis an das vermittelnde Zeichen wie auch an das vermittelnde Subjekt und die daraus entstehenden Implikationen für den Anspruch der Wahrheitstreue der His‐ toriographie eingegangen werden soll, bedarf es erneut einer semiotischen Perspektive auf den Prozess, der sich an der Schwelle zwischen mnemonischer bzw. intelligibler und materieller Repräsentation, d. h. der äußeren Vermittlung, vollzieht. Auf der Basis phänomenologischer Theoreme der Philosophie des Geistes wurde behauptet, das Mentale im Sinne der immateriellen bzw. intelligiblen Repräsentation zeichne sich durch eine Absenz inter-subjektiv wahrnehmbarer Materialität aus, der u. a. durch die Verwendung materieller bzw. medialer Prothesen wie Metaphern begegnet werden kann. Diese Re-Materialisierung des Intelligiblen ist notwendig, um die Grenze zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit zu überwinden. Die medial gestützte Transgression bildet somit die Voraussetzung für den Übergang vom individuellen zum kollektiven Ge‐ dächtnis und wird durch die Möglichkeit des inter-subjektiven Austauschs zur Bedingung für den Übertragungs- und Überlieferungsprozess zwischen subjektgebundenem und kulturellem, d.-h. objektiviertem Gedächtnis. Die vollzogene Analyse der spanischen Erinnerungspolitik nach 1975 führte vor Augen, dass die politisch-institutionell motivierte Bindung subjektiver Erinnerungen in Form memorialer Synthetisierung durch kulturelle Objektiva‐ tion weitestgehend ausblieb. Die Bewahrung der Erinnerungen beschränkte sich somit primär auf die Subjekte sowie auf Systeme, die keine politisch-in‐ stitutionelle Wirkmacht im Sinne einer symbolischen Anerkennung besaßen. Ohne das Risiko einer zu starken Pauschalisierung einzugehen, konnte auf Basis historischer und soziologischer Analysen des Postfranquismus behauptet werden, dass die Politik der Versöhnung und des Konsenses die Abwesenheit destabilisierender Erinnerungen im öffentlichen Diskurs anstrebte und damit den symbolischen Eingang der Erinnerungen in das kulturelle Gedächtnis erschwerte. 102 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="103"?> 263 Henri Bergson weist in seinem Werk Materie und Gedächtnis explizit auf die praktische, an der Gegenwart ausgerichtete Funktionsweise von Wahrnehmung und Gedächtnis hin. Sowohl Wahrnehmung als auch Gedächtnis richten sich an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten des gegenwärtigen Lebens aus. Rémi Brague formuliert dementspre‐ chend in seinem Vorwort zu Bergsons Materie und Gedächtnis: „Die Sinne dienen eher dem Leben als der Erkenntnis.“ Vgl. Brague, „Einleitung“, S. XIV; Und weiter: „Dem Gedächtnis eignet eine durch und durch praktische Funktion: Es soll nämlich der aktuellen Wahrnehmung den Schatz der vergangenen Erfahrung zur Verfügung stelle, um die künftige Handlung zu beleuchten, indem es ihr die verschiedenen Möglichkeiten vorstellt“ (S. XVIII). 264 Derrida, Jacques: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Reprä‐ sentation“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1976 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 177), S.-359. Die zum Zwecke der kollektiven Erinnerung notwendigen Signifikanten dienen als Stellvertreter, durch die Abwesendes sekundär versinnlicht werden kann. Während der an das Zeichen gebundenen Materialisierung bindet sich die Vorstellung an einen Körper, um den empirischen Raum erneut zu betreten. Durch einen semiotischen Stellvertreter formuliert Vergangenes seinen An‐ spruch auf Faktizität im Sinne der empirischen Wahrnehmbarkeit. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Form der Reinkarnation von Vergangenem, sondern um die Schaffung eines originären Zeichens, das nicht das Bezeichnete selbst ist, sondern auf dieses verweist. Es handelt sich folglich nicht um einen Akt des Wieder-Holens, sondern um einen Akt der Hervorbringung, der sowohl in Beziehung zum vorgängig Wahrgenommenen als auch zu den das erinnernde Subjekt umgebenden cadres sociaux zu verstehen ist. 263 Damit markiert das Zeichen als Medium der Vergegenwärtigung eine Ge‐ lenkstelle zwischen Innerlichkeit und empirischem Raum, zwischen intelligibler und sinnlich-physischer Repräsentation, ohne jedoch die Problematik der Ab‐ senz abzustreifen, da sich das Zeichen aufgrund seiner Materialität zwar als anwesend und wahrnehmbar ausweist, in seiner semantischen Bezugnahme auf Vergangenes jedoch per se Aspekte der Absenz in sich trägt. In seiner Abhandlung über Artauds ‚Theater der Grausamkeit’ spricht Derrida von der Unmöglichkeit des absolut ursprünglichen Theaters und dem sich daraus ergebenden Phänomen der „originären Repräsentation“, einem Oxymoron, das die Unmöglichkeit einer semantischen Ursprünglichkeit des Zeichens auf den Punkt bringt und das Erläuterte begrifflich fasst. 264 Der Zweischritt in Form mentaler/ immaterieller/ intelligibler und physischer/ materieller/ sensibler Repräsentation scheint damit eine Potenzierung der Paradoxie der Anwesenheit des Abwesenden nach sich zu ziehen. Der amerikanische Philosoph Edward S. Casey weist zu Recht darauf hin, dass Erinnerung und Imagination in einem mehrperspektivischen Verhältnis 3 Materielle Repräsentation 103 <?page no="104"?> 265 Casey, „Imagining and Remembering“, S.-187-209. zueinander stehen: Erinnerung und Imagination sind kombinierbar. 265 Indivi‐ duen können sich daran erinnern, wie sie sich etwas vorgestellt haben. Ebenso können sie sich daran erinnern, wie sie sich an etwas erinnert haben. Umge‐ kehrt ist es möglich, sich vorzustellen, wie etwas erinnert bzw. wie etwas vorgestellt wird, usw. Erzähltheoretisch gewendet, lassen sich unterschiedliche diegetische Ebenen etablieren, die miteinander kombiniert und verschachtelt werden können; entscheidend für den ontologischen Status der Veräußerung ist lediglich, ob auf erster Stufe erinnert oder vorgestellt wird. Die von Kant beschriebenen Einbildungskräfte können auch bei der literarischen oder thea‐ tralischen Darstellung von Erinnerung ineinandergreifen. In der Folge soll der Frage nachgegangen werden, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um das beschriebene Phänomen der erinnerungskultu‐ rellen Paradoxie, die sich aus der irreduziblen Diskrepanz zwischen subjektiv Erfahrenem und memorial Erwartbarem ergibt, mimetisch darzustellen bzw. inszenatorisch auszugestalten. Im Hinblick auf die Analyse der Dramen von José Sanchis Sinisterra, José Luis Alonso de Santos und Ignacio Amestoy sollen dabei drei Thesen formuliert werden: Die erste These fragt nach den Möglichkeiten der Darstellung des Nicht-Erinnerns innerhalb der fiktionalen Welt bzw. innerhalb des dramatischen Raums. Die zweite These bezieht sich auf die Frage, auf welche Weise veräußerte Erinnerung innerhalb der Fiktion un‐ terminiert werden kann, so dass sie dem Sog der produktiven Einbildungskraft, der Phantasie, zum Opfer fällt. Die dritte These richtet den Fokus schließlich auf die Ebene der Darstellung, die den dramatischen und den theatralischen Raum umfasst. Die Öffnung des Sichtfelds auf den theatralischen Raum erlaubt es, neben der ästhetischen Umsetzung erinnerungskultureller Paradoxie ebenso die intendierte ethische Wirkmacht des Mediums Theater in den Blick zu nehmen. Die erste These teilt sich in zwei Teilbehauptungen, von der die erste auf der Annahme der (Re-)Materialisierung des Mentalen fußt, die zweite auf den daraus abgeleiteten Implikationen für die fiktionale Darstellung verhin‐ derter physisch-materieller Repräsentation im postfranquistischen Spanien. Erinnerung ist ein im Subjekt verorteter, immaterieller Bewusstseinsinhalt, der seinen als faktisch angenommenen Referenzpunkt im Gewesenen hat. Der Materialitätsverlust des äußerlich Wahrgenommenen ermöglicht den Übergang in die Innerlichkeit des Subjekts, wobei auch hier anzumerken ist, dass die mentale Spur nicht das Wahrgenommene selbst ist, sondern nur auf dieses rückverweist. Während die sinnlich-empirische Wahrnehmung stets an die physische Gegenwärtigkeit gekoppelt ist, setzt die Vorstellung da ein, wo es 104 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="105"?> 266 Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18. Jahrhun‐ derts, München 1999, S.-318. 267 Lachmann, Renate: „Literatur der Phantastik als Gegen-Anthropologie“, in: Assmann, Aleida u. a. (Hgg.), Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt a. M. 2004 (= Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1724), S.-46. um Abwesenheit geht. 266 Das Feld des Mentalen ist Lebensraum für verhinderte Erinnerungen und Phantasien. 3.1 Zwischen Semantik und Materie - Die Spaltung des Zeichens im dramatischen Raum Die Untersuchung der Frage, auf welche Weise sich die erinnerungskulturelle Paradoxie des Postfranquismus im dramatischen und theatralen Diskurs he‐ rausschreiben bzw. inszenieren lässt, lässt einen Brückenschlag zum Genre der Phantastik sinnvoll erscheinen, handelt es sich dabei doch um einen (Über-)Le‐ bensraum für das verhinderte „Andere der Kultur“. Der Modus des Phantasti‐ schen ist revelatorisch und kann als ästhetische Offenbarung des Verdrängten fungieren. Durch seine Struktur erlaubt es der Modus des Phantastischen, das Verdrängte, Vergessene oder Verbotene in der bestehenden Ordnung auf‐ flackern zu lassen und die Gültigkeit der immanenten Normen, beispielsweise einer (Erinnerungs-)kultur, in Frage zu stellen. Für die Literaturwissenschaft stellte Renate Lachmann den Wert der Phantastik für die erneute Integration des aus dem Feld der empirisch-sinnlichen Wahrnehmung Ausgeschlossenen heraus: Es scheint, als sei es allein die phantastische Literatur, die sich mit dem Anderen in ihrer Doppelbedeutung beschäftigt und etwas in die Kultur zurückholt und manifest macht, was den Ausgrenzungen zum Opfer gefallen ist. Sie nimmt sich dessen an, was eine gegebene Kultur als Gegenkultur betrachtet. […] In der Transformation des Vergessenen oder Verdrängten in das Fremdkulturelle bzw. im Einsatz des Fremdkulturellen als Stellvertretung für das Verdrängte und Vergessene der eigenen Kultur wird die phantastische Schreibweise zu einer konzeptuellen Größe und wird und tritt damit in Konkurrenz zu denjenigen Vorstellungen, um mit ihnen Alterität und der Bedrohung durch Alternativen zu begegnen. 267 Es wird im Laufe der weiteren Ausführungen zu zeigen sein, dass sich die für die spanische Erinnerungspolitik behauptete Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen im Modus des Phantastischen in das erinnerungskulturelle Theater der Generación del 82 einschreibt. Der phantastische Modus bringt 3 Materielle Repräsentation 105 <?page no="106"?> das Andere bzw. das Verdrängte zum Vorschein, wodurch die fiktionale Welt zum Spielfeld lebensweltlich-ethischer Konfliktivität werden kann. Uneindeu‐ tigkeiten zwischen Anwesenheit und Abwesenheit ergeben sich u. a. auf der Schwelle zwischen intelligibler und materieller Repräsentation. Die an den Übergängen generierten Momente des Zweifels bilden den Nährboden für phantastische Motive und Darstellungsmodi. Die Beschäftigung mit der ersten These kommt demnach einer Beschäftigung mit einer bewusst uneindeutig gezogenen Grenze zwischen Materie und Semantik bzw. äußerer Wahrnehmung und Vorstellung gleich. Die erinnerungskulturelle Ambivalenz der Postdiktatur kann im dramati‐ schen Raum, so die hier vertretene Annahme, zunächst einmal durch eine Spaltung des Zeichens in seine intelligible und seine materielle Seite ästhetisiert werden. Diese Spaltung, die sich an der Grenze zwischen Innerlichkeit und äußerer sinnlich-empirischer Wahrnehmung zu manifestieren und auf dieser Schwelle als Auslöserin des Phantastischen zu operieren scheint, zeichnet die Verhinderung einer politisch-institutionellen Erinnerungskultur ästhetisch nach. Der Rahmen der Fiktion ermöglicht es, Imaginationen der Figuren dramatisch zu evozieren, und damit für das Publikum zu vergegenwärtigen, ohne dass diese Vergegenwärtigung auf fiktionaler Ebene gleichbedeutend wäre mit einer sekundären Versinnlichung im Sinne einer Vervollständigung des Zeichens durch seine materielle Seite. Stattdessen erlaubt der Rahmen der Fiktion die Unterminierung der Grenze zwischen Geist und äußerer Wahrnehmung durch die Gleichzeitigkeit von Abwesenheit (Ebene des Dargestellten) und Anwesen‐ heit (Ebene der Darstellung) im theatralen Spiel. Für den Theaterzuschauer mag eine dargestellte Imagination einen wahrnehmbaren Signifikanten darstellen, nicht jedoch für die in der Welt der Fiktion auftretenden Figuren. Denn selbst wenn eine Figur von der eigenen Imagination heimgesucht wird, bedeutet dies nicht, dass es sich um etwas anderes handeln muss, als eben um eine Imagination innerhalb der Fiktion. Damit bleibt die dargestellte Imagination zunächst Ausdruck des Signifikats und entbehrt innerhalb der fiktionalen Welt jeder äußerlichen Wahrnehmbarkeit. Metaphorisch gesprochen, drängen die Signifikate aus ihrer intelligiblen Latenz im Subjekt, wo sie aufgrund ihrer memorialen Unabweisbarkeit nicht verharren können, nach außen, auf der Suche nach materieller Manifestierung. Diese Annahme tritt neben bestehende Interpretationen, die innerfiktionale Motive wie Gespenster, Halluzinationen, Visionen u.ä. primär als Signifikanten 106 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="107"?> 268 Vgl. Stockhammer, Robert: „Zur Theorie der Gespenster oder die Un-Logik der Literatur“, in: Grizelj, Mario (Hg.), Der Schauer(roman): Diskurszusammenhänge - Funktionen - Formen, Würzburg 2010 (= Film, Medium, Diskurs, 27), S.-18-19. 269 Vgl. Stockhammers Feststellung bzgl. Lessings Überlegungen zum dramatischen Ge‐ spenst am Beispiel von Voltaire und Shakespeare: „Ein literarisches Gespenst könnte also nicht mehr wirken, wenn endgültig entschieden wäre, dass der Gespenster-Signi‐ fikant keinen Referenten besitze.“ Vgl. Stockhammer, „Zur Theorie der Gespenster oder die Un-Logik der Literatur“, S.-22. 270 Böhme/ Böhme, Das Andere der Vernunft, S.-241ff. 271 Die Thematisierung eines Gespenstes aus Sicht eines homodiegetischen Erzählers im Roman ist hier wie die Thematisierung eines Gespenstes aus Sicht der Figuren zu verstehen. Die Ankündigung eines Gespenstes im Nebentext eines Theaterstücks hebt auf die Ebene der Rezipienten ab und liegt außerhalb der fiktionalen Welt. deuten. 268 Werden beispielsweise Gespenster auf der Bühne als leere, jedoch sinnlich wahrnehmbare Hülle definiert, die auf ihren Referenten verweisen, besteht die Gefahr, dieses Motiv einzig aus der Perspektive der Rezipienten der theatralen Aufführung zu betrachten. 269 Dahingegen kann beispielsweise das Gespenst aus der Warte der Figur, der es erscheint, Signifikat im Sinne der der Figur eigenen Vorstellung sein, die aus der Innerlichkeit herauszudrängen versucht und sich dementsprechend als Innerliches im Äußeren präsentiert, gewissermaßen auf der Suche nach materieller Komplementarität und ontologi‐ scher Etablierung. Die Vorstellung, der semantische, immaterielle Gehalt, drängt nach seiner verhinderten, vergangenen oder verdrängten materiellen Seite. Ebenso verhält es sich mit dargestellten, und damit für den Zuschauer zur Schau gestellten Träumen bzw. Trauminhalten wie auch mit Visionen, in denen sich das Nicht-Erinnerte Bahn bricht. Träume als Gespinste der Innerlichkeit 270 verweigern sich ebenfalls inter-subjektiver Wahrnehmung innerhalb der fiktio‐ nalen Welt, sofern die Gesetzmäßigkeiten der Lebenswelt der Zuschauer auch in der Fiktion Gültigkeit beanspruchen. Gespenster, Träume, Wachträume, Hallu‐ zinationen, Wahnvorstellungen sowie weitere stukturverwandte Phänomene mögen aus Rezipientensicht Signifikanten ohne außerliterarische Referenten sein. Dies gilt jedoch nicht für die Figuren, die von derlei Erscheinungen heimgesucht werden. 271 Ihnen “erscheinen“ vielmehr immaterielle Signifikate, körperlose Ausgeburten des Mentalen, der eigene Geist. Die mens wird zum spectrum. Das, was die Figuren im Geist haben, tritt nach außen und betritt auf diese Weise einen unbestimmten, nicht vorgesehenen Ort. Die semantische Vieldeutigkeit des Lemmas ‚Geist’ nimmt die zu erörternde Frage rund um das Unheimliche, das an der Grenze zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit einen Ermöglichungsgrund zu finden scheint, bereits vorweg. Die Übertretung der Grenze vom menschlichen Geist in die sinnlich-empirische Welt und vice versa 3 Materielle Repräsentation 107 <?page no="108"?> 272 Kant, Immanuel: „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“, in: Weischedel, Wilhelm (Hg.), Immanuel Kant. Werke in zwölf Bänden, Bd. II, Wiesbaden 1960, S.-952. 273 Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S.-252. impliziert eine Irritation, geht bei diesem Schritt doch immer eine Seite des Zeichens verloren. In seiner Schrift gegen den Geisterseher Swedenborg schreibt Kant unter Rekurs auf Aristoteles: „Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat jeder seine eigene.“ 272 Seit Freud gilt der Traum als Hort des Unbewussten, als des latent Anwesenden, das nach materieller Manifestierung im Außersubjektiven strebt. Die Äußerlichkeit, die dem Traum verwehrt bleibt, scheint der Halluzination oder Wahnsvorstellung bereits eigen zu sein, zumindest aus der Perspektive des Halluzinierenden. Dass es sich dabei jedoch um nichts anderes als einen intelligiblen Trugschluss handelt, lässt sich ebenfalls unter Rekurs auf Kant festhalten, der, wie oben erwähnt, die Irrungen des Phantasten genau darin erkennt, dass dieser Vorstellungen, also Mentales, für Wahrnehmungen hält, sich Innerlichkeit und Äußerlichkeit also vermengen. Auch wenn Kant nicht auf die Freudsche Theorie des Unbewussten rekur‐ rieren konnte, so widerspricht seine definitorische Annäherung an das Phä‐ nomen der Halluzination nicht der der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts. In der Figur des Halluzinierenden, so auch die heutige Annahme, scheinen sich die Grenzen zwischen Innerlichem und Äußerlichem aufzulösen. Dylan Evans definiert ‚Halluzination’ in seinem Wörterbuch der Lacanschen Analyse wie folgt und verknüpft den pathologischen Zustand mit Lacans Begriff des ‚Realen’: Wenn etwas nicht in die symbolische Ordnung eingegliedert zu werden vermag, wie es beispielsweise in der Psychose der Fall ist, kann es im Realen in Form von Halluzinationen wiederkehren (Se 3, 351). Die vorangehenden Bemerkungen zeigen einige der häufigsten Anwendungen des Realen bei Lacan, werden aber der Komplexität des Terminus bei weitem nicht gerecht. […] So ist nie wirklich klar, ob das Reale ein Äußeres oder ein Inneres ist, ob es sich der Erkenntnis verschließt oder der Vernunft zugänglich ist. 273 Die Doppelstruktur der theatralen Zeichen, die sich durch Substituierung und Substantialität gleichermaßen auszeichnen, ermöglicht die Darstellung von Imaginationen, die innerhalb des dramatischen Raums weiterhin als intelligibel gelten müssen und damit innerhalb der Fiktion nicht äußerlich wahrnehmbar sind. Sofern Gespenster, wie in Shakespeares Hamlet, doch von mehreren Figuren wahrgenommen werden können, verlieren sie ihren phantastischen 108 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="109"?> 274 Vgl. Freud, Sigmund: „Das Unheimliche (1919)“, in: Mitscherlich, Alexander u. a. (Hgg.), Sigmund Freud. Studienausgabe in zehn Bänden, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1982, S. 272: „Der Dichter kann sich auch eine Welt erschaffen haben, die, minder phantastisch als die Märchenwelt, sich von der realen doch durch die Aufnahme von höheren geistigen Wesen, Dämonen oder Geistern Verstorbener scheidet. Die Seelen der Danteschen Hölle oder die Geistererscheinungen in Shakespeares Hamlet, Macbeth, Julius Caesar mögen düster und schreckhaft genug sein, aber unheimlich sind sie im Grunde ebensowenig wie etwa die heitere Götterwelt Homers.“ Status, der sich ja gerade auf der Gültigkeit der lebensweltlichen Gesetzmäßig‐ keiten innerhalb der Fiktion gründet. Daraus folgt, dass die (materielle) Darstellung des (immateriellen) Signifi‐ kats, der Vorstellung, nicht die Rezeption einer zwar fiktionalen, jedoch den Gesetzten der Physik entsprechenden Welt durchkreuzt, denn der Zuschauer weiß um den imaginativen Status der Vorstellung innerhalb der fiktionalen Welt. Die Gesetze der Lebenswelt haben für ihn weiterhin Gültigkeit. Bei Shake‐ speares Hamlet wird mit diesen Gesetzen gebrochen. Bereits nach wenigen Repliken ändern die Rezipienten ihren Rezeptionsmodus und betrachten eine (Bühnen-)Welt, in der Wunderbares vorzufinden ist. 274 Hier offenbart sich die Macht des phantastischen Darstellungsmodus im Theater, durch den das Verdrängte, das Innerliche, das Nicht-Sagbare, gezeigt werden kann, ohne dass dieses den Status des Zeigbaren einnimmt. Die Wahrnehmung eines Geistes - bzw. des Geistigen - auf der Bühne gelingt dank der Doppelstruktur des theatralen Zeichens und der dadurch möglichen Verwirrspiele zwischen Bezeichnendem, Bezeichnetem und Referenten. 3.2 Das Unheimliche der Erinnerung Vor dem Hintergrund des bis hierhin Erörterten wird ersichtlich, weshalb eine Untersuchung des erinnerungskulturellen Theaters des Postfranquismus nicht ohne die Berücksichtigung des phantastischen Darstellungsmodus aus‐ zukommen scheint. Dass sich das phantastische Potential der Dramentexte dabei aus der erinnerungskulturellen Realität Spaniens selbst speist, gewis‐ sermaßen bereits in der memorialen Ambivalenz der transición angelegt ist, und somit die Ästhetisierung der spanischen Erinnerungskultur nach 1975 geradezu natürlicherweise den Modus des Phantastischen auf den Plan zu rufen scheint, wurde bereits unter Verweis auf die irreduzible Diskrepanz zwischen Erfahrungsraum und memorialem Erwartungshorizont (Koselleck) sowie auf die daraus resultierende Irritation hinsichtlich geltender Wirklichkeitsbegriffe (Blumenberg) zu rechtfertigen versucht. 275 Die memoriale Realität des Postfran‐ quismus, die sich im Spalt zwischen gemachter Erfahrung und nicht eintretender 3 Materielle Repräsentation 109 <?page no="110"?> 275 Die Annahme einer in der Welt angelegten Struktur, die mittels mimetischer Verfahren dargestellt werden kann, entspricht ebenfalls Ricœurs Auffassung der narrativen Präfiguration der Welt (Mimesis I). Diese Annahme bildet einen der Hauptunterschiede zu Hayden White, der argumentiert, dass die narrative Struktur der Welt im Akt des Er‐ zählens erst aufgeprägt wird. Vgl. hierzu auch Stone, Dan: „Holocaust Historiography“, in: Jörn Stückrath, Jörn/ Zbinden, Jürg (Hgg.), Metageschichte. Haydn White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997 (= ZIF, Interdisziplinäre Studien, Band-2), S.-265. 276 Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, S.-26. Erwartung aufspannt, kann innerhalb des erinnerungskulturellen Dramas, so die Behauptung, ihre Ästhetisierung in der Spaltung des Zeichens innerhalb der Fiktion und in der Unterminierung der Grenze zwischen Fiktion und Diktion bzw. Fiktion und Lebenswelt finden. Sowohl die Texte als auch die damit intendierten Aufführungen bedienen sich somit der Wirkmacht der Paradoxie, die sich aufgrund der Uneindeutigkeiten zwischen mentaler Repräsentation und sinnlich wahrnehmbarer Materie sowie zwischen theatraler Repräsentation (Mimesis, als-ob) und unmittelbarer Präsentation (Materialität, Performativität) einstellt. Der strukturelle Zusammenhang zwischen den phantastischen Darstellungs‐ modi und einem Wirklichkeitsbegriff, der sich gerade auf der Verweigerung ontologischer Determiniertheit und Fassbarkeit gründet (Die Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige), bereitet einen ästhetischen Ansatz vor, der das Uneigentliche zum Eigentlichen macht oder zumindest als das ‚Eigentliche’ ausgibt: [D]as Paradox, die Inkonsistenz der Träume, die ostentative Sinnwidrigkeit, das ken‐ taurische Mischgebilde, die unwahrscheinlichste Placierung (sic! ) der Gegenstände, die Umkehrung der natürlichen Entropie, in der Zivilisationsschrott zur Konstitu‐ tion von Bildern, Zeitungsausschnitte zur Komposition von Romanen zusammenge‐ zwungen werden können oder die Sphäre der technischen Geräusche und Lärme eine musikalische Komposition herzugeben gezwungen wird. 276 In diesem Sinne wird der Begriff der Mimesis umgekehrt: Statt vermeintlich Gegebenes nachzuahmen, wird der mimetische Akt zum Ermöglichungsgrund des Anderen. Anders gewendet, der mimetische Akt, d. h. der Versuch einer Darstellung von Wirklichkeit, scheint vor der Folie eines modernen und post‐ modernen Wirklichkeitsbegriffs paradoxerweise erst durch anti-mimetische Formen zu gelingen, durch die Mimesis der Unmöglichkeit mimetischer Dar‐ stellung. Diese Formen zeichnen sich nicht mehr nur durch den Versuch aus, die Wirklichkeit in ihrer Unüberschaubarkeit durch eine anti-mimetische Ästhetik zu fassen, sondern durch den expliziten Hinweis auf die Unmöglichkeit des 110 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="111"?> 277 Simon, Josef: „Das philosophische Paradoxon“, in: Geyer, Paul/ Hagenbüchle, Roland (Hgg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Würzburg 2002, S.-47. Darstellens an sich. Hinsichtlich der hier behandelten Dramen impliziert dieser Übergang von der Moderne zur Postmoderne den Schritt vom historischen zum erinnerungskulturellen bzw. metahistorischen Drama. Das Paradoxon ergibt sich ergo aus der (theatralen) Darstellung des Hinweises auf die Problematik eines erkenntnisverweigernden Wirklichkeitsbegriffs und nicht mehr aus der Problematisierung der Darstellung von Wirklichkeit. Die Figur des Paradoxons benennt bereits auf der Begriffsebene die Anwe‐ senheit des Anderen, Ausgeschlossenen oder Verdrängten. Der Etymologie folgend bezeichnet es ein Überschreiten (pará) einer herrschenden Lehre (dóxa) bzw. Lehrmeinung sowie der daran geknüpften Erwartungen. Dadurch kann es zunächst einmal als Figur des Widerstandes gegen den common sense verstanden werden; die Wirkmacht des Paradoxons ergibt sich demnach durch einen Ver‐ stoß. Die sich im Paradoxon manifestierende Infragestellung der herrschenden Auffassungen vom Möglichen und Unmöglichen kann, mit Kant gesprochen, als Inkompatibilität von Anschauungen und Begriffen aufgefasst werden, was eine erkenntnistheoretische Erklärung für die Annahme liefert, die Paradoxie sei ästhetischer Natur und damit unmittelbar an die Wahrnehmung geknüpft. In Abgrenzung zum logischen Widerspruch, der sich selbst im Moment der Aussage als nicht-logisch zu erkennen gibt und sich damit im Entstehen bereits selbst durchstreicht, betont der Philosoph Josef Simon im Hinblick auf die Paradoxie: „Das Paradoxe hält man nur aus dem eigenen beschränkten Horizont der Begriffsbildung heraus nicht für möglich, aber es ist offenbar wirklich, weil es sich sinnlich zeigt. An und für sich muss alles Wirkliche auch möglich sein, aber beim Paradoxon scheint es sich anders zu verhalten.“ 277 Die sinnliche Erscheinung reicht folglich noch nicht als ontologische Daseinsberechtigung aus. Darüber hinaus bedarf sie der inter-subjektiven Anerkennung - eine Feststellung, deren erinnerungspolitische Implikationen weitreichend sind. Definitionsversuche wie der von Josef Simon rekurrieren primär auf eine Überforderung der Begriffsbildung angesichts bisher für unmöglich gehaltener Anschauungen. Es sind m. E. jedoch zwei wichtige Ergänzungen zu machen: Zum einen fehlt dem zitierten Ansatz, wie mit Blick auf erinnerungspolitische Implikationen angedeutet wurde, eine Klärung der Frage, ob das sinnliche Sich-Zeigen individueller oder inter-subjektiver Natur ist; dies ist bedeutend für den ontologischen Status des vermeintlich Wahrgenommenen. Zum anderen ist zu präzisieren, dass perzeptive Überforderung auch dadurch bedingt werden kann, dass begrifflich Angenommenes, beispielsweise eine sich aus der Erfah‐ 3 Materielle Repräsentation 111 <?page no="112"?> 278 Koselleck, „‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’“, S.-352. 279 Der Begriff der hésitation wird im Folgenden im Sinne Tzvetan Todorovs verwendet. Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die phantastische Literatur, München 1972. 280 Bode, Christoph: „Das Paradox in post-mimetischer Literatur und post-strukturalisti‐ scher Literaturtheorie“, in: Geyer, Paul/ Hagenbüchle, Roland (Hgg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Würzburg 2002, S.-651. rung ergebende Erwartung (z. B. die symbolische Anerkennung der Schuld) keine Repräsentanz in der Anschauung findet. Die Inkompatibilität zwischen Begriffen und Anschauungen muss somit von zwei Seiten her betrachtet werden. Die Verunsicherung rationaler Erkenntnis kann folglich zwei Stoßrichtungen aufweisen, ausgehend von den Anschauungen oder von den Begriffen. Ent‐ weder ich nehme etwas wahr, was ich begrifflich nicht fassen kann. Oder: Ich nehme etwas nicht wahr, was ich begrifflich erfasst habe und mit dessen Re-Präsenz ich im Sinne einer aisthetischen Notwendigkeit rechne. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, die kantianischen Erkenntnisbegriffe mit den historischen Erkenntniskategorien Kosellecks zu verknüpfen. Gemäß der Kritik der reinen Vernunft geht Erkenntnis aus dem Zusammenwirken von reinen Anschauungsformen und Begriffen hervor: Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Die Analogie dieser Interdependenz zu Kosellecks historischen Erkenntniskategorien verdeutlicht folgendes Zitat: Das Begriffspaar ‚Erfahrung und Erwartung’ ist […] in sich verschränkt, es setzt keine Alternativen, vielmehr ist das eine ohne das andere gar nicht zu haben. Keine Erwartung ohne Erfahrung, keine Erfahrung ohne Erwartung. 278 Die Inkongruenz zwischen den genannten Begriffspaaren wird zur Quelle kognitiver Irritation und zum Ermöglichungsgrund für das Phantastische auf ästhetischer Ebene. Ein kurzer Moment der hésitation 279 (Todorov) genügt, um die Grenze zwischen Anwesendem und Abwesenden, Seiendem und Nichts‐ eiendem, Möglichem und Unmöglichem, Erfahrenem und Erwartetem brüchig werden zu lassen. Die Realität bildet dabei den Nährboden für das, was nicht Teil dieser Realität ist oder sein kann. So kann die irreduzible Diskrepanz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zum Ursprung von Para‐ doxien werden: „Jedes Paradoxon benötigt, um wahrgenommen zu werden, einen ‘endoxen‘ Verständnishintergrund, vor dem es sich abhebt, es braucht einen Kontrast, eine Distanz, ein Gefälle - einen Widerstand, wenn man so will.“ 280 Kommt es zu einer Diskrepanz zwischen Erfahrenem und Erwartetem, so nimmt das Gewesene bzw. Erlebte eine fragile, ontologische Liminalstellung 112 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="113"?> ein, zum einen aufgrund zeitlich bedingter Abwesenheit bei gleichzeitigem ontologischen Anspruch auf Anwesenheit, zum anderen, weil ihm die sekun‐ däre Versinnlichung entgegen der subjektiven Erwartung verwehrt bleibt. Das Gewesene ist nicht mehr, aber es war einmal in dieser Welt. Das Nicht-Sein ist zeitlich bedingt, nicht ontologisch. Die Erinnerung zum Zwecke biographischer oder kollektiv-kultureller Identitätskonstitution versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden. Der endoxe Grund der in dieser Studie vorliegenden Annahme einer ‘erinne‐ rungskulturellen Phantastik’ kann nicht primär durch naturwissenschaftliche Maßstäbe determiniert werden. Denn die Gegenwartsgebundenheit der Empirie würde der Hypothese einer irreduziblen Diskrepanz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nicht gerecht werden. Der Modus des Phantastischen in erinnerungskulturellen Texten und Aufführungen stellt sich m. E. weniger auf der Ebene der Synchronie ein als vielmehr aufgrund diachronischer Irritationen zwischen Anschauung (oder: Angeschautem) und Begriffen, Erfahrung und Erwartung, d. h. der Diskrepanz zwischen identitätskonstituierender Bedeutung zurückliegender Ereignisse und dem Ausbleiben symbolischer Repräsentanz. Das Ergebnis ist eine Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ein Wirklich‐ keitsmoment, das sich erst in dem Augenblick erschließt, wenn jeder Versuch einer Etablierung semantischer Korrelationen zwischen Vergangenem, Gegen‐ wärtigem und Zukünftigen zu scheitern droht. Es wäre zu überprüfen, ob literarische Texte, die kurz nach politisch-syste‐ mischen Zäsuren bzw. während der politischen und sozialen Übergangsphasen entstanden, im Paradoxon eine adäquate Figur finden, um etwaige Diskrepanzen zwischen Erfahrung und Erwartung zu ästhetisieren. Insbesondere vor der Folie propagierter Lemmata wie Neuanfang und Stunde Null, in Übergangsge‐ sellschaften also, die sich durch eine systemische Grenzziehung auszeichnen, die der identitätskonstitutiven Vergangenheitsgebundenheit des sozialen Kollektivs keine Berücksichtigung zu schenken scheint, könnte ein Konzept der ‘erinne‐ rungskulturellen Phantastik’ interessante Perspektiven eröffnen. Im Rahmen der Textanalysen wird zu zeigen sein, dass das Paradoxon, neben weiteren Spielarten des phantastischen Oszillierens zwischen Schein und Sein, gerade an der Schwelle zwischen Franco-Diktatur und demokratischem Über‐ gang seine subversive Energie sowie sein ästhetisches Potential auszuspielen vermag. Unter Rekurs auf das „Standardwerk der Paradoxforschung“, das im Jahr 1992 von Roland Hagenbüchle und Paul Geyer unter dem Titel Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens publiziert und 2002 neu aufgelegt wurde, wird das Paradoxon als „eine Figur des Widerstandes gegen die Machtergreifung eines geschlossenen Systemdenkens“ begriffen, die sich 3 Materielle Repräsentation 113 <?page no="114"?> 281 Freud, „Das Unheimliche (1919)“, S.-264. 282 Masschelein, Anneleen: „Unheimlich/ das Unheimliche“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in Sieben Bänden, Bd. 6, Stuttgart 2010, S.-245. 283 Freud, „Das Unheimliche (1919)“, S.-268. 284 Masschelein: „Unheimlich/ das Unheimliche“, S.-241. mit Blick auf die bereits erwähnte, systemische Markierung einer Zäsur im Jahr 1975 als besonders anschlussfähig erweist. Das Andere (pará) des erinne‐ rungskulturellen Systemdenkens, der memorialen dóxa, füllt sich nach 1975 mit diskursiv ausgeschlossenen Vergangenheitsbezügen. Der Einbruch schlimmer, subjektiver Erinnerungen in den politischen Diskurs, der Bürgerkrieg und Diktatur primär als rhetorische Sprungbretter für eine Wiederholung der zukunftsgerichteten Lemmata des consenso und der reconciliación nutzte, stellt einen Einbruch des Anderen dar. Dieses Andere ist in dem hier untersuchten Fall jedoch keineswegs etwas Zukünftiges und Unbekanntes. Vielmehr handelt es sich um eine Wiederkehr des nur allzu Bekannten, das erst durch eine Grenzziehung zum Anderen wurde. Diese Grenzziehung macht aus der Erinnerung, der Vergegenwärtigung, etwas Unheimliches im Sinne Freuds. Für Freud ist das Unheimliche „wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist.“ 281 Das wiederkehrende Verdrängte, „was eigentlich im Verborgenen hätte bleiben sollen, aber trotzdem ans Licht kommt.“ 282 Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das Heimliche-heimische ist, das eine Ver‐ drängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist, und daß alles Unheimliche diese Bedingung erfüllt. Aber mit dieser Stoffwahl scheint das Rätsel des Unheimlichen nicht gelöst. Unser Satz verträgt offenbar keine Umkehrung. Nicht alles, was an ver‐ drängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen der individuellen Vorzeit und der Völkerurzeit mahnt, ist darum auch unheimlich. 283 Erinnerung ist nicht per se unheimlich, unheimlich wird sie erst durch ihre Verdrängung, durch ihren Ausschluss aus der dóxa, dem öffentlichen Erin‐ nerungsdiskurs. Paradoxerweise wird aus diesem Grund das Eintreten des eigentlich zu Erwartenden zur unheimlichen Bewegung. Das Verdrängte, was in der Latenz hätte bleiben sollen, sich aber dennoch manifestiert, bedroht die etablierte diskursive Ordnung: Demnach stellt das Unheimliche nichts Geringeres als die epistemologische Grundlage des Denkens und des theoretischen Diskurses in Frage, weil es offenlegt, was um der Klarheit und der Gewißheit willen ignoriert und verdrängt werden muss. 284 114 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="115"?> Die formulierte These zur Spaltung des Zeichens in seine semantische und materielle Komponente scheint vor der Folie des Erörterten gestützt werden zu können. Die systemische Verortung schlimmer Erinnerung, des Erfahrenen, im Feld des Anderen schließt die Möglichkeit auf intersubjektive Verständigung von vornherein aus. Das Andere verharrt in der mentalen Latenz, auf der Ebene der Subjekte, ohne jedoch völlig zu verschwinden. Voraussetzung für einen Austritt aus der Subjektivität in den Bereich des Objektiven wäre mit der Mög‐ lichkeit intersubjektiver Wahrnehmung verbunden, die jedoch eine Materiali‐ sierung in Form von Zeichen (memoriale Repräsentation) erfordert. Durch die Verhinderung politisch-institutionell motivierter Formen des kollektiven (d. h. inter-subjektiven) Erinnerns wurden schlimme, individuelle Erinnerungen zu Para-Doxa im Sinne eines Verstoßes gegen den offiziellen Erinnerungsdiskurs. Die “Unheimlichkeit“ dieser Paradoxa gründet gerade auf ihrer Bekanntheit, bzw. auf ihrem Status als tatsächlich Gewesenem, jedoch Unerwünschten. Ihre Lebenswelt bleibt ein Außerhalb des öffentlichen Diskurses; und dieses Außerhalb ist u. a. die Innerlichkeit der Subjekte, ihre innere Wahrnehmung, ihre Vorstellung, ihre Erinnerung. Die dramatische und theatrale Re-Präsentation verdrängter Erinnerung kann auf paradoxale Motive und Strukturen zurückgreifen, um auf diese Weise eine meta-memoriale Reflexion in Gang zu setzen. Die durch das Andere ausgelöste Irritation im inneren und äußeren Kommunikationssystem tritt jedoch nur dann ein, wenn das Dargestellte bzw. die Form der Darstellung vor der Folie des institutionell und ästhetisch Erwarteten, des endoxen Grunds, interpretiert wird - handelt es sich bei diesem nun um den in Spanien herrschenden Erinnerungsdiskurs oder das bis 1975 in den großen Spielhäusern etablierte bürgerlich-franquistische Unterhaltungstheater. Auf einen Punkt angelegt, lässt das Paradox mit einem Schlag das Eine und sein Anderes in den Blick treten. Während wir im dialektischen Prozess die These in der Antithese als Moment belassen können, muss im Paradox der Wiederspruch radikaler ausgehalten werden, denn was sich ausschließt, ist - janusköpfig - auf frappante Weise zugleich verbunden. Hier zeigt sich nicht zuletzt der eigentliche Kern des Paradoxen überhaupt, nämlich das Verhältnis zum total Andern. Die Tatsache, dass es dieses Andere gibt, ist das Paradox. Es hindert mich, solipsistisch in meiner ‚Eigensphäre‘ (Husserl) aufzugehen; ich muss mich diesem Andern in seinen verschiedenen Erscheinungsformen stellen: als Nicht-Ich, als dem anderen Menschen, als einer anderen Wertwelt, einer anderen Seinssphäre, als Transzendenz, usw. Weil 3 Materielle Repräsentation 115 <?page no="116"?> 285 Hagenbüchle, Roland: „Was heißt “paradox“? Eine Standortbestimmung“, in: Geyer, Paul/ ders. (Hgg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Würzburg 2002, S.-39. 286 Simon, „Das philosophische Paradoxon“, S.-47. 287 Vgl. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster, Frankfurt a. M. 1996 (= Fischer ZeitSchriften, 12380), S. 11: „Und diese Mit-Sein mit den Gespenstern wäre auch - nicht nur, aber auch - eine Politik des Gedächtnisses, des Erbes und der Generationen. Wenn ich mich anschicke, des langen und breiten von Gespenstern zu sprechen, von Erbschaft und Generationen, von Generationen von Gespenstern, das heißt von gewissen anderen, die nicht gegenwärtig sind, nicht gegenwärtig lebend, weder für uns noch in uns, dann geschieht es im Namen der Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeit dort, wo sie noch nicht ist, noch nicht da, dort, wo sie ebenso wenig wie das Gesetz, niemals reduzierbar sein wird aufs Recht. Von da an, wo keine Ethik, keine Politik, ob revolutionär oder nicht, mehr möglich und denkbar und gerecht erschient, die nicht in ihrem Prinzip den Respekt für diese anderen anerkennt, die nicht mehr oder die noch nicht da sind, gegenwärtig lebenden, seien sie schon gestorben oder noch nicht geboren, von da an muss man vom Gespenst sprechen, ja sogar zum Gespenst und mit ihm.“ [Hervorhebungen, D. H.] dieser Bezug zum Andern ins Extrem getrieben wird, sind wir gezwungen, die Art der Grenzziehung---und den Begriff der Grenze selbst---neu zu überdenken. 285 Die Konfrontation mit dem Paradoxen zwingt das Individuum, sich gegenüber dem existenten Anderen zu positionieren. Die Repräsentanten der dóxa lassen das Andere, die Paradoxa, aus dem „eigenen beschränkten Horizont der Begriffs‐ bildung heraus“ 286 zum Unmöglichen werden. Jacques Derrida geht in seinem Werk Marx’ Gespenster auf die erkenntnis‐ theoretische Problematik hinsichtlich der Sichtweise des klassischen scholar ein, des Vertreters der dóxa, dessen Wissensordnung mit Akten der Grenzziehung und Ausschließung einhergeht. Unter Rekurs auf Shakespeares Theaterstück Hamlet etabliert er die Möglichkeit eines zukünftigen scholar, der dem Anderen, in diesem Fall dem Gespenst des Königs, Gehör schenkt, ihm seinen ontologi‐ schen Anspruch trotz seiner vermeintlichen Nicht-Existenz nicht abspricht und damit die moralische Verpflichtung eingeht, die aus den Fugen geratene Zeit wieder ins Lot zu bringen. Die Anhörung des Anderen wird bei Hamlet zum Ausgangspunkt eines Aktes korrektiver Gerechtigkeit. 287 Die Fragilität des Anderen, das sich im Jenseits der doxá verortet, hindert es an der Erreichung ontologischer Glaubwürdigkeit. Das Existenzrecht des Anderen ist somit von der Anerkennung der Subjekte abhängig. Erhält es diese nicht, droht es, trotz seiner vermeintlichen Faktizität, in das Feld des Fiktiven, Fiktionalen oder Irrationalen abzudriften. Statt eines Sowohl-als-auch lässt der klassische scholar, der Vertreter der dóxa, ausschließlich ein Entweder-Oder zu - Sein oder eben nicht Sein: 116 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="117"?> 288 Derrida, Marx’ Gespenster, S.-29. 289 Vgl. Derrida, Marx’ Gespenster, S. 173: „Wenn es Gespenstisches gibt, dass genau in dem Augenblick, wo die Referenz zwischen beiden [Geist und Gespenst] in der Schwebe bleibt - oder wenn sie nicht mehr in der Schwebe bleibt, da, wo sie es hätte tun müssen.“ 290 Vgl. die Annahme Lacans, dass die Angst (l’angoisse) immer aus einem ça ne manque pas entsteht, aus der Absenz der Kastration, nicht aus der Kastration selbst. Diese ist der Austritt aus der Mutter-Kind-Symbiose und der Eintritt in die symbolische Ordnung des Vaters. Das Reale als das Heim(-liche) wird in diesem Augenblick zur Quelle der unheimlichen Bewegung; vgl. Masschelein, „Unheimlich/ das Unheimliche“, S.-246. Es hat nie einen scholar gegeben, der als solcher nicht an die scharfe Trennung von Realem und Nicht-Realem geglaubt hätte, von Faktischem und Nicht-Faktischem, Lebendem und Nicht-Lebendem, Sein und Nicht-Sein (to be or not to be im Sinne der konventionellen Lesart), an die Opposition zwischen dem, was präsent ist, und dem, was es nicht ist, z. B. in der Form der Objektivität. Jenseits dieser Opposition gibt es für den scholar nur gelehrte Hypothesen. Theatralische Fiktionen, Literatur und Spekulation. 288 Das Gespenst fungiert bei Derrida als eine Figur des ‚Anderen’, genauer, als eine Figur des anderen Denkens. Gleichermaßen wird es zum unheimlichen Stellvertreter für all das, was aus dem Feld der diskursiv etablierten Rationalität gedrängt wird. Seine Unheimlichkeit bezieht das Gespenst dabei aus seiner Hyb‐ ridität, seiner ‘undenkbaren’ vermittelnden Zwischenstellung, die bestehende Binarismen zu unterminieren scheint. Die einleitende Analyse der Rhetorik des Konsenses und der Versöhnung machte deutlich, dass sich die spanische Erinnerungspolitik nach 1975 durch eine Suspendierung dessen auszeichnete, was der diskursiv etablierten, erinne‐ rungskulturellen Rationalität widersprach. Es wird zu zeigen sein, dass die Erinnerungen an das erinnerungspolitisch Suspendierte ihren ästhetischen Ausdruck im erinnerungskulturellen Drama zwischen 1975 und 2000 vielfach in liminalen Figuren und Motiven finden. Wie das Gespenst, so dienen ebenso Halluzination, der (Tag-)Traum, der Wahnsinn, die theatrale Improvisation, die Mythisierung, die Figur des Un-Toten, das menschliche Medium etc. aufgrund ihrer hybriden Struktur, ihrer inhärenten Uneideutigkeit zwischen Materie und Bedeutung als ästhetische Manifestierung des anderen Denkens bzw. des Erinnerns an das Andere. Dieses Andere wird nicht etwa zur erkenntnistheo‐ retischen Bedrohung, weil wir seinen endoxen Grund nicht kennen, sondern gerade weil bekannt ist, dass der endoxe Grund das Intelligible selbst ist. In der Unverfügbarkeit des Gespenstes scheint ebenso die Unverfügbarkeit des Geistes auf. 289 So wird das eigentlich ‚Heimliche’, der Geist, zum ‚Unheimlichen’, dem Gespenst. 290 3 Materielle Repräsentation 117 <?page no="118"?> 3.3 Zwischen Semantik und Pragmatik - Die Unterminierung des Zeichens im dramatischen Raum Neben der Verhinderung der semiotischen Manifestierung des Erinnerten bildet die Unterminierung oder Schwächung von innerfiktional manifestierten Erinnerungsinhalten die zweite Annahme hinsichtlich möglicher Ästhetisie‐ rungsformen der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen im dra‐ matischen Raum. Während im ersten Fall das Signifikat keine materielle Kom‐ plementierung und dadurch keine Repräsentanz im sinnlich-empirischen Feld erfährt, vollzieht sich die Unterminierung von bereits durch Signifikanten ma‐ nifestierten Erinnerungsinhalten durch einen intendierten oder erzwungenen Wechsel des Aussagemodus innerhalb der fiktionalen Welt. Damit rückt der Fokus der theoretischen Vorüberlegungen von der inner‐ fiktionalen Grenze zwischen Intelligiblem und Sensiblem bzw. semantischem Konzept und materieller Repräsentation hin zur Grenze zwischen Semantik und Pragmatik, an der die Untersuchung des innerfiktional gestalteten Übergangs zwischen individuellem und überindividuellem Gedächtnis möglich wird. Einer Bewegung von innen nach außen folgend, wird das vorliegende Teilkapitel somit zu einem Übergangskapitel zwischen der Annahme der Spaltung des Zei‐ chens, durch die die Veräußerung des Intelligiblen noch verhindert wurde, sowie den Ausführungen zu einer Überwindung der Fiktion, die das erinnerungskultu‐ relle Potential des Mediums Theater im Moment einer vermeintlichen Aufgabe des mimetischen Darstellungsmodus prüfen. Im Mittelpunkt steht nun der innerfiktionale Umgang mit den zu Zeichen werdenden bzw. gewordenen Er‐ innerungsinhalten, deren Aussagegehalt jedoch durch modale Uneindeutigkeit in Frage gestellt wird und dadurch erneut Verdrängungsmechanismen anheim fällt. Diese modale Uneindeutigkeit betrifft zunächst allein die Figuren innerhalb des dramatischen Raums, der Rezipient nimmt das Rezipierte dagegen weiterhin als entpragmatisiert und damit ohne Bezug zur Lebenswelt wahr. Dieses Teilkapitel ist somit um eine theoretische Untersuchung von Veräuße‐ rungsmöglichkeiten von individuellen Erinnerungen an Diktatur und Bürger‐ krieg innerhalb der Fiktion bemüht. Es wird vor dem Hintergrund der in den ausgewählten Dramen geübten Kritik an der Erinnerungspolitik und -kultur des Postfranquismus zu prüfen sein, inwieweit diesen Figurenerinnerungen im intersubjektiven Raum zum Ausdruck verholfen wird, ja sogar eine Verständi‐ gung über das Geschehene zugelassen wird, oder ob ihnen der Eintritt in das Feld des diskursiven Aushandelns verwehrt bleibt. Die folgenden Ausführungen bilden eine theoretische Fundierung für die Frage nach der Problematisierung des pragmatischen Erinnerungsgehalts im intersubjektiven Raum - sei dies innerfiktional oder an der Grenze zwischen 118 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="119"?> 291 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-48. 292 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 253. Vgl. zudem S. 48: „Der Wahrheitsan‐ spruch des Gedächtnisses muss anerkannt werden und zwar vor jeder Betrachtung pathologischer Insuffizienzen und nicht-pathologischer Schwächen des Gedächtnisses […]. Um es geradeheraus zu sagen: Wir haben nichts Besseres als das Gedächtnis, um kundzutun, daß etwas stattgefunden, sich ereignet hat oder geschehen ist, bevor wir erklären, uns daran zu erinnern.“ Bühne und Publikum -, scheint es doch stets so zu sein, dass sich die Frage, ob Erinnertes “wahr“ oder “falsch“ ist, weniger aus dem Grad der Faktizität als aus dem Grad intersubjektiver Anerkennung ergibt, ganz gleich, ob innerhalb der Fiktion oder in der Lebenswelt. Vor dem Hintergrund dieser Behauptung lohnt ein erneuter Blick auf die Ausführungen Paul Ricœurs über den Wahrheitsanspruch des Erinnerns und den damit implizierten Vertrauensvorschuss gegenüber Erinnernden. Denn wir haben Ricœur gemäß zwar nichts besseres, als unser Gedächtnis, um uns auf Vergangenes zu beziehen. Doch wer sagt uns, ob es sich angesichts formulierter Aussagen über Vergangenes wirklich um Erinnerung handelt oder um Erfundenes? Mittels Zeichen legen Erinnernde Zeugnis ab von dem, was gewesen ist. Das aussagende Subjekt deklariert sich als unmittelbarer oder mittelbarer Zeuge des Geschehenen, der insbesondere dann unentbehrlich wird, wenn alle Spuren des Vergangenen restlos ausgelöscht wurden. Für Paul Ricœur stellt das Zeugnis „die Grundstruktur des Übergangs zwischen Gedächtnis und Geschichte“ 291 dar; als Form der Semiotisierung des Vergangenen ist es zunächst jedoch Möglichkeitsbedingung für Intersubjektivität und wird dadurch zu einer Objektivationsform, die den Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis zu überbrücken vermag. Voraussetzung für diesen Übergang ist das Vertrauen in den Erinnernden und in den pragmatischen Gehalt seiner Aussage über Vergangenes. Das Vertrauen in die Aussage der Anderen benennt Ricœur mit dem Begriff der „fiduziarischen Bindung“; diese stellt für ihn eine der Maximen der Konversation und zugleich eine Grundvoraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Menschen im intersubjektiven Raum dar. Ohne dieses Vertrauen gäbe es schlichtweg keine soziale Bindung: „Zuerst dem Wort des anderen vertrauen, dann erst beim Vorhandensein von starken Gründen daran zweifeln. […] Der dem Wort des anderen eingeräumte Kredit macht die soziale Welt zu einer intersubjektiv geteilten.“ 292 Bereits der Gründungsmythos der Ars memoria, die Erzählung von der Gedächtnisleistung des Simonides von Keos, stellt den inhärenten Wahrheits- und Vertrauensanspruch jedes Erinnerungsaktes heraus und macht gleicher‐ 3 Materielle Repräsentation 119 <?page no="120"?> 293 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächt‐ nisses, München 1999, S.-36. 294 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-52. maßen auf die identitäre Notwendigkeit aufmerksam, den Erinnernden Glauben zu schenken. Nachdem Simonides von den zuvor während eines Gastmahls besungenen Göttern Kastor und Pollux unter einem Vorwand aus dem Haus des thessalischen Edelmanns Skopas gelockt wurde, stürzte das Gebäude über dem Hausherren, der sich zuvor abträglich über die Gottheiten geäußert hatte, sowie über seinen lästerlichen Gästen ein. Da die Leichname bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren, konnten sie von den herbeieilenden Verwandten und Freunden nur dank Simonides’ Erinnerungsleistung identifiziert und zu Grabe getragen werden. Die mnemotechnische Leistung des Simonides, der sich die Sitzordnung der Feiernden eingeprägt hatte, „wird in der Legende verewigt als die Macht des menschlichen Gedächtnisses über Tod und Zerstörung hinweg.“ 293 Durch die Re-Präsentation des Gewesenen überwindet die Erinnerung zwar weder den Tod als dem Ende körperlich-physiologischer Funktionalität noch die architektonische Demolierung, jedoch vermag sie es, das dem Raum des Physischen Entrückte im Geist zu bewahren und das gegenwärtige Handeln daran auszurichten. Bereits seit der Antike haftet der Gedächtnisfähigkeit sowie dem Akt des Erinnerns also die Ambivalenz der Anwesenheit des Abwesenden an, gleichwohl sie im Hinblick auf die nachträgliche Vergewisserung kultureller und individueller Identität von essentieller Bedeutung ist. Wissen ist weder für die individuelle noch für die kulturelle Vergewisserung der eigenen Identität primäre Bedingung. Jan Assmann weist mit Blick auf Kollektive darauf hin, dass „[f]ür das kulturelle Gedächtnis nicht faktische, sondern erinnerte Geschichte [zählt]. Man könnte auch sagen, daß im kul‐ turellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird.“ 294 Die identitätsstiftende Rolle der Religionen führt vor Augen, in welchem Maße der Glaube die fundierende Kraft des Wissens über‐ steigt und in der Folge als handlungsleitende Grundstruktur fungieren kann. Was anti-rationalistisch scheint und jenseits dessen liegt, was gewusst werden kann, wirkt immens einheitsstiftend und wird selbst von Verfechtern des Rationalismus nicht angetastet. So dient beispielsweise Kant die Unmöglichkeit, mithilfe der uns zur Verfügung stehenden Erkenntnisapparate, die Existenz Gottes auszuschließen, als Gottesbeweis ex negativo. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und mit Blick auf die Möglich‐ keiten der Unterminierung von Erinnerungen gilt es festzuhalten, dass sich die Bedeutung der Aussagen insbesondere im Feld des geschichtlichen, kulturellen und soziologischen Diskurses nicht zwangsläufig aus der empirischen Überprüf‐ 120 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="121"?> 295 Searle, John: „Der logische Status fiktionaler Rede“, in: Reicher, Maria E. (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit: Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 2010 (= KunstPhilosophie, 8), S.-24f. 296 Searle, „Der logische Status fiktionaler Rede“, S.-25. barkeit des Ausgesagten ergeben, sondern vielmehr aus der intersubjektiven Akzeptanz, d. h. dem Glauben an die Bedeutung des Ausgesagten für die Gegenwart. Damit rückt der Fokus weg vom noematischen Gehalt, hin zum noetischen Akt. Anders gewendet, wenn die Existenzweise dessen, über das etwas ausgesagt wurde, nicht als Quelle ontologischer Vergewisserung gelten kann, so muss der Akt des Aussagens selbst sowie die Bedingungen, in denen dieser Akt vollzogen wird, untersucht werden, scheint es doch so zu sein, dass die intersubjektive Akzeptanz des pragmatischen Gehalts der Aussage entscheidender für die Wirkmacht des Ausgesagten sein kann, als dessen ontologischer Status. Diese Gedankenschritte führen zur Auseinandersetzung mit der Grenze zwischen Semantik und Pragmatik und damit automatisch zu einer metaliterarischen Reflexion über das Verhältnis von Fiktion und Diktion bzw. fiktionalem und faktualem Aussagemodus. Werden Erinnerungen in Anlehnung an John Searles Ausführungen zum Sprechakt als Behauptungen über die Vergangenheit definiert, so ist ihnen ein illokutionärer Gehalt und damit ein faktualer Anspruch als Aussage über die Welt zuzuschreiben, selbst wenn es sich dabei um eine Erinnerung innerhalb einer fiktionalen Welt und über eine fiktionale Welt handelt. Searle definiert die Behauptung als einen speziellen Typus eines illokutionären Aktes, dessen wesentliche Regel lautet: „Wer etwas behauptet, legt sich auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition fest.“ 295 Der Behauptende muss fähig sein, den Wahrheitsgehalt der ausgedrückten Proposition zu belegen und zu begründen. Zudem kann es sich nur dann um eine Behauptung handeln, wenn der Sachver‐ halt der Proposition für den Hörer nicht völlig offensichtlich und manifest ist. So zeichnet sich auch der Erinnernde dadurch aus, dass er etwas über die Vergan‐ genheit behauptet, was eben nicht in der gegenwärtigen Lebenswelt manifest und somit offensichtlich und deshalb nicht der Rede wert ist. Der Erinnernde ist dabei stets aufrichtig: „Der Sprecher legt sich auf die Überzeugung fest, daß die ausgedrückte Proposition wahr ist.“ 296 Dieser faktische Anspruch ist Ricœur zufolge jeder memorialen Leistung inhärent. In seinem Aufsatz „Bezeugen, Vergeben, Anerkennen“ betont Andreas Hetzel diese von Ricœur stets hervorgehobene Prämisse, die das Gedächtnis von der produktiven Einbildungskraft, der Phantasie, unterscheidbar macht: „Das Gedächtnis impliziert das normative Ideal einer Treue. Zur epistemischen und praktischen Dimension des Gedächtnisses tritt also noch eine ethische hinzu, 3 Materielle Repräsentation 121 <?page no="122"?> 297 Hetzel, Andreas: „Bezeugen, Vergeben, Anerkennen“, in: Liebsch, Burkhard (Hg.), Bezeugte Vergangenheit und versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur, Berlin 2010 (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 24), S.-222. 298 Hetzel, „Bezeugen, Vergeben, Anerkennen“, S.-222. 299 Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-142f. 300 Searle, „Der logische Status fiktionaler Rede“, S.-28f. die den Fluchtpunkt seiner Untersuchung bildet.“ 297 Ricœurs Ausspruch, dass der Mensch nichts besseres habe als das Gedächtnis, um auf Vergangenes zu rekurrieren, denkt die ethischen Implikationen des Erinnerns und vor allem des Vergessens stets mit; für Ricœur ist alles Erinnern auch ein Gedenken, nicht zuletzt an die Opfer der Geschichte, „deren Spuren bewusst beseitigt wurden und werden.“ 298 Die Pflicht zur Erinnerung ist die Pflicht, einem anderen als man selbst durch Erinnerung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, […] anderen, […] von denen wir im weiteren sagen werden, dass sie zwar nicht mehr sind, aber gewesen sind. 299 Der jedem Erinnerungsakt inhärente Wahrheitsanspruch kann jedoch konter‐ kariert werden, sobald die Erinnerung in einen Aussagemodus des Als-ob integriert wird und die verwendeten Zeichen ihren Bezug zu außersprachlichen Referenten einbüßen. Erinnerungen können somit in einem mimetischen, un‐ eigentlichen Modus dargestellt und erzählt werden, genauso wie in einem performativen, eigentlichen und unmittelbaren. Während sich das ‚mimetische Erinnern’ durch den Modus des Als-ob auszeichnet, weil es das Erinnern ledig‐ lich vorgibt, spielt der Akt des ‚performativen Erinnerns’ seine pragmatische Wirkmacht vollends aus. Gleich der faktualen Rede geht das performative Erinnern eine Beziehung zur Welt ein; Searle spricht mit Blick auf diese Art von Beziehung von „vertikalen Regeln“, die Sprache und Realität in Bezug setzen. Werden aufrichtige Behauptungen über die Gegenwart oder die Vergangenheit jedoch in einen Modus des Als-ob überführt, beispielsweise in den fiktionalen Modus des Sprechens, geht der Weltbezug der Aussage verloren. Man denke sich die Konventionen fiktionaler Rede als horizontale Konventionen, welche die Verbindungen durchbrechen, die durch die vertikalen Regeln hergestellt wurden. Sie setzen die gewöhnlichen Bedingungen außer Kraft, die durch diese Regeln in Kraft gesetzt wurden. Solche Konventionen sind keine Bedeutungsregeln; sie sind nicht Teil der semantischen Kompetenz des Sprechers. Dementsprechend variieren sie nicht die Bedeutung von Wörtern oder anderen Elementen der Sprache. Vielmehr versetzen sie den Sprecher in die Lage, Wörter in ihren wörtlichen Bedeutungen zu verwenden, ohne die Festlegung einzugehen, die normalerweise mit jenen Bedeu‐ tungen verbunden sind. 300 122 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="123"?> Was hier als ‚mimetischen Erinnern’ bezeichnet wurde, meint demnach, ein Als-ob des Erinnerns sowie ein Als-ob der lebensweltlichen Referenz. Gleich‐ wohl die Propositionen tatsächlich geäußert werden und keine semantische Veränderung aufweisen, spielt der Aussagende im Modus des Als-ob nicht nach den „vertikalen Regeln“, die ihn dazu befähigen würden, die Grenze zwischen Semantik und Pragmatik zu überwinden und die Proposition zu referentialisieren. Was wird jedoch aus Erinnertem, wenn es nicht in Beziehung zur Welt treten kann? Unter Rekurs auf Kants Vernunftphilosophie sowie auf den ame‐ rikanischen Philosophen E. Casey wurde bereits auf die gemeinsame Basis der mentalen Vermögen „Erinnern“ und „Imaginieren“ hingewiesen. Wie faktuales Sprechen in fiktionales Sprechen umkippen kann, fällt die Erinnerung, wenn ihr der Weltbezug verwehrt bleibt, aufgrund der strukturellen Nähe zur Phantasie dem Sog der produktiven Einbildungskraft zum Opfer. Im Hinblick auf die pragmatische Wirkmacht der Erinnerung verweist Casey auf die Bedeutung des endoxen Grunds, von dem aus erinnert wird. Erinnerungen können imaginiert werden, genauso wie Imaginationen erinnert werden können. Entscheidend im Hinblick auf den illokutionären Gehalt und damit für die Möglichkeiten inter‐ subjektiver Akzeptanz des faktisch-ontologischen Anspruchs des Erinnerten, ist die Frage, ob der Grund der Vorstellungsleistungen ein memorialer (faktualer Modus) oder ein imaginärer (fiktionaler Modus) ist. Werden memoriale Zeichen in Felder gedrängt oder bewusst eingespeist, die sich durch einen Aussagemodus charakterisieren, der keinen pragmatischen Anspruch zu stellen vermag, kommt es zur Unterminierung des Wahrheitsanspruchs. Auf diese Weise wird aus ei‐ gentlichem uneigentliches Sprechen, aus einem Sprechen über einen Referenten ein Sprechen ohne die Möglichkeit auf außersprachliche Referentialisierung. In seinem Aufsatz „Imagining and Remembering“ aus dem Jahr 1977 weist Casey auf die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten der Vorstellungs‐ vermögen hin. Gleich der Verschachtelung unterschiedlicher Erzählebenen, lassen sich auch die „modes of conscoiussness“ willkürlich miteinander kom‐ binieren. In Analogie zur Narrativik würden sich folgende Verknüpfungen dadurch auszeichnen, dass das Partizip Perfekt jeweils die extradiegetische Ebene darstellt, das Substantiv hingegen die Intradiegese. Den endoxen Grund, der über Illokution und Perlokution entscheidet, bildet dabei stets das im Partizip formulierte Geistesvermögen: Imaginierte Erinnerung, imaginierte Imagination, erinnerte Imagination und erinnerte Erinnerung. Casey weist darauf hin, dass es durchaus mehr als zwei miteinander verknüpfte Ebenen geben kann. 3 Materielle Repräsentation 123 <?page no="124"?> 301 Casey, „Imagining and remembering“, S.-194. Everyday examples are found in the mixed modes of consciousness wherein we spontaneously combine imagining and remembering to form an aggregate act: as when I remember myself as a small boy imagining how delightful it would be to be an adult? - for you could then stop the car wherever you desired and collect roadside rocks to your heart's content. Here an act of imagining becomes the content of an act of remembering. The converse is also possible, since I can very well imagine myself remembering any number of things, including remembering to imagine myself remembering … to imagine myself remembering. And so on. 301 Die materielle Repräsentation von Erinnertem, der simple Akt der Semiotisie‐ rung des Intelligiblen, ist somit keineswegs gleichbedeutend mit der intersub‐ jektiven Zuschreibung eines faktualen Gehalts; auf die Überschreitung der Grenze zwischen Semantik und Materie, als deren Ergebnis die Semiotisierung steht, folgt also die noch zu überwindende Grenze zwischen Semantik und Pragmatik, an der die Frage nach dem lebensweltlichen Bezug des Zeichens gestellt und beantwortet wird. Erst diese zweite Transgression entscheidet darüber, ob dem Erinnerten der Status des In-der-Welt-Seins im intersubjektiven Raum eingeräumt wird. Ohne diese überindividuelle Akzeptanz scheint sich die Erinnerung kaum von der Phantasie zu unterscheiden. Ein Rekurs an die erläuterten Annahmen Immanuel Kants über die „facultas imaginandi“, die Einbildungskraft, lässt eine erkenntnistheoretische Problema‐ tisierung dieser pragmatischen Kippbewegung zwischen Faktualität und Fikti‐ onalität bzw. Diktion und Fiktion zu, geht es bei der von Kant geforderten Abgrenzung zwischen Erinnerung und Phantasie doch nicht zuletzt um das Anprangern von Aussagen, die als faktual gekennzeichnet werden, jedoch keinen faktischen Gehalt aufweisen (Vgl. den Geisterseher Swedenborg). Da sowohl Erinnerung als auch Phantasie auf der Einbildungskraft fußen, kann die Distinktion zwischen der Darstellung von Erinnertem, exhibitio derivativa, und der Darstellung von Erfundenem, exhibitio originaria, nicht mit Bezug auf den Ursprung des zum Zeichen gewordenen vollzogen werden. Die Quelle beider Vermögen ist der Geist, ihre Unterscheidung ist einzig und allein dadurch mög‐ lich, dass das Erinnerte im Gegensatz zum Erfundenen einen lebensweltlichen Referenten aufweist. Ist dieser jedoch vergangen, oder verdrängt, erschwert dies die ontologische Beweisführung. In diesem Fall wird die Haltung gegenüber dem Ausgesagten, handelt es sich dabei nun um Erinnertes oder Erfundenes, vom wahrgenommenen Modus der Aussage determiniert, der durch sprachliche, parasprachliche und kontextuelle Hinweise markiert ist oder markiert wird. Der Wechsel vom faktualen in den fiktionalen Aussagemodus schafft einerseits die 124 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="125"?> 302 Barthes, Roland: „L’effet de réel“, in: Communications, 11 (1968), S. 88. Vgl. in diesem Zusammenhang die Technik des Beschreibens, die das realistisch-naturalistische Ge‐ mälde und den Text trotz der differierenden Darstellungsmodi (gleichzeitig, sequentiell) zu verbinden vermag. 303 Vgl. Barthes, „L’effet de réel“, S.-86. Möglichkeit, Unsagbares unter dem Schutz der Uneigentlichkeit auszusprechen. Andererseits kann dieser Moduswechsel auch erzwungen und damit gegen des Willen des Aussagenden vollzogen werden. Ein noch genaueres Verständnis für diese modale Kippbewegung, die letztlich in der Fiktionalisierung des Faktischen bzw. in einem Prozess der Ent-Realisie‐ rung mündet, lässt sich auf der Grundlage der strukturellen Erläuterungen Roland Barthes zum effet de réel aufbauen, handelt es sich dabei doch gerade um eine gegenläufige Bewegung. In seinem 1968 veröffentlichen Aufsatz L’effet de réel beschreibt Roland Barthes eine Strategie des realistischen Erzählens, wie sie beispielsweise in Gustave Flauberts Madame Bovary nachvollzogen werden kann. Diese besteht darin, das Erzählte u. a. durch genaue Beschreibungen und eine Vielzahl an Details möglichst wirklichkeitsgetreu erscheinen zu lassen. In Anlehnung an Searles Ausführungen zum Status der fiktionalen Rede ließe sich dieser Effekt dahingehend erklären, dass detailreiche Beschreibungen vorgeben, dass es das Beschriebene tatsächlich existiert. Pragmalinguistisch formuliert, der Realitätseffekt ergibt sich, indem der Autor vorgibt, auf einen außersprachlichen Gegenstand Bezug zu nehmen; die Fülle an Einzelheiten verstärkt dabei die Illusion dieser Bezugnahme. Der so erzielte Effekt des Realen basiert gewisser‐ maßen auf einem durch die Schreibweise intendierten, logischen Fehlschluss auf Seiten des Rezipienten, in dessen Folge das Signifikat als verbindendes konzeptuelles Element zwischen Signifikant und außersprachlichem Referent wegzufallen scheint und stattdessen die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Referent zur einer illusionären Unmittelbarkeit führt: Sémiotiquement, le «détail concret» est constitué par la collusion directe d'un réfèrent et d'un signifiant ; le signifié est expulsé du signe, et avec lui, bien entendu la possibilité de développer une forme du signifié […]. C'est là ce que l'on pourrait appeler l’illusion référentielle. 302 Die Signifikanten scheinen die außersprachliche Wirklichkeit direkt abzubilden, gleich den Pinselstrichen eines Malers des Realismus, der versucht, die sich ihm darbietende Welt auf seiner Leinwand einzufangen. 303 Die Bedeutung der ver‐ meintlich unbedeutsamen Details liegt folglich in ihrer rezeptionsästhetischen Wirkung. Erst durch einen Ausschluss des Intelligiblen, des Signifikats, und 3 Materielle Repräsentation 125 <?page no="126"?> damit des Subjekts, das zwischen die Realität und das die Realität Bezeichnende treten könnte, gelingt die narrative Etablierung von “Objektivität“. Ausgehend von diesen Überlegungen ist es möglich, eine semiotische Ana‐ lyse der behaupteten Unterminierung manifestierter Erinnerungsinhalte als Ästhetisierungsform der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen vorzunehmen. Unter Rekurs auf Roland Barthes kann der Prozess der Irreali‐ sierung des Realen, der Fiktionalisierung des Faktischen bzw. der Entpragma‐ tisierung der faktualen Aussage auf das Kappen der Verbindung zwischen Referent und Signifikat zurückgeführt werden. Während der Realitätseffekt durch den vermeintlichen Wegfall des Signifikats erzielt wird, wird im Falle der Entpragmatisierung dem Ausgesagten der illokutionäre Gehalt entzogen, indem das Signifikat mit einem Signifikanten in Verbindung gebracht wird, ohne dass diese semiotische Komplementierung zum unmittelbaren Verweis auf einen außersprachlichen Referenten führen würde. Die Verhinderung der Referentialisierung bringt es mit sich, dass das Bezeichnende nicht in Beziehung zur außersprachlichen Welt gesetzt wird. Vielmehr kann es als Veräußerung des Intelligiblen verstanden werden. Die semantische Korrelierung dient entspre‐ chend nicht als Zwischenstation auf dem Weg zum Referenten, sondern wird zur semantischen Sackgasse, die einzig eine Rückkehr zum Signifikanten erlaubt. Der ontologische Anspruch der Aussage wird durch das vorgegebene Abtrennen des außersprachlichen Referenten unmöglich, denn die Aussage kreist innerhalb ihrer eigenen Zeichenhaftigkeit. Was in der Literaturproduktion seit jeher als modale Verschleierungstaktik von Gesellschaftskritik fungiert, kann auf gesellschaftspolitischer Ebene zu‐ gleich als Strategie des Ausschlusses genutzt werden. Dass der faktische Anspruch des aussagenden Subjekts intersubjektive Akzeptanz längst nicht impliziert, sondern dass diese Akzeptanz von den Notwendigkeiten und den Bedürfnissen des jeweiligen, gegenwärtigen (Macht-)Diskurses und seiner Vertreter abhängt, stellte vor allem Michel Foucault heraus. Die Etablierung von semantischen Grenzen und damit von binären Denkmustern in der Gesell‐ schaft ist keineswegs diskursives Abbild eines Naturzustands, sondern Folge von Konstruktionsprozessen, die der Machtanhäufung und -erhaltung dienen sowie der Stabilisierung geltender systemischer Ordnungen. Der Aufbau dieser Grenzen gelingt durch Ausschließungsmechanismen, wie sie Foucault u. a. in Die Ordnung des Diskurses beschrieben hat. Ob eine Aussage als “wahr“ oder “falsch“, “rational“ oder “irrational“ eingestuft wird, ist nicht allein von der Aussage selbst abhängig, sondern von der ihr gegenüber eingenommenen individuellen, über-individuellen oder institutionellen Haltung. Nicht das Aus‐ 126 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="127"?> 304 Foucault greift das Beispiel des Botanikers und Biologen Mendel heraus, der zu Lebzeiten (19. Jh.) zwar wahre Schlüsse aus seinen Experimenten zog, dies jedoch nicht “im Wahren“ des biologischen Diskurses seiner Epoche tat. Vgl. Foucault, Ordnung des Diskurses, S.-25. 305 Vgl. Foucault, der in seiner Abhandlung Die Ordnung des Diskurses von der „Unter‐ werfung unter die Ordnung der Signifikanten“ (S. 33), von der „Souveränität der Signifikanten“ (S.-33) sowie der „Monarchie der Signifikanten“ (S.-44) spricht. gesagte, sondern der an die Aussage angelegte Maßstab determiniert die Ein‐ ordnung in bestehende diskursive Strukturen. 304 Mit Blick auf die beschrieben Erinnerungspolitik des Postfranquismus, die schlimme Erinnerungen an Diktatur und Bürgerkrieg als systemisch destabili‐ sierend betrachtete und sich um eine Rhetorik des Konsenses und der Versöh‐ nung bemühte, nimmt es nicht Wunder, dass sich in den Dramen der Generación del 82 nicht nur die Ästhetisierung des „Verbots“ (Spaltung des Zeichens), sondern auch die von Foucault beschriebene „Grenzziehung“ (Unterminierung des pragmatischen Gehalts der Erinnerungen) wiederfinden lässt. Diese Grenz‐ ziehung vollzieht sich sowohl in der fiktionalen als auch der außersprachlichen Welt zwischen Semantik und Pragmatik. Es wird in der Folge zu zeigen sein, wie die Aussagen erinnernder Figuren zu Worten von Wahnsinnigen, Träumenden, Halluzinierenden oder (Vor-)Spielenden verkommen. 3.4 Vom mimetischen zum performativen Erinnern Die dritte Annahme hinsichtlich möglicher Ästhetisierungsformen des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen beschäftigt sich, wie angekündigt, mit der Ebene der Darstellung. Während sich die nicht herzustellende Korrespondenz zwischen subjektiver Erfahrung und intersubjektiver Erwartung auf ästheti‐ scher Ebene als problematisierte Distinktion zwischen Wahrnehmung und Einbildung bzw. Realität und Trugschluss darzustellen scheint, die es den verdrängten Signifikaten erlaubt, in die etablierte Ordnung der Signifikanten einzubrechen bzw. diese aufzubrechen 305 , wird der ontologische Anspruch von bereits geäußerter Erinnerung innerhalb der Fiktion durch den Entzug des pragmatischen Gehalts unterminiert. Ebenso ist es nun jedoch vorstellbar, dass die erkenntnistheoretische Aporie zwischen Erfahrung und Erwartung sich auf theatralischer Ebene ausgestalten lässt, wodurch der Rezipient und dessen zu beendende konsumistische Passivität in den Blick rücken. Das Theater erscheint aufgrund seiner semiotischen Doppelstruktur als prädestiniertes erinnerungskulturelles Medium. Die Grenze zwischen mimeti‐ schem Spiel und performativem Akt birgt stets das Risiko des Kontrollverlusts. 3 Materielle Repräsentation 127 <?page no="128"?> 306 Foucault. Die Ordnung des Diskurses, S.-11. So macht es durchaus Sinn, bei der Untersuchung der dramatischen und thea‐ tralen Bearbeitung nicht nur nach der innerfiktionalen Umsetzung zu fragen, sondern zudem das kritisch-subversive Potential des Mediums Theater zu betrachten. Stärker als andere Kunstformen steht das Theater dem Erlebnis und dem Ereignis nahe, wodurch es zum ernstzunehmenden Widersacher geltender Diskursregeln werden kann. Michel Foucault weist die dem Ereignis in seiner „Ordnung des Diskurses“ diskurskritisches Potential zu: Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bän‐ digen, sein unberechenbare Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen. 306 Die Bedrohlichkeit des Ereignishaften ergibt sich aus dessen Unmittelbarkeit, d.-h. aus dem Einfall in die bestehende semantische Ordnung. Anhand der Analyse der ausgewählten Dramentexte sowie der damit inten‐ dierten Aufführungen soll vor Augen geführt werden, dass die Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen nicht nur auf der Ebene der histoire als prägendes Motiv fungieren, sondern dass die Gleichzeitigkeit des Ungleichzei‐ tigen zudem einen Widerhall auf der Ebene der Inszenierungsstruktur erfahren kann. Die damit vollzogene Etablierung des Modus des Phantastischen auf der Ebene der Darstellung lässt eine kritische Stellungnahme zur spanischen Erinnerungspolitik zu. Es wird zu zeigen sein, wie durch den Aufbau rezeptiver Unschlüssigkeit (hésitation) an der Schwelle zwischen Bühne und Publikum eine Vergegenwärtigungsbewegung aus dem Feld der Fiktion heraus in die Lebenswelt der Rezipienten suggeriert werden kann. Diese Suggestion entfernt das Rezipierte vom Modus der mimetischen Darstellung und rückt es strukturell näher an performative Veranstaltungsformen des Erinnerns heran. Mit Blick auf die Vergegenwärtigungsbewegung erfährt der eingangs für das Intelligible verwendete Begriff der Vorstellung bzw. der immateriellen Reprä‐ sentation eine Umdeutung; statt der Imagination rückt nun die Fiktion in den Blick. Die ‚Vorstellung’ wird als Theatervorstellung, die mentale Repräsentation als dramatische Repräsentation verstanden, die im lebensweltlichen Raum ihren materiellen Gegenpol findet. Anhand ausgewählter Dramen wird zu zeigen sein, auf welche Weise eine scheinbare temporäre Überwindung der Grenze zwischen dramatischem und lebensweltlichem Raum dazu genutzt werden kann, um die erinnerungskultu‐ 128 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="129"?> relle Wirkmacht der Stücke zu intensivieren. Die punktuelle Fragilisierung der Grenze zwischen Fiktionalem und Faktualem, zwischen mimetischem und performativem Sprechen, macht aus einer Darstellung ein unmittelbares Ge‐ schehen, das aufgrund seiner kurzzeitigen Beziehung zur Welt (Searle) realitäts‐ konstituierend statt abbildend wahrgenommen werden kann. Das erinnerungs‐ kulturelle Potential ergibt sich demnach aus dem Übergang zwischen Mimesis und Performativität, durch den die Rezipienten entweder zum konstitutiven Teil des fiktionalen Geschehens werden oder durch den das Dargestellte seinen Zeichenstatus momentan verliert und in der Lebenswelt aufzugehen scheint. Auf diese Weise evoziert die theatrale Aufführungssituation, was mit Blick auf die spanische Erinnerungspolitik nach 1975 nicht stattfand: Die Möglichkeit von inter-subjektiver Wahrnehmung von zuvor im Raum der Imagination Verhaftetem. Anders gewendet, die lebensweltliche Verhinderung der medialen Kodifizierung des Erinnerten im Feld des kulturellen Gedächtnisses wird mit den Mitteln des Theaters ausgehebelt. Indem sich die Aufführungspraxis von der durch im mimetischen Spiel implizierten Trennung von Darstellung und Darge‐ stelltem entfernt, kann das Theater seine strukturelle Nähe zu nicht-fiktionalen Darstellungsformen und memorialen Ereignissen ausspielen, die sich durch eine Situation der communitas auszeichnen. Auf diese Weise gelingt den Dramatikern der Generación del 82 nicht nur eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen Bürgerkrieg und Diktatur. Durch das bewusste Oszillieren zwischen mimetischen und (vermeintlich) performativen Darstellungsformen leiten sie gleichermaßen eine ästhetische Weiterentwicklung des spanischen Theaters nach 1975 sowie den Anschluss an das europäische Theater der Zeit ein. Dieses zeichnete sich im Gegensatz zum franquistischen Unterhaltungstheater durch eine permanente mediale Selbstreflexion aus, die alle Elemente des Theaters einschloss. Die Infragestellung des mimetischen Pakts zwischen Bühne und Publikum, die Akzentuierung der Ebene der Darstellung (discours), die Aktivie‐ rung der Rezipienten sowie der Übergang zwischen Darstellung und Ereignis gehörten an den Bühnen Frankreichs oder Deutschlands längst zum Standard und entfalten im Falle der hier analysierten Texte ihre erinnerungskulturelle und somit ethische Wirkmacht. Die Generación del 82 machte das Theater auf diese Weise zum wirkmächtigen Medium des kulturellen Gedächtnisses. Dem erinnerungspolitischen Verzicht auf Überführung der Imagination in das Feld des kulturellen Gedächtnisses stellt es analog die Aufhebung der Grenze zwischen imaginierter Welt und theatralem Raum entgegen. Das Scheitern der nach außen strebenden Imagination bzw. Er‐ innerung an der Grenze zwischen Geist und äußerlich wahrnehmbarer Materie wird durch die Unterminierung der Grenze zwischen Fiktion und Lebenswelt 3 Materielle Repräsentation 129 <?page no="130"?> 307 Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, S.-22. konterkariert. Dieser Schritt gelingt just durch die punktuelle Aufhebung des Modus des Als-ob - entweder durch die Betonung des Bezeichnenden, der Ma‐ terie also, oder durch die Integration des theatralen Raums in den dramatischen Raum -, wodurch das beschriebene Drängen des Mentalen auf der Ebene der Darstellung aufgenommen und an der Grenze zwischen Darstellendem und Dargestelltem eine weitere Ausformung erfährt. Statt der individuellen Vorstel‐ lung drängt nun die theatrale Vorstellung in das Feld der inter-subjektiven Wahrnehmung. Aus Abgebildetem wird Gegenständliches, aus Vermitteltem Unmittelbares. Die ausbleibende Vergegenwärtigung im zeitlichen Sinn wird im Theater durch eine Vergegenwärtigungsbewegung von der Darstellung hin zum Ereignishaften rezeptionsästhetisch kompensiert. Die Stücke, die sich durch die Aufhebung der Grenze zwischen dramatischem und lebensweltlichem Raum auszeichnen, gehen folglich über die Problemati‐ sierung des Übergangs zwischen Intelligiblem und Materiellem hinaus, stehen diesen jedoch strukturell nahe. Denn wurde der verhinderte Übergang innerhalb der Fiktion durch eine Spaltung zwischen der materiellen und intelligiblen Seite des Zeichens und die Unterminierung des Zeichens im dramatischen Raum mithilfe einer modalen Kippbewegung ästhetisiert, manifestiert sich die zu Fiktion geformte Imagination nun im lebensweltlichen Raum der Zuschauer bzw. der theatrale Raum wird in den dramatischen Raum integriert. Dies gelingt, indem sich das Dargestellte unmittelbar der Wahrnehmung der Rezipienten preisgibt und damit ohne die sonst apriorische Doppelstruktur der Mimesis in deren Lebenswelt eindringt bzw. die Lebenswelt in die Fiktion integriert. Der durch den Fokus auf die Substantialität des Zeichens ausgelöste Zu‐ sammenfall von Rezipierenden und Rezipiertem findet sich auch in anderen Gattungen wieder. Mit Blick auf den modernen Roman, der die „Doppelpoligkeit von Sein und Bedeuten, von Sache und Symbol, von Gegenstand und Zeichen“ zu zerbrechen scheinen, schreibt Hans Blumenberg: Hier waltet eine […] Oppositionslogik der indirekten Erzwingung des nicht Herstell‐ baren durch Aufhebung der überlieferten Funktion: indem das Zeichen erkennen lässt, dass es keiner ‚Sache’ entsprechen will, gewinnt es selbst die ‚Substantialität’ der Sache. 307 Die Rezipienten - Leser oder Zuschauer- sind angesichts der Durchbrechung des dramatischen Raums gezwungen, dem unmittelbar Wahrgenommenen Bedeutung zuzuordnen, um so die Lücke der soeben aufgelösten Fiktion, der “Vorstellungsseite“ des Dargestellten, semantisch zu schließen. Als Quelle 130 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="131"?> 308 Vgl. Siegmund, Theater als Gedächtnis, S.-46. 309 Siegmund, Theater als Gedächtnis, S.-314. 310 Siegmund, Theater als Gedächtnis, S.-314. 311 Erika Fischer-Lichte verweist auf den Zusammenhang der phänomenologischen Re‐ duktionsbewegung mit der möglichen Kippbewegung zwischen symbolischen und selbstbezüglichen Phänomenen auf dem Theater; vgl. Fischer-Lichte, Erika: Performa‐ tivität. Eine Einführung, Bielefeld 2012 (= Edition Kulturwissenschaft, 10), S. 66: „Die Wahrnehmung von etwas als Etwas wird zugleich als Prozess der Konstitution seiner Bedeutung [eines unspezifischen Sinnesreizes]. Häufig ist mit diesem Modus der Wahrnehmung noch ein anderer verknüpft. Wenn sich die Aufmerksamkeit aus der Fokussierung auf die Phänomenalität des Wahrgenommenen löst, kann dieses als ein Signifikant erscheinen, dem sich die unterschiedlichen Bedeutungen beilegen lassen: Assoziationen jeglicher Art, also Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle, Gedanken etc.“ dient den Rezipienten nun die eigene Vorstellung im Sinne der individuellen Einbildungskraft bzw. Imagination und nicht die theatrale im Sinne der dargebo‐ tenen Fiktion. Die Dominanz der materiellen Seite des Dargestellten führt dazu, dass die Zuschauer ihre je eigene Subjektivität in die Darstellung hineintragen 308 und sie mit eigenen Erinnerungen und Phantasien füllen müssen. Damit wird in der vorliegenden Studie der Ansatz von Gerald Siegmund modifiziert, nach dem sich die Gedächtnisarbeit der Leser/ Zuschauer im intermediären Raum zwischen Textstruktur/ Bühne und Rezipienten vollzieht: Das Gedächtnis schöpft seine produktive Kraft aus eben jenem Spalt, sozusagen aus der leeren Mitte heraus, in der alles, was dargestellt und gesagt wird, zugleich nicht dargestellt und gesagt werden kann, weil der Darstellung der Grund fehlt. Das Gedächtnisbild als schönes Trugbild produziert, weil es sein Vorbild nie erreichen kann. 309 Die stumme Motivation, die aus Sicht der Psychoanalyse zu einem In-Bezie‐ hung-Setzen wahrgenommener Signifikanten auf ein Signifikat antreibt, wird für die Rezipienten durch die vermeintliche Auflösung der Situation des Als-ob zu einem performativen Akt intensiviert: Das Offenhalten dieser produktiven Lücke [zwischen Signifikant und Signifikat] im ästhetischen Verstehensprozess ermöglicht es den Rezipienten dann, sich mit ihren eigenen Phantasien in die Textstruktur zu implizieren, sich an- und einzuschließen mit ihrem eigenen Gedächtnis, das ebenso grundlos ist. 310 Das Bezeichnende in seiner Phänomenalität wahrzunehmen, bedeutet nicht, es als bedeutungslos zu kennzeichnen, sondern meint stets den Versuch des Zu‐ schreibens von Bedeutung durch den Wahrnehmenden. 311 Durch die scheinbare Veränderung des Modus des Dargestellten nähert sich die Aufführungssituation damit ritualisierten Erinnerungspraktiken an. Der performative Akt zeichnet 3 Materielle Repräsentation 131 <?page no="132"?> 312 Vgl. insbesondere Schechner, Richard: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kul‐ turvergleich, Hamburg 1990. 313 Dieser Begriff wird im Sinne Pierre Noras verwendet; vgl. Nora, Pierre: Les lieux de mémoire I. La République, Paris 1984. sich aufgrund seiner Ereignishaftigkeit durch Unmittelbarkeit aus, die die Verantwortung für die Bedeutungszuschreibung des Geschehenden den an diesem Geschehen Teilnehmenden zuspricht. Das Sprechen von einer Literatur, die die Lebenswelt in die Fiktion hineinholt, erhält m. E. erst dann Sinn, wenn der Prozess des Hineinholens durch den Rezipienten, durch seine mentale Leistung, und nicht durch den Text selbst geschieht. Das Band zur Lebenswelt knüpft sich im Feld der Imagination, das sich zwischen Dargestelltem und Rezipienten aufspannt. Die Interpretation der Dramen sowie der damit intendierten Aufführungen folgt damit der insbesondere im Bereich der performance studies angenom‐ menen Analogien zwischen theatraler Performanz sowie ritualisierten Akten kultureller und politischer Identitätsstiftung. 312 Es wurde erläutert, dass sich die strukturelle Nähe zu den symbolischen Kodierungen kultureller Identitäts‐ bildung im Sinne von performativen Akten des kollektiven Gedächtnisses durch die Unterminierung der Grenze zwischen Fiktion und Lebenswelt er‐ gibt. Die dabei entstehende rezeptive Uneindeutigkeit ist das Resultat einer Etablierung des Ereignishaften, das entweder die Integration des Rezipienten durch Vergabe fiktiver Zuschauerrollen oder durch die Integration der Fiktion in der Lebenswelt der Zuschauer zur Folge hat. Mit nicht-fiktionalen Akten des Erinnerns verbindet sie neben der poetischen Formung (Speicherung), der rituellen Inszenierung (Abrufung) und der kollektiven Partizipation (Mit‐ teilung) die Etablierung eines liminalen Raums bzw. anti-strukturellen Schwel‐ lenraums, in dem scheinbar fixierte ontologische und zeitliche Grenzen zu verwischen drohen. Somit schreiben sich die derart strukturierten Stücke in erinnerungskulturelle Leerstellen ein. Sie fungieren als geformte, symbolisch kodierte Erinnerungsorte 313 in einer historischen Phase, in der individuelle Er‐ innerungen an Bürgerkrieg und Diktatur keinen Eingang in offizielle Akte und Objektivationen kollektiven Erinnerns (Gedenkfeiern, öffentliche Bekenntnisse, Mahnmale, Schweigeminuten, etc.) fanden. Diese Akte und Objektivationen werden zu zeitüberdauernden Vermittlern der Vergangenheit. Sie dienen als memoriale Kristallisationspunkte und Synthe‐ tisierungen, die einen Erinnerungsprozess in Gang setzen können. Symbole und symbolische Handlungen dienen gerade aufgrund ihrer willkürlichen Formung, mit der sie sich auf ein historisches Ereignis beziehen, als Projektionsfläche für individuelle Erinnerungen, die von einem gemeinsamen Startpunkt in 132 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="133"?> 314 Vgl. Hinck, Walter: Die Dramaturgie des späten Brecht, Göttingen 1971 (= Palaestra, 229). unterschiedliche Richtungen ausschlagen können. Die Erinnerungen können dabei sowohl auf der Basis selbst gemachter Erfahrung wie auch auf Grundlage von Vermittlung entstehen. Erinnernde sind nicht per se Zeugen des einst Geschehenen; insbesondere im Hinblick auf das kulturelle Gedächtnis, das weit zurückliegende Ereignisse umfassen kann, bildet mediale Vermittlung die Grundlage. Der Aspekt der Zeugenschaft erhält nun vor der Folie dramen- und theater‐ ästhetischer Überlegungen besondere Bedeutung, vermag das Medium Theater es doch scheinbar, die Rezipienten in einem bewussten Spiel zwischen Vermitt‐ lung und Wahrnehmung und somit zwischen Erinnerung und Zeugenschaft zu fordern. Um diesen Gedanken greifbarer zu machen, bedarf es zunächst einer Klärung des Unterschieds zwischen vermittelter Erinnerung und der Erinnerung an eine selbst gemachte Erfahrung. Dazu kann Brechts berühmte Straßenszene herangezogen werden, in der ein Passant anderen Passanten einen kurz zuvor beobachteten Verkehrsunfall schildert. 314 Der Unterschied zwischen dem Zeugen und den später eintreffenden Passanten ist evident. Der Zeuge hat den Verkehrsunfall mit eigenen Augen gesehen, er hat ihn unmittelbar wahrgenommen und weiß nun, gemäß seiner Erinnerung, von dem Sachver‐ halt zu berichten, ohne Impetus einer illusionistischen Rekonstruktion der Geschehnisse. Die übrigen Passanten, die den Unfall nicht miterlebt haben, sind schließlich auf die Vermittlung des Geschehenen angewiesen. Später können sie sich mittelbar, nämlich dank der Erzählung des Zeugen, an den Verkehrsunfall erinnern, ohne die Begebenheit selbst unmittelbar wahrgenommen zu haben. Brecht, der das epische Theater theoretisch begründete, diente die Straßenszene als eingängiges Beispiel für unterschiedliche Darstellungsarten. Im Hinblick auf das erinnerungskulturelle Drama des Postfranquismus wird jedoch zu zeigen sein, dass der Wechsel zwischen scheinbar unmittelbarem Erleben, d.-h. der unvermittelten Wahrnehmung des Bühnengeschehens, und mimetischer Vermittlung im Rahmen einer Situation des Als-ob bewusst eingesetzt wird, um den Zuschauer nicht nur zum Erinnernden zu machen, sondern ebenso zu einem gegenwärtigen Zeugen des Geschehens. Die in ihrer Unmittelbarkeit erscheinenden Signifikanten werden zur Grund‐ lage des Ursprungs eines intersubjektiven erinnerungskulturellen Diskurses. Dabei saugen die scheinbar vom Signifikat befreiten Signifikanten mit den Phantasien und Erinnerungen der gegenwärtigen Rezipienten auf. Der Tod des Franquismus sollte den Tod des franquistisch-bürgerlichen Theaters mit sich bringen. Der ästhetische „Vatermord“ der Generación del 82 3 Materielle Repräsentation 133 <?page no="134"?> 315 Vgl. Wolfgang Matzats Ausführungen zu den Strukturähnlichkeiten zwischen Thea‐ tersituationen und Veranstaltungssituationen; Matzat, Wolfgang: Dramenstruktur und Zuschauerrolle, München 1982 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, 62), S.-40f. 316 Vgl. Derrida, „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsenta‐ tion“, S.-363. 317 Sanchis Sinisterra, José: La escena sin límites. Fragmentos de un discurso teatral, Ciudad Real 2 2002, S.-226. wird durch einen Stoß durch die vierte Wand und die damit einhergehende Überwindung der Imagination begangen. Der Einbruch des Ereignishaften und die damit vollzogene Annäherung an nicht-fiktionale Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses 315 sowie die Betonung der Materialität produzieren eine punktuelle, rezeptive Uneindeutigkeit, die die Passivität des gewohnten bürgerlichen, theatralen Voyerismus durchbricht und die Aktivität des Rezipi‐ enten einfordert. Die somit entstehende Möglichkeit der neuen semantischen Setzung ergibt sich, im Unterschied zur Artaudschen Vorstellung des Theaters der Grausamkeit, nicht aus dem Versuch einer Verwendung sich jeder Semiose entziehender Materie, sondern in der punktuellen Kappung der Vorstellungs‐ seite, in der Auflösung der zeichenhaften Doppelstruktur. 316 Es entsteht die Notwendigkeit einer semantischen Selbst-Orientierung angesichts des sich Präsentierenden. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Erneuerung der theatralen Ästhetik durch die Vertreter der Generación del 82 in neuem Licht. Sanchis Sinisterra verweist in einem 1987 erschienen Aufsatz auf die rezeptionsästhetischen Implikationen hin: „Y […] obliga al receptor a efectuar una opción radical: o bien rechaza la obra que de tal modo frustra sus hábitos de consumidor - ‚destruyéndose entonces en tanto que receptor posible -, o bien acepta ser ‘construido’ por ella, mejor dicho, reconstruirse con ella.“ Erst diese Öffnung des Rezipienten erlaubt es dem Theater, seine Wirkmacht auf den Rezipienten auszuspielen: „Es en esa cordial violencia que el arte es capaz de ejercer sobre los esquemas perceptivos de una colectividad donde se radica su indirecta inscripción en la Historia, su oblicua función social.“ 317 Das Drängen der Materie durch die semantische Schicht hindurch sowie der damit einhergehende Effekt der Selbstreferentialität steht dem innerfiktionalen Drängen des Intelligiblen, der Vorstellungsseite des Zeichens, gegenüber. Bei beiden Erscheinungen handelt es sich um Bewegungen, die ihren Ursprung in der Vorstellung (geistig bzw. theatral) haben und in die Richtung inter-subjek‐ tiver Wahrnehmung steuern. 134 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="135"?> 318 Werber, Niels: „Repräsentation/ repräsentativ“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hgg.), Ästhe‐ tische Grundbegriffe, Bd.-5, Stuttgart 2003, S.-264. 3.4.1 Repräsentative (Un-)Ordnung - Ästhetik der Unentscheidbarkeit und ethisches Theater Während also bisher die Frage im Mittelpunkt stand, auf welche Weise sich das phantastische Potential innerhalb der fiktionalen Welt, genauer, zwischen immaterieller und materieller Repräsentation bzw. zwischen unterschiedlichen Aussagemodi entfalten lässt, gilt es nun zu erörtern, inwiefern an der Grenze zwischen Fiktion und Lebenswelt Momente rezeptiver Unschlüssigkeit forciert werden können, um die von den lebensweltlichen Akteuren des politischen Übergangs gezogene diskursive Grenze zwischen individuell-biographische Er‐ innerung an Bürgerkrieg und Diktatur sowie einer möglichen intersubjektiven Verständigung über diese Erinnerungsinhalte mit den Mitteln des Theaters zu unterminieren. Grundlegend für die weiteren Überlegungen ist dabei weiterhin die An‐ nahme, dass es sich beim Theater um ein privilegiertes Medium handelt, um sich den Themen Gedächtnis und Erinnerung anzunähern. Dieses Privileg ist vornehmlich struktureller Natur und ergibt sich nicht aufgrund spezieller Besonderheiten des dramatischen Textes, sondern primär durch die mit diesem intendierte Aufführungssituation, die im Falle des mimetischen Darstellungs‐ modus geradezu zum ästhetischen Analogon dessen wird, was wir in dieser Studie als Erinnerung definiert haben. Den Kern dieser Verbindung bildet der Begriff der Re-Präsentation, der, weit gefasst, zunächst nichts anderes meint als die „Vergegenwärtigung“ oder das „Wieder-präsent-machen“ von Ab‐ wesendem. 318 Das lateinische Etymon (repraesentatio, -onis) wie auch die davon abgeleiteten Kultismen in den romanischen und angelsächsischen Sprachen verweisen bereits auf morphologischer Ebene auf eine Denkfigur, die Absenz und Präsenz stets gemeinsam evoziert. Die in der deutschen Sprache gängigen Alternativlexeme der ‚Vergegenwärtigung’ und des ‚Wiederpräsentmachens’ verweisen zudem auf den Umstand, dass die erreichte (Re-)Präsenz des Inten‐ dierten nur solange Bestand zu haben scheint wie der (re-)präsentierende Akt oder Gegenstand selbst. Der damit einhergehende Gedanke der Flüchtigkeit liegt sowohl der Erinnerung als auch der Aufführungssituation permanent zugrunde. Trotz ihrer Stellvertreterfunktion unterscheiden sich die intelligible Reprä‐ sentation der Erinnerung wie auch die materielle Repräsentation der mime‐ tischen Aufführung von einer allgemeinen Theorie des Zeichens. Beide Re‐ präsentationsformen charakterisieren sich durch eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. In Analogie zum Erinnerungsge‐ 3 Materielle Repräsentation 135 <?page no="136"?> 319 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.-M. 1999, S.-174. 320 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-179. halt (Noema) weist auch das Ideatum des ästhetischen Prozesses des Theaters, das durch die Theatervorstellung Bezeichnete, eine ikonische Beziehung zu den imaginierten bzw. theatralen Repräsentanten auf. Materie und Vorstellung stehen im Theater in einer anderen Beziehung als dies beim literarischen Text der Fall ist. Schriftzeichen weisen sich als symbolische Stellvertreter aus, die ihren Bund mit dem Bezeichneten dank kommunikativer Konventionen einzu‐ gehen vermögen, nicht jedoch aufgrund einer Similaritätsbeziehung. Für den Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann ist „Theater in einem Atemzug materieller Vorgang - Gehen, Stehen, Sitzen, Sprechen, Husten, Stolpern, Singen - und ‘Zeichen für’ Gehen, Stehen…usw.“ und ist deshalb stets „zugleich völlig zeichenhaft und völlig reale Praxis“ 319 . Gerade diese besondere Eigenschaft des Theaters, zugleich zu sein und zu verweisen, war es, die bereits Platon zu einer kritischen Positionierung gegenüber der Rezeption von Theaterstücken veranlasste. Die Gleichzeitigkeit zwischen Sein und Schein, Präsenz und Absenz, im Moment der Aufführungssituation kreiert eine ambivalente Wahrnehmungs‐ ordnung, die sich aus einer repräsentativen Ausrichtung, wie sie sich im mimetischen Theater manifestiert, und einer präsentischen Ausrichtung zusam‐ mensetzt. Die physisch-reale Präsenz, die Materialität der Zeichen, zieht sich im mimetischen Theater jedoch in die Latenz zurück, aus der sie jederzeit auftauchen kann. Die Rezeptionshaltung im Rahmen einer mimetischen Auffüh‐ rungssituation wird somit durch eine mitgedachte Referenz auf den fiktionalen Aussagemodus des Als-ob determiniert. Die Annahme des Vorgebens lenkt den Fokus der Rezipienten von der präsenten Materie bzw. dem Vollzug der Aufführung (Noesis) auf das Präsentierte (Noema). Die Gegenständlichkeit der theatralen Zeichen tritt im mimetischen Darstellungsmodus nur mehr in Form von Pannen oder Fehlern hervor. So kann ein Versprecher im Theater - analog zum Druckfehler im Roman - Teil der Inszenierung sein oder ein für den Schauspieler unangenehmer Fauxpas. 320 In jedem Fall sorgt der Ausbruch aus dem Rahmen der mimetisch-konventionalisierten Rezeptionserwartung dafür, dass die Aufmerksamkeit der Rezipienten von der Bedeutungsauf die Materi‐ alitätsebene übergeht. In ähnlicher Weise funktioniert auch der Brecht’sche Gestus, der sich beispielsweise durch forcierte Iteration aus dem Feld der Normalität erhebt, außeralltäglich und somit auffallend wird. Erstaunlicherweise lässt sich nun die Möglichkeit des perzeptiven Oszillie‐ rens auch für die Erinnerung feststellen, wodurch die strukturelle Nähe zum 136 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="137"?> 321 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-189. 322 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-188f. Medium Theater noch deutlicher vor Augen tritt. Gleichwohl es sich bei der Erinnerung um eine Referenz auf Vergangenes handelt, ist ihr Ausgangspunkt stets in der Gegenwart verortet. Zwar lässt sich auch erinnern, wie einst erinnert wurde, doch bedarf es auch dafür notgedrungen eines gegenwärtigen Denkanstoßes. Wie dem Theater scheint damit auch der Erinnerung ein Span‐ nungsverhältnis eingeschrieben, das sich durch einen präsentischen Akt und einem Bezug auf Abwesendes bzw. Vergangenes zu ergeben scheint. Hans-Thies Lehmann veranlasst diese strukturelle Analogie zwischen theatraler Auffüh‐ rung und Erinnerung zur Behauptung, Theater wirke bereits „im Moment seiner Rezeption wie eine unwillkürliche Erinnerung im Sinne Prousts“ 321 . Prousts mémoire involontaire, die uns bei der Analyse des Theatertextes El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos noch eingehender beschäftigen wird, ergibt sich aus der Identität zwischen erinnertem Sinneseindruck und einer sinnlichen Erfahrung im Hier und Jetzt. Die Deckungsgleichheit einer vergangenen und gegenwärtigen sinnlichen Empfindung evoziert die nur ima‐ ginierte Vergangenheit und ermöglicht ausgehend von dieser „rêve de l’imagi‐ nation“ das Auswerfen eines gedanklichen Assoziationsnetzes. Im Gegensatz zu bloßen Phantasiegebilden weist jedoch die mémoire involontaire aufgrund ihrer sensiblen Zweidimensionalität einen Bezug zum erinnerten Moment auf. Wie der Theaterzuschauer bewegt sich der sich unwillkürlich Erinnernde potentiell zwischen dem Eindruck des gegenwärtig Wahrnehmbaren und dem damit evozierten Abwesenden. Durch das Erleben des gleichen Geschmacks, des gleichen Geräuschs in der nur erinnerten Wirklichkeit des früheren Moments und zugleich im Jetzt der sinnlichen Erfahrung addiert sich zum immateriell Erinnerten die ‚idée de l’existence’ durch das Gefühl des Materiellen hinzu. 322 Während die Abwesenheit im Falle der Erinnerung zeitlich bedingt ist, ergibt sie sich in der mimetischen Theatersituation aufgrund des von den Rezipienten apriorisch angenommenen fiktionalen Aussagemodus, durch das dem auf der Bühne Wahrnehmbaren zunächst kein pragmatischer Gehalt zugeschrieben wird. Hamlet steht auf der Bühne, doch tut es nicht wirklich. Das Ergebnis ist eine ästhetische Distanz der Rezipienten im Hinblick auf das Theatergeschehen, das nicht als eigentliches, sondern als uneigentliches interpretiert wird. Der ikonische Verweis der theatralen Zeichen auf das von ihnen Bezeichnete lässt an die sinnliche Deckungsgleichheit der mémoire involontaire denken. 3 Materielle Repräsentation 137 <?page no="138"?> 323 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-355. 324 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-353. Der Geschmack der in Tee getunkten Madeleine früher und im Jetzt könnte analog zur semiotischen Doppelung eines Stuhls oder Tischs auf der Bühne betrachtet werden; auch das Bühnenrequisit scheint aufgrund der ästhetischen und nicht-ästhetischen Identität die modalen Grenzen zu unterminieren, wie dies der Sinneseindruck mit der temporalen Grenze tut. Auch im Theater addiert sich somit die durch die präsente Materie bedingte “idée de l’existence“ hinzu, diesmal jedoch nicht zur Imagination, sondern zur Fiktion. An diesem Punkt wird es möglich, den Versuch, theatertheoretische und gedächtnisbzw. erinnerungstheoretische Aspekte zu verknüpfen, an Überle‐ gungen Paul Ricœurs anzuschließen. Ziel dieser Rückbeziehung auf Ricœurs Phänomenologie des Gedächtnisses ist es, sich der Frage anzunähern, wie das Theater seine strukturelle Nähe zur Erinnerung auszuspielen vermag, um sich zu einem wirkmächtigen Medium des kulturellen Gedächtnisses zu machen. Dafür erscheint es zunächst notwendig, sich eingehender mit dem Begriff der ‚ästhetischen Distanz’ zu beschäftigen, der konstitutiv für das mimetische Theater ist und sich aus Basis einer theatergeschichtlich konventionalisierten Rezipientenhaltung generiert, die um das Bühnengeschehen einen unsichtbaren modalen Rahmen spannt. Auch der Erinnerung muss mit einer bestimmten Haltung begegnet werden. Gegenläufig zum Bühnengeschehen im mimetischen Theater wird es durch diese Haltung erst möglich, dass das Erinnerte seinen Anspruch auf Weltgeltung einlösen kann. Ricœur verwendet dafür den bereits eingeführten Begriff der ‚fiduziarischen Bindung’, der auf das Vertrauen an‐ spielt, dass jedem Erinnernden apriorisch entgegengebracht werden muss, damit soziales Miteinander überhaupt funktionieren kann. Dieser Vertrauens‐ vorschuss impliziert, dass dem Erinnerten eine „Referenz aufs Einstmals“ 323 zugesprochen wird, die ihren faktualen Anspruch sichert. Ohne sich eigens auf das Medium Theater zu beziehen, liefert Ricœur wichtige Denkanstöße für die weiteren theatertheoretischen Überlegungen. In seinem Kapitel über die „Dialektik der Repräsentation“, die er als „Endphase der historiographischen Operation“ versteht, verweist er auf die Gleichzeitigkeit von Substitution und Sichtbarkeit. An die Stelle vergangener Geschehnisse tritt der Text des Historikers, der deshalb den Namen Repräsentation verdient, weil der Verfasser implizit „seinen Ehrgeiz, seinen Anspruch, seine Prätention de‐ klariert, […] die Vergangenheit wahrheitsgemäß zu repräsentieren.“ 324 Ricœurs Ausführungen werden stets durch einen Zweifel an der Historiographie be‐ gleitet, der sich durch die „bedauerliche Zweideutigkeit des Begriffs [Repräsen‐ 138 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="139"?> 325 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-355. tation]“ ergibt, der je nach Kontext den Gegenstand des historischen Diskurses oder die historiographische Operation bezeichnet. Die Kernfrage Ricœurs lautet in diesem Zusammenhang: Sollten Historiker, ähnlich wie es auch Reinhardt Koselleck beschrieben hat, die „interpretierende Geste mimen“, d. h. den Prozess des Geschichtemachens, um vor der Gefahr, Geschichte als von den Subjekten unabhängiges Objekt zu verkaufen, gefeit zu sein? Das würde bedeuten, dass die Geschichtsschreibung durch Reflexe der historiographischen Selbstanzeige auf ihre Gemachtheit hinweist, ähnlich wie dies ein Theater mittels metatheatraler Techniken vollführen kann. Die Möglichkeit der Selbstanzeige ist demnach jeder Form der Repräsentation inhärent. Die zwischen Noema und Noesis denkbare Kippbewegung deutet bereits das Potential eines Theaters an, das Vergangenes gewissermaßen als Gegenstand und als Prozess versteht. Dieser Aspekt gehört sicherlich zum definitorischen Wesen des erinnerungskulturellen Theaters wie es hier verstanden wird. An dieser Stelle ist es lohnend, ein längeres Zitat Ricœurs aufzunehmen. Denn dieses wird die Grundlage für die anschließende Auseinandersetzung mit der Frage liefern, auf welche Weise insbesondere eine Distanzierung von der mimetischen Darstellungsweise, wie sie für die europäischen Bühnen des ausgehenden 20. und 21. Jahrhunderts kennzeichnend ist, besonders geeignet erscheint, um das Theater zu einer wirkmächtigen Organisationsform des kulturellen Gedächtnisses werden zu lassen. Mit Blick auf die den Historiker Roger Chartier, der sich bei der Untersuchung des Dictionnaire universel (1727) von Antoine Furtière der bipolaren Struktur der Idee der Repräsentation gewahr wird, schreibt Ricœur: Dieser [Roger Chartier] entdeckt […] auf der einen Seite die Evokation einer abwe‐ senden Sache mittels einer substituierten, die deren Repräsentant nur notgedrungen ist; auf der anderen die Zurschaustellung einer augenscheinlichen Präsenz, bei der die Sichtbarkeit der gegenwärtigen Sache dazu neigt, die Substitutionsoperation, die einer wirklichen Ersetzung des Abwesenden gleichkommt, zu verdecken. Das Erstaunliche dieser konzeptuellen Analyse besteht darin, daß sie mit der von den Griechen für das mnemonische Bild, das eikôn, vorgeschlagenen strikt homogen ist. Aber in dem Maße, wie sie sich aufs Terrain des Bildes verlagert, geht ihr die temporale Dimension verloren, die Referenz aufs Einstmals, die für die Definition des Gedächtnisses wesentlich ist. 325 Ricœur verweist an dieser Stelle implizit auf eine weitere strukturelle Gemein‐ samkeit von Erinnerung und Theater. Genau wie die immaterielle geistige 3 Materielle Repräsentation 139 <?page no="140"?> Repräsentation des Wahrgenommenen droht auch die theatrale Repräsentation ihren Status als Repräsentant zu verlieren, wenn sich der Fokus vom bezeich‐ neten Gegenstand auf den Prozess des Bezeichnens oder die (Im-)Materialität des Bezeichnenden verlegt. Denn in diesem Moment drängt sich die Beschaffenheit des Stellvertreters so deutlich in den Vordergrund, dass der noematische Gehalt in die Latenz abzudriften scheint und damit aus dem Feld der Wahrnehmung ausgeschlossen wird. Erinnerung und theatrales Spiel drohen in diesem Moment ihre Zweidimensionalität zu verlieren, die sie erst zu dem werden lassen, was sie eigentlich sind. Sowohl die im Geist bewahrte Erinnerung als auch das mimetische Spiel stützen sich auf einen Pakt mit den rezipierenden Subjekten, denn diese sollen sich auf das Bezeichnete und nicht auf den Akt des Bezeichnens konzentrieren und nicht die Kommunikationsintention der Erinnernden oder Spielenden in Frage stellen. Mehrfach wurde in Anlehnung auf Ricœurs Ausführungen darauf hinge‐ wiesen, dass sich Erinnerungen und Gedächtnis durch eine Beziehung zur Vergangenheit definieren. Dieser Hinweis erhielt besondere Relevanz bei dem Versuch, mithilfe von Immanuel Kants Erörterung der facultas imaginandi die Erinnerung von der Phantasie abzugrenzen, in deren Sog sie nur allzu leicht zu geraten scheint. Vor der Folie der ausgeführten Überlegungen lässt sich schlussfolgern, dass die Sogwirkung der Phantasie den faktualen Gehalt der Erinnerung bedroht, wenn der noematische Gehalt vom noetischen Akt überdeckt wird. Denn in diesem Moment wird aus einer Erinnerung, die erst durch ihre Gerichtetheit auf etwas zur Repräsentation wird, ziellose Intention. Genauso wird auch eine theatrale Repräsentation beim Verlust des intendierten Gehalts, also beim Verlust der repräsentierten Bedeutungsebene, eine rein gegenwärtige Bewegung. Die Darstellung wird zum präsentischen Ereignis, das auf nichts mehr verweist, sondern, wie ein Happening, einfach passiert. Diese Annahmen führen zu der im Folgenden näher zu betrachtenden These, nach der eine strukturelle Analogie zwischen der Kippbewegung zwischen Erinnerung und Phantasie sowie der Kippbewegung zwischen Darstellung und Ereignis vermutet werden kann. Verlieren Erinnerung und mimetische Dar‐ stellung ihren temporalen bzw. modalen Anker, geht beiden Re-Präsentations‐ formen ihr semantisches Angebot abhanden. In der Folge verlassen Erinnerung und Darstellung die Wahrnehmungsordnung der Re-Präsentation und rücken in die Ordnung der Präsentation: Die Erinnerung wird zur reinen Vorstellung, die nicht mehr auf ein außersprachliches Abwesendes bzw. Vergangenes verweist, die Darstellung zum selbstreferentiellen und wirklichkeitskonstituierenden Ereignis im Hier und Jetzt, das den Rezipienten eine semantische Orientierung verweigert und lediglich eine formale Betrachtung zulässt. Im Extremfall würde 140 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="141"?> 326 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-168f. 327 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-177. es sich um eine Form des „konkreten Theaters“ handeln, das, in Analogie zur konkreten Malerei, dem Blick des Zuschauers keinen Anlass bietet, „über das Gegebene hinaus eine Tiefe symbolischer Signifikanz zu erschließen.“ Stattdessen würde er „in der […] Aktivität des Sehens der ‘Oberfläche’ selbst festgehalten.“ 326 Diese Feststellung steigert ihre Relevanz für die vorliegenden Überlegungen, wenn man die modale Gegenläufigkeit beachtet, die mit diesen Kippbewe‐ gungen einhergeht. Denn vielleicht liegen die Chancen eines erinnerungskul‐ turellen Theaters unter anderem darin begründet, dass das theatrale Geschehen durch eine Fragilisierung des mimetischen Darstellungsmodus und eine damit einhergehende Akzentuierung des Zeigens sowie der Materialität des Zeigenden in eine Beziehung zur Welt zu treten vermag, die dem faktualen Anspruch der Erinnerung entspricht. Denn erst die Aufgabe der repräsentativen Ordnung scheint die ethische Dimension des Theaters auszuspielen. Der von Hans-Thies Lehmann bezeichnete „Einbruch des Realen“, der sich vollzieht, wenn sich die Signifikanten vor die Signifikate schieben und somit die ästhetische Distanz aufgehoben wird, bildet vielmehr die Grundlage für die Idee eines ethischen Theater, das mehr als einen Repräsentations- und Reflexionsraum darstellt. In diesem Moment gelingt dem Theater der Übergang von der Ästhetik zur Ethik, der auch dieser Studie strukturgebend zugrunde liegt: Sterben auf der Bühne Fische oder werden (scheinbar) Frösche zertreten oder bleibt es absichtlich ungewiß, ob ein Schauspieler real vor dem Publikum mit Stromstößen traktiert wird […], so reagiert das Publikum möglicherweise wie auf einen realen, moralisch inakzeptablen Vorgang. Anders formuliert: Wenn auf der Bühne sich das Reale gegenüber dem Inszenierten durchsetzt, so wie in einem Spiegel auch im Parkett. Fragt der Zuschauer sich notgedrungen (durch die inszenatorische Praxis veranlasst), ob er auf einen Bühnenvorgang als Fiktion (ästhetisch) oder als Realität (also z. B. moralisch) reagieren soll, so verunsichert ein solcher Grenzgang des Theaters zum Realen gerade diese entscheidende Disposition des Zuschauers: die unreflektierte Sicherheit und Gewissheit, mit der er sein Zuschauersein als unproblematische soziale Verhaltensweise erlebt. 327 Die bewusst intendierte Ästhetik der rezeptiven Unentscheidbarkeit, auf die Hans-Thies Lehmann hier mit Blick auf das ethische Wirkungspotential des postdramatischen Theaters anspielt, ruft erneut das in dieser Studie formulierte Konzept der erinnerungskulturellen Phantastik auf den Plan. Gerade die Unsi‐ 3 Materielle Repräsentation 141 <?page no="142"?> 328 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-173. 329 Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmanns Ausführungen anlässlich einer Aufführung von Richard Schechners Stück Balkon. Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-191. cherheit darüber, ob man es mit Fiktion oder realem Geschehen zu tun hat, führt die Rezipienten zwangsläufig in eine Entscheidungssituation, die sich zwischen den Polen der Ästhetik und Nicht-Ästhetik bzw. der Moral aufzuspannen scheint. Solange der mimetische Rahmen bzw. die sakrale Überhöhung des Kunstraums den Zuschauer nicht zu einer Positionierung auffordert, wähnt sich dieser in rezeptiver Geborgenheit. Erst der potentielle Einbruch des Realen, das vermeintliche Umschwenken ins Ereignis, erfordert eine Stellungnahme vor der Folie lebensweltlicher Bedeutungs- und Wertesysteme. „Von dieser Ambiguität geht die theatrale Wirkung und die Wirkung auf das Bewusstsein aus.“ 328 Die Frage nach den Mechanismen und Eigenarten eines ethischen Theaters bietet die Möglichkeit, über gängige Interpretationsansätze hinsichtlich des sog. Teatro de la memoria - das in dieser Studie bewusst als erinnerungskultu‐ relles Theater bezeichnet wird - hinauszugehen. Statt das Theater als Ort zu betrachten, an dem Vergangenheit lediglich repräsentiert und durch Distanz‐ ierungseffekte der Reflexion freigegeben wird, stellt sich mit Blick auf den Übergang zwischen Darstellung und Ereignis vielmehr die Frage, wie die aus‐ gewählten Stücke der Generación del 82 Theateraufführungen intendieren, die zu ‘sozialen Situationen’ werden und sich in dieser Form in die Leerstellen eines sozialen Transformationsprozesses im Postfranquismus einschreiben. Genau hier liegt m. E. auch die Antwort auf die Frage, inwiefern die ausgewählten Dramatiker als Modernisierer der spanischen Bühne nach 1975 betrachtet werden können. Es gilt jedoch vorerst, einen letzten Zweifel an der hier formulierten These auszuräumen, die das ethische bzw. erinnerungskulturelle Potential des Thea‐ ters an eine Akzentuierung des noetischen Aktes knüpft. Dieser Zweifel gründet sich auf der Annahme, dass Realität bzw. die Reflexion über Außersprachliches gerade im mimetischen Darstellungsmodus besonders eindringlich übermittelt werden kann. 329 Diese Ansicht ist seit der Antike fest im theatertheoretischen Diskurs der westlichen Welt verankert, ging man doch seit jeher davon aus, dass die illusionistische Vorgabe von Realität durch ihre Deckungsgleichheit die‐ selben Affekte, Empfindungen und Reflexionen auslösen könnte, die sich unter realen Umständen bei vergleichbaren Wahrnehmungen einstellen würden. Die Aktivierung der Zuschauer wurde bis ins ausgehende 19. Jahrhundert hinein vornehmlich als affektive Aktivierung betrachtet, die unter anderem in 142 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="143"?> 330 Eine ausführliche Beschäftigung mit der Geschichte Wirkungsästhetik liefert ist zu finden in: Fischer-Lichte, Erika, Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Perfor‐ mative, Tübingen 2001, S.-357ff. 331 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-193. Begriffen wie Eleos und Phobos, Larmoyanz, Empfindsamkeit oder Einfühlung ihren Ausdruck fand. 330 Erst im 20. Jahrhundert begann im Zuge einer alle Künste umfassenden Selbstreferentialität sowie einer Bewusstwerdung der Gemeinsamkeiten zwi‐ schen Theater und Ritual die strukturelle Nähe der Aufführungssituation zu nicht-fiktionalen Veranstaltungssituationen in den Fokus zu rücken, wodurch sich nicht zuletzt die Frage nach den Wirkungspotentialen der Aufführungssitu‐ ation neu stellte - und zwar im Hinblick auf die Zuschauer und die Schauspieler. Dieser Perspektivwechsel erfuhr unterschiedliche Ausmaße, die von der epi‐ schen Selbstanzeige eines Bertolt Brecht über das Theater der Erfahrung bei Grotowski oder das Theater der Grausamkeit bei Artaud bis hin zu einer am Initiationsritus orientierten Theaterauffassung reichte, wie sie beispielsweise von Richard Schechner umgesetzt wurde. Unter Rekurs auf Gerald Siegmund und Hans-Thies Lehmann und im Ein‐ klang mit dem im 20. Jahrhundert beginnenden Paradigmenwechsel im Hinblick auf das Wirkungspotential von Aufführungssituationen muss der Annahme Folge geleistet werden, dass gerade die vermeintliche Verweigerung des seman‐ tischen Angebots zu einer verstärkten kognitiven und moralischen Involvierung der Rezipienten führen kann. Grund für diese Involvierung ist die jedem Menschen eigene Motivation der Sinnsuche, die unweigerlich auf den Eingang perzeptiver Impulse folgt. Schieben sich die Signifikanten vor die Signifikate, erfordert dies eine neue, beschwerlichere, jedoch zugleich offenere Sehweise auf Seiten der Rezipienten. Gleich der Malerei des abstrakten Expressionismus, der sich nicht mit Fragen nach der semantischen Repräsentation angenähert werden kann, erfordert auch die Akzentuierung der materiellen Seite der theatralen Zeichen eine neue Haltung und Frageweise, die sich nicht auf eine Vorgabe stützen kann, sondern, und dies ist entscheidend, auf eigene Assoziationen, Emotionen, Erinnerungen und Denkansätze. Die Extremform eines solchen postdramatischen Theatergeschehens im Blick formuliert Hans-Thies Lehmann: Da indessen die Wahrnehmung nicht aufhört, nach Sinn im Sinne von Verknüpfungen und Assoziationen an Realitäten zu fahnden, wird der sinnlichen Wahrnehmung die Erfahrung unumgänglich, daß sie in Akten letztlich unbegründbarer Willkür den Daten subjektiv determinierte Bedeutung zuschreibt. 331 3 Materielle Repräsentation 143 <?page no="144"?> 332 Vgl. Siegmund, Theater als Gedächtnis, S. 314: „Das Gedächtnis schöpft seine produktive Kraft aus eben jenem Spalt, sozusagen aus der leeren Mitte heraus, in der alles, was dargestellt und gesagt wird, zugleich nicht dargestellt und gesagt werden kann, weil der Darstellung der Grund fehlt.“ 333 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S.-66. Diese Erkenntnis ist grundlegend für Gerald Siegmunds semiotische und psy‐ choanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas. Die Möglichkeit, die Gerald Siegmund das Theater als Gedächtnis denken lässt, ergibt sich aus der leeren Mitte der hier in Anlehnung an Ricœur beschriebenen dialektischen Grundstruktur der Repräsentation, also aus der jeder Repräsentation inhärenten Spannung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. 332 Ohne das erinnerungs‐ kulturelle Potential postdramatischer Theaterformen für die eigene Untersu‐ chung zu explizieren, lassen sich Siegmunds Ausführungen heranziehen, um die unter Rekurs auf Hans-Thies Lehmann formulierte Behauptung zu stützen, dass die Zuschauer gerade dann auf ihre individuellen Erfahrungen zurück‐ greifen, sich erinnern, wenn die semantische Vorgabe hinter der Materialität der Signifikanten zu verschwinden droht. Die Rezipienten sind gezwungen, dem unmittelbar Wahrgenommenen Bedeutung zuzuordnen, um so die Lücke der momentan aufgelösten Fiktion, der “Vorstellungsseite“ des Dargestellten, semantisch zu schließen. Als Quelle dient den Rezipienten nun die eigene Vorstellung (im Sinne der individuellen Einbildungskraft bzw. Imagination) und nicht die theatrale im Sinne des Ideatums der dargebotenen Fiktion. Das Bezeichnende in seiner Phänomenalität wahrzunehmen, bedeutet nicht, es als bedeutungslos wahrzunehmen, sondern eine solche Haltung impliziert den Versuch des Zuschreibens von Bedeutung durch den Wahrnehmenden. 333 Durch die scheinbare Veränderung des Status des Dargestellten nähert sich die Aufführungssituation ritualisierten Erinnerungspraktiken an. Der ins Per‐ formative kippende Akt zeichnet sich aufgrund seiner Ereignishaftigkeit durch Unmittelbarkeit aus, die die Verantwortung für die Bedeutungszuschreibung des Geschehenden den an diesem Geschehen Teilnehmenden zuspricht. Siegmunds Hinweis auf die mentalen Ergänzungsprozesse liefert gleicher‐ maßen einen Anknüpfungspunkt an das Konzept der erinnerungskulturellen Phantastik, behauptet er doch, dass die Option, das Theater als Gedächtnis zu betrachten, in einem Prozess des Offenhaltens einer Lücke zwischen Signi‐ fikant und Signifikat und damit zwangsläufig in einem Status der rezeptiven Unentscheidbarkeit zwischen Fiktion und Lebenswelt begründet liegt. Das oszillierende Ausspielen der jeder Repräsentation inhärenten ontologischen und modalen Spannung provoziert Unschlüssigkeit, hésitation oder Unverständnis, worauf der Zuschauer einzig durch eigene kognitive Leistung und Positionie‐ 144 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="145"?> rung reagieren kann. Die Involviertheit der Rezipienten scheint dabei umso größer, je intensiver die Erfahrung von Unschlüssigkeit ist. Diese sät Zweifel auf Seiten der Rezipienten, sich moralisch gegenüber dem Wahrgenommenen posi‐ tionieren zu müssen. Denn während sowohl der mimetische Darstellungsmodus als auch das Ereignis eine moralische Positionierung entweder als unangebracht - z. B. durch eine klare Trennung des “profanen“ Raums der Zuschauer und des “sakralen“ Kunstraums durch die vierte Wand - oder als explizit erwünscht markieren - z. B. im Rahmen politischer Diskussionsformate -, besteht die Wirksamkeit der Unentscheidbarkeit gerade darin, keine Orientierungspunkte für eine rezeptive Positionierung zu liefern. Diese Ausführungen dienen als Grundlage für die drei kürzeren, nun fol‐ genden Unterkapitel, die das beschriebene theoretische Konzept der rezeptiven Unentscheidbarkeit bzw. Unschlüssigkeit methodisch zuspitzen sollen. Damit bilden sie einen weiteren Brückenpfeiler auf dem Weg zur Textinterpretation, für die es zunächst notwendig erscheint, das den bisherigen Ausführungen zugrunde gelegte Verständnis des Verhältnisses von Text und Aufführung zu präzisieren. Dieser Schritt soll begründen, weshalb die in dieser Studie vollzogene Interpretation intendierter Aufführungen auf Textbasis sinnvoll geleistet werden kann. Unter Rekurs auf Wolfgang Matzat werden anschließend die Konzepte der dramatischen, theatralischen und lebensweltlichen Perspektive bzw. Kom‐ munikationsebene eingeführt und im Hinblick auf weitere Analyseschritte modifiziert. Besondere Relevanz wird dabei der Begriff der theatralischen Kommunikationsebene erhalten, der, räumlich gewendet, an das Konzept der Liminalität anknüpfbar ist . Zuletzt gilt es zu klären, auf welche Weise eine Aufführungssituation ge‐ staltet werden kann, die sich zwischen den Polen der mimetischen Darstellung und dem Ereignis bewegt bzw. durch welche Vorgänge eine punktuelle Unent‐ scheidbarkeit zwischen Fiktion und Lebenswelt bzw. zwischen faktualem und fiktionalem Sprechen provoziert werden kann. Eine solche Präzisierung dient der anschließenden Beschäftigung mit den Dramentexten der Generación del 82, deren Vertreter sich teilweise dieses Spiels zwischen ästhetischer Distanz und Involviertheit bedienen, um eine erinnerungskulturelle Aktivierung der Rezipienten zu erreichen. 3.4.2 Vom Text zum Theater Bevor wir uns mit der textuell intendierten Initiierung erinnerungskultureller Akte beschäftigen, ist das dieser Studie zugrunde gelegte Verständnis des 3 Materielle Repräsentation 145 <?page no="146"?> 334 Diese Grundannahmen zum Status des dramatischen Textes orientiert sich ebenso wie die begriffliche Distinktion zwischen dramatischer, theatraler und lebensweltlicher Perspektive an dem Strukturmodell Wolfgang Matzats. Vgl. Matzat, Wolfgang: Dramen‐ struktur und Zuschauerrolle, München 1982 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, 62). 335 Zur Bezeichnung dieses Dramentypus findet u. a. der Terminus des Reading drama Verwendung. 336 Man denke beispielsweise an einige Theatertexte von Elfriede Jelinek. 337 Hauthal, Janine: Metadrama und Theatralität. Gattungs- und Medienreflexion in zeitge‐ nössischen englischen Theatertexten, Trier 2009 (= CDE studies, 18), S. 85: „Wie Korthals (2003: 389) ausführt, ist im Nebentext des Dramas ‚die indikativische Formulierung im Präsens (‚X öffnet das Fenster’) oder Partizip Präsens (‚X (das Fenster öffnend)’ [auf‐ fällig]. Das Geschehen wird im Rahmen des literarischen Dramas als etwas tatsächlich Geschehendes und im Dramentext nur Niedergeschriebenes behandelt, nicht aber als etwas durch die Schauspieler erst als Geschehen zu Verwirklichendes.“ 338 Hauthal, Metadrama, S.-85 Verhältnisses der zwei differierenden medialen Ausdrucksformen, Drama und Theater, genauer zu klären. Dies erscheint vor allem deshalb relevant, weil es in der Folge um eine nähere Betrachtung der Grenze zwischen Fiktionsraum und Zuschauerraum bzw. lebensweltlichem Raum gehen wird, diese Betrachtung jedoch auf der Basis untersuchter Dramentexte und nicht unter Rekurs auf konkrete Aufführungssituationen und Aufführungsmitschnitte vollzogen wird. Dramentexte unterscheiden sich von anderen literarischen Texten darin, dass sie eine performative Dimension aufweisen. Wolgang Matzat geht von einem metonymischen Charakter des Dramentextes aus, da ihm die Struktur des Aufführungsgeschehens stets inhärent ist. 334 Obgleich es durchaus Dramen gibt, die für die Lektüre konzipiert sind 335 , scheint sich an der grundsätzlich anzunehmenden Aufführungsbestimmtheit des Dramentextes bis heute nichts geändert zu haben. Selbst narrativ gestaltete Dramentexten, die sich durch die Absenz von Didaskalien charakterisieren und somit viel Freiraum für die szeni‐ sche Umsetzung bieten, werden im Hinblick auf Inszenierungen formuliert. 336 Geht man davon aus, dass Dramen in der Regel zur Aufführung bestimmt sind, kann diesen eine intermediale Bezugnahme auf das Theater zugeschrieben werden. Unter Rekurs auf Überlegungen Irina Rajewskys weist Janine Hauthal in ihrer Monographie Metadrama und Theatralität (2009) darauf hin, dass der dramatische Text bereits aufgrund seines in der Regel assertiv formulierten Nebentextes (‚X öffnet die Tür’) 337 „das Bühnengeschehen im Text als bereits im Medienwechsel zur Aufführung realisiertes apostrophiert.“ 338 Der Dramentext kreiere auf diese Weise eine „intermediale Rezeptionsillusion“, d. h. er bewegt des Leser dazu, das Bühnengeschehen bereits bei der Lektüre zu imaginieren. In Anlehnung an die Überlegungen Hauthals wird auch in dieser Studie davon 146 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="147"?> 339 Hauthal, Metadrama, S.-85. ausgegangen, dass der Leser eines Dramas mit assertiven Nebentexten und eindeutig zu unterscheidenden Repliken das Bühnengeschehen vor seinem inneren Auge inszeniert und damit bereits mental einen „innerästhetischer Medienwechsel“ 339 vollzieht. Diese Annahme verweigert sich keineswegs den Freiheiten der inszenatori‐ schen Praxis, wie sie spätestens mit Einzug des Regietheaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert wurden. Es wird indes lediglich behauptet, dass Aussagen über das potentielle Bühnengeschehen auf Basis des zugrunde gelegten Textes möglich sind. Um dem in dieser Studie formulierten Anliegen Folge leisten zu können, dem Potential erinnerungskultureller Phantastik an der Grenze zwischen Fiktion und Lebenswelt nachzuspüren, wird in der vorlie‐ genden Studie der Begriff ‚Drama’ von nun an immer dann durch den Begriff ‚Theatertext’ ersetzt, wenn es sich um Fragestellungen handelt, die den Fokus auf den außerfiktionalen Raum legen. Der Begriff ‚Theatertext’ ist insofern funktional, als dass er es als intermedial verstandene Gelenkstelle erlaubt, ausgehend von der Untersuchung dramatischer Texte Aussagen über die damit intendierten Aufführungssituationen zu treffen. Legt man ein solches Verständnis von Theatertext zugrunde, rücken die im Stück angelegten rezeptionsästhetischen Wirkungspotentiale ins Zentrum des Interesses. Anders gewendet, der Zuschauer selbst sowie der theatralische Raum bzw. der Aufführungsraum werden in die Textanalyse einbezogen, denn der interpretatorische Blick muss nun nicht mehr auf das innerfiktionale Geschehen sowie die Interaktion zwischen Leser und Dramentext beschränkt bleiben. Dabei ist jedoch zu betonen, dass die Erweiterung des Untersuchungsgegenstands auf die Rezipienten im theatralischen Raum keineswegs gleichbedeutend ist mit der Integration all dessen, was außerhalb des fiktionalen Raums zu verorten ist. Vielmehr gilt es unter Rekurs auf Wolfgang Matzat zu unterstreichen, dass es sich beim theatralischen Raum um eine Art Zwischenraum handelt, dessen Existenz sich in erster Linie auf der Annahme eines mimetischen Pakts zwischen Bühne und Publikum gründet, auf einer theatralischen Rezeptionshaltung also, die mit der lebensweltlichen Kommunikationshaltung nicht zu vergleichen ist. Konsequenterweise muss in den weiteren Ausführungen geklärt werden, wie sich der im Theatertext implizierte Zuschauer zum Theatergeschehen verhält bzw. welche Wirkungspotentiale der Text für ihn bereit hält. Dafür bedarf es einer Klärung der Frage, wo der Theaterzuschauer, der sich innerhalb des Theaters weder als Teil des lebensweltlichen Alltags noch als Teil der fiktionalen Welt versteht, zu verorten ist. Denn mit dem Gang ins Theater 3 Materielle Repräsentation 147 <?page no="148"?> 340 In dieser Studie finden lediglich Dramentexte Berücksichtigung. Von Aufführungs‐ sanalysen wurde aufgrund der diesen Ereignissen zugrundeliegenden Einmaligkeit abgesehen. Diese steht im Gegensatz zur Fixiertheit der durch den Text inten‐ dierten Aufführungspraxis. Aus demselben Grund sowie aufgrund des spezifischen Forschungsinteresses der Studie wurde auf die Bezugnahme auf skriptlose Happenings oder Performances verzichtet. Die ausgewählten Dramatiker der Generación de 82 gelten allesamt als Vertreter des Texttheaters. Zur Definition der Theateraufführung als Ereignis: Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S.-67. 341 Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-17. betritt der Zuschauer einen unbestimmten Zwischenraum, in dem er zwar mit der Lebenswelt in Verbindung bleibt, in dem er jedoch gleichermaßen den lebensweltlichen Kommunikations- und Rezeptionsmodus für eine neue modale Haltung zu öffnen scheint, um sich auf das dramatische Geschehen einlassen zu können. Unter Rekurs auf Wolfgang Matzats Abhandlung zu Dramenstruktur und Zuschauerrolle im Theater der französischen Klassik (1982) soll dieser Zwi‐ schenraum ‚theatralischer Raum’ und die darin eingenommene Perspektive ‚theatralische Perspektive’ genannt werden. Was darunter zu verstehen ist und wie Matzats Konzepte im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungsgegen‐ stand modifiziert werden können, ist im Folgenden zu erläutern. Auf dieser Grundlage lässt sich schließlich die Aufführungssituationen als ein modales „betwixt and between“ (Victor Turner) charakterisieren, eine modale Schwelle, auf der rezeptive Unschlüssigkeit aufgrund der Uneindeutigkeit zwischen Fik‐ tion und Diktion zur inszenatorisch abrufbaren Option wird. 340 3.4.3 Der theatralische (Schwellen-)Raum: Zum hybriden Charakter der Theatersituation In seiner Monographie Dramenstruktur und Zuschauerrolle (1982) etablierte Wolfgang Matzat die Begriffe der ‚dramatischen’, ‚theatralischen’ und ‚lebens‐ weltlichen’ Kommunikation bzw. Ebenen: „Für die Zuschauer besteht das die drei Ebenen verbindende Element […] darin, daß sie drei verschiedene Perspek‐ tiven auf die Geschichte ermöglichen.“ Die Geschichte bildet den inhaltlichen Referenzpunkt für die drei angenommenen Kommunikationsebenen, während stets „vom Zuschauer als dem funktionalen Zentrum aller Vermittlungsvor‐ gänge“ 341 auszugehen ist. So gibt ihm [dem Zuschauer] die dramatische Ebene die Möglichkeit, das Geschehen aus der Sicht der daran beteiligten Figuren mitzuerleben. Diese binnenfiktionale Perspektive, an der der Zuschauer durch Illusion und Identifikation teilhat, werde ich künftig dramatische Perspektive nennen. Die Theatersituation und die ihr ent‐ 148 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="149"?> 342 Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-17f. 343 Während Matzat mit der lebensweltlichen Perspektive darauf abzielt, dass die Zu‐ schauer das Dargestellte mit dem sie umgebenden lebensweltlichen Kontext in Bezie‐ hung setzten, so wie es beispielsweise für das epische Theater Brechts charakteristisch ist, möchte die vorliegende Studie den Begriff des ‚Lebensweltlichen’ bis zum Konzept der Performativität weiterdenken. Dies impliziert eine Ausweitung des ursprünglichen Begriffsverständnisses, die es jedoch gleichermaßen ermöglicht, postdramatische The‐ atertendenzen, die nach Matzats Überlegungen erst Konjunktur erlebten, an dieses Konzept anzuschließen. 344 Janine Hauthal spricht von einem „theatealen Pakt“ (Hauthal, Metadrama, S. 98), Wolfgang Matzat von einem Pakt zwischen Bühne und Publikum. 345 Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-40. sprechenden Vorgänge hingegen legen es dem Zuschauer nahe, die Entfaltung des Sujets als Spiel, Schau oder Zeremonie zu betrachten. Es entsteht damit eine Sehweise, die ich als theatralische Perspektive bezeichnen will. In dem Maße, wie sich der Zuschauer im Theater gleichzeitig seiner lebensweltlichen Situation bewußt bleibt bzw. wie diese ihm bewußt gemacht wird, wird er das dargestellte Geschehen aus einer lebensweltlichen Perspektive beurteilen. 342 Matzat unterscheidet den lebensweltlichen Blick 343 des Individuums von der theatralischen Perspektive des Zuschauers, gleich so, als ob mit dem Einnehmen der Zuschauerrolle ein Übergang in einen anderen Seins-, Wahrnehmungsbzw. Rezeptionsmodus verbunden wäre. Da Matzat seine theoretisch-methodischen Überlegungen an Corneille, Racine und Molière exemplifiziert und sich damit auf ein Theater bezieht, das von einer Regelpoetik dominiert wurde, die sich an den tradierten aristotelischen Normen orientierte, ist sein Begriffsinstrumenta‐ rium zunächst im Kontext eines mimetisch verstandenen Darstellungsmodus zu lesen. Damit diese klassische dramatische Aufführungssituation gelingen kann, bedarf es eines mimetischen Paktes 344 zwischen Bühne und Publikum, durch den die zur Rezeption notwendige Haltung der Schauspieler und der Zuschauer zum theatralischen Geschehen überhaupt erst eingenommen werden kann. Dieser Pakt impliziert unter anderem die Annahme, dass das auf der Bühne Ausgesagte von den Rezipienten zunächst einmal dem Modus des Fiktionalen zugeordnet werden kann und aufgrund des Fehlens eines illokutionären Gehalts keine unmittelbare Beziehung zur Lebenswelt einzugehen sucht. Denn hier handelt es sich ja allemal um die Darstellung einer fiktiven Handlung, um eine ‚Repräsentation’, die geprägt ist durch das Als-ob und der der direkte symbolische Bezug zur Wirklichkeit, wie er bei zeremoniellen Handlungen vorliegt, nun gerade abgeht. 345 3 Materielle Repräsentation 149 <?page no="150"?> 346 Hauthal, Metadrama, S.-100. 347 Balme, Christopher B.: The Cambridge Introduction to Theatre Studies, Cambridge 2008, S.-2. Als Grundmerkmal des mimetischen Darstellungsmodus ist das Als-ob zu identifizieren, durch welches ein repräsentativer Wahrnehmungsmodus forciert wird, durch den die Zuschauer in der Folge all das, was auf der Bühne gesagt und getan wird, als entpragmatisiert betrachten. Janine Hauthal spricht mit Blick auf die ebenso von den Schauspielern notwendig einzunehmende Haltung von einem „Paradox des ‚theatralen Pakts’“, das sich aus der „beiderseitigen Negation des Wissens um den Spielcharakter und dem gleichzeitigen Genuss des Spiels“ 346 ergibt. Die anzunehmende Akzeptanz paradoxer Struktur in der Thea‐ tersituation erinnert an die in dieser Studie untersuchte Paradoxie des Nicht-Er‐ innerns des Unvergesslichen in Gesellschaften, die sich in einer Übergangsphase zwischen Diktatur und Demokratie befinden. Ohne die Bedingungen der The‐ atersituation pauschalisierend mit den besonderen Diskursformationen von Postdiktaturen gleichzusetzen, scheint sich in beiden Fällen die Stabilität des jeweiligen Prozesses aus einem Pakt - einem pacto de silencio bzw. einem mimetischen Pakt - der Beteiligten zu ergeben. In beiden Fällen überdeckt der repräsentative Wahrnehmungsmodus den Wahrnehmungsmodus der Präsenz, obgleich Substantialität und Eigentlichkeit stets aus der Latenz auftauchen und sich manifestieren können. In beiden Fällen fungiert das Eigentliche als latente Gefahr für die Aufrechterhaltung des Scheins. Die Annahme dieser Entpragmatisierung des theatralischen Sprechens von der Bühne korrespondiert mit der klassischen Definition der Theatersituation, wie sie in dem berühmten Ausspruch von Eric Bentley (1967) Ausdruck findet: „A impersonates B while C looks on.“ Der Theaterwissenschaftler Christopher Balme weist darauf hin, dass diese traditionelle Betrachtungsweise voraussetzt, dass die schauspielerische Aktivität per se darin besteht, eine Figur zu verkör‐ pern, und somit vorzugeben, ein anderer zu sein als in Wirklichkeit. Dahingegen wird auf Seiten des Zuschauers eine „‘willing suspension of disbelief ’ and acceptance of the make-believe” eingefordert. Balme bemerkt zu Recht, dass eine solche Perspektive angesichts der unterschiedlichen Spielformen und ästhetischen Ausprägungen nicht mehr mit der heutigen Definition von Theater und Performance zu vereinbaren ist. Gleichzeitig betont er, dass sich im euro‐ päischen Gegenwartstheater nichts an der konstitutiven Rolle des Zuschauers für das Theatergeschehen geändert habe, wenn er anfügt: „What is important is the description of the basic aesthetic activity involved in theatre - the active role played by the spectator to make the theatrical experience happen.” 347 Die Bedeutung des Zuschauers als konstitutives Element der Theatersituation, sei 150 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="151"?> 348 Im deutschen Sprachraum sorgten gerade die Aufführungen und Aktionen von Frank Castorf und Christof Schlingensief für eine Verunsicherung in Bezug auf die Frage, wer Akteur und wer Zuschauer sei. Dabei muss m. E. bedacht werden, dass, auch wenn die Zuschauer zu Hauptakteuren wurden und die Rollenverhältnisse dadurch auf den Kopf gestellt schienen, das Geschehen ohne die Ko-Präsenz von Akteuren und Beobachtern keine Bedeutung vermitteln würde. Es spielt somit keine Rolle, wer Zuschauer und wer Akteur ist, sondern es ist lediglich entscheidend, dass es überhaupt eine basale Form von Ko-Präsenz gibt. 349 Die Behauptung hat nur dann Bestand, wenn davon auszugehen ist, dass sich die beteiligten Akteure darüber bewusst sind, dass es sich um eine Theatersituation handelt. dies nun als Beobachter, Mitspielender oder Hauptakteur, bleibt selbst in radikal performativen Theaterformen der Postdramatik unangetastet, auch wenn es sich dabei um einen selbstreferentiellen Verweis auf die Rolle des Zuschauers handelt. 348 In Balmes Ausspruch klingt die zuvor in Anlehnung an Matzat geäußerte These einer Veränderung der Seinsbzw. Wahrnehmungsweise des Zuschauers an, der innerhalb des theatralischen Raums vom lebensweltlichen Individuum zum konstitutiven Element der theatralischen communitas wird, die sich aus der Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern sowie den Zuschauern unter‐ einander ergibt. Diese Sonderform der kommunikativen Begegnung zwischen Spielenden und Bespielten bzw. Sendern und Empfängern innerhalb des theatra‐ lischen Raums verbindet in sich den dramatischen und lebensweltlichen Raum und ermöglicht auf Grundlage des mimetischen Pakts die Unterscheidbarkeit von fiktionaler und faktualer Rede. Die Einnahme der theatralischen Perspektive geht mit der perspektivischen und kommunikativen Entfernung der Rezipienten von der lebensweltlichen Grundhaltung einher. Die neue Seins- und Rezeptionsweise innerhalb des theatralischen Zwischenraums bzw. des Aufführungsraums, in dem Fiktivität und Faktizität sowie Fiktionalität und Faktualität eine besondere Form der Gleichzeitigkeit erfahren, wird bereits durch den Eintritt in das Theatergebäude symbolhaft initiiert. Denn das Betreten eines Theaters gleicht zunächst einer rituellen Bejahung des mimetischen Pakts, einer unausgesprochenen Verstän‐ digung zwischen Schauspielern und Publikum über den Modus des Als-ob innerhalb des Spielraums. 349 Diese Möglichkeit einer strukturellen Doppelbö‐ digkeit im Modus des Als-ob, die eine Gleichzeitigkeit der Ebenen der Eigent‐ lichkeit und Uneigentlichkeit impliziert, setzt eine akzeptierte Distanzierung von lebensweltlichen Kommunikationsstrukturen voraus, als deren Konsequenz eine vorläufige Uneindeutigkeit zwischen Sein und Schein denkbar wird, die im Falle des mimetischen Darstellungsmodus noch eine eindeutige räumliche Zuordnung erfährt. 3 Materielle Repräsentation 151 <?page no="152"?> 350 Searle, „Der logische Status fiktionaler Rede“, S.-31. Die rezeptive Flexibilität bildet die Grundlage dafür, dass dem Konzept der Mimesis überhaupt zum Existenzrecht verholfen wird. Anders gewendet, erst durch eine offene Rezipientenhaltung, die zur Akzeptanz des mimetischen Pakts führt, rückt der hybride Charakter der Theatersituation, die sich im Sinne der Dialektik der Repräsentation durch die Wirklichkeit der Darstellung und die Unwirklichkeit bzw. Abwesenheit des Dargestellten auszeichnet, in den Hintergrund. Diese Feststellung gewinnt mit Blick auf die Verwendung ikonischer Zeichen an Bedeutung; es wird wirklich auf der Bühne gesprochen und gehandelt, auch wenn im mimetischen Modus weder die Aussagen noch die Handlungen eine Beziehung zur Welt eingehen. Der Darstellungsmodus der theatralen Repräsentation ist somit vom mimetischen Charakter eines fiktionalen Textes zu unterschieden. John Searle stellt im Hinblick auf diese Unterscheidung heraus, dass die Aufführung eines Theaterstücks nicht „eine vorgegebene Darstellung eines Sachverhalts“ ist - dies wäre beim Roman der Fall -, „sondern der vorgegebene Sachverhalt selbst; die Schauspieler geben vor, die Figuren zu sein.“ 350 Der im Darstellungsmodus der Mimesis aufgehende Pakt des Als-ob zwischen Bühne und Publikum gründet sich somit auf dem Versuch des Ausschlusses von performativer Rede, welche keine Spaltung in eigentliches und uneigentliches Sprechen kennt. Performatives bzw. eigentliches Sprechen schließt die Tren‐ nung zwischen dramatischem, theatralischem und lebensweltlichem Raum von vornherein aus und lässt die Räume in einem einzigen Kommunikationsraum aufgehen. Performative Aussagen sowie performatives Handeln sind nicht ab‐ bildend, sondern selbstreferentiell. Zudem treten sie in eine direkte und unmit‐ telbare Beziehung zur außersprachlichen Welt, wo sie Wirklichkeit im Moment des Sich-Realisierens konstituieren statt diese darzustellen. Von besonderer Bedeutung für das Theater ist es, dass der Entpragmatisierung durch den mime‐ tischen Darstellungsmodus stets die Möglichkeit einer (Re-)Pragmatisierung des Darstellenden gegenübersteht. Die theatralen Zeichen sind jederzeit in der Lage, ihre semiotische Stellvertreterfunktion aufzugeben und zu ihrer Substantialität zurückzufinden. Die Kippbewegung ins Performative gleicht einem Übergang von der Repräsentation zur Präsentation, die keine semantischen Vorgaben mehr liefert. Innerhalb dieser neuen Ordnung meint Sprechen den tatsächlichen 152 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="153"?> 351 Vgl. die ursprüngliche auf John L. Austin zurückgehende Wortbedeutung des Verbs ‚to perform’: „Der Name stammt natürlich von >to perform<, >vollziehen<: man >vollzieht< Handlungen.“ John L. Austin, zit. nach Goppelsröder, Fabian: „Ethik der Performativität“, in: v. Sternagel, Jörg (u. a.) (Hgg.), Kraft der Alterität. Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen, Berlin 2015 (= Metabasis - Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien, 12), S.-52. 352 Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-41. 353 Fischer-Lichte, Performativität, S.-101. Vollzug von (Sprech-)handlung 351 ; es ist somit immer faktuales Sprechen, das sich in Bezug auf außersprachliche Referenten entwickelt. Vor diesem Hintergrund lässt sich behaupten, dass es sich bei der theatrali‐ schen Kommunikationsebene um eine modale Aushandlungsfläche handelt, die sich zwischen den beiden Polen der Darstellung und des Ereignisses aufspannt. Matzat selbst liefert Belege für die Annahme einer strukturellen Mehrdeutigkeit der Theatersituation, indem er bei seiner Unterscheidung der theatralen Inter‐ aktionsform von nicht-fiktionalen Veranstaltungssituationen herausstellt, dass „die Theatersituation einen eigentümlich hybriden Charakter“ aufweist. „Sie ist als Veranstaltungssituation wirklich, doch ist das, was dort veranstaltet wird, unwirklich. Beides zusammen macht ihr Wesen aus. Die Theateraufführung ist eine Veranstaltung im Zeichen des Als-ob.“ 352 Diese der Repräsentation inhärente Dialektik findet offensichtlich auf der theatralischen Ebene einen strukturäquivalenten Lebensraum. Erika Fi‐ scher-Lichte spricht im Hinblick auf die die theatralische Ebene konstituierende Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi von einer „Ambiva‐ lenz“ der Rezeption. Von Beginn an definiert sich die theatralische Perspektive aus einem perzeptiven Balanceakt zwischen Repräsentant und Repräsentiertem. Auf der anderen Seite lässt sich Wahrnehmung als ein performativer Prozess be‐ schreiben, der durch Ambivalenz charakterisiert ist. Wie bei der Bestimmung des Aufführungsbegriffs dargelegt, gleitet die Wahrnehmung ständig zwischen der Fo‐ kussierung auf die phänomenale Erscheinung der Leiber, Körper, Räume und Objekte sowie die physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Reaktionen, die dies auslöst, und der Fokussierung auf die Zeichenhaftigkeit der Körper, Räume und Objekte sowie die Bedeutungen, die ihnen zugesprochen werden können, oszillierend hin und her. Wir haben es also letztlich mit zwei Ordnungen der Wahrnehmung zu tun - mit der Ordnung der Präsenz, die sich auf die spezifische Phänomenalität aller wahrgenommenen Erscheinungen bezieht; und der Ordnung der Repräsentation, welche die Erscheinungen in ihrer Zeichenhaftigkeit berücksichtigt. 353 In Anlehnung an den amerikanischen Theaterwissenschaftler Marvin Carlson ließen sich theatralische Perspektive sowie Ebene mit dem Begriff des Auffüh‐ 3 Materielle Repräsentation 153 <?page no="154"?> 354 Balme, Christopher B.: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 2014, S.-152. rungsraums (performance space) in Verbindung bringen, der als „bedeutungss‐ tiftender Begegnungsort“ verstanden werden kann, „der neben der reinen Funktionalität des Gebäudes oder des temporär demarkierten Spielorts über ein ganzes Spektrum an Konnotationsebenen verfügt.“ 354 Der Versuch, die theatralische Perspektive als „temporär demarkierten Spielort“ zu denken, macht es notwendig, sich mit der Frage auseinanderzu‐ setzen, wie sich der Ort der Rezeption, der weder per se als Teil des fiktio‐ nalen Geschehens noch als Erweiterung des lebensweltlichen Raums betrachtet werden kann, adäquat terminologisch fassen lässt. Dieser Ort bildet m. E. einen unbestimmten Zwischenraum ab, der sich durch eine potentielle Infragestellung ontologischer und modaler Dichotomien auszeichnet. Noch mit der Lebenswelt in Verbindung, jedoch zunehmend herausgelöst aus den Bezügen zum Alltägli‐ chen, öffnet sich der Zuschauer beim Betreten der Spielstätte hinsichtlich der Möglichkeit der fiktionalen Rede sowie der Konfrontation mit dem Fiktiven. Diese Veränderung der Wahrnehmungshaltung geht er nicht alleine, sondern als Teil der Zuschauergemeinschaft ein. In Analogie zum Konzept der theatra‐ lischen Perspektive bzw. Ebene sowie unter Berücksichtigung der veränderten modalen Haltung des Rezipienten soll deshalb der Begriff des ‚theatralischen Raums’ eingeführt werden. Die scheinbar paradoxale Grundstruktur des theatralischen Raums, in dem modale (fiktionale/ faktual) und ontologische (fiktiv/ faktisch) Dichotomien in einem Sowohl-als-auch aufzugehen scheinen, bedarf einer ausführlicheren Betrachtung. Dabei ist herauszuarbeiten, inwiefern diese paradoxale Grund‐ struktur des “Alles-ist-möglich“ als Voraussetzung für das theatrale Ausspielen erinnerungskultureller Wirkmacht geltend gemacht werden kann. Leitend für die folgenden Ausführungen ist die Annahme, dass sich das ethische Potential des erinnerungskulturellen Theaters weder durch einen eindeutig mimetischen Darstellungsmodus noch durch eine vollendete Kippbewegung ins Performative intensivieren lässt, sondern sich auf einer perzeptiven Unentscheidbarkeit gründet, die sich genau zwischen den beiden Wahrnehmungsmodi verortet. Um diese Behauptung zu stützen, wird im Folgenden auf das auf Erika Fischer-Lichte zurückgehende Konzept der „Ästhetischen Erfahrung“ rekurriert, das sich wie‐ derum auf den Liminalitätsbegriff des schottischen Ethnologen Victor Turner stützt. Die Erläuterung dieser Konzepte soll es ermöglichen, den theatralischen Raum als Schwellenraum zu begreifen, der die modale Differenz zwischen fiktionalem Theatergeschehen und faktualem Erinnerungsanspruch in sich verschränkt und auf diese Weise ausgleicht. 154 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="155"?> Unter Rekurs auf auf die zeitliche und räumliche Trennung der Theaterauf‐ führung vom “Alltäglichen“ sowie auf die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern (communitas) während der Aufführungssituation verknüpft Erika Fischer-Lichte die im theatralischen Raum verortete Rezeption mit dem aus Konzept der Liminalität (von lat. limen - die Schwelle). Damit rekurriert sie auf die strukturelle Nähe von Theateraufführungen und nicht-ästhetischen Ver‐ anstaltungen sowie Ritualen, wie sie vor allem von Turner beschrieben wurde. Turner führte den Begriff des Liminalen bzw. der Liminalität in seiner Abhand‐ lung The Ritual Process: Structure and Anti-Structure im Jahre 1969 ein und stützte sich dabei auf die Arbeiten des französischen Ethnologen Arnold van Gennep. Dieser hatte in seinem erst 1960 auf Englisch erschienenen Werk Les rites de passage (1909) konstatiert, dass Rituale eng mit symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrungen verknüpft sind. Den Terminus ‚Übergangsriten' bezog van Gennep in erster Linie auf den sozialen Statuswechsel eines einzelnen Individuums wie einer Gruppe von Menschen. So werden durch das Zelebrieren von Riten Knaben zu Kriegern oder Unverheiratete zu Verheirateten. Van Gennep untergliederte den rituellen Übergang in drei aufeinanderfolgende Phasen, die von den rituellen Subjekten (z. B. Novizen, Kandidaten, Initianden) durchlaufen werden. Diese sind Trennung, Schwelle und Angliederung. In der Trennungsphase vollzieht sich eine Loslösung der rituellen Subjekte von ihrem früheren sozialen Status, woraufhin ein Eintritt in einen Bereich der Ambiguität, in eine sog. Schwellenbzw. liminale Phase folgt, welche als ambivalenter und unbestimmter 'Zwischen-Zustand' zu verstehen ist. Mit der Erlangung eines neuen sozialen Status geht schließlich eine Angliederung bzw. Reintegration in bestehende gesellschaftliche Strukturen einher. Im Gegensatz zu van Gennep, der sich in erster Linie mit kleinen Gesell‐ schaften (vor allem außereuropäischer Kulturen) beschäftigte, interessierte sich Turner neben der Anwendung des Liminalitätsmodells im kleinen Maßstab ebenso für eine Applikation auf komplexere Gesellschaftsformen. Émile Durk‐ heim folgend unterstrich er die Analogien zwischen primitiven tribalen Riten und gesellschaftlichen Prozessen. In Anlehnung an das dreistufige Modell van Genneps führt Turner die Begriffe der ‚präliminalen’, ‚liminalen’ und ‚postliminalen’ Phase ein. Sein besonderes Interesse galt der liminalen Phase, die er als „Nahtstelle“ definierte, „an der die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben oder beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat.“ Den Zustand der Liminalität beschreibt Turner als einen Zustand labiler 3 Materielle Repräsentation 155 <?page no="156"?> 355 Zitiert nach Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, S.-347. 356 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M./ New York 2009, S.-82. 357 Turner, Vom Ritual zum Theater, S.-42. zwischenexistenz „betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial.” 355 Im Hinblick auf die Schwelle oder Passage des strukturellen Losgelöstseins verwendete Turner zudem den Begriff der ‚Antistruktur’, welche der Anthro‐ pologe Brian Sutton-Smith der normativen Struktur des prä- und postliminalen Zustandes gegenüberstellte. Seiner Auffassung nach meint Antistruktur „das latente System möglicher Alternativen, aus dem Neues entsteht, sobald die Bedingungen im normativen System es erfordern.“ 356 Sutton-Smith betont das Moment der Potentialität, den möglichen Ursprung neuer Kultur. Das Wesen der Liminalität impliziert „die analytische Zerlegung der Kultur in Faktoren und die freie oder 'spielerische' Neukombination dieser Faktoren zu jedem nur möglichen Muster, wie verrückt es auch sein mag.“ 357 Positiv-affirmativ betrachtet bedeutet dies eine Befreiung der Kreativität, die zu innovativer und spielerischer Um- und Neugestaltung bestehender Formen führt. Negativ betrachtet kann die liminale Phase ebenso von Unsicherheit, Unbestimmtheit, Chaos, Tabubruch, der Auflösung von Konventionen und Verhaltensmustern sowie von Anomie, Entfremdung und Angst geprägt sein. Auf die vorliegenden Überlegungen appliziert, bietet das Konzept der Limi‐ nalität die Möglichkeit, das Potential modaler und ontologischer Unentscheid‐ barkeit innerhalb des theatralischen Raums neu zu perspektiveren. Unter Berücksichtigung des raum-zeitlichen Herausgelöstseins der Aufführung aus dem Alltäglichen, der beschriebenen modalen und ontologischen “Antistruktur“ sowie der damit einhergehenden Ambivalenz der Rezeption kann der theatra‐ lische Raum als Schwellenraum betrachtet werden, der sich nicht nur als Bin‐ deglied zwischen dramatischen und lebensweltlichen Raum schiebt, sondern, und dies ist entscheidend, Elemente dieser modal und ontologisch entgegenge‐ setzten Pole in sich trägt und verschränkt. Der theatralische Schwellenraum wird in diesem Fall jedoch nicht als Übergangsraum oder -phase betrachtet, sondern als fixiertes Dazwischen, das die Annäherung von Lebenswelt und Fiktion überhaupt erst ermöglicht. Der theatralische Schwellenraum hat nur so lange Bestand wie die diesen konstituierende communitas und verfügt, im Gegensatz zu nicht-ästhetischen Veranstaltungssituationen sowie Ritualen, nicht über wirklichkeitskonstituierendes Potential auf individueller oder gesell‐ schaftlicher Ebene. Ein Zuschauer erfährt keine außersprachlich anerkannte 156 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="157"?> 358 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S.-349. 359 Zur Beschreibung der Theateraufführung als performativem Akt vgl. Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, S.-352. 360 Bekannte Beispiele dafür, wie die Grenze von Kunst und Wirklichkeit zu verschwimmen beginnt, lieferten die Aktionen der von Christoph Schlingensief gegründeten Partei Chance 2000. Initiation oder Statusveränderung durch einen Theaterbesuch, auch wenn dies die Aufführungssituation intendieren mag. Diese Einschränkung des theatralischen Schwellenraums berücksichtigend, verweist Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen (2004) auf die differierenden Wirkungspotentiale von ästhetischer und nicht-ästhetischer Erfahrung: Während ich eine Schwellenerfahrung, bei der der Weg das Ziel ist, als ästhetisch bezeichne, bestimmte ich Schwellenerfahrungen, die den Weg zu einem ‘anderen’ Ziel darstellen, als nicht-ästhetische Erfahrung. Solche Ziele können in einem gesell‐ schaftlich anerkannten Statuswechsel bestehen, in einer Generierung von Siegern und Verlierern, in der Bildung von Gemeinschaften, in der Legitimation von Macht‐ ansprüchen, in der Herstellung sozialer Verbindlichkeit, in der Unterhaltung u. a. mehr. Das heißt, bei ästhetischer Erfahrung geht es um die Erfahrung der Schwelle, des Übergangs, der Passage als solcher, den Prozeß der Verwandlung, bei nicht-ästhe‐ tischer Schwellenerfahrung dagegen um den Übergang zu etwas, die Transformation in dieses oder jenes. 358 Die nicht abzustreitenden Gemeinsamkeiten zwischen Theateraufführungen und Ritualen, auf die sowohl die Ethnologie als auch die Theaterwissenschaften vielfach hingewiesen haben, enden spätestens bei der Frage nach den individu‐ ellen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Schwellenerfahrung. Die Flüch‐ tigkeit und Einmaligkeit der Begegnung zwischen Zuschauern und Akteuren sowie der Materialität der Aufführung (Laute, Gesten Töne, usw.) charakteri‐ sieren zwar jede theatrale Repräsentation als performativ, als Ereignis, das sich im Hier und Jetzt unwiederbringlich abspielt, doch ist diese Performativität im mimetischen Darstellungsmodus einzig in dieser Ereignishaftigkeit begründet, nicht jedoch in ihrem modalen Anspruch auf Weltgültigkeit. 359 Und selbst das Wirkungspotential von Performances oder Happenings muss zunächst auf die Dauer des Ereignisses beschränkt bleiben, setzt sie doch in der Regel keine individuelle oder gesellschaftliche Veränderung durch, auch wenn eine solche als Ziel ausgegeben sein mag. 360 Die ästhetische Erfahrung innerhalb des theatralischen Raums generiert sich folglich in anderem Maße. Erika Fischer-Lichte weist darauf hin, dass die ästhe‐ 3 Materielle Repräsentation 157 <?page no="158"?> 361 Vgl. Fischer-Lichtes, Ästhetische Erfahrung, S.-27-153 sowie S- 347-367. 362 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S.-341. tische Erfahrung im Kontext einer semiotischen Theaterästhetik - im Sinne eines mimetischen Darstellungsmodus - in der kontinuierlichen Veränderung und Anpassung des eigenen Bedeutungssystems zu sehen ist 361 , wohingegen eine Ästhetik des Performativen, die keine ‘Vorstellungsseite’ des Zeichens mehr zu liefern scheint, zu „Irritation, Kollision von Rahmen, Destabilisierung von Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung“ führen kann, kurz: zur „Auslösung von Krisen“ 362 . Eine solche perzeptive Krise ist m. E. nur deshalb auslösbar, weil der theatra‐ lische Raum per definitionem zwei unterschiedliche Wahrnehmungsmodi in sich trägt und anbietet. Das „betwixt and between“ zwischen dem Modus der Repräsentation und dem der Präsenz innerhalb des theatralischen Schwellen‐ raums entsteht dann, wenn die modale Setzung, wie sie im mimetischen Theater garantiert ist, nicht mehr möglich ist, wenn die Aufführungssituation den Zuschauer aus seiner perzeptiven Geborgenheit herausholt und das Entscheiden (altgriech. krísis - Meinen, beurteilen, entscheiden) zwischen Gezeigtem und Zeigendem punktuell oder dauerhaft erschwert wird. Die punktuelle oder dauerhafte Durchsetzung des Performativen fragilisiert das Ordnungssystem der Mimesis und löst dabei eine Verunsicherung (hésitation) aus. Die besondere ästhetische Erfahrung im erinnerungskulturellen Theater of‐ fenbart sich den Rezipienten m. E. in Form dieser rezeptiven Unentschiedenheit. Diese ist Konsequenz der Dialektik der Repräsentation, wie sie Theater und Erinnerung gleichermaßen inhärent ist. Die Kernthese lautet, dass das Theater einen Akt des performativen Erinnerns initiieren kann, indem es den umge‐ kehrten Weg der Erinnerung geht. Anders formuliert, während die Erinnerung nicht ohne einen noematischen Gehalt denkbar ist, weil sie sonst immer in den Sog der Phantasie geraten würde, erreicht das erinnerungskulturelle Theater durch eine Akzentuierung des noetischen Aktes, in diesem Fall also durch eine Betonung der eigenen Materialität, lebensweltliche Bedeutung. Erst durch das Abschütteln der semantischen Orientierungspunkte liefert das Präsentierende Anknüpfungspunkte für die Assoziationen, Erinnerungen und Gedanken der Rezipienten. Das Wirkungspotential des erinnerungskulturellen Theaters speist sich folglich aus dem Zwischenraum der möglichen Wahrnehmungsmodi. Damit geht die vorliegende Studie über die in der literaturwissenschaftlichen memoria-Forschung gängige Zielsetzung, Dramentexte und Aufführungssitu‐ ationen als Orte der Vergangenheitsrepräsentation und der erinnerungskultu‐ rellen Reflexion zu untersuchen, hinaus. Stattdessen folgen wir Hans-Thies 158 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="159"?> 363 Klein, Gabriele/ Sting, Wolfgang: „Performance als soziale und ästhetische Praxis“, in: Dies. (Hgg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld 2005 [=TanzScripte, 1), S.-14. Lehmanns These, der zufolge der „Einbruch des Realen“ den Übergang von einem ästhetischen zu einem ethischen Theater zu initiieren vermag. Der damit intendierte Verlust der ‘Vorstellungsseite’ der theatralen Repräsentation akzen‐ tuiert die Gegenwärtigkeit des Geschehens und simuliert auf diese Weise das Aufgehen der dramatischen und theatralischen Ebene in der lebensweltlichen Ebene. Wenn sich die Signifikanten vor die Signifikate schieben, ist unklar, ob sich der Zuschauer nun als Rezipient oder als konkretes Individuum zu verhalten und zu reagieren hat. Die erinnerungskulturelle Wirkmacht des Theaters scheint sich im Kontext einer Ästhetik des Performativen zu potenzieren, nähert es sich auf diese Weise doch nicht-ästhetischen Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses an. Erst die Fragilisierung des Darstellungsmodus des Als-Ob richtet die Dialektik der Repräsentation zugunsten des noetischen Aktes aus. Gabriele Klein und Wolfgang Sting stellen mit Blick auf die Performance als der künstlerischen Ausdrucksform des Performativen fest: „Der Performance als szenischer Kunst geht es nicht um ein ‚So-tun-als-ob’.“ 363 Erst durch den Einbruch des Realen kann das Theater den Anspruch stellen, der der Erinnerung per definitionem eigen ist: eine Beziehung zur Welt einzugehen. Im Anschluss an die Perspektivierung des Konzepts des theatralischen Raums als anti-struktureller Zwischenraum, in dem die Gleichzeitigkeit differierender Seinsweisen und Modi denkbar wird, gilt es nun, sich erneut der eingangs formulierten These zu widmen. Diese beschäftigte sich mit der Frage, inwiefern sich die erinnerungskulturelle Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergessli‐ chen seinen Ausdruck in den Theatertexten bedeutender Vertreter der Genera‐ ción del 82 findet. Nachdem bereits darauf verwiesen wurde, auf welche Weise diese Paradoxie innerfiktional ästhetisiert werden kann, gilt es nun zu erörtern, auf welche Weise Theatertexte ihr erinnerungskulturelles Potential innerhalb des theatralischen und hinsichtlich des lebensweltlichen Raums auszuspielen vermögen. Die ethische Wirkmacht der Theatertexte wie der damit intendierten Aufführungen entfaltet sich m. E. durch eine scheinbare Überwindung des mimetischen Darstellungsmodus, des Als-ob, und damit einhergehend, durch die scheinbar unmittelbare Konfrontation des Rezipienten mit der materiellen Seite der dargebotenen Zeichen. Die Besinnung auf die Substantialität der Zeichen führt zu einer rezeptiven Unmittelbarkeit im Sinne eines ‚Hier und Jetzt’, sie leitet von der Re-Präsentation zur Präsenz über, von der Darstellung 3 Materielle Repräsentation 159 <?page no="160"?> zum Ereignis. Entscheidend für die formulierte Annahme ist jedoch, dass es sich nicht um eine tatsächliche Ersetzung des Modus des Als-ob handelt, sondern um eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von Sein und Schein, von mimetischer und performativer Rede sowie von fiktionalem und faktualem Aussagemodus. Die Wirkmacht des erinnerungskulturellen Theaters kann sich somit aus einer Illusion des Wegfalls des Als-ob speisen, die letztlich auf einem modalen Verwirrspiel basiert. Das Ergebnis dieses Verwirrspiels ist, dass eine eindeutige Antwort auf die modale Setzung des Dargestellten für den Rezipienten erschwert wird. Die ontologisch bedingte hésitation, die bei der Untersuchung des Konzepts der erinnerungskulturellen Phantastik innerhalb des dramatischen Raums herausgestellt wurde, realisiert sich im theatralischen Raum somit als modale bzw. rezeptive hésitation. Es nimmt vor dem Hintergrund des hybriden Charakters des theatralischen Raums nicht Wunder, dass gerade hier weiterer Nährboden für die Einschreibung der Paradoxie des Nicht-Erin‐ nerns des Unvergesslichen vermutet werden kann. 3.4.4 Die Überwindung des Als-Ob Es konnte gezeigt werden, dass das antistruktuelle Moment innerhalb des theatralischen Schwellenraums, das modale „betwixt and between“ zwischen dramatischer und lebensweltlicher Perspektive, nicht nur generelle Bedingung für die Etablierung einer klassischen Theatersituation ist, sondern ebenso, dass es eines Paktes im Zeichen des Als-ob bedarf, um einen mimetischen Darstel‐ lungsmodus durchzusetzen und aufrecht zu halten. Nachdem sich, in Anlehnung an die Ausführungen von Hans-Thies Lehmann, die erinnerungskulturelle Kraft eines ethisch verstandenen Theaters durch eine punktuelle oder dauerhafte Manifestierung des “Realen“ auszuwirken vermag, soll es im Folgenden um die Frage gehen, welche strukturellen Mechanismen einer diesen Einbruch begünstigenden Überwindung des Modus des Als-ob zugrunde liegen. Diese Überwindung der Mimesis ist es, die die Rezipienten in einen uneindeutigen Zwischenraum zwischen Ästhetik und Ethik zu drängen imstande ist. Gemeinsam ist diesen Mechanismen, so die zu belegende Behauptung, der simulierte Wegfall des theatralischen Raums, des Ortes also, der die Theatersi‐ tuation überhaupt erst konstituiert. Durch eine Art Illusion der Desillusion scheint es zu gelingen, einen Übergang von der Darstellung hin zum Ereignis zu evozieren. Dieses ist per definitionem performativ, verweist es in seiner wirklichkeitskonstituierenden Ereignishaftigkeit doch auf nichts als sich selbst. Ein Ereignis steht für nichts, sondern vollzieht sich gemeinsam mit den am Ereignis Beteiligten. Gleich dem innerfiktionalen Drängen des Intelligiblen, der 160 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="161"?> 364 Hauthal, Metadrama, S.-108. Vorstellungsseite des Zeichens, in das Feld der Materie, handelt es sich auch bei der Betonung der Phänomenalität des Bezeichnenden, der Materialität und Medialität der theatralen Zeichen, um eine Bewegung, die ihren Ursprung in der Vorstellung (theatral, fiktional) hat und sich in das Feld der sinnlichen Wahrnehmung einzuschreiben versucht - diesmal jedoch nicht in das anderer Figuren, sondern in das der Rezipienten. Die von Lehmann verwendete Wendung des „Einbruchs des Realen“ macht im Hinblick auf die Frage nach einer simulierten Überwindung des Als-ob eine Prä‐ zisierung notwendig. Diese besteht in der konzeptionellen Unterscheidung zwi‐ schen Fiktionalität und Illusionswirkung. Denn nicht jeder dramatische Verweis auf die Materialität oder Medialität der theatralen Zeichen geht automatisch mit einer Infragestellung des fiktionalen Aussagemodus einher, der den endoxen Grund für den mimetischen Pakt liefert. Eine strukturelle Kippbewegung von der Darstellung zum Ereignis und damit zu einem Wahrnehmungsmodus der Präsenz kann zwar durch die Störung der Illusion simuliert werden. Doch erst die Aufgabe des fiktionalen Aussagemodus vollzieht den Übergang vollends. Fiktionalität und Illusionswirkung sind folglich nicht kongruent, der Leser/ Zuschauer, der beispielsweise durch bestimmte Episierungstechniken, wie dem Auftreten einer Erzählerfigur oder dem Aus-der-Rolle-Fallen, mit der Konstru‐ iertheit des Geschehens konfrontiert wird, mag sich der anti-illusionistischen Wirkung dieser Techniken bewusst werden, doch bewegen ihn diese nicht dazu, den Akt der Selbstanzeige als Aufgabe des mimetischen Pakts zu interpretieren. Im Gegenteil, Janine Hauthal weist zurecht darauf hin, dass diese von ihr unter dem Begriff der ‚Aufführungsillusion’ subsumierten Techniken die Geschehen‐ sillusion zwar stören können, dass dabei die Illusionswirkung des Theatertextes insgesamt jedoch gefestigt werden kann: „Die Aufführungsillusion affirmiert, dass sich der Akt des Darstellens im ‚Hier und Jetzt’ ereignet. Sie lässt die Illusion entstehen, dass die Darsteller auf der Bühne spontan das Publikum adressieren und verstärkt so den Eindruck, der theatrale Rahmen sei (temporär) aufgehoben und das Publikum Zeuge eines realen Geschehens.“ 364 Der Anschein von Spontaneität und metaleptischer Transgression verstärken den Eindruck der lebensweltlichen Verbundenheit zwischen aufklärender Ver‐ mittlungsinstanz und Rezipienten, weshalb Hauthal die Aufführungsillusion als „Authentizitätsfiktion“ definiert. Paradoxerweise intensiviert also die Negation des fiktionalen Geschehens, die mit einer scheinbaren Verbrüderung zwischen Vermittlerfigur und Rezipient auf einer gemeinsamen Ebene außerhalb der Binnenfiktion einhergeht, die „kognitive und/ oder emotionale Involvierung 3 Materielle Repräsentation 161 <?page no="162"?> 365 Hauthal, Metadrama, S.-108. 366 Weitere Ausführungen zu Handke finden sich bei Hauthal, Metadrama, S.-98ff. von Lesern und Zuschauern“. 365 Analog zu einer ‚Mimesis des Erzählens’ im Roman kann unter Bezug auf die Aufführungsillusion von einer ‚Mimesis des Darstellens’ im Theatertext gesprochen werden. Besonders radikal wird die Differenz zwischen Geschehens- und Auffüh‐ rungsillusion ausgespielt, wenn sich von Beginn an keine repräsentative Wahrnehmungsordnung einzustellen vermag, weil das Bühnengeschehen auf jegliches Paktieren mit dem Zuschauer zu verzichten scheint, ja dieses sogar unwirsch ausschlägt. So geschehen in Peter Handkes Stück Publikumsbeschimp‐ fung (1966), das darin besteht, die Grundfesten der semiotischen Ästhetik zu erschüttern. 366 Janine Hauthal verdeutlicht, dass es bei diesem Stück weniger darum geht, den „theatralen Pakt“ aufzukündigen - die Schauspieler befolgen strikt das vorgegebene Skript und gehen nicht auf die Zuschauerkommentare ein -, sondern um eine Infragestellung der Illusionsnormen des dramatischen Theaters im Allgemeinen. Würde hier von einer Aufgabe des mimetischen Pakts gesprochen, würde dies von einer nicht vollzogenen Differenzierung zwischen Geschehens- und Aufführungsillusion zeugen. Denn auch wenn es sich um eine Negierung all dessen handelt, was zur Absolutheit des Theaters (i.S.v. Peter Szondi) gehört, so werden die Grenzen des fiktionalen Aussagemodus zwar ausgereizt, jedoch nicht durchbrochen. Die Wirkungspotentiale eines anti-illusionistischen Theaters und eines Thea‐ ters, das sich radikal an eine Ästhetik des Performativen annähert, sind folglich von unterschiedlicher Qualität. Ohne an dieser Stelle ausführlich auf die dif‐ ferierenden Grade der kognitiven, affektiven und physischen Involviertheit im Theater eingehen zu wollen, so sei erwähnt, dass diese bereits bei einem Vergleich der epischen Theaterästhetik eines Bertolt Brecht mit dem ‚Armen Theater’ eines Jerzy Grotowski vor Augen treten. Auf das erinnerungskultu‐ relle Drama und die damit intendierten Aufführungspraktiken angewendet, dient die Differenzierung zwischen Illusionsstörung und dem vermeintlichen Aufkündigen von Fiktionalität als mögliches Einordnungskriterium. Auch die vorliegende Studie unterscheidet zwischen einer binnenfiktionalen Thematisie‐ rung von Erinnerung bzw. Verdrängung von Diktatur und Bürgerkrieg und per‐ formativen Akten des Erinnerns innerhalb des theatralischen Schwellenraums. Die hier behandelten Dramen von José Sanchis Sinisterra, José Luis Alonso de Santos und Ignacio Amestoy charakterisieren sich indes gerade dadurch, dass die jeweilige Ästhetisierungsweise der erinnerungskulturellen Paradoxie 162 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="163"?> des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen zugleich zum Ausgangspunkt für ein performatives Erinnern im Rahmen der theatralen communitas wird. Unter Rekurs auf Hans-Thies Lehmann wurde behauptet, dass die lebenswelt‐ liche, erinnerungskulturelle Aktivierung dann gelingen kann, wenn das Theater den umgekehrten Weg der Erinnerung geht. Denn während die Erinnerung gerade durch den Verweis auf ihre temporäre Dimension ihren Anspruch auf Weltbeziehung gültig macht, gelingt dies dem Theater, indem es seine modale Dimension des Fiktionalen in den Hintergrund rückt. Erst dann gelingt die Erschütterung des mimetischen Pakts und damit des repräsentativen Wahrneh‐ mungsmodus. Und erst dann gelingt es, den Zuschauer zum Individuum werden zu lassen, das sich zu dem von ihm Wahrgenommenen positionieren muss. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann behauptet werden, dass das Potential der erinnerungskulturellen Phantastik an der Grenze zwischen den Aussagemodi des Faktualen und des Fiktionalen zu prüfen ist. Während sich der Rezipient gegenüber innerfiktionalen Elementen der Phantastik auf der Ebene der Ontologie annähert („Wie kann das sein? “), so ergeben sich für ihn pragmatische Unsicherheiten auf der Ebene des Aussagemodus („Spricht sie/ er zu mir als Figur oder Schauspieler/ -in? “ bzw. „Spricht sie/ er zu mir, als ob ich eine Rolle inne hätte oder nicht? “). Verweltlichung des Dramatischen Diese Uneindeutigkeit, die als Infragestellung der Trennung der Welten durch das Als-ob eintritt, kann auf zwei unterschiedliche Arten initiiert werden. Zum einen ist es möglich, die Doppelstruktur der theatralen Zeichen vermeintlich aufzulösen, indem das, was sich auf der Bühne befindet, zu seiner materiellen Substantialität zurückzufinden und dabei sein semantisches Komplement abzu‐ legen scheint. So kann beispielsweise eine Figur vorgeben, ihre semantische Hülle, die sie zur Figur machende Rolle abzustreifen und sich dem Publikum als konkretes Individuum zu erkennen zu geben. Diese scheinbare Aufgabe der zuvor zwischen Bühne und Publikum etablierten Konvention des Als-ob streicht die modale Grenzlinie zwischen dramatischem und lebensweltlichem Raum durch. Mit dem Wegfall des dramatischen Raums, der das Dargestellte bis hierhin als Uneigentliches markierte, gewinnen die Propositionen und Hand‐ lungen auf der Bühne ihre Eigentlichkeit zurück. In der Folge scheinen drama‐ tischer, theatralischer und lebensweltlicher Raum in sich zusammenzufallen und einen homogenen Kommunikationsraum zu bilden, der dem lebensweltlichen Raum entspricht. Folgt man dieser Annahme, wäre es so, als ob der Schauspieler ab diesem Zeitpunkt in seiner biographischen Konkretheit vor das Publikum tritt und den aus der Zuschauerrolle gefallenen Individuen im faktualen Modus 3 Materielle Repräsentation 163 <?page no="164"?> 367 Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, S.-22. 368 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, S.-66. 369 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-193. begegnet. Gleichzeitig ist dieser neue Gestus ein Appell an die Zuschauer als lebensweltliche Individuen, die Schauspieler bzw. das Wahrgenommene im Allgemeinen aus einer lebensweltlichen und nicht mehr aus einer dramatischen Perspektive wahrzunehmen. Aus Abgebildetem wird Gegenständliches, aus Vermitteltem Unmittelbares. Dieses von Hans-Thies Lehmann als „Einbruch des Realen“ bezeichnete Phänomen ist kennzeichnend für die Entwicklung der europäischen Bühne nach 1945. Im Gegensatz zu Spanien gehörten die Infragestellung des mimetischen Pakts zwischen Bühne und Publikum, die Akzentuierung der Ebene der Darstel‐ lung, die Aktivierung der Rezipienten sowie der Übergang zwischen Darstellung und Ereignis auf den Bühnen Frankreichs oder Deutschlands längst zum Stan‐ dard. Im Kontext des erinnerungskulturellen Theaters des Postfranquismus beinhaltet m. E. insbesondere der Rekurs auf die Phänomenalität der theatralen Zeichen die Möglichkeit, das lebensweltliche Ausbleiben einer medialen Ko‐ difizierung des Erinnerten im kulturellen Gedächtnis mit den Mitteln des Theaters auszuhebeln. Denn die ausbleibenden Vergegenwärtigung im lebens‐ weltlich-historischen Sinne kann durch eine modale Vergegenwärtigungsbewe‐ gung im Sinne einer Entsemiotisierung kompensiert werden. Die Konsequenz ist das In-Beziehung-Treten der vormaligen Zeichen mit der Lebenswelt und damit mit den Rezipienten. Das Zeichen streift seine Zeichenhaftigkeit ab, wodurch es sich von seinem vorherigen semantischen Komplement befreit und zum Ausgangspunkt für die Anknüpfung individueller Vorstellungen und Erinnerungen werden kann: „[I]ndem das Zeichen erkennen lässt, dass es keiner ‚Sache’ entsprechen will, gewinnt es selbst die ‚Substantialität’ der Sache. 367 Die Motivation, die aus Sicht der Psychoanalyse zu einem In-Beziehung-Setzten wahrgenommener Signifikanten auf ein Signifikat antreibt, wird für die Rezipi‐ enten durch die vermeintliche Auflösung der Situation des Als-ob zu einem performativen Akt intensiviert. Das Bezeichnende in seiner Phänomenalität wahrzunehmen, bedeutet demnach nicht, es als bedeutungslos wahrzunehmen, sondern impliziert stets den Versuch des Zuschreibens von Bedeutung durch den Wahrnehmenden. 368 Die Gleichzeitigkeit sinnlicher Gewissheit und semantischer Ungewissheit kann einzig innerhalb des theatralischen Raums erreicht werden. 369 Je unmittel‐ barer das Dargestellte in seiner Phänomenalität vor die Sinne tritt, desto weiter rückt die semantische Gewissheit hinter subjektiv-kognitive Zuschreibungen zurück. Dieser Prozess würde seinen Endpunkt in der Aufgabe des Mimetischen 164 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="165"?> 370 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-193. 371 Eine solches Aus-der-Zuschauerrolle-Fallen könnte sich beispielsweise darin äußern, dass die Zuschauer in das Bühnengeschehen eingreifen. Einen solchen Effekt provo‐ zieren nicht zuletzt Performances oder Happenings. Man denke hier beispielsweise an die Involvierung sowie die Eingriffe seitens der Zuschauer während diverser Performances von Marina Abramovic. 372 Der Begriff des ‚Happenings’ verweist nicht zuletzt auf die Abwesenheit eines seman‐ tischen Komplements. Ein Happening passiert und generiert seine Bedeutung im Moment des Geschehens. 373 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-56. finden. Das Schwanken zwischen Realem und Illusion kommt einer Absage an die klassische Theaterästhetik gleich, die sich doch gerade durch eine eindeutige modale Grenzziehung auszeichnete. 370 Natürlich ist davon auszugehen, dass sich der Leser/ Zuschauer bei der Rezeption von Theatertexten, die sich bewusst an der Grenze zwischen Fiktion und Diktion bewegen, darüber bewusst ist, dass es sich nur um die scheinbare Aufgabe des Modus des Als-ob handelt, würde er doch andernfalls aus seiner ihm zugeordneten Zuschauerrolle fallen. 371 Dennoch erschwert dieses Vorgeben des Nicht-Mehr-Vorgebens, diese Illusion der Des-Illusion, die das Re-Präsen‐ tierte als Originäres präsentiert, welches auf nichts mehr verweist, sondern schlichtweg ist bzw. passiert 372 , eine eindeutige rezeptive Positionierung wie sie innerhalb der traditionellen Theatersituation des „A impersonates B while C looks on“ angenommen wird. Durch die Überwindung der modalen Differenz gelänge dem Theater die Illusion des Übergangs von theatralen zu nicht-theatralen, also faktualen Ver‐ anstaltungsformen. Diese These impliziert eine Ergänzung von Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Mit Blick auf schriftlose Kulturen nimmt Assmann an, dass drei Funktionen erfüllt sein müssen, um die einheitsstif‐ tenden und handlungsorientierenden Impulse des kulturellen Gedächtnisses zur Geltung bringen zu können: „Speicherung, Abrufung, Mitteilung, oder: poetische Form, rituelle Inszenierung und kollektive Partizipation.“ 373 Alle drei Funktionen sind auch der Aufführungssituation inhärent, was dem Me‐ dium Theater insbesondere in postdiktatorischen Gesellschaften, in denen die schriftliche Fixierung des Geschehenen nicht nur Zeit, sondern auch einen intensiven und konfliktiven Aushandlungsprozess erfordert, eine privilegierte erinnerungskulturelle Position einräumt. Nichtsdestotrotz unterscheidet sich das Theater aufgrund der apriorischen Annahme des Als-ob grundlegend von nicht-fiktionalen Veranstaltungen, die an Vergangenes erinnern. Eine offizielle Gedenkveranstaltung, bei der sich Erinnernde zusammenfinden, Redner von Bühnen sprechen und ein zeremonieller Ablauf einzuhalten ist, ähnelt struktu‐ 3 Materielle Repräsentation 165 <?page no="166"?> 374 Vgl. Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-41. rell theatralen Organisationsformen, sie kennen aufgrund der performativen Rede jedoch keine Trennung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Redner auf einer Gedenkveranstaltung gedenken tatsächlich, während eine Figur a priori über die Option verfügt, das Gedenken nur vorzugeben. Die strukturelle Kippbewegung zwischen einer mimetischen Vorgabe des Erinnerns und tatsächlichem Erinnern scheint beispielsweise durch einen Schauspieler, der seine Rolle ablegt und damit den Pakt des Als-ob aufkündigt, eingeleitet zu werden. Bei differenzierter Betrachtung ist jedoch zu berücksich‐ tigen, dass es sich hier nicht etwa um einen Wegfall des Modus des Als-ob handeln muss, sondern dass ebenso eine bewusst intendierte Illusion des Weg‐ falls des Modus des Als-ob denkbar ist. So geht nicht jede Form der Ansprache des Publikums (ad spectatores) mit einer Aufgabe des mimetischen Modus einher, auch wenn dadurch die dramatische Illusion (Geschehensillusion) ge‐ stört wird. Vielmehr kann es sein, dass es sich nur um einen vorgegebenen Moduswechsel handelt, in dessen Folge eine modale Unschlüssigkeit auf Seiten des Rezipienten ausgelöst wird. Statt ihre Rolle abzulegen, gibt eine Figur möglicherweise bloß vor, ihre Rolle abzulegen. In diesem Fall folgt auf das Aus-der-Sekundärrolle-Fallen die Übernahme einer Primärrolle, die nicht der biographischen Konkretheit des Schauspielers entspricht. Dieses Als-ob der Eigentlichkeit lässt den dramatischen scheinbar im le‐ bensweltlichen Raum aufgehen, was einen Wegfall des theatralischen Raums zu bedingen scheint. In diesem Moment würde die Theatervorstellung ihren hybriden Charakter verlieren, der, dies wurde bereits betont, darin besteht, dass die Veranstaltungssituation zwar wirklich, doch das, was dort veranstaltet wird, lediglich vorgegeben ist. 374 Das Veranstaltete würde einen Wechsel des Aussagemodus und damit einen Übergang vom Status der Re-Präsentation zur Präsentation bzw. der Präsenz eingehen. Der zeichenhafte Körper würde auf die Phänomenalität des Leibes reduziert. Doch der Rezipient weiß stets darum, dass der Verweis auf die Theatralität bzw. auf die Ebene der Darstellung (Hinweis auf Konstruiertheit des Dargestellten) nicht gleichbedeutend sein muss mit einer tatsächlichen Aufgabe des Als-ob, auch wenn dieser Verweis auf das Als-ob der dargestellten Vorgänge eine Durchbrechung der dramatischen Perspektive darstellt. Dramatisierung der Lebenswelt Die zweite Möglichkeit, die Illusion einer Überwindung des Darstellungsmodus des Als-ob herzustellen, besteht in der Integration des theatralischen Raums in 166 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="167"?> 375 Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-45. 376 Vgl. Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S. 17. „So gibt ihm die dramatische Ebene die Möglichkeit, das Geschehen aus der Sicht der dran beteiligten Figuren mitzuerleben. Diese binnenfiktionale Perspektive, an der der Zuschauer durch Illusion und Identifikation teilhat“, nennt Matzat eine dramatische Perspektive. den dramatischen Raum. Anders formuliert, in einer vermeintlichen Expansion des fiktionalen Raums, die dazu führt, dass der Raum der Rezipienten, der Theaterraum, vom dramatischen Raum eingespeist zu werden scheint. Matzat formuliert entsprechend: „[Es] ist festzustellen, daß dort, wo die dramatische Perspektive zu sehr in den Vordergrund tritt, die theatralische Perspektive gefährdet wird.“ 375 Genau wie im Fall der Unterminierung der semantischen Ebene und der damit einhergehenden Akzentuierung der materiellen Phänomenalität dessen, was sich auf der Bühne befindet, erfolgt auch hier eine vermeintliche Aufhe‐ bung der Grenze zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen. Die Illusion der Nicht-Existenz des theatralischen Raums und der damit einhergehende Wegfall des Modus des Als-ob erfolgt auch diesmal über eine Akzentuierung von Sub‐ stantialität; der vermeintliche Wegfall des Zeichencharakters des Dargestellten und die damit zurückgewonnene Originarität realisieren sich nun jedoch über eine entgegengesetzte Bewegung. Der in die Welt der Fiktion integrierte, zur Figur gewordene Rezipient wird ebenfalls mit der Unmittelbarkeit des sich Präsentierenden konfrontiert. Dies geschieht allerdings nicht aufgrund einer vermeintlichen Aufgabe des fiktionalen Aussagemodus, sondern durch die forcierte Immersion der Rezipienten und den dadurch etablierten Perspekti‐ venwechsel. Was eben noch Darstellendes war, ist nun, mit Gewinnung der Innenperspektive, Präsentierendes. Zwar geben die Schauspieler weiterhin vor, Figuren zu sein, die zu einer bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort bestimmte Handlungen vollführen, jedoch folgt aus der Einspeisung des Zuschauerraums vermeintlich eine Verschiebung der Grenze des Als-ob vom Übergang zwischen dramatischem und theatralischem Raum hin zum Übergang zwischen dramati‐ schem und lebensweltlichem Raum. Das, was sich innerhalb des Theaterraums ereignet, rückt damit unmittelbar an die Grenze zur Lebenswelt heran. Der theatralische Raum scheint als Zwischenraum zwischen dramatischer und lebensweltlicher Kommunikationsebene wegzufallen, die Zuschauer scheinen Teil des dramatischen Geschehens zu werden. Aufgrund dieser Verschiebung der Grenze zwischen Fiktion und Diktion ist das Sprechen von einem Als-ob innerhalb des dramatischen Raums nicht mehr möglich. Der Zuschauer, der nun innerhalb der Fiktion als konstitutives Element fungiert, kommt gewissermaßen nicht umhin, eine dramatische Perspektive 376 3 Materielle Repräsentation 167 <?page no="168"?> 377 Die muss er allein schon deshalb, weil er für den Handlungsverlauf des Dargestellten konstitutiv ist. Sein Wegfall würde die Gesamtkonzeption des Dramas unterminieren. einzunehmen. 377 Er rückt vielmehr in dieselbe Position wie der Schauspieler, denn in dem Moment, in dem er seine eigene Rolle thematisieren und in seine Eigentlichkeit zurückfallen würde, tut er dies nicht unter Bezugnahme auf die ihn umgebende fiktionale Welt, aus der heraus er spricht und handelt, sondern immer unter Bezugnahme auf ein Außerhalb des dramatischen Raums. Als lebensweltliche Individuen können die Rezipienten den Blick von außen wei‐ terhin simulieren, innerhalb der Fiktion und im Rahmen der ihnen auferlegten Rolle gelingt ihnen dies hingegen nicht, denn dort ist die Bewertung einer Rede als faktual nur aus der Innenperspektive der fiktionalen Welt und der auferlegten Rolle möglich. Die Faktualität der Aussage wird demnach nicht an der außersprachlichen Welt gemessen, sondern stets an ihrer Faktualität innerhalb der Fiktion. Wir kehren hier zurück zu Edward Casey und seinen Überlegungen zu den Kombinationsmöglichkeiten von Imagination und Erinnerung, produktiver und reproduktiver Einbildungskraft. Entscheidend für den modalen Charakter des Ausgesagten ist der endoxe Grund. Der Versuch des faktualen Sprechens innerhalb der Fiktion kann demnach nur bis zu den Grenzen des fiktionalen Raums reichen. Ein Sprechen “außerhalb“ ist nicht möglich, denn das faktuale Sprechen, das vom fiktionalen Sprechen “geschluckt“ wurde, muss den Gesetzen der neuen Umgebung gehorchen, einer Art Diskurs des Fiktionalen. Eine Re-Etablierung der Grenze zwischen dramatischem und theatralischem Raum ist durch den Zuschauer, dem eine fiktive Rolle zugeordnet wurde, nicht möglich, sondern diese baut sich erst dann erneut auf, wenn sich der dramatische Raum zurückzieht und den theatralischen Raum “herausgibt“. Erst durch die erneute Selbstvergewisserung des Zuschauers im zuvor in die Latenz gedrängten theatralischen Raum ist eine modale Neubewertung des Sprechens innerhalb der Fiktion als fiktionales Sprechen möglich. Durch die Immersion des Zuschauers und die illusionäre Integration des theatralischen im dramatischen Raum muss jedoch alles dort stattfindende Sprechen neu bewertet werden. Denn was vorher, von außen, als uneigentliche, mimetische Rede bezeichnet wurde, wird nach der Immersion des Zuschauers und dessen Figurwerdung zu eigentlichem Sprechen. Natürlich ist es auch innerhalb der Fiktion weiterhin denkbar, dass Figuren uneigentlich sprechen, beispielsweise, wenn sie innerhalb der Fiktion ein Theaterstück aufführen oder auf sonst auf irgendeine Art und Weise in eine Rolle schlüpfen. Die Frage danach, was als mimetisches und was als performatives Sprechen zu gelten hat, ist folglich eine Frage der Perspektive. 168 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="169"?> 378 Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-14. 379 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-181. Die Integration des Zuschauers in die Fiktion verändert den Zuschauerblick, der nun nicht mehr von außen erfolgt, sondern auf eine Innenperspektive beschränkt bleibt, die sich entsprechend zur Expansion des fiktionalen Raums verhält. Zwar kann der Zuschauer genau wie der Schauspieler sagen: „Ich habe eine Rolle in einem Theaterstück inne.“ Und deshalb ist strenggenommen sein Sprechen im dramatischen Raum - von außen (! ) betrachtet - ein uneigentliches. Doch nichtsdestotrotz bleibt jedes Sprechen aus der eingenommenen oder auferlegten Rollen heraus ein Sprechen auf Basis eines veränderten modalen Grunds, der den Blick von außen nicht zulässt, weil es für ihn kein außen gibt. Hamlet kann nicht sagen, dass er die Rolle des Hamlet innehat und deshalb nur vorgibt, so zu sprechen wie Hamlet. Dies kann nur der Schauspieler, der die Rolle des Hamlet ausfüllt. Ein Zuschauer, der mit der Immersion in die Fiktion eine fiktive Zuschauerrolle auferlegt bekommt, kann, obgleich seiner Doppelidentität, aus der fiktionalen Innenperspektive heraus keinen Blick von außen einnehmen und ist dementsprechend gezwungen, das Sprechen der Figuren zunächst als faktual zu interpretieren - genau wie dies Hamlet gegenüber den Aussagen eines Horacio tut. Ein diese Behauptungen stützendes Argument ist bei Wolfgang Matzat zu finden. Er hebt mit Blick auf die Unterscheidung zwischen dramatischem, theatralischem und lebensweltlichem Raum hervor, dass zwischen diesen drei Ebenen ein funktionaler Zusammenhang besteht, „da für die hierarchisch untergeordneten Ebenen jeweils die Ausblendung der übergeordneten Ebenen konstitutiv ist.“ 378 Diese Feststellung stützt die obigen Annahmen hinsichtlich der Unmöglichkeit, gleichzeitig innerfiktional zu sprechen und dieses Spre‐ chen aus außerfiktionaler Position zu bewerten. Dieses Nach-außen-Treten und Bewerten ist immer mit einer Aufgabe der auferlegten Rolle verbunden. Der Schauspieler, der Hamlet spielt, kann nach außen treten, nicht jedoch Hamlet selbst. Auch Hans-This Lehmann betont, dass das Theater eine Situation kreieren kann, in der man sich dem Wahrgenommenen nicht mehr einfach „gegenüber“ stellen kann. Stattdessen werden die Zuschauer am Geschehen beteiligt. Der Rezipient muss daher akzeptieren, „daß man, wie es Gadamer von der ‚Situation’ betont, so in ihr steht, daß man ‚kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann.“ 379 Beiden soeben beschriebenen Mechanismen zur Überwindung des Als-ob ist der illusorisch intendierte Wegfall des theatralischen Raums eigen, der entweder durch einen Zusammenfall der zuvor gültigen Kommunikationsebenen und 3 Materielle Repräsentation 169 <?page no="170"?> 380 Paul, Arno, „Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln“, in: Klier, Helmar (Hg.), Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstver‐ ständnis, Darmstadt 1981, S.-222. -räume oder die Integration des Rezipienten in den dramatischen Raum aus‐ gelöst werden kann. Die vorgegebene Löschung der modalen Grenze führt zudem dazu, dass ein endoxer Grund des performativen Sprechens auf den Zu‐ schauerraum ausgeweitet scheint, sei dies nun innerhalb der Fiktion oder nach deren vermeintlichem Wegfall. Das Sprechen der Figur/ des Schauspielers sowie das Sprechen des Rezipienten/ der Figur erhält damit scheinbar appellativen Charakter, die Aussagen unmittelbaren illokutionären Gehalt. Das intendierte Ausblenden des theatralischen Raums wird im Drama der Generación del 82 m. E. erinnerungskulturell ausgespielt, indem der in die Latenz abgedrängte theatralische Zwischenraum als Quelle rezeptiver Unschlüssigkeit fungiert - die Textanalysen werden das vor Augen führen. Die Unsicherheit des Rezipienten stellt sich somit nicht an der Grenze, sondern an einer Schwelle zwischen dramatischem und lebensweltlichem Raum ein. Diese strukturelle Schwelle, in der keine modale Eindeutigkeit (fiktional/ faktual) zu herrschen scheint, wird vom theatralischen Raum repräsentiert. In diesem Zwischenraum wird nicht einfach nur uneigentlich und eigentlich gesprochen, im Sinne nebeneinander stehender, sich ausschließender Aussagemodi. Vielmehr liegt das Potential der erinnerungskulturellen Phantastik darin begründet, dass es innerhalb dieses liminalen und anti-strukturellen Raums sein kann, dass uneigentlich eigentlich bzw. eigentlich uneigentlich gesprochen werden kann, anders formuliert, dass vorgegeben werden kann, nichts vorzugeben oder dass eine Figur vorgibt, etwas vorzugeben, in Wahrheit jedoch nichts vorgibt, sondern modal verschleierte Aussagen über die Welt trifft. Mit dem Zusammenbruch der Konvention des Als-ob scheinen auch die strukturellen Grundvoraussetzungen auf dem Spiel zu stehen, die das Theater zu Theater machen. So könnte die Annahme zumindest unter Rekurs auf die Theater-Definition Arno Pauls lauten: „Theater ist nur und nur das ist Theater, wenn in einer symbolischen Interaktion ein rollenausdrückendes Verhalten und von einem rollenunterstützenden Verhalten beantwortet wird, das auf der gemeinsamen Verabredung des ‚als-ob‘ beruht.“ 380 Doch gerade wenn rol‐ lenausdrückendes und -unterstützendes Verhalten aufgrund eines strukturellen 170 III ZUR DIALEKTIK ERINNERUNGSKULTURELLER RE-PRÄSENTATION <?page no="171"?> 381 Die dafür notwendigen Transgressionen zwischen dramatischer, theatralischer und lebensweltlicher Kommunikationsebene kennzeichnen die behandelten Texte allesamt als sujethaft im Sinne J.M. Lotmans und weisen sich somit als Versuche aus, durch eine Kontrastierung textinterner und -externer Ordnungsstrukturen und Wertsysteme mit der Welt in Beziehung zu treten. Vgl. Matzats Verknüpfung von Wolfgang Isers Konzept des ‚Repertoires’ mit J.M. Lotmans Sujetbegriff, auf dessen Basis er das Ereignis als Anlass interpretiert, das eine Interaktion textexterner und textinterner Normensysteme initiiert. Vgl. Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-21. Zusammenfalls ausgesetzt zu werden scheinen, vermag das Theater seine erinnerungskulturelle und somit ethische Wirkmacht auszuspielen. 381 3 Materielle Repräsentation 171 <?page no="173"?> IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER: DAS ERINNERUNGSKULTURELLE DRAMA VON JOSÉ SANCHIS SINISTERRA, JOSÉ LUIS ALONSO DE SANTOS UND IGNACIO AMESTOY EGIGUREN Die vorangehenden Kapitel bilden das theoretische Gerüst für die nun fol‐ gende Analyse ausgewählter Theatertexte des Postfranquismus. Der Erinne‐ rungskultur Spaniens nach 1975 näherte sich die vorliegende Studie unter Bezugnahme auf den politischen Transformationsprozess nach dem Tod Fran‐ cisco Francos. Primärtexte und Aussagen relevanter Akteure des Übergangs sowie die geschichtswissenschaftliche Forschung zum Umgang mit den Erin‐ nerungen an Diktatur und Bürgerkrieg nach 1975 führten zu der Annahme einer erinnerungskulturellen Wirklichkeit, die begrifflich mit der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen gefasst wurde. Diese Terminologie erlaubte es, auf die Diskrepanz zwischen dem systemisch-politischen Übergang von einem autoritären System hin zu einer Demokratie und dem sozialen, an die Subjekte geknüpften Transformationsprozess hinzuweisen. Dabei konnte herausgearbeitet werden, dass in postdiktatorischen Gesellschaften dem sys‐ temischen Vergessen die Unmöglichkeit des Verdrängens auf Subjektebene gegenübersteht. Der Blick auf die als transitorisch bezeichnete Generación del 82, deren ästhetische Sozialisation unter Franco und deren beruflicher Durchbruch als Neuerer des spanischen Theaters nach 1975 stattfand, veranschaulichte nicht nur die Unmöglichkeit des biographischen Ausblendens, sondern wies zudem auf den grundlegenden identitären Konflikt hin, der das Leben in einem scheinbar gedächtnislosen System auslöst. Die nun zu untersuchende Verarbeitung dieser Paradoxie vollzieht sich in der vorliegenden Studie auf zwei Ebenen, von denen die eine ästhetischer, die andere ethischer Natur ist. Während sich die Frage nach der ästhetischen Verarbeitung der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen primär auf den dramatischen Raum und damit auf die fiktionale Welt bezieht, verlangt die Untersuchung des ethischen Impetus der Generación del 82 die genaue Analyse der Techniken und Strategien, mit denen die Dramatiker die Rezipienten in einen performativen Akt des Erinnerns involvieren, dem sie sich nicht verwei‐ gern können. Auf welche Weise schreibt sich die Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen in den dramatischen Raum bzw. in die fiktionale Welt ein? <?page no="174"?> Anders gefragt, wie gelingt den ausgewählten Dramatikern der Generación del 82 die Ästhetisierung des erinnerungskulturellen Spannungsverhältnisses im postfranquistischen Spanien? In den vorangehenden Ausführungen wurde argumentiert, dass der Rückgriff auf phantastische Motive und Phänomene als geradezu natürlicher Reflex erscheint, zeichnet sich die erinnerungskulturelle Lebenswirklichkeit doch durch eine irreduzible Diskrepanz zwischen Anschau‐ ungen und Begriffen bzw. Erfahrung und Erwartung aus, die als Widerstand erlebt werden musste. Diese sowohl synchronistisch als auch diachronisch zu verstehende Diskrepanz, die in der Anwesenheit des Abwesenden bzw. der Abwesenheit des Anwesenden ihren gemeinsamen Nenner findet, birgt das Potential einer Irritation (hésitation) zwischen Intelligiblem und Sensiblem, zwischen Mentalem und äußerer sinnlicher Wahrnehmung. Innerhalb des dramatischen Raums, so die zu belegende These, wird die Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen auf zwei unterschiedliche Arten ästhetisiert, die mit dem Umgang mit destabilisierenden Erinnerungen an Diktatur und Bürgerkrieg seitens der politischen Akteure der systemischen Transition korrespondieren. Die Verhinderung einer semiotischen Manifestie‐ rung von Erinnerung wird innerhalb der fiktionalen Welt durch das Drängen des Immateriellen in die äußere Wahrnehmung und somit über eine innerfiktionale Spaltung des Zeichens ästhetisiert. Signifikate vollführen eine unmögliche Transgression, indem sie das Feld der Signifikanten betreten, ohne dabei durch eine materielle Seite komplettiert zu werden. Die Ermöglichung des Unmögli‐ chen, nämlich der momentanen Äußerlichkeit des Innerlichen, gelingt dank der Doppelstruktur des theatralen Zeichens, das sich dem Zuschauer als Signifikant offenbart, ohne dabei innerfiktional den Status des Signifikats aufgeben zu müssen. So wird das Aufzeigen des Nicht-Zeigbaren, des Verdrängten, des Intelligiblen im Rahmen der Fiktion möglich, ohne das diesem innerhalb der Fiktion der Status des Zeigbaren zugesprochen werden könnte. Die Unterminierung oder Schwächung von innerfiktional manifestierten Er‐ innerungsinhalten stellt die zweite Annahme im Hinblick auf mögliche Ästhe‐ tisierungsformen der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen im dramatischen Raum dar. Durch einen intendierten oder erzwungenen Wechsel des Aussagemodus büßen bereits durch Signifikanten manifestierte Signifikate ihren illokutionären Gehalt und folglich ihren faktualer Anspruch als Aussage über die Welt ein, selbst wenn es sich dabei um eine fiktionale Welt handelt. Das innerfiktionale Abkippen des performativ intendierten Erinnerns in den Modus des mimetischen Erinnerns entzieht dem Ausgesagten den illokutionären Gehalt. Die Analyse der Ästhetisierungsformen der erinnerungskulturellen Para‐ doxie dient zugleich als Ausgangspunkt für die Untersuchung der ethischen 174 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="175"?> 382 Eduardo Pérez-Rasilla Bayo macht die Gründe für den großen Publikumserfolg an folgenden Aspekten fest: „[…] por la solidaridad y la simpatía ingenua de su personaje femenino, por la entrañable, nostálgica y paupérrima estética del espectáculo […] y por la reivindicación de la memoria histórica propuesta por el dramaturgo, que se oponía al olvido y a la negación del pasado que había impuesto la transición política.“ Vgl. Pérez-Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S.-2859. 383 Sanchis Sinisterra, zit. n. Monleón, José: „Un teatro para la duda“, in: Primer Acto, 240 (1991), S.-136. 384 Vgl. Aznar Soler, „Introducción“, S. 39. Überraschenderweise nennt Aznar Soler an anderer Stelle das Teatro de la Plaza in Barcelona als Ort der Uraufführung, ebenfalls im Jahr 1987.Vgl. hierzu Aznar Soler, Manuel: „Grenztheater als Metatheater. José Sanchis Wirkmacht des erinnerungskulturellen Theaters der Generación del 82. Wie bereits erwähnt, soll herausgearbeitet werden, inwiefern die Ästhetisierung des paradoxen Verhältnisses zwischen Vorstellung und Wahrnehmung zugleich den Weg ebnet, um die intendierte Aufführung an der Grenze zwischen Repräsen‐ tation und Präsentation auszurichten. Der Weg der Analyse führt also von der Auseinandersetzung mit der ästhetischen Einarbeitung erinnerungskultureller Ambivalenz zu der Frage, auf welche Weise die analysierten Theatertexte dank ihrer ästhetischen Besonderheiten zu performativen Akten des kulturellen Gedächtnisses werden bzw. inwiefern in der dramatischen Darstellung des Ver‐ drängens immer schon die Möglichkeit eines Aktes des gemeinsamen Erinnerns auf theatralischer Ebene angelegt ist. 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 1.1 Ästhetische Reduktion - José Sanchis Sinisterras Teatro Fronterizo Fünfzig Jahre nach dem Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs schrieb José San‐ chis Sinisterra mit ¡Ay, Carmela! (1986) ein Stück wider das kollektive Vergessen und formulierte damit eine Kritik am defizitären Umgang der spanischen Politik sowie der Öffentlichkeit mit dem schweren Erbe der Vergangenheit. 382 Damit po‐ sitionierte sich der 1940 in Valencia geborene Dramatiker und Regisseur deutlich gegen den offiziellen Erinnerungsdiskurs, gegen eine „conmemoración ‘light’, decafeinada“ 383 , dessen Prägung sich in der bereits zitierten Rede des damaligen sozialistischen Präsidenten Felipe Gonzalez anlässlich des 50. Jahrestags zu erkennen gab. Das Stück, das ein Jahr nach Fertigstellung, am 5. November 1987, im Teatro Principal de Zaragoza uraufgeführt wurde 384 , gehört in eine Reihe von Dramen, 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 175 <?page no="176"?> Sinisterras Teatro Fronterizo: von Ñaque bis ¡Ay, Carmela! “, in: Floeck, Wilfried (Hg.), Spanisches Theater im 20. Jahrhundert. Gestalten und Tendenzen, Tübingen 1990 (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, 6), S.-236. 385 Vgl. Pérez-Rasilla Bayo, „El teatro desde 1975“, S. 2858; sowie Ragué-Árias, María José: El teatro de fin de milenio en España: (de 1975 hasta hoy), Barcelona 1996, S.-172. 386 Vgl. Ragué-Arias, El teatro de fin de milenio, S.-169. 387 Informationen zum Teatro Fronterizo und dem im Jahr 2010 gegründeten zweiten Taller, dem Nuevo Teatro Fronterizo in Madrid, finden sich unter http: / / www.nuevoteatrofro nterizo.es/ . 388 Fondevila, Santiago: „Sanchis Sinisterra: ‚El teatro no es un círculo cerrado’“, in: El público, 67, 1989, S.-43. 389 Ragué-Arias, El teatro de fin de milenio, S.-169. in denen sich Sanchis Sinisterra explizit mit historischen Ereignissen sowie dem Umgang mit diesen auseinandersetzt. Neben ¡Ay, Carmela! gehören Terror y misèria en el primer franquisme (1976), die Trilogía americana (El retablo de Eldorado; Lope de Aguirre, traidor; El naufragio de Álvar Nuñez) (1996) sowie El cerco de Leningrado (1995) in diese Gruppe erinnerungskultureller Texte. 385 Geprägt durch das experimentelle Teatro independiente war sich Sanchis Sinisterra schon früh der politischen Relevanz des Mediums Theater bewusst. Die gängige Bezeichnung als „hombre de teatro“ 386 muss deshalb vor allem auf seine Vielseitigkeit in Bezug auf seine dramatische und theatrale Arbeit verstanden werden und nicht etwa als bewusst eingenommene Distanz zu den ihn umgebenden politischen, ökonomischen und kulturellen Geschehnissen. Sich dem seichten Teatro burgués, dem franquistischen Unterhaltungstheater, entgegenstellend, definiert Sanchis Sinisterra das Theater als Kommunikati‐ onsmedium, das Reflexionsräume eröffnet. Im Manifest des 1977 ins Leben gerufenen Teatro fronterizo 387 betont er die kritische Funktion des Mediums: „[…] el teatro no es un círculo cerrado, un ‘ghetto’, sino que debe estar en conexión ya no con la realidad más objetiva sino con todo lo que ocurre en el mundo del arte, del pensamiento, y en ese sentido nunca me he conformado con ser un hombre de teatro.“ 388 Die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen schließt bei Sanchis Sinisterra das eigene Medium konsequenterweise mit ein. Dement‐ sprechend zeichnen sich viele seiner Stücke durch den Einsatz metatheatraler und metafiktionaler Reflexionen aus 389 , die häufig dazu dienen, die Wahrneh‐ mungsgewohnheiten der Rezipienten zu unterlaufen, um sie auf diese Weise zu einer kognitiven Stellungnahme gegenüber dem Dargestellten herauszufordern: 176 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="177"?> 390 Sanchis Sinisterra zit. n. Floeck, Wilfried: „Juego posmoderno o compromiso con la realidad extraliteraria? El teatro de José Sanchis Sinisterra“, in: Fritz, Herbert/ Pörtl, Klaus (Hgg.), Teatro contemporáneo español posfranquista. Autores y tendencias, Berlin 2000, S.-54. 391 Vgl. Aznar Soler, „Grenztheater als Metatheater“, S.-233. „[…] yo intento hacer un teatro en el que el espectador tenga que completar. El mío es un teatro de sugerencias, de insinuaciones.“ 390 Sanchis Sinisterra sieht das Theater als Überlebensort für Randständiges, Ausgegrenztes und Tabuisiertes. Das Teatro frotenrizo wurde für ihn zum ästhetischen Labor, in dem er die Grenzen der Theatralität sowie der Textualität erforschen konnte. Einhellig wird in der Forschungsliteratur auf die bemer‐ kenswerte Kohärenz zwischen Theorie und Praxis in den Stücken des Teatro fronterizo sowie im Gesamtwerk von Sanchis Sinisterra hingewiesen. 391 Neben der Ausreizung formaler Grenzen rückte der Taller ebenso marginalisierte Themen, Räume, Kultur(en) und Figuren in den Fokus. Dies belegt folgender Auszug aus dem Manifest der Theatergruppe: Hay territorios en la vida que no gozan del privilegio de la centralidad. Zonas extremas, distantes, limítrofes con lo Otro, casi extranjeras.- Aún, pero apenas propias.- Áreas de identidad incierta, enrarecidas por cualquier vecindad.- La atracción de lo ajeno, de lo distinto, es allí intensa.- Lo contamina todo ésta llamada.- Débiles pertenencias, fidelidad escasa, vagos arraigos nómadas.- Tierra de nadie y de todos.- […] Hay gentes radicalmente fronterizas.- Habiten donde habiten, su paisaje interior se abre siempre sobre un horizonte foráneo. Viven en un perpetuo vaivén que ningún sedentarismo ocasional mitiga y, además de la propia, hablan algunas lenguas extranjeras.- Se trata, generalmente, de aventureros frustrados, de exploradores más o menos inquietos que, sin renegar de sus orígenes, los olvidan a veces.- […] Hay una cultura fronteriza también, un quehacer intelectual y artístico que se produce en la periferia de las ciencias y de las artes, en los aledaños de cada dominio del saber y de la creación.- Una cultura centrífuga, aspirante a la marginalidad, aunque no a la marginación, que es a veces su consecuencia indeseable, y a la exploración de los límites, de los fecundos confines.- 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 177 <?page no="178"?> 392 Sanchis Sinisterra, José: „El Teatro fronterizo. Manifiesto,“, in: ders., Ñaque. ¡Ay, Carmela! , Madrid 14 2010, S.-267. 393 Vgl. Fernández Ariza, „La memoria en el teatro de la transición democrática“, S. 217-230. 394 Vgl. Floeck, Wilfried: Spanisches Gegenwartstheater (1). Eine Einführung, Tübingen 1997, S. 115: „Auch er [Sachnis Sinisterra] ist ein wahres Theatertier, dessen Leben seit seiner frühen Jugend ausschließlich dem Theater gewidmet ist. Auch er ist von der marxistischen Gesellschaftstheorie und dem Einfluss Brechts geprägt, und auch er hat seine Theaterarbeit stets als subversive Tätigkeit gegen das Franco-Regime und als Alternative zum bürgerlichen Theatermodell verstanden, ohne jedoch das Theater dabei als politisches oder ideologisches Propagandainstrument einzusetzen und ohne jeden missionarischen Überzeugungseifer. Auch er hat seine ersten Theatererfahrungen in studentischen Gruppen und im Umfeld des Unabhängigen Theaters erworben […] Auch er schreibt ein modernes aktuelles Theater […]. Wie Alonso de Santos […] leidet auch Sanchis Sinisterra seit den achtziger Jahren unter dem Zusammenbruch geschlossener Referenzsysteme, ohne deshalb seine eigene ideologische Herkunft abzuschütteln und seine Sympathie für linke Utopien zu verraten.“ Sus obras llevan siempre el estigma del mestizaje, de esa ambigua identidad que les confiere un origen a menudo bastardo. […] Hay -lo ha habido siempreun teatro fronterizo.- Íntimamente ceñido al fluir de la historia, la Historia, sin embargo, lo ha ignorado a menudo, quizá por su adhesión insobornable al presente, por su vivir de espaldas a la posteridad. También por producirse fuera de los tinglados inequívocos, de los recintos consagrados, de los compartimentos netamente serviles a sus rótulos, de las designaciones firmemente definidas por el consenso colectivo o privativo. 392 Einmal auf die Bühne gebracht, kann Ausgegrenztes oder Verdrängtes erneut in Kontakt zur Lebenswelt treten statt sich den Rezipienten in einem Guckkasten zu präsentieren. 393 Die Fiktion zieht bei Sanchis Sinisterra keinen Trennstrich zwischen Welt und Bühne, sondern sie ist Versprachlichungsmodus innerhalb einer Welt, in der sich Ausschließungs- und Verdrängungsmechanismen nicht zuletzt durch die Verfügung über oder den Entzug von Zeichen vollziehen lassen. Der Gestus seines Werks ist dabei eher der des Aufzeigens und Reflektierens statt der des Belehrens. 394 Die Besinnung auf die Kernelemente des Theatralen gehen bei Sanchis Sinisterra nicht selten mit einer Reduktion von Bühnendekor, dem Verzicht auf aufwendig konstruierte Wechsel zwischen verschiedenen Bühnenbildern sowie mit dem Auftreten weniger Personen einher. Diese mediale und inszenatorische Besinnung ist bei Sanchis Sinisterra nicht nur formales Experiment, sondern gleichermaßen eine Befreiung des Theaters von Ideologie, sie mündet in der Akzentuierung der Sprache, der dialektischen Aushandlung von Positionen und, nicht zuletzt, in der Aktivierung des Zuschauers, der bewusst geschürten 178 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="179"?> 395 Beil, Ulrich Johannes: „Kants Gespenster. Anthropologische und mediale Grenzobjekte in der Aufklärung“, in: IASL, 39,2 (2014), S.-446. Zweifeln und semantischen Leerstellen zu begegnen hat. Die Rückführung des Theaters auf seinen Nullpunkt ist geradezu mit einer phänomenologischen Reduktion theatraler Ästhetik in Beziehung zu setzen, durch die ein neues Theater, ein Theater nach Franco, erst möglich wird. Die Erforschung unterschiedlicher Grenzbereiche durch das Teatro Fronterizo geht konsequenterweise mit einer Beschäftigung der Transgression, des Grenz‐ übertritts, einher. Als paradigmatisches Motiv der Transgression ist sicherlich auch die Wiederkehr aus dem Reich der Toten zu bezeichnen, um die es nun im Hinblick auf den Theatertext ¡Ay, Carmela! gehen wird. Seinen figuralen Aus‐ druck findet diese Form der Transgression in der Gespenstererscheinung. Der Philosoph Ulrich Beil formuliert entsprechend: „Andererseits kann das Gespenst als Grenzobjekt gelten, weil mit ihm notorisch Diskursgrenzen überschritten werden.“ 395 Gespenster dienen seit jeher als Substitute für Verdrängtes, Tabui‐ siertes oder vergessen Geglaubtes. Unter Rekurs auf Kant und Derrida wurde bereits aufgezeigt, dass sich das Gespenstermotiv gerade in historischen Phasen, die durch das Wirken einer starken institutionellen bzw. instrumentellen Vernunft gekennzeichnet sind, eignet, um das dem diskursiven Exorzismus zum Opfer Gefallene metaphorisch zu fassen. Eine solcher Rückgriff auf das Gespenstermotiv ist sicherlich auch in transitorischen Phasen im Anschluss an Diktaturen nicht verwunderlich, bietet es doch eine mögliche Ästhetisierungs‐ form destabilisierender, und deshalb ausgeschlossener Erinnerungsinhalte. Man denke nur an die bereits zitierte Textstelle von Adorno aus seinem 1959 gehaltenen Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. Das Aus‐ klammern destabilisierender Erinnerung in postdiktatorischen Gesellschaften erklärt sich aus einer systemischen Vernunft heraus, deren implizites Streben nach Stabilisierung zunächst über das subjektive Bedürfnis des Erinnerns und damit über die intersubjektiv-identitäre Vergewisserung gestellt wird. Diese Praxis weist sicherlich Analogien zur Vernunftphilosophie des 18. Jahrhunderts auf, die das Spektrale und Spiritistische aus der Wissensordnung verbannen wollte und den Fortschrittsgedanken (Blumenberg) entgegen der Rück- und Jenseitsorientierung vorangehender Epochen pries. Das in die Latenz verschobene, bedrohliche Wissen und Sprechen verliert durch seine Marginalisierung jedoch nicht seine Existenz, sondern droht jeder‐ zeit als Unheimliches in das Feld der Wahrnehmung zurückzukehren. Es ist in der Welt, jedoch absent, und gerät damit zur paradoxen und potentiell unheimlichen Figur: 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 179 <?page no="180"?> 396 Beil, Kants Gespenster, S.-443. Gerade dieses Schwanken zwischen Wissen und Nicht-Wissen scheint zur philoso‐ phischen Signatur des Gespenstes zu gehören, einer paradoxen Figur, die sich in dem Male, in dem man sich ihr anzunähern glaubt, auch wieder entzieht. Einer Figur des Zwischen - oszillierend zwischen Schrecken und Faszination, Immanenz und Transzendenz, Körper und Geist, Ereignis und Wiederholung, Anwesenheit und Abwesenheit, Leben und Tod. 396 Shakespeares Theatertext Hamlet gehört sicherlich zu den meistzitierten Bei‐ spielen, wenn es um Gespenstererscheinungen geht. Es wurde mit Blick auf dieses Beispiel bereits darauf verwiesen, dass die theaterwissenschaftliche Un‐ tersuchung der Rezeption von Gespenstern meist monoperspektivischer Natur ist. Die Kennzeichnung von Gespenstern als leere Hüllen, die für einen abwe‐ senden Referenten stehen, macht die spektrale Figur zum Zeichen, das an die Stelle für etwas physisch Abwesendes oder Vergangenes tritt. Der Wiederkehrer im Drama Hamlet verfügt sowohl über eine intersubjektiv wahrnehmbare Materialität - er wird von mehreren Figuren gesehen - als auch über ein Signifikat, in diesem Fall die Vorstellung von Hamlets Vater. Verlustig gegangen ist der Referent, dessen tragisches und durch einen Komplott eingefädeltes Ableben Grund für dessen Wiederkehr als Un-Toter ist. Die durch den Mord an Hamlets Vater aus den Fugen geratene Zeit wird erst über die Anhörung dessen, was nicht zur Anhörung bestimmt ist, sowie über einen Akt korrektiver Gerechtigkeit wieder ins Lot gerückt. Erst durch die Wiederherstellung der Ordnung reetabliert sich die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Sein und Schein. Die Wiederkehr der Toten in José Sanchis Sinisterras Drama ¡Ay, Carmela! Elegía de una guerra civil en dos actos y un epílogo (1986) ist allerdings gänzlich anderer Natur und kann mithilfe der formulierten Annahme der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen sowie mit den Ausführungen zur Phänomenologie der Erinnerung bzw. des Gedächtnisses in Beziehung gesetzt werden. 180 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="181"?> 1.2 Die Grenze zwischen Semantik und Materie - Die Spaltung des Zeichens im dramatischen Raum - 1.2.1 Traum? Rausch? Oder Wunder? Positionen zu Carmelas Wiederkehr aus dem Jenseits Einhellig wird in der Forschungsliteratur auf die komplexe Raum- und Zeit‐ struktur des Dramas verwiesen. Die innerfiktionalen Geschehnisse werden nicht chronologisch präsentiert, sondern auf unterschiedlichen, wechselnden und sich teils sogar durchdringenden Fiktionsebenen verortet. Dargestellt wird die Geschichte von Carmela und Paulino, eines liierten Künstlerduos, das sich während des spanischen Bürgerkriegs mit seinen „Variedades a lo fino“ versehentlich von der republikanischen in die franquistische Besatzungszone verirrt, dort verhaftet und schließlich gezwungen wird, eine abendliche Thea‐ tervorführung im Teatro de Goya in der von den Franquisten besetzten Stadt Belchite vorzubereiten und durchzuführen. Die beiden Protagonisten zeichnen sich durch politische Ignoranz - diese hat sie in das Dilemma gebracht hat - und das mittelmäßige künstlerische Niveau ihres Repertoires aus, das vornehmlich populäre, teils anzügliche und derbe Varieté-Nummern sowie pathetische Lyrik- und Gesangseinlagen beinhaltet. Trotz ihrer biographischen und ästhetischen Schlichtheit sind sie Schauspieler mit Herzblut und einem Mindestmaß an Ansprüchen. So kommt es, dass während der Vorbereitungen für die Gran Velada das mangelnde Dekor sowie die unbefriedigende Garderobe mehr Anlass zur Beschwerde über ihre Situation geben als der Umstand, für franquisitsche Propagandabelange herhalten zu müssen; die Aufführung findet nämlich an‐ lässlich der “Befreiung“ der Stadt Belchite von den Republikanern statt und ist somit in das historische Milieu im Jahr 1938, wenige Tage nach der blutigen Schlacht am Ebro, eingebettet. Die Gran Velada soll den franquistischen Soldaten einen würdigen Rahmen für die Feierlichkeiten liefern, zu der selbst General Francisco Franco anwesend ist. Gleichzeitig sind die Ränge mit Gefangenen der Internationalen Brigaden gefüllt, für die die Aufführung eine Art “letzte Gnade“ darstellen soll. Dieser makabre Scherz ist Ausgangspunkt für die am Ende des Spiels im Spiel stattfindende Katastrophe, die Erschießung Carmelas auf offener Bühne. Denn während der letzten von zahlreichen Varieté-Nummern, einer vulgären Verunglimpfung der republikanischen Flagge, stimmen die anwesenden Brigadisten das republikanische Truppenlied „La batalla del Ebro an“, dessen Refrain die zum Dramentitel gewordene Zeile „Ay, Carmela“ in sich trägt. Mehr aus Empathie denn aus politischem Ethos solidarisiert sich die nackte, zuvor lediglich mit der republikanischen Flagge umhüllte Carmela mit den rebellierenden Gefangenen und stimmt in das Schlachtlied ein. Noch 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 181 <?page no="182"?> bevor Paulino die Situation mit einer Furznummer retten kann, wird Carmela, die mit entblößter Brust und in die Farben der Aufständischen gehüllt zur allegorischen Anspielung auf Eugène Delacroix’ 1830 fertiggestelltes Gemälde La liberté guidant le peuple wird, durch einen Schuss aus dem Zuschauerraum getötet. Die Handlung des Dramas setzt wenige Tage nach dem Theaterabend ein und präsentiert den einsamen, leicht angetrunkenen Paulino auf der Bühne des Teatro de Goya, dem Schauplatz der Katastrophe. Als Dekor dienen lediglich ein alter Plattenspieler samt einer Schallplatte mit Liedern des Varieté-Abends sowie eine halb verbrannte republikanische Flagge. Als stumme Zeugen erin‐ nern sie an das Verbrechen, dem Carmela zum Opfer gefallen ist. Die zu Beginn des Dramas etablierte Situation ist Ausgangsebene für die mehrmalige Wiederkehr der toten Carmela aus dem Jenseits. Gleichermaßen werden die auf dieser Ausgangs- oder Gegenwartsebene zu verortenden Situationen durch die Präsentation der zurückliegenden Gran Velada unterbrochen, die den Zuschauer nachträglich über die Geschehnisse und damit über die Erschießung Carmelas in Kenntnis setzt. Dass diese Informationsvergabe in Form eines Spiels im Spiel szenisch und nicht narrativ, d. h. aus der Perspektive eines erzählenden Paulino aus der Gegenwart geschieht, liefert bereits einen ersten Hinweis auf den Umgang Paulinos mit den Geschehnissen. Der Umstand, dass Paulino das Zurückliegende nicht explizit artikuliert und der Zuschauer somit auf einen Wechsel der Fiktionsebenen angewiesen sind, um das Verhalten Paulinos auf der Gegenwartsebene einordnen zu können, zeigt, wie Sanchis Sinisterra seine erinnerungskulturelle Kritik bereits in der Dramenstruktur anlegt. Während sich der erste Akt durch das stete Oszillieren zwischen dem einsamen Paulino, der Wiederkehr der toten Carmela sowie den Vorbereitungen des Theaterabends charakterisiert, dominiert die Gran Velada, d. h. die Thea‐ teraufführung vor den Truppen sowie den Gefangenen, den zweiten Akt. Der Epilog ist dagegen vornehmlich durch den Dialog zwischen Paulino und der toten Carmela bestimmt. Paulinos Angepasstheit sowie seine unwürdige Haltung werden am Ende des Dramas dadurch gesteigert, dass er, mit dem blauen Hemd der Falange bekleidet, die Bühne fegt. Die Wiederkehr Carmelas aus dem Reich der Toten scheint sich auf den ersten Blick einer eindeutigen Lesart zu verweigern, denn die Frage nach der Struktur und der Relationierung der Fiktionsebenen des Dramas wird in der Forschungsliteratur entweder nicht explizit behandelt und damit hinter inhalt‐ liche Aspekte zurückgestellt oder unterschiedlich beantwortet. Da diese Frage von entscheidender Relevanz hinsichtlich der Besprechung der strukturellen Besonderheit der vermeintlichen Gespenstererscheinung ist, sollen bestehende 182 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="183"?> 397 Vgl. Stenzel, Hartmut: Einführung in die spanische Literaturwissenschaft, Stuttgart 2 2005, S.-256. 398 Stenzel, Einführung, S.-255. Positionen knapp erläutert und im Hinblick auf eine eigene Interpretation brauchbar gemacht werden. Findet die Strukturfrage eigens Erwähnung, so sprechen die Interpretinnen und Interpreten meist von zwei oder drei Fiktionsebenen. Herbert Fritz geht beispielsweise von „dem Nebeneinander und der Überlagerung von drei Fik‐ tionsebenen“ aus, die jeweils durch theatrale Zeichen sowie die Anzahl der beteiligten Personen markiert sind. In einer Grafik veranschaulicht er seinen Ansatz 397 : Fiktionsebene Fiktionaler Status Beteiligte Personen Markierung der Fiktionsebene durch theatralische Zeichen F1 Realitätsebene (Ausgangsebene) Paulino Paulino in unordentlicher Alltagskleidung, dekorati‐ onslose Bühne, schwaches Probenlicht F2 Erinnerungsebene Carmela und Paulino Carmela in andalusischem Kostüm, gleißendes Büh‐ nenlicht F3 Carmela aus dem Jenseits Carmela und Paulino Wie F1 + Carmela in schlichtem Straßenkleid Seines Erachtens geben die Kleidung, die Verwendung des Bühnenlichts sowie die beteiligten Figuren Hinweise auf die Ebenenwechsel. Die Ebene der Wie‐ derkehr der toten Carmela (F3) trennt er dementsprechend von einer Erinne‐ rungsebene (F2), die eindeutig durch differierende theatrale Zeichen markiert ist. Ebenso unterscheidet er sie aufgrund der unterschiedlichen Anzahl der beteiligten Personen von der Ebene F1, der Realitätsbzw. Ausgangsebene. Diese Trennung begründet er jedoch nicht, wie anzunehmen wäre, durch die Wiederkehr der Toten und damit durch einen Einbruch des Phantastischen: „Die dritte Fiktionsebene (F3) schließlich […] zeigt uns die bereits tote Carmela, die aus dem Jenseits zurück kommt und Paulino von dort berichtet. F3 hat aber in seiner theatralischen Realisierung nichts Phantastisches an sich […].“ 398 Stenzel verweist stattdessen auf die „realistische Wirklichkeitskonstitution“, die er unter anderem am Verhalten der Figuren, an der Alltagssprache sowie an der Kleidung festmacht. 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 183 <?page no="184"?> 399 Sandner, Rowena: „‚Theater des Gedächtnisses’: José Sanchis Sinisterras Stück ¡Ay, Carmela! zwischen Gedächtnis und Erinnerung“, in: Erll, Astrid u. a. (Hgg.), Literatur - Erinnerung - Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien, Trier 2003 (= ELCH, 11), S.-312. 400 Sandner, „Theater des Gedächtnisses“, S.-312. 401 Sandner, „Theater des Gedächtnisses“, S.-312. Auch Rowena Sandner geht in ihrer Interpretation von drei Fiktionsebenen aus. Von einer Realitätsebene unterscheidet sie eine „Erinnerungsebene“ und eine „Vergangenheitsbzw. Gedächtnisebene“. Anders als bei Fritz bezieht sich der Terminus „Erinnerungsebene“ bei Sandner nicht auf den Abend der Thea‐ teraufführung, sondern auf die Wiederkehr Carmelas. Sandner rechtfertigt diese Bezeichnung zum einen damit, dass „Carmela nur deshalb aus dem Totenreich zurück[kommt], weil sie sich an Paulino erinnert (CARMELA: Es que de pronto me he acordado de tí.).“ 399 Zum anderen werden „nicht nur die individuellen Erinnerungen Carmelas und Paulinos dargestellt, sondern es werden auch allgemein Erinnerung, Vergessen und die Unterschiede zwischen Diesseits und Jenseits thematisiert.“ 400 Der Ebene der zeitlich vorausgehenden Gran Velada kommt hingegen der Terminus der „Vergangenheits- und Gedächtnisebene zu“, da sie „die damalige Bedrohung durch das Franco-Regime vergegenwärtigt und damit zur Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses beiträgt.“ 401 Zusätzlich nimmt Sandner eine „vierte, ‚reale’ oder ‚halb-fiktive’ Zeitebene“ an, mit der sie die rezeptionsästhetischen Effekte des Spiels im Spiel begrifflich zu fassen versucht. Die Überlagerung einer fiktiven und einer realen Zuschauerrolle, die mit der differierenden Zeitlichkeit sowie der Einbeziehung des Publikums in die Fiktion einhergeht, scheint nach Ansicht Sandners die Etablierung einer weiteren Ebene zu rechtfertigen. Zwei weitere Einordnungsversuche liefern Kristina Jensen (2007) und Anabel García Martínez (2016). Beide gehen von drei Fiktionsebenen aus, wobei sie die Wiederkehr der toten Carmela als „nivel irreal de ficción“ ( Jensen) bzw. als „nivel de la irrealidad“ (García Martínez) kennzeichnen. Richtigerweise verweisen sie auf die durch theatrale Zeichen markierte, strukturelle Verbindung zwischen dem alleine auf der Bühne befindlichen Paulino und den Momenten der Wie‐ derkehr der Toten; weder das Bühnenlicht noch die Kleidung ändern sich. Nichtsdestotrotz veranlasst sie die Präsenz des vermeintlich Unerklärlichen bzw. innerfiktionalen „Fiktiven“ auf der Ausgangsebene dazu, eine weitere Unterteilung der Fiktionsebenen vorzuschlagen. Marcela Beatriz Sosa spricht in ihrer den Werken José Sanchis Sinisterras gewidmeten Dissertation von einem „plano sobrenatural“ und steht damit in ihrer Interpretation den Auffassungen Jensens und García Martínez nahe. 184 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="185"?> 402 In Anlehnung an die von Karin Vieweg-Marks vorgeschlagene Typologie des Meta‐ dramas könnte das thematische vom fiktionalen Metadrama unterschieden werden. Auf diese Unterscheidung wird in der vorliegenden Studie ausführlicher einzugehen sein. Vgl. Vieweg-Marks, Karin, Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, Frankfurt a. M. 1989 (= Literarische Studien, 1). 403 Hüttmann, Andrea: Die Ästhetik der Geschichte: das zeitgenössische historische Drama Spaniens im Spannungsfeld zwischen Sinn und Spiel, Tübingen 2001 (= Mainzer For‐ schungen zu Drama und Theater, 25), S.-257. 404 Hüttmann, Ästhetik der Geschichte, S.-263. Dem „plano sobrenatural“ stellt sie einen „plano ‘real’“ an die Seite, auf dem Paulino wenige Tage nach der Gran Velada zu verorten ist, sowie einen „plano ficcional del arte“, die Ebene also, auf der die Theateraufführung von Franquisten und gefangenen Brigadisten evoziert wird. Alle drei Ebenen bezeichnet sie als „planos metateatrales“, ohne diese jedoch in einer genaueren Analyse zu benennen bzw. zu kategorisieren. 402 Anders als Fritz, Sandner, Jensen oder García Martínez geht Andrea Hütt‐ mann von zwei Fiktionsebenen aus, nämlich von der von Stenzel als „Realitäts‐ ebene“ bezeichneten sowie einer Erinnerungsebene, die die Rekonstruktion der Gran Velada (Stenzels Erinnerungsebene) sowie die Wiederkehr der toten Carmela gleichsam auf einer Stufe subsumiert. Zu dieser Auffassung gelangt Hüttmann, weil sie davon ausgeht, dass sowohl der Theaterabend als auch das Sprechen mit der wenige Tage zuvor erschossenen Carmela auf einer Traumebene zu verorten sind. Der Rezipient erhält gewissermaßen Einblick in die Gedanken- und Vorstellungswelt des schlafenden, träumenden oder trunkenen Paulino: Die Tatsache, daß Carmela ihm auf dieser Fiktionsebene [der Augangsebene] Besuche aus dem Reich des Todes abstattet, spricht indessen dafür, daß er dies im Schlaf, also in Form eines Traums, oder im Wachzustand, möglicherweise in Form eines Tagtraums, macht. Im Gespräch nun stellen die beiden Figuren immer wieder Beziehungen zwischen den verschiedenen zeitlichen Ebenen her, wobei in besonderem Maße darüber gesprochen wird, wer sich überhaupt und wenn ja, woran erinnern kann, wie erinnert wird bzw. wen und was man in der Gegenwart und in der Zukunft zu erinnern hat. 403 Hüttmann relativiert ihre Annahme jedoch, wenn sie darauf hinweist, dass „nie wirklich klar wird, ob Paulino die inszenierte Erinnerung an die Gran Velada in einem Schlaf- oder Wachzustand träumt oder ob er sich frei zwischen den nebeneinander geschalteten unterschiedlichen Fiktions- und Zeitebenen bewegen kann.“ 404 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 185 <?page no="186"?> In der Folge soll mithilfe der theoretischen Annahmen zur Ästhetisierung der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen nicht nur der Versuch unternommen werden, bestehende Interpretationsansätze zu ergänzen, sondern es soll ebenso auf deren Unschärfen hingewiesen werden, die sich aus einer teils ungenauen Verwendung gedächtnistheoretischer Termini sowie der man‐ gelnden Trennschärfe zwischen den phänomenologischen Begriffen ‚Noesis’ und ‚Noema’ ergeben. - 1.2.2 Die Wiederkehr als Ästhetisierungsform des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen Ausgehend von den bestehenden strukturellen Einordnungen der Wiederkehr der toten Carmela soll an dieser Stelle ein eigener Ansatz präsentiert werden. Die leitende Frage lautet dabei: Auf welche Weise fungiert die Wiederkehr innerhalb des dramatischen Raums als eine mögliche Ästhetisierungsform der Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen? Um einen möglichst unverfänglichen Zugang zur Analyse der Fiktionsebenen und damit zur Analyse der Wiederkehr zu finden, soll zunächst zwischen einer Gegenwarts- und einer Vergangenheitsebene unterschieden werden. Diese zeitlich orientierte Vorgehensweise führt folglich zur Annahme von zwei zu differenzierenden Ebenen und ermöglicht, wie zu zeigen sein wird, eine Präzisierung der in den bestehenden Interpretationen teils ungenau gebrauchten Termini ‘Erinne‐ rung/ Erinnern’, ‘Gedächtnis’, ‘Vergessen’ oder ‘Verdrängung/ Verdrängen’. Die Annahme von zwei statt drei Fiktionsebenen lässt sich nicht nur mit Blick auf die erwähnte Verwendung der theatralen Zeichen rechtfertigen, sondern ermöglicht zudem eine mit dem erinnerungskulturellen Impetus des Stücks korrespondierende Distinktion einer Ebene des Erinnerten, auf der die vergangenen Geschehnisse präsentiert werden (Vergangenheitsebene), und einer Ebene des Erinnerns bzw. Verdrängens, auf der bzw. von der aus es um den Umgang mit diesen Geschehnissen geht (Gegenwartsebene). Die Rückführung auf die Zeitlichkeit erspart die irreführende Frage nach der Kopplung der Fiktionsebenen mit dem innerfiktionalen ontologischen Status des Dargestellten und ermöglicht des Weiteren einen präziseren Gebrauch des Erinnerungsbe‐ griffs. Diese Präzisierung impliziert die Trennung des Erinnerungsinhalts vom Akt des Erinnerns, denn Noema und Noesis scheinen aufgrund des Suffixes -ung im Begriff der ‚Erinnerung’ zu verschmelzen. Der Akt des Erinnerns muss zwangsläufig rückwärtig erfolgen, also aus einer Gegenwart heraus, unabhängig davon, ob diese nun bereits selbst vergangen ist oder nicht, und unabhängig davon, ob es sich um eine willkürliche oder unwillkürliche Form 186 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="187"?> 405 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass uniwillkürliches Erinnern keinesfalls mit der Wiederkehr des Verdrängten gleichgesetzt werden darf. Während das unwill‐ kürliche Auftauchen einer Erinnerung nicht zwangsläufig negative Affekte zur Folge hat, wird Verdrängtes gerade deshalb verdrängt, weil es diese auslöst. des Erinnerns handelt. 405 Das Erinnerte bzw. Verdrängte wiederum meint das einmal im sinnlich-empirischen Raum Gewesene, das sich nun durch das Spannungsverhältnis zwischen faktischem Anspruch (In-der-Welt-Sein) und materieller Abwesenheit charakterisiert. Das Erinnerte und das Verdrängte haben denselben Inhalt, obgleich die Begriffe auf den differierenden Umgang mit diesem hinweisen. Demzufolge bedeutet die Annahme von zwei Ebenen nicht, dass die vorlie‐ gende Studie Hüttmanns Ansatz, der ebenfalls von zwei Ebenen ausgeht, Folge leistet. Dieser wird bereits durch den Verweis auf die bewusst platzierten theatralen Zeichen in Frage gestellt. Die Annahme, sowohl der Theaterabend als auch die Wiederkehr aus dem Reich der Toten sei auf einer gemeinsamen (Tag-)Traumebene zu verorten, wird durch die Zeichenverwendung konterka‐ riert. Außerdem ist die Subsumierung dieser Situationen innerhalb eines Traums problematisch - darauf weist Hüttmann nachträglich selbst hin -, weil der Status der Toten bis zuletzt fraglich bleibt, also weder als reines Hirngespinst Paulinos noch als äußerlich von Paulino wahrnehmbares Gespenst erklärt werden kann. Zum anderen lässt dieser Ansatz die bewusst intendierte Unter‐ minierung der Grenze zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen Intelligiblem und Sensiblem, außer Acht. Gerade dieses transgressive Moment, das Offenhalten der Grenze zwischen Innen und Außen, gilt es jedoch zu genauer zu betrachten und für eine Interpretation der Wiederkehr der toten Carmela zu prüfen. Unter dem Terminus ‘Gegenwartsebene’ sollen in der Folge sowohl die Si‐ tuationen subsumiert werden, in denen sich Paulino alleine, in Alltagskleidung bzw. blauem Hemd auf der Bühne befindet, als auch die Situationen, in denen er in einen Dialog mit der toten Carmela tritt. Beide Situationsklassen sind über ihre Zugehörigkeit zur innerfiktionalen Gegenwart und damit über ihren Aus‐ sagewert bezüglich des gegenwärtigen Umgangs mit Vergangenem verbunden. Es wird davon abgesehen, die Wiederkehr Carmelas als „Erinnerungsebene“ zu bezeichnen, wie dies beispielsweise Sandner oder Aznar Soler tun. Denn auch wenn die tote Carmela auf dieser Ebene das Erinnern an Paulino als Grund für ihre Wiederkehr angibt („Es que de pronto me he acordado de tí…“), so handelt es sich lediglich um einen Erinnerungsakt, nicht jedoch um die szenische Evozierung des Erinnerten. Es ist jedoch ein bedeutender Unterschied, ob gegenwärtiges Handeln als Konsequenz einer Erinnerung erklärt wird, 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 187 <?page no="188"?> 406 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-198f. oder, ob in der Tat Erinnertes inszeniert wird. Vielmehr unterstreicht die Feststellung, dass das Erinnern der Grund von Carmelas Rückkehr ist, die zuvor formulierte Annahme, dass es auf der Gegenwartsebene einzig um den Umgang mit den zeitlich vorausgehenden Geschehnissen geht, also um das durch die Vergangenheit bestimmte Handeln der Figuren in der Gegenwart. 1.2.2.1 Tote(n)gedenken - Jenseitiges Erinnern als diesseitiges Verdrängen Die Beschreibung der Wiederkehr der toten Carmela als „Erinnerungsebene“ ist noch aus einem weiteren Grund kritisch zu prüfen. Denn Carmela scheint zwar durch einen Akt des Erinnerns zur Wiederkehr bewegt, doch kann sie sich im ersten Akt überhaupt nicht an die Geschehnisse der Gran Velada erinnern: PAULINO. Por cierto, ¿los has visto? CARMELA. ¿A quién? PAULINO. A los de la otra noche… CARMELA. ¿A quién de la otra noche? PAULINO. A los milicianos de la otra noche… (Señala un lado de la sala.) Los que estaban aquí, presos… CARMELA. ¿Presos? PAULINO. Sí, los prisioneros… ¿No te acuerdas? Los que iban a… CARMELA. ¿Qué noche? PAULINO. La otra noche, aquí, cuando hicimos la función… CARMELA. ¿Qué función? PAULINO. La función de… ¿Es posible que no te acuerdes? CARMELA. De muchas cosas no me acuerdo, a veces… Se me van, me vienen… 406 Carmela ist eine unwillkürliche, unerwartete und, wie zu zeigen sein wird, eine unverfügbare Erscheinung und konfrontiert den Überlebenden nicht mit dem Verdrängten/ Nicht-Erinnerten selbst, sondern mit den damit zusammen‐ hängenden Schuldgefühlen in der Gegenwart. Gleich diesem rekurriert und basiert ihre Existenz auf Gewesenem, wobei sich Carmela genau wie ein Affekt oder eine Emotion durch ihr Dasein in der Gegenwart charakterisiert. Dieses Dasein ist nicht materieller Natur, sondern basiert auf dem intelligiblen Bezug auf das Gewesene. Folglich ist sie weder reine Erinnerung noch reine Phantasie, gleichwohl sie weder anwesend noch abwesend ist und ihr weder Faktizität noch Fiktivität zuzuordnen sind. Sie ist nicht Erinnertes, weil Erinnertes ein Gewesensein voraussetzt, das die Repräsentation dieses Gewesenen ermöglicht. 188 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="189"?> Die wiederkehrende Carmela ist jedoch nicht zeitlich zu verstehende Re-Präsen‐ tation. Ebensowenig ist sie Ausgeburt der reinen Phantasie, ist ihr Dasein doch ohne ihr faktisches Gewesensein innerhalb der Fiktion nicht zu erklären. Genau wie wiederkehrendes Verdrängtes und die dadurch ausgelösten Affekte ist auch sie ein gegenwärtiges Phänomen, das nicht Abbild der Vergangenheit ist, sondern Konsequenz. Ihr zu Beginn der Handlung festzustellender Gedächtnis‐ verlust und ihre damit verbundene, vorläufige Distanz zu den zurückliegenden Geschehnissen bekräftigen die sich vor diesem Hintergrund als schlüssig erwei‐ sende Einordnung der Wiederkehrerin auf der Gegenwartsebene. Als gegenwärtiges Resultat des Verdrängens von Gewesenem bewegt sie sich gleichwohl zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Passivität Paulinos, die durch Carmelas Ausspruch „Es que de pronto me he acordado de tí…“ akzentuiert zu werden scheint, ist m. E. jedoch nicht Ausdruck der Erinne‐ rungsfähigkeit der Toten, sondern die ästhetische Verkehrung des Verdrängens seitens Paulinos. Anders gewendet, das Erinnern der toten Carmela ist nichts anderes, als eine metaphorische Verdrehung des Verdrängens durch die noch lebende Figur. Paulino ist Patiens des Erinnerungsaktes (hacer memoria) durch Carmela und gleichermaßen Agens des eigenen Verdrängens. Die Annahme Sandners, die Wiederkehr der toten Carmela könne als „Erinnerungsebene“ bezeichnet werden, kann mithilfe der Unterscheidung zwischen den Akten des Erinnerns und des Verdrängens neu perspektiviert werden. Der verdrängende Geist Paulinos (lat. mens) wird zum erinnernden “Geist“ namens Carmela (lat. spectrum). Die Wiederkehr ist somit eine Konfrontation mit affektiven und emotionalen Konsequenzen, deren Auslöser die eigenen, in die Latenz des Intelligiblen gedrängten Erinnerungen sind. Der Akt des Verdrängens durch den Lebenden wird im Drama Sanchis Sinisterras als Akt des Erinnerns durch die Tote ästhetisiert. Der Text liefert Beispiele, um diese These zu untermauern. Die Versuche Paulinos, die Wiederkehr der toten Carmela aktiv zu initiieren, sind allesamt zum Scheitern verurteilt. Dieses Scheitern Paulinos gründet sich auf der Unmög‐ lichkeit des paradoxen Handlungsvorhabens: Verdrängtes hört auf, Verdrängtes zu sein, sobald es erinnert wird. Dass “erinnertes Verdrängtes“ zu Erinnertem wird, wird an keiner Stelle so deutlich im Drama verarbeitet, wie zu Beginn des zweiten Aktes, als es zu einer Überlagerung der Gegenwarts- und der Ver‐ gangenheitsebene kommt. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Fiktionsebenen scheitert zunächst die Kommunikation zwischen den beiden Figuren. Das Phänomen des memorialen double bind, also der aussichtslose Versuch Paulinos, Verdrängtes ohne den Akt des Erinnerns in die Gegenwart zu integrieren, wird hier zum strukturgebenden Moment: 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 189 <?page no="190"?> PAULINO. […] Y si vuelvo de vez en cuando a este teatro, no es para que nadie juegue conmigo a hacer magia barata, ni a los fantasmas, ni a… (Brusca transición. Grita, casi implorante.) ¡Carmela! ¡Ven, Carmela! ¡Como sea, pero ven! ¡De truco, o de mentira, o de teatro…! ¡Me da igual! ¡Ven, Carmela! … (La escena se ilumina bruscamente, como al final del Primer Acto, y vuelve a sonar el mismo pasodoble: «Mi jaca». Pero esta vez, además, entra CARMELA con su vestido andaluz y un gran abanico, desfilando y bailando garbosamente. PAULINO, tras el lógico sobresalto, reacciona con airada decepción y se retira, muy digno, al fondo. Queda allí de espaldas, con los brazos cruzados; evidentemente, de mal humor. CARMELA ejecuta su número sin reparar en él hasta que, a mitad de la pieza, la música comienza a descender de volumen —o a reducir su velocidad—, al tiempo que la luz de escena disminuye y el baile se extingue. Queda, finalmente, una iluminación discreta, y CARMELA, en el centro, como ausente, casi inmóvil, en truncada posición de baile. Silencio. PAULINO se vuelve y la mira. Sigue irritado, no directamente con CARMELA.) Demasiado, ¿no? … CARMELA. (Como despertando.) ¿Qué? PAULINO. No era preciso tanto, caramba… CARMELA. ¿Tanto, qué? PAULINO. Tampoco hay que exagerar, me parece a mí… CARMELA. Ay, hijo: no te entiendo. PAULINO. (Parodiándose a sí mismo.) ¡Carmela, ven, ven…! Y, ¡prrrooom! ¡Tarará, ta, ta! ¡Chunta, chunta…! (Remeda levemente la entrada de CARMELA.) Vaya manera de… Ni que uno fuera tonto… ¡Carmela, ven, ven…! Y prrrooom… Qué vulgaridad… Y uno se lo tiene que tragar, y darlo por bueno, y apechugar con lo que venga, como si tal cosa… CARMELA. (Que, evidentemente, no entiende nada, algo molesta ya.) Bueno, Paulino: ya me dirás qué vendes… PAULINO. No, si tú no tienes la culpa, ya lo sé… CARMELA. ¿La culpa? ¿De qué? PAULINO. De nada, Carmela, de nada… Tú, bastante haces, pobre… Ahora aquí, ahora allá… Que si viva, que si muerta… CARMELA. Mira que te lo tengo dicho: no abuses del conejo. PAULINO. ¿Qué? CARMELA. Siempre te sienta mal. Y peor con los nervios de antes de empezar. PAULINO. ¿De qué hablas? CARMELA. ¿A quién se le ocurre merendarse un conejo entero, a menos de dos horas de una función que ni Dios sabe cómo nos va a salir? Pero no dirás que no te he avisado: «Para, Paulino, que el conejo es muy traidor, y se te va a indigestar y tú, cuando vas 190 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="191"?> 407 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-224-226. 408 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S. 227. Diese Textstelle wird a. a. O. erneut als Beispiel dafür dienen, um auf die Macht der Signifikanten hinzuweisen, Bedeutung zu determinieren. mal de las tripas, ya no das pie con bola…». Pero tú: «Que no, Carmela, que el comer bien me da aplomo…». Y ya ves… ¿Qué te notas? ¿Mareos, fiebre? (Le toca la frente.) PAULINO. No me noto nada… Estoy perfectamente… […] 407 Erst nach einigen Repliken setzt sich die Vergangenheitsebene, d. h. die Ebene des Erinnerten, gegen die von Paulino erfolglos evozierte Wiederkehr der toten Carmela auf der Gegenwartseben durch: PAULINO. (Que, durante el diálogo, ha ido «ingresando» paulatinamente en la situación definida por CARMELA.) Secos o mojados, lo principal es no apocarse, hacer de tripas corazón y echarle toda el alma a la cosa… 408 Das paradoxe Vorhaben Paulinos, Verdrängtes als Verdrängtes zu erinnern, zeugt von seinem Wunsch, das Geschehene ungeschehen zu machen, die Wogen der Gegenwart durch einen Ausschluss des Vergangenen zu glätten. Die Dramenstruktur verwehrt Paulino jedoch die Erfüllung dieses Wunsches, enden seine Versuche, das Unvergessliche ohne jeden Rückbezug auf die Ver‐ gangenheit in die Gegenwart zu integrieren, doch gerade in der Evozierung der Vergangenheitsebene, und damit im Erinnern. Zu Beginn des Dramas, genauer, kurz nach dem ersten Erscheinen der toten Carmela scheint Paulino hinsichtlich seines Wunsches, Carmela aktiv zu ihm zurückzubringen, die Evozierung der Vergangenheitsebene noch willentlich in Kauf zu nehmen: CARMELA. Sí, espérame… (Sale por donde entró. Se apaga la luz blanquecina.) PAULINO. (Habla hacia el lateral, sin atreverse a seguirla.) Te espero aquí, ¿eh, Carmela? Aquí mismo… Ni moverme… Hasta que vuelvas. Y no te vayas a olvidar, que tú… (Gesto de despiste.) Y más ahora, recién muerta… (Piensa.) Recién… Pero, entonces, ¿cómo es posible que…? Porque yo no estoy borracho… (Se palmea la cara. Mira el escenario, luego la sala, y otra vez el escenario, recorriéndolo. Se detiene ante la zona del lateral por donde entró y salió CARMELA: parece que quiere inspeccionar la salida, pero no se atreve. Le asalta una idea repentina y comienza a actuar precipitadamente: toma la garrafa de vino y la deja en un lateral, fuera del escenario; hace lo mismo con la gramola y la bandera. Arreglándose el traje y el pelo, limpia con los pies la suciedad del suelo y se coloca en el proscenio, frente el público. Una vez allí, cierra los ojos y aprieta los puños, como deseando algo muy intensamente, y por fin adopta una actitud de risueño 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 191 <?page no="192"?> 409 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-198f. presentador. Cuando parece que va a hablar, descompone su posición, mira la luz de ensayos y sale por un lateral. Se escucha el «clic» del interruptor y la luz se apaga. Tras una breve PAUSA, a oscuras, entra de nuevo y se coloca en el centro del proscenio, gritando hacia el fondo de la sala: ) ¡Cuando quiera, mi teniente! ¡Estamos dispuestos! (Silencio. No ocurre nada. Vuelve a gritar: ) ¡Adelante con la prueba de luces, mi teniente! 409 Durch seine Vorstellungskraft gelingt es der Figur Paulino, die Dramenstruktur zu seinen Gunsten zu determinieren. Angetrieben vom Wunsch, die gerade eben abgegangene Carmela zu ihm zurückholen, initiiert er einen Wechsel der Fiktionsebenen. Dafür räumt er zunächst die theatralen Zeichen beiseite, die die Gegenwartsebene markieren, d. h. die Karaffe, den Plattenspieler sowie die republikanische Flagge, eine selbstanzeigende Geste, die weniger drama‐ tisch-inhaltlichen als dramaturgisch-inszenatorischen Zweckmäßigkeiten folgt. Anschließend schafft er mithilfe mentaler Anstrengung („…aprieta los puños, como deseando algo muy intensamente”) tatsächlich einen Raum, in dem das Erscheinen Carmelas möglich wird. Dieses Erscheinen kann jedoch nicht auf der Gegenwartsebene stattfinden, sondern verläuft strukturgemäß über die Evozierung der Vergangenheitsebene. Die mentale Aktivität Paulinos verwehrt ihm das Erinnern des Verdrängten als Verdrängtes und damit die willentliche Auflösung dieser Paradoxie. Eine weitere Textstelle sei im Hinblick auf die hier formulierte These her‐ ausgehoben. Kurz vor Ende des ersten Aktes, als die tote Carmela aufgrund von ihr vernommener Explosionen im Jenseits von der Bühne abgeht, um eine zweite Ermordung der toten Brigadisten abzuwenden, prallt Paulino, der ihr folgen möchte, an einer unsichtbaren Wand ab. Diese für ihn nicht zu durchbrechende Mauer, die das Diesseits vom Jenseits zu trennen und kurzzeitig mit der räumlichen Distinktion zwischen on-stage und off-stage gleichgesetzt werden kann, lässt Paulino zurück auf die Bühne stürzen. Der unsichtbare Wall repräsentiert die unüberwindliche strukturelle Grenze des Unvereinbaren, die jedem Paradoxon inhärent ist. Der schmerzhafte Aufprall Paulinos weist nicht nur auf die Unmöglichkeit der Transgression aufgrund seines ontologischen Status als Lebender hin, sondern zudem auf die vexierbildähnliche Kippbewe‐ gung zwischen den Akten des Verdrängens und Erinnerns. Sanchis Sinisterra lässt seine Figur die Unvereinbarkeit paradoxer Handlungstendenzen körperlich spüren: CARMELA. Ellos están allí… No huyen… se quedan quietos… andan despacio… se paran… ¡Van a matarlos otra vez! 192 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="193"?> 410 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-221. 411 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-221f. (Bruscamente se desprende de PAULINO y sale corriendo por la zona iluminada del fondo.) PAULINO. ¡Carmela, no…! (Sale tras ella, pero al punto vuelve a entrar, como impulsado por una fuerza violenta que le hace caer al suelo. La luz blanquecina se apaga.) ¡Carmela! (Intenta incorporarse, pero está como aturdido y, además, se ha lastimado una pierna.) ¡Carmela, vuelve! ¡Vuelve aquí! ¡Me he roto una pierna! ¡Estoy herido, Carmela! ¡Me he roto…! (Pero comprueba que no es cierto y se pone en pie, aún ofuscado. Camina cojeando y vuelve a gritar, con menos convicción.) ¡… una pierna! ¡No puedo andar, Carmela! … ¡Te necesito! ¡No puedes dejarme así! ¡Me he quedado cojo! … 410 Besonderes Augenmerk verdient die Tatsache, dass auch dieser misslungene Versuch der aktiven Evozierung des Verdrängten in der Evozierung der Ver‐ gangenheitsebene aufgeht. Die Wehklagen des gestürzten Paulinos werden durch gleißendes Bühnenlicht und den pasadoble „Mi jaca“, die musikali‐ sche Unterstützung für eine der auf der Vergangeheitsebene aufgeführten Varieté-Nummer, unterbrochen. (De pronto, la escena se ilumina brillantemente, al tiempo que comienza a sonar a todo volumen el pasodoble «Mi jaca». PAULINO, asustado, se inmoviliza, mira las luces y también la sala. Se frota los ojos, se tantea la cabeza y, antes de que salga de su estupor, cae rápido el TELÓN). 411 Das Ende des ersten Aktes bekräftigt somit die formulierte Annahme, dass Paulino als Erinnernder nur die Vergangenheitsebene evozieren kann, jedoch aufgrund der strukturellen Unmöglichkeit nicht in der Lage ist, die Verarbeitung der Ereignisse ohne Vergangenheitsbezug zu vollziehen. Findet Carmela den Weg zu ihm, so erscheint sie unwillkürlich. Jeder aktive Zugang zu Carmela führt über den Pfad der schmerzhaften Erinnerung an ihre Ermordung. Die Verortung der Akte des Erinnerns wie auch des Verdrängens auf der Gegenwartsebene sowie ihre Unterscheidung von den Inhalten des Erinnerten bzw. Verdrängten erlaubt es somit, die Wiederkehr aus dem Jenseits erinne‐ rungskulturell zu perspektiveren. Paulinos Konflikt zwischen Erinnerung und Verdrängung entspricht der zu Beginn dieser Studie dargelegten Problematik des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen. Die paradoxe Gleichzeitigkeit findet ihren ästhetischen Ausdruck u. a. in der Überlagerung der Fiktionsebenen, d. h. der Gegenwarts- und der Vergangenheitsebene. Die Wiederkehr der toten Carmela kann als ästhetische Einschreibung des paradoxen Spannungsverhält‐ 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 193 <?page no="194"?> 412 Sachnis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-210. 413 Sachnis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-211. nisses zwischen dem Feld des Subjektiv-Intelligiblen und Intersubjektiv-Wahr‐ nehmbaren verstanden werden. Das gegenwärtige Verhalten Paulinos, das sich im Stück zunehmend durch eine Haltung des Nicht-Erinnerns charakte‐ risiert, korrespondiert nicht mit seinem schmerzhaften Bedürfnis sowie der identitären Notwendigkeit des Erinnerns. Einerseits übersteigt das traumatische Ereignis (Anschauung) jede Möglichkeit der mentalen Einordnung (Begriffe), andererseits ergibt sich aus dem daraus resultierenden Verdrängungsprozess eine irreduzible Diskrepanz zwischen Erfahrenem und zu Erwartendem. Das Nicht-Erinnern des Unvergesslichen äußert sich schließlich in einer Paulino nicht gefügigen Realität (Blumenberg), genauer, im Auftreten eines Signifikats im Feld der Signifikanten. Abschließend sei eine letzte Textstelle genannt, die sich durch eine Ironisie‐ rung der Verkehrung des Verdrängens und Erinnerns auszeichnet. Bei ihrer zweiten Wiederkehr stößt Carmela auf den schlafenden Paulino - eine Textstelle die a. a. O. genauere Betrachtung findet. Kurz darauf führt sie eine Art emotio‐ nalen Selbsttest durch, in dem sie prüft, welche Affekte der Lebenden ihr noch zur Verfügung stehen. CARMELA. […] (Queda pensativa.) ¡Qué raro! … Ya casi no puedo sentir envidia, ni rabia, ni… (Se concentra y se esfuerza.) ¡Doña Antoñona, cara de mona! ¡Don Melitón, amo cabrón! … (Se «ausculta» en busca del sentimiento correspondiente.) Muy poco, casi nada… ¿Y pena? A ver… (Se concentra.) ¡No te vayas, Mamanina! ¡No pongas esa cara! ¡Abre los ojos, cierra la boca…! (Se «ausculta».) Bueno, sí: aún me queda pena… ¿Y miedo? (Se concentra.) ¡Los civiles! ¡Que vienen los civiles! ¡Todos al barranco, deprisa! … (Se «ausculta».) No, de miedo, nada… ¿Y de… aquello? (Mira a PAULINO, se concentra.) ¡Dale, Paulino, no te pares! ¡Dale, dale, más…, ahora…! (Se «ausculta».) Psche… No gran cosa… 412 Ihre Enttäuschung, die sich aus ihrer Erinnerung an die positiven Affekte ergeben, bewegen sie zu einem scheinbar beiläufigen Ausspruch, der erst vor der Folie der angenommenen Verkehrung des Verdrängungs- und Erinnerungs‐ aktes sein interpretatorisches Gewicht entfalten. Wie der (Über-)Lebende die Erinnerungen an den Tod Carmelas verdrängt, so rät sich die Tote, die schönen Erinnerungen an das Leben zu verdrängen: CARMELA. Y basta, Carmela. Agua que no has de beber… Más te valdrá ir olvidando las cosas buenas, para que no se te coma añoranza… 413 194 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="195"?> 1.2.2.2 Carmela als Allegorie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich die Frage, inwiefern die von García Martínez und Jensen eingeführte Annahme einer „Ebene des Irrealen“ dem in dieser Studie angenommenen Verwirrspiel zwischen Sein und Schein gerecht wird, stellt doch der Begriff des ‘Irrealen’ die Wiederkehr Car‐ melas unweigerlich in Opposition zum Realen. Diese Dualität birgt allerdings die Gefahr, Sanchis Sinisterras Spiel mit dem Liminalen, dem Zwischenraum zwischen Existenz und Nicht-Existenz, von vornherein aus der Interpretation auszuschließen bzw. einem ontologischen Binarismus zum Opfer fallen zu lassen. Entgegen der terminologisch bedingten Verortung der Wiederkehr der Toten in das Feld des Irrealen behält sich García Martínez jedoch die Möglichkeit auf eine Auseinandersetzung mit der Frage bei, inwiefern das inhaltliche und formale Ausreizen ontologischer Grenzen nicht doch zu perzeptiver Uneindeu‐ tigkeit führt und damit phantastisches Potential entfaltet. Unter Verweis auf die von Todorov beschriebene hésitation zwischen dem Wunderbaren und dem Unheimlichen nimmt sie in der toten Carmela und dem lebenden Paulino jeweils Repräsentanten des einen oder anderen Feldes an, woraus sich wiederum eine ungeklärte Gleichzeitigkeit von Wunderbarem und Unheimlichem auf der Bühne einstellt. Während Carmela von der Möglichkeit des Wunderbaren überzeugt scheint, sucht Paulino nach rationalen Erklärungen für das Auftau‐ chen der Toten („PAULINO. No es posible… (Por la garrafa.) Si no he bebido casi…“). Die hésitation scheint damit zur Basis des Dialogs zwischen Paulino und der toten Carmela zu werden. Das Theater fungiert dabei als Motor, der die gleichzeitige Präsenz rationaler und nicht-rationaler Erklärungen und differierender innerfiktionaler Seinsweisen, nämlich Sein und Gewesensein, zulässt. Die dramatische - und, wie a. a. O. zu zeigen sein wird, auch die theatrale - Darstellung der erinnerungskulturellen Realität des Postfranquismus geht folglich mit dem Erleben von Widerstand bzw. Irritation einher, sowohl aus Figurenwie auch aus Rezipientenperspektive. Dieser Widerstand erwächst m. E. jedoch nicht aus der ontologischen Opposition real-irreal, sondern aus der Unterminierung der Grenze zwischen Materiellem und Immateriellem bzw. Sensiblem und Intelligiblem. Damit wird der bereits formulierten Behauptung Folge geleistet, die das materielle Nichts, das Immaterielle, als existent sowie als Quelle für Bedeutung versteht. Die Feststellung des Drängens des Intelligiblen aus seiner verordneten Latenz in den Bereich der (innerfiktionalen) sinnlich-empirischen Wahrneh‐ mung darf hingegen nicht dazu führen, das Intelligible mit dem Irrealen gleichzusetzen. Vielmehr entsteht das phantastische Potential der Wiederkehr 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 195 <?page no="196"?> 414 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-224. der toten Carmela aus einer Uneindeutigkeit zwischen existenter Innerlichkeit und äußerer Wahrnehmung. Dementsprechend ist die Wiederkehr weder als „irreales“ Phänomen innerhalb der innerfiktionalen Welt noch als Repräsen‐ tation „de lo maravilloso“ im Gegensatz zu Paulinos Vernunftsbeteuerungen zu benennen, sondern als Möglichkeit der ästhetischen Darstellung der erinne‐ rungskulturellen Realität im Postfranquismus, in dessen Lebenswirklichkeit das Phantastische sowie Groteske eingeschrieben zu sein scheint. Der Innerlichkeit des Subjekts wird auf diese Weise eine ontologische Daseinsberechtigung erteilt, die unabhängig von sinnlich-empirischer Materialität ist. Eine Replik Paulinos zu Beginn des zweiten Aktes verdeutlicht Sanchis Sinisterras Konzeption des Theaters als Ort, dem diese Form der Transgression, die nicht nur die Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein in Frage stellt, sondern ebenso zwischen Intelliglem und Sensiblem, strukturell inhärent ist: PAULINO. […] Y si vuelvo de vez en cuando a este teatro, no es para que nadie juegue conmigo a hacer magia barata, ni a los fantasmas, ni a… (Brusca transición. Grita, casi implorante.) ¡Carmela! ¡Ven, Carmela! ¡Como sea, pero ven! ¡De truco, o de mentira, o de teatro…! ¡Me da igual! ¡Ven, Carmela! … 414 Besonderes Augenmerk verdient die Reihung „¡De truco, o de mentira, o de teatro…! ”. Durch die Koordination der drei verwendeten Substantive wird bereits auf syntaktischer Ebene eine semantische Gleichsetzung der Begriffe suggeriert, die im Kern die in dieser Studie analysierte Uneindeutigkeit zwischen Intelligiblem und Sensiblem in sich trägt. Die Öffnung des Binarismus zwischen Imagination und Sinnlich-Empirischem gelingt durch eine Trias, die das Theater als Raum der Verschränkung zu ermöglichen scheint. Während die Trias zu Beginn der Replik noch elliptisch ist („[…] para que nadie juegue conmigo a hacer magia barata, ni a los fantasmas, ni a…“), gelingt ihre Komplettierung am Ende. Das „teatro“ scheint die Begriffe „truco“ und „mentira“ zu versöhnen, stehen diese doch konzeptionell in Opposition zueinander. Denn während sich der „truco“, die Ausführung eines Tricks oder einer Täuschung, im Rahmen der lebensweltlichen Gesetzmäßigkeiten vollzieht, und damit dem Feld des Erklärbaren zuzuordnen ist, weist die etymologische Wurzel der „mentira“ auf den Geist (lat. mens) und damit auf das Feld des Intelligiblen zurück. Die Lüge ist Unwahrheit, Negation der Wahrheit, und somit Ergebnis der Imagination. Zusätzlich zu seinen beiden ersten Erklärungsansätzen, die das Erscheinen Carmelas als Folge von trickreicher Täuschung wie auch als Folge von imaginärer Täuschung deklarieren, bietet Paulino einen dritten Ansatz 196 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="197"?> 415 Aznar Soler, „Introducción“, S.-66f. 416 Aznar Soler sprich vom „teatro como escenario de la memoria y de la ficción“; vgl. Aznar Soler, „Introducción“, S.-71. 417 Zit. nach Aznar Soler, „Introducción“, S.-68 (FN 99). an, der am Sinnlich-Empirischen und am Intelligiblen orientierte Denkmuster zusammenführt. Wie in einem hybriden Raum lässt das Theater das Unverein‐ bare gemeinsam auftreten, der Ort der Fiktion wird zum Ort, an dem sich Wahrnehmung, Vorstellung und Fiktion versschränken. Ohne der binaristischen Gegenüberstellung des Mentalen und der äußeren Wahrnehmung Beachtung zu schenken, weißt Manuel Aznar Soler in seinem Vorwort zu ¡Ay, Carmela! auf das „red de dualidades“ hin, dass Sanchis Sinisterra in seinem Stück erst konstruiert, um es anschließend in Frage zu stellen. Fiel a su convicción dramatúrgica de que nada sea ni unívoco ni unidimensional, Sanchis Sinisterra estructura la obra a través de una red de dualidades que […] afecta no sólo al argumento (elementos realistas o verosímiles y elementos fantásticos o inverosímiles), sino también al tiempo y al espacio, a los personajes y al público. […] Estas oposiciones duales no son, sin embargo, rígidas ni irreductibles, pues la vida y la muerte se parecen, los tiempos se entremezclan como también los públicos, lo real y lo ficcional, el humor y el patetismo. 415 Die theatrale Fiktion scheint an der Grenze zwischen Erklärbarem („truco“) und Unerklärlichem („mentira“) einen liminalen Raum der Ermöglichung zu eröffnen, der sich, im Sinne des Liminalitätskonzepts von Victor Turner durch ein anti-strukturelles Moment auszeichnet. Die Bühne ist damit nicht als Ort des Traums oder der Vorstellung Paulinos konzipiert, sondern als Ort an dem Imagination und Erinnerung 416 , Intelligibles und Materielles sowie Vergangenheit und Gegenwart eine Gleichsetzung wie auch eine Gleichzeitig‐ keit erfahren, die außerhalb des Theaters nicht möglich ist. Erst durch diese Infragestellung rationalistischer Denkweisen schöpft das Drama sein Potential für erinnerungskulturelle Phantastik aus. Das folgende Zitat Sanchis Sinisterras unterstreicht seine Überzeugung von einer eigenen Seinsweise im Theater, die sich aus Lebenswelt und Imagination zugleich speist: „El teatro hace posible que un muerto se coma una manzana o un membrillo. […] El teatro tiene la posibilidad, la necesidad de romper los esquemas perceptivos del público e imponer su propia realidad, su propia lógica.“ 417 Ermöglichungsgrund für Carmelas Trangression ist der Raum der Fiktion, die Bühne des Teatro de Goya in Belchite. Nur hier und ohne das Beisein anderer ist es möglich, dass Signifi‐ kate im Feld der Signifikanten erscheinen und rationalistische wie irrationale Erklärungsversuche unbrauchbar werden lassen. Das Erscheinen der Un-Toten 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 197 <?page no="198"?> 418 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-209. 419 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-211. verortet sich zwischen „truco“ und „mentira“, erklärt sich durch keinen der beiden Ansätze und schließt beide zugleich aus. So wird das Erscheinen der Un-Toten zur phantastischen Ermöglichung des Unmöglichen innerhalb des fiktionalen Raums. Der Umstand, dass Paulino diese Geschehnisse auf einer Theaterbühne wiederfahren, sorgt zudem dafür, dass Paulino keine eindeutige Haltung gegenüber diesen Geschehnissen einnehmen kann. Die Bühne untermi‐ niert als Ort des fiktionalen Aussagemodus ontologische Eindeutigkeiten, denn alles, was auf ihr geschieht kann sowohl faktisch als auch fiktiv sein und sowohl fiktional wie auch faktual dargestellt sein. Damit werden die Möglichkeiten der Referentialisierung und der Setzung eines pragmatischen Gehalts ausgesetzt. Die Anti-Struktur des Theaters wird damit zugleich Ort der Ermöglichung und Ort des ontologischen und modalen Zweifels. Die Unterscheidung zwischen produktiver und reproduktiver Einbildungskraft (Kant) wird erschwert. Dass es sich bei Carmela weder um einen Erinnerungsinhalt noch um ein Hirngespinst oder Phantasiegebilde Paulinos handelt, sondern um eine phantas‐ tische Manifestierung eines Signifikats im Feld der Signifikanten, verdeutlicht ihre zweite Rückkehr aus dem Jenseits. Kurz nachdem die Vergangenheitsebene zum ersten Mal für den Rezipienten etabliert wurde, erscheint die tote Carmela erneut auf der Bühne des Teatro de Goya ein, wo sie den schlafenden Paulino vorfindet („[…] PAULINO durmiendo en el suelo, hecho un ovillo…“ 418 ). Die schlimmen Erinnerungen, denen Paulino beim ersten Erscheinen Carmelas keine semiotische Repräsentanz auf der Gegenwartsebene gewährt, suchen ihn in Form eines Albtraums heim und manifestieren sich aufgrund ihrer affektiven Tragweite gar im Feld der intersubjektiven Wahrnehmung. Paulino spricht im Traum und gewährt unwillentlich Einblick in sein Inneres. PAULINO. (Soñando en voz alta: ) ¡No…! ¡Que no se la lleven! … ¡Ella no tiene…! ¡Ellos… la culpa… esos milicianos…! ¡…A cantar! ¡Ella no! … ¡Ésos… que se han puesto…! (Sigue murmurando, sin que se le entienda.) 419 Die gleichzeitige Präsenz der toten Carmela und des träumenden Paulino scheint nur dann in eine interpretative Sackgasse zu führen, wenn die Wiederkehr als Teil der Vergangenheitsebene betrachtet wird, wie dies Andrea Hüttmann vorschlägt. Da in der vorliegenden Analyse die tote Carmela jedoch als Teil der Gegenwartebene gesehen wird, wirft ihr Auftreten an dieser Stelle keine struk‐ turellen Probleme auf. Vielmehr intensiviert die Präsenz des Verdrängenden sowie der phantastischen Figuration dieser Verdrängung den erinnerungskultu‐ 198 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="199"?> 420 Die Tatsache, dass Carmela Paulino mit der republikanischen Flagge zudeckt, zeugt davon, dass Carmela auch nach ihrer Ermordung dem Politischen noch immer weniger Relevanz einräumt als dem Menschlichen. So erwähnt sie in keinem Moment den Umstand, dass es sich bei der Flagge um das politische Symbol handelt, dass ihren Untergang wenige Tage zuvor zu einem republikanischen Freiheitsakt werden ließ. rellen Impetus des Dramas. Carmelas Empathie, ihre auch nach ihrer Ermordung ungebrochene Mitmenschlichkeit sowie ihr Engagement für das kollektive Erinnern an die Toten dienen als Kontrastfolie, vor der Paulinos defizitärer Umgang mit dem Vergangenen noch deutlicher hervortritt. 420 Gleichzeitig nährt die Anwesenheit der Toten den Zweifel daran, ob es sich bei Carmela wirklich um ein „Hirngespinst“ Paulinos handelt; vielmehr verstärkt sich in diesem Moment das phantastische Potential des Stücks. Statt diese Textstelle also als Ge‐ genbeweis gegen die Annahme einer Veräußerung des Intelligiblen anzuführen, sollte sie als innerfiktionaler Beleg für die Unmöglichkeit des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen gelesen werden. Wie sehr sich Paulino auch wehrt, die Vergangenheit holt ihn im Traum, die gegenwärtigen Schuldgefühle sowie der Verlustschmerz in der gegenwärtigen Präsenz der toten Carmela ein. Carmela schlägt auf unerklärliche Weise als Signifikat im Feld der Signifikanten auf, als Immaterielles an einem für sie nicht bestimmten Ort. Ihr Auftritt, der zu einer Gleichzeitigkeit von träumendem Paulino und toter Carmela führt, unterstreicht dabei weniger eine vermeintliche Losgelöstheit von Paulinos Vorstellungswelt, sondern setzt die Unabweisbarkeit schlimmer Erinnerung doppelt in Szene. Zwar gelingt es Paulino, das Vergangene in die Innerlichkeit zu drängen, gegen die gegenwärtigen affektiven Konsequenzen seines Verdrängungsprozesses kann er sich jedoch nicht erwehren. Denn genauso wie Carmela erscheinen diese unvermittelt und unwillkürlich und sind niemals willentlich verfügbar. Als Figur zwischen Leben und Tod sowie Gegenwart und Vergangenheit ist Carmela Zwischenwesen zwischen Intelligiblem und Sensiblem, Vorstellung und Wahrnehmung. Sie repräsentiert somit nicht etwa Paulinos Gedanken und Vorstellungen, sondern diese sind als ihr Existenzgrund zu verstehen. Es ist ihre Seinsweise, die in unmittelbarer Abhängigkeit von Paulinos Geist steht, nicht ihr Sprechen und Handeln. Im Epilog wird Carmelas ontologische Uneindeutigkeit explizit zum Thema: CARMELA. ¿De mí? ¿Estás harto de mí? PAULINO. Bueno… de ti, no. De… de esto… (Gesto vago, que la incluye a ella.) De lo que pasa en cuanto me quedo solo aquí… Tanto truco, tanta mentira… CARMELA. ¿No te gusta que venga? PAULINO. ¡No! … O sí, pero… ¡No, no me gusta! 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 199 <?page no="200"?> 421 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-255. 422 García Martínez, El telón de la memoria, S.-280. CARMELA. ¿Por qué? PAULINO. (Tras una pausa.) Luego es peor… CARMELA. (Tras otra pausa.) O sea, que… ¿soy de mentiras? PAULINO. Tú me dirás… CARMELA. Pero estoy aquí, contigo… PAULINO. Bueno: estar… 421 Auch diese Annahme, die in direkter Verbindung zur Unterminierung der Op‐ position zwischen Materiellem und Immateriellem steht, findet ihren Ausdruck im Text. Olvido y recuerdo, desmemoria y conmemoración: estos procesos memoralísticos se reflejan y se concretizan en la historia de amor de ambos, puesto que, no en última instancia, también asistimos a la representación de como un esposo llora, a su manera, la muerte de su esposa evocando y provocando su aparición misteriosa en un espacio hasta poder - o tener que - despedirse definitivamente de ella. 422 Das Ausschöpfen des phantastischen Potentials des Nicht-Erinnerns des Un‐ vergesslichen gelingt über das Auftauchen einer transgressiven Figur, die die physische Grenze zwischen Leben und Tod zu überschreiten fähig scheint und das individuelle und strukturelle Abkoppeln der Vergangenheitsebene konterkariert, indem sie das Seiende um das existente Intelligible erweitert. Bei der toten Carmela handelt es sich somit m. E. nicht um ein Gespenster-Signi‐ fikant, das keinen Referenten mehr aufweist, sondern um eine paradoxe Mani‐ festierung als Konsequenz des Verdrängens im Feld des Sinnlich-Empirischen. Anders gewendet, die tote Carmela betritt als Signifikat, d. h. als Figuration des Verdrängens, den Raum der Materie und löst dadurch die die Phantastik bedingende hésitation aus - auf Figurenwie auf Zuschauerseite. Carmela ist eine gegen die Ordnung der Gegenwartsebene verstoßende Veräußerung des Innerlichen, eine figurale Unterminierung der Grenze zwischen Subjektivität und Intersubjektivität. Dabei ist sie allerdings nicht schlichtweg Abbild des Mentalen Paulinos oder durch einen Einblick in den Geist Paulinos zu erklären; stattdessen ist Paulinos Nicht-Erinnern, das Abdrängen schlimmer Erinnerung in die Latenz des Intelligiblen, ihr Daseinsgrund. Als Paradoxon, in dem sich Anwesenheit und Abwesenheit verschränken, als Veräußerung des Intelligiblen im Raum äußerer Wahrnehmung, wird sie zu einer Allegorie des Nicht-Erin‐ nerns des Un-Vergesslichen. In ihrer paradoxen Existenzweise nimmt die den 200 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="201"?> 423 García Martínez, El telón de la memoria, S.-277. Status des Zeigbaren ein, ohne über die Voraussetzungen des Sich-Zeigens zu verfügen. Auf Grundlage dieser Überlegungen ist die Betonung der realistischen Wirk‐ lichkeitskonzeption der Wiederkehr durch Floeck und García Martínez, die auf diese Weise eigentlich das Fehlen des Phantastischen zu belegen versuchen, zurückzuweisen. Denn ihr Standpunkt gründet sich auf der Annahme von drei Fiktionsebenen, welche die Interpretation einer Manifestierung des Immateri‐ ellen als Phänomen erinnerungskultureller Phantastik ab initio ausschließt. Dieser Ansatz verkennt zum einen das In-der-Welt-Sein des Verdrängten, und zum anderen das Potential des Theaters als hybrider Raum, in dem sich die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen genauso realisieren kann wie die Anwe‐ senheit des Abwesenden. 1.2.2.3 Das Jenseits als Gedächtnis-Schwelle Die tote Carmela ist nicht Abbild von Paulinos Vorstellungswelt bzw. sie ist mehr als „un ser imaginado y ficcionalizado por la mente de Paulino“ 423 . Stattdessen wird Paulinos Vorstellung zur Bedingung der paradoxen Seinsweise der Toten, die als Grenzgängerin zwischen Vorstellung und Wahrnehmung bzw. Innerlich‐ keit und Äußerlichkeit in der Folge besser als Un-Tote definiert werden sollte. Ihre fortwährende Existenz im Feld des Intelligiblen weist eine eindimensionale Koppelung des ontologischen Anspruchs an die Eigenschaft des Sinnlichen zurück. Vielmehr rechtfertigt die Annahme des Mentalen, das sich zwischen Immaterialisierung und Inexistenz zu schieben scheint, das Sprechen von den ‚Un-Toten’. Un-Tote wie Carmela werden hier somit als Figuren verstanden, die trotz oder gerade wegen ihrer Immaterialität im Geist weiterexistieren. Paulinos Nicht-Erinnern ist, wie bereits ausgeführt wurde, nicht gleichbe‐ deutend mit dem Vergessen. Der Hinweis auf die kommunikationstheoretische Aporie des Imperativs „Vergiss es! “ führte vor Augen, dass es sich beim Ver‐ gessen um einen passiven Prozess handelt, mündet der Versuch des aktiven Vergessens doch stets in der Erinnerung an das zu Vergessende. Beim Nicht-Er‐ innern bzw. Verdrängen handelt es sich dagegen um einen aktiven mentalen Ausschließungsprozess, um einen Prozess des Ausklammerns und Abdrängens, der jedoch niemals mit der Löschung des Verdrängten einhergehen kann, sondern in der intelligiblen Anwesenheit des materiell Abwesenden aufgehen muss. Die somit theoretisch begründete Zwischenexistenz des Verdrängten zwi‐ schen (intelligibler) Anwesenheit und (materieller) Abwesenheit findet im 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 201 <?page no="202"?> Drama ihre räumliche Ästhetisierung in der Konstituierung des Jenseits, eines unbestimmten Ortes im off-stage, von dessen Beschaffenheit sowohl die Rezi‐ pienten wie auch Paulino nur durch Berichte der wiederkehrenden Carmela erfahren. Die Verortung des lediglich verbal evozierten Jenseits integriert das Konzept der Ausgeschlossenheit bzw. der Latenz in die Dramen- und Inszenierungsstruktur und führt dabei gleichermaßen die Macht des Mediums Theater vor Augen, Abgedrängtes erscheinen zu lassen, ohne dass es die für das Erscheinen notwendige Eigenschaft des Materiellen aufzuweisen hat. Die im Anschluss an diese Überlegungen zu belegende These lautet, dass sich das Jenseits im Drama ¡Ay, Carmela! als liminaler Raum manifestiert, der die Grenze zwischen Leben und Tod durch eine Schwelle ersetzt, als deren Endpunkte der physische Tod, der mit dem Abschied aus dem Feld des Sinn‐ lich-Empirischen einhergeht, sowie der intelligible Tod fungieren, der mit dem Vergessen gleichzusetzen ist. Die sich zwischen diesen Polen aufspannende Welt des Jenseits repräsentiert folglich das Geistige selbst, das sich durch zeitliche, on‐ tologische und räumliche Widersprüchlichkeit auszuzeichnen scheint, da - und dies wird anhand ausgewählter Textstellen zu zeigen sein - die Grenzen zwi‐ schen Vergangenheit und Gegenwart, Sein und Nicht-Sein sowie Anwesenheit und Abwesenheit in Frage gestellt werden. Das Intelligible schiebt sich gemäß der formulierten Annahme zwischen den physischen Tod und das Vergessen und sichert als Schwellenraum und Zeitschwelle das Überleben des räumlich und zeitlich Verdrängten. Das intelligible Überleben der physisch Toten ist jedoch an die physische Existenz der Lebenden gebunden, die als Träger des Erinnerten und Nicht-Erinnerten gleichermaßen fungieren. Somit ist ihre intelligible Existenzweise unmittelbar von der Lebensdauer der erinnernden Subjekte abhängig, die das intelligible Überlebensfeld erst verfügbar machen. Das Ende der Subjekte führt die intelligible Seinsweise an einen Scheideweg, deren Abzweigungen entweder in den intelligiblen Tod, also das Vergessen führen, oder zur Übertragung des Erinnerungsinhalts vom erinnernden Subjekt auf kulturelle Objektivationsformen. Gedächtnistheoretisch gewendet ließe sich also behaupten, dass es sich bei der Schwelle auf den ersten Blick um eine geeignete räumliche Beschreibung für das kommunikative Gedächtnis im Sinne Jan Assmanns handeln könnte, bildet dieses doch als erste Form memorialer Intersubjektivität einen möglichen Übergangsraum zwischen individueller Erinnerung und dem von den Subjekten losgelösten kulturellen Gedächtnis. Diese Korrelierung setzt jedoch voraus, vom Schwellenraum als einem Dazwischen zwischen einem Vorher und Nachher bzw. einem Hier und Dort auszugehen, so wie es beispielsweise der schottische Ethnologe Victor Turner vorschlug, der den Begriff des Liminalen bzw. der 202 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="203"?> 424 Fischer-Lichte, Erika: „Einleitung: Zur Aktualität von Turners Studien zum Übergang vom Ritual zum Theater”, in: Turner, Victor, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M./ New York 2009, S. i-xxiii. 425 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M./ New York 2009, S.-69. 426 Vgl. Turner, Vom Ritual zum Theater, S. 70. Übertragen auf gesellschaftspolitische Phänomene nennt Turner Revolutionen, die er als Limina zwischen den Hauptstruktu‐ rordnungen der Gesellschaft definiert. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass die postliminale Phase keinesfalls mit einer Rückkehr zu einer vorherigen, präliminalen Ordnung gleichgesetzt werden darf. Liminalität in seiner Abhandlung The Ritual Process: Structure and Anti-Structure im Jahre 1969 einführte. Turner stützte sich dabei auf die Arbeiten des franzö‐ sischen Ethnologen Arnold van Gennep, der in seinem Werk Les rites de passage (1909) konstatierte, dass Rituale eng mit symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrungen verknüpft sind. 424 Van Gennep untergliederte den ritu‐ ellen Übergang in drei aufeinanderfolgende Phasen, die von den rituellen Sub‐ jekten (z. B. Novizen, Kandidaten, Initianden) durchlaufen werden: Trennung, Schwelle und Angliederung. In Anlehnung an dieses dreistufige Modell prägte Turner die Begriffe der ‚präliminalen’, ‚liminalen’ und ‚postliminalen Phase’. Die liminale Phase definierte er als „Nahtstelle“, „an der die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben oder beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat.“ 425 Die Schwelle oder Passage zeichnet sich durch eine Auflösung der bestehenden Ordnung aus, weshalb Turner im Hinblick auf die liminale Phase auch den Begriff der ‚Antistruktur’ verwendet. Positiv-affirmativ betrachtet, meint Anti-Struktur eine Befreiung der Kreativität sowie innova‐ tive und spielerische Um- und Neugestaltung bestehender Formen. Negativ gewendet, kann die liminale Phase ebenso von Unsicherheit, Unbestimmtheit, Chaos, Tabubruch, der Auflösung von Konventionen und Verhaltensmuster sowie von Anomie, Entfremdung und Angst geprägt sein, bevor schließlich die postliminale Neuordnung erreicht wird. 426 Der Berührungspunkt zwischen dieser Definition des liminalen Raums und der Denkfigur des kommunikativen Gedächtnisses besteht m. E. darin, dass so‐ wohl der Schwelle als auch dem Geist der Subjekte ein antistrukturelles Moment inhärent ist. Während im Schwellenraum erst die bewusste Auflösung alter Strukturen und der temporäre Bruch mit bestehenden Orientierungspunkten neues Denken ermöglicht, Antistruktur gewissermaßen zur conditio sine qua non der Struktur selbst wird, zeichnet sich das kommunikative Gedächtnis ganz im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis durch seine mangelnde Kodierung aus. Jan Assmann beschreibt das kommunikative Gedächtnis als „informell, 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 203 <?page no="204"?> 427 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-53f. 428 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-51. 429 Bergson, Materie und Gedächtnis, S.-67. wenig geformt, naturwüchsig“ und verweist darauf, dass die „Teilhabe der Gruppe am kommunikativen Gedächtnis […] diffus [ist].“ 427 Erst eine semio‐ tische Setzung der Erinnerungsinhalte im kulturellen Gedächtnis würde die Beendigung des anti-strukturellen Flotierens im Geist der Subjekte bewirken: „Was heute noch lebendige Erinnerung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein.“ 428 Auf dieser konzeptuellen Verknüpfung aufbauend, wird im Folgenden an‐ hand ausgewählter Textstellen zu zeigen sein, inwiefern es sich beim dramatisch evozierten Jenseits um einen liminalen Raum handelt, der zeitliche, räumliche und ontologische Strukturen gezielt aussetzt, und sich auf diese Weise zur Verräumlichung des kommunikativen Gedächtnisses macht. Nur der Geist des Subjekts vermag die Lücke zwischen originärer Wahrnehmung und der Möglichkeit übergenerationeller, medialer Bewahrung zu schließen; die Vor‐ aussetzung dafür bildet seine Gedächtnisfähigkeit, dank der vom Subjekt im Sinne Henri Bergsons „als der vorrückenden Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit“ 429 gesprochen werden kann. Das Erinnern an die Toten wird damit zur Bedingung für deren intelligible Seinsweise im Jenseits, der Akt des Vergessens dagegen zum endgültigen Tötungsakt, der in der Löschung der mentalen Spur und damit des jenseitigen Existenzgrundes besteht. Durch die Implementierung des Jenseits auf der Gegenwartsebene kreiert José Sanchis Sinisterra einen Lebensraum für das Intelligible und löst damit die Koppelung von Existenz und äußerlich wahrnehmbarer Materialität auf, die als Reflex in‐ strumenteller Vernunft innerhalb von Übergangsgesellschaften gesehen werden könnte. Sanchis Sinisterra gesteht dem Nicht-Mehr-Seienden (zeitlich) den ontologischen Anspruch des In-der-Welt-Seins ein und formuliert dadurch eine scharfe Kritik am systemischen Vergessen des Postfranquismus. Den politischen Vertretern der transición setzt er mit seinem Stück die Möglichkeit der Schwelle entgegen, vollzogen diese die Phase des Übergangs doch eher als klaren Schnitt ( Juan Carlos I: „Hoy comienza una nueva etapa en la historia de España“), denn als Prozess. Dabei missachteten die politischen Akteure die fortwährende Existenz des Gewesenen in Form der immateriellen Repräsentation auf Seiten der Subjekte, wodurch der systemische Übergang nicht von einem sozialen Transformationsprozess begleitet werden konnte. Der intelligiblen Fortexistenz entspricht das verbal evozierte Jenseits, der Lebensraum der Figur Carmela, die dank Paulinos Erinnerungen noch nicht dem Vergessen und damit dem endgültigen Tod anheim gefallen ist. In einem 204 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="205"?> 430 Zit. nach Aznar Soler, „Introducción“, S.-92, FN 106. 431 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-210. Interview mit Hélène de Almeida spricht Sanchis Sinisterra explizit über das Konzept eines zweiten Todes als Konsequenz des Vergessens: Yo hablo de las dos muertes: hay una primera que es lo que llamamos así, muerte, y hay una segunda que es para mí el tema fundamental de la obra, que es el olvido. La segunda muerte de los muertos es el olvido. La obra tiende justamente a apelar a la memoria del público, a la memoria histórica, a la memoria subjetiva. 430 Wie lässt sich die Annahme des Jenseits als Raum zwischen zwei Toden auf Textbasis rechtfertigen? Eine genauere Betrachtung der Raumstruktur, der un‐ eindeutigen Körperlichkeit der Un-Toten sowie der metamemorialen Reflexion auf der Schwelle des Intelligiblen erlaubt eine Antwort auf diese Frage. 1.2.2.4 Semantische Negation als topographisches Prinzip Zunächst sei auf die topographische Beschreibung des Jenseits hingewiesen. Der Ort, aus dem Carmela wiederkehrt, „esa cosa gris“ 431 , widersetzt sich jeder Form der Schwarz-Weiß-Malerei, jedem binären Denken, zeichnet er sich doch durch Verweise auf Leben und Tod gleichermaßen aus. PAULINO. Pero, entonces, allí… ¿qué es lo que hay? CARMELA. Nada. PAULINO. ¿Nada? CARMELA. Bueno: casi nada. PAULINO. Pero ¿qué? CARMELA. ¿Qué qué? PAULINO. ¿Qué es eso, ese «casi nada» que hay allí? CARMELA. No sé… Poca cosa. PAULINO. ¿Qué poca cosa? CARMELA. Mucho secano. PAULINO. ¿Secano? CARMELA. O algo así. PAULINO. ¿Quieres decir que es como esto? CARMELA. ¿Como qué? PAULINO. Como esto… como estas tierras… CARMELA. Algo así. PAULINO. Secano… CARMELA. Sí: mucho secano, poca cosa. PAULINO. ¿Con árboles? 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 205 <?page no="206"?> 432 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-193. 433 Vgl. Detel, Philosophie des Geistes, S.-86. CARMELA. Alguno hay, sí: mustio. PAULINO. ¿Y ríos? CARMELA. Pero secos. PAULINO. ¿Y casas? ¿Pueblos? CARMELA. ¿Casas? PAULINO. Sí: casas, gente… CARMELA. No sé. 432 Ausgetrocknete Flussbetten und welke Bäume fungieren als jenseitige Zeichen, die sich durch eine Negation des Diesseitigen, des Lebens, charakterisieren. Durch die Abwesenheit des lebensspendenden Wassers werden sie zu semioti‐ schen Stellvertretern für etwas, das nicht mehr ist, auf das jedoch nachträglich verwiesen wird. Sie werden zu Symbolen für vergangenes Leben und damit zu Stellvertretern des Diesseits, das sich wie ein Stempel in die Landschaft des Jenseits eingekratzt zu haben scheint und dessen notwendiger Ausschluss aus dem Jenseits das Austrocknen bedingte. Wie bei einer Spur oder einem Abdruck speist sich der semantische Gehalt dieser leblosen Orte und Zeichen aus ihrer Immaterialität; das gegenwärtige Nichts verweist auf ein vergangenes Etwas. Damit werden sie zu paradoxen Zeichen der Zeit, die Gegenwart und Vergangenheit, Sein und Gewesensein, Immaterialität und Bedeutung im selben Moment evozieren. Das Jenseits, dessen topographische Beschaffenheit lediglich verweisend fungiert und sich statt durch räumliche Affirmativität durch negierende Spuren auszeichnet, korrespondiert mit der Beschreibung des Gedächtnisses im Sinne der Husserlschen Phänomenologie wie auch der zeitgenössischen Philosophie des Geistes. Diese geht davon aus, dass das Sprechen vom Geist oder vom Bewusstsein wie auch das Sprechen vom Gedächtnis nicht mit Begriffen von Substanzen möglich, sondern sich nur über den Umweg der Intentionalität beschreiben lässt. 433 Die Eigenschaft des substantiellen Mangels wird im Drama ¡Ay, Carmela! durch einen Ort jenseits des Lebens und jenseits der Bühne ästhe‐ tisiert, in dem sich Bedeutungen immer aus der Negation von Materie heraus ergeben, in dem folglich durch ein ‚Nicht-Mehr’ auf ein ‚Etwas‘ verwiesen wird. Der vollständige Bedeutungsgehalt des leblosen Blatts oder des ausgetrockneten Flusses ergibt sich erst durch den Einbezug dessen, was durch diese Zeichen negiert wird und nicht allein durch das materiell Verfügbare der Spur. Ein weiteres Merkmal lässt das Jenseits zu einem liminalen Raum zwischen physischem und intelligiblem Tod werden. Bei ihrer zweiten Wiederkehr be‐ 206 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="207"?> 434 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-213. richtet Carmela von zwei sich kreuzenden Zugschienen mitten im Nirgendwo, an denen sich die Toten wie selbstverständlich sammeln, um in eine Schlange gereiht auf etwas zu warten, dessen Bedeutung und Existenz nur zu erahnen ist. Dementsprechend wirkt die beckettianische Note der folgenden Repliken nicht verwunderlich: PAULINO. ¿Y tú dónde has estado? CARMELA. ¿Cuándo? PAULINO. Todo este rato… Desde que te has ido… CARMELA. He estado… allí. PAULINO. Sí, pero ¿dónde? CARMELA. No sé. Era… un cruce de vías. PAULINO. ¿Un cruce? CARMELA. Sí: de vías de tren. Se cruzaban dos vías de tren. PAULINO. ¿Quieres decir… una estación? CARMELA. No, no había estación. Sólo la caseta del guarda-agujas, o algo así, en medio del descampado. PAULINO. Qué raro… Una caseta… CARMELA. Sí, pero no estaba. PAULINO. ¿Quién no estaba? ¿El guarda-agujas? CARMELA. Ni él, ni nadie. La gente iba llegando, se formaba la cola… PAULINO. ¿La cola? ¿Os ponían en cola? CARMELA. No nos ponía nadie. Nos íbamos poniendo nosotros, al llegar… PAULINO. La costumbre, claro… ¿Y había mucha gente? CARMELA. Pues al principio, no; pero poco a poco la iba habiendo… 434 Der Zug wird zum symbolischen Verbindungsselement, das die Grenze zwischen physischem und intelligiblem Tod passiert. Die Reise aus dem Jenseits ins Nichts beginnt mit dem Nicht-Erinnern der lebenden Subjekte und endet im Zuge des Vergessens durch die endlichen Erinnerungsträger; das Jenseits wird somit zum Übergangsort bzw. zum Warteraum, in dem die Un-Toten rastlos und ohne Möglichkeit des Verweilens umherzuwandern scheinen („PAULINO. ¿Y casas? ¿Pueblos? CARMELA. ¿Casas? “). Die Unmöglichkeit des Ankommens oder Bleibens ist als weiterer Hinweis auf die Konstituierung des Jenseits als Zwischenstation zu werten, als ein Raum des Werdens und des Unbestimmten und nicht etwa des Gegebenen und Bestimmten. Der endgültige, intelligible Tod tritt ein, wenn sich die Lebenden nicht mehr an die Toten erinnern. Die sich am Bahnkreuz sammelnden Bewohner des Jenseits werden durch den 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 207 <?page no="208"?> 435 Vgl. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S.-218. 436 Eine ausführliche Analyse liminaler Bewegungen liefert Uwe Wirth; vgl. Wirth, Uwe: „Zwischenräumliche Bewegungspraktiken“, in: ders./ Julia Paganini (Hgg.), Bewegen im Zwischenraum, Berlin 2012 (= Wege der Kulturforschung, 3), S.-7-35. 437 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-194. Impuls der Verdrängung durch die Lebenden bewegt, ihr selbstverständliches Einfinden an den Gleisen kommt einer Vorbereitung auf den finalen Abschied gleich, der diesmal nicht physischer, sondern intelligibler Natur ist. Die Abwe‐ senheit hierarchischer Instanzen („PAULINO. ¿La cola? ¿Os ponían en cola? CARMELA. No nos ponía nadie. Nos íbamos poniendo nosotros, al llegar…”), von Grenzhütern und Kontrolleuren („guarda-agujas“), macht das Jenseits zu einem anti-strukturellen Raum, der weder durch orientierende Fixpunkte noch einzuhaltende Wegmarken markiert ist, sondern sich erst durch die Bewegung als Raum zu entfalten scheint. Die Bewegung der Un-Toten wirkt raumkonstitutiv, impliziert sie doch die Existenz zweier Zeit-Orte, zwischen denen sich der Zwischenraum erst auszubilden vermag. Der Ort wird hier im Sinne Michel de Certaus als eine „momentane Konstellation von festen Punkten“ betrachtet, wohingegen der Raum als Schwelle gedacht wird, die „weder eine Eindeutigkeit noch eine Stabilität von etwas ‘Eigenem’“ 435 aufweist. Im Hinblick auf das Drama handelt es sich bei diesen Orten um die Zeiträume vor dem physischen und nach dem intelligiblen Tod. Gehen und Warten erscheinen im Jenseits als liminale Bewegungsmuster, die sich von denen des Ankommens und konkreten Tuns unterscheiden. 436 PAULINO. ¿Y qué? CARMELA. ¿Qué qué? PAULINO. ¿Qué hacen? ¿Qué dicen? CARMELA. Nada. PAULINO. ¿No hacen nada? CARMELA. Casi nada. PAULINO. ¿Como qué? CARMELA. No sé: andan, se paran… vuelven a andar… 437 1.2.2.5 Intelligible Körper Die topographische Negativität, die sich im Verweis des materiellen Nichts auf das Leben ausdrückt, spiegelt sich in der ambivalenten “Körperlichkeit“ der Un-Toten, der Bewohner des Jenseits, wider. Zwar liefert Carmela eine “ratio‐ nale“ Erklärung ihrer liminalen Existenzweise: „Qué quieres que te diga… A 208 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="209"?> 438 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-218. 439 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-195. lo mejor, digo yo, hay tantos muertos por la guerra y eso, pues no cabemos todos […] Y por eso nos tienen por aquí esperando, mientras nos acomodan…“ 438 Doch der Umstand, dass die körperliche Beschaffenheit der Un-Toten von den Erinnerungen der Lebenden abhängt, stützt die Annahme, dass sich das Jenseits als intelligibler Zwischenort zwischen physischem Tod und Vergessen konstituiert. Der Übergang von der Welt der Lebenden in den Tod geht mit einem liminalen Körperstatus einher, der sich durch Abwesenheit des Materiell-Phy‐ sischen und der Anwesenheit des Immateriell-Intelligiblen charakterisiert. Erst durch die Entmaterialisierung ihrer Körperlichkeit wird die Transgression, die Unterminierung der Logik des Entweder-oder zur potentiellen Bewegungsform im Sinne eines Sowohl-als-auch. Wie wird der liminale Körperstatus Carmelas ästhetisiert? Nachdem Carmela Paulino zum ersten Mal von den Avancen des Freiheitskämpfers Pedro de Rojas erzählt, der im Jenseits trotz seines gespaltenen Kopfes von seiner Leidenschaft getrieben ist, beschwichtigt sie Paulinos Eifersüchteleien mit dem Hinweis, dass sie allein schon aufgrund ihres abhanden gekommenen Körpergefühls keinerlei Interesse an den Annäherungen verspüre: „Buena estoy yo para andar coqueteando. Si ni me lo siento, el cuerpo.“ 439 Die gedämpfte, zurückgenommene Körperlichkeit, die Carmela bei ihrer ersten Wiederkehr beschreibt, wird auch von Paulino als solche empfunden. Die folgenden Repliken zeugen von der uneindeutigen Materialität der toten Carmela, der ihr eigener Körper nicht zu gehören scheint. Zweifelsohne handelt es sich hierbei um einen weiteren Hinweis darauf, dass Carmela Paulino eben gerade nicht als semiotischer Stellvertreter für einen abwesenden Referenten erscheint, sondern als Signifikat ohne materielles Komplement. PAULINO. ¿Te duele? CARMELA. ¿Qué? PAULINO. Eso… las… ahí donde… CARMELA. No, doler, no. No me noto casi nada. Es como si… ¿Cómo te lo diría? Por ejemplo: cuando se te duerme una pierna, ¿verdad? , sí, la notas, pero como si no fuera tuya… PAULINO. Ya, ya… Y, por ejemplo, si te toco así… (le toca la cara), ¿qué notas? CARMELA. Pues que me tocas. PAULINO. Ah, ¿sí? CARMELA. Sí. Un poco amortecido, pero lo noto. PAULINO. Qué curioso… Yo también te noto, pero… no sé cómo decirlo… 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 209 <?page no="210"?> 440 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-195. 441 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-213. 442 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S. 213. Vgl. ergänzend Walter L. Berneckers Ausfüh‐ rungen im Hinblick auf die von den Franquisten noch während des Bürgerkriegs vollzogene und nach Kriegsende intensivierte Politik der damnatio historiae, der jede Form von oppositionellem Denken zum Opfer fiel: „Die franquistische Erinnerungspo‐ litik diente einem einzigen Zweck: das eigene Regime zu legitimieren, es als quasi selbstverständliche Konsequenz der Entwicklung in der Tradition der glorreichen spanischen Geschichte zu verankern, zugleich die Erinnerung an die Gegenseite - die Liberalen und die Demokraten, Sozialisten und Kommunisten, Freimaurer und Juden … - auszulöschen.“ Vgl. Bernecker, „Spanischer Bürgerkrieg und Vergangenheitsbewälti‐ gung“, S.-781. 443 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-215. CARMELA. Retraída. PAULINO. Eso es: retraída […]. 440 Ihr physischer und damit materieller Tod hat sich bereits vollzogen, so dass die vermeintliche Materialität der Toten nichts anderes als eine intelligible Ma‐ terialität sein kann. Im Einklang mit dieser Annahme steht der im Dramentext mehrfach von Carmela beschriebene allmähliche Auflösungsprozess der Toten, der in Analogie zur Löschung der intelligiblen Repräsentation gesehen werden muss. Die bereits angesprochene Unmöglichkeit der Affizierung im Jenseits wird von einer äußerlichen, “materiellen“ Auflösung begleitet. PAULINO. ¿Y estaba el tipo aquél…, el sinvergüenza de la cabeza abierta? CARMELA. Yo no lo vi. Como no fuera de los más borrosos… PAULINO. ¿Borrosos? ¿Qué quieres decir? (CARMELA no contesta.) ¿Quieres decir que os vais… que se van… como borrando? CARMELA. Algo así… (PAULINO, algo inquieto, le toca la cara. Ella sonríe.) No, hombre… Ésos deben de ser muertos antiguos, del principio de la guerra… o de antes. No te preocupes: yo aún… (Cambiando vivamente de tema.) […] 441 Während Carmela als „recién muerta“ also noch über eine solide intelligible Körperlichkeit zu verfügen scheint, gehört der tote Arbeiterführer Pedro de Rojas bereits zu den „más borrosos“ 442 . Auch der 1936 ermordete Federico García Lorca, an den die Franquisten jede Form der öffentlichen Erinnerung zu unterbinden wussten, geht seiner “intelligiblen Materialität“ verlustig: „Estaba en la cola, muy serio, es algo borroso ya… Bien trajeado; con agujeros, claro… Pero se le veía un señor…“ 443 Die fortwährende intelligible Existenz eines Pedro de Rojas könnte sich durch dessen Schriftwerdung in César Vallejos 1939 veröffentlichten Gedicht „Pedro Rojas“ erklären, in dem dessen Herkunft aus Miranda de Ebro genannt ist. 444 Die Medialisierung der Erinnerung in Form 210 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="211"?> 444 Vgl. Aznar Soler, „Introducción“, S. 69: „Ni, por supuesto, Sanchis Sinisterra olvida a César Vallejo […] que dedicó a ese ferroviario de Miranda de Ebro […] al obrero Pedro Rojas, al miliciano heroico caído en la lucha […].“ 445 Unisono verstehen bestehende Interpretationsansätze Carmelas und Paulinos vorge‐ spielte Bewunderung des lyrischen Talents Lorcas als Ausweis ihrer ästhetischen Einfalt. Als Varieté-Künstler strebt vor allem Paulino nach hoher Kunst; die Gedicht‐ interpretation unterstreicht jedoch auf ironische Weise ihr mittelmäßiges Niveau als Künstler. 446 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-255. 447 García Martínez, El telón de la memoria, S.-285. eines lyrischen Textes macht Pedro de Rojas potentiell zu einer Figur des kulturelle Gedächtnisses, hängt die Seinsweise doch nun nicht mehr einzig von der virtuellen Seinsweise im Geist der Subjekte ab. Die Institutionalisierung der Erinnerungen in Form kultureller Objektivationen bremst dessen Auflö‐ sungsprozess im Jenseits, ebenso wie beim totgeschwiegenen Dichter García Lorca, auf dessen literarische Verewigung mittels eines unverständlichen und sinnfreien Gedichts angespielt wird, das er Carmela im Jenseits zum Geschenk macht. 445 Auf die schriftliche Manifestierung der historischen Person Pedro de Rojas in das lyrische Werk César Vallejos wird in einer Replik Carmelas indirekt angespielt: „CARMELA. El de la cabeza abierta… Bueno, no es asturiano, pero casi: de Miranda de Ebro. Sólo que fue en Asturias donde… Pedro, se llama… Pedro Rojas.“ 446 Anabel García Martínez weist auf die bildhafte Analogie zwischen der körperlichen Auflösung Carmelas und im Sand hinterlassenen Spuren hin, die sich allmählich verflüchtigen. Allerdings beschränkt sie sich dabei auf den Zusammenhang von Erinnerung und der durch sie verhinderten Auslöschung des einst Wahrgenommenen: En cierto sentido, se evoca aquí un concepto de la memoria cercano a las huellas de los pies descalzos en la arena que con el paso del tiempo desaparecen. Sólo el recuerdo - alimentado tanto por los muertos como por los vivos - es capaz de impedir su desvanecimiento. 447 Besonders hervorzuheben ist m. E. jedoch die an dieser Stelle nicht weiter thematisierte, doch in dieser Studie in den Fokus gerückte materielle Negativität der Spur. Gleich einem sich verflüchtigenden Fußabdruck im Sand ist auch Carmela ein Negativum, ein Rekurs auf das Gewesene, das innerhalb der Fiktion keine materielle Seite aufweist, sondern auf ihren vergangenen Sinnlich-Empi‐ rischen Status verweist. Als Veräußerung des Intelligiblen, als Signifikat im Feld der Signifikanten, wird sie zu einer allegorischen Figur des Nicht-Erin‐ nerns des Un-Vergesslichen, als Signifikat drängt sie in das Feld der äußeren 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 211 <?page no="212"?> 448 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-56. Wahrnehmung und setzt damit die Logik der Gegenwartsebene aufs Spiel. Die Besonderheit dieses Spiels der erinnerungskulturellen Phantastik ist es jedoch weniger, Unerklärliches in eine Sphäre der Logik einfallen zu lassen, als vielmehr zu zeigen, dass die Unheimlichkeit einer plötzlichen Präsenz des Intelligiblen, der subjektiven Erinnerungen, deren Inhalte immer schon existent sind, sich ganz im Sinne Freuds aus der Bekanntheit des Verdrängten ergibt. Die Un-Tote wird zur un-heimlichen Figur, weil sie Opfer und Konsequenz eines Verdrän‐ gungsaktes ist. Die Bekanntheit (die Heimlichkeit) sowie die intelligible Existenz werden damit zu Grundmerkmalen der erinnerungskulturellen Phantastik, die auf der Basis einer diachronischen statt einer synchronischen Irritation in Kraft zu treten scheinen. Die hésitation entsteht auf Seiten der Rezipienten also nicht durch den Einfall des Nicht-Seienden, sondern vielmehr durch den vermeintlichen Einfall des Nicht-Mehr-Seienden, das den materiell-physischen Tod gestorben ist und aufgrund seiner geistigen Fortexistenz zum ‚Un-toten’ wird. Das kommunikative Gedächtnis ist als Speicher des Intelligiblen somit zugleich Lebensraum der Un-toten, nur in der subjektiven (und theatralen) Vorstellung existierenden Carmela. Mit den Subjekten und deren Erinnerungen verschwindet schließlich auch die mentale Lebensform, sofern diese nicht vom Subjekt losgelöst und durch „feste Objektivationen, traditionelle symbolische Kodierung/ Inszenierung in Wort, Bild, Tanz usw.“ 448 in das kulturelle Gedächtnis integriert wird. Die einzige Möglichkeit, den Tod durch Vergessen zu vermeiden, besteht demnach darin, die intelligible Seinsweise zu überwinden und die Erinnerungsinhalte an ein als reminder fungierendes Medium zu heften. 1.2.2.6 Semiotisierung im Geiste Das Vergessen wird im Drama ¡Ay, Carmela! zum tötenden Löschungsprozess, zum Mord an den Un-toten. Carmelas Vorhaben, in der immateriellen Welt des Geistes einen Club wider das Vergessen zu gründen, stellt einen Versuch dar, sich gegen die Fragilität der subjektigebundenen Seinsweise aufzulehnen und sich mithilfe der Institutionalisierung des eigenen Seins, welches nichts anderes ist als ein intelligibles Sein, gegen das zweite Ableben zu wehren. Das Ausbleiben des Totengedenkens durch Paulino auf der Gegenwartsebene, das Abkoppeln der Vergangenheit von der Gegenwart, erstickt jedoch jede Möglich‐ keit memorialer Intersubjektivität im Keim. Der Übergangsraum des kommu‐ nikativen Gedächtnisses, als deren Träger die erinnernden Subjekte fungieren, wird somit zur gedächtnistheoretischen Sackgasse, die das Totengedenken als ursprünglichste Form der Etablierung übergenerationeller biographischer 212 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="213"?> 449 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-61. 450 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-261. Vergewisserung verweigert. Jan Assmann unterstreicht die identitätsstützende Funktion der Erinnerung an die Verstorbenen: Wenn Erinnerungskultur vor allem Vergangenheitsbezug ist, und wenn Vergangen‐ heit entsteht, wo eine Differenz zwischen Gestern und Heute bewußt wird, dann ist der Tod die Ur-Erfahrung solcher Differenz und die an den Toten sich knüpfende Erinne‐ rung die Urform kultureller Erinnerung. Im Zusammenhang unserer Unterscheidung zwischen dem „kommunikativen“ und dem „kulturellen“ Gedächtnis müssen wir aber auf das Totengedenken noch einmal unter einem etwas anderen Blickwinkel zurückkommen. Denn es nimmt offenbar eine Zwischenstellung ein zwischen diesen beiden Formen des sozialen Gedächtnisses. Das Totengedenken ist „kommunikativ“, insofern es eine allgemein menschliche Form darstellt, und es ist „kulturell“ in dem Maße, wie es seine speziellen Träger, Riten und Institutionen ausbildet. 449 Gemeinsam mit zwei Katalaninnen, die beide auf den Namen Montse hören, und all denjenigen, die sich nicht mit ihrer allmählichen Auslöschung abfinden, stemmt sich Carmela gegen die sie bedrohende Verdrängungshaltung der Lebenden: CARMELA. Ah, sí… Pues decía Montse que podíamos ponernos a buscar a los que no se conforman con borrarse…, o sea, a los macizos, como les llama Montse… y juntarnos, y hacer así como un club, o una peña, o un sindicato…, aunque Montse dice que, de sindicatos, ya vale… pero en eso la otra Montse se pone muy farruca, porque dice que… Die ausbleibende Intersubjektivität im Diesseits, der Mangel an Austausch über das Geschehene, wird im Jenseits zum handlungsleitenden Motiv. Die Darstellung der inter-individuellen Verständigung wird durch die Beilegung diesseitiger politischer Grabenkämpfe sowie durch den Zusammenbruch von Sprachbarrieren akzentuiert. Die beiden Katalaninnen, von denen sich die eine für die Ziele der Federación Anarquista Ibérica (FAI) einsetzte, die andere für die während des Bürgerkriegs mit den Anarchisten verfeindete kommunistische Partei Spaniens (PCE)-PSUC, finden im Jenseits in einem gemeinsamen Kampf gegen das Vergessen zu‐ sammen: „CARMELA. […] Discuten mucho, eso sí, y se llaman de todo, y en catalán, ahí es nada,… Pero sin llegar a manos, porque ya, ¿para qué? “ 450 Die politischen Grenzen verschwimmen zugunsten eines memorialen Diskurses, der durch die Betonung der Menschlichkeit, der inter-subjektiven Verständigung, 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 213 <?page no="214"?> einheitsstiftendes Potential entfaltet. Die Anti-Struktur des Jenseits baut sich als humanistischer Gegenraum zum Diesseits auf, das von politischen Interessen, ideologischen Zielen und Egoismus eingenommen scheint. Dies geschieht mit Blick auf Paulino jedoch nicht auf manichäistische Weise; vielmehr wirft das Verständnis, das Paulino aufgrund der repressiven Zustände in Zeiten des Krieges und der politischen Verfolgung einzuräumen ist, einen dunklen Schatten auf die spanische Demokratie, dessen politische Akteure, sowie die Gesellschaft, die sich im Zuschauerraum wiederfindet. Viele von ihnen wagen es aus systemischem Kalkül und der Angst vor destabilisierender Erinnerung nicht, ihre neu gewonnene Freiheit für die Aufarbeitung des Geschehenen einzusetzen. Dieses defizitäre, von den Interessen der Gegenwart geleitete Denken, wird zu Carmelas Treibfeder: PAULINO. Bueno, ¿y ese club…? CARMELA. O lo que sea, que ya se verá… Pues para hacer memoria. PAULINO. ¿Qué quieres decir? CARMELA. Sí: para contarnos todo lo que pasó, y por qué, y quién hizo esto, y qué dijo aquél… PAULINO. ¿Y para qué? CARMELA. Para recordarlo todo. PAULINO. ¿A quién? CARMELA. A nosotros… y a los que vayáis llegando… PAULINO. (Tras una pausa.) Recordarlo todo… CARMELA. Sí, guardarlo… Porque los vivos, en cuanto tenéis la panza llena y os ponéis corbata, lo olvidáis todo. Y hay cosas que… PAULINO. ¿Lo dices por mí? ¿Crees que me he olvidado de algo? CARMELA. No, no lo digo por ti… Aunque, vete a saber… Tú deja que pase el tiempo, y ya hablaremos… PAULINO. Ya hablaremos… ¿Cuándo? CARMELA. Bueno: es un decir. (Hay un silencio. Quedan los dos ensimismados, como en ámbitos distintos.) PAULINO. Y cuando ése te achucha, ¿qué notas? CARMELA. Ya hablaremos… Allí. PAULINO. Di… ¿Qué notas? CARMELA. Iréis llegando todos allí, y hablaremos… PAULINO. Seguro que te pellizca el culo… ¿A que sí? Es ist kein Zufall, dass Paulino die metamemoriale Reflexion in dem Moment unterbricht, in dem er sich mit seinen Schuldgefühlen konfrontiert sieht („¿Lo 214 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="215"?> 451 zit. nach Aznar Soler, „Introducción“, S.-92, FN 106. 452 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.-52. dices por mí? “). Diese Unterbrechungsstrategie nutzt Paulino gleich mehrmals während der Gespräche mit der Un-Toten. Das hier vorliegende Beispiel kann als paradigmatisch gelten, zeugt es doch auf kommunikativer Ebene von Paulinos Wunsch nach einer Loslösung von der Vergangenheit. Denn immer dann, wenn sich in den Dialogen eine memoriale Tiefe aufzubauen scheint, die das Abgedrängte unweigerlich auf die Gegenwartsebene heben würde, initiiert Paulino eine affektive Wende. Die Frage nach Gefühlen, Geschmack oder Berührung verlagert die Kommunikation auf das Feld der unmittelbaren, an die Gegenwart gekoppelte Wahrnehmung und entfernt sie damit von der memorialen Metaebene. Die Gegenwartsorientierung Paulinos, die memorial-diskursive Reflexio‐ nenen durch die Betonung des Sensiblen im Diesseits unterbindet, kollidiert mit der Vergangenheitsorientierung Carmelas. Die Gründung eines Clubs im Jenseits ist der Versuch der Un-Toten, bisher nicht Vergessenen, ihre intelli‐ gible Existenz durch einen intersubjektiven und institutionalisierten Akt zu wahren. Auf paradoxe Weise erfüllen die Erinnerten damit zugleich die Rolle der Erinnernden, ihr Kampf ums Überleben wird zum transgressiven Akt, der Noesis und Noema zu vermengen scheint, angesichts der unwürdigen Verdrängungshaltung der Lebenden jedoch zum einzigen Hoffnungsschimmer wird. […] Carmela es portadora de esa especie de fragilidad de los muertos, que si no son recordados se van borrando, se ven desmaterializando. En la obra forman un club, para conservar esa forma de existencia, quienes no se conforman con borrarse. 451 Diese Bewahrung ist durch die symbolische Kodierung in Form kultureller Objektivationen möglich sowie die damit verbundene Loslösung vom Subjekt: „Das kulturelle Gedächtnis, im Unterschied zum kommunikativen, ist eine Sache institutionalisierter Mnemotechnik.“ 452 Das Jenseits stellt somit nicht nur einen Überlebensort des im kommunikativen Gedächtnis Erinnerten dar, sondern wird paradoxerweise zugleich Ausgangspunkt für intersubjektiv-kodierende Erinnerungsarbeit im Feld des Mentalen. Damit wird das Drama zum Interdis‐ kurs und zur gedächtnistheoretischen Reflexionsfläche bezüglich der Frage, auf welche Weise sich unweigerlich verblassende Vergangenheit fixieren lässt und welche moralische Implikationen das Ausbleiben einer memorialen Fixierung im Diesseits mit sich bringt. 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 215 <?page no="216"?> 453 Aznar Soler, „Introducción“, S.-97. 454 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-212. 455 García Martínez, El telón de la memoria, S. 281: „Se trata en realidad de dos discursos bien separados - el discurso afectivo de Paulino, por un lado, y el memoralístico de Carmela, por otro - dos discursos que ya no se cruzarán, que marcarán el fracaso de la comunicación y la ruptura definitiva entre ambos.“ La idea que los muertos se van borrando a través del olvido de los vivos está materializada en las propias sensaciones de una ‚recién muerta’ que se niega a morir una segunda vez. Porque Paulino, con su actitud en el epílogo, la está borrando, la está traicionando al querer olvidarla. 453 Der Wunsch Paulinos, Carmela zu vergessen, verstärkt sich im Laufe des Dramas. Die zunehmenden Schwierigkeiten, die Carmela bei der Rückkehr zu Paulino erwähnt, sind Konsequenz von dessen Verdrängungsprozess. Je weniger sich Paulino an Carmela erinnern möchte, desto schwerer fällt ihr der transgressive Akt hinein in das Feld der Wahrnehmung. 454 García Martínez weist zurecht auf die im Laufe des Dramas zunehmende kommunikative Dis‐ tanzierung zwischen den beiden Hauptfiguren hin, die sich ihres Erachtens in unterschiedlichen Oppositionen entfaltet. Während Paulino einen deutlichen Gegenwartsbezug sowie eine hohe Affiziertheit aufweist, charakterisiert sich die tote Carmela durch einen reflexiven Zugang zur Vergangenheit. Kurz vor Ende des Dramas scheint die Kommunikation zwischen den beiden vollends gescheitert, Momente des Schweigens werden von aneinander vorbeilaufenden Konversationen abgelöst, als gehörten die Figuren unterschiedlichen Welten an. 455 Zur diesseitigen Sprachlosigkeit steht der sprachliche Austausch im Jenseits in Opposition. Der Wegfall der Sprachbarrieren ermöglicht nicht nur den Austausch zwischen Carmela und den Katalaninen, sondern ebenso zwischen Carmela und den hingerichteten Brigadisten. Damit wird eine Form der kommu‐ nikativen Intersubjektivität etabliert, die im Diesseits selbst zwischen Sprechern derselben Sprache scheitert. Dabei scheint es m. E. die Karenz des Materiellen zu sein, die jegliche Verständigungsprobleme im Jenseits aufhebt. Denn die Absenz der materiellen Seite des sprachlichen Zeichens ermöglicht eine konzeptuelle sprachliche Verständigung der Un-Toten. Das Sprechen Carmelas mit den Katalaninnen sowie den Brigadisten im Jenseits funktioniert in einer Sprache der Humanität, die keine nationalen und damit auch keine nationalsprachlichen Grenzen zu kennen scheint. Sprache wird zum konzeptuellen Werkzeug, das seine materiellen Defizite ablegt, um so die Würde des Menschen nicht nur zur Grundlage des gemeinsamen Verständnisses (konzeptuell), sondern auch des Verstehens (materiell, sensibel) zu machen: „Por encima de diferencias políticas, 216 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="217"?> 456 Aznar Soler, „Introducción“, S.-93. de lenguas y de fronteras, el lenguaje de la humanidad es el lenguaje de la memoria, de la dignidad y de la solidaridad.“ 456 1.3 Erlebtes erinnern und Erinnertes erleben In diesem Kapitel gilt es anhand von José Sanchis Sinisterras Theatertext ¡Ay, Carmela! aufzuzeigen, inwiefern sich das Potential erinnerungskultureller Phantastik innerhalb des theatralischen Raums, der als Schwellenraum zwi‐ schen Fiktion und Lebenswelt definiert wurde, zu entfalten vermag. Gemäß den im übergeordneten Theoriekapitel formulierten Annahmen wird zu prüfen sein, inwiefern das Ausschöpfen dieses phantastischen Potentials an der Grenze zwischen Semantik und Pragmatik mit der Vorgabe einer Überwindung des Als-ob, einem vorgegebenen Wegfall des theatralischen Raums, einhergeht. Die These, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, lautet, dass die strukturelle Besonderheit des Theatertextes ¡Ay, Carmela! darin zu sehen ist, dass in ihm eine potentielle Gleichzeitigkeit von Erinnern und Erleben angelegt ist. Diese Gleichzeitigkeit meint dabei keineswegs ein distinktes Nebenein‐ ander von Erlebenden (Rezipienten) und Erinnernden (Figuren), sondern ein Ineinander-Aufgehen beider Prozesse; abhängig von der Perspektive fungiert Erinnertes zugleich als Erlebtes bzw. Erlebtes zugleich als Erinnertes. Diese Blickschärfung basiert auf einem phänomenologischen Zugang zu Prozessen des Erinnerns und Wahrnehmens. Es soll herausgearbeitet werden, auf welche Weise es dem Theatertext gelingt, die Trennung zwischen Wahr‐ nehmung und Erinnerung, gegenwärtigem Erleben und der Evozierung von Vergangenem, nicht nur ästhetisch zu modellieren. Zudem ist zu untersuchen, auf welche Weise der Text eine strukturelle Annäherung der intendierten Aufführung an nicht-fiktionale Veranstaltungssituationen ermöglicht, die das Theater zum wirkmächtigen Medium des kulturellen Gedächtnisses werden lässt. Dafür ist es zunächst notwendig, dem bereits erörterten Begriff der Erinne‐ rung den des Erlebnisses an die Seite zu stellen und mit den theatertheoretischen Konzepten der Mimesis und der Performativität in Beziehung zu setzen. Was heißt es, etwas zu erleben? Wann endet das Erleben und ab wann können Erlebnisse nurmehr erinnert werden? Bei der Beantwortung dieser Fragen dienen erneut die Phänomenologie Edmund Husserls sowie die auf diese rekurrierende Phänomenologie des Gedächtnisses Paul Ricœurs als Ausgangs- und Orientierungspunkte. Genau wie der Erinnerungsbegriff weist der des 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 217 <?page no="218"?> 457 Regenbogen, Arnim/ Meyer, Uwe: „Erlebnis“, in: dies. (Hgg.), Wörterbuch der philosophi‐ schen Begriffe, Hamburg 2013, (= Philosophische Bibliothek Band-500), S.-199. 458 Gessmann, Martin: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S.-753. Erlebnisses eine Doppelstruktur auf, die sich auf Grundlage der Unterscheidung zwischen Noema und Noesis ergibt: Erlebnis (engl. experience), Bez. sowohl für den Akt wie für den Inhalt eines Ereignisses oder einer Situation, die wir an uns und um uns erfahren. Ereignisse können als gegenwärtige wahrgenommen oder als Erinnertes oder auch Erzähltes vergegenwärtigt werden. 457 Die Differenzierung zwischen Akt und Inhalt des Erlebnisbegriffs berücksichtigt die bereits bei der Betrachtung des Erinnerungsbegriffs zugrunde gelegte phänomenologische Trennung zwischen intentionaler Gerichtetheit (Noesis) und dem intendierten Gegenstand (Noema). Unabhängig vom noematischen Gehalt des Erlebten kann sich der Akt des Erlebens sowohl auf gegenwärtig Wahrnehmbares, sich Ereignendes, als auch auf Vergangenes, also auf etwas, das sich bereits ereignet hat, beziehen. Die zeitliche Dimension des Erlebnisgehalts hat somit keinen Einfluss auf die Möglichkeit des intentionalen Aktes. Der Akt des Erlebens bleibt freilich an die Gegenwart gekoppelt und vollzieht sich immer auf der Basis eines fortlaufenden Jetzt. Selbst der Versuch des Wieder-Erlebens, des erneuten Durchlebens eines zurückliegenden Ereignisses, bleibt trotz eines intendierten Bezugs auf Vergangenheit stets ein gegenwärtiger Akt. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass sich der Akt des Erlebens unabhängig von der Existenzweise und dem Modus des Erlebten performativ in die Ge‐ genwart einschreibt. Denn auch wenn es sich beim intendierten Gehalt des Erlebnisses um eine Einbildung, eine Sinnestäuschung oder Fiktives handelt, so ändert dieser Umstand nichts an der empirisch-realen Gerichtetheit des Bewusstseins auf diesen Gehalt. Ebenso verhält es sich im Hinblick auf den illokutionären Anspruch des Intendierten, das unabhängig davon, ob diesem ein fiktionaler oder faktualer Aussagemodus zugesprochen wird, erlebt werden kann. Der ontologische Gehalt des direkten Objekts des Erlebnisses (etwas erleben, to experience something) fungiert ergo ebensowenig wie der inhärente Aussa‐ gemodus als Möglichkeitsbedingung für den Akt des Erlebnisses. Stattdessen steht das Erleben in enger Beziehung zur Wahrnehmung im Sinne einer „Tätig‐ keit der Aufnahme und Verarbeitung gegebener Reize und Vorstellungen.“ 458 Der Akt des Wahrnehmens ist wiederum vom Wahrnehmungsgehalt zu unter‐ schieden ist. 218 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="219"?> 459 Janssen, Paul: „Erlebnis, intentionales“, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.-2, 1972, S.-711. 460 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-51. 461 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-65. Diese phänomenologische Differenzierung verspricht insbesondere im Hin‐ blick auf das erinnerungskulturelle Theater sowie andere Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses einen interpretatorischen Mehrwert, ermöglicht es die präzise Trennung zwischen Noema und Noesis doch offensichtlich, die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Rahmen einer Akzentuie‐ rung des Aktes der intentionalen Bewusstwerdung (Noesis) zu überwinden. Anders gewendet, während der Gehalt des Erlebnisses sowohl vergangen als auch gegenwärtig sein kann, vollzieht sich der intentionale Akt des Erlebens immer auf der Ebene der Gegenwart. Damit tritt jeder Erlebnisakt unabhängig von der zeitlich-chronologischen Verortung des Gehalts in Beziehung zur Gegenwärtigkeit des Erlebenden, ohne den es weder einen Erlebnisakt noch einen Erlebnisgehalt geben kann. Somit erleben auch Theaterzuschauer eine Aufführung im Sinne einer Gerichtetheit ihres Bewusstseins auf einen Gehalt, unabhängig davon, ob sich dieser nun im fiktionalen oder faktualen Modus präsentiert. Unter Rekurs auf Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie verweist Paul Janssen darauf, dass für Husserl jedes Erlebnis „seine eigene Erlebniszeitlichkeit“ besitzt, die sich zwischen einem Vorher und einem Nachher verorten lässt: „Es ist, was es ist, in einem beständigen Fluß von Retentionen und Protentionen, die durch eine selbst fließende Phase der Originarität vermittelt werden.“ 459 Auch eine Theaterauf‐ führung verfügt aufgrund ihres außeralltäglichen Charakters, der häufig durch den Eintritt in eine eigens für das Spiel auserkorene Stätte einhergeht, über eine „eigene Erlebniszeitlichkeit“, die sich zwischen dem Beginn und dem Ende der Aufführung etabliert. Diese besondere raum-zeitliche Herausgelöstheit der ästhetischen Erfahrung im Theater macht das Aufführungserlebnis zu einem liminalen und rückt es strukturell in die Nähe des Rituals. Der Akt des Erlebens ist Husserl zufolge in dieser Phase zu verorten, in einem „lebendige[n] Jetzt des Erlebnisses“. Paul Ricœur orientiert sich an Husserls Begriff des Erlebnisses, den er in seinen Ausführungen mit dem Terminus expérience vive ins Französische überträgt und mit dem er ebenfalls an den Gedanken des Gegenwartsbezugs anknüpft. 460 „Indem immer ein neues Jetzt auftritt, wandelt sich das Jetzt in ein Vergangen, und dabei rückt die ganze Ab‐ laufskontinuität der Vergangenheiten des vorangegangenen Punktes ‘herunter‘, gleichmäßig in die Tiefe der Vergangenheit.“ 461 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 219 <?page no="220"?> 462 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-64. Die Begriffe der Retention bzw. der primären Erinnerung und Protention markieren Husserl zufolge die Spanne der Wahrnehmung - und damit des Erlebens - , die er nicht nur im Moment des Jetzt verortet, sondern der er eine Dauer zugesteht. Erst dann, wenn „das reproduzierte Zeitobjekt mit keinem Bein mehr in der Wahrnehmung steht, ist es wirklich vergangen.“ 462 Erst in diesem Moment löst die sekundäre Erinnerung (Reproduktion) die primäre Erinnerung (Retention) ab. Und erst dann, so könnte fortgeführt werden, endet das Jetzt des Erlebens, das im gleichen Moment von einem neuen Jetzt ersetzt wird. Der Konzeption der aisthetischen Dauer folgend wird auch in dieser Studie nur das als (zeitlich) re-präsentierbar verstanden, was das Feld der Wahrnehmung endgültig verlassen hat und somit auch nicht mehr unmittelbar erlebbar, sondern nur noch erinnerbar ist im Sinne der sekundären Erinnerung. Auf die ästhetische Erfahrung theatraler Darstellung rückbezogen lässt sich der Akt des Erlebens an eine Ästhetik des Performativen bzw. an den von Lehmann beschriebenen ‚Einbruch des Realen’ koppeln, während der Akt des Erinnerns aufgrund seiner akzentuierten zeitlichen Dimension, welche das Erinnerte aus dem Feld der unmittelbaren Wahrnehmung ausschließt, einer semiotischen Ästhetik entspricht. Bei der Beschreibung des theatralischen Raums als Schwellenraum wurde behauptet, dass die ethische Kraft eines erinnerungskulturellen Theaters sich weder durch einen eindeutig mimetischen Darstellungsmodus noch durch eine vollendete Kippbewegung ins Performative intensivieren lässt, sondern auf einer perzeptiven Uneindeutigkeit (hésitation) gründet, die sich zwischen den beiden Wahrnehmungsmodi der Repräsentation und der Präsenz verortet, gewissermaßen am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation. Dieser These, die das Konzept der erinnerungskulturellen Phan‐ tastik an der Grenze zwischen Semantik und Pragmatik zu denken versucht, liegt die Annahme zugrunde, dass das Theater seine memoriale Wirkmacht entfalten kann, wenn es genau den umgekehrten Weg der Erinnerung geht, d. h. wenn das Theater seinen noematischen Gehalt in die Latenz verdrängt, sein semantisches Angebot hinter seine Substantialität zurückdrängt, sich somit vergegenwärtigt und eine unmittelbare Beziehung zur Welt eingeht. Ein vollständiger Übergang von der Darstellung hin zum Ereignis wäre der Intention eines erinnerungskulturellen Theaters jedoch bereits deshalb abträglich, weil es in diesem eben nicht nur um die Vergegenwärtigung des Darstellenden geht, sondern immer auch um das Aufrechterhalten eines Zeit‐ bezugs, genauer, eines Bezugs zur Vergangenheit, die als Kontrastfolie zur Gegenwart zu dienen hat. Ohne diese Kontrastfolie wäre jede Gelegenheit der 220 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="221"?> 463 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-187. Reflexion, des Einnehmens einer Metaebene, nicht denkbar. In anderen Worten, erst durch das Oszillieren am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation, durch die potenzielle Gleichzeitigkeit von Repräsentation und Präsenz, die sich einer endgültigen Setzung verweigert, wird es innerhalb des theatralischen Schwellenraums möglich, Vergangenes zu repräsentieren (sekundäre Erinne‐ rung) und die Rezipienten zugleich zu einem performativen, also zu einem präsentischem Akt des kulturellen Gedächtnisses werden zu lassen. Nur auf diese Weise ist es zeitgleich möglich, zu erleben, an Erlebtes zu erinnern und dieses zu reflektieren. Da es die besondere Struktur des theatralischen Schwellenraums erlaubt, zwischen den Wahrnehmungsmodi zu oszillieren, ist eine Gleichzeitigkeit von Erleben und Erinnern denkbar. Dieses behauptete Spiel mit der Ordnung des Als-ob wird in der Folge am Beispiel von ¡Ay, Carmela! dargelegt, einem Theatertext, der bereits vor Beginn der Handlung das unbestimmte Feld zwischen Erinnerung und Erlebnis akzentuiert. Im Anschluss an die dramatis personae fügt Sanchis Sinisterra folgenden Hinweis ein: „La acción no ocurrió en Belchite en marzo de 1938.“ 463 Dieser kurze Ausspruch erscheint aus mehreren Gründen relevant für die Annäherung an den Theatertext. Zunächst lässt sich der polysemische Charakter des Substantivs ‚acción’ hervorheben, das sich gleichzeitig auf ein historisch-reales Ereignis wie auch auf die Theaterhandlung an sich beziehen könnte. Im ersten Fall würde sich der Text ab initio um eine Distanzierung von der Tradition des historischen Dramas bemühen, dessen definitorisches Merkmal die Referenz auf ein bestimmtes außerfiktionales historisches Milieu oder Ereignis oder auf bestimmte historische Personen darstellt. Diese Annahme erscheint insbeson‐ dere unter Berücksichtigung des Untertitels des Theatertextes plausibel. Dieser lautet: „Elegía de una guerra civil en dos actos y un epílogo.“ Die Verwendung des unbestimmten Artikels ‚una’ impliziert eine Bewegung vom Besonderen ins Allgemeine. Das Dargestellte, das selbstverständlich weiterhin in engem Bezug zum Spanischen Bürgerkrieg gesehen wird, öffnet sich zumindest auf sprachlicher Ebene einem erweiterten Interpretationshorizont. Damit geraten andere Fragen als die nach den konkreten Umständen und Geschehnissen des spanischen Bürgerkrieges in den Fokus. So zum Beispiel die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Theaters unter politischer Repression, ebenso die Frage nach der Positionierung von Künstlern und nach der diesen drohenden Gefahr politischer Instrumentalisierung. Aus einem Theater über den Bürgerkrieg wird damit von Beginn an ein Theater über das Theater in Zeiten des Krieges. 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 221 <?page no="222"?> 464 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S. 202: „CARMELA. Pues del ejército, que además, seguro, para celebrar la ocupación de Belchite… PAULINO. La liberación, quieres decir…“ Gleichermaßen lässt sich ‚acción’ als Theaterhandlung verstehen. Aus dieser Perspektive könnte Sanchis Sinisterras einleitender Verweis als Rekurs auf die Dialektik der Repräsentation zu deuten sein. Denn die Theaterhandlung findet und fand in der Tat nicht 1938 statt. Zum einen ist sie kein historisches Ereignis im Sinne einer Aufführung, die tatsächlich so stattgefunden hat und damit zur historischen Referenz wird. Zum anderen, und dies ist entscheidend, ist die Theaterhandlung, das heißt nicht das Dargestellte, sondern die Darstellung, stets an die Gegenwart gekoppelt. Unter diesem Gesichtspunkt würde der prä‐ sentische Charakter der Aufführung der Handlung betont, die als Ereignis und „lebendiges Jetzt“ erlebbar wird. Auf diese Weise expliziert Sanchis Sinisterra das Spannungsfeld zwischen den Wahnehmunsmodi der Repräsentation und der Präsenz und spielt damit bereits vor Beginn der dramatischen Handlung auf das an, was den Rezipienten im Laufe des Stücks erwartet, ein Oszillieren zwischen Erinnerung und Erlebnis. In beiden Fällen und unabhängig von der semantischen Auslegung des Sub‐ stantivs ‚acción’ betont Sanchis Sinisterra den Moment der Erinnerns gegenüber dem erinnerten Moment. Damit weist er die tradierten Merkmale des klassi‐ schen historischen Theaters zurück, wie es insbesondere im 19. Jahrhundert auf den europäischen Bühnen Einzug hielt, und nähert sich einer Text- und Aufführungsstruktur an, die in dieser Studie bereits mehrfach als ‚erinnerungs‐ kulturelles Theater’ bezeichnet wurde. Ein so verstandenes Theater akzentuiert den Gegenwartsbezug des noetischen Akts, die intentionale Gerichtetheit. Auch in Sanchis Sinisterras ¡Ay, Carmela! wird die Dialektik der Repräsen‐ tation zum strukturgebenden Moment. Um dies eingehend am Beispiel des metatheatralen Spiels zu belegen, bedarf es zunächst einer differenzierten Be‐ trachtung der im Stück etablierten Ebene des Erinnerten (Vergangenheitsebene), die bereits von der Ebene des Erinnerns (Gegenwartsebene) unterschieden wurde. Auf der Vergangenheitsebene sind sowohl die Vorbereitungen für den Thea‐ terabend sowie die Gran Velada selbst verortet, die Carmela und Paulino anlässlich der “Befreiung“ von Belchite durch die franquistischen Truppen durchführen müssen. 464 Von den zeitlich zurückliegenden Geschehnissen, die zur Erschießung Carmelas führen, erfahren die Zuschauer nicht etwa durch eine narrative Rekonstruktion Paulinos ausgehend von der Gegenwartsebene. Stattdessen wird das Geschehene im ersten und im zweiten Akt szenisch evoziert, wobei die Aufführungsvorbereitungen in den ersten Akt fallen, die 222 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="223"?> 465 Es wurde bereits darauf verwiesen, dass Paulino selbst als Spielleiter auftritt, wenn er beispielsweise die Requisiten von der Bühne räumt, die als Marker der Gegenwarts‐ ebene fungieren. 466 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-209. 467 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-209. eigentliche Vorstellung der Varieté-Nummern vor dem aus franquistischen Militärs und gefangenen Brigadisten bestehenden Publikum dagegen füllt fast den kompletten zweiten Akt aus. Bereits der erste Akt liefert einen Beleg dafür, dass es sich bei den Vorbe‐ reitungen sowie der Aufführung des Theaterabends um Erinnertes handelt, genauer, um eine In-Szene-Setzung von Paulinos Erinnerungen an die wenige Tage zuvor erlebten Ereignisse. Das Erinnerte ist somit binnenfiktional mo‐ tiviert, denn es ist eine Figur, die als Ausgangspunkt für eine Rückblende und einen damit vollzogenen Wechsel der Fiktionsebenen verantwortlich ist und nicht etwa ein außerfiktionaler Spielleiter oder Dramaturg, der diesen Ebenenwechsel auch völlig unabhängig von den Figuren realisieren könnte. 465 Kurz nachdem die Vergangenheitsebene ein erstes Mal evoziert wurde, wird die Rückkehr zur Ebene des Erinnerns (Gegenwartsebene) durch das Abtreten beider Figuren sowie ein darauf folgendes „Oscuro“ eingeleitet. 466 Nachdem das Bühnengeschehen wenig später in ein schwaches Probenlicht („Entra por el lateral del fondo la luz blanquzina“ 467 ) getaucht wird - eines der theatralen Zeichen, die als Marker der Gegenwartsebene fungieren - sucht die ermordete Carmela zum zweiten Mal den Ort ihrer Hinrichtung auf. Bei ihrer Wiederkehr findet sie den schlafenden Paulino zusammengerollt auf der Bühne vor. Trunken und laut träumend gewährt er der Toten wie auch den Rezipienten unfreiwillig Einblick in seine Gedanken- und Vorstellungswelt, die mentale Inszenierungs‐ fläche der Vergangenheitsebene. Durch die damit evozierte Gleichzeitigkeit des Verdrängten, über das der Traum informiert, und der Figuration des ausbleibenden Umgangs mit den Verdrängungsinhalten in Person der wieder‐ kehrenden Carmela wird die Unmöglichkeit einer Abkopplung von der Vergan‐ genheit hervorgehoben. Ein von der Vergangenheit abgespaltenes Dasein in der Gegenwart bleibt Paulino verwehrt. Stattdessen wird er sowohl im Schlaf als auch im Wachzustand von den tragischen Erlebnissen eingeholt. OSCURO Sobre la oscuridad se escucha la voz de CARMELA acercándose: ) «¡Paulino! … ¡Paulino! ». Entra por el lateral del fondo la luz blanquecina y vemos a PAULINO durmiendo en el suelo, hecho un ovillo. Vuelve a oírse, más cerca, la voz de CARMELA, y la luz de ensayos se enciende con un «clic». 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 223 <?page no="224"?> 468 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-209-211. 469 So streiten sich Paulino und Carmela beispielsweise noch darüber, wessen Schuld es sei, dass sie sich überhaupt in einer solch misslichen Lage befinden: „PAULINO. A comprar morcilla vendrías tú, que yo venía a ver si nos contrataban en Belchite para las fiestas.“ Vgl. Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-208. […] CARMELA. (Entra vestida con su traje de calle.) ¡Paulino! … (Lo ve y acude a su lado.) ¿Qué haces, Paulino? ¿Estás…? (Iba a despertarle, pero se contiene.) Dormido, sí: pobre hijo. […] PAULINO. (Soñando en voz alta: ) ¡No…! ¡Que no se la lleven! … ¡Ella no tiene…! ¡Ellos… la culpa… esos milicianos…! ¡…A cantar! ¡Ella no! … ¡Ésos… que se han puesto…! (Sigue murmurando, sin que se le entienda.) CARMELA. ¡Mira con qué me sale éste! ¡Pues no está soñando…! Y en voz alta, además… Vaya novedad… (Intenta despertarle con suavidad.) Despierta, chiquillo, y no te hagas mala sangre con lo que ya no tiene remedio… 468 Zu diesem Zeitpunkt wissen die Rezipienten noch nicht, dass die Gran Velada in einer Tragödie endet. Der Informationsvorsprung der Figuren tritt durch Paulinos Traum-Monolog und Carmelas Reaktion deutlich zum Vorschein. Während die im Traum erinnerten Inhalte zeitlich zurückliegen und somit aus dramatischer Perspektive einen analeptischen Charakter haben, fungieren die sich auf die Vergangenheit beziehenden und auf einen Konflikt deutenden Satzfetzen aus theatralischer Perspektive als Prolepse. Der ungewollte Rückblick Paulinos dient in diesem Moment als Voraussage in Bezug auf den weiteren Handlungsverlauf der Rückblende, die sich als Inszenierung des Mentalen zu erkennen gibt. Neben den durch die onirischen Versatzstücke ausgelösten semantischen Spekulationen auf Seiten der Rezipienten akzentuiert diese Sonderform der ‘analeptischen Prolepse’ oder ‘erinnernden Vorausschau’ eine strukturelle Verschränktheit von Vergangenheit und Zukunft. Was auf dramatischer Kom‐ munikationsebene als Vergangen gilt, tritt aus Sicht der theatralischen Kommu‐ nikationsebene erst noch ein. Bereits an dieser Stelle lässt sich der theatralische Schwellenraum als Ermöglichungsgrund der scheinbar paradoxen Verschränkt‐ heit von dramatischer Vergangenheit (dargestellte Zeit) und lebensweltlicher Zukunft (Zeit der Darstellung) ausmachen. Aus lebensweltlicher Perspektive gibt es in Bezug auf den Beginn der empirisch-realen Aufführung kein Vorher der Figuren, aus dramatischer Perspektive kann dies jedoch problemlos sugge‐ riert werden. 469 224 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="225"?> 470 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-200. 471 Aznar Soler, „Introducción“, S.-67. Aufgrund der potentiellen Mehrperspektivität innerhalb des theatralischen Schwellenraums verlieren die raum-zeitlichen Deiktika ihre Eindeutigkeit. Ein Gestern kann ein Morgen sein, ein Hier ein Dort, abhängig davon, ob die dramatische oder lebensweltliche Perspektive eingenommen wird. Solange der mimetische Pakt Bestand hat und die Grenze zwischen faktualem und fiktio‐ nalem Aussagemodus und damit zwischen dramatischem und lebensweltlichem Sprechen klar gezogen ist, erscheint diese Zuordnung unproblematisch und eine perzeptive Unschlüssigkeit auf Seiten der Rezipienten ist nicht zu erwarten. Dies ändert sich, wenn die modale Setzung innerhalb des theatralischen Raums erschwert wird und der liminale Raum als Orientierungs- und Ermöglichungs‐ raum wegzufallen scheint. Der Theatertext ¡Ay, Carmela! konfrontiert die Rezipienten mit Momenten perzeptiver Unschlüssigkeit. Mithilfe eines Spiels im Spiel gelingt Sanchis Sinis‐ terra nicht nur eine sich aus der Selbstreferentialität ergebende Reflexion über die Rolle und die Möglichkeiten des Theaters in Zeiten politischer Repression. Zudem nutzt er die Anti-Struktur des theatralen Schwellenraums, um sich, zumindest scheinbar, über die Unmöglichkeit hinwegzusetzen, Vergangenes nicht mehr erleben zu können. Voraussetzung für diese Suggestion, die auf einem Wegfall des theatralischen Raums basiert und eine Annäherung an nicht-fiktionale Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses erlaubt, ist eine durch das Spiel im Spiel bedingte Gleichzeitigkeit von Erinnern und Erleben, die zu perzeptiver Uneindeutigkeit führt. Diese Uneindeutigkeit setzt keineswegs abrupt mit Beginn der Evozierung des von Paulino Erinnerten ein, sondern baut sich allmählich auf und erfährt ihr volles Ausmaß mit Beginn des zweiten Aktes, also dem Beginn der Gran Velada. Die Handlung der Vergangenheitsebene setzt eine halbe Stunde vor Beginn der Velada ein und endet mit der Erschießung Carmelas auf offener Bühne. PAULINO. (Consultando los papeles.) Vamos a ver, vamos a ver… No nos pongamos nerviosos, que aún falta una hora… (Consulta su reloj.) ¿Una hora, digo? ¡Sólo media! 470 Die sich durch ein hohes Aktionstempo und Zeitdruck charakterisierende Vergangenheitsebene steht im Kontrast zur Gegenwartsebene, auf der sich die Handlung „a través de un ‚tempo lento’, de un diálogo moroso y ‚estático’“ 471 vollzieht. Aznar Soler betont diese Verknüpfung von Zeitebene und Tempo. Este tratamiento del tiempo produce un contraste muy evidente entre el dinamismo de la acción dramática en el primer caso, presionados los personajes por la urgencia 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 225 <?page no="226"?> 472 Aznar Soler, „Introducción“, S.-67. 473 Vgl. Hauthal, Metadrama, S.-129ff. 474 Hauthal, Metadrama, S.-135. temporal, por la inminencia de la Velada, y la ausencia de acción dramática en sentido convencional en el segundo, días después. 472 Der Handlungsverlauf der Vergangenheitsebene, die sich strukturell in die Vorbereitungsphase („la urgencia temporal“) und die Aufführung selbst („la inminencia de la Velada“) unterscheiden lässt, wird zwar mehrfach durch die Gegenwartsebene unterbrochen, dabei jedoch chronologisch dargeboten. Der permanente Wechsel zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsebene geht binnenfiktional somit mit einem Oszillieren zwischen Dynamik und Statik sowie Aktion und Reflexion auf Figurenseite einher. Die Gegenwartsebene dient dem Dialog zwischen der Untoten und dem Überlebenden, die Zeit scheint im Vergleich zu der raschen Ereignisfolge auf der Vergangenheitsebene still zu stehen. Anders gewendet, die aus den Fugen geratene Zeit prägt den unbestimmten Ermöglichungsgrund, in dem es zur materiellen Repräsentation des Intelligiblen kommen kann, zur Allegorisierung des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen in Person der untoten Carmela. Die Reflexion ersetzt die Aktion, die somit stattfindende Kontrastierung und Alternation zwischen einer statischen und einer dynamischen Fiktionsebene impliziert eine Gegenüber‐ stellung von Wahrnehmung und dem Umgang mit Wahrgenommenem, von Geschehen und der Erinnerung an dieses Geschehen, durch die das Erinnern trotz seiner Prozesshaftigkeit aus der Chronologie des Lebens herausgehoben scheint. Vorbereitungsphase und Spiel im Spiel sind im Hinblick auf ihre metatheat‐ rale Qualität zu unterscheiden, obgleich die gemeinsame Verortung auf der Vergangenheitsebene etwas anderes suggeriert. In Anlehnung an Janine Haut‐ hals Unterscheidung zwischen Metadramatizität und Metatheatralität lässt sich die Vorbereitungsphase als metadramatisch, die Gran Velada hingegen als metatheatral definieren, da sich der mimetische Pakt erst mit Beginn des Spiels im Spiel aufzulösen droht. 473 Metadramatische Phänomene sind Hauthal zufolge strukturell dadurch gekennzeichnet, „dass sie die dramatische Binnenfiktion in ihrer Absolutheit nicht durchbrechen, wenngleich sie implizit eine mehr oder weniger starke metareflexive Funktionalisierung aufweisen können.“ 474 Im Un‐ terschied zu metatheatralen Phänomenen stellen metadramatische Reflexionen die dramatische Ebene somit nicht in Frage und bewahren auf diese Weise die modale Setzung des mimetischen Pakts. 226 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="227"?> 475 Vgl. Vieweg-Marks, Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, Frankfurt a. M. 1989. 476 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-199-201. Unter Rekurs auf die von Hauthal aufgegriffene und modifizierte Termino‐ logie von Vieweg-Marks könnte die Vorbereitungsphase ebenso als eine Form des thematischen Metadramas bezeichnet werden. 475 So bestimmt das Sprechen über Theater, die Rolle des Künstlers, die gemeinsamen Auftritte und die unzureichende Ausstattung und Garderobe den Dialog Paulinos und Carmelas in der Vorbereitungsphase. Folgende Auszüge liefern den Beleg: CARMELA. Pero ¿a qué viene ahora hacer el pájaro? Eso no lo hemos ensayado… PAULINO. (Bufando.) ¡Qué pájaro ni qué hostias! Que le estoy diciendo al teniente que más luz… Pero ése, además de maricón, es sordo… […] CARMELA. (Entra de nuevo, todavía tratando de sujetarse el vestido.) Costura, podías haber aprendido, y mejor nos vendría ahora… Anda, ayúdame a abrocharme, que este pingajo se me va a caer todo en medio de la fiesta. PAULINO. ¿Pingajo? No, mujer: si te queda bien… CARMELA. ¡Anda allá, muy bien…! Ni una hora he tenido para hacérmelo… Y de unas cortinas que, no veas… Mira que salir delante de toda esa hombrada hecha un adefesio… […] CARMELA. Y ya verían qué gala tan bonita les hacíamos. Pero así, sin nada… (Bruscos cambios de luces.) PAULINO. ¡Ya voy, ya voy, mi teniente! (Empujando a CARMELA fuera de escena.) Anda y acaba tú… CARMELA. (Fuera.) ¡En bragas voy a quedarme al primer baile, ya verás! … PAULINO. (Hacia el fondo de la sala: ) Usted perdone, mi teniente, pero es que… la signorina Carmela está muy nerviosa por tener que actuar así: sin decorados, sin vestuario, sin atrezzo, sin niente de niente… (Cambios de luces.) Bueno, sí: luces, sí. Muy buenas las luces […]. 476 Die durch die theatrale Selbstanzeige provozierte Störung der Geschehensillu‐ sion während der Vorbereitungsphase mindert jedoch in keinem Moment die Fiktionsqualitäten des Theatertextes und der damit intendierten Aufführung. Der repräsentative Wahrnehmungsmodus der Rezipienten wird (noch) nicht erschüttert, auch wenn diese Erschütterung bereits in der Vorphase der Velada angelegt ist. Denn mit Beginn der Vergangenheitsebene setzt sich eine Überla‐ gerung zwischen empirisch-realem und imaginiertem Zuschauerraum durch. 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 227 <?page no="228"?> 477 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-228f. 478 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-200. Einzig der Umstand, dass sich Carmela und Paulino so verhalten, als wären die Zuschauer abwesend, sichert vorläufig deren modale Orientiertheit. PAULINO. Quien no llega es el público… (Mira hacia el fondo de la sala.) Y el teniente… míralo en la cabina, qué tranquilo está, con Gustavete, fumando como un marajá… 477 Die Grenze zwischen dramatischem und lebensweltlichem Raum scheint nicht bedroht, auch wenn sich der fiktionale Raum bereits auf den theatralischen Raum ausgeweitet hat und damit an die Grenze zur Lebenswelt zu stoßen scheint. Diese Expansion des dramatischen Raums wird bereits im ersten Akt durch Paulinos Dialog mit dem italienischen Teniente Amelio Giovanni di Ripamonte komisch überzeichnet. Paulinos versehentliche Anspielung auf die roten Truppen führt zu unkontrolliertem Lichtgeflacker: PAULINO. […] (Grita hacia el fondo de la sala: ) ¡Los rojos! ¡Los rojos, mi teniente! ¡I rossi! (Apagón total.) ¡No, hombre! ¿Qué hace? No se asuste…! Quiero decir los botones rojos! ¡Que apriete sólo los botones rojos para el principio! ¡I bottoni rossi! (Se enciende la luz con intensidad media.) ¡Por fin! ¡Eso es! ¡Perfecto! ¡Perfetto, mio tenente! ¡Así! ¡Cosí, cosí! … ¡Principio, cosí! ¡I bottoni rossi! (Da un bufido de alivio y habla hacia el lateral, a CARMELA .) Como esto dure mucho, me voy a destrozar la voz a fuerza de gritos… 478 Die bedrohliche, immaterielle Präsenz Ripamontes, der stets aus dem off-stage agiert und einer panoptischen Kontrollinstanz gleicht, sowie dessen Einfluss auf das Bühnengeschehen werden für den Zuschauer unmittelbar wahrnehmbar. Ripamonte befindet sich im Rücken des Publikums („PAULINO. […] (Grita hacia el fondo de la sala […]”)), er sieht, ohne gesehen zu werden. Ohne selbst das Wort zu ergreifen, tritt der Militär und Organisator der Gran Velada in einen Dialog mit Paulino. Dieser charakterisiert sich jedoch nicht durch einen Wortwechsel, sondern durch den Austausch von den in fehlerhaftem Italienisch geäußerten Repliken Paulinos und Veränderungen der Beleuchtung durch Ripamonte. Diese Sonderform des Wort-Licht-Dialogs zwischen on- und off-stage erfährt durch die Anwesenheit des taubstummen Gustavete, der das Künstler-Duo hinter der Bühne unterstützt, eine weitere Ausgestaltung. Die somit etablierte Überlagerung von imaginiertem und realem Bühnen‐ raum ist Vorbote des kurz darauf intensivierten perzeptiven Verwirrspiels, 228 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="229"?> 479 Aznar Soler, „Introducción“, S.-67. handelt es sich doch bei dem Austausch zwischen Ripamonte und Paulino bzw. Paulino und Gustavete nicht nur um eine Dialogform innerhalb des dramatischen Raums, sondern zugleich um eine Kommunikation zwischen dra‐ matischem und lebensweltlichem off-stage. Die Beleuchtung des imaginierten Bühnenraums ist eben zugleich die des empirisch-realen Bühnenraums. Die so vollzogene räumliche Erweiterung der fiktionalen Welt lässt den theatralischen Raum und damit auch den Zuschauer scheinbar innerhalb des dramatischen Raums aufgehen. Die Ordnung des Als-ob erfährt eine erste Fissur, obgleich den Zuschauern während der Vorbereitungsphase noch keine innerdramatisch-konstitutive Rolle zugeordnet wird und der mimetische Pakt allem Anschein nach nicht in Frage gestellt wird. Der zeitlichen Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erin‐ nertem und Erleben, steht somit eine räumliche Deckungsgleichheit gegenüber, die durch ihre Expansion auf den gesamten Theaterraum den Grundstein für das Auslösen rezeptiver Uneindeutigkeit zu legen vermag, ist es doch so, dass die Doppelung des Raums eine Doppelung der Theaterzuschauer, zumindest potentiell, miteinschließt. Die Integration der Zuschauer als konstitutive, Rollen ausfüllende Elemente wird lediglich dadurch hinausgezögert, dass sich die Figuren Carmela und Paulino nicht direkt an das Publikum wenden. Somit büßt der Status des realen Publikums bereits an raum-logischer Eindeutigkeit ein, auch wenn sich die Zuschauer vor Beginn der Gran Velada noch in der Position der passiven Beobachter wähnen. Während die Vorbereitungsphase zunächst einen leeren Bühnenraum sugge‐ riert, vollzieht sich die Immersion der Rezipienten in den dramatischen Raum mit Beginn der Gran Velada. [E]l público también tiene una presencia dual, pues uno es el público real que asiste a la representación del ¡Ay, Carmela! de Sanchis Sinisterra, es decir, nosotros espectadores, y otro es el público ficcional, el asistente de aquella velada, compuesto por militares fascistas y condenados a muerte de las Brigadas Internacionales. 479 Der vermeintlich implizite Wegfall des theatralischen Raums, der anfangs durch die Außenperspektive der realen Zuschauer erhalten blieb, führt nun zu der beschriebenen Illusion der Überwindung des Als-ob. Der illusorische Wegfall der modalen Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum gelingt durch die von José Sanchis Sinisterra häufig verwendete Inszenierungstechnik des Spiels im Spiel, durch die dem Zuschauer auf der Vergangenheitsebene eine fiktive Rolle zugeschrieben wird, die sich, je nachdem ob er sich im Parkett oder auf 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 229 <?page no="230"?> 480 Wolfgang Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S.-14. den Rängen befindet, in der Rolle franquistischer Militärs oder Gefangener der internationalen Brigaden konkretisiert. Jedes Mal, wenn die Gran Velada szenisch realisiert wird, kommt es zur Integration der Zuschauer in die fiktionale Welt. Sie werden zu Figuren des dramatischen Geschehens. Durch die inszenatorische Kippbewegung des Spiels im Spiel scheint der theatralische Raum temporär aufgelöst und die fiktionale Welt unmittelbar an die Lebenswelt anzugrenzen. Im Zuge dieser Immersion erlebt der Rezipient das von Paulino im Traum Erinnerte unmittelbar. In seiner ihm aufgestülpten Rolle, die jede Möglichkeit der Außenperspektive versagt, vermag es der Zuschauer nicht, die Repliken und Anreden der Figuren von außen und damit als fiktionales Sprechen zu charakterisieren. Der Zuschauer erlebt Erinnertes, indem er kon‐ stitutiver Teil von Paulinos Erinnerungen und damit der fiktionalen Welt wird. Es sei hier an Wolfgang Matzats wichtige Feststellung erinnert, dass zwischen dramatischem, theatralischem und lebensweltlichem Raum ein funktionaler Zusammenhang besteht, „da für die hierarchisch untergeordneten Ebenen jeweils die Ausblendung der übergeordneten Ebenen konstitutiv ist.“ 480 Die Bewertung des innerfiktionalen Sprechens als fiktional ist nur von außen, also außerhalb der Rolle, möglich. Als Figuren, denen eine Rolle auferlegt wurde, haben die Zuschauer jedoch keine Option auf eine Außenperspektive, wodurch die Repliken Carmelas und Paulinos eine modale Statusveränderung erfahren, die durch eine vermeintliche Überwindung des Als-ob ermöglicht wird. Carmela und Paulino geben nun nicht mehr vor, Varieté-Nummern anlässlich der Erobe‐ rung Belchites aufzuführen, sondern sie tun dies aus dramatischer Perspektive tatsächlich. Bei genauerer Betrachtung muss jedoch auf den Illusionscharakter dieser Strukturveränderung hingewiesen werden. Die vermeintliche Nicht-Existenz des theatralischen Raums, der als Zwischenraum einer Art strukturellen Ver‐ drängung zum Opfer gefallen ist, besteht weiterhin und wird durch seine Anwesenheit zur Quelle rezeptiver Unschlüssigkeit und damit zum Ausgangs‐ punkt für die Wirkungspotenziale erinnerungskultureller Phantastik. Die metatheatrale Involvierung des Zuschauers, der Wechsel zwischen Im‐ mersion in den dramatischen Raum und dem Ausschluss aus selbigem, der mit einer Re-Etablierung des theatralischen Perspektive einhergeht, versetzt die Rezipienten in die Lage, den Übergang zwischen Erleben und Erinnern so wie Paulino zu erfahren. Dies gelingt, indem das von Paulino Erinnerte zugleich zum unmittelbaren Erlebnis für die Rezipienten wird. Diese Kippbewegung funktioniert dank eines metatheatralen Aufbaus. 230 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="231"?> Jede Vergewisserung des Zuschauers bzgl. der ihm auferlegten Rolle kann strukturell nur aus lebensweltlicher Perspektive erfolgen. Paradoxerweise ver‐ weigert das metatheatrale Spiel von Sanchis Sinisterra das Einnehmen einer Metaperspektive bzw. reflexiven Position. Die These, dass es sich beim me‐ tatheatralen Spiel um einen illusionsstörenden Mechanismus handelt, kann zumindest mit Blick auf die Aufführungsillusion nicht aufrechterhalten werden. Stattdessen wird dem Zuschauer im Rahmen seiner fiktiven Rolle die Wahrneh‐ mungsordnung der Präsenz auferlegt, was ihn wiederum zu einer kognitiven und emotionalen Positionierung zu den sich im unmittelbar darbietenden ‘Er‐ lebnissen’ auffordert. Die ethische Kraft des Theatertextes sowie der damit intendierten Aufführungspraxis entsteht somit durch die Doppelrolle des Zu‐ schauers, die keine eindeutige Einnahme des einen oder des anderen Wahrneh‐ mungsmodus erlaubt. Als Zuschauer folgt er weiterhin der repräsentativen Wahrnehmungsordnung, als Figur jedoch stellt sich ein präsentischer Modus ein, dessen er sich nicht erwehren kann. Dieses Spannungsverhältnis, dieses Erleben des Erinnerten, das sich genau in dem Moment einstellt, wenn das Theater seinen fiktionalen Modus, sein Als-ob abzulegen scheint (umgekehrter Weg der Erinnerung), löst sich erst dann auf, wenn sich die perspektivische Ordnung wiederherstellt, d. h. wenn die Gegenwartsebene die Ebene der Gran Velada ablöst. In diesem Moment reetabliert sich der mimetische Pakt, der theatralische Raum manifestiert sich erneut, bricht gewissermaßen aus der Latenz hervor und schiebt sich ordnend zwischen Fiktion und Lebenswelt. Sobald die Gegenwartebene evoziert wird, wird das von Paulino Erinnerte auch für die Rezipienten nur noch über den Akt des Erinnerns zugänglich. Dadurch gelingt es Sanchis Sinisterra, den Zuschauer in eine ähnliche Position wie Paulino zu drängen. Stellt sich die Gegenwartsebene ein, wird das Vergangene erneut in die Welt der Vorstellung gedrängt - auf Seiten Paulinos handelt es sich dabei um eine mentale, bei den Zuschauern um eine theatrale Vorstellung. Geist und Fiktion werden erneut zum Lebensraum des Verdrängten. Die Repliken der untoten Carmela sind dementsprechend nicht nur an Paulino, sondern ebenso an das Publikum gerichtet: PAULINO. Bueno, ¿y ese club…? CARMELA. O lo que sea, que ya se verá… Pues para hacer memoria. PAULINO. ¿Qué quieres decir? CARMELA. Sí: para contarnos todo lo que pasó, y por qué, y quién hizo esto, y qué dijo aquél… PAULINO. ¿Y para qué? CARMELA. Para recordarlo todo. 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 231 <?page no="232"?> 481 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-261. 482 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-229f. PAULINO. ¿A quién? CARMELA. A nosotros… y a los que vayáis llegando… PAULINO. (Tras una pausa.) Recordarlo todo… CARMELA. Sí, guardarlo… Porque los vivos, en cuanto tenéis la panza llena y os ponéis corbata, lo olvidáis todo. Y hay cosas que… PAULINO. ¿Lo dices por mí? ¿Crees que me he olvidado de algo? 481 Genau wie Paulino sind die Zuschauer sprachlos, sobald sich die Gegenwarts‐ ebene reetabliert. Und genau wie für Paulino bestünde die Möglichkeit, das Wort zu erheben, zur Sprache zurückzufinden und auf diese Weise den ‘Pakt des Schweigens’ zu durchbrechen. Auf ihren Platz außerhalb der Fiktion verwiesen, tun sie dies aber nicht, weil sie die Stabilität des mimetischen Pakts, der die Ord‐ nung der theatralen Repräsentation überhaupt erst ermöglicht, nicht gefährden wollen. So wie ihr lebensweltliches Wort, das Wort aus dem Außerhalb der Fiktion, die Fiktion selbst unmöglich werden ließe, so geriete auch das erin‐ nernde Wort Paulinos zur Bedrohung für die systemische Stabilität. Diese wird innerhalb der fiktionalen Welt durch den Franquismus und seiner Gefolgschaft repräsentiert, deren Ideologie sich wie ein Schleier der Uneigentlichkeit über die Eigentlichkeit der Protagonisten legt. Dass Paulino sich der Macht der Obrigkeit bewusst ist, belegen seine Ver‐ suche, Carmelas unüberlegte, weil dem ideologischen Diskurs widersprechende Äußerungen zu unterbinden bzw. ungehört zu machen. Bereits angesichts der panoptischen Überwachung durch den teniente sieht sich Paulino mehrfach gezwungen, Carmela den Mund zu verbieten. CARMELA. Pues del ejército, que además, seguro, para celebrar la ocupación de Belchite… PAULINO. La liberación, quieres decir… CARMELA. Eso, la liberación…, pues seguro que han liberado también las bodegas, y no le quiero decir las ganas de bulla que traerán en el cuerpo. PAULINO. Calla, Carmela, que el teniente casi no entiende el español. Yo se lo explicaré… (Al fondo.) Verá usted, mio tenente: la signorina vuole dire… 482 Bis zur letzten Varieté-Nummer, ein anzüglicher Sketch, in dem Dr. Toquem‐ etoda Carmela von einer von der republikanischen Flagge und der damit einhergehenden pathologisch bedenklichen Gesinnung befreien soll, scheinen Paulinos Ablenkungsmanöver erfolgreich zu sein, auch wenn sich die Kata‐ strophe, die Erschießung Carmelas auf offener Bühne, bereits kurz vor Beginn des Spiels im Spiel ankündigt. 232 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="233"?> 483 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-229f. PAULINO. (Francamente preocupado, vigilando, además, la cabina.) Está bien, mujer, está bien… Lo que tú digas… Pero ahora no es momento de… Mira: parece que el teniente ya se prepara. Ha debido de acabar la procesión. CARMELA. ¡Eso sí! Mucha procesión, mucha misa, mucho rosario, y luego… ¡a fusilar huérfanos! PAULINO. Haz el favor de callarte… Y prepárate, que el teniente no sé qué nos dice… Creo que ya llega la tropa. ¿Oyes? (Por el lateral.) ¿Está ahí Gustavete? CARMELA. (Indignada). Sí…, pero ¿sabes lo que te digo? Que el número de la bandera no lo hago, ea. PAULINO. ¿Qué dices? (Trata de sacarla de escena.) CARMELA. El de la bandera republicana: que no me da la gana de hacerlo. ¡Pobres hijos! Encima de fusilarlos, darles a tragar quina con la tricolor… Se hace bruscamente el oscuro. Pasos precipitados en el escenario. Continúan dialogando, con la voz contenida, desde la oscuridad. PAULINO. ¡Que calles, te digo! ¡Ya está! ¡Vamos a empezar! ¡A tu sitio! ¡Gustavete: preparada la música! CARMELA. Te digo que no lo hago. Ya puedes ir inventándote algo, porque yo no salgo a burlarme de la bandera. Eso encima, pobres hijos… PAULINO. Pero ¿desde cuándo te importa a ti un rábano la bandera de la República? ¿Qué más te da a ti burlarte de ella o de los calzoncillos de Alfonso XIII? … ¡Gustavete, la marcha! ¡El público está entrando en la sala! … Nosotros somos artistas, ¿no? Pues la política nos da igual. Hacemos lo que nos piden, y santas pascuas. 483 Dieser Übergangsmoment zwischen Vorbereitungsphase und Spiel im Spiel führt nicht nur zu einer binnenfiktionalen Veränderung des Aussagemodus, son‐ dern ebenso zur Rollenvergabe an das Publikum und der damit einhergehenden Vorgabe eines Wegfalls des Al-ob. Die durch die räumliche Identität bedingte Doppelrolle der Rezipienten, die während des Spiels im Spiel einerseits ein reales Publikum der Gegenwart, andererseits franquistische Soldaten oder Bri‐ gadisten sind bzw. darstellen, macht sie zu Komplizen der beiden Hauptfiguren, die während der Velada selbst in eine Sekundärrolle fallen. Die Rezipienten haben dank des voyeuristischen Beiwohnens während der Vorbereitungsphase keine Schwierigkeiten, eigentliches von uneigentlichem Sprechen innerhalb des dramatischen Raums zu unterscheiden. Durch den Informationsvorsprung auf Seiten der Rezipienten bedient sich der Theatertext einer grundlegenden Technik der Komödie. Zugleich erhält die Rezeption während der Velada einen paradoxen Charakter, denn die Rezipienten sind zugleich Mitwissende - und damit Verbündete - und Unwissende. Als 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 233 <?page no="234"?> Unwissende fällt ihnen die fiktive Rolle der Opfer und Täter zu, je nachdem ob sie sich im Parkett (Franquisten) oder auf den Rängen (Brigadisten) Platz ge‐ nommen haben. In ihrer Doppelrolle wähnen sie sich in einer widersprüchlichen Situation. Aus ihrer realen Zuschauposition heraus liegt der spannungsreiche Moment in ihrer Hoffnung begründet, dass die durch sie selbst verkörperten Fi‐ guren das wiederholte Aus-der-Sekundärrolle-Fallen Carmelas nicht bemerken. Die Rücknahme der zuvor potenzierten Fiktionalität durch das wiederholte Aus-der-Sekundärrolle-Fallen Carmelas spielt die theatralische Verbundenheit sowie die innerdramatische Feindseligkeit gegenüber dem Publikum zeitgleich aus. Die durch den vermeintlichen Wegfall des theatralischen Raums bedingte Unschlüssigkeit bzgl. des einzunehmenden Wahrnehmungsmodus wird durch die mehrfache Verwendung der Publikumsansprache intensiviert. Während es sich im Falle der rebellierenden Carmelas eher um ein ad spectatores ex persona handelt, richtet Paulino seine Worte unter Berücksichtigung seiner Sekundärrolle an das Parkett (Ad spectatores in persona). Immer wieder gelingt es ihm, wenn auch nur für kurze Dauer, Carmela in ihre unterschiedlichen Rollen zu zurückdrängen. PAULINO. (Con humor forzado, tras varios intentos de hacerla callar). ¡Y madre no hay más que una, y a ti te encontré en la calle! … ¡Muy bien! Sí, señores: ésta es Carmela, una artista de raza y «tronío» que, después de pasear su garbo por los mejores «tablaos» de España, llega aquí, a este simpático Teatro Goya, de Belchite, para poner su arte a los pies de ustedes… CARMELA. (Chistosa.) Conque ojo, no me lo vayan a pisar con esas botazas… El arte, digo… PAULINO. (Con falsa risa.) ¡Qué ocurrente! … Ésta es Carmela, sí, señores: toda la sal de Andalucía y el azúcar de… de… (Le fallan sus conocimientos agrícolas.) CARMELA. Del Jiloca, ea… aunque sea de remolacha. PAULINO. Nunca le falta la chispa… cuando se trata de agradar al público… CARMELA. Eso es verdad: que yo, al público, me lo quiero mucho, tenga el pelaje que tenga… Ya ven ustedes, por ejemplo, tan seriotes ahí, con los uniformes y las pistolas y los sables esos… Pues, para mí, como si fueran mis primos de Colomera… que siempre andaban con la cosa afuera… (Ríe con falso pudor.) ¡Uy, ustedes perdonen! Que ésta es una broma que hacíamos yo y mis hermanas… PAULINO. (Sobreponiéndose a un súbito ataque de tos.) Basta, basta, Carmela… Que este distinguido público se merece otra clase de… de ocurrencias… Ya lo ven ustedes, señores: a nuestra Carmela no le hacen falta papeles para llenar con su gracejo un escenario… Pero a mí, sí… (Hojea los suyos.) A mí, sí… Porque ahora venía aquello de… aquello… (Lo encuentra.) ¡Aquí está! Sí, señores, esto… (Lee). «Y como símbolo de esta fraternidad artística, que es también la de nuestros dos pueblos, el español y 234 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="235"?> 484 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-234f. 485 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-235. el italiano, unidos en la lucha contra la hidro…», no, «contra la hidra… la hidra roja, les ofrecemos este baile ale… alegro… alegóricopatriótico titulado: Dos Pueblos, dos Sangres, dos Victorias»… 484 Durchweg bewegt sich das Künstlerduo an der innerfiktionalen Grenze zwi‐ schen fiktionalem und faktualem Aussagemodus. Allein der Umstand, dass das fiktive Publikum den innerfiktionalen mimetischen Pakt voraussetzt, verhindert vorerst den Eklat. Die Aussagen Carmelas fragilisieren jedoch den modalen Schutzwall zunehmend. Ripamonte weist durch abrupte Lichtveränderungen wiederholt auf die Bedrohung hin. CARMELA. Pero, no se crean: hasta lo hemos probado un rato, esta tarde, porque voluntad no nos falta… Pero, si vieran… (Ríe.) ¡El pobre Gustavete…! (Seria.) Así que hemos dicho: Tú, Gustavete, a la gramola. No vayan a pensar estos señores alemanes que nos queremos chotear de ellos… PAULINO. Efectivamente, señores, efectivamente… Nosotros… (El «teniente» produce bruscos cambios de luz.) 485 Die Rebellion Carmelas steigert sich in besagter Varieté-Nummer in eine Solidaritätsbekundung mit den gefangenen Brigadisten, die weniger politisch als vielmehr menschlich motiviert ist. Das unwürdige Verhalten Paulinos ergibt sich nicht aus dessen apolitischem Agieren („PAULINO. […] Nosotros somos artistas, ¿no? Pues la política nos da igual. Hacemos lo que nos piden, y santas pascuas.”), sondern aus seinem Mangel an Mitmenschlichkeit. Sein Kalkül, sein Wissen um die politische Bedrohung, intensiviert das rezeptive Unbehagen gegenüber der Duldung der politischen Instrumentalisierung. Die Rollenverweigerung Carmelas erfährt ihren Höhepunkt kurz vor ihrer Erschießung. Zwar zögert Paulino diesen innerfiktionalen Einbruch des Realen, das offensichtliche Aus-der-Sekundärrolle-Fallen Carmelas einige Zeit hinaus, indem er ihre Passagen übernimmt und ihr Verhalten komisch überspielt, doch gelingt dies nur solange, bis es zur direkten Interaktion Carmelas mit den gefangenen Brigadisten kommt. PAULINO. Y, además de eso, ¿tiene usted algún otro síntoma? CARMELA. Muchos tengo, doctor. Pero será mejor… (Vacila.) Será mejor… (Queda callada, en actitud hosca.) PAULINO. (Improvisando.) Sí, será mejor que… (Cada vez más inquieto, trata de inducir a CARMELA a continuar.) Que se quite la ropa, ¿no? … para que pueda reconocerla… 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 235 <?page no="236"?> 486 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-250. 487 Sanchis Sinisterra, ¡Ay, Carmela! , S.-251f. (Venciendo su resistencia, le quita el abrigo: su cuerpo está envuelto en una bandera republicana. PAULINO vuelve a su papel, alterado por la actitud de CARMELA.) Vaya, vaya… Estos colores no me gustan nada… Se nota que ha tenido usted… alguna intoxicación. CARMELA. (Cada vez más a disgusto, lanzando miradas a la supuesta zona de los prisioneros.) Tiene razón, doctor… Pero la cosa me viene… de nacimiento… 486 Carmelas Aus-der-Sekundärrolle-Fallen mündet erneut in einer Interaktion zwischen Zuschauerraum und Bühne. Anders als im Falle Ripamontes findet die Kommunikation nun lauthals statt und die Zuschauer erleben die Solida‐ risierung zwischen Bühne (Carmela) und Rängen in Form des gemeinsamen Anstimmens des republikanischen Truppenliedes Ay, Carmela. Die Zuschauer im Parkett werden in ihrer fiktiven Rolle zu Übertölpelten und zu Opponenten der Solidarisierung innerhalb des den gesamten Theaterraum füllenden drama‐ tischen Raums. (De pronto, desde un lugar indeterminado —quizá desde la sala—, entonada por voces masculinas en las que se adivinan acentos diversos, se escucha la canción popular republicana: ) […] CARMELA. (Desprendiéndose violentamente de PAULINO.) ¡Vete a darle por detrás a tu madre! (Y se une al canto de los milicianos, al tiempo que abre y patética caricatura de una alegoría plebeya de la República.) PAULINO. (Aterrado.) ¡Carmela! ¡Los… el… las… las tetas! (Todo ha sucedido muy rápidamente, al tiempo que la luz ha comenzado a oscilar y a adquirir tonalidades irreales. También el canto —y otros gritos y golpes que intentan acallarlo— suena distorsionado. PAULINO, tratando desesperadamente de degradar la desafiante actitud de CARMELA, recurre despliega la bandera alrededor de su cuerpo desnudo, cubierto sólo por unas grandes bragas negras. Su imagen no puede dejar de evocar la a su más humillante bufonada: con grotescos movimientos y burdas posiciones, comienza a emitir sonoras ventosidades a su alrededor, para intentar salvarla haciéndola cómplice de su parodia.) […] (La luz se extingue, excepto una vacilante claridad sobre la figura de CARMELA. También decrecen las voces y sonidos de escena, al tiempo que se insinúan, inquietantes, siniestros, los propios de un fusilamiento: pasos marciales sobre tierra, voces de mando, una cerrada descarga de fusilería. Mientras se apagan los ecos, se hace totalmente el OSCURO) 487 236 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="237"?> 488 Zur Einbeziehung der Zuschauer als Zeugen vgl. Hauthal, Metadrama, S.-238. 489 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-181. 490 Hauthal, Metadrama, S.-98. Die gemeinsame Stimme von Carmela und Teilen des fiktiven Publikums, das innerhalb des dramatischen Raums wenig später als Zeuge 488 und Täter zugleich agiert, lassen die Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Unei‐ gentlichkeit, faktualem und fiktionalem Sprechen, in den Hintergrund treten. Aufgrund des vermeintlichen Wegfalls der perspektivischen Ordnung rückt die Darstellung strukturell an einen performativen Akt des Erinnerns heran. Die Ausdehnung des dramatischen Raums, der dadurch vorgegebene Wegfall des theatralischen Raums sowie die Immersion der Zuschauer suggerieren eine communitas-Erfahrung auf derselben Kommunikationsebene. Das dramatisch Erinnerte (Paulino) wird durch die Vergabe der fiktiven Zuschauerrolle zu einem ästhetischen Erlebnis, dem aufgrund der strukturell forcierten Innenperspektive des Zuschauers unmittelbar begegnet werden muss. Die Akzentuierung des Darstellenden im Vergleich zum Dargestellten erfor‐ dert es aus Sicht der fiktiven Zuschauerrolle einen Wahrnehmungsmodus der Präsenz und damit eine kognitive und emotionale Positionierung zum wahrge‐ nommenen Geschehen. In Anlehnung an diese Präsenz des Realen schreibt Hans-Thies Lehmann entsprechend: „Spielerisch schafft das Theater eine Lage, bei der man sich dem Wahrgenommenen nicht mehr einfach ‚gegenüber‘ stellen kann, sondern beteiligt ist und daher, akzeptiert, daß man, wie es Gadamer von der ‚Situation’ betont, so in ihr steht, daß man kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann.“ 489 Der noematische Gehalt des Theatertextes, der intendierte Gegenstand, wird indes weiterhin als fiktiv betrachtet („Esta acción no occurió en Belchite en marzo de 1938.“ Hier im Sinne von ‚historischem Ereignis’.), weshalb die Rezipienten trotz ihrer für die dramatische Handlung konstitutiven Rolle nicht in das Geschehen eingreifen: Auch das Wissen um den Fiktionscharakter des Dargestellten und der Darstellung ist Bestandteil des ‚Paktes’. Dies wird daran erkennbar, dass sogar Zuschauer von Aufführungen, in denen sich Schauspieler ans Publikum wenden, sich bewusst sind, dass sie trotz der direkten Anspreche nicht zum Mitmachen aufgefordert sind […] Erst ein Abbruch einer Aufführung kündigt den ‚theatralen Pakt’ auf, und es kommt zur Aufhebung der theatralen Rahmung als Grenzziehung zur Lebenswelt. 490 Durch die in Folge der Immersion ermöglichte Betonung der Substantialität des Darstellenden, des noetischen Akts, kommen die Rezipienten jedoch nicht um eine Stellungnahme zu dem herum, was sich ihnen darbietet. Diese Stellung‐ 1 Zwischen den Fronten: ¡Ay, Carmela! (1986) von José Sanchis Sinisterra 237 <?page no="238"?> 491 Fischer-Lichte, „Einleitung“, S. xi. nahme bezieht sich eben nicht auf ein historisches Ereignis, sondern auf die erlebte und zugleich erinnerte Theaterhandlung. Die Verwendung des metatheatralen Spiels führt das Stück ¡Ay, Carmela! punktuell an andere nicht-fiktionale Organisationsformen der Gedächtnis- und Mythosbildung heran, bei denen es weniger um die Faktizität des Erlebnis‐ gehalts als vielmehr um den Akt des Erlebens geht. Beispielhaft dafür sind religiöse Liturgien, die auf kulturelle und identitäre Festigung abzielen und deren Wirkmacht sich ebenso auf einen Pakt gründet. Gedächtnistheoretisch gewendet, ließe sich das Stück als Versuch einer cultural performance verstehen, deren Ziel nicht etwa ein Statuswechsel der Beteiligten ist, sondern die erinne‐ rungskulturelle Aktivierung der Rezipienten, die „Bildung von Gemeinschaften“ und der „Herstellung sozialer Verbindlichkeit“. „Diese Ziele sind ausnahmslos ohne eine Phase der Liminalität, die ihr vorausgeht, nicht zu erreichen.“ 491 Die vermeintliche Aufgabe des Als-ob, der scheinbare Wegfall des theatralischen Raums, ohne den der mimetische Pakt unterminiert wird, löst eine solche ästhetische Schwellenerfahrung aus. Dieser Prozess meint indes keine naive Gleichsetzung des Dargestellten (Noema) mit der außersprachlichen Realität. Vielmehr gelingt es durch das metatheatrale Spiel, das Dargestellte durch die Immersion der Rezipienten als sich Darstellendes zu präsentieren, dem aus der Innenperspektive heraus unmittelbar zu begegnen ist. Diese Unmittelbarkeit und die durch sie eingefor‐ derte Ordnung der präsentischen Wahrnehmung auf Seiten der Rezipienten gehen nicht einher mit einer radikalen Kippbewegung in eine Ästhetik des Performativen. Vielmehr finden sich die Rezipienten aufgrund ihrer Doppelrolle am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation wieder, zwischen Präsenz und Repräsentation, in einem perzeptiven und somit modalen Zwischenraum. Genau dieses „betwixt and between“, diese perzeptive Unschlüssigkeit, scheint Vergangenes erlebbar zu machen und damit die Paradoxie des Wieder-Erlebens des Vergangenen suggestiv aufzulösen - wenn auch nur im theatralen Spiel. Trotz ihrer Involviertheit wissen die zu Figuren gewordenen Rezipienten stets um den fiktiven Charakter des Erlebten (Noema) sowie um die fiktional determinierte Rezeptionssituation. Anders als bei einem Happening, das die Kippbewegung ins Performative zu Ende führt, wird die Rolle des realen Zuschauers hier nicht vollends abgelegt. Das metatheatrale Spiel erlaubt ein ästhetisches Erleben von Vergangenheit. Zugleich eröffnet der Ebenenwechsel die Gelegenheit, das ästhetisch Erlebte zu erinnern und zu reflektieren. Ent‐ scheidend ist dabei, dass trotz des real vollzogenen Akts des Erlebens nicht der 238 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="239"?> 492 Sanchis Sinisterra, José: „Metateatro“, in: ders., La escena sin límites, Ciudad Real 2 2012, S.-262-263. Erlebnisgehalt in eine unmittelbare Beziehung zur Welt gesetzt wird, sondern der Akt des Erlebens. In folgender, von Sanchis Sinisterra formulierten Definition des Begriffs ‚Me‐ tatheater’ scheint diese phänomenologische Schärfung bereits eingeschrieben. Das Metatheater verweist auf die Gemachtheit des Dargestellten und präsentiert zugleich das Darstellende als Verbindungspunkt zur Lebenswelt der Rezipi‐ enten. Como una radicalización de esta tendencia, se desarrolla en el siglo XX, y muy especialmente a partir de la provocación pirandelliana, esa corriente que algunos teóricos denominan Metateatro, y que se emparenta con la vocación autorreferencial del arte contemporáneo. En ella, la obra se denuncia a sí misma como artefacto, como objeto hecho con habilidad, que habla en primera instancia de su propia naturaleza artística, de su pertenencia a ese terreno ilusorio y convencional que llamamos Arte. Y al hacer esto, se redime de su condición falaz y adquiere un nuevo estatuto de realidad: el de objeto artificial pensado y creado para impedir la ingenua identidad entre Mundo y Representación. 492 Die im Theatertext angelegte Gleichzeitigkeit von Erleben und Erinnern be‐ stimmt nicht zuletzt das Wesen des Menschen in seiner Zeitlichkeit. Das Zusammenspiel von Erleben und dem Erinnern an das Erlebte bildet wiederum den Ausgangspunkt für eine moralische Annäherung an das Vergangene. Der Theatertext ¡Ay, Carmela! , der nicht den Spanischen Bürgerkrieg, sondern die defizitäre Erinnerungskultur des Postfranquismus zum Thema macht, schreibt diesen Mechanismus in seine Struktur ein und macht sich nicht zuletzt aus diesem Grund zu einem Medium des kulturellen Gedächtnisses. 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 2.1 Verhindertes, manipuliertes und verpflichtendes Gedächtnis Die Ausarbeitung des theoretischen Gerüsts der vorliegenden Studie, die einen phänomenologischen Zugang zu Gedächtnis und Erinnerung wählte, verlor in der vorangehenden Analyse ihren Orientierungspunkt in Person des französi‐ 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 239 <?page no="240"?> 493 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-114 ff. 494 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-115. schen Philosophen Paul Ricœur nie aus den Augen. Auch die nun folgende Beschäftigung mit dem Theatertext El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos (*1942) findet ihren Ausgang in Ricœurs Phänomenologie des Gedächtnisses, genauer, in dessen Überlegungen zu möglichen Formen des „Missbrauchs des natürlichen Gedächtnisses“. Zu diesen zählt Ricœur das „ver‐ hinderte Gedächtnis“, das „manipulierte Gedächtnis“ und das „verpflichtende Gedächtnis“. 493 Diese konzeptuelle Trias scheint der in dieser Studie erarbeiteten dreifachen Antwort auf die Ästhetisierungsmöglichkeiten der erinnerungskulturellen Pa‐ radoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen zu entsprechen. Die Spaltung des Zeichens im dramatischen Raum (1) war nicht zuletzt eine mögliche Reaktion auf die Verhinderung der materiellen Manifestierung des Intelligiblen, die Unterminierung des Zeichens im dramatischen Raum (2) charakterisiert sich als Manipulation bereits veräußerter Erinnerungsinhalte und die suggerierte Überwindung des Als-ob, die einen Übergang vom mimetischen zum perfor‐ mativen Erinnern initiiert (3), überschreitet die Grenze zwischen Fiktion und Lebenswelt und rückt das Theater als Medium des kulturellen Gedächtnisses auf die Ebene, auf der auch das Phänomen des „verpflichtenden Gedächtnisses“ angesiedelt ist. Während das verhinderte Gedächtnis auf einer individuellen, „patholo‐ gisch-therapeutischen Ebene“ verortet wird, „auf der man legitimerweise von einem verletzten, ja kranken Gedächtnis sprechen kann“ 494 , das die Veräuße‐ rung des Intelligiblen durch das Subjekt willentlich oder unwillentlich zu hemmen scheint, meint der Begriff des manipulierten Gedächtnisses eine Instrumentalisierung im Sinne der Zweckrationalität (Max Weber) bzw. der strategischen Vernunft ( Jürgen Habermas). Der Missbrauch des Gedächtnisses findet im Fall der Manipulation also erst im Feld der Signifikanten statt, die bereits veräußerten Erinnerungsinhalte können nurmehr ihrer inhärenten Eigentlichkeit beraubt werden, die sich aufgrund des Faktizitätsanspruchs jedes Erinnerungsaktes ergibt. So kann unter der Unterminierung der Zeichen u. a. das manipulative Spiel zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit begriffen werden, das entweder vom erinnernden Subjekt zur Veräußerung oder von den Opponenten zum Zweck des Entzugs des pragmatischen Gehalts genutzt werden kann. Da das erinnernde Subjekt stets der (latenten oder manifesten) Kontrolle der Diskurs- und Entscheidungsträger bzw. dem politischen oder ideologischen Kontext untersteht, wird die semiotische Manifestierung des 240 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="241"?> 495 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 130-139. Ricœur verweist in diesem Teilkapitel auf die Beziehung zwischen Ideologie und dem Legitimationsprozess von Autoritätssystemen. Dabei kommt es seines Erachtens nicht nur zu Ausschluss aus dem kollektiven Gedächtnis, sondern ebenso zu einer machtpragmatischen Selektion von Erinnerungsinhalten und zu erinnernden Mythen. „Auf diese Weise kommt es zu einem gefährlichen Bündnis zwischen dem Erinnern (remémoration), dem Memorieren (mémorisation) und dem Gedenken (commémoration)“ (S.-138). 496 Vgl. Todorov, Tzvetan: Les Abus de la mémoire, Paris 1995. Erinnerten bzw. des Erinnerns stets einer Prüfung unterzogen, deren Ausgang darüber entscheidet, ob das erinnernde Subjekt selbst oder die Diskurshüter manipulierend eingreifen. Während dies im Falle des erinnernden Subjekts zu einer Anpassung bzw. bewussten Verschleierung der Erinnerungsinhalte zum Zwecke der Veräußerung führen kann, beispielsweise um eine Zensur zu umgehen, hängt die Reaktion des Kollektivs wie auch der Repräsentanten der systemisch-ideologischen Ordnung vom destabilisierenden oder stützenden Potential bzw. vom Grad der identitären Bedrohung bzw. von der identitätsfes‐ tigenden Kraft des Erinnerten ab. 495 In seiner Abhandlung Les Abus de la mémoire (1995) betont Tzvetan Todorov, dass die Einflussnahme auf das Gedächtnis nicht allein ein Merkmal totalitärer Systeme darstellt, sondern allen eigen ist, die nach Macht oder Machterhalt streben. 496 Das Sprechen von einem verpflichtenden Gedächtnis eröffnet darüberhinaus eine „ethisch-politische Ebene“. In Abgrenzung zu Formen eines manipula‐ tiven “Gedenkwahns“ verweist die ethische Erinnerungspflicht auf einen ge‐ sellschaftlichen Gerechtigkeitsimperativ bzw. auf die integrative Kraft der Gerechtigkeit innerhalb von gesellschaftlichen Ordnungen. Die Einbindung der Idee der Gerechtigkeit muss die Phänomenologie des Gedächtnisses wie auch die Epistemologie der historischen Erkenntnis zwangläufig überschreiten, treten nun doch Fragen der Schuld und der Moral auf den Plan, die weder in Paul Ri‐ cœurs Monographie Gedächtnis, Geschichte, Vergessen noch in der vorliegenden Studie ausgiebig behandelt werden können. Jedoch gilt es mit Blick auf die eine paradoxale Spannung zwischen Individuum und Kollektiv auslösende Erinne‐ rungskultur Spaniens und die diese betreffenden Ästhetisierungsmöglichkeiten im Theater festzuhalten, dass mit der ethisch-politischen Ebene aufgrund der moralischen Verpflichtung gegenüber denjenigen, die Ungerechtigkeit erfahren haben, eine Dimension erreicht ist, bei der sowohl die Grenze zwischen immate‐ rieller und materieller Repräsentation überschritten als auch die Frage nach dem pragmatischen Gehalt der Aussage längst geklärt ist. Die Uneindeutigkeiten an der Grenze zwischen Intelligiblem und Materiellem (verhindertes Gedächtnis) sowie zwischen Semantik und Pragmatik (manipuliertes Gedächtnis) sind auf dieser Ebene bereits durch Formen des performativen Erinnerns überwunden. 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 241 <?page no="242"?> 497 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-139-146. 498 Bohleber, Werner: „Remembrance, Trauma and Collective Memory“, in: The Interna‐ tional Journal of Psychoanalysis, 88 (2007), S.-343. Im Fokus stehen nun nicht mehr Fragen nach Veräußerung bzw. der Möglichkeit der Veräußerung, sondern die mit der Veräußerung zusammenhängenden, das Kollektiv betreffenden Aspekte der Schuld, der Moral und der korrektiven Gerechtigkeit. 497 Die Notwendigkeit einer symbolischen und politischen Anerkennung des Ge‐ schehenen sowie der verübten Ungerechtigkeit für das Gelingen einer sozialen Transition, die keine automatische Folge politischer Transition darstellt, wurde unter Rekurs auf politik- und geschichtswissenschaftliche, kultursoziologische sowie ethische Theorien zu stützen versucht. Im Hinblick auf die Analyse des Traumstücks El álbum familiar und den darin thematisierten Umgang mit traumatischer biographischer Erfahrung ist es nun sinnvoll, die Argumentati‐ onsführung durch eine psychoanalytische Perspektive zu ergänzen. Der Psy‐ choanalytiker Werner Bohleber unterstreicht die Bedeutung der Beschäftigung mit “gesellschaftlichen Traumata“ für die soziale Transition. Seine Position lässt sich an die erläuterten Ausführungen anfügen: It is generally only scientific explanation and social recognition of causation and guilt that restore the interpersonal context and thus the possibility of finding out what actually happened at the time in an uncensored way. This is the only way that the shattered understanding of the self and the world can be regenerated. 498 [Hervorhebungen, D.H.] Bohleber markiert in diesem Zitat die Interdependenz des „understanding of the self “ und des „understanding of the world“. Er beschreibt zudem die soziale Anerkennung von verübter Ungerechtigkeit und Schuld als Grundlage für eine Vergewisserung über das Selbst und über den das Selbst umgebenden Kontext. Damit hebt er eine scheinbar selbstverständliche, jedoch überaus bedeutende Tatsache hervor, auf die wir bereits bei der Beschäftigung mit Maurice Halb‐ wachs’ Theorie der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses gestoßen sind: Die Abhängigkeit individueller Identität von den cadres sociaux. Das mit Blick auf den Postfranquismus beschriebene Spannungsverhältnis zwischen dem systemischen Stabilisierungswillen und der biographischen Notwendigkeit, sich an die überindividuell und individuell prägenden Einschnitte wie Kriegserfah‐ rung, ausgeübte oder erlittene Gewalt und politische Repression zu erinnern, erhält vor diesem Hintergrund psychoanalytische Relevanz. Dies impliziert jedoch keineswegs die Anwendung psychoanalytischer Analysemethoden auf Kollektive - dies wäre m. E. die falsche Konsequenz. Vielmehr macht es diese 242 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="243"?> Feststellung erforderlich, dass der überindividuelle, politisch-institutionelle Umgang mit destabilisierenden Erinnerungsinhalten bei der Beschäftigung mit Individuen Berücksichtigung finden muss. Es geht also um die Implikationen der cadres sociaux für die Psyche des Einzelnen und hinsichtlich des Umgangs des Einzelnen mit der Vergangenheit. Während dieser Aspekt bei der Analyse des Theatertextes ¡Ay, Carmela! nicht eigens im Fokus stand, spielt er bei der Beschäftigung mit dem Traumstück El álbum familiar eine gewichtige Rolle. Denn anders als Sanchis Sinisterra, der den Traum ebenfalls als Hort des Verdrängten in sein Drama integriert, macht Alonso de Santos das Intelligible selbst, die Gedankenwelt eines Träu‐ menden, zum Ort des fiktionalen Spiels. Träumender ist die Figur YO, der das „understanding of the self “ mittels einer regressiven Stationen-Reise durch die Vergangenheit zu leisten versucht. Die sechs (Traum-)Szenen des Theatertexts repräsentieren allesamt Lebensstationen bzw. -übergange der Hauptfigur. Der erzwungene Aufbruch der Familie aus dem Haus infolge der zu‐ nehmend bedrohlichen Nachkriegswirren, die darauf folgende und durch einen Schaffner unterbrochene Zugfahrt ins Ungewisse, der nächtliche Aufenthalt an einem unbekannten Bahnsteig in Gesellschaft von kirchlichen und staatlichen Ordnungsinstanzen sowie die abrupte Trennung des YO von seiner Familie markieren symbolhaft biographische Stationen der Hauptperson bis hin zur traumatischen Trennung von der Familie und sind daher nicht als konkrete erinnerte Geschehnisse zu verstehen. Vielmehr zeichnen Aufbruch, Beginn der Reise und Trennung von den Eltern die Entwicklungsstufen zwischen Kindheit, Jugendalter und dem jungen Erwachsenendasein nach. Aufgrund dieses wichtigen Zusammenhangs zwischen dramatischem Geschehen, Traum, Trauma und Initiation soll erst im Kapitel 2.3. genauer auf den Inhalt des Theatertextes eingegangen werden. Durch diese Interiorisierung, den Rückzug in die Welt des Unbewussten, nä‐ hert sich Alonso de Santos dem Spannungsverhältnis zwischen Biographie und systemischem Neuanfang ausgehend vom Nullpunkt des Ichs. Gleichermaßen verarbeitet er eine identitäre Spannung, die die gesamte Generación del 82 zu betreffen scheint. Denn das Bedürfnis nach biographischer Selbstverortung ist für die Generación del 82 in den Jahren nach 1975 von besonderer Relevanz, fällt ihre persönliche und ästhetische Sozialisation doch in eine Zeit, die durch die Propagierung von consenso und reconciliación in eine Art diskursive Latenz verschoben wurde. Wie bereits betont wurde, fällt den Dramatikerinnen und Dramatikern, den Regisseurinnen und Regisseuren um Alonso de Santos nicht nur unverhofft die Aufgabe der ästhetischen Neuerung der spanischen Bühne 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 243 <?page no="244"?> 499 Cabal/ Alonso de Santos, Teatro español de los 80, S.-156. zu. Zudem haben die Vertreterinnen und Vertreter der Generación del 82 in der Mitte ihres Lebens eine biographische Transition zu meistern. Folgende Aussage von Alonso de Santos, die aus einem 1985 publizierten Interview mit dem Dramatiker Fermín Cabal stammt, scheint die Annahme zu belegen, dass das Ende des Franquismus, die damit zunehmend einsetzende Liberalisierung verschiedener Lebensbereiche sowie die systemisch durchaus geförderte Entpolitisierung und Enthistorisierung der Bevölkerung, eine Ver‐ gewisserung hinsichtlich der eigenen Identität erschwerte - so empfand es zumindest Alonso de Santos: Hay una sensación de pérdida de las escalas de valores, de las metas, de la realidad, de las posibilidades del ser humano; se han mezclado las generaciones, las estéticas, las formas de vida, las psicologías… […] Estamos en un absoluto laberinto de espejos en el que hemos perdido la identidad. Al menos es como yo lo vivo. Y ésa es una de las funciones del teatro: devolver la identidad. […] Porque de pronto hemos destruido todo: hemos destruido a Dios y al destruir a Dios hemos destruido al padre, y al franquismo y las ideas de justicia y de bondad y todo eso… Y tengo la sensación de que está bien destruir, pero luego hay que construir, y a lo mejor El álbum familiar en mí es un intento de partir de atrás para reconstruirme y al reconstruirme tratar de ayudar a reconstruirse a los espectadores… 499 Es wird in der folgenden Analyse zu klären sein, inwieweit es sich, wie hier im Zitat angedeutet, bei der dramatischen Darstellung der verhinderten, ins Unbewusste verlagerten Erinnerung des YO zugleich um einen Ermöglichungs‐ grund individuell-dramatischer und kollektiv-theatralischer Identitätsfindung handelt. Anders gewendet, es wird zu prüfen sein, auf welche Weise die mit dem Theatertext El álbum familiar intendierte Inszenierung eine identitäre Rekon‐ struktion des Autors zulässt und, gleichermaßen, den Zuschauern ein identitäres Rekonstruktionsangebot unterbreitet. Dieses metaleptische Vorhaben weckt die Hoffnung auf ein Ende eines verhinderten Gedächtnisses im Traum, deutet es doch die Absicht des Autors an, die Grenzen des dramatischen Raums und damit letztlich der Fiktion auszureizen und im Sinne der erinnerungskulturellen und identitätsstiftenden Wirkmacht auf die Probe zu stellen. Ein Blick in die Forschungsliteratur macht deutlich, dass insbesondere die vermeintlich autobiographischen Implikationen, die sich aus der Gleichnamig‐ keit des Protagonisten und des Autors ( José Luis), biographischen Analogien, paratextuellen Verweisen und Figurenbenennungen ergeben, für analytische Uneindeutigkeiten gesorgt haben. Daher ist es Ziel dieser Analyse, diese 244 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="245"?> Uneindeutigkeiten zu entflechten und ihnen eine eigene Interpretation gegen‐ überzustellen. Dabei wird es gerade nicht darum gehen, den realen Autor im Text aufzuspüren, sondern es wird vielmehr die Frage im Raum stehen, inwiefern diese autobiographische Suggestion als ein Element in einer Reihe von rezeptiven Unsicherheitsfaktoren fungiert, die dazu dienen, sowohl dem Text als auch der Inszenierung erinnerungskulturelle Wirkmacht einzuschreiben. Ausgangspunkt der Argumentationsführung wird die kritische Beschäfti‐ gung mit einschlägigen Interpretationszugängen zu El álbum familar sein, darunter die Ausführungen von Andrés Amorós (1992), Herbert Fritz (1996), Ana Luengo (2002), Marga Piñero (2005), Vera Toro (2010) oder Anabel García Martínez (2016). Im Mittelpunkt steht dabei zunächst die Frage, ob es sich bei der fiktionalen Welt überhaupt um eine Traumwelt handelt oder um eine (alp-)traumähnliche Erinnerung. Die Beschäftigung mit den Konzepten der Phantasie und der Erinnerung aus Sicht der Erkenntnistheorie (v. a. I. Kant, E. Casey) führte deutlich vor Augen, dass die Klärung des endoxen Grunds, sei dieser nun Basis für lebensweltliche oder binnenfiktionale Aus‐ sagen, grundlegend für alle weiteren, die Struktur, die Semantik und die Pragmatik betreffenden Überlegungen ist. Es ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Theatertextes, ob es sich bei El álbum familiar um unbewusste, vom Traum gerahmte Erinnerungen des YO handelt, oder um bewusstes Erinnern im Traum, sofern diese paradoxe Verbindung überhaupt als möglich anzunehmen ist. Gleichsam lässt sich anhand der damit einhergehenden Untersuchung der Ebenenstruktur aufzeigen, auf welche Weise Alonso de Santos die Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen in den dramatischen Raums einschreibt, um diesen im selben Atemzug zu durchstoßen bzw. in Richtung des Publikums zu öffnen. Es steht folglich die These im Raum, dass es Alonso de Santos in diesem Stück gelingt, durch die Ästhetisierung des verhindertem Gedächt‐ nisses im dramatischen Raum dessen Ende in einem außer-dramatischen Raum einzuläuten. Auf diese Weise würde die dramatische Wiederholung zugleich die Chance auf ein inszenatorisches und theatralisches ‚Durcharbeiten’ des verhinderten Gedächtnisses bieten. 2.2 Mémoire-répétition/ Mémoire-souvenir: Verhindertes Gedächtnis und Traum Unter Rekurs auf die beschriebenen Konzepte Paul Ricœurs wird El álbum familiar in dieser Studie als Theatertext über verhindertes Gedächtnis und vor der Folie der sich daraus ergebenden Implikationen für die Identität des 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 245 <?page no="246"?> 500 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-115. 501 Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, in: Freud, Anna u. a. (Hgg.), Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd.-10, Frankfurt a.-M. 3 1963, S.-126-136. 502 Freud, Sigmund: „Trauer und Melancholie (1917 [1915])“, in: Mitscherlich, Alexander u. a. (Hgg.), Sigmund Freud. Studienausgabe in zehn Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1982, S.-193-212. 503 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-116. 504 Freud, „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, 129. Individuums, für das „understanding of the self “, gelesen. Diese Prämisse macht die Beantwortung zweier Fragen notwendig: Was ist verhindertes Gedächtnis? Und: In welcher Form finden verhinderte Gedächtnisinhalte Ausdruck? Paul Ricœur bezeichnet das verhinderte Gedächtnis als verletztes, krankes Gedächtnis, was die Verortung dieses Konzepts auf einer pathologisch-thera‐ peutischen Ebene nachvollziehbar macht. 500 Er verknüpft das Konzept des pathos mit dem der technê und betont die mögliche Einflussmacht des individuellen psychischen Leidens auf die Praxis des Erinnerns. Dabei rekurriert er auf zwei Aufsätze Sigmund Freuds, die uns im Hinblick auf die Analyse des Theatertextes und seiner erinnerungskulturellen Wirkmacht noch hilfreiche Impulse liefern werden. Es handelt sich um den 1914 veröffentlichten Aufsatz „Erinnern, Wie‐ derholen, Durcharbeiten“ 501 sowie den ein Jahr darauf publizierten Text „Trauer und Melancholie“ 502 . Diese beiden Texte stehen insofern in einer engen konzep‐ tuellen Beziehung, als dass sie sich beide mit dem Umgang mit traumatischen Erlebnissen und den möglichen Folgen dieses Umgangs für das Selbstkonzept auseinandersetzen. Um das Verständnis dieses wichtigen Zusammenhangs zu gewährleisten, bedarf es einer knappen Erläuterung der Kernthesen dieser Texte. Hinsichtlich des Umgangs mit traumatischer Vergangenheit unterscheidet Freud zunächst zwischen ‚wahrer Erinnerung’ und ‚Wiederholung’. Das Wie‐ derholen wird hier jedoch keineswegs als mehrmaliges Hervorholen im Sinne einer memorialen Manifestierung verstanden, sondern vielmehr als pathologi‐ scher Akt, der ein „Verdrängungswiderständen zugeschriebene[s] Hindernis“ 503 und ein iteratives Abarbeiten an der Grenze zwischen Latenz und Manifestation bezeichnet. Dieser ‚Wiederholungszwang’ charakterisiert sich durch eine Ten‐ denz zum ‚Agieren’ - zwei weitere Schlüsselbegriffe in der Terminologie Freuds. Das ‚Agieren’ bezeichnet eine Art Ausweichbewegung, die zwar den gleichen Referenzpunkt wie die wahre Erinnerung besitzt, diese jedoch gerade zu meiden sucht. Beim Wiederholungszwang, so Freud, „[…] erinnere [der Analysierte] überhaupt nichts von dem Vergessenen oder Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt.“ 504 Ricœur nennt dieses Konzept 246 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="247"?> 505 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-129. 506 Freud, Sigmund: „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 18. Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma. Das Unbewußte“, in: Freud, Anna u. a. (Hgg.), Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 11, Frankfurt a. M. 3 1961, S.-284. Vgl. hierzu ebenso Laplanche, Jean/ Pontalis, Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 9 1989 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 7), S.-514. 507 Die Narbe ist somit negative Schrift, sie bedarf keiner Masse wie Tinte, Kreide oder Kohlestaub. Sie wird in Bestehendes “eingeritzt“. ‚wiederholendes Erinnern’ (mémoire-répétition) und stellt es dem des ‚wahren Erinnerns’ (mémoire-souvenir) gegenüber, das er in Analogie zu Freud zugleich als kritisches Erinnern versteht. Während er der mémoire-souvenir einen Grad an Reflexion zuspricht, definiert er die mémoire-répétition als unreflektiertes Abarbeiten an Erinnerungswiderständen. 505 Wahre Erinnerung (mémoire-souvenir) und Wiederholung (mémoire-répéti‐ tion) sind demnach zwei entgegengesetzte Umgangsformen mit traumatischer Erfahrung, wobei in der therapeutischen Praxis dem Analysanden die Auf‐ gabe zufällt, den Wiederholungszwang des Analysierten als stellvertretendes Ausagieren der Erinnerung bzw. als seine Art des Erinnerns zu erkennen, um dem Patienten im Anschluss zur wahren Erinnerung und der Befreiung vom Wiederholungszwang zu verhelfen. Es gilt, Formen von ‚Übertragung’ auszumachen. Das Ausbleiben wahrer Erinnerung impliziert Freud zufolge ein Nicht-Abreagieren einer traumatischen Erfahrung bzw. der mit dem Be‐ griff des ‚Traumas’ verbundenen Reizüberflutung. Als Trauma definiert Freud entsprechend „ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzustand bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.“ 506 Diese Energie ist der Treibstoff des Wiederholungszwangs. Die Bindung des Trauma-Begriffs an das Erlebnis der Reizüberflutung ver‐ leitet dazu, das Erlebnis selbst als Trauma zu bezeichnen, wie es auch Freud in seiner Definition tut. Stattdessen, und diese Sichtweise leistet der Bedeutung des griechischen Etymons τραύμα Folge, handelt es sich beim Trauma jedoch um die Spur dieses Ereignisses, die schmerzende Wunde oder Verletzung, die heilen oder vernarben, jedoch niemals ungeschehen gemacht werden kann. Dementsprechend stehen die Wunde und das ursächliche Erlebnis in einem metonymischen Verhältnis zueinander. Die Narbe wird zum gegenwärtigen in‐ dexikalischen Zeichen, welches allein das betroffene Subjekt mit Bedeutung zu füllen weiß. Als Signifikant ist die Narbe Spur, Riss, Loch, Stich, ein materielles Nichts, das als semantische Quelle und Schmerzquelle gleichermaßen auf eine bestimmte Erfahrung referiert. 507 Damit unterscheidet sich die traumatische, 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 247 <?page no="248"?> 508 Kasper, Judith: Sprachen des Vergessens: Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken, München 2003, S.-104. 509 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-681. unbewusste Erinnerung von der bewussten Erinnerung durch den Aspekt der Reizüberflutung. Gemeinsam ist der unbewussten und bewussten Erinnerung jedoch ihr metonymisches Verhältnis zur Ursache ihres Bestehens. Erinnerung ist nicht das Erinnerte, sondern, phänomenologisch gesprochen, intentionaler Gehalt (Noema) sowie Gerichtetheit (Noesis). Das Trauma ist nicht der Unfall, sondern die durch den Unfall verursachte Verletzung. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass das verhinderte Gedächtnis einen kausalen Bezug zum Konzept der mémoire-répétition aufweist. Das Nicht-Erin‐ nern führt zum wiederholten stellvertretenden Agieren, es führt zu uneigent‐ lichem Handeln, zum unbewussten Über-Spielen des Eigentlichen. Die an dieser Stelle bereits aufscheinende Analogie des psychoanalytischen Konzepts der mémoire-répétition zu theatralen Komponenten wie der Wiederholung, dem Agieren und dem uneigentlichen Spiel wird ausführlicher zu diskutieren sein, wenn es um die erinnerungskulturelle Wirkmacht des Theatertextes geht. Aufgrund seiner performativen Implikation wird dabei insbesondere der Begriff des ‚Durcharbeitens’ auf seine Übertragbarkeit auf den Theaterkontext zu prüfen sein. Freud präsentiert den Prozess des Durcharbeitens als Lösungsansatz, um mit den Analysierten den Weg vom Wiederholungszwang zu wahrer Erinnerung zu beschreiten. In einem gemeinsamen dynamischen Prozess arbeiten Analysand und Analysierter an der Befreiung der Erinnerung. „Das Durcharbeiten meint ein Vertiefen in die Widerstände, ein Wiederholen, jedoch im Sinne einer Deutungsveränderung, Reparation, Ausbesserung, durch welche die Befreiung des Subjekts vom Wiederholungszwang begünstigt werden kann.“ 508 Am Ende der schmerzhaften Auseinandersetzung mit den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit besteht die Möglichkeit des Friedensschlusses mit dem Verdrängten, dessen Integration ins Bewusstsein zur mémoire-souvenir und zu einem möglichen Ende des Wiederholungszwangs führt. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen wird nun die Verbindung von Wiederholung und wahrer Erinnerung mit den Begriffen der ‚Melancholie’ und der ‚Trauer’ verständlicher. Ricœur versteht die Melancholie in Anlehnung an Freud als mögliche Konsequenz eines Ausbleibens wahrer Erinnerung, die Trauer hingegen als Ergebnis des Durcharbeitens und schließlich des wahren Erinnerns. „Das Durcharbeiten, worin die Arbeit der Wiedererinnerung besteht, gelingt nicht ohne die Trauerarbeit, durch die wir uns von den verlorenen Objekten der Liebe und des Hasses lösen.“ 509 Trauerarbeit ist deshalb stets 248 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="249"?> 510 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 121: „Die Zeit der Trauer weist eine gewisse Beziehung zur Geduld auf, die die Analyse vom beim Übergang der Wiederholung zur Erinnerung erforderte.“ 511 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-119. 512 Judith Kasper weist in ihrer Dissertation mit Blick auf Freud darauf hin, dass sich Trauer als eine Bewegung selbst auflöst. Vgl. Kasper, Sprachen des Vergessens, S.-251. 513 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-126. Erinnerungsarbeit, an deren Ende die Integration ins Bewusstsein steht. Die Erinnerung an traumatische Erlebnisse braucht Zeit 510 , und ist untrennbar an die Trauer gebunden. „Die Trauerarbeit ist der Preis der Erinnerungsarbeit; die [wahre, D.H.] Erinnerung aber ist der Gewinn der Trauerarbeit“ 511 , so Paul Ricœur. Somit setzt die Integration der traumatischen Erfahrung in das Be‐ wusstsein einen Prozess der Loslösung bzw. Distanzierung vom Trauma-Objekt voraus, für die es zuvor jedoch einer intensiven affektiven Auseinandersetzung bedarf, die den Weg zur Reflexion erst freilegt. Trauer wird somit zum selbst‐ auflösenden Prozess, in dem sich der Prozess des Zulassens und Abtötens verschränken. 512 Das Ausbleiben der Trauerarbeit bzw. Erinnerungsarbeit verhindert dagegen den dialektischen Umschlag in das Feld des Bewusstseins, der auf eine Phase des Trauerns und Wiedererinnerns folgt. Es kommt zur Stagnation im Zustand des Verdrängens, zum melancholischen Stillstand auf der Stufe der sich dauerhaft wiederholenden These. Die Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stillstand geht im Bild des Kreises auf, in einer geometrischen Figur, die keinen Ausweg und keinen Fortschritt kennt. „Der Gram ist nämlich jene Traurigkeit, die keine Trauerarbeit geleistet hat.“ 513 Weshalb kommt es zu diesem Stillstand? Die Antwort Freuds lautet, dass sich die Existenz des traumatischen Objekts psychisch fortsetzt (‚Fremdkörper’), woraus sich eine Ambivalenz von Anwesenheit und Abwesenheit folgern lässt, die zur Quelle der Melancholie wird. Das Wesen der Melancholie besteht Freud zufolge in einer Herabsetzung des ‚Ichgefühls’, einer problematischen Anerken‐ nung unserer Selbst, die nicht zuletzt daher rührt, dass die Selbstvorwürfe - im Grunde dem Muster des Wiederholungszwangs entsprechend - die gegen das Trauma-Objekt gerichteten Klagen verdecken. Das Ich rückt an die Stelle des Objekts. Im Gegensatz zur Trauer, bei der die Welt als trostlos und leer geworden erscheint, lässt die Melancholie somit das Ich selbst öde und trostlos erscheinen. Das Ausbleiben der Trauer, die sich selbst zum Opfer fällt - nicht autopoietisch sondern autophag ist -, bedroht folglich die identitäre Stabilität des Subjekts. Entscheidend für die weiteren Ausführungen ist es nun, das Verhältnis zwi‐ schen Wiederholung (mémoire-répétition) und Melancholie sowie das Verhältnis 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 249 <?page no="250"?> 514 Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S.-329. von wahrer Erinnerung (mémoire-souvenir) und Trauerarbeit nicht aus den Augen zu verlieren. Ebenso wird der Begriff des ‚Durcharbeitens’, der eng an den Prozess der (Wieder-)Erinnerungsarbeit gekoppelt ist, erneut zu beleuchten und in den Theaterkontext zu rücken sein. Diese konzeptuelle Strukturierung erlaubt zudem die Einbeziehung von ebenfalls im Hinblick auf die Textanalyse zu beachtenden Konzepten wie Stagnation und Dynamik, undialektischem Stillstand und dialektischer Kippbewegung. Nachdem das Konzept des verhinderten Gedächtnisses erläutert wurde, kann nun die zweite der eingangs formulierten Fragestellungen beantwortet werden. Dieses lautete: In welcher Form finden die verhinderten Gedächtnisinhalte Aus‐ druck? Die Beantwortung dieser Frage wird den Brückenschlag zwischen Paul Ricœurs Phänomenologie des Gedächtnisses sowie Freuds zitierten Schriften und der Analyse von El álbum familiar einleiten. Eine erste Antwort lieferte bereits die Beschreibung dessen, was unter verhin‐ dertem Gedächtnis zu verstehen ist. Als eine Ausdrucksform des verhinderten Gedächtnisses wurde das Agieren festgestellt. Es handelt sich dabei also um eine unbewusste Form des Erinnerns, die von bewussten Formen zu unterscheiden ist. Im Falle des verhinderten Gedächtnisses gelingt die Repräsentation des Intelligiblen im Feld der empirisch-sinnlichen Welt, die eine inter-subjektive Verständigung ermöglichen würde, somit lediglich in verschleierter Form. Diese Annahme steht im Einklang mit der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans, der Freud bekanntlich einer Re-Lektüre unterzogen hat. Dylan Evans verweist in seinem Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse darauf, dass das ins Unbewusste Verdrängte „immer in entstellter Form zurückkehren [kann], in Symptomen Träumen, Versprechern.“ 514 Auch in der Psychoanalyse Lacans finden sich somit die Ideen der Wiederkehr und der Entstellung wieder, die un‐ merklich auf verhinderte und damit unbewusste Erinnerungsinhalte hindeuten. Entstellte Erinnerung kann jedoch nicht als manifeste Erinnerung im eigentli‐ chen Sinne verstanden werden, da die “Manipulation“ des Gedächtnisses bereits im Subjekt selbst einsetzt. Dagegen zielte die in dieser Studie beschriebene These der Unterminierung der Erinnerungszeichen auf vom Subjekt bewusst manifestierte Erinnerung sowie ihre nachträgliche Entstellung. Die Spaltung des Zeichens im Falle des verhinderten Gedächtnisses besteht nun also nicht darin, dass sich ein bestimmter Signifikant von einem Signifikat löst bzw. vice versa, sondern dass der manifeste Signifikant jede Chance auf einen Rückverweis auf die semantische Ebene, das Verdrängte, erschwert, ja sogar unmöglich gestaltet. Gleich einem unwillkürlichen Rauschen der 250 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="251"?> 515 Mertens, Wolfgang: Traum und Traumdeutung, München 2003 (= Beck’sche Reihe, 2117), S.-112. Signifikanten über das Signifikat hinweg verstellen die Akte des Wiederholens den Blick für den Sinn. Dass sich hinter dieser Spaltung von Intelligiblem und Materie bzw. Signifikat und Signifikant dennoch ein metonymischer Ver‐ weis verbirgt, wäre im Rahmen einer Therapiesituation vom Analysanden herauszuarbeiten. Das verhinderte Gedächtnis ist im Falle des veräußerten Wiederholungszwangs also keine eigentliche Repräsentanz des Erinnerten im Sinnlich-Empirischen, sondern eine uneigentliche, eine symbolische, arbiträre und damit erst zu decodierende Entsprechung. Die Kodierung ist Folge eines Erinnerungsverbots, das vom verdrängenden Subjekt selbst ausgeht. Neben dem Acting out fungiert der Traum als mögliche Ausdrucksform verhinderter Gedächtnisinhalte. Im Gegensatz zum Acting out, bei dem sich Handlungsformen auf sinnlich-empirischer Ebene einschreiben, impliziert die Überführung von Trauminhalten vom Feld des Intelligiblen ins Feld der Materie und damit der Intersubjektivität einen Akt des erinnernden Erzählens wie er für die Freudsche Traumdeutung grundlegend ist. Traumerinnerung und Traumerzählung bzw. Traumbericht sind Voraussetzungen für die Deutung. Diese ist auf die vom Subjekt vorgenommene Semiotisierung angewiesen. Der Psychoanalytiker und Psychologe Wolfgang Mertens weist auf diesen Semiotisierungsprozess eindrücklich hin: Terminologisch und von der Sache her ist es bedeutsam, sich als Psychotherapeut klarzumachen […], daß man es immer nur mit dem berichteten Traum, dem Traum‐ bericht zu tun hat, nie aber mit dem Traum selbst und in der Regel auch nicht mit einer vollständigen Traumerinnerung, wie sie im Schlaf- und im Wachzustand erfolgt sind. Traumberichte sind […] kontextuell determiniert, d. h., sie unterliegen als sogenannter Sprechakt, wie jeder andere Sprechakt auch, den Bedingungen von Interaktionsregeln, die vor allem durch die Dynamik der gemeinsamen Beziehung, also durch die Verschränkung von Übertragung und Gegenübertragung bestimmt sind. Der Traum als solcher bleibt deshalb ein Konstrukt, ein zu rekonstruierendes Narrativ, dessen ursprüngliche Gestalt nicht mehr zu haben ist. 515 Genau wie die Erinnerung, so unterliegt folglich auch die Traumerinnerung bzw. die Traumerzählung den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Gegenwart. Sie ist nicht etwa unverfälschter Blick ins Unbewusste, sondern richtet sich an den cadres sociaux aus. Welche Faktoren ausschlaggebend für das Gelingen einer Traumerinnernug sein können, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Es sei lediglich angemerkt, dass sowohl C. G. Jung als auch Erich 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 251 <?page no="252"?> 516 Vgl. Mertens, Traum und Traumdeutung, S.-110f. 517 Laplanche/ Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S.-518. 518 Reck, Hans Ulrich: Traum. Enzyklopädie, München 2010, S.-137. 519 In seinem Essay sur Freud hebt Paul Ricœur die Analogie von künstlerischem Schaf‐ fensprozess und Traum im Diskurs der psychoanalytischen Kunsttheorie hervor. In der Kunst scheinen also Primärprozesse am Werk zu sein, die sie in die Nähe des Unbewussten und damit des Traums rücken. Vgl. Ricœur, Paul: De l’interpretation. Essai sur Freud, Paris 1965, S.-161. Fromm der Meinung waren, dass die Erinnerungsfähigkeit der Träumenden seit dem Zeitalter der Aufklärung abgenommen habe. Diese habe mit der nicht zuletzt von Kant betriebenen Entwertung des Träumens zu tun sowie mit der durch den Rationalismus propagierten Faktengläubigkeit, die es erschwere, die Traumsymbole, die onirische Sprache der Märchen und Mythen, zu begreifen. 516 Vor dem Hintergrund des systemischen Rationalismus innerhalb von sich kon‐ solidierenden Übergangsgesellschaften erscheint der Traum daher als durchaus subversives Motiv. Genau wie das Agieren scheint auch der Traum durch den Wiederholungs‐ zwang beeinflusst. Der Begriff der Wiederholung umfasst dabei sowohl die Wiederkehr der traumatischen Erfahrung in verschiedenen Träumen wie auch die Wiederkehr ein- und desselben Traums. Ausgangspunkt bleibt Freud zufolge in beiden Fällen ein traumatisches Erlebnis, wie es beispielsweise ein Unfall darstellt. Die Analytiker J. Laplanche und J.-B. Pontalis formulieren entspre‐ chend: „Die Wiederholung der Träume, in denen das Subjekt den Unfall intensiv wiedererlebt und sich in die traumatische Situation zurückversetzt, wie um ihrer Herr zu werden, wird mit dem Wiederholungszwang in Zusammenhang gebracht.“ 517 Folglich lässt sich die Wiederkehr des Verdrängten im Traum als interiorisierter Wiederholungszwang lesen, der sich nicht im sinnlich-empiri‐ schen Raum manifestiert, sondern in der Vorstellung des Subjekts. Der Traum ist jedoch keineswegs unverfälschte Repräsentation des Ver‐ drängten. Zwar ist der Einfluss der regulativen Instanz des Bewusstseins, bei Freud ‚Zensur’ genannt, im Traum geringer, weshalb sich im Wachzustand zensierte Vorstellungen „auf dem Umweg des Träumens bemerkbar machen, ja zuweilen mutiger und frecher ‚als denkbar’ zeigen.“ 518 Da Freud zufolge das unbewusste Denken das Verdrängte jedoch immer schon modelliert hat, bevor es zur intelligiblen Darstellung kommen kann, handelt es sich auch bei den Trauminhalten um sekundäre Erscheinungen, um verstellte Traumgedanken, die das Wesen des Verdrängten stellvertretend bezeichnen. 519 Der Trauminhalt gestaltet sich an der Grenze zwischen dem „System bewußt“ und dem „System unbewußt“. Unbewusstes wird vom Bewussten zensiert und dadurch zur Re-Modellierung gezwungen. Dabei ist sich das Bewusstsein selbst in keinem 252 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="253"?> 520 Judith Kasper spricht entsprechend von einem bemerkenswerten Mangel an Selbst-Be‐ wusstsein des Bewusstseins. Vgl. Kasper, Sprachen des Vergessens, S.-183. 521 Reck, Traum. Enzyklopädie, S.-138. 522 Platons berühmte Kritik im zehnten Kapitel der Politeia verurteilt das Theater, weil es die ohnehin stattfindende Entfernung des Empirisch-Sensuellen von ‚der Idee’ durch das mimetische Verfahren verdoppelt. So wird beispielsweise eine Idee zunächst zum Gegenstand und schließlich zum Zeichen. 523 Kasper, Sprachen des Vergessens, S.-99. 524 zit. nach Mertens, Traum und Traumdeutung, S. 113. Denkt man diese Aussage vor der Folie der poststrukturalistischen Theorie weiter, ließe sich an die Stelle des Traums der Begriff des Signifikats rücken. Genauso wie es nicht die Repräsentation des Traums gibt, gibt es auch nicht die - vom Strukturalismus angenommene - Reziprozität zwischen signifiant und signifié. Die Darstellung des Intelligiblen scheint damit generell immer nur unter dem Aspekt der Annäherung und Verweisung plausibel. Moment der verübten zensorischen Maßnahmen bewusst, so dass der Traum aus der Perspektive des wachen Subjekts irrtümlicherweise als unmittelbarer Ausdruck des Unbewussten betrachtet werden könnte. 520 Der Traum ist somit das Ergebnis eines Umarbeitungsprozesses, genauer, einer Modellierung des Unbewussten durch das teilaktive Bewusstsein; „der eigentliche Traumgedanke, als Kern des Träumens, ist immer verschlüsselt und entstellt“ 521 - und dies in einer zweifachen Distanzierungsbewegung (Traumgedanke > Trauminhalt > Traumerinnerung), die an die platonische Kritik am Theater bzw. Formen der szenischen Darstellung erinnert. 522 Die Auffassung Freuds von der Wiederkehr des Verdrängten im Traum scheint demnach nicht nur durch den Aspekt der Wiederholung, sondern zudem durch den der Entstellung mit dem Konzept des Acting out in Beziehung zu stehen. Als „Werkmeister“ dieser onirischen Entstellung sieht Freud die Mecha‐ nismen der Verschiebung und der Verdichtung, die Lacan in seiner Re-Lektüre mit den sprachwissenschaftlichen Konzepten der Metonymie und der Metapher in Verbindung brachte. Die Folgen dieser Prozesse können so weitreichend sein, dass ein interpretativer Rückbezug an der Änigmatik der Kodierung scheitert. „Verdichtungen und Verschiebungen als Mechanismen traumhafter Erinnerungsarbeit bergen immer die Gefahr des Nicht-Wiedererkennens in sich und damit diejenige des Vergessens.“ 523 Genau genommen müsste sich diese Gefahr des Vergessens bereits auf die Prozesse zwischen Traumgedanken und Trauminhalten beziehen und nicht erst auf die Narration von Trauminhalten im Rahmen der Deutungsarbeit. Die Unmöglichkeit der Repräsentation der Trauminhalte bewog den ameri‐ kanischen Psychoanalytiker Sydney Pulver zu folgender Aussage: „There is no such thing as the manifest dream.“ 524 Gleichzeitig könnte diese Feststellung jedoch auch auf die Unmöglichkeit der Repräsentation der Traumgedanken 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 253 <?page no="254"?> 525 Reck, Traum. Enzyklopädie, S.-200. 526 Reck, Traum. Enzyklopädie, S.-174. bezogen werden. Ebensowenig wie die Traumerinnerung lassen es die Trau‐ minhalte zu, von einer Manifestierung des Unbewussten zu sprechen. Damit nimmt der Traum, den wir zu erinnern fähig sind, eine Zwischenposition zwischen dem „System bewußt“ und dem „System unbewußt“ ein. Der Anteil des Unbewussten am Trauminhalt bleibt dem erinnernden Subjekt weiterhin ver‐ schlossen, so dass es auf einen Prozess der Dekodierung, beispielsweise in Form der Traumdeutung, angewiesen ist, um sich dem semantischen Gehalt, dem Traumgedanken zumindest anzunähern. Jede Darstellung von Trauminhalten - ganz gleich, ob narrativ, dramatisch oder inszenatorisch - sieht sich dieser Absenz des Wesens des Traums gegenübergestellt. Es wird zu zeigen sein, auf welche Weise dieser Umstand im Theatertext El álbum familiar Berücksichti‐ gung findet, denn auch hier ist die Repräsentation von Trauminhalten nicht gleichbedeutend mit dem Aufzeigen des Traumwesens, des Traumgedankens, auch wenn der Schritt der Semiotisierung auf dramatischer Ebene noch nicht gegangen ist. Die aus den erwähnten Umarbeitungsmechanismen resultierende Ambiva‐ lenz der Trauminhalte wird häufig - beispielsweise bei Lacan - als Begründung für die Nähe des Traums zum Bild herangezogen, die ihn wiederum in die Nähe des mehrkanaligen Mediums Theaters rückt. Freud verwendete den Begriff der Hieroglyphen, um die Verschränkung von Wort und Bild im Traum zu veran‐ schaulichen. Mit Blick auf Freud formuliert Hans Ulrich Reck entsprechend: Das Traumleben als Form verwandelt nicht Unbewußtes in Gedanken, sondern unbewußte Gedanken in einen Trauminhalt, ein szenisches Geschehen, eine narrative Inszenierung. Bildhaft ist das Formenrepertoire dieser Verdichtung deshalb, weil im Traum Worte zu Dingen werden und die Bedeutungsbildung ambivalent bleibt, wenn auch die spätere Fixierung auf Wortsprache [im Rahmen einer Analyse, D.H.] die Verdichtung zu domestizieren trachtet. Solange die Bildproduktion jedoch nur symp‐ tomatologisch und unter dem Diktat einer Zensur stattfindet, die nicht Bestandteil des Bewusstseins, sondern diesem als Regulativ übergeordnet ist, solange wird das Bild unweigerlich in den Signifikanten einer Bedeutung umgewandelt. 525 Die Rekonstruktion der verhinderten Gedächtnisinhalte im Rahmen der Traum‐ deutung steht jedoch nicht nur vor der Herausforderung der doppelten Entstel‐ lung. Zugleich erschwert die dem Traum eigene Struktur des Intelligiblen, die nicht an empirisch-sinnliche Gesetzmäßigkeiten gebunden ist, die Suche nach dem Wesen des Verdrängten. Das „sequentielle Bilder-Denken“ 526 im Traum 254 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="255"?> 527 Vgl. Reck, Traum. Enzyklopädie, S.-93ff. 528 Lyotard, Jean-François: „Rêve“, in: Encyclopaedia univerlasis, Bd.-19, Paris 1990, S.-991. 529 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-142. folgt weder zeitlicher noch räumlicher Logik, weder Chronologie noch einem Nähe-Distanz-Verhältnis. Formen von objektiver Messbarkeit, wie sie innerhalb der empirisch-sensiblen Welt als Einordnungs- und Orientierungsverfahren denkbar sind, büßen ihre Gültigkeit ein. Stattdessen charakterisiert sich das Traumgeschehen durch die Aufgabe objektivierter Zeit, durch Simultaneität, plötzliche Emergenzen und Entzüge, Überlagerungen von Erinnerungen und Phantasien sowie Konfusionen und Synästhesien. 527 Diese Charakteristika machen den Traum zu einer privilegierten Referenz postmoderner Theaterästhetik. In seiner Theorie zu Artauds Theater der Grau‐ samkeit betrachtet Jean-François Lyotard den Traum als Gegenmodell zum Strukturdenken, das sich durch eine dionysische Vor-Sprachlichkeit und damit durch ein anarchistisches Moment auszeichnet, welches den Traum an das Ideatum eines unverstellten Seins heranrücken lässt: „La dernière grande figure où celle du rêve vient se réfléchir est celle du non-langage, de l'extériorité, de la cruauté, la figure-dionysiaque.“ 528 - Hans-Thies Lehmann rekurriert in seinen Ausführungen über das postdra‐ matische Theater ebenfalls auf Artaud und verweist dabei auf die Affinität zwischen postdramatischer Theaterästhetik und Traum: Wesentlich für den Traum ist die Non-Hierarchie zwischen Bildern, Bewegungen und Worten. ‚Traumgedanken’ bilden eine Textur, die Collage, Montage und Fragment ähnelt, nicht aber dem logisch strukturierten Ablauf von Ereignissen. Der Traum ist das Modell par excellence der non-hierarchischen Theaterästhetik, ein Erbe des Surrealismus. Artaud, der sie visionierte, spricht von Hieroglyphen, um den Status der Theaterzeichen zwischen Buchstabe und Bild, zwischen den jeweils anderen Weisen des Bedeutens und Affizierens hervorzuheben. Freud gebraucht, um die Art der Zeichen zu charakterisieren, die der Traum der Deutung aufgibt ebenfalls den Vergleich mit den Hieroglyphen. Wie der Traum eine veränderte Auffassung vom Zeichen nötig machte, so benötigt das neue Theater eine ‚aufgehobene’ Semiotik und eine ‚ausgelassene’ Deutung. 529 Die Krise der Darstellbarkeit, die Unmöglichkeit der Repräsentation des Wesens, des Signifikats, verbindet das Trauma sowie den Traum mit der poststruktu‐ ralistischen Theorie und postmoderner Ästhetik gleichermaßen. Zudem wird die Ästhetisierung des Traums als experimentelle künstlerische Möglichkeit begreifbar, wie sie sich im Theater aufgrund der auch dem Traum zugeschrie‐ benen Gleichzeitigkeit von Wort und Bild besonders adäquat realisieren lässt. 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 255 <?page no="256"?> 530 Es seien hier lediglich einige wenige Vertreter genannt, die das Traummotiv in Bezie‐ hung zu erinnerungskulturellen Fragestellungen setzten: José Sanchis Sinisterra (¡Ay, Carmela! , Trilogía americana), José Luis Alonso de Santos (El álbum familiar), Fermín Cabal (¿Fuista a ver a la abuela? , Caballito al diablo, ¡Vade retro! ), Jeronimo Lopez Mozo (El olvido está lleno de memoria) oder Antonio Martínez Ballesteros (Volverán banderas vistoriosas). Einen Überblick über die inhaltliche und strukturelle Einschreibung des Traummotivs im spanischen Theater des 20. Jhs. bietet Fritz, Herbert: Der Traum im spanischen Gegenwartstheater, Frankfurt 1996. 531 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-128. Es verwundert daher nicht, dass das Motiv des Traums auch im Theater der Generación del 82 Eingang fand, die den Übergang zwischen franquistischem Boulevard und postmoderner Theaterästhetik auf den großen Bühnen Spaniens durchsetzte. 530 Der Theatertext El álbum familiar von José Luis Alonso de Santos legt in besonderer Weise Zeugnis davon ab, auf welche Weise es den in dieser Studie analysierten Dramatikern gelingt, ihren Anspruch nach ästhetischer Innovation mit ihrem erinnerungskulturellem Bewusstsein zu verbinden. Im Motiv des Traums scheinen sich ästhetischer und ethischer Anspruch ideal verknüpfen zu lassen. 2.3 Das Ende vom Anfang - Trauma und Initiation in El álbum familiar Genau wie sich das Konzept des kollektiven Gedächtnisses aus den individuellen Erinnerungen derjenigen speist, die das Kollektiv konstituieren, setzen sich kollektive Traumata, Erschütterungen des kollektiven Selbstverständnisses, wie sie etwa durch Bürgerkriege oder politische Repression ausgelöst wurden, aus den traumatischen Erfahrungen derjenigen zusammen, die das traumatisierte Kollektiv bilden. Die Betonung dieser Interdependenz zwischen Individuen und Kollektiven scheint m. E. bedeutend für die Analyse des Theatertexts El álbum familiar, in dem es, wie das obige Zitat von Alonso de Santos bereits andeutete, zugleich um einen individuellen Versuch und ein an ein Kollektiv gerichtetes Angebot der Identitäts-Rekonstruktion geht. Diese strukturelle Überlagerung scheint, wie noch zu zeigen sein wird, ihren Verbindungspunkt im Begriff des ‚Traumas’ bzw. dem Umgang mit traumatischer Erfahrung zu finden. Paul Ricœur hebt hervor, dass gerade „das Trauerverhalten ein bevorzugtes Beispiel für die Beziehungen darstellt, in denen privater und öffentlicher Ausdruck sich überkreuzen.“ 531 Die Arbeit am Trauma ist immer auch Arbeit an der eigenen Identität, die stets sozial determiniert ist. Erneut soll an dieser Stelle ein Zitat Paul Ricœurs angeführt werden, dessen Annahme von einem engen Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Arbeit am Trauma in dieser Studie Folge geleistet wird: 256 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="257"?> 532 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-128. 533 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-128. 534 Bohleber, „Remembrance, Trauma and Collective Memory“, S.-343. 535 Vgl. Trappe, Tobias: „Substanz; Substanz/ Akzidens“, in: Ritter, Joachim (Hg.), Histori‐ sches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, S. 496. Der Begriff der ‚Substanz’ wird hier als das identitär Zugrundeliegende, das Unveränderbare im Sinne des Identitätsprinzips (A=A) verstanden. Diese Betrachtung schließt den Gedanken der identitären Entwick‐ lung, des Bewusstseins eines Subjekts, nicht aus, sondern geht lediglich von einer subjektiven Essenz und Diesselbigkeit aus. Sokrates bleibt Sokrates, auch wenn der junge und der alte Sokrates in einem geistigen und körperlichen Ähnlichkeitsverhältnis stehen. Es ist die Bipolarität von persönlicher und gemeinschaftlicher Identität, die letzten Endes die Ausweitung der Freudschen Analyse der Trauer auf das Trauma der kollektiven Identität rechtfertigt. Man kann nicht nur im analogen Sinne, sondern in den Begriffen der unmittelbaren Analyse von kollektiven Traumen oder Verletzungen des kollektiven Gedächtnisses sprechen. Der Begriff des verlorenen Objekts ist unmittelbar auch auf jene ‚Verluste’ anwendbar, die die Macht, das Territorium oder die Bevölkerung betreffen, welche die Substanz eines Staates ausmachen. 532 Dass die Trauerarbeit innerhalb von Kollektiven, die von der symbolischen Anerkennung des Geschehenen bis zur Etablierung des rituellen Erinnerns an die traumatischen Erfahrungen in Form von Feierlichkeiten und Zeremonien reicht, „zu denen sich ein ganzes Volk versammelt“ 533 , im Postfranquismus wei‐ testgehend ausblieb, unterstreicht die Bedeutung des erinnerungskulturellen Theaters als Ort der kollektiven Auseinandersetzung. Die Fragen „Wer bin ich? “ bzw. „Wer sind wir? “ verlangen zwar nach einer identitären Verortung im Hier und Jetzt, sind jedoch ohne den Rückblick auf Gewesenes nicht zu beantworten. Statt des „Seins“ entspräche das Perfekt, das Gewordensein, eher der historischen Dimension der identitären Vergewis‐ serung. Trauma und Identität stehen folglich in einem konfliktiven Verhältnis, das seine Spannung aus der notwendigen, jedoch verhinderten Integration des Verdrängten bezieht. Die Schwere des Erlebten, die mit dem Trauma einherge‐ hende Überforderung, Wahrgenommenes in das Bewusstsein zu integrieren, steht in Opposition zum Wunsch nach dem „understanding of the self “ 534 . Der Akt der Bewusstwerdung bzw. die Integration von Erinnerungen ins Bewusstsein wird damit zur Existenzbedingung für identitäres Verständnis, das in den weiteren Ausführungen von dem allgemeinen Begriff der Identität unterschieden wird. Diese terminologische Präzisierung ist deshalb von Be‐ deutung, weil Identität im Sinne der aristotelischen Substanz einem Subjekt a priori gegeben ist, auch wenn dieses Subjekt gravierende Lebensspuren verdrängt. 535 Verdrängung meint folglich nicht den Verlust der Identität an 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 257 <?page no="258"?> 536 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 116: „Die Übertragung, schreibt Freud, schafft einen Zwischenbereich zwischen der Krankheit und dem realen Leben; man kann von ihr als einer ‚Arena’ sprechen, in der sich der Trieb in beinahe totaler Freiheit manifestieren darf … [allerdings in entstellter Form, D.H.].“ 537 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-117. 538 Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, in: Freud, Anna u. a. (Hgg.), Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd.-10, Frankfurt a.-M. 3 1963, S.-132. sich, sondern stattdessen die Gefahr des identitären Unverständnisses, der identitären Orientierungslosigkeit. Exemplarisch stellt dies der von Freud be‐ schriebene Wiederholungszwang heraus, der die Ursache für Handeln und damit für Verhalten entstellt. Die erklärende Rückführung von der Wirkung zur Ursache wird erschwert, was die Beschreibung der subjektiven Essenz, dessen, was den Menschen zu dem macht, was er ist, zwangsläufig verhindern muss. Die pathologische Implikation, die Paul Ricœur dem Phänomen des verhinderten Gedächtnisses zuschreibt, ergibt sich nicht zuletzt aus dieser Ent‐ fernung vom Selbst als Folge der Übertragung 536 . Dieser begegnet das Freudsche ‚Durcharbeiten’ der traumatischen Erfahrung, ein Prozess der performativen Ursachenforschung und somit zugleich Förderung des Ich-Verständnisses. Aus einem Acting out wird ein “Acting through“, an dessen Ende die mémoire-souvenir steht. Wenn Ricœur den Ausdruck ‚remaniement’ gegenüber dem Begriff des Acting out bevorzugt, so deutet er darauf hin, dass der Prozess des Durcharbeitens mehr ist als ein erneutes beobachtendes Durchschreiten. 537 Ricœur betont durch diese Begriffswahl den Prozess des Umgestaltens, des erneuten Hand-Anlegens, das letztlich den Schlüssel zur Integration ins Bewusstsein darstellt. Damit rekurriert er erneut auf Freud, der den Patienten zum aushandelnden Ringen mit seiner “Krankheit“ auffordert: „Die Krankheit selbst darf ihm nichts Ver‐ ächtliches mehr sein, vielmehr ein würdiger Gegner werden, ein Stück des Wesens, das sich auf gute Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu holen gilt.“ 538 Der hier herausgehobene Aspekt der zukunftsgerichteten Integration des Geschehenen ist ebenso grundlegend für die erinnerungskultu‐ rellen Bemühungen von in Demokratien lebenden Kollektiven, die das Ziel des „Nie mehr wieder“ durch Aufklärung erreichen möchten statt durch Vergessen. Ebenso kommt in diesem Zitat der Zusammenhang zwischen der Integration ins Bewusstsein und der Identität zum Ausdruck, wenn Freud darauf verweist, dass das Objekt der Auseinandersetzung als „Stück des Wesens“ erkannt werden muss, als ein Teil also, der das Wesen und damit die Identität in entscheidendem Maße prägt. 258 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="259"?> 539 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 116: „Dieses Verdrängungswiderständen* zugeschriebene Hindernis wird als Wiederholungszwang* bezeichnet […].“ 540 Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartsdrama, S.-210. 541 Vgl. Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartsdrama, S.-205. 542 Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartsdrama, S.-205-206. 543 Vgl. Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartstheater, S.-209, FN 36. In der folgenden Analyse von El álbum familiar gilt es, die erläuterte Verbindung zwischen Wiederholung und Widerstand im Theatertext und der damit intendierten Aufführung nachzuzeichnen. Ganz im Sinne Freuds und unter Rekurs auf Ricœur wird Widerstand als mögliche Ursache für Wieder‐ holung (mémoire-répétition) begriffen. 539 Die Wiederholung ist Konsequenz einer verhinderten Dialektik, die auf der Ebene des Individuums die Integra‐ tion des Verdrängten ins Bewusstsein bedeutet. Der Verdrängungswiderstand verhindert den dialektischen Umschlag, das Abkippen von der Ebene der These, und somit jede Form des Fortschreitens. Der misslingende Versuch, die traumatische Erfahrung ins Bewusstsein einzugliedern, führt zum Ausspielen des Verdrängten auf Alternativschauplätzen, zu denen der Traum zählt. Der Zusammenhang von Traum und Trauma konnte mithilfe der konzeptu‐ ellen Verknüpfung von Paul Ricœurs Phänomenologie des Gedächtnisses mit Theorien der Psychoanalyse dargestellt werden. Einen solchen Zusammenhang erkennt auch Herbert Fritz im Rahmen seiner Analyse von El álbum familiar: Für das träumende Subjekt repräsentiert der Traum die Bearbeitung eines traumati‐ schen Erlebnisses in symbolischer Form, und zwar den einerseits ersehnten, anderer‐ seits aber schmerzhaften Loslösungsprozess von der Familie, der beim erwachsenen Yo einen Schuldkomplex hinterlassen hat. 540 Mit dieser Annahme entfernt sich Fritz von zuvor formulierten Interpretationen, die El álbum familiar als „expressionistisches Stück mit fragmentarischer Struktur und traumhafter Grundtönung“ (Phyllis Zatlin) oder als „complejo drama simbólico“ (Miguel Vicario) beschreiben. 541 Stattdessen möchte er zeigen, „daß das Stück ein Traumstück ist“, genauer, ein „autobiographisch gefärbte[s] Stück in Form eines Tagtraums“ 542 , dessen Ursache das traumatische Erlebnis der Trennung darstellt. Weniger als die Frage, ob es sich um einen Tag- oder Nachttraum handelt bzw. ob der Traum sich kurz vor einer Tiefschlafphase oder zu einem anderen Zeitpunkt einstellt, interessiert hier zunächst Fritz’ Definition des Begriffs ‚Traumstück’. Diesen grenzt er vom ‚inszenierten Traum’ ab und verweist dabei auf das Dominanzverhältnis der Fiktionsebenen inner‐ halb des dramatischen Raums. 543 Während der inszenierte Traum als zweite Fiktionsebene die eigentliche Handlung nur partiell und in geringerem Maße 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 259 <?page no="260"?> 544 Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartstheater, S.-212. 545 Alonso de Santos, José Luis: El álbum familiar, Bajarse al moro, Madrid 11 2004, S. 62f. Alle folgenden Textauszüge aus dem Stück stützen sich auf diese Ausgabe. unterbricht, tritt die Traumhandlung im Traumstück quantitativ in den Vorder‐ grund. 544 Im Falle von El álbum familiar wird die Dominanz der Ebene des Geträumten ausgereizt, da sich die Ebene des Träumenden innerhalb des dramatischen Raums an keiner Stelle vollständig etabliert. Folgt man der klaren Distinktion zweier Fiktionsebenen, so erhält die Fiktionsebene erster Ordnung, die Ebene des Träumenden, eine kontrastive Funktion. Denn erst das Andeuten der Ebene des Träumenden ermöglicht es, das Dargestellte in Gänze als Trauminhalt bzw. als Erinnerung im Traum zu definieren. Die Feststellung, dass die Grenze zwischen Geträumtem und der Ebene des Träumens in keinem Moment über‐ schritten wird, scheint das Vorhaben, El álbum familiar als Theatertext über verhindertes Gedächtnis zu lesen, zu rechtfertigen, setzt Ricœur zufolge die Integration des Verdrängten ins Gedächtnis doch ein Stadium der Bewusstheit voraus, das dem Traumzustand entgegensteht. Das Dargestellte ist aus dramatischer Perspektive somit geistige Vorstellung, es ist Intelligibles, das sich in keinem Moment auf der ins off-stage verlagerten Ebene des Träumenden manifestiert, beispielsweise in Form einer binnenfikti‐ onalen Traumerinnerung. Die dramatische Kommunikationsebene ist somit von der ersten bis zur letzten Szene Traum und öffnet sich in keinem Moment einer Ebene innerfiktionaler Bewusstheit. Vielmehr dient diese Ebene als onto‐ logische Kontrastfolie für das im Traum Erinnerte sowie als Möglichkeit, die Theatersituation selbst zu aktualisieren. Die Verlagerung des Träumenden in das immer noch zum dramatischen Raum gehörende off-stage führt zu einer schein‐ baren Identität von geistigem Vorstellungsraum und Bühne. Diese im folgenden Auszug durch die Lichtmetaphorik unterstützte Doppelung von mentaler und dramatischer Vorstellung wird uns später eingehender beschäftigen: „(Y un ruido ensordecedor apaga la luz de mi pesadilla, desapareciendo todas las sombras en la oscuridad de mi mente.)“ 545 Auf der Grundlage dieser Prämisse soll zunächst die Ebene des Geträumten näher betrachtet werden. Obwohl die Beschreibung der Ebene des Dargestellten, der histoire, bei einem Traumstück aufgrund der Aufgabe raum- und zeitlogi‐ scher Gesetzmäßigkeiten nicht unproblematisch ist, ermöglicht die Lektüre der Handlungsstruktur von El álbum familiar als regressive Initiationsreise des YO die Vorbereitung weiterer Interpretationsschritte. Zudem liefert die Darlegung der regressiven Stationenreise eine inhaltliche Einführung in das Stück. 260 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="261"?> 546 Amorós, „Introducción“, S.-31. 547 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-53. 548 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-111. 549 Toro, Vera: „La auto(r)ficción en el drama“, in: Luengo, Ana u. a. (Hgg.), La obsesión del yo: la auto(r)ficción en la literatura española y latinoamericana, Madrid/ Frankfurt a.-M. 2010 (= Historia y Crítica de la Literatura), S.-241. Andrés Amorós weist in seiner Einführung zu El álbum familiar explizit auf die Analogie zwischen dem Aufbau der Dramenhandlung und den Entwick‐ lungsstufen der Hauptfigur hin: „Este es el viaje simbólico de un joven, viaje iniciático ‘para aprender a vivir’.“ 546 Zwar findet der Wiederholungscharakter der Handlung in der Forschungsliteratur durchaus Erwähnung, jedoch ist m. E. zudem herauszustellen, dass das traumatische Erlebnis am Ende dieser ins Un‐ bewusste verlagerten Initiationsreise zugleich als Existenzbedingung der Dra‐ menhandlung gelesen werden kann. Schon der Beginn der ersten Traumszene macht deutlich, dass es sich um einen wiederkehrenden Traum handelt, der seinen End- und eben auch seinen Ausgangspunkt im Trauma zu haben scheint: „(Suena un tren a lo lejos. Estoy yo solo pisando otra vez las baldosas de mi casa, que no sé por qué es ahora toda ella grande, blanca y silenciosa. […], Hervorhebung, D.H.)” 547 . Die sich wiederholende Dramen- und Traumhandlung scheint immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückzuführen. Die Überlagerung von Start- und Zielpunkt macht aus der Initiationsreise eine Kreisbewegung und somit eine nicht endende Wiederholung im dramatischen Raum, die eine finale identitäre Vergewisserung des YO zu unterbinden scheint. Auch Vera Toro (2010) erkennt, dass das Ende des Theatertextes gleicher‐ maßen seinen Anfang bilden könnte und verweist dabei auf die metaleptische Suggestion, die das Durchblättern des Familienalbums mit sich bringt. Während der Leser den Theatertext El álbum familiar durchblättert, schlägt die Figur YO die Seiten des Fotoalbums um („Es un álbum familiar. Lentamente empiezo a pasar sus hojas […].“ 548 ): „Aquí se trata de una mise en abyme del enunciado y de la enunciación aporística.“ 549 Der Akt des Lesens wird durch diese innerfiktionale Doppelung (Durchblättern des Erinnerungsmediums Fotoalbum) zum erinne‐ rungskulturellen Akt. Im Unterschied zu der hier vorgenommenen Koppelung des Wiederholungscharakters an das Konzept des Traumas, begründet Toro die Kreisstruktur des Stücks jedoch anhand der Gegenläufigkeit zwischen Lesebe‐ wegung und Figurenbewegung, Durchblättern des Lesers und Durchblättern der Figur: […] como toda la historia está situada en la mente del protagonista, está evocando mientras hojea el álbum después de subir al tren, y se acuerda de todo de nuevo hasta 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 261 <?page no="262"?> 550 Toro, „La auto(r)ficción en el drama“, S.-241. 551 García Martínez, El telón de la memoria, S. 222: „Los títulos de las diferentes escenas son de fácil acceso y comprensión, y siguen la cronología de un viaje normal y corriente.“ el momento de estar en el tren hojeando el álbum. Así es imposible fijar el presente narrativo y el presente del hablante a posteriori. 550 Abgesehen davon, dass Toro hier außer Acht lässt, dass es sich beim Erinnernden um einen Träumenden handelt, der nicht physisch sondern mental durch das Album blättert - auch das Blättern durch das Album ist Teil des Traums -, würde ein solcher Ansatz das in dieser Studie im Fokus stehende erinnerungskulturelle Potential des Stücks übersehen. Der Wiederholungscharakter wird in dieser Arbeit nämlich so verstanden, dass die erinnerten Momente und der Moment des Erinnerns gerade nicht ineinander aufgehen, also keine Zusammenführung erfahren. Erst diese Unerreichbarkeit ist Grundlage für die Verhaftung sowie das Kreisen des Erinnerten in der Latenz. Die folgenden Ausführungen sollen dies deutlicher vor Augen führen. Den Beginn der sich im Traum wiederholenden Initiationsreise markiert das Haus der Kindheit, des ersten Bezugsortes der Hauptfigur YO. Den Schlusspunkt der Reise repräsentiert die von Fritz erwähnte Trennung von der Familie. Das ans Ende gesetzte Trauma der Trennung macht das Syntagma des Dramas zu einem tragischen, zu einem Zusteuern auf die immer wiederkehrende Kata‐ strophe. Folgt man dieser Analogie im Rahmen einer genaueren Betrachtung der Handlungsstruktur, so scheint eine strukturelle Nähe des Traumstücks zum aristotelischen Tragödienaufbau erkennbar. Der Feststellung von Anabel García Martínez, es handle sich um einen Handlungsaufbau, der dem gewöhnlichen Ablauf einer Reise entspricht, soll damit eine poetologische Begründung gegen‐ übergestellt werden, die die Konstruktion der immer wieder misslingenden Initiation ganz bewusst an der tragischen Gattung und nicht etwa an einer nur schwerlich zu definierenden und doch eher willkürlich beanspruchten Gewöhnlichkeit eines Reiseablaufs ausrichtet. 551 Es wird sich zeigen, dass die Tragik der Handlung nicht nur darin besteht, dass sie in eine Katastrophe mündet, sondern dass es sich aufgrund eines näher zu beleuchtenden Wider‐ stands um eine potentiell unendliche Initiationsreise handelt, die aufgrund ihres Einmündens in die Katastrophe nie zum Abschluss kommen kann - ähnlich wie die Höllenqualen von Figuren aus der griechischen Mythologie an die fortwährende Wiederholung geknüpft sind. El álbum familar ist in sechs Titel (Traum-)Szenen untergliedert, die allesamt Lebensstationen der Hauptfigur YO darstellen: „Escena primera: Mi casa“, „Es‐ cena segunda: El viaje“, „Escena tercera: Sigue el viaje“, „Escena cuarta: En la sala 262 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="263"?> 552 Vgl. Alonso de Santos, José Luis: El álbum familiar, Bajarse al moro, Madrid 11 2004. de espera en un lugar sin nombre“, „Escena quinta: Seguimos en la sala de espera durante la larga noche“, „Escena sexta y última: El andén de las despedidas“. 552 Der Verzicht auf die Eingliederung der Szenen in Akte korrespondiert mit der dem Traum zugeschriebenen Absenz hierarchischer Strukturierung, gleichwohl bereits die Titelfolge auf eine gewisse Chronologie verweist. Insbesondere die zweite und dritte bzw. die vierte und fünfte Szene stehen durch das Verb ‚seguir’ in einem unmittelbaren zeit-logischen Verhältnis zueinander. Trotz der Absenz übergeordneter Akte weist der Dramenaufbau Analogien zur aristotelischen Tragödienstruktur auf. Auf die Exposition (Mi casa), die sowohl über die Ausgangssituation der Familie wie auch die beteiligten Figuren informiert, folgt der Beginn der Handlung (El viaje). Diese steigert sich (Seguimos el viaje) bis zum Höhebzw. Wendepunkt, der in einer Ticketkontrolle im Zug und im erzwungenen Verlassen des Zuges endet (En la sala de espera en un lugar sin nombre). Das damit eingeleitete Zusteuern auf die “Katastrophe“, die traumatische Trennung der Hauptfigur von seiner Familie (El andén de las despedidas), wird durch ein retardierendes Moment (Seguimos en la sala de espera) hinausgezögert. In El álbum familiar rückt die Tragödienstruktur nun in den Dienst der Initiation, der Entwicklung vom Kleinkind zum Jugendlichen und schließlich zum jungen Erwachsenen, der gezwungen ist, auf eigenen Beinen zu stehen. Der tragische Held YO erfährt als Träumender und Geträumter die paradoxale Verschränkung von Erinnern und Erleben, eine Entwicklung, an deren Ende die Verletzung steht, die selbst wiederum als essentieller Teil des Entwicklungs‐ prozesses fungiert. Der erzwungene und hektische Aufbruch der Familie, der bedrohlichen jedoch nicht genauer beschriebenen Außengeräuschen geschuldet ist, zwingt das YO nicht nur dazu, das Haus und die daran geknüpften Er‐ innerungen und Emotionen zurückzulassen, sondern er leitet ebenso einen Loslösungsprozess vom Stadium der Kindheit ein. Der als innerer Monolog konzipierte Nebentext, auf den noch genauer einzugehen sein wird, verdeutlicht diesen initialen Loslösungsakt. Exemplarisch belegt dies folgender Auszug aus der ersten Traum-Szene. (LA VECINA ayuda a vestirse a MI MADRE para el viaje con las ropas guardadas en el baúl, lentamente, como en un ritual conocido. Suena un reloj muy fuerte no sé de donde. Y anochece pronto. Nos quedamos todos quietos, en silencio. Se recortan nuestras sombras en las paredes vacías como separándose de nosotros. Rasga entonces el aire el llanto desgarrador de un niño pequeño. ¿Seré yo el que llora? Lo mismo piensan MIS 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 263 <?page no="264"?> 553 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-60. 554 Auf den labilen Gesundheitszustand der Mutter wird im Laufe des Dramas wiederholt durch explizite und implizite Figurencharakterisierung hingewiesen. Vgl. beispiels‐ weise den an die Mutter gerichteten Ausspruch von LA VECINA in der zweiten Szene: „…cuando estabas mala.“ (S. 71) sowie die Replik von MI PRACTICANTE im dritten Akt: „Las hijas son unas pobrecitas. La de en medio está enferma de pecho, como la madre.“ (S. 81); vgl. ebenso den Beginn der fünften Szene, als MI PADRE mehrfach den Husten der Mutter Justa erwähnt, u.a.: „MI PADRE.- No. Ya no fumo. No me sentaba bien. Además, por Justa; ya sabes, la tos.“ (S.-94). HERMANOS y nos miramos unos a otros. Me acerco lentamente a MAMÁ, que ya está vestida, y me acurruco en sus brazos. Ella tose.) 553 Der laute Glockenschlag sowie der abrupte Einbruch der Nacht scheinen eine neue Etappe einzuläuten, die durch die symbolische Trennung von den häuslichen Schatten begleitet wird. Zugleich markiert das ritualhafte bzw. das durch die onirische Wiederholung zum Ritual gewordene, beobachtete Ankleiden der Mutter, die aus der Sicht des Träumenden MI MADRE und aus der Perspektive des erlebenden YO MAMÁ genannt wird, das Ende der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung. Diesem folgt eine Geste des Abschieds, in der der Akt des Bekleidens erneut explizit Erwähnung findet und das sich nicht zufällig durch eine finale symbiotische Verschmelzung auszudrücken scheint: „Me acerco lentamente a MAMÁ, que ya está vestida, y me acurruco en sus brazos”. Das Husten der Mutter suggeriert zugleich die lebenszeitliche Endlichkeit der Mutter-Kind-Bindung und die damit einhergehende, bis zum Ende des Stücks immer wieder angedeutete Notwendigkeit der Selbstbestim‐ mung, welche die Konstruktion einer eigenen identitären Entität voraussetzt. Die durch das Husten aktualisierte Vergänglichkeit des mütterlichen Körpers führt die Notwendigkeit der Bündelung eigener Kräfte implizit ein. 554 Die von Herbert Fritz angedeutete Ambivalenz des träumenden und geträumten YO drückt sich in der zitierten Textstelle durch die sich in der Frage „¿Seré yo el que llora? ” zuspitzenden Überlagerung von Erleben und Erinnern aus. Zudem lässt diese Gleichzeitigkeit eine Verortung des erlebenden YO im Kindesalter zu, ist der „llanto desgarrador de un niño pequeño” aus der Perspektive des erinnernden YO doch offensichtlich auch dem erlebenden YO selbst zuordenbar. Mit der Evozierung des Kleinkindstadiums schließt die Exposition ab und leitet die Zugreise ein, deren Ziel nicht genannt wird. Erstmalig wird damit eine der grundlegenden Oppositionen des Dramas etabliert, genauer, das dialek‐ tische Zusammenspiel zwischen Statik und Dynamik, zwischen der Erreichung und dem Hinter-Sich-Lassen einer Entwicklungsstufe. Während die statischen Räume innerhalb des Dramas die Entwicklungsstadien des Kindes und des 264 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="265"?> 555 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-63. 556 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-65/ 66/ 68. Jugendlichen repräsentieren - Mi casa, En la sala de espera en un lugar sin nombre sowie El andén de las despedidas - ermöglicht die Bewegung, die ihre metaphorische Entsprechung in der Zugfahrt findet, die Transgression zwischen den Evolutionsstadien der Kindheit und der Jugend sowie der Jugend und des jungen Erwachsenenalters - und somit eine Weiterentwicklung. Symbolhaft wird der Gegensatz zwischen Dynamik und Statik am Ende des ersten Aktes vor Augen geführt, als der Versuch der Familie, das Haus zu verlassen, in einer grotesken Kreisbewegung aufgeht, die weder Fortschritt noch Ausbruch kennt und erst durch denn Willen und die Entschiedenheit des YO beendet werden kann. YO ermöglicht damit nicht nur das Ende der krei‐ senden Stagnation und die damit zusammenhängende Einleitung der eigenen Entwicklung, sondern er treibt ebenso das Dramengeschehen voran, indem er den Übergang von der ersten zur zweiten Szene überhaupt erst initiiert. Die Statik bzw. die Stagnation der übrigen Familienmitglieder scheint in dieser Szene gleichermaßen vorgezeichnet, der Ausbruch des YO aus der Familienstruktur proleptisch angedeutet. MI PADRE.- Anda, hijo, vamos. (Y empezamos a caminar, pero nos vamos en círculo, dando vueltas y vueltas una y otra vez sobre nosotros mismos. Así no llegaremos a ningún lado. Seguimos dando vueltas, encerrada la familia en sí misma, mientras nos siguen diciendo adiós con la mano los que nos han venido a despedir.) […] YO.- ¡Vámonos! ¡Vámonos de aquí para siempre! ¡Tenemos que poder salir! ¡Tenemos que poder marcharnos de aquí! ¡Marcharnos de aquí! ¡Marcharnos! ¡Marcharnos! ¡Marcharnos! … 555 Die zweite und dritte Traum-Szene, die das Geschehen im Zug beinhalten (El viaje, Seguimos el viaje), ermöglichen den Rezipienten die historische Kon‐ textualisierung des Geträumten. Zuggeräusche mischen sich mit der Stimme Francos, die aus einem Radio ertönt. Dessen pathetische Phrasen wirken zynisch angesichts des von der Familie Erlebten: „VOZ DE FRANCO Y LOS RAÍLES: … la patria exige sacrificios… sacrificios… sacrificios.“ Und wenig später: “…en este viaje en que estamos todos comprometidos“, „[…] Otros sistemas políticos no tuvieron en cuenta a la familia… la familia… la familia… (Aplauso y vítores)…“ 556 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 265 <?page no="266"?> 557 Amorós, Andrés: „Introducción“, S. 30. Die historische Verortung zur Zeit der posguerra wird in der Forschungsliteratur nicht in Frage gestellt. Vgl. u. a. Piñero, Margarita: La creación teatral en José Luis Alonso de Santos, Madrid 2005, S.-249. 558 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-53. 559 Für Miguel Medina Vicario ist es schlüssig, dass die Wiederholung der traumatischen Erlebnisse beim Verlassen des Hauses einsetzt: „De este dolor se parte. El primer símbolo se encuentra en la sensación de soledad que experimenta ante unos seres desconocidos que van demoliendo incomprensiblemente su mundo estable, su intimidad.“ Vgl. Medina Vicario, Miguel: Los géneros dramáticos en la obra teatral de José Luis Alonso de Santos, Madrid 1993, S.-123. Andrés Amorós zählt weitere Hinweise auf, die eine Situierung der Traumi‐ nhalte in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlauben: „Estamos en el territorio de las pesadillas pero también en otro mucho más concreto: la España de la inmediata posguerra, Franco, la Falange, el miedo, los avales, el racionamiento, le leche en polvo y el queso de la ayuda americana, las canciones populares…” 557 Die äußere Bedrohung (“Oigo afuera unos tremendos golpes contra las paredes. Están empezando a derribar la casa.“ 558 ), die die Familie in der ersten Szene zum Aufbruch aus dem Haus zwang, kann dank der Informationsvergabe in der zweiten Szene mit den Geschehnissen und Auswirkungen des spanischen Bürgerkriegs in Verbindung gebracht werden, ohne das dies eine exakte, zumal nicht notwendige Datierung ermöglichen würde. 559 Die Konfliktivität in der Phase der posguerra wird durch das regelmäßige Auftauchen dreier Nebenfiguren aktualisiert, die die ideologische Opposition zwischen Anhängern Primo de Riveras, Franquisten und Republikanern verkörpern. Während EL PRACTICANTE sich als glühender Anhänger von José Antonio Primo de Rivera zu erkennen gibt und EL NOVIO MILITAR DE MI HERMANA MAYOR als stumpfsinniger und befehlstreuer Franquist gezeichnet wird, positioniert sich die Figur MI MAESTRO, der Mathematiklehrer der Hauptfigur, gegen ideologischen Dogmatismus und die Manipulierung der Massen. Beispielhaft lässt sich dieses ideologische Spannungsverhältnis, das den gesamten Traum entscheidend prägt, in der zweiten Traum-Szene herausstellen, in der EL PRAC‐ TICANTE im Zug mit wütenden Tiraden auf die Radio-Stimme Francos reagiert, um kurz darauf die Hymne der Falange anzustimmen. Dass EL MAESTRO in diesem Zusammenhang auf die Mathematik als undogmatisches Gegenmodell verweist, geht im Gesang der “Masse“ unter: MI PRACTICANTE.- […] Tú no quisiste canjear a los prisioneros! ¡Tú mataste a todos! Por tu culpa [de Franco, D.H.] murió también José Antonio Primo de Rivera! ¡El habría salvado a la patria! “Cara al sol, con la camisa nueva, 266 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="267"?> 560 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-68f. 561 Alonso de Santos, El álbum familiar, S. 81. Vgl. zudem S. 51. Nicht zufällig lautet die erste Replik der Figur MI PRACTICANTE in der ersten Traum-Szene: „No te asustes. Hoy no he venido a ponerte la inyección.“ que tú bordaste en rojo ayer…“ (Canta a voz en grito el “Cara al sol.“ MI PADRE se levanta despacio y canturrea bajo asustado. Todos los demás nos ponemos también en pie, y cantamos con él. A nuestras voces se unen miles de voces, triunfales unas, vencidas otras, en medio de sombras gigantescas y amenazadoras. MI HERMANO PEQUEÑO saluda brazo en alto. YO no. MI ABUELA sonríe con dolor. MI MADRE tose. MI MAESTRO, Don Demetrio, se aleja maneando la cabeza de un lado a otro. Él nunca habla de guerra, Sólo explica matemáticas. Siempre matemáticas.) […] MI MAESTRO.- ¡José Luis, decimales! No hagas caso de nada de esto. Sólo decimales. Los números son la verdad. No lo olvides. MI PRACTICANTE Y TODOS CON ÉL.- “Arriba escuadras a vencer, que en España empieza a amanecer.“ 560 Die erwähnten Figuren können gemeinsam mit den in der vierten Traum-Szene auftauchenden GUARDIAS CIVILES sowie einem SACERDOTE als Allegorien ideologischer und sozialer Disziplinierung begriffen werden, denen sich YO in seiner Biographie dauerhaft ausgesetzt sieht. Auf unterschiedliche Weise überwachen und determinieren diese Erscheinungen, die YO in der fünften Szene als „fantasmas negros de mi mente“ (S. 101) bezeichnet, die Ich-Instanz. Die körperliche Gesundheit untersteht dem PRACTICANTE, der die Hauptfigur durch zahlreiche Injektionen zwar zu stärken verspricht, dabei jedoch strafende Kontrolle über den Körper ausübt und YO in ein Abhängigkeitsverhältnis drängt: „El chico tiene anginas casi siempre […] Y las heridas en las rodillas. Están débiles y por eso necesitan muchas inyecciones. A él le estoy poniendo ahora unas cajas de calcio […].“ 561 Die beiden GUARDIAS und der NOVIO MILITAR repräsentieren dagegen die militärische und polizeiliche Gewalt. Gemeinsam ist diesen Figuren der blinde Gehorsam, die reine Funktionalität, die jede Empathie erstickt zu haben scheint. Als Exekutive der franquistischen Ideologie treten sie unmenschlich, unreflektiert und mechanisch auf. Die ge‐ betsmühlenartige Wiederholung franquistisch-militärischer Parolen durch den NOVIO MILITAR, die aufgedrängte Hilfsbereitschaft der GUARDIAS sowie das 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 267 <?page no="268"?> 562 Bereits in der ersten Traum-Szene beschreibt YO den Freund der Schwester im Rahmen des Nebentextes als Puppe: „[…] Entonces entra el NOVIO DE MI HERMANA MAYOR vestido militar, semejante a un maniquí de plomo” (S.-60). 563 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-100. mechanistische Salutieren, das sich selbst in Momenten menschlicher Intimität Bahn bricht, zeugen auf ironische Weise von dieser grotesken Entmenschli‐ chung und Typisierung. 562 Hinzu kommt der dominante SACERDOTE, der Vertreter christlicher Dog‐ matik, der in keinem Moment aus dem Missionierungsdiskurs der Kirche ausbricht, welcher sich vor allem über den Hinweis auf sündiges Verhalten, moralische Fehltritte und die anschließende Züchtigung sowie die Androhung von Hölle und Fegefeuer charakterisiert. Als verlängerter Arm der ideologischen Hörigkeit fungiert schließlich LA VECINA, deren unreflektierte Solidarität mit der Preisgabe von Intimitäten einhergeht. Als Empfängerin und Senderin von persönlichen Informationen scheint sie weniger von karitativem Impetus als von Neugier getrieben, weshalb sie YO in der fünften Szene in die Schranken weist: „YO.- ¡Usted callése! Usted sólo es la vecina.“ 563 Als „nuestros fantasmas“, „fantasmas negros de mi mente“ und „nuestros eternos acompañantes“ erscheinen und verschwinden die Figuren unvermit‐ telt, sie sind an keinen raum-zeitlichen Kontext gebunden. Dieser Umstand verdeutlicht, dass es sich bei diesen Figuren nicht etwa um eine Erinnerung an die Einzelcharaktere handelt, sondern vielmehr um die Erinnerung daran, was diese Personen für YO repräsentieren. Als Figurationen körperlicher und geistiger Repression suchen sie das YO heim, tauchen plötzlich auf und treten wieder in den Hintergrund und simulieren durch ihr Kommen und Gehen das Tauziehen zwischen Selbsterfüllung und Normtreue. Einzig EL MAESTRO, der Wissens- und Bildungsvermittler, scheint der Unterdrückung die Momente der Progression und der Entfaltung entgegenzustellen. Immer wieder betont er, dass die Aneignung von Wissen, konkretisiert in der ideologiefreien Materie der Mathematik, den einzigen Ausweg aus den ideologisch-geistigen Fangnetzen bietet. Doch zurück zur Dramenstruktur: Auf der Zugreise in einen neuen Lebens‐ abschnitt, der symbolisch für das Jugendstadium der Hauptfigur steht, ist die Familie mit dem Nötigsten bepackt, jedoch verfügt sie nicht über die notwen‐ digen Zugtickets. Aus diesem Grund wird die Fahrt durch einen REVISOR, einem weiteren Repräsentanten des Gesetzes und der Gesetzmäßigkeiten, jäh unterbrochen, was gemäß dem klassischen Tragödienaufbau einen Wendepunkt (Peripetie) auf syntagmatischer Ebene markiert. Bei Nacht, an einem Bahngleis 268 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="269"?> 564 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-85. 565 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-54. in einem namenlosen Ort, wartet die Familie auf den nächsten Zug, mit dem die Reise fortgesetzt werden soll: „([…] Estamos esperando a que llegue un nuevo tren, y nos lleve a algún sitio).” 564 Im Wartesaal ist die Familie kurz nach der vom Revisor erfahrenen Demüti‐ gung erneut der Gegenwart von Kontrollinstanzen ausgesetzt sind, und zwar in Person von zwei Polizisten der Guardia Civil, die einen Gefangenen überführen, der die Hauptfigur an einen ehemaligen Nachbarn namens Aniano erinnert. Der Wartesaal füllt sich in der Folge in beklemmender Weise mit Gedanken, Träumen im Traum, verdrängten Erinnerungen, grotesken Szenerien und trieb‐ bedingten Erscheinungen. Dabei weicht die kindliche Orientierung an den Eltern aus dem ersten Akt (YO.- […] ¿Qué tengo que llevarme, mamá? ¿Qué tiene uno que llevarse cuando se va? ) 565 Momenten jugendlich-rebellischer Selbstbestimmung sowie der Bewusstheit des Erwachsenwerdens. Das Aufbre‐ chen bestehender Ordnungen und Verhältnisse spielt auf die Liminalität des jugendlichen Stadiums an, auf die in dieser Phase notwendige Anti-Struktur. Dass wir es an dieser Stelle mit dem Übergang vom Kind zum Erwachsenen zu tun haben, wird an zwei Stellen, die beide als Traum im Traum, und somit als Schwellenraum, in die Dramenhandlung eingeflochten sind, besonders deutlich. Beiden Textstellen ist gemein, dass sie sich durch eine paradoxe Verquickung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit zwischen Erinnern und Erleben charakterisieren. Damit erfährt der Jugendliche seinen Status als liminale Figur zwischen Kind und Erwachsenem, die Gegenwart gerät dabei zu einer uneindeutigen Vermengung von Vergangenem und Zukünftigem. Wie konkretisiert sich diese Annahme nun im Theatertext? Zu Beginn der fünften Szene blickt El PADRE in einem Vater-Sohn-Gespräch auf den Moment zurück, als er selbst im Alter der Hauptfigur war. Auch er musste mit seiner Familie eine Reise ins Ungewisse antreten, auch er saß in Zügen und Wartesälen, und auch er führte Gespräche mit seinem Vater, bis er sich plötzlich selbst in der Rolle des Vaters wiederfand. Das Motiv der Reise ins Ungewisse wiederholt sich, auch wenn der Referenzpunkt der Reise ein anderer ist. Da die Ereignisse und Beschreibungen der väterlichen Reise mit denen der aktuellen Reise nahezu identisch sind und EL PADRE Gegenwärtiges zugleich zu beschreiben und zu erinnern scheint, fallen die Zeitebenen der vergangenen und gegenwärtigen Reise auf paradoxe Weise zusammen. Zwar spricht der Vater in der Vergangenheit, im beschreibenden Imperfecto, doch das Ausgesagte könnte sich genauso auf die gegenwärtige Reise beziehen. Auf diese Weise werden 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 269 <?page no="270"?> 566 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-94. die Ereignisse als eine sich wiederholende und scheinbar ausweglose Tragödie innerhalb des franquistischen und postfranquistischen Spanien markiert. (MI PADRE se acerca y me habla contándome todo lo que pasó tratando de decirme algo detrás de sus palabras, que no comprendo bien. También me habla de sus padre, y de otras salas de espera, en otras largas noches cuando YO aún no estaba.) MI PADRE.- Íbamos de viaje… Tuvimos que bajarnos para hacer trasbordo… me acuerdo muy bien. Tú, José Luis, estabas sentado sobre una maleta como ésa, apoyado contra una pared, en un rincón, y yo te hablaba. Los demás estaban todos dormidos, tirados sobre el equipaje. […] Yo no podía dormir, y te hablaba…[…] Sabía que estábamos allí, esperando un tren. Eso era todo. Alguien nos avisaría y tendríamos que recoger todo corriendo si no queríamos perderlo. […] Y os miraba a todos en la oscuridad. A ti mientras te hablaba, y a ella, tu madre, y a tu abuela, y a los chicos… Entonces empecé a recordar cuando yo hice también un viaje como tú con mis padres y mis hermanos, cuando era yo como tú… Yo estaba sentado donde estás tú ahora, y él me hablaba… Luego él se fue, y yo fui el padre. Algún día lo serás tú, serás tú el que llevará a sus hijos de viaje. Por eso lo mirabas todo con esa cara, con esos ojos grabándolo en tu mente para siempre: para aprender. 566 Der angedeuteten Verschiebung von verwendetem Tempus und semantischer Referenz, der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, wird der Vorausblick in die Zukunft an die Seite gestellt: „Algún día lo serás tú.” Die Vermengung von Vergangenheit und Zukunft auf der semantischen Fläche der Initiationsreise lässt sich als Metapher für das Übergangsstadium der Jugend lesen, das sich als Phase zwischen Kindheit und dem Stadium des Erwachsenen als evolutionäres „betwixt and between“ definieren lässt. Der auf die zitierte Replik folgende Traum im Traum zeigt einen Rollentausch zwischen Großvater, EL PADRE DE MI PADRE, und Vater. Das YO schlüpft dabei zugleich in die Rolle des Betrachters eines dynamischen Spiels im Spiel sowie einer Fotografie. Die Bewegung des theatralen Spiels und die Statik der Fotografie überlagern sich in dieser Szene und führen zu einer Gleichzeitigkeit von erlebter Gegenwart (Dynamik) und geschauter Vergangenheit (Statik). (YO me levanto del sitio del hijo y se sienta él. Entonces aparece bajo la sombra de su padre, como en la foto, y se sienta en el sitio que estaba él. Y YO los miro a los dos. Y me fijo muy bien en todo. Muy bien. Sin que se me escape nada, para cuando YO sea el padre.) 567 270 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="271"?> 567 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-94. 568 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-98. 569 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-102. 570 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-100. 571 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-99. In Form eines Traums im Traum spannt sich noch ein weiteres Konfliktfeld auf, das eng mit der jugendlichen Entwicklungsstufe des YO in Verbindung steht. Dabei handelt es sich um den Konflikt zwischen eigener Triebregung und den etablierten Norm- und Wertvorstellungen. Der fließende Übergang zwischen der Ebene des Geträumten und der Ebene des Traums im Traum beginnt, als das YO ein fiebriges Gefühl feststellt: „([…] YO me siento como con fiebre. Me arde la cabeza. Es de todo esto, del cansancio, y de los nervios.“ 568 Auch wenn der genaue Übergang zwischen den Ebenen nicht auszumachen ist, wird die Annahme einer weiteren Traumebene kurze Zeit später bestätigt. Bei der plötzlichen Ankunft des Folgezuges scheint YO aus dem Traum im Traum “zu erwachen“: ALTAVOZ.- “¡Viajeros al tren! ¡Señores viajeros al tren! Atención, atención! ¡Todos los señores viajeros al tren. Vía primera, andén primero! ¡Atención. Atención! …” MI PADRE.- ¡Al tren! ¡Ha dicho al tren! Deprisa. ¿Pero qué haces así, José Luis, por Dios? ¡Va a salir la maleta! Coged las maletas y los bultos… ¡Va a salir ¡ Vamos, Justa… Justa … ¡Este chico! […] (YO estaba dormido… Estaba soñando… soñando… estaban aquí todos…) 569 Die im Traum im Traum zur Figur gewordene Triebregung ELLA wird von der christlichen Morallehre in Person des SACERDOTE sowie von Vertretern und Hütern der sozialen und politischen Ordnung, EL PRACTICANTE, EL NOVIO MILITAR DE LA HERMANA MAYOR und den beiden GUARDIAS CIVILES, bedroht und schließlich abgeführt: „MI PRACTICANTE.- Por su bien tenemos que llevarnos a la chica.“ 570 Aus einer Replik des SACERDOTE, den YO evoziert, als er den leiblichen Verführungen der nicht zu kontrollierenden ELLA zu erliegen droht, erfahren die Rezipienten, dass das erlebende YO zwölf Jahre alt ist. Erneut changieren an dieser Stelle die Ebenen des träumenden bzw. träumend erinnernden und des erlebenden YO: SACERDOTE.- Con doce años ya puedes ir al infierno. YO.- Ya no tengo doce años. SACERDOTE.- Entonces los tenías. 571 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 271 <?page no="272"?> 572 Alonso de Santos, El álbum familiar, S. 100. Zwar wird ELLA bereits in der ersten Traumsezene erwähnt, jedoch wird hier zugleich suggeriert, dass es sich bei dieser Erscheinung um etwas handelt, was das Ende des Entwicklungsstadium des Kindes vorausdeutet: „([…] ¿Ella estaba ya en ese tiempo […]? )“ (S.-57). 573 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-72f. Der Zurechtweisung des SACERDOTE ging der versteckte Wunsch nach libidinöser Erfüllung voraus, der einen Konflikt zwischen sexueller Selbstbe‐ stimmung und sozialer Triebhemmung heraufbeschwört: „YO.- ¡Alguna vez podré hacer lo que me dé la gana con mi cuerpo! ¡Tendré derecho! “ 572 Der Kampf um persönliche Rechte steht im Kontrast zum ängstlichen Gehorsam der Kriegsgeneration, wie sie insbesondere vom Vater repräsentiert wird, der sich durch die permanente Furcht vor Bestrafung und Demütigung durch Ordnungsinstanzen charakterisiert. Seine konditionierte Hörigkeit manifestiert sich gleich an mehreren Stellen im Drama, obgleich sich vor allem die zweite Szene zur Veranschaulichung anbietet. Auf den hier formulierten Wunsch der Mutter, ein Erinnerungsfoto im Zug zu schießen, reagiert der Vater mit der Angst eines gebrochenen Mannes, der schon zu oft Opfer willkürlicher Machtausübung geworden zu sein scheint: MI PADRE.- Date prisa y haz la foto de una vez. Puede venir el revisor y decirnos algo. […] Tenemos derecho de ir al tren. No a hacernos fotos. […] ¡Puede venir el revisor! Estamos aquí puestos… a lo tonto. ¡Puede venir y decirnos algo! Muchas veces, mucha gente que ha llegado y estaban haciendo algo que no se puede hacer, han tenido un disgusto con el revisor. […] En este tren… en este tren que nos lleva, esperando que venga el revisor y tener que humillarme una vez más, pidiendo perdón por estar haciéndonos esta foto sin tener permiso de nadie. 573 Im Gegensatz zum Vater, dessen ausgewählte Repliken den Widerholungscha‐ rakter des Stücks erneut unterstreichen („…humillarme una vez más…“), rebel‐ liert YO gegen die Fremdbestimmung. Die einschränkende Erfahrung sozialer Rigidität ist im jugendlichen Zwischenstadium verortet, dessen Ambivalenz sich erneut in einer strukturellen Uneindeutigkeit zwischen erlebendem und träumendem YO manifestiert. (… Los demás aprovechan que sólo soy un niño, un niño…) […] 272 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="273"?> 574 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-101. 575 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-107. 576 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-109. (Y yo grito desesperado en mitad de mi pesadilla de hombre, de hombre…) 574 Der Schrei durchkreuzt die drei zu diesem Zeitpunkt etablierten Fiktionsebenen und reicht bis zu der Grenze, die die Ebene des Geträumten von der Ebene des Träumenden abgrenzt. Die scheinbare Bewusstheit hinsichtlich des eigenen Traumzustandes, die sich aus der zeitlichen Referenz auf das unterdessen erreichte Entwicklungsstadium des Träumenden ableiten lässt (“mi pesadilla de hombre“), geht auch an dieser Stelle nicht mit einer szenischen Manifestierung der ersten Fiktionsebene, der des Träumenden, einher. Die Ankunft des zweiten Zuges kündigt schließlich einen weiteren Wechsel zwischen statischem Raum und der durch die Metapher der Zugreise angekün‐ digten Weiterentwicklung an. Der nächste Entwicklungsschritt, der mit der Trennung der Familie angetreten wird, kündigt das autonome Stadium des jungen Mannes an. Kurz vor der Ankunft des Zuges verteilet MI PADRE Essens-Coupons für den Fall, dass sich die Familie auf dem Bahngleis aus den Augen verliert. Vor allem YO, dessen Trennung von der Familie kurz bevorsteht, soll für seine anstehende Reise gewappnet sein: MI PADRE.- Sí, toma tú, José Luis. YO.- ¿Yo? Non o quiero. ¿Por qué yo? MI PADRE.- Y tus hermanos también, pero tú sobre todo, por si acaso, ¿comprendes? YO.- No… yo no. MI MADRE.- Tienes que comprender. Tú ya eres un hombre. A lo mejor tu padre y yo no podemos ir. 575 Die Loslösung von der Familie, die den Jugendlichen gezwungenermaßen zum jungen Erwachsenen werden lässt, wird im Theatertext an das intellektuelle Potential der Hauptfigur geknüpft, durch das YO im Gegensatz zu den übrigen Familienmitgliedern über die Möglichkeit des Ausbruchs verfügt. Als deus ex machina erscheint EL MAESTRO auf dem Bahnsteig, um YO ein Zugticket zu überreichen. Dieses erhält er, weil er, gewissermaßen in letzter Sekunde, ein Stipendium ergattert, das ihm den Eintritt in höhere Bildungsinstitutionen gewährt: „MI MAESTRO.- ¡José Luis! ¡Lo conseguiste! ¡La beca! Te han dado la beca al fin. La beca es tu billete. […].“ 576 Die traumatische Trennung von der Familie, die Herbert Fritz als Auslöserin der unbewussten Erinnerung im Traum bezeichnete, bedeutet somit nicht das Ende der „viaje iniciático“ 577 , sondern zunächst einmal den beginnenden Über‐ 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 273 <?page no="274"?> 577 Amorós, „Introducción“, S.-31. 578 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-110. 579 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-110. 580 Vgl. hierzu Piñero, La creación teatral, S. 246: „Tendrá que decidir entre marcharse y progresar, con el desgarro emocional que conlleva esta decisión, o quedarse, manteni‐ endo las relaciones afectivas y perpetuando los fundamentos éticos de su grupo.“ gang zwischen jugendlicher Abhängigkeit und der erzwungenen und zugleich erhofften Selbstständigkeit eines jungen Mannes. Es ist jedoch weniger die Trennung als vielmehr die mit dieser Trennung verbundenen Schuldgefühle, die als traumatische Verletzung bestehen bleiben. Diese These lässt sich mit Blick auf die letzten Repliken des YO sowie auf die letzte Didaskalie stützen. Das einsetzende Schuldgefühl setzt unmittelbar nach Erhalt der Zugtickets ein: „YO.- ¡Y ellos? “ 578 Begleitet werden diese Zweifel an der eigenen Bestimmung durch den erneuten Auftritt der Figuren MI PRACTICANTE, LA VECINA, SACERDOTE und EL NOVIO MILITAR DE MI HERMANA MAYOR, die die Schuldgefühle von YO weiter verstärken. Der folgende Ausschnitt stellt die soziale Komponente des Schulkomplexes deutlich heraus: MI PRACTICANTE.- ¿Irte para qué? ¿Qué es lo que buscas? ¿Ser más que ellos? ¿Quieres abandonarlos a todos? ¿Eso es lo que quieres? ¿Ser más que ellos? YO.- Podría esperar a que fuérmamos todos juntos… Esperar a que ellos tengan también billete. MI MAESTRO.- ¡Nunca lo tendrán! ¿Lo oyes? ¡Nunca! Tú puedes. Tú tienes que irte. Por ti. Por ellos. Por mí. YO.- ¿Y ellos? …¿Y ellos? … 579 Der das Drama abschließende Nebentext verdeutlicht ebenso, dass es nicht etwa die Trennung an sich ist, die zur traumhaften Wiederholung des traumatischen Schmerzes führt. Das Wissen um die Notwendigkeit der Trennung bestätigt sich sowohl auf der Ebene des erinnernden wie auch auf der Ebene des geträumten YO. Das Changieren zwischen Indefinido und Presente aktualisiert beide Fikti‐ onsebenen, ohne dass dies mit einer Integration der unbewussten Erinnerung in das Bewusstsein gleichzusetzen wäre. Die Reise des YO ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Dass sie hingegen für den Rest der Familie beendet ist, stellt den Kern des Traumas dar. Denn das Zurücklassen der Familie bedeutet, die persönliche Entwicklung über den familiären Zusammenhalt zu stellen und sich der Willkür der schicksalhaften Vergabe von Möglichkeiten zu ergeben. Die damit entstehende Unstimmigkeit zwischen Solidarität und Selbsterfüllung 580 scheint die nicht versiegende Quelle des traumatischen Schuldkomplexes aus‐ zumachen. 274 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="275"?> 581 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-111. 582 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-334. (Miro a mi familia, que no dice nada. No entiendo bien lo que está pasando, pero me sonríen desde el montón de maletas y trastos viejos. Entonces se mueven por un momento y hablan entre ellos, y MI PADRE se acerca con algo en las manos que me da. Me abraza y se separa. Subo al tren como un autómata, con el paquete que me acaba de dar MI PADRE en las manos. Subo porque sé que tengo que subir. Y el tren arranca lentamente. Les mando mis lágrimas en el tiempo mientras me alejo y ellos van desapareciendo al fondo. Entonces desenvuelvo lo que me dio MI PADRE, y lo miro. Es un álbum. El álbum familiar. Lentamente empiezo a pasar sus hojas, y descubro por qué tengo que ir, porque me tuve que ir, mientras el tren avanza.) TELÓN. 581 Der Fall des Vorhangs, der das Ende des Stücks markiert, steht hier gleicher‐ maßen für das erneute Ankommen an der schmerzenden Wunde. Das tragische Syntagma mündet in die Katastrophe, die das Ende des Traums wie auch der Dramenhandlung markiert. Damit erreicht das im Traum erinnernde Ich nicht die Gegenwart des Träumenden, wodurch die regressive Initiationsreise genau an dem Punkt eine Unterbrechung erfährt, der der Entwicklung individueller Selbstbestimmtheit und identitärer Konsolidierung im Erwachsenenstadium vorausgeht. Das Ende des Dramas, die Katastrophe, liefert somit zugleich den Ausgangspunkt für das erneute Einsetzen der Dramenhandlung wie auch der Aufführung, wodurch eine Art theatrales Perpetuum mobile, eine sich am Trauma abarbeitende Theatermaschine, ein autopietisches System zu entstehen scheint. Auf diese Weise schreibt sich der Theatertext El álbum familiar die Struktur des Traumas von vornherein selbst ein, indem die Wiederkehr des Verdrängten zugleich auf dramatischer Ebene (Wiederholung im Traum) wie auch auf theatralischer Ebene (Wiederholung der Aufführung) zu verorten ist. Diese Ästhetik der Repetition, die per se mit der theatralischen Selbstanzeige einhergehen muss, kennzeichnet den Theatertext El álbum familiar als postdra‐ matisch im Sinne von Hans-Thies Lehmann. „Kaum ein anderes Verfahren“, so Lehmann, „ist so ‘typisch‘ für das postdramatische Theater wie die Wiederho‐ lung.“ 582 So könnte der Beginn des Dramas, die erste Didaskalie, auch unmittelbar auf die letzte Didaskalie folgen. Die Hauptfigur (er-)kennt allem Anschein nach das sich vor ihm aufbauende Szenario. Der Wiederholungscharakter der Geschehnisse wird einerseits durch die adverbiale Bestimmung ‚otra vez’ und zum anderen durch die Verwendung des Futur markiert: 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 275 <?page no="276"?> 583 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-53. 584 Vgl. Kasper, Sprachen des Vergessens, S.-104. ESCENA PRIMERA MI CASA (Suena un tren a lo lejos. Estoy yo solo pisando otra vez las baldosas de mi casa, que no sé por qué es ahora toda ella grande, blanca y silenciosa. A mis pies está mi maleta abierta, vacía aún. Oigo fuera unos tremendos golpes contra las paredes. Están empezando a derribar la casa. Pronto entrará MI PADRE, nervioso, angustiado, preguntándome si tengo los billetes…). 583 Auf dramatischer Ebene bietet sich somit kein dialektischer Umschlagpunkt an, der das wiederholende, unbewusste Erinnern in eine wahre Erinnerung (mémoire-souvenir) überführen würde. Dem fallenden Vorhang könnte somit nicht nur die pragmatische Funktion zugeschrieben werden, das Ende des Theatertextes sowie der damit intendierten Aufführung anzuzeigen, sondern er könnte zudem als Symbol für einen Widerstand gelesen werden, der sich zwi‐ schen Unbewusstem und Bewusstsein bzw. zwischen Fiktion und Lebenswelt einschiebt. Der Kern dieses Verdrängungswiderstandes ist der beschriebene Schuldkomplex. Das Ende der dramatischen Handlung scheint die wahre Erinnerung, die dialektische Kippbewegung zwischen Unbewusstem und Bewusstem, genau in dem Moment zu verhindern, in dem die Opposition zwischen Statik und Dynamik in der Synthese der Erkenntnis als Konsequenz eines Prozesses des Durcharbeitens aufzugehen scheint. Es sei daran erinnert, dass das Durchar‐ beiten, das remaniement, nicht nur das erneute Durchleben, sondern zudem das Umgestalten des Geschehenen bedeutet. 584 Die sich am Ende des Dramas einstellende Erkenntnis der Figur YO darüber, weshalb es die Reise fortsetzen musste und muss, impliziert die Hoffnung auf ein dialektisches Umschlagen von der Wiederholung zur mémoire-souvenir. Diese Erkenntnis erlangt YO beim Durchblättern des Familienalbums, eines Mediums also, das die Fixierung des Zeit- und Entwicklungsflusses suggeriert. Die gemeinsame Geschichte der Familie endet, sie schreibt sich nicht mehr in Form von Fotografien in das Album ein, welches nun abgeschlossen ist und als Medium der Erinnerung an eine Zeit fungiert, die endgültig vergangen ist. Der Loslösungsprozess von der Familie findet seinen metaphorischen Ausdruck in der Übergabe des Familienalbums, das einen Lebensabschnitt zu konservieren sucht und gleichermaßen auf den unaufhaltsamen Fluss der Zeit hinweist. Die Suggestion der Fixiertheit des fotografischen Referenten, der Fotografie, die in den Folgekapiteln als interme‐ 276 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="277"?> 585 Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartstheater, S.-209. dialer Einflussfaktor für den Theatertext beschrieben werden soll, ermöglicht erst das Erkennen der Notwendigkeit von Bewegung sowie der Unmöglichkeit, ihr etwas entgegenzusetzen. Diese Erkenntnis, die in sich die Hoffnung auf den Übertritt zur mémoire-sou‐ venir birgt, erfährt auf dramatischer Ebene jedoch keine Überführung in das Bewusstsein, sie ist immer noch Teil des Traums, in dem sich unbewusste Erinnerung unter Einfluss des Bewusstseins, des ‚Zensors’, Ausdruck verschafft. Der Prozess des nacherlebenden Durcharbeitens, des Umgestaltens, scheint auf dramatischer Ebene gescheitert. Diese Feststellung ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil einige Interpretationsansätze der Versuchung unterlegen sind, das erinnernde YO, das in diesem Teilkapitel in Anlehnung an Herbert Fritz als träumendes YO bezeichnet wurde, als Instanz des Bewusstseins aufzufassen. So formuliert Fritz beispielsweise: „So ist sich das träumende Yo bewusst, daß die Abuela zeitlich nicht in das Traumgeschehen passt.“ 585 Da das Geträumte auf dramatischer Ebene jedoch in keinem Moment ein Stadium der Bewusstheit erreicht, erscheint die wiederholende Regression im Traum, das unbewusste Erinnern der Geschehnisse, die zur traumatischen, schuldbehafteten Trennung von der Familie geführt haben, m. E. als Ausdruck der mémoire-répétition sowie der Unvollständigkeit der identitären Rekonstruktion auf dramatischer Ebene. Der traumatische Endpunkt der Regression, der nicht identisch mit der Zeitebene des Träumenden ist, läutet den nächsten Regressionsdurchlauf ein, und so weiter. Die Behauptung, die identitäre Rekonstruktion des YO misslinge auf drama‐ tischer Ebene, bedeutet indes nicht, dass sie insgesamt zum Scheitern verurteilt sein muss. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten das Medium Theater bietet, um der Unmöglichkeit der Manifestierung des Intelligiblen, der Unmöglichkeit der dramatischen Überführung unbewusster Erinnerungen ins Bewusstsein, auf theatralischer und lebensweltlicher Kommunikationsebene zu begegnen. Wie lässt sich das wiederholende dramatische Scheitern am Wider‐ stand (mémoire-répétition), durch das das Nicht-Erinnern des Unvergesslichen ästhetischen Ausdruck findet, in eine mémoire-souvenir verkehren? Die überge‐ ordnete These der folgenden Ausführungen lautet, dass die dem Theatertext eingeschriebenen Uneindeutigkeiten zwischen Bewusstsein und Unbewusstem sowie theatralischer und dramatischer Ebene das erinnerungskulturelle Poten‐ tial von El álbum familiar ausmachen. Dieses besteht darin, die auf dramatischer Ebene beschriebene mémoire-répétition durch ein Angebot der mémoire-souvenir auf theatralischer und lebensweltlicher Ebene zu ergänzen. Auf diese Weise 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 277 <?page no="278"?> würde dem von Alonso de Santos formulierten Hinweis, es handle sich bei El álbum familiar um ein Stück, mit dem er einen Beitrag zur Rekonstruktion seiner eigenen Identität und der des Zuschauers leisten wolle, strukturell Rechnung getragen werden. Wie schon im Falle von ¡Ay, Carmela! führt der Weg zur memorialen und damit identitären Aktivierung der Rezipienten bei El álbum familiar über die Unschlüssigkeit (hésitation). Diese Spielart erinnerungskultureller Phantastik gilt es im folgenden Kapitel näher zu beleuchten. 2.4 Auf dem Weg zu wahrer Erinnerung - Fotografie und Narration - 2.4.1 Theater-Text und Intermedialität Auf welche Weise spielt der Theatertext El álbum familiar sein erinnerungskul‐ turelles Potential aus? Wie schon im Falle von ¡Ay, Carmela! handelt es sich bei dem Traumstück um ein Werk, bei dem das Nicht-Erinnern auf dramatischer Ebene einem gemeinsamen Akt des Erinnerns auf theatralischer Ebene gegen‐ übersteht. Die Paradoxie des Nicht-Erinnerns des Unvergesslichen wurde auf dramatischer Ebene in Form eines wiederkehrenden Traums ästhetisiert, dessen Ausgangs- und Endpunkt identisch sind. Das Trauma ist Auslöser einer regres‐ siven Initiationsreise, die immer wieder in der tragödientypischen Katastrophe endet und somit in der nie endenden Wiederholung aufgeht. Die Rekonstruktion der Identität scheitert auf dramatischer Ebene somit daran, dass der Endpunkt der Initiationsreise niemals in der Zeitebene des Träumenden aufgeht. Es gibt keine Einswerdung von erlebendem und erinnerndem/ träumenden Ich, kein Erwachen, keine Offenbarung, die zur Integration des Geschehenen in das Bewusstsein und zur Verfügbarkeit der Erinnerungen führt, wie wir sie beispielsweise aus der Recherche von Marcel Proust kennen. Damit fehlt auf dramatischer Kommunikationsebene der dialektische Um‐ schlag in das Bewusstsein der Hauptfigur, wie er für den Übergang zwischen der mémoire-répétition und der mémoire-souvenir, dem Wiederholungszwang und der wahren Erinnerung im Sinne Paul Ricœurs, grundlegend ist. Der binnenfik‐ tionalen Unmöglichkeit des bewussten Erinnerns begegnet Alonso de Santos m. E. jedoch auf theatralischer Ebene. Dazu bedient sich der Autor intermedialer Bezüge, die den Theatertext strukturell in Beziehung zur Fotografie sowie zur Narration rücken. Mit intermedialen Bezügen ist an dieser Stelle nicht die Kombination verschiedener Medien und Kommunikationskanäle gemeint, wie sie für das ohnehin plurimediale Theater charakteristisch und notwendig sind, 278 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="279"?> 586 Diese Grundannahmen zum Status des dramatischen Textes orientiert sich ebenso wie die begriffliche Distinktion zwischen dramatischer, theatraler und lebensweltli‐ cher Perspektive an dem Strukturmodell Wolfgang Matzats. Vgl. Wolfgang Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle, München 1982. Seine Ausführungen zum Status Dramentextes finden sich auf S.-13f. 587 Hauthal, Metadrama, S.-85. 588 Rajewsky stützt ihre Neuperspektivierung des Intermedialitätsbegriffs auf einen Medi‐ enbegriff von Werner Wolf, der im Folgenden zitiert wird: „[…] I here propose to use a broad concept of medium: not in the restricted sense of a technical or institutional sondern die strukturelle Ausrichtung an Ausdrucksformen, die sich in anderer Weise desselben Mediums (z.-B. Sprache) oder anderer Medien bedienen. Bevor die intermedialen Bezüge des Theatertextes El álbum familiar sowie deren rezeptionsästhetische Implikationen dargestellt werden, muss bestimmt werden, auf welche Weise der ‚Theatertext’ medial einzustufen ist. Unter Rekurs auf Wolgang Matzat wurde bereits auf den metonymischen Charakter von Dramentexten hingewiesen. Die Struktur des Aufführungsgeschehens ist Dramentexten in der Regel inhärent 586 , obgleich es natürlich Dramen gibt, die ausschließlich für die Lektüre konzipiert sind. Janine Hauthal spricht in ihrer Monographie Metadrama und Theatralität (2009) mit Blick auf das Drama daher von einer „intermediale[n] Rezeptionsillusion“, durch die der Leser dazu gebracht wird, das Bühnengeschehen bereits bei der Lektüre zu imaginieren. Da ein „innerästhetischer Medienwechsel“ 587 im Falle des Dramas immer schon angenommen werden muss, wurde der Begriff des ‚Theatertextes’ in der vor‐ liegenden Studie dem des ‚Dramas’ vorgezogen. Für die Beschäftigung mit den medialen Grenzübertritten des Traumstücks ist die Distinktion zwischen theatraler Inszenierung und dramatischem Text jedoch notwendig, macht es doch einen Unterschied, ob ein Text oder eine Inszenierung auf ein Medium wie die Fotografie referiert. Da in der vorliegenden Studie weiterhin am Begriff des ‚Theatertextes’ fest‐ gehalten werden soll, werden auch in der Folge Aussagen über die intendierte Inszenierung auf Basis des Textes getroffen, gleichwohl die Beschreibung der intermedialen Implikationen eine präzise Entflechtung des Begriffs in seine Text- und seine Aufführungskomponente voraussetzen wird. Dem Konzept des Theatertextes die Treue zu halten, bedeutet somit nicht, Text und Aufführung im Hinblick auf ihre medialen Bezüge zu vermengen. Stattdessen dient der Text weiterhin als Untersuchungsgegenstand, um differenzierte Aussagen sowohl über die Intermedialität des Dramentextes wie auch über die Intermedialität der intendierten Aufführung zu treffen. Unter Rekurs auf einen weit gefassten Medienbegriff 588 ist somit zunächst festzuhalten, dass die Analyse der medialen Bezüge des Theatertextes El álbum 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 279 <?page no="280"?> channel of communication [wie z. B. Brief, Buch, Hörfunk, Plakat, D. H.] but as a conventionally distinct means of communication or expression characterized not only by particular channels (or one channel) for the sending and receiving of messages but also by the use of one or more semiotic systems. Zit. nach Rajewsky, Irina: Intermedialität, Tübingen 2002 (= UTB Wissenschaft, 484), S.-7. 589 Rajewsky, Intermedialität, S.-157. 590 Rajewsky, Intermedialität, S.-157. familiar davon abhängig ist, ob man den Text oder die intendierte Inszenierung als medialen Referenzpunkt zugrunde legt. Geht man vom Medium ‚Text’ aus, so wären Bezüge zu anderen Theatertexten, zu Romanen, zu faktualen oder lyri‐ schen Texten als intramediale Bezüge zu definieren. Bildet dagegen die theatrale Inszenierung den medialen Referenzpunkt, so können dieselben Verweise als intermediale Bezüge betrachtet werden. Diese Kategorisierung lehnt sich an den Ausführungen von Irina Rajewsky an, die in ihrer Monografie Intermedialität (2002) bis dahin bestehende Intermedialitäts- und Intertextualitätskonzepte zusammenführte. Rajewsky zufolge handelt es sich bei intramedialen Bezügen um „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (=Einzelreferenz) oder auf ein oder mehrere Subsystem(e) des gleichen Mediums bzw. auf das eigene Medium qua System (=Systemreferenz).“ Als Beispiele nennt Rajewsky „Bezüge, eines literarischen Textes auf einen bestimmten Einzeltext, ein literarisches Genre oder die Lite‐ ratur qua System.“ 589 Diese Beispiele haben entsprechend Gültigkeit für Bezüge innerhalb desselben Mediums, z.-B. Film-Film-Bezüge, Text-Text-Bezüge etc. Bezüge zu Medien, die eine mediale Grenzüberschreitung implizieren, sind dagegen intermedial. Der Überbegriff der ‚Intermedialität’ bezeichnet Rajewsky zufolge „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“ 590 , und umfasst neben den intermedialen Bezügen auch Medienwechsel, wie zum Beispiel die Literaturverfilmung, oder Medienkombinationen, wie sie beispielsweise der Fotoroman darstellt. Auch im Fall der intermedialen Bezüge kann das kontakt‐ nehmende Medium sowohl auf mediale Vertreter wie auch auf ganze mediale Systeme rekurrieren. Folgende Definition Rajewskys führt den Unterschied zu den intramedialen Bezügen vor Augen: Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (=Einzelreferenz) oder das semiotische System (=Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommen Mediums mit den dem kontaktnehm‐ enden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent. Bezug genommen werden kann auf das fremdmediale System als solches oder aber auf ein (oder mehrere) Subsystem(e) desselben, wobei letzteres per definitionem auch ersteres impliziert. 591 280 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="281"?> 591 Rajewsky, Intermedialität, S.-157. 592 Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-420. Im Unterschied zur Medienkombination oder zum Medienwechsel gehen hier distinkte Medien ineinander über und prägen ihre semiotischen Eigenheiten einander auf. Das Aufgehen oder Auftauchen eines Einzelmediums oder eines medialen Systems in einem anderen markiert die Nähe des Intermedialitäts‐ konzepts zur Gedächtnistheorie; das kontaktnehmende Medium “erinnert“ an das fremdmediale Produkt bzw. System. Gerade ein poststrukturalistischer Intertextualitätsbegriff im Sinne Julia Kristevas lädt somit dazu ein, Literatur als memoriales System per definitionem zu beschreiben. In den folgenden Ausführungen soll es jedoch weniger darum gehen, lite‐ rarische Texte auf ihren metamemorialen Stellenwert hin zu überprüfen, als vielmehr darum, aufzuzeigen, auf welche Weise in El álbum familiar die Verwen‐ dung intra- und intermedialer Bezüge zur erinnerungskulturellen Wirkmacht des Stücks beiträgt. Im Fokus stehen dabei der Einfluss des Mediums Fotografie sowie der des schriftlichen und mündlichen Erzählens. Legt man als medialen Referenzpunkt den Dramentext zugrunde, so ist die mediale Prägung durch die Fotografie als intermedialer Bezug zu definieren, während die Einflussnahme des narrativen Diskursschemas auf den Text als intramediale Einflussnahme charakterisiert werden kann. Bildet dagegen die Inszenierung den medialen Referenzpunkt, so implizieren sowohl der Verweis auf die Fotografie als auch der auf das narrative Genre eine mediale Grenzüberschreitung, infolgedessen es sich in beiden Fällen um intermediale Bezüge handelt. Gerade die Frage nach der Möglichkeit, das Stücks als performativen Akt des kollektiven Gedächtnisses zu interpretieren, bringt es mit sich, dass vermehrt Annahmen bezüglich der intendierten Aufführung zu treffen sein werden. Ebenso wie die erwähnte Ästhetik der Wiederholung charakterisiert das in‐ szenatorische Spiel mit medialen Grenzen El álbum familiar als postdramatisch im Sinne von Hans-Thies Lehmann. Lehmann zufolge geht die Neuausrichtung des Theaters und des Dramas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur in einem Spiel mit der Grenze zwischen Fiktion und Realem auf, sondern ebenfalls in Form intra- und intermedialer Experimente: Mit Recht hat man als Kennzeichen der ‘postmodernen‘ Kunstentwicklung die Ten‐ denz hervorgehoben, daß Wirklichkeit immer mehr durch die zwischengeschalteten Schemata, medial vorfabrizierte Attitüden und Darstellungsmuster, vermittelt wird, die sich weithin nurmehr gegenseitig zitieren und umspielen. 592 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 281 <?page no="282"?> 2.4.2 Ça-a-été statt Als-ob - Fotografie und der Modus des Gewesenseins in El álbum familiar Die These dieses Kapitels lautet, dass das Publikum von El álbum familiar auf der Ebene des theatralischen (Schwellen-)Raums in einen performativen Erin‐ nerungsakt involviert werden, der auf fremdmedialer Illusion beruht. Wie schon im Falle von José Sanchis Sinisterras ¡Ay, Carmela! setzt die memoriale Aktivie‐ rung der Rezipienten den Aufbau rezeptiver Uneindeutigkeit am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation voraus, das heißt zwischen dem Modus der repräsentativen und der präsentischen Wahrnehmung. Diese Einflussnahme auf die Rezeption wurde mit Blick auf das erinnerungskulturelle Theater der Gene‐ ración del 82 bereits mit dem Begriff der ‚erinnerungskulturellen Phantastik’ beschrieben, der eine Unterminierung der Grenzen zwischen Erleben und Erin‐ nern bzw. zwischen Präsentation und Repräsentation impliziert. Damit operiert die erinnerungskulturelle Phantastik an der Schwelle zwischen semiotischer und ästhetischer Erfahrung bzw. zwischen Ästhetik und Ethik. Wie José Sanchis Sinisterra stellt auch José Luis Alonso de Santos mit seinem Stück unter Beweis, dass das Medium Theater über das Potential verfügt, Nicht-Erinnern dramatisch zu ästhetisieren und dabei zugleich einen performativen Prozess des Erinnerns auf theatralischer Ebene zu initiieren. Das Verwirrspiel zwischen Erinnern und Erleben dient hier dazu, einen Übergang zwischen mémoire-répétition und mémoire-souvenir bzw. zwischen unbewusster und bewusster Erinnerung zu suggerieren. Diese Suggestion setzt voraus, dass das Feld des Unbewussten mit dem dramatischen Raum und Bewusstheit mit dem theatralischen Raum in Beziehung gesetzt wird. Der Übergang zwischen wiederholender Erinnerung und wahrer Erinnerung würde damit zu einem Übergang zwischen fiktionalem bzw. dramatischem und theatralischem (bzw. außer-dramatischem) Raum werden. Um nachvollziehen zu können, auf welche Weise im Fall von El álbum familiar der Wahrnehmungsmodus der Rezipienten beeinflusst wird, ist es notwendig, sich intensiv mit dem Darstellungsmodus des Theatertextes und der damit intendierten Aufführung auseinanderzusetzen. Die im Folgenden zu belegende Behauptung, die weitreichendende Implikationen für die Wahrnehmung der Rezipienten mit sich bringt, lautet, dass die in El álbum familiar festzustellenden fremdmedialen Bezüge auf Fotografie und Narration dazu dienen, zunächst den Darstellungsmodus des Als-ob scheinbar zu überwinden und durch einen Darstellungsmodus des Ça-a-été bzw. des ‚Es-ist-so-gewesen’ zu ersetzen. Durch den Bezug zur Narration wird dem Dargestellten schließlich ein performativer Charakter aufgeprägt. Der Rekurs auf die Fotografie wird dabei als Mittel zur Etablierung eines neuen modalen Ermöglichungsgrundes verstanden, der 282 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="283"?> 593 Die französische Erstausgabe erschien im Jahr 1980 bei Gallimard/ Le Seuil. Die in der Folge angeführten Überlegungen und Zitate sind der Suhrkamp-Ausgabe Nr. 1642 aus dem Jahr 1989 entnommen. Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1989. Rekurs auf die Narration hingegen als Mittel zur Verstärkung des präsentischen und performativen Charakters des Dargestellten. Beide Bezüge schreiben dem Theatertext einen Faktualitätsanspruch ein. Durch die Bezüge auf die Fotografie und die Narration entfernt sich Alonso de Santos m. E. vom Als-ob der Mimesis und nähert sich einem Darstellungsmodus des ‚Es-ist-so-gewesen’ an. Während es Kern des mimetischen Theaters ist, Dinge so dazustellen, als ob sie sich vollzögen, ist es, so die den weiteren Ausführungen zugrunde gelegte Annahme, die Intention der Darstellungsform des Ça-a-été, die Dinge so darzustellen, als seien sie gewesen. Ein solcher Modus schreibt dem Dargestellten den Anspruch auf Faktizität (ontologisch) und Vergangenheit (temporal) gleichermaßen zu und verbindet beide Komponenten in der Formel des ‚Es-ist-so-gewesen’. Dieser Gedanke impliziert, dass es hier um ein Theater gehen muss, das ein Gewesensein des Dargestellten bzw. die vergangene Wirklichkeit des Dargestellten anzudeuten scheint, auch wenn es sich dabei lediglich um eine Suggestion eines Wirklichkeitsanspruchs handeln kann, also um das bereits erwähnte Phänomen des Als-ob des Wegfalls des Als-ob, der Illusion der Des-Illusion. Damit dies gelingt, muss sich ein Theater, dessen Darstellung sich auf einen mimetischen Pakt stützt und das Dargestellte somit per se an das Hier und Jetzt der Repräsentation koppelt, Charakteristika anderer Medien einschreiben, die das Dargestellte einerseits als Vergangenes und andererseits als Wirkliches (> vergangene Wirklichkeit) erscheinen lassen. Dies scheint mit dem Rückgriff auf die Fotografie und die Narration möglich zu werden. Um diese Behauptungen in ihre theoretischen Einzelannahmen zu ent‐ flechten, müssen zunächst einige Begriffe erläutert werden. Zu Beginn ist eine Präzisierung des Begriffs des Ça-a-été notwendig, der der letzten Monographie Roland Barthes, La chambre claire (1980) 593 , entnommen ist. Es mutet ironisch an, wenn an dieser Stelle Roland Barthes Ausführungen zur Fotografie für eine Beschäftigung mit einer Art des Theatermachens herangezogen werden, mit der sich der Theaterliebhaber Barthes nicht auseinandersetzte. Hans-Thies Lehmann zufolge übte das Gastspiel des Berliner Ensembles in Frankreich im Jahr 1954 einen derart nachhaltigen Eindruck auf Barthes aus, dass Bertold Brecht und die epische Darstellungsform fortan zu den Fixpunkten seiner thea‐ tertheoretischen Schriften wurden. Die Klarheit und Aussagekraft der Brecht’‐ schen Ästhetik, die mit einer Zurückweisung einer übermäßigen Affizierung 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 283 <?page no="284"?> 594 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S.-42f. 595 Lehmann. Postdramatisches Theater, S.-43. 596 Roland Barthes verwendet Majuskeln, um sich auf das System zu beziehen. Spricht er von „Photographie“ bezieht er sich auf das Einzelmedium. 597 Bereits im ersten Kapitel seiner Abhandlung formuliert Barthes den „‘ontologischen’ Wunsch“, zu wissen, was die Fotografie „an sich“ war. Vgl. Barthes, Die helle Kammer, S.-11. des Zuschauers einherging, wurden für Barthes zur Vergleichsfolie und zum konzeptuellen Ausgangspunkt im Hinblick auf anderweitige Entwicklungen auf den europäischen Bühnen. Die Fokussierung auf Brecht führte wohl auch dazu, dass Barthes die ästhetischen Neuerungsrufe ausgehend von Figuren wie Antonin Artaud, Jerzy Grotowski oder Robert Wilson sowie von Gruppen wie dem Living Theatre nicht in Form von Artikeln kommentierte. 594 Ironisch ist der Rekurs auf Barthes vor allem deshalb, weil einige seiner Überlegungen - nicht nur zum Theater -, dazu geeignet sind, um sich den Ursprüngen und Tendenzen postdramatischer Theaterästhetik anzunähern. Lehmann zufolge sind Barthes Ausführungen „zum Beispiel zum Bild, zum ‚stumpfen Sinn’, zur Stimme usw. für die Beschreibung eben dieses neuen Theaters von größtem Wert […].“ 595 Es wird zu zeigen sein, dass auch Barthes’ Reflexionen über das Einzelmedium „PHOTOGRAPHIE“ sowie über das System „Photographie“ für die Analyse von Theatertexten brauchbar gemacht werden können. 596 Zu diesem Zwecke muss, wie es Barthes in La chambre claire tut, ein phänomenologischer Blick auf das Medium Foto geworfen werden. Mit dem Begriff des Ça-a-été beschreibt Roland Barthes das Noema der Analogfotografie, das Wesensmerkmal, durch das sich Fotos von anderen Bildmedien unterscheiden. 597 Es lohnt die Aufnahme einer längeren Passage aus dem zweiten Teil von La chambre claire, in dem Barthes die definitorischen Merkmale des Konzepts des „Es-ist-so-gewesen“ (Ça-a-été) synthetisiert: ‚Photographischen Referenten’ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe. Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben, aber diese Referenten können ‚Chimären’ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen lässt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, dass die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt (Noema) der PHOTOGRAPHIE ansehen. Worauf ich mich in einer Photographie intentional richte (vom Film wollen wir noch nicht sprechen), ist weder die KUNST 284 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="285"?> 598 Barthes, Die helle Kammer, S.-86f. 599 Barthes, Die helle Kammer, S.-91. noch die KOMMUNIKATION, sondern die REFERENZ, die das Grundprinzip der PHOTOGRAPHIE darstellt. Der Name des Noemas der PHOTOGRAPHIE sei also: ‚Es-ist-so-gewesen’ [frz. Ça-a-été] oder auch: das UNVERÄNDERLICHE. 598 Die notwendige Existenz des fotografisch Dargestellten ergibt sich im Falle der Analogfotografie durch chemische und physikalische Prozesse nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, durch das Einwirken des Lichts, das vom fotografierten Objekt reflektiert wird, auf die Silberhalogeniden der Fotoplatte. Das Foto stellt somit eine Licht-Spur bzw. Licht-Schrift des Referenten dar, die bei späterer Betrachtung der Gravur nicht etwa eine Aussage über das Sein des Objekts zulässt, sondern immer nur über dessen Gewesensein bzw. dessen Sein im Moment der Emanation: „Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; […].“ 599 Das Wesen des Mediums Foto ist somit die Bestätigung des Gewesenseins dessen, was es darstellt: Ça-a-été. Damit erfüllt das Medium Fotografie den Anspruch, den die Erinnerung in Abgrenzung zur Phantasie stellt, und zwar das ontologisch und zeitlich zu bestätigen, auf das es sich bezieht. Doch während sich die ontologische Gewiss‐ heit des Fotografierten aus der Materialität des medialen Trägers ergibt, hängt der Anspruch des Erinnerten von inter-subjektiver Anerkennung ab, die den Mangel “medialer Objektivität“ kompensieren muss. Obgleich es sich bei einem Foto um einen materiellen Träger und bei der Erinnerung um eine intelligible Spur handelt, gibt es ein analogisches Verhältnis zwischen der Fotografie und der Erinnerung bzw. dem Gedächtnis, das bereits in der zitierten Passage Roland Barthes’ anklingt. Weder die Fotografie noch die Erinnerung können Realität fingieren. Würde die Erinnerung dies tun, hörte sie auf Erinnerung zu sein und würde Phantasie, sie würde von reproduktiver zu produktiver Einbildungskraft. Es zeichnet sich somit nicht nur die Fotografie durch eine Verbindung von Realität und Vergangenheit aus, sondern diese Verschränkung ist, wie wir unter Rekurs auf phänomenologische Zugänge zum Gedächtnis gesehen haben, ebenso das Wesen der Erinnerung. In Analogie zur Fotografie könnte also auch das Noema der Erinnerung mit dem Konzept des Ça-a-été begrifflich gefasst werden. Paul Ricœur betonte in seinen Ausführungen den Wahrheitsanspruch des Erinnerns, der dieses von der produktiven Einbildungskraft unterscheidet, und den damit implizierten, 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 285 <?page no="286"?> 600 Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 253. Vgl. zudem S. 48: „Der Wahrheits‐ anspruch des Gedächtnisses muss anerkannt werden und zwar vor jeder Betrachtung pathologischer Insuffizienzen und nicht-pathologischer Schwächen des Gedächtnisses […]. Um es geradeheraus zu sagen: Wir haben nichts Besseres als das Gedächtnis, um kundzutun, daß etwas stattgefunden, sich ereignet hat oder geschehen ist, bevor wir erklären, uns daran zu erinnern.“ 601 Gerstner, Jan: Das andere Gedächtnis. Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2013, S.-35. 602 Barthes, Die helle Kammer, S.-99. notwendigen Vertrauensvorschuss gegenüber den Erinnernden sowie dem pragmatischen Gehalt ihrer Aussagen. Er fasste diesen Vertrauensvorschuss unter dem Terminus der ‚fiduziarischen Bindung’: „Zuerst dem Wort des anderen vertrauen, dann erst beim Vorhandensein von starken Gründen, daran zweifeln. […] Der dem Wort des anderen eingeräumte Kredit macht die soziale Welt zu einer intersubjektiv geteilten.“ 600 Während sich somit der noematische Anspruch des ‚Es-ist-so-gewesen’ im Fall der Fotografie physisch rechtfertigt, stützt sich derselbe Anspruch im Fall der Erinnerung auf den jeder Erinnerung inhärenten Wahrheitsanspruch sowie inter-subjektives Vertrauen. Es gibt noch eine weitere Analogie zwischen Fotografie und Gedächtnis, die sich aus der Gemeinsamkeit der immateriellen Spur ergibt. Ihrer beider Grundprinzip ist die Referenz, der metonymische Verweis ausgehend von einer zuvor eingeschriebenen Wahrnehmung, einer immateriellen Wahrnehmungs‐ spur, die den Referenten nicht stellvertretend repräsentiert, sondern auf sein notwendiges Gewesen-Sein sowie seine gegenwärtige Abwesenheit hinweist. Ein Verständnis der Fotografie als Spur denkt dieses mediale System nicht in Kategorien der Ähnlichkeit oder des Abbilds, sondern folgt Charles Sanders Peirce’ Begriff des ‚Index’. Jan Gerstner, der sich in seiner Monographie Das andere Gedächtnis. Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts (2013) u. a. mit den sich verändernden theoretischen Zugängen zur Fotografie im vergangenen Jahrhundert auseinandersetzte, weist darauf hin, dass Peirce Fotografien als Beispiele für indexikalische Zeichen heranzieht, „die zum bezeichneten Objekt in einer unmittelbaren physischen Beziehung stehen, neben Rauch, Fußspuren oder einem Wegweiser […].“ 601 Die Fotografie ist in diesem Sinne keine mime‐ tische Nachahmung und charakterisiert sich nicht über einen mimetischen Darstellungsmodus. Für sie ist vielmehr ein Darstellungsmodus der Referenz kennzeichnend, der sich nicht dadurch definiert, dass er versucht abzubilden, sondern dadurch, dass er auf das notwendige Gewesensein des Referenten hinweist: „Phänomenologisch gesehen, hat in der PHOTOGRAPHIE das Bestä‐ tigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe.“ 602 286 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="287"?> 603 Freud, Sigmund: „Die Traumdeutung (1900)“, in: Mitscherlich, Alexander u. a. (Hgg.), Studienausgabe in 10 Bänden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1972, S. 514; vgl. hierzu zudem Derrida, Jacques: „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.-M. 1972 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 177), S.-330. 604 Vgl. Detel, Philosophie des Geistes und der Sprache, S.-86. Es kann kein Foto ohne „photographischen Referenten“ geben, ebensowenig wie es eine Erinnerung ohne die vorherige Wahrnehmung von etwas gibt, sei diese nun vermittelt oder unvermittelt. Das Subjekt kann nur erinnern, was es wahrgenommen hat. Werden Wahrnehmungen durch Erzählung vermittelt, so kann das Subjekt diese Erzählung erinnern; dabei handelt es sich somit um eine indirekte Erinnerung an das nicht selbst Wahrgenommene. Während der “Wahrnehmungsapparat“ der Fotografie immer optischer Natur ist, verfügt das menschliche Subjekt über mehrere Wahrnehmungsorgane; gemeinsam ist der Fotografie und dem Gedächtnis jedoch die Fixierung des Wahrgenommenen als Spur, als materielles Nichts, das durch seinen metonymischen Verweis bzw. seine Referenz auf das Gewesene dennoch zur semantischen Quelle wird. Die Intelligibilität der Erinnerung weist somit eine Analogie zur Licht-Schrift auf, die, anders als andere Schreibmaterie wie beispielsweise Tinte, keine Materie auf eine andere Materie (Papier) aufträgt, sondern die belichtete Materie einer Veränderung unterzieht. Vergleichbar verhält es sich im Falle erinnerter Wahrnehmungen. Freuds Gedächtnismetapher des Wunderblocks lässt sich als anschauliches Exempel für diesen Prozess des Einschreibens anführen, der eine Veränderung des Beschrie‐ benen hervorruft, ohne etwas Materielles hinzuzufügen. Freud spricht entspre‐ chend von sich im Wachsblock abzeichnenden Erinnerungsspuren: „Von den Wahrnehmungen, die an uns herankommen, verbleibt in unserem psychischen Apparat eine Spur, die wir ‚Erinnerungsspur’ heißen können. Die Funktion, die sich auf diese Erinnerungsspur bezieht, heißen wir ja ‚Gedächtnis’.“ 603 Ohne durch metaphorische Beschreibungen eine Vereinfachung der beschrie‐ benen Phänomene riskieren zu wollen, eignen sich die Bilder des Wunderblocks und der Licht-Schrift gut, um darauf hinzuweisen, dass sich sowohl die Foto‐ grafie als auch das Gedächtnis nicht durch die materielle Repräsentanz des einst Wahrgenommenen definieren. In Anlehnung an die Phänomenologie Edmund Husserls sowie der sich auf diese stützende Philosophie des Geistes wurde bereits betont, dass das Gedächtnis nur als abstraktes Vermögen und unter Verweis auf die konkrete Erinnerung an ‚etwas’, nicht jedoch als substantielle Struktur beschrieben werden kann. 604 Die intelligiblen Gedächtnisspuren sowie die immateriellen Lichtspuren im Bildmedium weisen keine materielle Substanz des Referenten, des Stempels, des Objekts auf. Diese Feststellung mit Blick 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 287 <?page no="288"?> auf die Fotografie abzulehnen, hieße, die Materialität des Mediums fälschlicher‐ weise mit der Materialität des Referenten gleichzusetzen. Die Licht-Schrift fügt dem beschriebenen Medium keine Materie zu, sie verändert den medialen Träger. Fotografie und Erinnerung unterstellen gleichermaßen eine vergangene Wirklichkeit, eine Verbindung aus Realem und Vergangenheit, um mit Barthes zu sprechen; das Noema des Ça-a-été setzt das Foto und die Erinnerung struk‐ turell in Beziehung. Daraus ergeben sich medientheoretische Implikationen, die es mit Blick auf das erinnerungskulturelle Theater im Allgemeinen sowie hinsichtlich der weiteren Analyse von El álbum familiar zu erörtern gilt. Die Annahme lautet, dass es fiktionalen Medien wie dem Theater bzw. dem Thea‐ tertext möglich ist, durch einen Rekurs auf ein Medium, welches einen faktualen Aussagemodus beansprucht, sich diesem strukturell und rezeptionsästhetisch anzunähern. Anders gewendet, es wird von der Möglichkeit ausgegangen, mittels fremdmedialer Illusion rezeptive Kategorien und Erwartungstendenzen auf Seiten der Zuschauer zu aktivieren, die sich am rekurrierten Medium, hier der Fotografie, orientieren. Konkret würde das im Falle von El álbum familiar bedeuten, dass der intermediale Bezug auf die Fotografie sowohl dem Theatertext als auch der damit intendierten Inszenierung etwas “Fotohaftes“ einschreibt, dass die Rezeption des Dramatischen bzw. Theatralen in Richtung eines faktualen Aussagemodus bzw. in Richtung eines Modus des ‚Es-ist-so-ge‐ wesen’ ausrichtet. Ein Darstellungsmodus, der die Betonung darauf legt, darzustellen, was gewesen ist, steht auf den ersten Blick im Widerspruch zum Theater. Zum einen aufgrund der bereits erwähnten Unterminierung des mimetischen Dar‐ stellungsmodus, zum anderen, weil der präsentische Charakter der Inszenierung mit dem perfektiven Verbalaspekt des ‚Es-ist-so-gewesen’ zu konkurrieren scheint. Es könnte jedoch auch angenommen werden, dass gerade darin der anti-mimetische Charakter des Theatertextes El álbum familiar gründet, stellt er doch durch die intermedialen Bezüge die dramatische Theaterform des Als-ob in Frage, um sich faktualen Darstellungs- und performativen Inszenierungsformen anzunähern. Inwiefern liefert die Berücksichtigung der als postdramatisch einzustufenden Modifikation des Darstellungsmodus nun im Rahmen der Analyse von El álbum familiar neue interpretatorische Erkenntnisse? Dieser Frage soll im Folgenden zunächst anhand einer Untersuchung der paratextuellen und textuellen Impli‐ kationen des intermedialen Rekurses auf die Fotografie untersucht werden. Der postdramatische Darstellungsmodus des Ça-a-été spielt seine ontologi‐ sche und temporale Botschaft (> vergangene Wirklichkeit) im Stück El álbum 288 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="289"?> 605 Vgl. Rajewsky, Intermedialität, S.-88. familiar gleichermaßen aus. Die Suggestion des ‚Es-ist-so-gewesen’ wird bereits durch den Titel vorbereitet. Die Referenz auf die Fotografie überschreibt dem kontaktnehmenden Medium Theatertext, wie auch dem kontaktnehmenden Medium der theatralen Inszenierung, gewissermaßen von Beginn an den noe‐ matisch begründeten Wahrheitsanspruch des Fremdmediums. Die intermediale Bezugnahme nähert die theatrale Fiktion ab initio suggestiv an einen faktualen Aussagemodus an, an ein Dokumentieren vergangener Wirklichkeit, das sie selbst qua natura ausschließt, bzw. schreibt den faktualen Aussagemodus in die Fiktion hinein. Unter Rekurs auf die Intermedialitätskonzeption von Rajewsky kann im Hinblick auf diese Bezugnahme von einer „fremdmedial bezogenen Illusions‐ bildung“ auf Seiten der Rezipienten ausgegangen werden. 605 Dies meint nicht, dass der Leser Fotos statt Text bzw. der Zuschauer eine Foto- oder Dia-Show statt einer Inszenierung erwartet, sondern dass Begriffe und Kategorien des Rezipienten aktualisiert werden, die er mit einem Familienalbum verbindet. Die Rezipientenlenkung besteht demnach in einer Übertragung dieser Katego‐ rien auf die Lektüre oder die Betrachtung der Inszenierung. Rajewsky, die ihre Erläuterungen am Beispiel intermedialer Bezugnahmen hauptsächlich zwischen literarischen Texten und Film konkretisiert, unterscheidet im Zuge ihrer Erklärung des Konzepts der Illusionsbildung und in Anlehnung an die Ausführungen Wolfs zwischen einer „allgemeinen, werkseitigen Illusion“, die sie auch als „ästhetische Illusion“ bezeichnet, und einer fremdmedialen bzw. altermedialen Illusionsbildung. Ziel werkseitiger, ästhetischer Illusionsbildung sei es, den Rezipienten eine Erfahrung zu ermöglichen die im weitesten Sinne analog zur Wirklichkeitserfahrung ist und das Interesse der Rezipienten durch ein Anknüpfen des Dargestellten an lebensweltliche Wahrnehmungsschemata generiert. Demgegenüber ist es das Ziel der fremdmedialen Illusionsbildung, den Rezipienten eine Erfahrung anzubieten, die analog zur Rezeption des kontaktgegebenen Mediums steht. Dieses Ziel der Erfahrungssimulation und -vermittlung impliziert die Evokation, Simulation oder Inszenierung konkreter Vorstellungsinhalte und Wahrnehmungs‐ schemata der Erfahrung, wie sie dem Rezipienten auf der Grundlage seiner (realen) Medienkompetenz und Filmerfahrung bekannt oder zumindest als wahrscheinliche vorstellbar sind. Bedient werden müssen also bestimmte Erwartungen und Vorstel‐ lungen, die der Leser konventionell mit dem filmischen Medium bzw. dem bestimmten Komponenten desselben verbindet, um so eine filmbezogene Erfahrungssimulation zu ermöglichen […]. 606 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 289 <?page no="290"?> 606 Rajewsky, Intermedialität, S.-88f. 607 Rajewsky, Intermedialität, S.-196. 608 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-70. Auf diese Weise werden der Leser wie auch der theatrale spectator als Betrachter von Fotografien aktualisiert, ohne dass sie dies realiter sein müssen. Die kontex‐ tuellen Signale des Dramatischen und Theatralischen wiegen selbstverständlich schwerer als die paratextuelle Suggestion. Unter Rekurs auf Rajewsky kann mit Blick auf El álbum familiar sowohl von einer expliziten wie auch von einer evozierenden Systemerwähnung ge‐ sprochen werden. Während eine explizite Systemerwähnung das Reden oder Reflektieren über das Bezugsmedium auf histoire-Ebene meint, impliziert die evozierende Systemerwähnung darüber hinaus fremdmediale Illusionsbildung: „Die für eine solche Illusionsbildung erforderliche Ähnlichkeitsbeziehung zwi‐ schen Elementen und/ oder Strukturen des Textes und entsprechenden Kompo‐ nenten des Bezugssystems wird nicht diskursiv ‘hergestellt’, sondern im Zuge der Thematisierung konstatiert bzw. suggeriert.“ 607 Der faktuale Signalcharakter des Titels wird im Falle von El álbum familiar in Form weiterer paratextueller Bezüge aufgenommen und weitergetragen. Die Absenz von übergeordneten Akten, die einer enthierarchisierten Abfolge von escenas weichen, wurde bereits als Merkmal des Onirischen in die Analyse eingebracht. Unter Berücksichtigung der expliziten Erwähnung eines Familien‐ albums, eines Fotoalbums also, das die Wegmarken familiärer Entwicklung fotografisch dokumentiert, scheint der Aspekt der gleichberechtigten Aufein‐ anderfolge der Bildträger erwähnenswert. Die Fotos in einem Familienalbum sind chronologisch geordnet und bedürfen keiner hyperonymischen Einteilung. Auch El álbum familiar zeichnet sich durch eine chronologische Struktur aus, die mit der Idee der Initiationsreise korrespondiert. Indirekte Bestätigung erhält diese Behauptung durch eine Replik von MI MADRE über das binnenfiktionale Fotoalbum, das die Familie auf der Reise begleitet: MI MADRE.- Ahora cuando salgamos del túnel tú nos harás una foto, y yo la pondré en el álbum, entre estas hojas de papel de seda transparentes y marchitas, que nos separan a unos de otros para que no nos toquemos. Primero están puestas las fotos de los abuelos, mis padres, mis hermanos, mis familiares lejanos… Luego la familia de vuestro padre. Y las vuestras, de cuando estábamos todos juntos e íbamos en aquel viaje… […] 608 In Form einer Mise en abyme erschient das Fotoalbum also sowohl auf paratex‐ tueller als auch auf textueller Ebene, doch während es sich innerhalb der Fiktion um ein Bildmedium handelt, liegt dem Leser des Theatertextes das Medium 290 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="291"?> 609 Alonso de Santos, El álbum familiar, S. 70: „MI MADRE.- […] Cada boda, cada comunión, cada bautizo.“ Schrift, dem Zuschauer das dynamische theatrale Spiel vor. Aus der Perspektive des Lesers suggeriert die fremdmediale Illusion an dieser Stelle den visuellen Aspekt des Fotos. Unterstützt wird diese Bildbzw. Foto-Suggestion dadurch, dass die Szenen Titel tragen. Für das Verständnis der Dramenhandlung weitge‐ hend unbedeutend, erinnern die Szenen-Überschriften an Bild-Unterschriften, an schriftliche Erklärungen, wie sie Ersteller eines Fotoalbums unter Fotografien setzen, um eine kontextuelle Einordnung des Betrachteten zu vereinfachen. Der Mangel des Mediums Foto liegt in seiner Statik begründet, die eine Erweiterung oder Reduktion der Informationsvergabe unmöglich macht. Das sich im ewigen Spiel der Verweisung befindliche Hilfsmedium der Schrift fungiert innerhalb eines Familienalbums somit als beweglicher Lückenschließer, als Vernetzer der Bildmedien, und garantiert somit den memorialen Brückenschlag zwischen dem Moment des Betrachtens und der betrachteten Momentaufnahme. Die Szenen-Titel („Mi casa“ - „El viaje“ - „Sigue el viaje“, „La sala de espera“, „Seguimos en la sala de espera durante la larga noche“, „El andén de las despedidas“) bezeichnen, wie bereits gezeigt werden konnte, Stationen der regressiven Initiationsreise der Hauptfigur YO und somit bedeutende Entwick‐ lungsstadien sowie -übergange. Das Familienalbum rückt dabei als Medium der Initiationsdokumentation in den Fokus, sind doch gerade feierliche oder rituelle Anlässe des Übergangs Motive, die den Fixierungswunsch der Beteiligten befördern. 609 Fotos entstehen an Grenzen, an Übergangen, wie beispielsweise zwischen Kindheit, Jugend und dem Verlassen des familiären Horts. Die an diesem Übergang Beteiligten, die Ersteller der Fotos, die Operatoren (Barthes), sind sich der Tatsache bewusst, dass etwas unwiederbringlich ist, dass etwas endet und etwas anderes beginnt. Diese Funktion macht die Fotografie zu einem Medium, das besonders in liminalen Phasen zum Einsatz kommt. El álbum familiar suggeriert somit auch auf paratextueller Ebene eine mediale Referenz zur Fotografie, die sich durch eine strukturelle Nähe zum Medium des Fotoalbums konkretisiert, eines Erinnerungsträgers, der die Initiationsreise des YO bildlich dokumentiert. Die Suggestion der Bildhaftigkeit wird durch die Verwendung von Bild-Unterschriften als Szenen-Überschriften befördert und auch wenn sich die Bildhaftigkeit innerhalb des Theatertextes nicht eigens materialisiert, so lässt sich behaupten, dass es die abwesenden Familienfotos sind, die die Struktur des Theatertexts determinieren. Der Theatertext ist durch‐ wirkt von der Präsenz der suggerierten Fotografien bzw. wahrgenommenen Szenen, die als Auslöser für die Wiederkehr der traumatischen Erinnerungen 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 291 <?page no="292"?> 610 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-59f. 611 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-72. 612 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-103. im Traum betrachtet werden können. Es lässt sich also eine Überschreibung des fremdmedialen Darstellungsmodus des Ça-a-été, des noematischen Gehalts der Fotografie und damit auch der Erinnerung, auf die paratextuelle Ebene des The‐ atertexts feststellen. Der Übergang zu diesem als postdramatisch beschriebenen Darstellungsmodus, der dem kontaktnehmenden Medium einen faktualen An‐ spruch aufprägt, übt einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Rezipienten aus. Diese sehen sich von Beginn an einer fremdmedialen Illusionsbildung ausgesetzt, die ihre rezeptive Erwartungshaltung mitbestimmt. Da die mit dem Theatertext intendierte Inszenierung im Gegensatz zur Schrift bereits über Bildhaftigkeit verfügt, schreibt sich der intermediale Bezug auf die Fotografie im Rahmen der Aufführungssituation durch explizite Systemerwäh‐ nungen und die damit einhergehende Evozierung fremdmedialer Strukturen ein, beispielsweise durch die Integration der für die fotografische Aufnahme unabdingbaren Statik. Dieser Rekurs auf den fotografischen Stillstand wider‐ spricht der Dynamik des theatralen Spiels und repräsentiert damit einen Gestus, der das in den in der Tiefenstruktur angelegten Verweis auf die Fotografie deutlich macht. Die Paralyse des Fotos tritt nicht nur dann in Erscheinung, wenn innerhalb der fiktionalen Welt Fotografien entstehen: (Estamos TODOS de nuevo puestos en la foto del libro de familia numerosa, paralizados en el tiempo amarillo del cartón. […]) 610 […] YO.- Tenéis que juntaros un poco, si no no salís todos. Y va a salir movida. Juanma, quieto. 611 […] ([…] Antes de llegar a la puerta paramos, quedando por un momento la fotografía de nuestras espaldas recortadas sobre la puerta que lleva al andén. YO vuelvo entonces la cabeza atrás. Miro a LA ABUELA un momento y me dice Adiós con la mano. Luego salimos.) 612 Ebenfalls scheinen die Momente der Unbeweglichkeit ein Verweis auf die Statik der Fotografie zu sein, die sich somit zum Gegen-Motiv für die Reise und den damit vollzogenen Fortschritt macht. Das Foto fordert Stillstand ein und verleiht damit dem Wunsch nach Konservierung Ausdruck, der im Falle des träumenden YO eher als Verhinderung von Entwicklung empfunden zu werden scheint. 292 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="293"?> 613 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-84. 614 Davon abgesehen ist natürlich das Abspielen von Tonspuren und damit von zuvor aufgenommenen Aussagen sowie die Projektion des Theatertextes während der Insze‐ nierung denkbar. Solche Fälle haben jedoch für die vorliegenden Untersuchungen keine Relevanz. Die Verbindung zwischen Traum, Trauma und Stillstand wird am Ende der dritten Szene vor Augen geführt, in der der explizite Verweis auf den Traum erstmalig auf der Ebene des Erlebens Ausdruck findet. Obwohl sie schnell aus dem Zug aussteigen müssten, können sich die Figuren nicht bewegen, scheinen, wie auf einem Foto, an Ort und Stelle fixiert zu sein: YO.- Papá, no podemos movernos. Queremos pero no podemos. Mira: se me han pegado los pies al suelo. Quiero andar pero no puedo. Esto me pasa muchas veces cuando estoy soñando… ¿soñando? 613 An diese Untersuchung des strukturellen Einwirkens des intermedialen Bezugs auf die Fotografie ist nun zu untersuchen, inwiefern sich der Darstellungsmodus des ‚Es-ist-so-gewesen’ auf textueller Ebene bzw. der histoire-Ebene nachvoll‐ ziehen lässt. Da der Nebentext ausführlich zu betrachten sein wird, wenn der intramediale Rekurs des Theatertextes auf die Narration im Fokus stehen wird, bildet in der Folge der Haupttext den Untersuchungsgegenstand. Der Haupttext eines Theatertextes besteht aus den Repliken der dramatischen Figuren, seien diese nun monologisch oder dialogisch gestaltet. Im Gegensatz zu narrativen Erzählformen sind im Theater die Momente des Aussagens und die Momente des Rezipierens des Ausgesagten zeitlich identisch. Die Figurenrede und die Rezeption der Figurenrede finden während der Aufführungssituation in ein und demselben Moment statt. 614 Im Gegensatz dazu gehört zu den rezeptionsästhetischen Charakteristika von Schrift, dass i. d. R. der Moment der Produktion der Aussagen und der Moment der Rezeption des Ausgesagten einer zeitlichen Versetzung unterliegen. Ableitend lässt sich behaupten, dass die Re‐ pliken der Figuren - die auch im Theatertext im Wissen um die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption gestaltet werden - und damit auch das durch die Repliken Dargestellte an das Hier und Jetzt der Aufführung gekoppelt sind. Die Darstellung entsteht in dem Moment, in dem das Dargestellte rezipiert wird. Auf den Roman übertragen würde eine solche Rezeptionsform bedeuten, dass die Leser beim Schreibprozess selbst dabei wären bzw. einem performativen Schreibakt beiwohnen würden. Das theatertypische Charakteristikum der Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption wird nun im Fall von El álbum familiar durch den Darstel‐ lungsmodus des Ça-a-été konterkariert. Anders gewendet, die Koppelung des 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 293 <?page no="294"?> Dargestellten an das Hier und Jetzt der Aufführungssituation wird aufgelöst. Stattdessen wird das Dargestellte nicht so präsentiert, als ob es sich gerade vollzöge, also beispielsweise, als ob sich zwei Figuren gerade unterhielten - unabhängig davon, ob der Inhalt des Gesprächs vergangen oder gegenwärtig ist -, sondern so, als sei das Dargestellte bereits gewesen, als hätten sich die zwei Figuren schon zuvor in eben solcher Weise unterhalten. Damit erfährt die paratextuelle Prägung des Theatertextes durch den Darstellungsmodus des ‚Es-ist-so-gewesen’ eine Entsprechung auf textueller Ebene. Die auf diese Weise erzielte rezeptive Uneindeutigkeit ergibt sich erneut durch den Rekurs auf das Medium der Fotografie, der die gegenwärtigen dramatischen Geschehnisse als bereits vergangen markiert und auf diese Weise eine Gleichzeitigkeit von Erin‐ nertem und dem Akt des Erinnerns bzw. dem erneuten Erleben des Erinnerten suggeriert. Der Gedanke der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der rezeptive Un‐ schlüssigkeit auslöst, führt uns an diesem Punkt zu einer der grundlegenden theoretischen Unterscheidungen zurück, die diese Studie leiten. Er führt zur Dialektik der Repräsentation bzw. zu der Verschränkung von Repräsentiertem und dem Prozess des Repräsentierens, die als definitorisches Merkmal des erinnerungskulturellen Theaters nach 1975 herausgestellt wurde. Während das Referenzsystem der Fotografie in El álbum familiar das Dargestellte als abgeschlossen suggeriert, als Re-Präsentation im zeitlichen Sinne, vollzieht sich auf dramatischer Ebene ein Prozess des erneuten, traumhaften Erlebens des Vergangenen. Während das fremdmediale Referenzsystem Fotografie den Fokus also auf den noematischen Gehalt der Erinnerung rückt (Ça-a-été), repräsentiert die dramatische Handlung den noetischen Akt des Erinnerns, die Gerichtetheit auf den Erinnerungsgehalt. Die Statik der Fotografie und die präsentische Dynamik des theatralen Spiels gehen dabei Hand in Hand, Noema und Noesis, Erinnertes und der Akt des Erinnerns finden in Form einer intermedialen Bezugnahme zeitgleich Ausdruck. Das Ergebnis ist ein rezeptives Verwirrspiel am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation, dem archimedischen Punkt theatraler erinnerungskultureller Phantastik. Auf welche Weise lassen sich diese Annahmen nun im Theatertext El álbum familiar nachvollziehen? Ein Beispiel für die verwirrende Verschränkung, oder besser, Zurschaustellung der Dialektik der Repräsentation, die erst durch die intermediale Bezugnahme zwischen Fotografie und Theater möglich wird, findet sich gleich in der ersten Traum-Szene, als die Mutter der Hauptfigur auf ein Foto im Familienalbum verweist, das genau das darstellt, was sich auf der Ebene des erlebenden YO gerade vollzieht. Die Szene beinhaltet die traumhafte Evozierung des im Bürgerkrieg erschossenen Onkels. Dass es sich dabei um ein 294 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="295"?> 615 Eine weitere Metalepse findet sich in der fünften Traum-Szene, in der EL PADRE DE MI PADRE aus einem Foto herauszutreten scheint; vgl. Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-94f. 616 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-58. geisterhaft-metaleptisches Heraustreten aus dem Bildmedium in die fiktionale Welt der erlebenden Figuren handelt 615 , mag der Tatsache geschuldet sein, dass sich die Erinnerungen des YO an den TÍO SANTO aufgrund eines Mangels an persönlicher Begegnung in erster Linie auf eine Kombination aus Erzählungen und dem Gemälde des Verstorbenen stützen. Die Grenze zwischen Leben und Tod sowie zwischen Gemälde und fiktionaler Handlungswelt werden durch das träumende YO unterminiert: (Aparece entonces como tantas veces, saliendo de su cuadro en la pared entre ruidos ametralladoras que le fusilan una y mil veces. Ella se aleja entonces desapareciendo en medio de una luz transparente. Se acerca en ese momento MI HERMANA PEQUEÑA y ve al tío santo.) MI HERMANA PEQUEÑA.- ¡Papá! ¡Papá! ¡El tío santo! ¡Ha bajado el tío santo de su cuadro! MI PADRE.- ¡Venid todos! Venid todos aquí! Justa, hija, vamos. Mi hermano va a darnos la bendición. (Nos arrodillamos TODOS delante del tío santo. Suenan ahora más fuerte las ráfagas de ametralladora. Al bendecirnos miro su mano como siempre. Le falta el dedo meñique. Le tenemos metido en alcohol, como reliquia,. De pequeño me daba miedo, ahora ya no.) YO.- Tío, el dedo que te falta lo tenemos nosotros en un frasco… (MI HERMANA PEQUEÑA le da con el codo a MI HERMANA MEDIANA y se ríen por lo bajo de lo del dedo) MI PADRE.- ¡Chissss! YO.- En el nombre del Padre, del Hijo, y del Espíritu Santo, Amén. MI MADRE.- Ésta es la foto de cuando nos marchamos de aquella casa, de viaje, todos juntos, y el tío nos dio la bendición. 616 Gleich zu Beginn des Zitats wird auf den Wiederholungscharakter der Gescheh‐ nisse angespielt („Aparece entonces como tantas veces“), was die These bekräftigt, es handle sich bei dem im Traum Erlebten um eine Form der mémoire-répétition. Das von der Mutter unvermittelt gezeigte Foto fasst das soeben Geschehende zu‐ sammen, den Aufbruch aus dem Haus sowie den Antritt der Reise. Fotografisch Dargestelltes und szenisch sich Vollziehendes vermengen sich, wodurch eine 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 295 <?page no="296"?> 617 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-60. Simultanität von Vergangenem und Gegenwärtigem, fotografisch Dargestelltem und theatraler Darstellung evoziert wird. Gleichermaßen markiert das Foto den Endpunkt des ersten Entwicklungsstadiums (Mi casa) und verweist bereits auf den Übergang zum kommenden Stadium (El viaje), es entsteht auf der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend. Auch der folgende Textauszug charakterisiert das sich vollziehende Ge‐ schehen als bereits vergangenes, gleichwohl die Ausrichtung an einem Darstel‐ lungsmodus des ‚Es-ist-so-gewesen’ in diesem Fall anders eingesetzt wird als im obigen Beispiel. Nachdem sich der Vater bei der Mutter versichert hat, dass sie das Familienalbum mit auf die anstehende Reise nimmt, entspinnt sich ein Dialog zwischen den Geschwistern und dem Vater über das das Album schmückende Familienfoto. Obwohl dieses Foto offensichtlich schon existiert, positionieren sich die Familienmitglieder kurz vor dem Verlassen des Hauses erneut für das Foto, über das sie soeben gesprochen haben. Das Foto wird in diesem Moment zur Schablone des dramatischen Handelns, wodurch das dramatische Handeln selbst zum noetischen Akt des Erinnerns wird, der sich an dem durch das Foto dargestellten Erinnerungsgehalt ausrichtet. Die dramatische Handlung gibt sich in diesem Moment als referentiell zu erkennen, womit sie das fotografische Merkmal der Referenz in sich aufzunehmen scheint: MI HERMANA PEQUEÑA.- En la foto del libro de familia he salido muy mal. Con la lengua fuera tengo cara de tonta. MI HERMANA MAYOR.- A mí la rebeca que tengo puesta, me está corta. Tengo que dejársela ya a mis hermanas. Yo estoy a este lado en la foto, apoyada en mi padre. MI HERMANA MEDIA.- ¿Yo aquí, papá? MI PADRE.- Sí. MI HERMANO PEQUEÑO. - Yo aquí delante. MI PADRE.- Deprisa, deprisa… ¡Vamos, José Luis! (Estamos TODOS de nuevo puestos en la foto del libro de familia numerosa, paralizados en el tiempo amarillo del cartón. Entonces entra el NOVIO DE MI HERMANA MAYOR vestido militar, semejante a un maniquí de plomo. MI HERMANA MAYOR se pone otra vez a llorar.) 617 Bedeutend ist nun die Feststellung - dies wurde bereits im Hinblick auf die Analyse von ¡Ay, Carmela! betont -, dass der noetische Akt immer an die Gegenwart und damit an das Erleben gekoppelt ist. Im Falle von El álbum familiar wird die präsentische Originarität der dramatischen Geschehnisse, die soeben als Ausdruck des noetischen Akts des Erinnerns definiert wurden, jedoch 296 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="297"?> 618 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-70. konterkariert. Zwar ist jeder noetische Bezug immer präsentisch, doch wird der noetische Bezug auf Vergangenes in El álbum familiar dargestellt, als hätte er sich auf genau dieselbe Weise schon einmal oder mehrmals vollzogen. Der noetische Akt wird als sich wiederholender Akt präsentiert, dem, durch den Aspekt der Wiederholung, das Gewesensein eingeschrieben ist, und dies trotz des Umstands, dass sich auch Wiederholungen immer gegenwärtig vollziehen müssen. Das Dargestellte wird ergo als bereits Gewesenes erkennbar. Der entschei‐ dende Unterschied zum mimetischen Darstellungsmodus tritt hier deutlich zu Tage. Der durch die Figurenrede gegebene Hinweis auf die Gemachtheit des Dargestellten dient hier nicht etwa dazu, den Als-ob-Charakter der Repliken der Figuren zu entlarven, sondern dazu, das Gewesensein ihrer Handlungen zu markieren. Die Fotografierten haben bereits für dieses Foto posiert, andernfalls wäre eine Orientierung der eigenen Handlungen und Aussagen an dieser Bildschablone nicht denkbar. Der metatheatrale Verweis steht damit im Dienst des veränderten Darstellungsmodus. Die Figuren in El álbum familiar wissen um den Widerholungscharakter des Handlungsverlaufs und verleihen ihrem dadurch gegebenen Informations‐ vorsprung explizit Ausdruck: „MI MADRE: Juntaros todos. José Luis [= YO] nos va a hacer una foto de recuerdo a todos juntos. Para cuando se vaya. YO.- ¿Para cuando me vaya? “ 618 Die auf diese Weise entstehenden metatheatralen Implikationen, die das dramatische Geschehen als sich wiederholenden (Erin‐ nerungs-)Akt offenlegen, in denen die Figuren frühere Rollen einzunehmen und zu erfüllen haben, dienen jedoch nicht primär dazu, auf den Als-ob-Charakter der theatralen Darstellung zu verweisen, sondern auf den Als-ob-Charakter des Traums und damit auf den onirischen Grund des Dargestellten. Die auf diese Weise suggerierte Identität von Fiktion und Traum täuscht ebenso eine strukturelle Identität zwischen der metadiegetischen Traumebene und der ins off-stage verlagerten Ebene des Träumenden vor, so dass ein im Spiel im Spiel vollzogener Verweis auf die Gemachtheit des Dargestellten irrtümli‐ cherweise dazu führen kann, dass die gesamte Darstellung als ‚konstruiert’ wahrgenommen wird. Die Konsequenz dieses perzeptiven Verwirrspiels, das durch die Nicht-Aktualisierung der Ebene des Träumenden begünstigt wird, ist es, dass die Ebene des Träumenden mit der vermeintlichen Einnahme eines le‐ bensweltlichen, epischen Blicks einhergehen könnte. Ein Außerhalb des Traums wäre somit fälschlicherweise mit einem Außerhalb der Fiktion gleichgesetzt. Diese Suggestion steht im Einklang mit einem Darstellungsmodus des Ça-a-été, 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 297 <?page no="298"?> 619 Alonso de Santos, El álbum familiar, S. 86f. Marga Piñero weist zurecht darauf hin, dass es sich an dieser Stelle nicht um die Erinnerung an das Geschehene, sondern um die bewirkt sie doch, dass der Moment des Erinnerns im lebensweltlichen Raum verortet zu sein scheint, obwohl er strukturell gesehen selbst Teil der fiktionalen Welt ist. Ein Beispiel aus der vierten Traum-Szene, in der die Geburtstagsfeier der HERMANA PEQUEÑA vorbereitet wird, führt die suggestive Koppelung von Fiktion und Traum deutlich vor Augen. Im Nebentext, auf den im folgenden Teilkapitel genauer eingegangen werden soll, werden die Geschehnisse rund um das erlebende YO explizit als „recuerdos“ bezeichnet. Ein YO außerhalb der dargestellten Welt erscheint als Spielleiter von Traum und Spiel gleichermaßen, es wird zum Referenzpunkt der anderen Figuren und zu bestimmenden Instanz der dramatischen Handlung: MI HERMANA MAYOR.- Lo que podíamos hacer, mientras esperamos, es celebrar el cumpleaños de Pili. ¿Quieres , José Luis? (Me pide ayuda a mí. Y YO digo que sí con la cabeza. Entonces resucito mis recuerdos de los cumpleaños, obligándolos a actuar.) MI HERMANA MAYOR.- Vamos, mamá. ¡Que ha dicho que sí! ¡Vamos a celebrarlo! […] MI PADRE.- […] Toma hija, tu regalo. Para que te compres algo cuando lleguemos. MI HERMANA PEQUEÑA.- Mira, José Luis. Me ha dado mucho dinero. Le quiero mucho. ¿Le puedo dar un beso? (Digo que sí con la cabeza. Entonces MI HERMANA PEQUEÑA salta sobre MI PADRE, le abraza y le besa.) […] (MIS HERMANAS sacan de la maleta las cosas de las fiestas familiares, gorritos, narizotas, cadenetas y serpentinas, ajadas por el tiempo. MI ABUELA coloca una vela encima de la mesa para que sople y la apague MI HERMANA PEQUEÑA. Ella deja a MI PADRE y se acerca a mí, mucho mayor de lo que era entonces. Me habla con voz muy lejana desde mi recuerdo.) MI HERMANA PEQUEÑA.- …Era mi cumpleaños. Es mi cumpleaños. Tú estabas, estás, sentado mirándolo todo fijamente, como retratándolo con tus ojos en tu cerebro. Mi abuela sacó una tarta gigantesca y mágica de su bolso y me la dio. Era una tarta llena de velas, cada una por un año, cada una de un color. Se apagaron todas las luces, se apagan todas las luces y solo quedan encendidas las velas de la tarta. […]. 619 298 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="299"?> Evozierung eines „pasado ideal“ handelt, „que nunca existió, que está hecho de deseos y de anhelos“; vgl. Piñero, La creación teatral, S.-277. 620 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-54. 621 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-67. 622 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-72f. Die gleichzeitige Verwendung von Präsens und Vergangenheit in der Replik von MI HERMANA PEQUEÑA, die aus einem Damals und einem Heute zugleich zu sprechen scheint, rekurriert auf grammatikalischer Ebene auf die Gleichzeitig‐ keit des Ungleichzeitigen, die Präsens des Erlebens und das Gewesenseins des Erlebten. Zudem werden in diesem Ausschnitt Erinnerung und Fotografie in ein enges Verhältnis gesetzt, wenn darauf hingewiesen wird, dass sich das YO das damalige und zugleich gegenwärtige Geschehen visuell einprägte, als würde er seinem Gedächtnis ein Bild einschreiben. Bei der Figur der ABUELA erzwingt die Verschränkung der beiden Zeit‐ ebenen gar eine traumhafte Auferstehung. Als Figur, die zum Zeitpunkt des Träumens/ Erinnerns bereits verstorben zu sein scheint, wird sie innerhalb des Traums zur Wiederkehrerin, um ihre damalige Rolle als noch Lebende auszufüllen: ([…] Entra ahora MI HERMANA MAYOR, la que tiene novio. Viene discutiendo con MI ABUELA. Pero… ¿Mi abuela no había muerto hace mucho? ) 620 Ihre hellseherischen Fähigkeiten sind jedoch nicht ihrer scheinbaren Übersinn‐ lichkeit geschuldet, sondern sind Ergebnis einer Zuschreibung des YO. Auf der Basis des lebenszeitlichen Wissens des Träumenden wird es beispielsweise möglich, dass die ABUELA ein Kleidchen für die erst viele Jahre später zur Welt kommende Tochter der HERMANA MAYOR strickt: „MI ABUELA.- Este vestidito es para tu niña. ¿Te gusta? Ya sé que falta mucho para que nazca, pero entonces yo ya no estaré.” 621 Und wenig später: YO.- En las fotos sólo pueden salir los que estén vivos en ese momento. Si no, no la hago, y ya está. MI HERMANA MAYOR.- Pues esperamos a que nazca [mi hija]. YO.- Pero si es de muchos años después. Luego le hago a ella una cuando nazca. 622 Es wird ersichtlich, dass die auf diese Weise erzeugte rezeptive Uneindeutigkeit ihren Ursprung am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation hat. Das Auftreten der ABUELA ist Folge der Verschränkung der Ebene des Dargestellten, des noematischen Erinnerungsgehalts, und der Ebene des Darstellens, des noe‐ tischen Akts des Erinnerns im Traum. Das Erleben auf dramatischer Ebene ist somit immer zugleich Erlebtes, sich vollziehend und vollendet gleichermaßen. Es wurde deutlich, dass der perfektive Aspekt des Dargestellten sich nicht zuletzt aufgrund des intermedialen Rekurses auf die Fotografie und die damit 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 299 <?page no="300"?> einhergehende fremdmediale Illusion ergibt. Die Referenz auf das System Fotografie hat zur Folge, dass sich El álbum familiar durch einen Darstellungs‐ modus des Ça-a-été charakterisiert, der das Dargestellte als Referenz auf schon Gewesenes definiert. - 2.4.3 Erzählend erinnern - Zum Übergang zwischen wiederholender und wahrer Erinnerung 2.4.3.1 Melancholie der Licht-Spur Kehren wir an dieser Stelle zurück zu der Frage, auf welche Weise sich in El álbum familiar der Übergang von einer mémoire-répétition zu einer mé‐ moire-souvenir zu initiieren scheint. Ein solcher Übergang setzt gemäß Ricœur einen Akt der Bewusstwerdung voraus, ein Sich-Manifestieren des Latenten. Es wurde gezeigt, dass sich ein Ende des verhinderten Gedächtnisses auf dramatischer Ebene, beispielsweise in Form eines Erwachens des Träumenden und einer sich anschließend manifestierenden Traumerinnerung, nicht einstellt. Im Theatertext und der Inszenierung bleibt Dargestelltes von Anfang bis Ende immaterielle, weil intelligible Repräsentation. Dennoch soll an dieser Stelle die These stark gemacht werden, dass das Stück die Möglichkeit einer Integration der unbewussten Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse ins Bewusstsein des YO und damit eine Art identitäre Rekonstruktion zuzulassen scheint. Als Ermöglichungsgrund fungiert dabei der theatralische Schwellenraum, der die Grenze zwischen unbewusster und bewusster Erinnerung mit den Mitteln des Theaters auszuhebeln vermag. Wir gelangen damit an jene Stelle, an der das Interesse an der ethischen Wirkmacht des Theaters neben den ästhetischen Analysefokus rückt. Der formulierten These liegt die Annahme zugrunde, dass die Transgression der Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstem durch den intermedialen Rekurs auf die Fotografie vorbereitet und durch den intramedialen (Theatertext) bzw. intermedialen (Inszenierung) Bezug auf die Narration vollzogen wird. Zwar schreibt die Fotografie dem Dargestellten den Aspekt des Gewesenseins ein und nähert es damit dem faktualen Aussagemodus an, doch erschwert das noematische Wesen der Fotografie, das in der bestätigenden Referenz auf vergangene Wirklichkeit liegt, die endgültige Akzeptanz der Absenz des fotografischen Referenten. Die Suggestion des immateriellen Fortbestehens des Referenten verbindet das Medium der Fotografie mit dem Trauma, lässt eine Analogie zwischen der Licht-Schrift und der Narbe entstehen. Dagegen befördert ein Akt der Materialisierung, beispielsweise in Form des Erzählens, die Bewusstwerdung hinsichtlich der endgültigen materiellen Abwesenheit des 300 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="301"?> 623 Neumann, Birgit: „Trauma und Literatur“, in: Nünning, Ansgar (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze, Personen, Grundbegriffe, Stuttgart 2 2003, S.-729. 624 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-119. 625 Barthes, Die helle Kammer, S.-89. Referenten: „Die traumatische Erinnerung manifestiert sich als andauernder Fremdkörper im Gedächtnis, als ‘verkörperte’ Erinnerung, die sich einer kohä‐ renten Narrativierung entzieht.“ 623 Der ‚Fremdkörper ist materielos und entzieht sich der Materialisierung. Aufgrund der hinterlassenen Spur, so kann in Anlehnung an Barthes’ La chambre claire formuliert werden, suggeriert die Fotografie das physische Fortbestehen des Referenten. Das Ergebnis ist die trügerische Verquickung von Realität (Gewesensein) und Lebendigkeit (Sein). Diese scheint die Fotografie als ein Medium der Melancholie auszumachen, denn, wie unter Verweis auf Freud und Ricœur festgehalten wurde, ist es ja gerade Kennzeichen der Melan‐ cholie, im Gegensatz zur Trauer, das Objekt der Liebe oder des Hasses nicht loszulassen. 624 Die dementsprechende Textstelle bei Barthes lautet: Denn die Unbewegtheit der Photographie ist in gewisser Hinsicht das Ergebnis einer perversen Verschränkung zweier Begriffe: des REALEN und des LEBENDIGEN: indem sie bezeugt, daß der Gegenstand real gewesen sei, suggeriert sie insgeheim, er sei lebendig, aufgrund jener Täuschung, die uns dazu verleitet, dem REALEN einen uneingeschränkt höheren, gleichsam ewigen Wert einzuräumen; indem sie aber dieses Reale in die Vergangenheit verlagert (“Es-ist-so-gewesen“), erweckt sie den Eindruck, es sei bereits tot. Daher sollte man sagen, dass das Unnachahmliche der PHOTOGRAPHIE (ihr Noema) darin besteht, dass jemand den Referenten leibhaftig oder gar in persona gesehen hat (auch wenn es sich um Gegenstände handelt). 625 Der Zusammenhang zwischen verhinderter Dialektik und Melancholie scheint das Foto, wie jede andere Spur des Lebendigen, strukturell zu prägen. Durch den Verweis auf das Gewesensein des fotografischen Referenten suggeriert das Foto dessen Lebendigkeit und blockiert auf diese Weise die endgültige Akzeptanz der Absenz. Das Ergebnis ist der Gram, der sich aus der Unentscheidbarkeit zwischen Anwesenheit und Abwesenheit zu ergeben scheint, eine Empfindung, von der Roland Barthes beim Anblick des berühmten Wintergarten-Fotos, das seine verstorbene Mutter als Fünfjährige zeigt, getroffen wird: […] die PHOTOGRAPHIE hingegen sprengt den ‘konstitutiven Stil’ […]; sie ist ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie); […] Da ist es noch einmal das PHOTO aus dem Wintergarten. Ich bin allein mit ihm, allein habe ich es vor mir. Der Kreis ist geschlossen, es gibt keinen Ausweg. Ich leide, unbeweglich. Steriles, 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 301 <?page no="302"?> 626 Barthes, Die helle Kammer, S.-100f. 627 Barthes, Die helle Kammer, S.-35. grausames Entbehren: ich vermag meinen Gram nicht zu verwandeln, meinen Blick nicht schweifen zu lassen […]; die PHOTOGRAPHIE - meine PHOTOTGRAPHIE - ist ohne Kultur: wenn sie Schmerzen bereitet, so kann nichts an ihr den Gram in Trauer verwandeln. Und wenn Dialektik jenes Denken ist, das des Verweslichen Herr wird und die Verneinung des Todes in Arbeitsenergie umwandelt, dann ist die PHOTOGRAPHIE undialektisch: sie ist ein denaturiertes Theater, in dem der Tod sich nicht “betrachten“, widerspiegeln oder verinnerlichen kann; mehr noch: das tote Theater des TODES, die Verwerfung des TRAGISCHEN; sie schließt jede Läuterung jede Katharsis aus. 626 Ein Theater des Todes erlaubt den kathartischen Umschlag, den Übergang von der Melancholie zur Trauer. Dahingegen steht ein totes Theater des Todes, die Fotografie, still und erstickt durch die Stagnation des suggerierten Fortbestehens jede Hoffnung auf die dialektische Kippbewegung. Während die kathartische Wirkmacht der klassischen Tragödie sich nicht zuletzt aus der Einmaligkeit der dargestellten Ereignisse und der damit einhergehenden Möglichkeit einer dialektischen Theatererfahrung ergibt, verhindert die in die Licht-Spur einge‐ schriebene Lebendigkeit des fotografischen Referenten jede Chance auf eine affektive Distanzierung. Die Verschränkung von der Gewissheit des Gewesenseins und der gleichzei‐ tigen Unwiederbringlichkeit des fotografischen Referenten, der verstorbenen Mutter, wird für Barthes zum punctum, zur traumatischen Verletzung, die sich der Betrachter, der spectator, beim Betrachten einer Fotografie zuziehen kann. Dieser Stich, der den Betrachter unvermittelt trifft bzw. punktiert, tritt entweder dann ein, wenn sich das Wesen des Referenten durch ein Detail vermittelt oder wenn sich der Betrachter der Verschränkung von vergangener Anwesenheit (Licht-Spur) und gegenwärtiger Abwesenheit (materielles Nichts) gewahr wird. Das Ergebnis ist ein Schwindel, eine Uneindeutigkeit zwischen Leben und Tod, bzw. ein Zauber, wie er von der Fußspur im Schnee ausgeht, die Leben suggeriert, ohne leibhaftig zu sein. Barthes unterscheidet das punctum vom Begriff des studium, von einem interessierten und ideologisch geführten Blick auf eine Fotografie. Die meisten Fotografien, so Barthes, gehören dem Feld des studium an, und „gewiß können diese Photographien eine Art von allgemeinem Interesse in mir wecken, mit‐ unter Ergriffenheit, doch diese Gemütsbewegung wird durch das vernunftbe‐ gabte Relais einer moralischen und politischen Kultur gefiltert.“ 627 Die mäßige Affiziertheit unterläge in diesen Fällen eher einer sozial-kulturellen Dressur als 302 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="303"?> 628 Barthes, Die helle Kammer, S.-36. 629 Barthes, Die helle Kammer, S.-78. 630 Barthes, Die helle Kammer, S.-80. 631 Barthes, Die helle Kammer, S.-101. wahrer Betroffenheit. Das punctum durchbricht bzw. durchsticht die bewusste Rezeptionsweise des studium, es schießt wie ein Pfeil aus der Fotografie hervor, skandiert das studium und dreht das Verhältnis von Betrachtendem und Be‐ trachtetem auf schmerzvolle Weise um: Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt - und: Wurf oder Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft). 628 Das Zufällige kann sich aus einem Detail ergeben, das nur beim jeweiligen Betrachter Betroffenheit auslösen kann und dies bei niemand anderem tun muss. Barthes stößt auf ein solches, durchbohrendes Detail - bzw. das Detail durchstößt ihn -, das ihn das Wesen seiner Mutter mit einem Mal wiederfinden lässt, beim Betrachten des Wintergarten-Fotos. „Die Klarheit ihres Gesichts, die naive Haltung der Hände, der Platz, den sie gehorsam eingenommen hatte“, lassen Barthes „die souveräne Unschuld“, „die Güte, die ihr Wesen von Anfang an und für immer geformt hatte […]“ 629 , kurz, seine Mutter erkennen. Durch die Subjektivität entzieht sich das punctum dem studium, der bloßen Beschreibung von etwas, das sich a priori jeder Zeichenhaftigkeit entzieht: „[…] ich könnte diesen Zusammenhang nur durch eine unendliche Folge von Adjektiven beschreiben; ich will es mir ersparen, bin aber gleichwohl überzeugt, dass dieses Photo sämtliche möglichen Prädikate auf sich vereint, aus denen das Wesen meiner Mutter bestand […].“ 630 Der Zeitlosigkeit des Affekts, des Traumas bzw. des punctum, die beim Wiederfinden des Wesenhaften spürbar wird, steht die Abgeschlossenheit des Referenten gegenüber. „Nun weiß ich, daß es noch eine anderes punctum (ein anderes ‘Stigma’) gibt als das des ‚Details’. Dieses neue punctum […] ist die ZEIT, ist die erschütternde Emphase des Noemas („Es-ist-so-gewesen“) […]“ 631 Die Bestätigung des Gewesenseins geht immer mit der Gewissheit der Abgeschlossenheit und Unwiederbringlichkeit des Moments einher; Fotografie suggeriert immer auch den Tod, der sich bei der Objektwerdung des Fotografierten anzukündigen scheint. Der Gedanke der dem Foto eingeschriebenen Absenz rückt das Medium für Barthes in die Nähe der Vergänglichkeit, und macht es zu einem Medium des Todes: 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 303 <?page no="304"?> 632 Barthes, Die helle Kammer, S.-22. 633 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-95. 634 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-70. In der Phantasie stellt die Photographie (die, welche ich im Sinn habe) jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt; ich erfahre dabei im Kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung): ich werde wirklich zum Gespenst. 632 Der Theatertext El álbum familiar thematisiert diesen Zusammenhang zwischen Fotografie und Tod explizit: „El PADRE DE MI PADRE.- En esa foto estoy muy mal. No me gusta. Me la hice para dársela a tu madre. Nunca me han gustado las fotos. Parece que está uno muerto en las fotos. Bueno, adiós.” 633 Die Replik der Figur El PADRE DE MI PADRE deutet einen bedeutenden erinnerungskulturellen Aspekt an, der uns in der Folge zur Narration führen wird. Fotografie ist „contre-mémoire“. Ihre Detailfülle, die einen effet de réel auslöst, lässt laut Barthes keinen Raum für lebendige Erinnerung, für das Ausfüllen von Lücken. Aufgrund der vermeintlichen Abbildhaftigkeit des Fotos, die den metonymischen Charakter des Mediums verschleiert, fällt der noetische Akt des Erinnerns dem noematischen Gehalt der Fotografie zum Opfer. Die Bestätigung des Gewesenen wird damit gleichermaßen zur Grablegung, das Wissen um die vermeintliche Fixiertheit vergangener Wirklichkeit lässt den aktiven memorialen Rückbezug unnötig erscheinen. Das Familienalbum droht aufgrund der medialen Statik zur memorialen Grabstätte zu werden: „MI MADRE.- […] Cada boda, cada comunión, cada bautizo. Fotos amarillas y tristes de despedidas, de cosas que murieron dentro del cartón.” 634 Die erinnerungskulturelle Aktivierung der fotografischen Referenten benö‐ tigt damit eine Überführung in das Feld der Zeichen, der Materie; denn nur auf diese Weise wird der für die Erinnerungskultur maßgebliche inter-subjektive Austausch möglich. Ein Option bietet die Versprachlichung, das Sprechen und Schreiben über eingeprägte Szenen, seien diese nun fotografischer oder intelligibler Natur. 2.4.3.2 Narratives Selbstverstehen Der intramediale bzw. intermediale Rekurs (Theatertext/ Inszenierung) auf das Erzählen ermöglicht m. E. den in El álbum familiar angenommenen Übergang zwischen mémoire-répétition und mémoire-souvenir und eröffnet dadurch die Chance auf die Rekonstruktion der Identität des YO. Diese These impliziert, dass der Akt der narrativen Semiotisierung eine Integration unbewusster Erinnerung in das Bewusstsein des YO ermöglicht. Dies käme einem Ende der 304 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="305"?> 635 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-370. 636 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-370. mémoire-répétition gleich, die an die Begriffe des Traumas und der Melancholie gekoppelt ist. Was lässt nun die Behauptung zu, dass der Akt des Erzählens die Integration von Unbewusstem in das Bewusstsein begünstigt? Diese These scheint aus literarturwissenschaftlicher Perspektive zunächst fragwürdig, finden sich in dieser Disziplin doch zahlreiche Abhandlungen über Formen des unzuverläs‐ sigen Erzählens, zu denen nicht zuletzt Erzählakte gehören, die sich unter einer vermeintlichen Einschränkung des Bewusstseins vollziehen und damit unter Umständen als Formen des “unbewussten Erzählens“ betrachtet werden könnten. Zu nennen wäre beispielsweise das Erzählen im Rausch, in der Trance, während des Schlafwandels, das Erzählen eines Schizophrenen oder eines Me‐ diums, die écriture automatique o.ä. Unabhängig vom Zustand des Erzählenden verlangt jedoch jeder Akt des Erzählens das Überführen von Intelligiblem in eine materielle Struktur und Ordnung. Die Materialität der sprachlichen Zeichen, seien diese nun gesprochen oder geschrieben, verhindert die Simultaneität und Nicht-Hierarchie der Vorstellungswelt. Die von den sprachlichen Zeichen geforderte und vorgegebene Struktur zwingt den Erzählenden somit dazu, das Erzählte an diese Struktur des Mediums anzupassen. Paul Ricœur geht davon aus, dass im Zuge dieser Konfiguration ein Sinn‐ gebungsprozess stattfindet. Wir schreiben den Geschehnissen erst durch das Erzählen eine Bedeutung ein. Ricœur spricht mit Blick auf die Historiographie von einem „konfigurierenden, synoptischen, synthetischen Akt […], der mit derselben Art von Intelligibilität begabt ist wie das Urteil in Kants Kritik der Urteilskraft.“ 635 Und er fügt an: Es sind also nicht die intersubjektiven Züge des Verstehens*, die hier betont werden, sondern die Funktion des ‚Zusammenbindens’, die die Erzählung als ganze gegenüber den berichteten Ereignissen übernimmt. Am Ende einer Reihe von immer präziseren Annäherungen drängt sich die Idee auf, daß die Erzählungsform als solche bereits ein ‘kognitives Instrument’ ist. 636 Unter Berücksichtigung des von Ricœur entwickelten Modells der dreifachen Mimesis konfiguriert, ordnet und strukturiert die narrative Semiotisierung die dissonante und heterogene Lebenswirklichkeit (discordance) und wird damit zum Mittel gegen die existenzielle Krise der Zeiterfahrung. Durch Narration erlangen Geschehnisse sowie die diffuse menschliche Zeiterfahrung erst ihren Sinn bzw. ihre Ordnung, weshalb der Akt des Erzählens von Ricœur als 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 305 <?page no="306"?> 637 Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung, S. 87; sowie Liebsch, Burkhard: „Geschichte als Antwort“, in: Stückrath, Jörn/ Zbinden, Jürg (Hgg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997 (= ZIF, Interdisziplinäre Studien, Band-2), S.-199. 638 Ricœur, Zeit und Erzählung, S. 87: „Mit anderen Worten: daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“ 639 Ricœur, Paul: „Die Erzählung. Ihr Ort in der Psychoanalyse“, in: ders., Über Psychoana‐ lyse. Schriften und Vorträge, Gießen 2016, S.-225. 640 Ricœur, „Die Erzählung“, S.-232. existenziell für das Subjekt und seine Identität betrachtet wird. 637 Der Mensch muss sein Leben erzählen, anders gewendet, er muss Erlebtes erzählen, um es zeitlogisch geordnet ins Bewusstsein zu integrieren und für die Konstruktion von Identität nutzbar zu machen. 638 In seinem Aufsatz „Die Erzählung. Ihr Ort in der Psychoanalyse“ formuliert Ricœur entsprechend: Unser Selbstverstehen ist ein narratives Verstehen, daß heißt, daß wir uns niemals au‐ ßerhalb von Zeit begreifen können und folglich nicht außerhalb von Erzählung; daher gibt es eine Entsprechung zwischen dem, was ich bin und meiner Lebensgeschichte. In diesem Sinne ist die narrative Dimension für das Selbstverstehen konstitutiv. 639 Ricœur fasst die Frage nach Identität als eine hermeneutische auf, bedingt die permanente Konstruktion des Selbst doch die stetige Einpassung des Neuen in den eigenen Horizont, wodurch Identität trotz einer grundlegenden Festig‐ keit einer dauerhaften Veränderung untersteht, die man alltagssprachlich als charakterliche Entwicklung benennen könnte. Der Weg zum Selbstverständnis führt also über das hermeneutische Interpretieren und Verstehen, das Mittel der Interpretation wiederum ist die Erzählung. 640 Auf der Grundlage des Rekurses auf Ricœur sowie auf dessen Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Zeit, Erzählung und Identität kann der Akt des Erzählens als Akt der Konfiguration und damit der Sinngebung hinsichtlich des zuvor oder gerade Wahrgenommen verstanden werden. Dieser Sinn ergibt sich allein schon aus der Wahl eines Anfangs- und eines Endpunktes des Er‐ zählten. Narration meint das Erzählen von Erlebnissen bzw. von Erinnerungen an Erlebtes und ermöglicht die Integration des Erlebten in das Bewusstsein. Diese Vorüberlegungen bilden den Ausgangspunkt für die nun folgende Beschäftigung mit der Frage, auf welche Weise die Narration in El álbum familiar einen Übergang zwischen wiederholender und wahrer Erinnerung zu initiieren scheint. Dafür ist es zunächst notwendig, zu klären, wer innerhalb von El álbum familiar erzählt und, vor allem, von wo aus die Erzählinstanz erzählt. 306 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="307"?> 641 Vgl. u. a. García Martínez, El telón de la memoria, S. 229; Toro, „La auto(r)ficción en el drama“, S.-28f. Sowie: Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartsdrama, S.-207. 642 Toro, „La auto(r)ficción en el drama“, S.-237. 643 Alonso de Santos, El álbum familiar, S. 51. Vgl. zudem Amorós, „Introducción“, S. 27: „El elemento autobiográfico no se disimula sino que se exhibe desde el nombre del protagonista (Yo-José Luis) y la dedicatoria […]. El protagonista tiene el mismo número de hermanos - chicos y chicas - que su personaje.” Die Klärung dieser Fragen wird vor Augen führen, inwiefern im Theatertext El álbum familiar das Potential dafür angelegt ist, die intendierte Aufführung als performativen Akt des kollektiven Gedächtnisses zu betrachten. Wer erzählt in El álbum familiar? Einig sind sich die Interpreten darüber, dass das YO als Erzähler fungiert. 641 Doch bereits an dieser Stelle beginnen die Unschärfen. Denn, die Frage, wer mit YO gemeint ist, ist nicht ganz einfach zu klären. Da sowohl der empirische Autor, als auch die Erzählinstanz sowie die erlebende Figur den Namen José Luis tragen, wird eine Form des autobiographi‐ schen und somit faktualen Erzählens suggeriert, unabhängig davon, ob dieses nun schriftlich (Theatertext) oder gesprochen (Inszenierung) realisiert wird. Die Gleichnamigkeit vermittelt den Eindruck eines autobiographischen Stücks, einer dramatischen und theatralen Bearbeitung der Biografie des empirischen Autors, José Luis Alonso de Santos. Vera Toro sieht darin eine bestimmte Form der Autofiktion, die sie wie folgt definiert: „Autoficción I: El autor comparte el nombre o un derivado con un personaje interpretado por otro actor.“ 642 Die autobiographisch-faktuale Impression wird durch paratextuelle Signale verstärkt. Neben dem Titel, der Leben und biografische Dokumentation in ein enges Verhältnis rückt, ist hier insbesondere die Angabe der Dramatis personae zu nennen. Diese stellt nicht nur eine Auflistung von an der Handlung beteiligten Hauptfiguren dar, sondern ist ebenso als Widmung an die Personen gestaltet, die als Familienmitglieder eine bedeutende Rolle im Leben des empi‐ rischen Autors spielen: A mis padres - José y Justa - y a mis hermanos - Tere, Carmen, Pili y Juan Manuel -, protagonistas de este Álbum. El AUTOR. 643 Betrachtet man den Theatertext als Erzähltext, so ließe sich die scheinbare Einheit von Autor, Erzähler und Charakter unter Rekurs auf Gérard Genettes Unterscheidung zwischen „fictional“ und „factual narratives“ als Annäherung an eine autobiographische und damit faktuale Form des Erzählens lesen. Der Schein des Faktualen entsteht durch die vermeintliche Identität des empiri‐ schen Autors als Erzähler: „A = N à factual narrative.“ Genette bestimmt für 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 307 <?page no="308"?> 644 Genette, Gérard: „Fictional Narrative, Factual Narrative“, in: Poetics today, 11,4 (1990), S.-767. 645 Piñero, La creación teatral, S.-248. 646 Amorós, „Introducción“, S.-27. die „Autobiography“ entsprechend die Formel „A = N = C“ (A: Author, N: Narrator, C: Character). Dass jedoch weder namentliche Gleichheit noch die Integration autobiographischer Signale Garant für die Faktualität des Erzählten sein müssen, fügt Genette unter Verweis auf Autoren wie Jorge Luis Borges oder Tom Jones an: The other side of the formula (A = N à factual narrative) may seem more dubious, for nothing prevents a narrator duly and deliberately identified with the author by an onomastic feature (Criton in Chereas and Callirhoé, Dante in the Divine Comedy, Borges in El Aleph) or by a biographical one (the narrator of Tom Jones evoking his deceased wife Charlotte and his friend Hogarth, the narrator of Facino Cane evoking his residence in Rue de Lesdiguières) from telling a manifestly fictional story […]. 644 Dies berücksichtigend, wird Marga Piñero Folge geleistet, die die Bedeutung der autobiographischen Suggestion für das Werkverständnis herausstellt, ohne das Stück deshalb für eine dramatische Umsetzung der Biografie des empirischen Autors zu halten: „Difícil sería comprender la obra en su abanico polisémico si sólo entendiéramos lo que se cuenta como lo que ocurre al autor y no al personaje que actúa.“ 645 Es wurde bereits gezeigt, dass es zu den formalen Besonderheiten des Stücks El álbum familiar gehört, dass der Nebentext nicht als deskriptive Regieanwei‐ sung fungiert, sondern in Form eines inneren Monologs dargeboten wird. Andrés Amorós formuliert entsprechend: „En letra discursiva esperamos una acotación escénica, descriptiva: no lo es. En realidad, se trata de un monólogo interior narrativo en primera persona.“ 646 Die Verwendung des Präsens im Nebentext steht dabei im Gegensatz zum Gewesensein des Inhalts, entspricht jedoch dem Umstand des erneuten, wiederholten Durchlebens, auf das die adverbiale Bestimmung der Zeit „otra vez“ und das Futur „Pronto entrará MI PADRE“ aufmerksam macht. (Suena un tren a lo lejos. Estoy yo solo pisando otra vez las baldosas de mi casa, que no sé por qué es ahora toda ella grande, blanca y silenciosa. A mis pies está mi maleta abierta, vacía aún. Oigo fuera unos tremendos golpes contra las paredes. Están empezando a derribar la casa. Pronto entrará MI PADRE, nervioso, angustiado, preguntándome si tengo los billetes…). MI PADRE.- José Luis, ¿tienes tú los billetes? 647 308 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="309"?> 647 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-53. 648 Die verwendete Terminologie lehnt sich an Gérard Genettes Erzähltheorie an; vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung, München 3 2010 (= UTB, 8083), S.-140. 649 García Martínez, El telón de la memoria, S.-223. 650 García Martínez, El telón de la memoria, S.-229. 651 Fritz, Der Traum im spanischen Gegenwartsdrama, S.-207. 652 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-28. Die eigentlich „spätere Narration“ („otra vez“) fungiert damit zugleich als „prä‐ diktive Narration“ („entrará“), erscheint aufgrund des Präsens auf syntaktischer Ebene jedoch als „gleichzeitige Erzählung“. Die uneindeutige Zeitbestimmung der narrativen Instanz führt dazu, dass der Moment des Erinnerns und der erin‐ nerte Moment im Spiel der Wiederholung in sich zusammenzufallen scheinen. 648 Das Ergebnis ist Unschlüssigkeit auf Seiten des Rezipienten, dessen zeitlogische Schemata unterlaufen werden. Um der komplexen Struktur des Nebentextes gerecht zu werden, legt Anabel García Martínez die erzähltheoretische Schablone Gérard Genettes an den Thetaertext an und kommt dabei zu folgendem Schluss: En realidad se trata de un monólogo interior narrativo en primera persona, como indica la primera didascalia […]. Si seguimos a Stanzel, hablaríamos simplemente de una situación narrativa en primera persona; según Genette estaríamos ante una narración extradiegética y homodiegética con una focalización interna centrada en nuestro protagonista […]. 649 García Martinez geht somit von einem Ort des Erzählens außerhalb der er‐ zählten Welt aus. Gleichermaßen hebt sie hervor, dass die Erzählinstanz selbst innerhalb der erzählten Welt auftritt, weshalb von einem homodiegetischen Erzähler gesprochen werden kann. Ort des Erzählens und Beteiligung der Erzählinstanz an der erzählten Welt scheinen somit mit dem Verhältnis des Moments des Erinnerns bzw. Träumens und dem erinnerten Moment, dem Geträumten, zu korrespondieren. Entsprechend spricht García Martínez von einem „Yo narrador - José Luis soñando“. 650 Auch Herbert Fitz erkennt die Ebene des Träumenden als Ort des Erzählens: „Wie bei La doble hisotria del Doctor Valmy handelt es sich auch hier um ein Drama, das ganz aus der eingeschränkten Perspektive eines Erzählers gestaltet ist. […] In El álbum familiar ist der Träger der eingeschränkten Perspektive ein träumendes Subjekt.“ 651 Und auch Andrés Amorós ist der Ansicht: „El narrador se ve preso en la lógica implacable de los sueños angustiosos […].“ 652 Damit verorten die genannten Autorinnen und Autoren die Ebene des Erzählens zwar außerhalb der erzählten bzw. geträumten Welt, doch nicht 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 309 <?page no="310"?> 653 Toro, „La auto(r)ficción en el drama“, S.-241. außerhalb des dramatischen Raums. Denn der Träumende, der sich auf einer der beiden im Theatertext konstituierten Fiktionsebenen befindet, ist, obgleich die Ebene nur evoziert wird (off-stage), immer noch Teil der dramatischen Kommunikationsebene. Erzähltheoretisch formuliert, würde sich der Erzähler damit auf der (intra-)diegetischen Ebene befinden, das Geträumte wiederum wäre Teil der Metadiegese. Dies würde bedeuten, dass die von García Martínez vorgenommene Gleichsetzung der Erzählinstanz mit dem Träumenden („Yo soñando“) nicht mit dem von ihr festgestellten Ort des Erzählens korrespondiert, hatte sie den Text doch als „una narración extradiegética“ eingestuft. Geht man mit García Martínez davon aus, dass der Ort des Erzählens außerhalb der Diegese liegt, so würde der soñador als Erzähler strukturell nicht mehr in Frage kommen. Etwas flexibler gestaltet sich die Analyse von Vera Toro. Sie verortet den Erzähler auf einer extradiegetischen Ebene, merkt jedoch an, dass das „yo nar‐ rando“ ebenso innerhalb der erzählten Welt agiert. Zudem, so Toro, suggeriere die Erzählinstanz ihre Präsenz auf der Ebene des impliziten Autors. Eine solche Perspektive unterstellt der Erzählinstanz eine Unabhängigkeit von den Ebenen bzw. eine diegetische, ja metaleptische Flexibilität. El el Álbum familiar, excepcionalmente, un hablante extradiegético y homodiegético se encuentra como yo narrando en el nivel 3 [nivel extradiegético] y tiene ‘aspira‐ ciones’ metalépticas […] hacia el nivel 2 [nivel intratextual, autor implícito]. Además se encuentra como yo narrado/ personaje y ‘director’ de sus familiares en el mismo nivel intradiegético que los demás y reúne así las instancias del hablante extradiegético y un personaje ‘narrador’ jerárquicamente separados normalmente. 653 In Abgrenzung zu diesen Interpretationsansätzen soll in der Folge eine Analyse vorgelegt werden, die weder eine paradoxe Verbindung des Träumens, also des unbewussten Erinnerns, mit dem Akt des Erzählens, des bewussten Erin‐ nerns, vornimmt, noch versucht, allein mit erzähltheoretischer Terminologie auszukommen. Stattdessen soll der Akt des Erzählens im Theater als Mittel zur Überführung unbewusster Erinnerung in das Feld des Bewusstseins gedeutet und damit als Grundlage für einen performativen Akt des kollektiven Gedächt‐ nisses verstanden werden. Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildet zunächst die Annahme von drei statt zwei Ich-Instanzen. Die erwähnten Analysen gehen größtenteils von einer träumenden und einer geträumten Ich-Instanz aus, gewissermaßen in Analogie zu den zwei festgestellten Fiktionsebenen. Einzig Marga Piñero tendiert zu einer Dreiteilung, wenn sie von einer „visión tridimensional del protagonista“ 654 310 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="311"?> 654 Piñero, La creación teatral, S.-250. 655 Piñero, La creación teatral, S.-250. 656 Piñero, La creación teatral, S.-250. spricht: „Es decir, tenemos un personaje que es a la vez personaje-actor, autor y director.“ 655 Als „autor“ erzählt der Protagonist, was geschehen ist, als „director“ sagt er voraus bzw. an, was zu geschehen hat, und als „personaje-actor“ erlebt er das Erzählte und Angesagte erneut. Doch obwohl Piñero diese Dreiteilung erkennt, bleibt sie vage bezüglich der Frage, von welchem Ort aus erzählt wird. Vielmehr erscheint es so, als würde sie aufgrund der Namensgleichheit den Akt des Erzählens implizit einer personalen Einheit namens YO zusprechen. Der Hauptfigur wird zugleich die Funktion des Autors bzw. Schöpfers der erzählten Welt, eines determinierenden Spielleiters („director“) wie auch eines Schauspie‐ lers zugesprochen, ohne dass damit eine explizite Antwort darauf gegeben wäre, ob sie die Erzählinstanz auf einer Ebene außerhalb des dramatischen Raums verortet oder nicht. Allerdings, und dies ist von Relevanz für die Beschreibung der erinnerungskulturellen Wirkmacht des Theatertextes, unterstreicht Marga Piñero einen wichtigen rezeptionsästhetischen Effekt, den die Einführung einer Erzählinstanz mit sich bringt: Hecho de este profundo interés para el lector-espectador ya que se convierte en cómplice del personaje, y de muy compleja resolución para el director del montaje escénico. Y no sólo eso, también descubrimos que este monólogo interior del personaje reflejado en las acotaciones, a través de la evocación de sus recuerdos, va conduciendo la historia, con lo que, de alguna manera, el Yo también se convierte en director de la propuesta escénica, pues desde las acotaciones nos informa y nos aporta datos concretos del movimiento escénico. 656 Die Einführung einer epischen Vermittlungsinstanz, die ihre Erinnerungen unmittelbar zur Aufführung zu bringen und damit die Vergangenheit des Erin‐ nerten, die Gegenwart des Erzählens und die Zukunft der Aufführungssituation zu bündeln scheint, setzt die Rezipienten in ein enges Verhältnis zur Erzählin‐ stanz. Diese Erkenntnis gilt es nun im Rahmen eines eigenen Analyseansatzes weiterzuverfolgen und zu vertiefen. 2.4.3.3 Das ‚theatralische Ich’ - das Ende der mémoire-répétition? Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach einer möglichen Über‐ windung der mémoire-répétition ist die Beschreibung der drei Ich-Instanzen im Theatertext El álbum familiar. Ohne sich für eine biographische Lektüre stark machen zu wollen, so erscheint es von Interesse, dass der Autor José Luis Alonso de Santos kurz vor der Abfassung des Theatertextes zwei prägenden literari‐ 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 311 <?page no="312"?> 657 Cabal/ Alonso de Santos, El teatro español de los 80, S.-157 658 Klinkert, Thomas: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard, Tübingen 1996 (= Romanica Monacensia, 48), S. 53. schen Einflüssen ausgesetzt war. Zum einen war der spanische Dramatiker in die Lektüre von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu vertieft, zum anderen hatte er kurz vor der Abfassung des Textes im Rahmen eines Theaterfestivals im venezolanischen Caracas eine Aufführung des Sürcks Wielopole, Wielopole des polnischen Theaterkünstlers Tadeusz Kantor besucht, die ihn nachhaltig beeindruckte. In seinem 1985 veröffentlichen Interview mit Fermín Cabal formuliert Alonso de Santos: „Cuando yo vi en Caracas a Kantor, llevaba un año metido en Proust, y de ahí arrancan, creo, las principales influencias que pueda tener mi última obra [El álbum familiar, D.H.].“ 657 Zwar wird in der Folge nicht beabsichtigt, in El álbum familiar den Spuren Prousts und Kantors im Einzelnen nachzuforschen, doch dienen diese beiden Referenzen als hilfreiche Vergleichsfolie bei der Analyse der narrativen und metatheatralen Elemente, durch die sich der Theatertext auszeichnet. Auch bei Proust hören empirischer Autor, Erzähler und Figur auf denselben Namen: Marcel. Die Brücke zu Prousts Recherche bildet jedoch nicht die sugge‐ rierte Identität zwischen Lebenswelt und Fiktion, sondern die Existenz dreier Ich-Instanzen. Zu den Besonderheiten der Recherche gehört es, dass es neben dem erlebenden (le héro) und dem erzählenden Ich (le narrateur) auch ein erinnerndes Ich gibt, welches seit der einflussreichen Proust-Studie von Marcel Muller (1965) als ‚je intermédiare’ bezeichnet wird. Dieses je intermédiare insomniaque ist es, das die berühmten Einleitungssätze des Romans spricht, durch die der Leser in das drame du coucher eingeführt wird. Erst die Etablierung des erinnernden Ichs scheint die Recherche zu einem Roman über die Entstehung eines Romans werden zu lassen, ist es doch dieses je intermédiare, das in der mémoire involontaire den Zugang zum Schreibakt entdeckt. Der Weg zum Schreiben und damit zum Erzählen sowie zur Identität als Schriftsteller wird durch das unfreiwillig erinnernde Ich überhaupt erst geebnet: „Ein erinnerungs‐ loser Ich-Erzähler sucht seine Identität. Die kontingente mémoire involontaire soll ihm bei seiner Suche helfen, soll ihm seine verlorene Vergangenheit in ihrer Totalität und somit deren Essenz wieder zurückgeben.“ 658 Im Gegensatz zur mémoire volontaire, der fragmentarischen Erinnerung des Verstandes, wird die mémoire involontaire durch eine affektiv-sensorielle Wahrnehmung ausgelöst, die, einer Epiphanie gleich, zum Nadelöhr der sich ausfaltenden Erinnerung wird. Der Erfolg der Erinnerung, und damit des Schreibens, stellt sich ein, wenn der affektiv-sensoriellen Identität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, beispielsweise durch den Geschmack einer 312 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="313"?> in Lindenblütentee getauchten Madeleine, die archäologische Freilegung der Trouvaille folgt. Das Erinnern führt so zum Erzählen, ohne dass der Erinnernde mit dem Erzähler gleichzusetzen wäre. Diese Opposition wird u. a. in der Madeleine-Episode deutlich, in der das erzählende Ich sich, im Rahmen einer Parenthese, in die Erinnerungen des je intermédiare einschiebt und zu Erkennen gibt. Auch im Stück El álbum familiar sind m. E. ein erlebendes, ein erinnerndes und ein erzählendes Ich zu unterscheiden. Erinnern, Erzählen und Erleben stehen hier jedoch in einem anderen Verhältnis als dies bei Proust der Fall ist, was sich nicht nur aus der Tatsache ergibt, dass es sich bei El álbum familiar um einen Theatertext handelt. Der Erinnernde in El álbum familiar ist ein Träumender, das Erinnerte somit unbewusst Erinnertes und nicht etwa Erinnertes, das durch einen affektiven oder sensoriellen Impuls ins Bewusstsein gelangt und somit dem Intellekt zugänglich wird. Bei Proust mündet das Erinnern bzw. das Wiederfinden des Verlorenen in eine Integration ins Bewusst‐ sein und damit in der Möglichkeit der diskursiven Überführung, im Erzählen. Während sich bei Proust diese Integration der Erinnerungen in das Bewusstsein also schon innerhalb der erzählten Welt vollzieht und somit innerfiktionaler Schreibimpuls und lebensweltliches Schreiben am Roman zugleich befördert, gelingt diese Integration im Falle von El álbum familiar gerade nicht innerhalb der dargestellten Welt. Bei Alonso de Santos eröffnet indes nicht der Erinnernde die Möglichkeit des bewussten Erinnerns, sondern der Erzähler, der ein Ende des traumatischen Kreises der Wiederholung denkbar werden lässt. Dies gelingt, weil der Erzähler als epische Vermittlungsinstanz außerhalb des dramatischen Raums zu verorten ist und es sich nicht, wie vielfach angenommen, um einen erzählenden Träu‐ menden innerhalb des dramatischen Raums handelt. Der Träumende erinnert unbewusst, doch er erzählt nicht. Würde er das tun, würde die Erinnerung aufhören unbewusst zu sein, die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse würden auf der Ebene des nicht mehr Träumenden, sondern erwachten YO, zu Zeichen und damit manifest, wodurch der Wiederholungszwang wiederum ein mögliches Ende finden würde. Doch dieser Schritt scheint auf dramatischer Ebene immer wieder zu misslingen, führt die unbewusst erinnerte Initiations‐ reise doch wieder und wieder zur Katastrophe, dem Trauma der Trennung, die die dramatische Handlung an den Anfang zurückwirft. Das Ende der mémoire-répétition scheint sich also von einer anderen Ebene aus als der dramatischen realisieren zu müssen. Der Erzähler in El álbum familiar ist, so die Behauptung, nicht auf derselben Kommunikationsebene positioniert wie das erlebende Ich und das träumende 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 313 <?page no="314"?> Ich. Er kommuniziert nicht auf der dramatischen Ebene, sondern positioniert sich auf der theatralischen Kommunikationsebene und nimmt damit die Per‐ spektive des Publikums ein. Während Marga Piñero und Anabel García Martínez versuchen, die Metaperspektive des Erzählers mit erzähltheoretischen Begriffen zu fassen, soll die Position des Erzählers in dieser Arbeit mit theatertheoreti‐ schen Konzepten und unter Berücksichtigung der rezeptionsästhetischen Impli‐ kationen erklärt werden. Statt als extradiegetischer Erzähler soll die erzählende Ich-Instanz daher als ‚theatralisches YO’ bezeichnet werden. Die strukturellen Konsequenzen der Etablierung eines theatralischen Ichs, eines Ich-Erzählers auf theatralischer Ebene, lässt sich auf der Grundlage der theoretischen Ausführungen aus dem Theorie-Kapitel zur Überwindung des Als-ob genauer beschreiben. Die Erweiterung der fiktionalen Welt auf den theatralischen Raum führt zu einer perspektivischen Involviertheit der Zuschauer. Anders gewendet, die perspektivische Komplizenschaft des theatra‐ lischen YO mit den Zuschauern hat zur Folge, dass sich ihnen das Dargestellte, das Geträumte, so präsentiert wie es sich dem theatralischen YO präsentiert. Die Meta-Perspektive erlaubt es dem theatralischen YO, die Gegenwartsperspektive des Erlebenden und die Vergangenheitsperspektive des unbewusst Erinnernden gleichermaßen einzunehmen. Indem es Erlebtes erinnert, beschreibt und zudem zu bestimmen vermag, wird das theatralische YO zur hybriden Instanz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es verschränkt Re-Präsentation und Präsentation in sich und bewegt sich auf diese Weise am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation. Der gemeinsamen Kommunikationsebene ent‐ sprechend nimmt auch das Publikum das Dargestellte präsentisch (Erleben), als etwas sich gerade Vollziehendes, und repräsentativ (Erinnern), als Re-Präsenta‐ tion des Gewesenen, wahr. Gemeinsam mit dem theatralischen YO blicken die Rezipienten auf das Geträumte und befinden sich mit ihm auf dem Ermöglich‐ ungsgrund der identitären Rekonstruktion. Diese ist innerhalb des dramatischen Raums aufgrund der strukturell nicht zu überwindenden Distinktion zwischen Träumendem und Geträumtem nicht möglich gewesen. Auch Marga Piñero erkennt die erinnerungskulturelle Kraft des Stücks El álbum familiar in dieser strukturellen Komplizenschaft zwischen Erzählinstanz, in dieser Studie als theatralisches YO definiert, und Publikum: Estos personajes, que comparten el mismo espacio y tiempo del público, a veces funcionan como un personaje más de la obra y otras dirigen el espectáculo desde el mismo escenario, son los que crean un vínculo estrecho con el espectador, acortando 314 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="315"?> 659 Piñero, La creación teatral, S.-267. 660 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-76f. distancias temporales y espaciales, ya que su función principal será ser cómplice de ese público, ayudarlo a realizar ese viaje por el recuerdo […]. 659 Die theatrale Dialektik macht es also möglich, dass sich das theatralische YO zugleich als “liminales YO“ zwischen, oder besser über (> meta-) den Ebenen des Erlebens und des Erinnerns bewegen kann. Es gleicht aufgrund dieser Zwischenposition in gewisser Weise dem je intermédiaire aus der Recherche, haben doch beide Ich-Instanzen offensichtlich die Funktion, die Konstruktion von Identität zu befördern - sei diese nun die des Romanschriftstellers oder die des Dramatikers und Regisseurs. Die theatralische Perspektive erlaubt es dem YO, das Geschehen als Erin‐ nertes zu erkennen und es zugleich zu durchleben. Die Verwendung von Ver‐ gangenheitsformen kündigt in den folgenden Repliken jeweils einen reflexiven Kommentar an, der nicht von der Zeitebene des Geträumten aus vollzogen werden kann. Vielmehr wird die Reflexion von der Zeitebene des Träumenden aus vorgenommen, auch wenn es nicht der Träumende bzw. unbewusst Erin‐ nernde selbst ist, sondern ein theatralisches YO, das das Erlebte mit zeitlichem Abstand kommentiert und gleichzeitig miterlebt. Der Umstand, das es sich um einen Theatertext handelt, führt dazu, dass die Reflexion die Ebene des Erlebten zugleich indirekt als Spiel im Spiel markiert, erzähltheoretisch gewendet, als Metadiegese. Der folgende Auszug ist der dritten Traum-Szene entnommen: (Y cantamos. Cantamos primero “Asturias, patria querida”, sin demasiadas ganas, mezclando nuestro canto con el traqueteo del tren. Don Demetrio nos va dando a todos leche en polvo y queso americano como en el colegio. Sabía un poco a rancio, pero nos sentíamos mejor después de comerlo.) […] (Y canta MI ABUELA con una voz delgadita y como de otro mundo. Siempre le gustó mucho la canción aunque no era de Falange ni nada. Como además mi abuelo murió en un bombardeo y ella no sabía de quién eran los aviones, estaba contra las dos partes. Pero la canción le gustaba mucho. Y se la oí cantar de pequeño mientras fregaba, con su vececilla infantil.) 660 Das Changieren zwischen der Ebene des Erlebens (Spiel im Spiel) und der Ebene des Erinnerns, die mit einer Aktualisierung der theatralischen Ebene einhergeht, erinnert stark an die Theaterästhetik des polnischen Theaterkünstlers Tadeusz Kantor (1915-1990). Kantor lehnte seine Theater-Ästhetik an der Struktur von Ritualen, genauer, von Erinnerungsritualen an, indem er, beispielsweise in 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 315 <?page no="316"?> 661 Piñero, La creación teatral, S.-266. dem nach seiner Heimatstadt benannten Stück Wielopole Wielopole (1980), Erinnertes darstellte und dieses zugleich einem erneuten Durchleben zugänglich machte. Dieses Spiel mit der Dialektik der Repräsentation gelang ihm, indem er sich während der Aufführung als Regisseur, Dramaturg, Schauspieler und Zu‐ schauer gleichermaßen auf der Bühne bewegte, die dargestellten Erinnerungen veränderte, Einfluss auf das Spiel der Schauspieler nahm oder das Erinnerte auf der Bühne sitzend beobachtete. Die derart vorgenommene Aktualisierung des präsentischen Wahrnehmungsmodus wird in El álbum familiar durch die Etablierung der drei Ich-Instanzen erreicht. Zudem nähert sich der Theatertext, genau wie Wielopole Wielopole dem ritualhaften, zeremoniellen und damit postdramatischen Theater an. Es geht nicht nur um die Repräsentation von etwas, sondern um das erneute Durchleben des Dargestellten. Marga Piñero unterstreicht vor diesem Hintergrund zurecht die Nähe von Wielopole Wielopole und El álbum familiar: „La elección del rito como plataforma estética y ética traza una línea de unión entre Wielopole Wielopole de Kantor y El álbum familiar […].“ 661 Beide Dramatiker bringen Erinnertes auf die Bühne, beide Dramatiker erinnern an den Krieg, Kantor an den zweiten Weltkrieg, Alonso de Santos an den Spanischen Bürgerkrieg. Und beide Dramatiker schreiben ihren Stücken das Potential ein, als performativer Akt des kollektiven Erinnerns zu fungieren, indem sie Repräsentation und Präsentation, Erinnern und Erleben zugleich erfahrbar machen. Dies gelingt durch metatheatrale Techniken, die das Dargestellte zugleich als vermeintlich lebensweltlich Erinnertes offenlegen um es einem gemeinsamen theatralen Erinnerungsritual freizugeben. Es entsteht die Suggestion, dass der empirische Autor als Erzähler und Figur dem Publikum auf der theatralischen Kommunikationsebene begegnet und es, verbunden durch den gemeinsamen Blick, zu Zeugen einer persönlichen Erinnerungsreise werden lässt. Der Zusammenfall von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist also nicht einzig der onirischen Rahmung auf dramatischer Ebene geschuldet, sondern ist als anti-strukturelles Moment aufzufassen, durch das sich liminale Ereignisse wie Rituale charakterisieren. Erneut zeigt sich, dass es sich beim Theater um ein privilegiertes Erinnerungsmedium handelt, kann der paradoxen Verquickung von Gegenwart und Vergangenheit, Erleben und Erinnern, wie sie für Erinnerungsrituale kennzeichnend ist, theaterstrukturell durch die bewusste Überlagerung von präsentischem und repräsentativem Wahrnehmungsmodus zum Ausdruck verholfen werden. Die dargestellte Zeit und die Zeit der Darstel‐ lung werden gleichermaßen aktualisiert, Erlebtes wird im nächsten Moment 316 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="317"?> 662 Piñero, La creación teatral, S.-267. 663 Kasper, Sprachen des Vergessens, S.-104. erinnert bzw. Erinnertes wird im nächsten Moment erlebt. Dadurch wird die Aufführungssituation zu einem liminalen Ereignis: „El tiempo […] coincide en muchos momentos con el tiempo de los espectadores y esta coincidencia ayuda al público a situarse en el ‘ahora‘ intemporal de la obra.“ 662 Gemäß der dieser Studie zugrunde liegenden Annahme, dass die ethische Kraft des erinnerungskulturellen Theaters auf perzeptive Uneindeutigkeit (hésitation) gründet, die sich zwischen den beiden Wahrnehmungsmodi der Repräsentation und der Präsenz verortet, gewissermaßen am Knotenpunkt der Dialektik der Repräsentation, kann auch El álbum familiar als Beispiel für den wirkmächtigen Aufbau erinnerungskultureller Phantastik betrachtet werden. Durch die perzeptive Uneindeutigkeit wird den Zuschauer eine ästhetische Erfahrung gewährt, die sich aus der strukturell bedingten Beteiligung an einem selbsttherapeutischen Akt der Identitätsrekonstruktion ergibt. Erinnern wir uns an dieser Stelle an die psychoanalytische Deutung von Träumen, die sich selbst auf Traumberichte, also das Erzählen von Träumen stützt. Die Narration des Geträumten, die sog. Traumerinnerung, dient als Grundlage für die Dekodierung der Verdrängungswiderstände, die den Wieder‐ holungszwang erst entstehen lassen. Erneut soll an dieser Stelle das bereits verwendete Zitat von Judith Kasper in Gänze aufgenommen werden, das den wichtigen Zusammenhang von wiederholender und wahrer Erinnerung, Bewusstsein und der Methode des Durcharbeitens unter Rekurs auf Sigmund Freud verdeutlicht: Die Therapie versucht, den Wiederholungszwang über das Durcharbeiten in echte Erinnerung überzuführen, indem unter anderem der Widerstand bewußt gemacht, da‐ nach durchbrochen und schließlich die Akzeptanz bestimmter verdrängter Elemente herbeigeführt werden soll. […] Das Durcharbeiten meint ein Vertiefen in die Wider‐ stände, ein Wiederholen, jedoch im Sinne einer Deutungsveränderung, Reparation, Ausbesserung, durch welche die Befreiung des Subjekts vom Wiederholungszwang begünstigt werden kann. 663 Der Prozess des Durcharbeitens ist folglich auch für die Indentitätskonstruktion von Bedeutung, setzt diese doch die Integration des Erinnerten in das Bewusst‐ sein, die hermeneutische Eingliederung in den Bewusstseinshorizont, voraus. Der narrative Charakter des Durcharbeitens macht das Erzählen damit zum Mittel der Identitätskonstruktion. Das Vertiefen in die Widerstände wie auch die Wiederholung stehen in Analogie zur dramatischen (Innen-)Perspektive, 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 317 <?page no="318"?> 664 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-54. zum erneuten Erbzw. Durchleben des Erinnerten. Dahingegen erlaubt die theatralischen (Außen-)Perspektive die reflexive Betrachtung der Geschehnisse und öffnet auf diese Weise Raum für eine Deutungsveränderung, die letztlich in eine Akzeptanz des Verdrängten münden kann. Durcharbeiten bedeutet somit nicht Distanzierung von Erinnertem, sondern vielmehr eine Heraus- und Hinein-Bewegung, ein Oszillieren zwischen Beteiligung und Abstand, gleich den Bewegungen eines Maler, der einen Schritt zurückgeht, um das Gemälde aus einiger Entfernung zu betrachten, um den Pinsel danach erneut anzusetzen. Durch ein solches Oszillieren zwischen Innen und Außen, dramatischer und theatralischer Perspektive, charakterisiert sich auch der Theatertext El álbum familiar; dieses Changieren mimt zugleich die therapeutische Bewegung des Durcharbeitens, die einen theatralischen Blick auf das Geschehen voraussetzt. Der Wechsel zwischen temporalen Deiktika oder Zeitstufen soll somit gerade nicht als innerdramatischer Wechsel zwischen der Ebene des Träumenden und des Geträumten verstanden, sondern kann als Wechsel zwischen der dramati‐ schen und der theatralischen Perspektive gelesen werden. Diese Bewegung markiert den Traum immer wieder als Spiel im Spiel, ohne den fiktionalen Charakter des Gesamtspiels auf theatralische Ebene in Frage zu stellen. Der Spielcharakter des Geträumten wird dadurch intensiviert, dass sich nicht nur YO, sondern auch die übrigen Figuren ihrer im Traum übernommenen Rollen bewusst sind. Sie nehmen zudem den inneren Monolog des YO wahr, was den Nebentext erneut in die Nähe der dramaturgischen Vorgabe rückt. So reagiert etwa in der ersten Traumszene MI ABUELA unmittelbar auf einen im Nebentext geäußerten Gedanken von YO: ([…] ¿Por qué voy a llorar? […] Por el gato ese asqueroso que me araña cada vez que me ve? ) MI ABUELA.- Se queda con la vecina, la señora Antonia, que lo va a tratar muy bien, no te preocupes…“ 664 Je bewusster sich das theatralische YO seiner determinierenden, spiel- und somit erinnerungsbestimmenden Funktion wird, desto spürbarer nimmt es Einfluss auf der Ebene des Erlebens. (Y empezamos a caminar, pero nos vamos en círculo, dando vueltas y vueltas una y otra vez sobre nosotros mismos. […]) […] (Entonces YO empiezo a gritar en mitad de mi sueño.) 318 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="319"?> 665 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-62f. 666 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-86. 667 Piñero, La creación teatral, S.-266. YO.- ¡Vámonos! ¡Vámonos de aquí para siempre! ¡Tenemos que poder salir! ¡Tenemos que poder marcharnos de aquí! ¡Marcharnos de aquí! ¡Marcharnos! ¡Marcharnos! ¡Marcharnos! … (Y un ruido ensordecedor apaga la luz de mi pesadilla, desapareciendo todas las sombras en la oscuridad de mi mente.) 665 Da der Traum zugleich dramatische Handlung bedeutet, kann der Hinweis auf den Schrei im Traum auch als Handlungsvorgabe für das erlebende YO verstanden werden. Dieses setzt die Vorgabe unmittelbar um und beeinflusst auf diese Weise die dramatische Handlung entscheidend, denn der Schrei kündigt nicht nur das Ende der Traumszene an, sondern ebenso den damit vollzogenen Ortswechsel, den Beginn der Reise. Durch die Lichtmetaphorik wird die Verbindung zwischen escena und mente zusätzlich intensiviert. Das Oscuro markiert nicht nur die Grenze zwischen den Theater-, sondern ebenso zwischen den Traum-Szenen. Die bewusste Modifikation der dramatischen Handlung erinnert an den Prozess des Durcharbeitens. Bei diesem Bewusstwerdungsprozess scheinen ihn die anderen Figuren zu unterstützen: „MI HERMANA MAYOR.- Lo que podíamos hacer, mientras esperamos, es celebrar el cumpleaños de Pili. ¿Quieres, José Luis? “ 666 Durch die figurale Aktualisierung des YO als Spielleiter zeigen die Figuren ihre eigenen Rollen innerhalb des Traum-Spiels an und führen den ritualhaften Charakter des Dargestellten vor Augen, in dem den Figuren bestimmte Funktionen in Bezug auf den Protagonisten/ Initianden zukommen. Die Ausrichtung der Figuren, bei denen es sich durchweg um Typen handelt, auf die Hauptfigur entspricht demnach nicht nur der Subjektivität des Traums, son‐ dern ebenso der Überhöhung des Initianden während eines Rituals: „Además, los personajes - y los actores - del ritual no son tanto individuos como tipos […].“ 667 Im Laufe der Initiationsreise weicht die anfängliche Orientierungslosigkeit des theatralischen YO. An ihre Stelle tritt die Erkenntnis, das Wissen um das Erlebte und die damit verbundene Fähigkeit, das Erlebte zu erinnern und zu modifizieren. Zu Beginn der sechsten und letzten Traum-Szene tritt das theatralische YO selbstbewusst als Spielleiter auf, um die Ebene des Erlebens zu determinieren. Er positioniert die Figuren gemäß seiner Erinnerungen und gibt ihnen Instruktionen für den weiteren Handlungsverlauf, um, kurz nachdem sich 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 319 <?page no="320"?> 668 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-105f. die Figuren erneut in ihre Rollen eingefunden haben, selbst wieder die Rolle des erlebenden YO einzunehmen: (Y estamos ya en el andén. Hay una gran confusión de gentes y ruidos a nuestro alrededor. Las altavoces llenan el lugar de órdenes a ejecutar, de leyes a obedecer, de normas de consignas, de propagandas. Miro a los míos y les veo más envejecidos, cansados, como negándose a revivir los últimos recuerdos. Entonces YO les coloco en sus lugares, les doy la últimas instrucciones, y todo comienza una vez más a suceder.) YO.- Tú estabas aquí, padre, tú a su lado, mamá. La abuela no, se había quedado en la sala de espera. Vamos abuela, vamos. Tiene que quedarse dentro. Llévese su butaca de mimbre. Llévesela ya. Vosotros aquí. Es sólo la familia; nuestros fantasmas no entran hasta después. Pitaba el tren. Sonaban los altavoces con órdenes. ALTAVOCES.- „…colóquense en filas… todos con las documentaciones a punto… sigan las instrucciones… preparen con los billetes.“ YO.- Pasan ahora los dos guardias civiles a nuestro lado con el preso. Pasen. Pasen ya. GUARDIA CIVIL 1.- Adiós, adiós, señores. Buen viaje. GUARDIA CIVIL 2.- Adiós, y mucho gusto. YO.- Y tú, padre, estabas preocupado porque no nos perdiéramos ninguno. Y tú, mamá, lo decías lo de los cupones. MI PADRE.- Sí, ya me acuerdo. ¡Venid todos! Cuidado, todos juntos, no vayáis a perderos alguno. MI MADRE.- José, debería repartir los cupones […] […] MI PADRE.- Sí, toma tú esto, José Luis. YO.- ¿Yo? Yo no quiero. ¿Por qué yo? 668 Der Übergang zwischen theatralischem und dramatischem Blick ist mit der letzten Replik abgeschlossen („YO.- ¿Yo? Yo no quiero. ¿Por qué yo? ”). Die therapeutische Bewegung des Durcharbeitens wird mit der dramaturgischen Modifikation der Aufführung in Analogie gesetzt, das Arbeiten am Intelligiblen wird zur Arbeit am fiktionalen Geschehen und das Theater zum Ort der Überwindung der Verdrängungswiderstände. Die letzte Didaskalie der sechsten Traum-Szene nährt tatsächlich die Hoff‐ nung auf die erfolgreiche Integration der Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse ins Bewusstsein des theatralischen YO. Diese Hoffnung speist sich aus der Akzeptanz, die die Ebene des Erlebenden und des Erinnernden zusam‐ menzuführen und die identitäre Rekonstruktion bis kurz vor den Abschluss zu bringen scheint. Der fallende Vorhang verhindert jedoch die letzte Gewissheit 320 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="321"?> 669 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-111. auf Seiten des Rezipienten, so dass gegenüber der dramatischen Wiederho‐ lungsbewegung zwar ein theatralisches Ende der Wiederholung in Aussicht gestellt wird, dieses jedoch aufgrund des strukturbedingten Zusammenfalls des theatralischen Raums am Ende einer jeden Aufführung nicht vollends eingelöst werden kann. ([…] Y el tren arranca lentamente. Les mando mis lágrimas en el tiempo mientras me alejo y ellos van desapareciendo al fondo. Entonces desenvuelvo lo que me dio MI PADRE, y lo miro. Es un álbum. El álbum familiar. Lentamente empiezo a pasar sus hojas, y descubro por qué tengo que ir, porque me tuve que ir, mientras el tren avanza.) TELÓN. 669 Die narrative Manifestierung des Verdrängten auf theatralischer Ebene durch eine epische und zugleich therapeutische Vermittlungsinstanz beteiligt die Zuschauer am Prozess des Durcharbeitens. Im Sinne der diese Studie leitenden These, die das erinnerungskulturelle Theater der Generación del 82 als ein Theater definiert, das das Nicht-Erinnern des Unvergesslichen ästhetisch ver‐ arbeitet und diese Verarbeitung zugleich zu einem erinnerungskulturellen Akt ausgestaltet, wird El álbum familiar daher als Akt des gemeinsamen Durchar‐ beitens von verdrängter Vergangenheit begriffen. Die Zuschauer werden durch die strukturelle Komplizenschaft mit dem theatralischen YO zu Zeugen eines ritualähnlichen, theatertherapeutischen Pro‐ zesses. Der Umstand, dass diese theatrale Selbstheilung, genauer, die theatrale Rekonstruktion des Selbst überhaupt gelingen kann, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass dieser Prozess eben nur innerhalb des Theaters durchführbar ist. Konstitutiv für die Theatersituation ist, gemäß des bereits zitierten Ausspruchs von Eric Benley - „A impersonates B while C is looking“ - das Publikum. Dieses ist somit auch für den Prozess des theatralen Durcharbeitens unabdingbar. Die Rekonstruktion des YO gelingt einzig dank der besonderen Struktur der Theatersituation, die die Widerstände des dramatischen Raums durch eine Erweiterung desselbigen auf den theatralischen Raum auszuhebeln imstande ist. Das Theater wird zum therapeutischen Raum, und so wie es keine klassische Psychoanalyse ohne Analytiker geben kann, so kann es keinen performativen Akt des Durcharbeitens im Theater geben, wenn diejenigen absent sind, die die Theatersituation überhaupt erst konstituieren. Die Zuschauer von El álbum familiar sind demnach mehr als Zuschauer und Zeugen, sie sind in der Position des Analytikers konstitutiver Teil einer möglichen Integration des Verdrängten 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 321 <?page no="322"?> 670 Alonso de Santos, El álbum familiar, S.-111. 671 Piñero, La creación teatral, S.-270. in das Bewusstsein. Diese Integration scheint lediglich am Ende der Auffüh‐ rungssituation offengehalten. Die mit dieser ästhetischen Erfahrung verbundene rezeptive Verantwortung ergibt sich m. E. aus der perzeptiven Komplexität des Stücks, das auf dramati‐ scher Ebene die unendliche Wiederholung ebenso als Ende anbietet, wie sie auf theatralischer Ebene die Hoffnung auf die finale Integration des Geschehenen ins Bewusstsein und den Übergang zur mémoire-souvenir nährt. Der Fall des Vorhangs lässt den Zuschauer im Unklaren darüber, ob das versöhnliche Ende, die Akzeptanz über Geschehenes („descubro“), gleichbedeutend ist mit dem Ende der Wiederholung, dem erneuten Durchleben des Familienalbums. Doch anders als die im dramatischen Raum verortete Figur erlaubt das Theater eine kathartische Kippbewegung. Im Sinne Barthes: Die Fotografie ist das „tote Theater des Todes“, weil sie tötet und aufgrund der Licht-Spur zugleich Lebendigkeit suggeriert. Sie ist undialektisch und verleitet zur unendlichen Wiederholung auf der Ebene der These. Das Theater hingegen bietet die Chance auf den dialektischen Umschlag, den Übergang von der Melancholie zur Trauer, zur Integration der punktierenden Affekte ins Bewusstsein. Dieser Übergang von der Melancholie zur Trauer scheint sich nicht zufällig im Rahmen des inneren Monologs in der letzten Didaskalie anzukündigen: „([…] Y el tren arranca lentamente. Les mando mis lágrimas en el tiempo mientras me alejo y ellos van desapareciendo al fondo. […])”. 670 Die ethische Verantwortung des Zuschauers von El álbum familiar liegt in der Bewegung von der Melancholie zur Trauer. Das Ende der Aufführungssituation erlaubt den Übergang von der Melancholie der unendlichen Wiederholung zur Trauerarbeit. Marga Piñero zufolge steht El álbum familiar aufgrund der strukturellen Annäherung an performative Veranstaltungsformen exemplarisch für die ästhetische Transformation der spanischen Bühne nach 1975. Was auf den europäischen Bühnen bereits dem theaterästhetischen Standard entsprach, wurde u.-a. von den in dieser Studie behandelten Vertretern der Generación del 82 im spanischen Theater etabliert: La propuesta de El álbum familiar era novedosa en España, aunque, como hemos visto, otros autores estaban también compartiendo estas líneas estéticas, y pudo ser que provocara cierto desconcierto. 671 Angesichts der Bedeutung des Nebentextes, welcher die Verschränkung von Erleben und Erinnern erst zur ästhetischen Erfahrung werden lässt, soll der 322 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="323"?> 672 Toro, „La auto(r)ficción en el drama“, S.-239. 673 García Martínez, El telón de la memoria, S.-225. 674 Weitere Überlegungen und Informationen zur unmittelbaren Rezeption von El álbum familiar finden sich bei García Martínez, El telón de la memoria, S.-225. Behauptung von Vera Toro, es handle sich bei El álbum familiar um ein Lesedrama, widersprochen werden: Muchas veces contienen [las acotaciones, D.H.] comentarios (secretos) sobre lo que dijeron los demás personajes, comparables con un aparte. Pero como no se pronuncian en el escenario, tratándose en Álbum familiar de un drama para lectura, sólo el lector implícito los percibe y con ellos los conflictos internos de José Luis. 672 Auch dem Großteil der Theaterkritiker der 80er Jahre scheint die Wichtigkeit der perspektivischen Doppelung entgangen zu sein. Anabel García Martínez, die im Gegensatz zu Toro die rezeptionsästhetische Relevanz des Nebentextes unterstreicht, weist darauf hin, dass dieser durchaus inszenatorisch realisiert wurde: „[…] en el montaje madrileño estrenado en octubre de 1982 justamente sí que se pronunciaron, lo cual fue claramente tachado como defecto principal de la obra.“ 673 Die „duplicación de los signos“ (López Sancho, 1982) zog nach Meinung der Kritiker eine „cierta tautología“ (Monleón, 1982) nach sich. 674 Würde jedoch der Nebentext im Rahmen der Inszenierung nicht realisiert, so würde nicht nur verkannt, dass es sich nicht um eine deskriptive Regieanweisung handelt. Zudem würde ein Wegfall des Nebentextes missachten, dass erst der intrabzw. intermediale Bezug auf die Narration die intendierte Inszenierung zu einem performativen Akt des Erinnerns bzw. Durcharbeitens werden lässt, an dessen Ende die Rekonstruktion des theatralischen YO steht bzw. ein Rekonstruktions‐ angebot an die Zuschauer gemacht wird. Die Suggestion einer Überwindung des Als-ob wird erreicht, indem sich der Zuschauer perspektivisch auf der Ebene des Durcharbeitens wiederfindet und als konstitutives Element dieses Prozesses fungiert. Das individuelle Durcharbeiten wird zu einem Prozess des Durcharbeitens innerhalb der theatralen communitas, dessen Abschluss den Rezipienten im Anschluss an den gemeinsamen Akt des kollektiven Gedächt‐ nisses vorbehalten ist. Das Ende der Aufführung wird somit zum Angebot an die Rezipienten, der Melancholie der Wiederholung ein Ende zu setzen und das Geschehenen auf lebensweltlicher Ebene in das Bewusstsein zu integrieren. Der Fotografie, dem „toten Theater des Todes“, wird damit die Wirkmacht des den dialektischen Umschlag in die Erinnerungs- und Trauerarbeit erlaubenden Theaters entgegengesetzt. 2 Nachkriegstrauma: El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos 323 <?page no="324"?> 3 An der Schwelle zur Demokratie: Dionisio Ridruejo---Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 3.1 Spanien als Huis clos - Zur Tragik selbstverschuldeter Unmündigkeit Den Analysen dieser Studie liegt eine gemeinsame Kernthese zugrunde. Diese lautet, dass in den jeweils gewählten Ästhetisierungsformen des Nicht-Erin‐ nerns des Unvergesslichen auf dramatischer Ebene bereits eine Möglichkeit für einen Akt des performativen Erinnerns im theatralischen Raum angelegt ist. Diese Annahme impliziert, dass die Mimesis des Verdrängens zugleich eine strukturelle Vorbereitung leistet, welche einen Akt des Erinnerns auf anderer Ebene ermöglicht. Auf dramatischer Ebene wird nicht erinnert, jedoch auf theatralischer. Auf diese Weise löst das Theater als erinnerungskulturelles Medium die Paradoxie auf, die sich zwischen der Darstellung des Verdrängens und dem gleichzeitigen Erinnern an das Verdrängte aufspannt. Das Theater vermag es, Nicht-Erinnertes, die Spur des Gewesenen, zu zeigen, ohne das dies mit einer materiellen Manifestierung innerhalb der Binnenfiktion verbunden wäre, und dabei gleichsam, auf höherer Ebene, einen Raum des gemeinsamen Erinnerns zu öffnen. Diese Kernthese wird auch die Analyse des Dramas Dio‐ nisio Ridruejo. Una pasión española (1983) des baskischen Dramatikers Ignacio Amestoy Egiguren (*1947) leiten, dem dritten in dieser Studie behandelten Vertreter der Generación del 82. Während der Theatertext ¡Ay, Carmela! von José Sanchis Sinisterra den Akt des Verdrängens durch die Wiederkehr der toten Carmela aus dem Jenseits ästhetisiert und zugleich den Gehalt der Verdrängung durch ein Spiel im Spiel theatralisch erlebbar macht, schließt José Luis Alonso de Santos in El álbum familiar das Verdrängte auf dramatischer Ebene in einen Traum ein, um es dabei jedoch zugleich auf einer theatralisch-therapeutischen Ebene einem Akt des Durcharbeitens im Sinne Sigmund Freuds auszusetzen und auf diese Weise zur notwendigen Erinnerungsarbeit aufzufordern. Im Falle von Ignacio Amestoys Theatertext Dionisio Ridruejo - Una pasión española gilt es indes aufzuzeigen, inwiefern der auf dramatischer Ebene eingeschriebene Umgang mit moralischer Schuld zugleich einen Akt des Vergebens auf theatralischer Ebene bereithält. Dies gelingt m. E durch die Überlagerung einer psychopathologischen Ebene, auf der die Folgen der Verdrängung moralischer Schuld verhandelt werden, und einer biblisch-liturgischen Ebene, die aus der Zuschauerschaft eine Gemeinde formt und einen Akt des Vergebens im Sinne der christlichen Eschatologie ermöglicht. Zugleich stellt das Stück, so eine weitere Behauptung, einen 324 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="325"?> 675 Amestoy Egiguren, Ignacio: Violetas para un borbón: la reina austríaca de Alfonso XII. Dionisio Ridruejo---Una pasión española, Madrid 2015 (= Letras hispánicas, 757), S.-173. Alle weiteren Textstellen, die in dieser Studie zitiert werden, sind dieser Ausgabe entnommen. Versuch dar, die politische Instrumentalisierung christlicher Symbolik durch den Franquismus parodistisch vorzuführen, um anschließend den eigentlichen Sinn des liturgischen Feierns in der Gemeinde vom ideologischen Ballast zu befreien. Dieser eigentliche Sinn besteht im Erinnern zum Zwecke der erneuten Ausrichtung des gegenwärtigen Handelns unter Berücksichtigung des durch Christus empfangenen Erbes. Die Erinnerung an den Tod des Märtyrers am Kreuz im Rahmen der Heiligen Messe vergegenwärtigt nicht nur die Vergebung der Sünden, sondern erinnert zugleich an die daran geknüpfte Verantwortung der Christen. Bevor jedoch auf den Übergang zwischen dramatischer und thea‐ tralischer Ebene und somit auf den Übergang zwischen Schuldbekenntnis und Vergebung sowie möglicher Versöhnung eingegangen wird, soll eine inhaltliche Einführung in das Stück unter Berücksichtigung des historischen Kontexts des Dramengeschehens geleistet werden. Ignacio Amestoy überschreibt seine Tragedia en dos partes mit einem Zitat des spanischen Schriftstellers Salvador de Madariaga, das die thematischen Ausrichtung des Theatertextes bereits vorgibt: „No es posible entender la trayectoria íntima de hombres rectos como Ridruejo si no se dilucida - al menos en lo fundamental - lo que de verdad es el ejército.“ 675 In zwei nicht eigens in Szenen unterteilen Akten, deren Grenze den Übergang zwischen dem 28. und 29. Juni 1975 markiert, präsentiert uns Amestoy vier Vertreter des spanischen Militärs, die sich in Rangordnung, Alter sowie hinsichtlich ihrer ideologischen und politischen Position unterscheiden. Es handelt sich um Coronel Arenas (49 Jahre), Capitán Alonso (30 Jahre), General Castillo (60 Jahre) sowie Comandante Castro (43 Jahre). Komplettiert wird dieser syn‐ chronistische Querschnitt durch Spaniens Militärapparat kurz vor dem Ende der franquistischen Diktatur durch eine weibliche Figur, die Enfermera (40 Jahre), deren Charaktereigenschaften hinter ihrer Typisierung als kokett-laszivem, und zugleich mütterlich-dominantem sowie völlig apolitischem Gegenpart zu den Militärs zurücktritt. Obwohl der Dramatiker Ignacio Amestoy das Stück nach dem spanischen Politiker und Dichter Dionisio Ridruejo (1912-1975) benannte und obwohl dieser das Stück somit ab initio thematisch skandiert und durchwirkt, erfährt die historische Person selbst keine materielle Präsenz auf der Bühne. Wohl wissend, dass Ridruejo dem Großteil der Leserschaft wenig bekannt sein dürfte, kontextualisiert Amestoy das Dramengeschehen im Anschluss an die dramatis personae und noch vor Beginn des ersten Aktes, ohne 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 325 <?page no="326"?> 676 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-177. Fälschlicherweise heißt es in dem einleitenden Text: „[…] murió en la madrugada del 29 de julio de 1975.“ In der 1994 bei Funadmentos erschienenen Ausgabe ist das Todesdatum ( Juni statt Juli) korrekt angegeben. Der Verfasser der Arbeit erlaubte sich, den Tippfehler ohne Vermerk im Zitat auszubessern. 677 Vgl. Amestoy Egiguren, Ignacio (2014): „Dionisio Ridruejo - Una pasión española. Anagnórisis y catarsis con un culpable arrepentido“, URL: http: / / www.aat.es/ elkiosc oteatral/ las-puertas-del-drama/ drama-43/ cuaderno-de-bitacora-dionisio-ridruejo-unapasion-espanola/ [02. März 2018]: „¿En dónde se iba a desarrollar la acción? En una residencia militar, de las muchas que existían y existen en España. Un residencia especial, con servicio de enfermería.” dabei jedoch auf das später noch genauer zu betrachtende Konfliktpotential der Person Ridruejos einzugehen: Dionisio Ridruejo, político y poeta español, nacido el 12 de octubre de 1912, murió en la madrugada del 29 de junio de 1975. La acción de Dionisio Ridruejo. Una pasión española se desarrolla en el gimnasio de un centro de rehabilitación, en los días 28 y 29 de junio de 1975. 676 Eine Turnhalle eines centro de rehabilitación bzw. einer residencia militar stellt den Ort des dramatischen Geschehens dar, einer der Einrichtungen also, die unter Franco zahlreich gegründet wurden und in denen “verdiente“ Militärver‐ treter ihren Ruhestand verbringen. 677 Der Grund für das Zusammenkommen der vier Residenzbewohner in dieser Halle sind die für den 18. Juli geplanten Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestages des Alzamiento Nacional, der Erhe‐ bung der anti-republikanischen Truppen am 18. Juli 1936, die den Beginn des Spanischen Bürgerkriegs markiert. Zu diesem Zweck soll eine Missa de Angelis, eine Heilige Messe in gregorianischer Fassung, unter der Leitung des General Castro einstudiert werden, wenngleich sich dies aufgrund der Diskussionen zwischen den Protagonisten über die aktuelle politische Situation Spaniens schwierig gestaltet und es deshalb immer wieder zu Unterbrechungen kommt. Die residencia militar repräsentiert weniger einen freiwillig aufgesuchten Erholungsort als vielmehr einen geschlossenen Raum, dessen Bewohner nicht autonom über ihren Verbleib oder Auszug entscheiden dürfen. Die von Amestoy in den Bühnenanweisungen gegebene Beschreibung der Turnhalle erinnert an ein Gefängnis, in dem die dort versammelten Militärvertreter ironischerweise das Regime im Rahmen der Missa de Angelis zu huldigen planen, das für ihre “Inhaftierung“ verantwortlich ist bzw. aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. So erinnern bereits die „interminables filas de espalderas de madera“, die an den Turnhallenwänden angebrachten Sprossenleitern, an Gitterstäbe, die die Protagonisten umschließen. Weißes Licht leuchtet den Raum aus - „La 326 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="327"?> 678 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-177. 679 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-183. 680 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-185. 681 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-185. iluminación es artificial, muy blanca“ -, in dem „una canasta de baloncesto“, von der Decke hängende „cuerdas con nudos, sin nudos“, „unas escalas, juegos de anillas y una red repleta de balones“ sowie „algún aparato de salto gimnástico y unas paralelas“ zur körperlichen Disziplinierung zur Verfügung stehen. 678 Neben der suggerierten Gefängnisatmosphäre lassen die Beschaffenheit des Spielorts, die mentale Verfassung des Coronel Arenas wie des General Castillo ebenso an eine Psychiatrie denken. Beide Figuren scheinen von den Auswir‐ kungen einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung heimgesucht zu werden, die einen wiederholten Rollenwechsel zur Folge hat. Während der Coronel immer wieder in die Rolle der historischen Figur Dionisio Ridruejo fällt, schlüpft der General mehrmals in die Rolle von Francisco Franco, so dass die beiden Figuren den im folgenden Teilkapitel näher betrachteten Konflikt zwischen Ridruejo und Franco an der Schwelle zur Demokratie stellvertretend ausfechten. Während die Rollenübernahme des Generals als Folge einer willentlichen, wenn auch krankhaft obsessiven Identifikation mit Francisco Franco betrachtet werden kann, so erinnert die Rollenübernahme des Coronel hingegen an eine Heimsuchung. Die Besetzung durch Dionisio Ridruejo erscheint, dies wird a. a. O. genauer zu analysieren sein, als unfreiwillige Wiederkehr dessen, vor dem der Coronel zu fliehen versucht. Bereits zu Beginn der dramatischen Handlung spricht der Coronel die benannten raumsemantischen Ebenen explizit an: „Mañana abandonaré este manicomio. No aguanto más aquí.“ 679 Sowie: „Mañana ya estaré fuera de esta cárcel.“ 680 Und wenig später: „No quiero pasarme en este ‚búnquer’ el resto de mis días.“ 681 Die geschlossene Raumstruktur führt dazu, dass die dramatische Handlung nicht durch den Wechsel unterschiedlicher Schauplätze, sondern durch die Auftritte und Abgänge der Figuren vorangetrieben wird. Einzig der Coronel ist in jeder der auf diese Weise implizit markierten Szenen auf der Bühne präsent. César Oliva hebt die Symmetrie der impliziten Szenenabfolge hervor, die sich aus der Anzahl der auf der Bühne präsenten Figuren und den jeweiligen Auftritten und Abgängen ergibt: „En el primer aparte advertimos cinco escenas de desigual medida, siendo la 5 el centro y motor de la obra, susceptible de sucesivas divisiones por la mucha información que contiene, la 1 la de la introducción a la acción, y la 2, fragmentada en tres breves porciones, relativa a la sucesivas interrupciones que realiza la Enfermera.“ 682 Dem zweiten Teil schreibt Oliva ebenso fünf teils erneut untergliederte Szenen zu, die eine 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 327 <?page no="328"?> 682 Oliva, César: „Prólogo: Ignacio Amestoy y su teatro político“, in: Amestoy, Ignacio Egiguren, ¡No pasarán, Pasionaria! Dionisio Ridruejo - Una pasión española, Madrid 1994, S.-12. 683 Vgl. Oliva, „Prólogo“, S.-11-15. 684 Oliva, „Prólogo”, S.-10. 685 Oliva, „Prólogo“, S.-11. strukturelle Analogie zum ersten Teil aufweisen. 683 Die Abgeschlossenheit des Raums sowie die geringe Aktionsdichte haben zur Folge, dass der Fokus auf die Dialoge der Figuren, deren politisch-ideologische Positionen sowie deren psychologische Verfassung gerückt wird. Es verwundert angesichts der symbolischen Besetzung des Raums nicht, dass César Oliva den Theatertext zu den Produktionen Amestoys zählt, die sich durch eine existenzialistische Färbung im Sinne Jean Paul Sartres cha‐ rakterisieren. 684 Ähnlich wie in Sartres Theaterstück Huis clos werden die Rezipienten des Dramas Dionisio Ridruejo - Una pasión española mit einer Figurengruppe konfrontiert, deren individuelles Leid in der verordneten und ausweglosen Inter-Subjektivität ihren Ursprung zu finden scheint. Die Insassen des manicomio repräsentieren unterschiedliche ideologische Positionen und stehen metonymisch für den konfliktgeladenen Militärapparat bzw. die unter‐ schiedlichen militärischen Gruppierungen am Ende der Diktatur. In seinem Prolog der 1994 publizierten Druckausgabe schreibt César Oliva entsprechend: „Amestoy nos conduce a una especie de laberinto dramático, en donde sus criaturas quedan eternamente condenadas a no salir jamás de él aunque, eso sí, se contemplan rebotadas en terribles espejos.“ 685 Um zu verstehen, inwiefern Amestoy das Motiv des Huis clos in seinem Theatertext ausgestaltet, gilt es sich eingehender mit den Protagonisten auseinanderzusetzen. Der gebrechliche, im Rollstuhl sitzende General Castillo tritt als glühender Anhänger Francos auf, der weder Zweifel an der Größe des franquistischen Imperio hacia Dios noch an der fortwährend gärenden, subversiven Kraft des Kommunismus und der masonería hegt. Sein Unwille, die Zeichen der Zeit zu erkennen, macht ihn zum flat character, zum unbeweglichen Gestrigen, dessen mentale Stagnation auf körperlicher Ebene durch die Fesselung an den Rollstuhl Ausdruck findet. Natürlich verweisen diese Attribute auf Francisco Franco, dem ideologischen Referenzpunkt des Generals, der aufgrund seiner krankhaften Obsession immer wieder eins mit seinem ideologischen und politischen Vorbild wird. Die Pathologisierung dieser Identifikation drückt sich auf Zeichenebene durch den Zusammenfall von Referent und stellvertretendem Zeichen aus. César Oliva charakterisiert den General Castillo als „tipo esperpéntico, que pudiera 328 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="329"?> 686 Oliva, „Prólogo“, S.-16. 687 Doménech Rico, „Introducción“, S.-65. 688 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-194. recordar a ese otro, enfermo en el 75, que rigió los destinos de España durante cuarenta años.“ 686 Begleitet wird General Castillo vom 43-jährigen Comandante Castro, dessen Name ebenso wie der des Generals auf eine ideologische Verteidigungshaltung und Starrheit verweist. Als unreflektierter Mitläufer, der weniger einem ideo‐ logischen Antrieb als seinen körperlichen Trieben Aufmerksamkeit schenkt, erscheint er geradezu als lächerlicher Diener des Generals, der jedoch im Vergleich zu seinen gewieften Vorgängern in der spanischen Literaturgeschichte weder über Einfluss auf seinen “Herren“ noch über Witz verfügt. Stattdessen hat er sich in die Bequemlichkeit des Gehorsams zurückgezogen und ist zum Stellvertreter eines Funktionärs-Militärs geworden, dem es aufgrund der historisch-politischen Entwicklung Spaniens innerhalb des aufgeblähten Militärapparats an Beschäftigung mangelt. Fernando Doménech Rico stellt hinsichtlich des Zustands des spanischen Militärs kurz vor dem Ende der Diktatur fest: „[…] después de décadas de inactividad militar, era una gigantesca estructura burocrática […].“ 687 Folgender Dialog zwischen dem General und dem Comandante führt das komödientypische Herr-Knecht-Verhältnis, das sich nicht selten durch Sprachkomik kennzeichnet, vor Augen: GENERAL. ¡Comandante! ¿Qué hace? COMANDANTE. (Que coloca unos atriles y tiene en sus manos unas partituras.) Estoy con las partituras, señor. GENERAL. Usted siempre tiene que estar haciendo lo que no debe? COMANDANTE. ¿Qué es lo que tendría que estar haciendo? GENERAL. Escuchando lo que dice la gente preparada. COMANDANTE. General, usted me ha prohibido que oiga sus conversaciones. GENERAL. Esto no es una conversación, es análisis. Comandante, ¿ve usted al capitán? COMANDANTE. Sí, mi general. GENERAL. Tiene treinta años y es piloto de ‘Phantom’. COMANDANTE. Lo escuché. GENERAL. No me interrumpa, Castro. COMANDANTE. No, señor. Perdón, señor. GENERAL. El comandante está descontento con el mando: no vuela lo que él quisiera. COMANDANTE. Volará menos, pero vivirá más. No veo la razón del descontento. 688 Dem General und dem Comandante stehen der junge Capitán Alonso sowie der Coronel Arenas gegenüber, weitaus komplexere Figuren. Zwar wird der Grund 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 329 <?page no="330"?> 689 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-180. 690 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-181. 691 Doménech Rico, „Introducción“, S.-65. 692 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-192. 693 Vgl. Doménech Rico, „Introducción“, S. 70: „Alonso representa a un nuevo ejército, profesional y moderno, que no mira a las viejas glorias de la Guerra Civil ni de la División Azul, sino que se mira en el espejo de las fuerzas armadas norteamericanas. Es por ello demócrata sin ser un revolucionario.“ für den Aufenthalt des Capitán nicht explizit genannt, jedoch liefert der Thea‐ tertext Hinweise darauf, dass der Pilot die residencia militar auf Anraten und dank des Einflusses des hochrangigen Vaters, dem „invicto general Alonso“ 689 , als Refugium nutzen darf: „CORONEL. […] Ten cuidado con lo que dices, capitán Alonso. Gracias a tu padre estás aquí en vez de arrestado. La próxima vez no podemos hacer nada por ti.“ 690 Der Grund für die drohende Inhaftierung ist Alonsos Zugehörigkeit zur Unión Militar Democrática, kurz UMD, einer clan‐ destinen, im Spätfranquismus formierten politischen Gruppierung innerhalb des Militärs, die sich für eine Modernisierung des militärischen Apparats nach amerikanischem Vorbild und für einen demokratischen Übergang einsetzte. Die UMD ist als Reaktion auf die degenerierten und altmodischen Verhältnisse innerhalb des Militärs zu verstehen: „En esta situación, tres comandantes, Luis Otero, Guillermo Reinlein y Julio Busquets, y nueve capitanes, crearon el 1 de septiembre de 1974 la Unión Militar Democrática, cuyo objetivo no era dar un golpe de estado, sino ir creando un ambiente favorable a la democratización dentro del anquilosado ejército español.“ 691 Auf die Forderung des Generals nach Disziplin entgegnet der Capitán folglich nicht ohne Ironie. Der reale Zustand des spanischen Militärapparats steht in Kontrast zur vom General betonten soldatischen Professionalität: „CAPITÁN. Me hace gracia oírle hablar de disciplina y pensar que lo que se está fomentando en nuestras Fuerzas Armadas es el abandono, la holgazanería y la rutina.“ 692 Die satirische Unterminierung der Rhetorik des Generals geht ebenso in einem Wortspiel auf, denn der Capitán ist aufgrund der Materialknappheit und Rückständigkeit des Militärs im wahren Sinne des Wortes zum Piloten eines ‚Phantoms’ geworden. Der Capitán gibt sich entsprechend kritisch und voller Hoffnung auf eine Pro‐ fessionalisierung seines Berufsstandes nach dem Ableben Francos, ohne dabei jedoch die Möglichkeit des gewaltsamen Umsturzes in Erwägung zu ziehen. 693 Seine oppositionelle Haltung stellt weder seinen soldatischen Gehorsam noch sein Hierarchieverständnis in Frage. 330 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="331"?> 694 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-194. 695 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-181. 696 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-181. 697 Vgl. De Micheo Izquierdo, José Luis: „Dionisio Ridruejo, propagandista (1937-1939)”, in: Peral Vega, Emilio/ Sáez Raposo, Francisco (Hgg.), Métodos de propaganda activa en la Guerra Civil Española. Literatura, Arte, música, prensa y educación, Madrid/ Frankfurt GENERAL. Una curiosidad, Alonso. Si hubiera sido entonces capitán, ¿qué hubiera hecho el día del Alzamiento? CAPITÁN. Obedecer. GENERAL. ¿A quién? CAPITÁN. Al mando. GENERAL. Bien, muy bien, capitán. […] 694 Der Dialog zwischen dem Capitán und dem Coronel zu Beginn des Stücks offenbart, dass der Vater des Capitán gemeinsam mit Coronel Arenas in der 1941 gegründeten División Azul kämpfte, einer mitunter von Dionisio Ridruejo ins Leben gerufenen spanischen Infanteriedivision, die die Achsenmächte Deutsch‐ land und Italien im Kampf gegen die rote Armee in Russland unterstützte und angesichts der bevorstehenden Niederlage im Jahr 1943 wieder aufgelöst wurde. CORONEL. […] ¿Es que no le hablaba su padre de los abedules de Rusia? CAPITÁN. (Impasible) He oído hablar de la sangre roja sobre la nieve blanca. De las aldeas incendiadas. De Lily Marlen de la radio. De las hileras de prisioneros. Y de la vuelta a casa con las manos vacías. 695 Nicht nur an der Sinnlosigkeit dieses Militärunterfangens, sondern ebenso an der vierzigjährigen, von Franco kultivierten Passivität des Militärs lässt der Capitán keinen Zweifel: „[…] Durante cuarenta años han estado donde él les ha querido poner. Han sido fichas de dominó en sus pequeñas manos. ¡Cuarenta años! Toda una vida. Toda su vida siendo unas marionetas.“ 696 Während die drei beschriebenen Repräsentanten des Militärs ihre ideologi‐ schen Positionen und Einstellungen von Beginn bis Ende des Theatertextes aufrechterhalten, durchlebt Coronel Arenas eine radikale ideologische Wand‐ lung, die eng an die biographische Entwicklung der historischen Figur Dionisio Ridruejo geknüpft ist. Als überzeugter Falangist kämpfte der Coronel zu Be‐ ginn der 1940er Jahre gemeinsam mit Ridruejo in der División Azul am Ufer des Wolchow, um die Leningrader Blockade zu festigen. Genau wie Ridruejo kehrte er nach dem Russlandeinsatz desillusioniert, in schwachem körperlichen Zustand und von den Kriegserlebnissen traumatisiert nach Spanien zurück, wo die falangistischen Ideale weiter der Machtpolitik Francisco Francos zum Opfer fielen. 697 Trotz seiner fortdauernden Überzeugung von den falangistischen 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 331 <?page no="332"?> a. M. 2015 (= Estudios de la Cultura de España, 32), S. 240. De Micheo Izquierdo verweist darauf, dass es vor allem Gründe der Praktikabilität waren, durch die die Falange Es‐ pañola de las JONS zur Partei des franquistischen Regimes wurde. Das Fehlen eines klar umrissenen ideologischen Programms hatte die Partei José Antonio Primo de Riveras zum Sammelbecken für antirepublikanische Kräfte werden lassen. Die ursprünglichen Zielvorgaben, wie die einer faschistischen Revolution, korrespondierten allerdings nicht mit den Machterhaltungsplänen Francisco Francos. 698 Collado Seidel, Carlos: Der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines europäischen Kon‐ flikts, München 3 2016, S. 178: „Wie Franco […] bekannte, war sein vordringliches politisches Ziel der ideologische Zusammenschluss der verschiedenen Kräfte. […] So wurde zwar das von Primo de Rivera verfasste Parteiprogramm, das die Abschaf‐ fung des Kapitalismus, die Verstaatlichung des Großkapitals, die Schaffung einer sozial ausgerichteten Agrarverfassung und die Umschichtung des Grundbesitzes als programmatische Ziele enthielt, von der neuen Organisation übernommen, doch in der Praxis blieben die politischen Einflussmöglichkeiten letzterer begrenzt. Die angestrebte ‚nationalsyndikalisitsche Revolution’ verkam letztlich zu einer inhaltsleeren Formel.“ Idealen im Geiste des Partei-Gründers José Antonio Primo de Rivera sowie von der Idee der national-syndikalistischen Revolution passte sich Coronel Arenas den politischen Entwicklungen an. Anders als Dionisio Ridruejo, der sich, wie noch genauer auszuführen sein wird, ab den 1940er Jahren vom Regime zu distanzieren begann und sich in im Laufe der 1950er und 1960er Jahre demokratischen Überzeugungen annäherte, wofür er Gefängnisstrafen und Exilaufenthalte in Kauf nahm, verpasste es der Coronel, auf die wachsende Diskrepanz zwischen seiner ideologischen Überzeugung und der politischen Situation handelnd zu reagieren. 698 Angesichts der Dissidenten drohenden Repressionen verriet er sich stattdessen selbst und entfernte sich auf diese Weise immer weiter von seinem ideologischen und politischem Referenzpunkt Dionisio Ridruejo. Entgegen seiner ideologischen Entwicklung, die sich über Jahrzehnte hinweg mit der Ridruejos deckte, blieb der Coronel nach außen hin Repräsentant der geltenden franquistischen Ordnung, in dessen Exekutive er seinen Platz einnahm. Erst als er am Morgen des 29. Juni 1975 und somit zu Beginn des zweiten Aktes erfährt, dass Dionisio Ridruejo, an den Folgen einer Herzschwäche verstorben ist und somit den Übergang zur Demokratie nicht erleben wird, kommt es zu einem in den Ritus der Missa de Angelis eingebetteten Nachvollzug der Entwicklung von Dionisio Ridruejo, zu einer persönlichen Peripetie, die im Erkennen der eigenen Schuld, einer Anagnorisis, mündet, welche ihn am Ende des dramatischen Geschehens in den Selbstmord treibt. Während dieser rituellen Belebung der verdrängten ideologischen Überzeugungen im Rahmen der Proben für die gregorianische Messe schlüpft der Coronel unfreiwillig in die Rolle seines Vorbilds und durchläuft im Rahmen eines tranceähnlichen 332 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="333"?> 699 Oliva, „Prólogo“, S. 17. Es wird im Verlauf der Analyse zu zeigen sein, inwiefern das „drama de España“ nicht nur mithilfe psychopathologische Begriffe gefasst werden kann, sondern ebenso über den Rekurs auf die Ästhetik des esperpento, handelt es sich bei den militärischen Repräsentanten doch um die Zerrbilder ihrer ideologischen Referenzpunkte. Ganz im Sinne des auf Valle-Inclán zurückgehenden Konzepts bieten die Zerrbilder dabei paradoxerweise einen wahrhaftigeren Blick auf die Realität als es der Blick auf ihre Referenten zu leisten vermag. Besessenheitszustands die biographischen Wendepunkte Ridruejos, von dessen falangistischen Anfängen bis zur Gründung der ersten öffentlich proklamierten demokratischen Partei unter Franco, der Unión Social Demócrata Española (USDE). Im Anschluss an diese rituelle Katharsis legt der Coronel seine fran‐ quistische Maske endgültig ab und erhängt sich ohne Kleidung auf offener Bühne. Dionisio Ridruejo---Una pasión española stellt das politische Drama Spaniens an der Schwelle zur Demokratie dar. Der Theatertext bietet als pars pro toto Einblick in das emblematische Jahr 1975, dem Todesjahr Francisco Francos und dem Dionisio Ridruejos, in dem sich konkurrierende Gruppierungen des Militärs gegenüberstanden und einer ungewissen Zukunft entgegensahen. César Oliva sieht eine Analogie zwischen der Verlagerung des dramatischen Geschehens in eine an ein manicomio erinnernde residencia militar und der politischen Situation Spaniens im Jahr 1975: „[…] sólo un manicomio podía ser teatro del drama de España. Allí se simboliza no sólo una cierta premonición, sino el comportamiento de quienes hicieron posible una dictadura militar.“ 699 Die von Amestoy formulierte Kritik, die zunächst einen degenerierten und untätigen Militärapparat zu treffen scheint, reicht tiefer. Im Zentrum seiner Kritik steht weder der Zustand des Militärs noch die Heterogenität der vertretenen Positionen, sondern die selbstverschuldete Unmündigkeit und Passivität, durch die die fünf Figuren, die stellvertretend für die Gesellschaft der Militärdiktatur stehen, das beinahe vier Dekaden währende franquistische Regime ermöglichten, das den natürlichen Tod Francos erwartete statt dessen Machtmonopol durch eine öffentlich proklamierte Opposition zu schwächen. Die Tragik dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit besteht darin, dass einige der Lenker der politischen Transition aus den Reihen kamen, die zuvor für die Stabilität der Diktatur eingetreten waren, und dass diejenigen, die auf ein Ende der Diktatur hofften, zuvor vielfach stillschweigend, äußerlich angepasst und regimekonform gelebt hatten. Mit Blick auf Amestoys Theatertexte Dionisio Ridruejo - Una pasión española und ¡No pasarán, Pasionaria! (1993) schreibt César Oliva: „Dionisio y Pasionaria también, conforman dos reflexiones trágicas de un período próximo de la vida española, en el que unos y otros, vencedores y 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 333 <?page no="334"?> 700 Oliva, „Prólogo“, S.-10. 701 Vgl. López Mozo, Jerónimo: „Mapa del teatro documento en los albores del siglo XXI en España“, in: Romera Castillo, José (Hg.), El teatro como documento artístico, histórico y cultural en los inicios del siglo XXI, Madrid 2017, S.-29. vencidos de la vieja guerra civil, han hecho, de sus carencias, el haz y el envés de su propia tragedia.“ 700 Nur in Anbetracht dieser Kritik wird verständlich, weshalb zwischen der Publikation des Theatertextes und der Uraufführung mehr als 30 Jahre vergehen sollten. Die Suche nach den Gründen für diese unfreiwillige Verzögerung führt uns näher an den archimedischen Punkt des Theatertextes heran, der dramati‐ schen Verhandlung moralischer Schuld und der theatralischen Ermöglichung von Vergebung. Im folgenden Kapitel geht es um die Tabuisierung bzw. das Verdrängen der Figur Dionisio Ridruejo seitens des Theaters. Diese Fragestel‐ lung führt zwangsläufig zu einer Beschäftigung mit der Biographie Ridruejos und dem Nachvollzug dessen ideologischer und politischer Entwicklung. 3.2 Theatrales Tabu: Die Entstehungsgeschichte von Dionisio Ridruejo---Una pasión española Zwar konnte Ignacio Amestoy das Drama Dionisio Ridruejo - Una pasión española bereits im Jahr 1983 beim Verlag Akal publizieren, jedoch schienen die Inhalte des Stücks eine Inszenierung in dieser Phase der transición noch nicht zuzulassen. Erst am 14. März 2014 inszenierte die zum Centro Dramático Nacional gehörende Sala Francisco Nieva del Teatro Valle-Inclán den Stoff unter der Leitung von Juan Carlos Pérez de la Fuente. José Romera Castillo zufolge ging ein Großteil der Zuschauerschaft davon aus, dass es sich um ein jüngeres Stück handelte und nicht um eines, das bereits mehr als dreißig Jahre zuvor fertiggestellt worden war. 701 Diese unfreiwillige Verzögerung verwundert zunächst, bezeugten doch Pu‐ blikumserfolge wie u. a. der des Stücks El álbum familiar (1982) von José Luis Alonso de Santos oder der des 1978 publizierten und kurz darauf in‐ szenierten Dramas ¡Tu estás loco, Briones! von Fermín Cabal - in welchem ein sich dem Versöhnungsdiskurs der Transition widersetzender Franquist in einer Psychiatrie festgehalten wird, um ihn gewaltsam an die neue diskursive Ordnung anzupassen -, dass die Aufführung von Stücken, die sich kritisch mit den Themen Bürgerkrieg und Diktatur sowie den daraus entstehenden Konsequenzen für den demokratischen Übergang auseinandersetzten, in den ersten Jahren der transición nicht zwangsläufig ein Problem darstellte. Zudem war es Ignacio Amestoy mit seinen gegenwartskritischen Stücken Mañana 334 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="335"?> 702 Die jungen Schauspieler Jim und Lola sind gewissermaßen die Fortsetzung des dreifa‐ chen Zeitsprungs, der das Stück Historia de una escalera von Buero Vallejo struktureiert. Bei ihren Proben für das Stück von Buero Vallejo wird deutlich, dass sie die Geschichte der Figuren Fernando und Carmina fortschreiben. César Oliva beschreibt die beiden Figuren in seinem Vorwort zum Stück wie folgt: „Jim y Lola, tenues reflejos de sus intérpretes, llegados a la transición democrática tampoco son más que, en palabras de Juan, ‚hijos del General’ o, lo que es lo mismo, víctimas del franquismo.“ Oliva, César: „Prólogo“, in: Amestoy Egiguren, Ignacio, Yo fui actor cuando Franco. Mañana aquí a la misma hora, Madrid 1993 (= Serie teatro, 155), S.-11. 703 Vgl. Pérez-Rasilla Bayo, Eduardo: „Introducción“, in: Amestoy, Ignacio, Ederra. Cierra bien la puerta, Madrid 2005 (= Letras Hispánica, 572), S.-54-64 sowie 65-70. aquí a la misma hora (1979) und Ederra (1980) bereits zuvor gelungen, die Theaterhäuser, das zeitgenössische Publikum sowie die Theaterkritiker von sich zu überzeugen, und dies, obwohl er in seinen Stücken gesellschaftliche Probleme als Folge der politischen Repression unter Franco sowie der Transitionspolitik thematisierte. Während Mañana aquí a la misma hora eine Fortschreibung von Antonio Buero Vallejos Historia de una escalera (1949) unter den Vorzeichen der Transition darstellt 702 - Kern des Stücks bilden Proben für die Aufführung von Historia de una escalera -, konfrontiert Amestoy im Fall von Ederra Leser und Zuschauer ohne Zurückhaltung mit dem baskischen Terrorismus sowie mit Gewalt und Kriminalität innerhalb der spanischen Übergangsgesellschaft. Trotz dieser kritischen Gegenwartsanalysen erhielt Amestoy für Mañana aquí a la misma hora den Premio Aguilar, für Ederra den renommierten Premio Lope de Vega. 703 Die Thematisierung von Diktatur und Bürgerkrieg sowie der kritische Blick auf die Übergangsgesellschaft können also nicht als Gründe für die Vorsicht der Theaterhäuser gegenüber Dionisio Ridruejo - Una pasión española angeführt werden. Der verzögerten Aufführung ist wohl auch der Umstand geschuldet, dass bis heute neben einigen Theaterkritiken und Äußerungen des Autors nur wenige literatur- oder theaterwissenschaftliche Analysen des Stücks zur Verfügung stehen. Zu den bedeutendsten Referenzen gehören sicherlich die jeweiligen Vorworte von César Oliva und Fernando Doménech Rico, die in den Druckaus‐ gaben der Verlage Fundamentos (1994) und Cátedra (2015) zu finden sind. Alison Guzmán widmet sich dem Drama in ihrer im Jahr 2012 publizierten Dissertation La memoria de la guerra civil en el teatro español: 1939-2009 und reiht es in ein Korpus von Stücken über „personajes o eventos históricos“ ein, jedoch ohne bei ihrer Beschreibung der von Amestoy verwendeten metatheatralen Elemente auf den Zusammenhang von psycho-pathologischer und liturgischer Ebene einzugehen. 704 Mit seinem 2017 erschienen Aufsatz zeichnet Jerónimo López Mozo das Drama auf einer „Mapa del teatro documento en los albores 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 335 <?page no="336"?> 704 Guzmán, Alison (2012): La memoria de la guerra civil en el teatro español: 1939-2009, URL: https: / / gredos.usal.es/ jspui/ bitstream/ 10366/ 121231/ 1/ DLEH_GuzmanAlisonKateWhit e_Tesis.pdf [01. März 2018], S.-373. 705 López Mozo, „El mapa del teatro documento“, S.-29. 706 Amestoy selbst verwies in einem Interview darauf, dass es nicht wenige Inszenierungs‐ vorhaben gab; vgl. Doménech, „Introducción“, S.-82f. 707 Floeck/ García Martínez, „Memoria y olvido entre bastidores: Guerra civil y franquismo en el teatro español después de 1975“, S.-108. del siglo XXI en España“ ein. Jedoch geht diese Verortung nicht über einen Hinweis auf die drei essentiellen Zeugnisse Ridruejos hinaus, welche als Replik wortwörtlich im Drama aufgenommen bzw. der Figur Coronel Arenas in den Mund gelegt werden: „[…] el encendido discurso que pronunció en 1940 en Valencia ante miles de personas, una extensa carta que envió a Franco cuando ya era jefe del Estado y otro discurso con valor de testamento político en el que vaticinaba la llegada de la democracia.“ 705 Es ist das Ziel der vorliegenden Studie, unter Berücksichtigung der erwähnten Quellen eine ausführlichere Analyse des Dramas zu leisten und Anknüpfungspunkte für weitere wissenschaftliche Beschäftigungen mit dem Stück Dionisio Ridruejo. Una pasión española zu erarbeiten, zeugt dieses doch aufgrund seiner Komplexität von der hohen Qualität des postfranquistischen Theaters. Was trug also dazu bei, dass mehrere Versuche, den Stoff auf die Bühne zu bringen, scheiterten? 706 Folgt man der Annahme Wilfried Floecks und Anabel García Martínez’, so zeichnen sich die zwischen 1975 und 1982 geschrieben und inszenierten Theatererfolge, welche Bürgerkrieg und Diktatur zum Thema machten, dadurch aus, dass sie im Einklang mit der Transitions-Rhetorik des Konsenses und der Versöhnung standen: La primera fase, desde la muerte de Franco hasta la llegada de los socialistas al poder, ha sido caracterizada […] como un período en que los éxitos teatrales corresponden a la política oficial de la reconciliación y del consenso: mientras que el tono satírico-paródico (Fermín Cabal), subjetivo-onírico ( José Luis Alonso de Santos) y privado-reconciliador (Fernando Fernán-Gómez) a la hora de abordar el pasado bélico y dictatorial sobre las tablas convencen tanto al público como a la crítica, no parece haber llegado todavía el momento para las pinceladas críticas al oportunismo político y a la permanencia de estructuras franquistas en la transición que nos ofrece Buero Vallejo en Jueces en la noche. 707 Es ist sicherlich zu bezweifeln, dass ein Publikumserfolg wie ¡Tú estás loco, Briones! (1978) von Fermín Cabal mit der Versöhnungs- und Konsensrhetorik der transición korrespondiert. Vielmehr scheint doch gerade in diesem Stück eine radikale Kritik an eben dieser Rhetorik formuliert zu werden. So geht 336 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="337"?> der Protagonist des Stücks an der gewaltsamen Repression zugrunde, die von den Vertretern des Übergangsdiskurses ausgeht. Mehr noch: Die einzig “sym‐ pathische“, weil konsistente und seinen Idealen treu bleibende Figur des Stücks ist ein fanatischer Franquist, dessen Authentizität einen Kontrast zu den ihn umgebenden Wendehälsen bildet. Ebenso scheint es nach der geleisteten Analyse des Stücks El álbum familiar (1982) fragwürdig, ob die Verhandlung nachkriegsverschuldeter Traumata sowie gegenwärtiger Verdrängung mit den Leitlinien des Transitionsdiskurses, die in Anlehnung an die Untersuchungen von Laura Desfor Edles herausgestellt wurden, im Einklang steht. Einzig der von Floeck und García Martínez exem‐ plarisch aufgeführte Fernando Fernán-Gómez scheint mit seinem Stück Las bicicletas son para el verano (1982) einen versöhnlichen Grundton gewählt zu haben, der einer Rhetorik der reconciliación und des consenso entspricht. Einer der Gründe für die Inszenierungsschwierigkeiten, mit denen sich Ignacio Amestoy in den 1980er Jahren konfrontiert sah, ist m. E. in der zweiten Annahme von Floeck und García Martínez zu sehen. Keines der erfolgreich aufgeführten und mit positiver Kritik beschiedenen Stücke, welche sich den Themen Bürgerkrieg und Diktatur widmeten, fasste das Thema des politischen Opportunismus oder der personalen Kontinuitäten im legislativen, judikativen und exekutiven Apparat des Übergangs an. Der Fingerzeig auf die Wendehals‐ politik ist es, der Antonio Buero Vallejos Jueces en la noche die bereits erwähnten Verrisse der Feuilletonisten einbrachte (Vgl. II.1.). Noch einmal sei an dieser Stelle erwähnt, dass der natürliche Tod des caudillo die Phase des politischen Übergangs einleitete. Statt eines radikalen Bruchs, der weniger Raum für personale Kontinuitäten bereitgehalten hätte, vollzog sich die Demokratisierung Spaniens auf der Grundlage eines franquis‐ tischen Politik-, Justiz-, Militär- und Polizeiapparates. Adolfo Suárez, erster demokratisch legitimierter Präsident nach Franco und ehemaliger Generalse‐ kretär des franquistischen Movimiento Nacional, steht exemplarisch für diese Entwicklung. Ein weiteres Beispiel stellt neben Juan Carlos I sowie ranghohen Militärvertretern die Guardia Civil dar, eine bereits 1844 gegründete und für den Franquismus bedeutende Polizeieinheit, die nach 1975 in die demokratische Exekutive integriert wurde und noch heute besteht. Der Hinweis auf juristische, legislative oder exekutive Verbrechen sowie auf personale Verbindungslinien zwischen Diktatur und Demokratie schienen in der Phase der transición ein inszenatorisches und cineastisches Tabu darzu‐ stellen, stellte dieser Hinweis doch die politische, juristische und moralische Integrität der den Übergang vollziehenden Staatsgewalt in Frage. Einen Beleg für diese Annahme liefert jedenfalls die bereits erwähnte Aussetzung des Stücks 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 337 <?page no="338"?> 708 Fernando Doménech Rico hebt in seinem Vorwort zur 2015 erschienenen Cátedra-Aus‐ gabe die repressiven Maßnahmen des spanischen Staates hervor, der die systemische Stabilität zu diesem Zeitpunkt der uneingeschränkten Geltung des freien Ausdrucks vorzog: „Estrenada en 1977, la obra fue prohibida por el Capitán General de Cataluña. Albert Boadalla fue detenido y procesado, junto con otros miembros de Els Joglars, en consejo de guerra. Logró escapar del hospital donde estaba recluido y fue finalmente absuelto en 1981.“ Vgl. Doménech Rico, „Introducción“, S.-83, FN 6. 709 Der Einführung der Meinungsfreiheit am 1. April 1977 folgte die am 27. Januar 1978 durch ein königliches Dekret besiegelte Darstellungsfreiheit bei Bühnenaufführungen. Vgl. De Paco, Mariano: „El teatro español en la transición: ¿Una generación olvidada? “, in: Anales de Literatura Española, 17 (2004), S.-147f. 710 zit. nach Doménech Rico, Fernando: „Introducción“, S.-82f. La torna der katalanischen Gruppe Els Joglars (1977) 708 , in dem die Hinrichtung des DDR-Flüchtlings Georg Michael Welzel durch das franquistische Regime im März 1974 thematisiert wurde. 709 Entsprechend fallen auch Ignacio Amestoys Einschätzungen hinsichtlich der sich ergebenden Schwierigkeiten aus: Al tiempo que al comienzo de los años 80 del pasado siglo empezaban a sonar ‘ruidos de sables’, que culminaron en el golpe del 23-F, empecé a pergeñar la obra. Había estrenado mi pieza Ederra, una tragedia que había obtenido el Lope de Vega, de alguna manera relacionada con la violencia en el País Vasco, y el personaje de Dionisio Ridruejo, un falangista emblemático convertido en fundador de un partido socialdemócrata [Unión Social Demócrata Española (USDE), D. H.] en el tardofranquismo, me empezó a dar vueltas en la cabeza. […] La obra está concluida en el 82, y la publica Juan Barja en Akal en el 83. La acción se desarrolla en junio del 75 en una residencia militar y con militares, uno de ellos, un capitán, perteneciente a la Unión de Militares Demócratas (UMD), entonces en la clandestinidad. Con el precedente de El crimen de Cuenca y de La torna, un destacado director de escena español me anunció, premonitoriamente, que el texto no se podría estrenar en España en veinte años por lo menos. Ha habido no pocos intentos de montaje, y alguna lectura pública. Pero el vaticinio parece que se cumplió. 710 Den Theatertext Dionisio Ridruejo - Una pasión española zeichnet aus, dass er nicht nur das Thema des politischen Opportunismus unter Franco sowie an der Schwelle zur Demokratie verhandelt, sondern, und darin liegt sicherlich die eigentliche Brisanz des Stücks, dass die lebensweltliche Verdrängung einer historischen Figur verarbeitet wird, die gerade deshalb verdrängt wird, weil sie, trotz ihrer zweifelsohne zu verurteilenden ideologischen Verfehlungen, wie wenige andere Figuren aus der spanischen Politik des 20. Jahrhunderts, ein Gegenbeispiel zu politisch opportunem Verhalten darstellt. Das Stück zeigt somit nicht nur eine Hauptfigur, die ihre eigentlichen Überzeugungen 338 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="339"?> 711 Oliva, „Prólogo“, S.-10. 712 Die Faszination für den Faschismus war schon vor Eintritt in die Falange spürbar. In der posthum veröffentlichten Schrift Con fuego y con raíces. Casi unas memorias (1976) schreibt Ridruejo: „El fantasma del fascismo aleteaba ya (1932) por la imaginación de los jóvenes de mi clase y condición, que estábamos pendulando entre los manifiestos futuristas de Marinetti, la visión de El acorazado de Potemkin y la lectura de Menéndez Pelayo. El libro no corregía el estilo - simplificaciones y relumbres - del autor. Pero me fascinó.“ Vgl. Ridruejo, Dionisio: Con fuego y con raíces. Casi unas memorias, Barcelona 1976, S.-156. verdrängt, Coronel Arenas, sondern es hält in Person Ridruejos zudem all den‐ jenigen den Spiegel vor, die ihre ideologischen Überzeugungen einem politisch opportunem Handeln und Verhalten opferten. Dass im Umkehrschluss ein zur Demokratie konvertierter Falangist zur moralischen Vergleichsfolie gemacht wird, befeuert die im Stück formulierte Kritik an denjenigen, die sich, anders als Ridruejo selbst, nicht aktiv für ein Ende der Diktatur und den Übergang zur Demokratie einsetzten, nun aber von der Demokratie profitieren wie sie es zuvor vom franquistischen System taten. César Oliva zufolge ist es nicht nur das tragische Ende des Theatertextes Dionisio Ridruejo - Una pasión española, das eine Wirkung auf das Publikum ausübt, sondern ebenso die implizite Kritik am politischen Opportunismus, der sich über äußerliche Anpassung und das stumme Warten auf den Tod Francos definiert: „No sólo es la muerte del Coronel que debe conmovernos, sino advertir cuántos Arenas callan y refrenan un espíritu castrense anclado en el Imperio hacia Dios.“ 711 Um die Brisanz der Person Ridruejo nachvollziehen zu können, bedarf es einer Betrachtung relevanter biographischer Wegmarken, die Rückschlüsse auf seine ideologische Entwicklung und politische Neupositionierung zulassen. Ridruejos nicht von der Hand zu weisende ideologische Entwicklung, die in der Gründung der Unión Social Demócrata Española im Oktober 1974 ihren Abschluss fand, darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er als Falangist 712 in Erscheinung getreten war und in den Jahren des Bürgerkriegs sowie in der Nachkriegszeit zu den einflussreichsten Wortführern des franquistischen Regimes gehörte. Die in der Folge herausgehobenen biographischen Wegmarken sind von grundle‐ gender Bedeutung für das Verständnis des Stücks sowie die weitere Analyse; der biographische Nachvollzug soll somit in keiner Weise eine Relativierung der von Ridruejo begangenen Verfehlungen und faschistischen Verwerfungen an‐ gesichts der am Lebensende festzustellenden Läuterung darstellen. Stattdessen ist es das Anliegen der folgenden Ausführungen, Licht in die Biographie der verdrängten Figur zu bringen, die das Stück Dionisio Ridruejo - Una pasión española von Anfang bis Ende determiniert, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 339 <?page no="340"?> 713 De Micheo Izquierdo, „Dionisio Ridruejo, propagandista (1937-1939)”, S.-240. 714 De Micheo Izquierdo, „Dionisio Ridruejo, propagandista (1937-1939)”, S.-241. 715 De Micheo Izquierdo, „Dionisio Ridruejo, propagandista (1937-1939)”, S.-240. 716 Vgl. Carbajosa, Mónica/ Carbajosa, Pablo: La corte literaria de José Antonio. La primera generación cultural de la Falange, Barcelona 2003. 717 Vgl. Ridruejo, Dionisio: Memorias de una imaginación. Papeles escogidos e inéditos, Madrid 1993, S.-48. Noch im Gründungsjahr 1933 schloss sich Dionisio Ridruejo der von José Antonio Primo de Rivera ins Leben gerufenen Falange Española an, einer Partei, deren Aufstieg in den Folgejahren, folgt man dem Historiker José Luis de Micheo Izquierdo, sich weniger durch die eigene Anziehungskraft erklärte - „La Falange (Falange Españõla de las Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalistas - FE de las JONS) no era casi nada“ 713 -, als vielmehr aufgrund der Notwendigkeit, die Kräfte der antirepublikanischen Gruppierungen im Anschluss an den Staatsstreich vom 18. Juli 1936 zu bündeln. Die FE de las JONS wurde für die Gegner der Republik zum parteipolitischen Sammel- und Referenzpunkt, „[…] porque era como un recipiente susceptible de albergar cualquier cosa.“ 714 Der spätere Bruch zwischen dem überzeugten Falangisten Dionisio Ridruejo und Francisco Franco liegt bereits im Aufstieg der Falange begründet. Als Franco im Jahr 1937 zum Parteichef der Falange wurde, sah er die Partei als politisches Instrument und nicht als die parteipolitische Erfüllung seiner Ideale an. Das faschistische Gedankengut der Parteigründer korrespondierte nicht mit den eigentlichen Machtergreifungssowie Machterhaltungsplänen Francisco Francos: „[…] el general sublevado menos revolucionario de los que se alzaron, Franco, se encontró año y medio después del 18 de julio de 1936, al frente de un partido único (en realidad de un partido bífido), que tenía por objetivo (supuesto) hacer una revolución fascista en la que él mismo no creía en absoluto.“ 715 Ridruejos politische Führungsfigur war, auch nach dessen Hinrichtung im Jahr 1936, José Antonio Primo de Rivera, mit dem er nicht nur die ideologischen Überzeugungen teilte, sondern ebenso die Leidenschaft für Literatur, insbeson‐ dere für die Lyrik. 716 Im Dezember 1935 nahm Ridruejo an einem Treffen der Falangisten um den líder Primo de Rivera teil, bei dem die Hymne der Falange entstehen sollte. Der junge Lyriker Dionisio Ridruejo, der zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Gedichtband Plural veröffentlich hatte, steuerte vermutlich die ersten beiden Verse der dritten Strophe von Cara al sol bei, welche durch zwei weitere Verse aus der Feder von Primo de Rivera komplettiert wurden: Volverán las banderas victoriosas/ al paso alegre de la paz./ Traerán prendidas cinco rosas/ la flechas de mi haz. 717 340 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="341"?> 718 Morente Valero, Francisco: „El vencedor vencido. Dionisio Ridruejo en su laberinto“, in: Fuentes Codera, Maximiliano u. a. (Hgg.), Itinerarios reformistas, perspectivas revoluci‐ onarias, Zaragoza 2016, S.-178. 719 Vgl. hierzu Collado Seidel, Der Spanische Bürgerkrieg, S. 177: „Wie der inhaftierte Primo de Rivera Anfang Oktiber 1936 in einem Interview mit einem amerikanischen Journalisten […] deutlich unterstrich, hätte er sich einer Instrumentalisierung seiner Bewegung zur Widerherstellung der alten sozialen Ordnung widersetzt […]. Damit stellte er aber für Franco eine politische Gefahr dar, und eine Befreiung konnte keinesfalls in dessen Sinne sein. Dies hielt Franco allerdings nicht davon ab, Primo de Rivera nach dessen Tod zum Märtyrer zu stilisieren […]. 720 Vgl. Ridruejo, Dionisio: Cuadernos de Rusia. Diario 1941-1942, Madrid 2013, S. 55ff. (Tagebucheintrag vom 4. Juli 1941). Während des Spanischen Bürgerkriegs übernahm Ridruejo, der zuvor als Falange-Chef in Segovia und Valladolid aktiv war, die Funktion des Director de Propaganda. Seine Nähe zum cuñadísimo Ramón Serrano Suñer, „el hombre más poderoso de España después del general Franco“ 718 , der als Außenminister die enge Kooperation mit den deutschen und italienischen Faschisten förderte, lässt Ridruejo in den Zirkel der politischen Führung aufsteigen. Als Propagandami‐ nister organisierte er unter anderem das medienwirksame Begräbnis des fortan als Märtyrer mythisierten José Antonio Primo de Rivera im Jahr 1937. 719 Durch die politische Nähe, die der Clan um Serrano Suñer zum Nazi-Regime pflegte, ist Ridruejo zugegen, als die Idee zur Gründung der División Azul aufkommt. Dionisio Ridruejo befürwortete die Formierung der Infanterieein‐ heit, beteiligte sich an den dafür notwendigen Maßnahmen und meldete sich freiwillig, als die Division im Jahr 1941 in den Krieg zog. 720 In seinen Cuadernos de Rusia schrieb Ridruejo über die Motivation, an die russische Front zu ziehen. Die Beweggründe, so zeigt der folgende Tagebucheintrag Ridruejos vom 4. Juli 1941, waren politischer und persönlicher Natur. Ridruejo hatte im Spanischen Bürgerkrieg aufgrund seiner Funktion als Propagandaminister nicht selbst zu den Waffen gegriffen, weshalb er nun die Gelegenheit gekommen sah, sich vom Stigma desjenigen, der über den Krieg geredet und ihn nicht am eigenen Leib erfahren hatte, zu befreien: Diría - aunque parezca exceso - que España se nos ha hecho más agria y triste que nunca. Casi todas mis ilusiones - nuestras ilusiones - políticas, sociales, estéticas naufragan en una mediocridad perezosa y envanecida que, por lo mismo que simula lo que debería ser y no es, cierra el paso a toda esperanza normal. Intervenir ahora será cuando menos romper esta costra nacida demasiado confusa. Acaso este esfuerzo pueda tener una reversión ‘civil’, hacia nuestra interioridad política y social que otra vez… 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 341 <?page no="342"?> 721 Ridruejo, Cuadernos de Rusia, S.-55. 722 Morente Valero, „El vencedor vencido. Dionisio Ridruejo en su laberinto“, S.-182. También en lo personal íntimo rompo así con una crisis de inadaptación o de desencanto. Que no es tristeza sino viva exasperación contra casi todas las realidades en las que vivo. Decepción. Insuficiencia de mi tarea política (que nada puede); poquedad de mi obra literaria, adulada por otros pero nada satisfactoria para mí; atasco de otras muchas direcciones de mi vida… 721 Es wäre eine Vereinfachung, den Einsatz an der russischen Front als Beginn seines ideologischen Wandels zu bezeichnen. Zwar geht Ricardo Doménech Rico davon aus, dass die Kriegserfahrung maßgeblichen Anteil an der ideologisch-po‐ litischen Entwicklung Ridruejos hatte, doch belegen dessen Niederschriften nach 1942, dass die Erfahrung in der División Azul keineswegs zu einer un‐ mittelbaren Abkehr von seinen falangistischen Idealen führte. Zwar war die Konfrontation mit den Gräueln des Krieges eine traumatische Erfahrung für ihn, doch kehrte Ridruejo nach seiner Feuertaufe mit dem Vorhaben zurück, die falangistischen Ideale, die Francos Machtpolitik zunehmend zum Opfer gefallen waren, neu zu befeuern: Se ha dicho algunas veces que para entonces Ridruejo empezaba a tener grietas en su fe fascista y que eso fue lo que le llevó a distanciarse de Franco y su régimen. Nada más lejos de la realidad. La disidencia de Ridruejo en 1942 se produjo precisamente porque consideraba que el régimen que se había construido en España tenía poco de fascista y, en opinión de Ridruejo, el general Franco no tenía la menor intención de avanzar en esa dirección. El contenido de la misiva no deja el más mínimo lugar a la duda; el de algunas de las cartas que escribió a sus amigos y camaradas desde su confinamiento (primero en Ronda, luego en diversas ciudades catalanas), tampoco. En alguna de ellas, y cuando ya se había producido la debacle alemana en Stalingrado, Ridruejo aún escribía que se sentía más tentado que nunca de repetir la experiencia en el frente ruso. 722 Vor diesem Hintergrund ist auch der auf den 7. Juli 1942 datierte Brief einzu‐ ordnen, den Dionisio Ridruejo an Francisco Franco richtete und in dem er dem caudillo die Treue aufkündigte: Durante mucho tiempo he pensado […] que el Régimen que preside a través de todas sus vicisitudes unificadoras, terminaría por ser al fin el instrumento del pueblo español y de la realización histórica refundidora que nosotros habíamos pensado. No ha resultado así y lleva camino de que no resulte ya nunca. […] Yo y cualquier falangista preferiríamos hoy una dictadura militar pura, o un gobierno de hombres 342 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="343"?> 723 Amestoy Egiguren, Ignacio: „Literatura e historia. El testimonio del teatro“, in: Anth‐ ropos, 240 (2013), S.-112f. 724 Schmidt, Hans-Peter: Dionisio Ridruejo - Ein Mitglied der spanischen ‘Generación del 36’, Bonn 1972 (= Romanistische Versuche und Vorarbeiten, 41), S.-101. 725 Ridruejo, Dionisio: Escrito en España, Buenos Aires 1964, S.-20f. ilustres, a esta cosa que no hace sino turbarnos la conciencia. […] Cumplo con mi conciencia presentando ante Vuecencia mi absoluta insolidaridad. 723 Zeitgleich versendete Ridruejo zwei weitere Briefe, in denen er um die Entlas‐ sung aus allen politischen Ämtern bat und seinen Parteiaustritt firmierte. Den ersten richtete er an den wenige Tage später entlassenen Außenminister Serrano Suñer, den zweiten an den Generalsekretär der Falange José Luis de Arrese. 724 Der Umstand, das Ridruejo diese Briefe kurz nach seiner Rückkehr aus Russland verfasste, suggeriert einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem dort Erlebten und seiner politischen Abdankung. Kurz nach seiner Rückkehr aus Russland schrieb Ridruejo: A mi regreso de Rusia hube de dedicar bastante tiempo a reparar mi salud, pero entre tanto fui cambiando impresiones con unos y con otros y haciéndome cargo se la situación. Salvo ara mi halago personal, […], todo iba a peor. Las posiciones conservadoras se afirmaban en todas partes. La represión alcanzaba proporciones absurdas. La corrupción daba sus primeros pasos. […] ¿Para qué seguir? Hacia el mes de julio visité en el campo al secretario general y vivamente le planteé el problema: si el Partido no estaba dispuesto a imponer, incluso mediante la rebeldía, las reformas que el país necesitaba, yo estaba de más en aquel juego. 725 Obgleich die Kriegserfahrung zweifelsohne zu der Distanzierung zum Franco-Regime beitrug, so war es doch vor allem Ridruejos Enttäuschung über den Umstand, dass sich das Regime immer weiter von den Idealen José Antonio Primo de Riveras entfernte, die ihn zur Aufkündigung der Regimetreue bewog. Parteiaustritt und Ämterniederlegung waren folglich nicht gleichbedeutend mit einer ideologischen Kehrtwende - im Gegenteil. Der Historiker Francisco Morente Valero geht davon aus, dass Ridruejo erst ab Mitte der 1950er Jahre eine ideologische Wandlung zu vollziehen begann. Diese Abkehr stand im Zusammenhang mit zwei Ereignissen, einem in Barcelona gehaltenen Vortrag, in dem er öffentlich den „carácter legitimador“ des Staatsstreichs vom Juli 1936 zur Disposition stellte, sowie der Unterstützung der ersten öffentlichen Proteste gegen das Regime in der Madrider Universität im Februar 1956. Als einer der vermeintlichen Rädelsführer wurde Ridruejo im Anschluss an die studentische Kundgebung für vierzig Tage inhaftiert: 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 343 <?page no="344"?> 726 Morente Valero, „El vencedor vencido. Dionisio Ridruejo en su laberinto“, S.-184f. 727 Vgl. García Cueto, Pedro: „Dionisio Ridruejo, falangista y demócrata“, in: El Ciervo, 96 (2012), S.-35. En mi opinión, es en estos años, y muy especialmente a partir de 1955, donde hay que buscar el punto de inflexión en la trayectoria político-ideológica de Dionisio Ridruejo. […] A lo largo de 1955, sus contactos con un grupo de inquietos estudiantes de la Universidad de Madrid que eran comunistas (lo que Ridruejo no sabía) y la creciente convicción de que el régimen no estaba dispuesto a avanzar ni un milímetro en la línea que él consideraba necesaria le llevaron poco a poco a posiciones de abierta disidencia, aunque todavía no de oposición. Su sonada conferencia en el Ateneo de Barcelona el 12 de abril de 1955, organizada por la Hermandad de Excombatientes de la División Azul y en la que hizo una lectura matizadamente positiva de la Segunda República y cuestionó abiertamente el carácter legitimador del 18 de Julio, ya avisó de que el rumbo que estaba siguiendo era de colisión con el régimen. Los sucesos de Madrid de febrero de 1956 pusieron punto final a la experiencia Ruiz Giménez y dieron con Dionisio Ridruejo en la cárcel como uno de los promotores y alentadores espirituales (lo que era claramente exagerado) del grupo de estudiantes comunistas (Enrique Mágica, Javier Pradera, Ramón Tamames…) a los que se adjudicó la responsabilidad de la agitación política en la Universidad de Madrid que haba conducido al choque violento entre estudiantes falangistas y opositores. 726 Im Jahr 1957 rief Ridruejo gemeinsam mit einigen wenigen Verbündeten den clandestinen Partido Social de Acción Democrática (PSAD) ins Leben, der aus dem Untergrund jedoch keinerlei Einfluss ausüben konnte. Die Teilnahme am 1962 in München stattfindenden Congreso del Movimiento Europeo, den die Propagandisten der Falange als „Contubernio de Múnich“ diffamierten, zeugen von der ideologischen Wandlung Ridruejos. Der Intervention in München folgte ein zweijähriger Exilaufenthalt in Paris. Unmittelbar im Anschluss an seine Rückkehr nach Spanien im Jahr 1967 musste Ridruejo wegen einer Pressekonferenz, die vom Regime als illegale Pro‐ paganda eingestuft wurde, erneut eine mehrmonatige Gefängnisstrafe ableisten. Die Jahre zwischen 1968 und 1970 verbrachte Ridruejo schließlich in den USA, wo er als Literaturdozent an den Universitäten Wisconsin und Austin lehrte und wo er im Austausch mit republikanischen Exilanten stand. 727 Erst im Jahr 1974 gelang es Ridruejo, die Kräfte der demokratischen Gruppie‐ rungen Spaniens zu bündeln und ihnen durch die Neugründung der Unión Social Demócrata Española (USDE) einen strukturellen Rahmen zu geben: „El nuevo partido se presentaba como moderado, democrático, reformista, defensor de la economía de mercado aunque con espacio para el sector público de la economía y 344 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="345"?> 728 Morente Valero, „El vencedor vencido. Dionisio Ridruejo en su laberinto“, S.-188. 729 Madrid Teatro (2014), „Dionisio Ridruejo - Una pasión española“, URL: http: / / www .madridteatro.net/ index.php? option=com_content&; view=article&id=3482: dionisio-ri‐ druejo-una-pasion-espanola-amestoy&catid=288: informacion&Itemid=261 [13. März 2018]. 730 Doménech Rico, „Introducción“, S.-57. las reformas sociales.” 728 Zu den Mitgliedern der Partei zählten unter anderem die Autoren Juan Benet sowie Antonio Buero Vallejo, die im Gegensatz zu Ridruejo, der am 29. Juni 1975 verstarb, Zeugen des demokratischen Übergangs werden sollten. Die eingangs formulierte These lautete, dass das von Ridruejo verkörperte Konfliktpotential gerade darin begründet liegt, dass seine ideologischen Über‐ zeugungen stets seine politischen Entscheidungen leiteten und er damit eine Art Gegenfigur zum politischen Opportunismus repräsentiert. Dionisio Ridruejo distanzierte sich aufgrund seiner faschistischen Überzeugung zunächst vom Franquismus, bevor er am Faschismus selbst zu zweifeln begann und die erste demokratische Partei unter Franco gründete. In einem Interview erklärte Ernesto Arias, der Schauspieler, der bei der Uraufführung von Dionisio Ridruejo - Una pasion española (2014) die Rolle des Coronel spielte, seine Faszination für Dionisio Ridruejo wie folgt: Lo que me impresionó de él es que por seguir los dictados de su conciencia sufre las consecuencias: el exilio, la cárcel. Probablemente para él lo cómodo hubiera sido callarse, ser ministro, vivir cómodamente dentro del régimen. No tuvo presente eso de la obediencia debida, que también la hay ahora y lo es al Partido, a la Plataforma de Poder. Siempre me atrajeron esos personajes, que por seguir los dictados de su propia conciencia sufren las consecuencias y se privan de la comodidad. 729 Ridruejo war Faschist und er war Demokrat, ein Umstand der denjenigen, die Ridruejo während und nach der Diktatur unerwähnt lassen wollten, genug Argumente lieferte, um ihn dem Vergessen anheim fallen zu lassen. In der Biographie Ridruejos liegt somit die Antwort auf die Frage begründet, weshalb sich Amestoy nach der Publikation des Textes derartigen Vorbehalten seitens der Theaterhäuser ausgesetzt sah. Mit Blick auf die ideologische und politische Entwicklung Ridruejos schreibt Fernando Doménech Rico im Einführungstext der 2015 erschienen Neuauflage des Dramas: „Probablemente habrá pocas figuras tan conflictivas en la historia española del siglo XX como Dionisio Ridruejo.“ 730 In seinem am 14. März 2014, dem Tag der Erstaufführung des Stücks, im Kultur-Ressort der Tageszeitung ABC publizierten Artikel über die Inszenierung 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 345 <?page no="346"?> 731 Vgl. Amestoy, Dionisio Ridruejo - Una pasión española., S. 243 (Apéndice I. Textos de Ignacio Amestoy). 732 Bravo, Julio (2014): „‚Dionisio Ridruejo - Una pasión española’: el primer hombre de la transición“, URL: http: / / www.abc.es/ cultura/ teatros/ 20140314/ abci-dionisio-ridruejo -teatro-ocio-201403131752.html [01. März 2018]. 733 Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979, S.-46. von Carlos Pérez de la Fuente fasst der Journalist Julio Bravo nicht nur die wichtigsten biographischen Stationen des Politikers Ridruejo zusammen, sondern er verweist ebenso darauf, dass diese Figur, die als Sprachrohr der Falange massenwirksam in Erscheinung trat und im Anschluss an seine ideo‐ logische “Läuterung“ vom Historiker Santos Juliá als „primer demócrata de la transición“ bezeichnet wurde 731 , während der transición nicht in Erinnerung gerufen wurde: Juan Benet escribió, al morir Dionisio Ridruejo: ‘No yace aquí la esperanza, sino quien la despertó’. Hablaba de un hombre, un poeta e intelectual, que militó en la Falange, fue director general de Propaganda del bando franquista, que escribió dos versos del ‘Cara al sol’ y luchó en Rusia junto a la División Azul. De un hombre que contó con la absoluta confianza de Franco (quiso casarle con su hija) y que, defraudado por el régimen, renunció a todos sus cargos políticos, expresó abiertamente sus ideas y sufrió cárcel y exilio por ellas. De un hombre que fundó, en los años cincuenta, el protopartido político Acción Democrática, reconvertido después como Unión Social Demócrata Española (USDE) y participó en el denominado Contubernio de Múnich y murió en 1975, meses antes que el dictador, sin llegar a ver el establecimiento de la democracia. De un hombre, además, silenciado por el régimen y hoy en día prácticamente olvidado y desconocido por las jóvenes generaciones. 732 Die Rigorosität Ridruejos, mit der er lange Zeit für die faschistischen Ideen der Falange eintrat, steht unabhängig von ihrer Ausrichtung im Gegensatz zur Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten, ideologischer Perspektive und politischer Handlung sowie innerer Entwicklung und äußerer Stagnation, wie sie diejenigen erlebten, die, wie es Karl Jaspers mit Blick auf das Nazi-Regime formulierte, ein „Leben in der Maske“ führten oder zu führen gezwungen waren. Diese Feststellung ist selbstverständlich rein struktureller Natur und entbehrt jeder moralischen Bewertung, denn das „Leben in der Maske“ war in vielen Fällen „unausweichlich für den, der überleben wollte“ 733 , obgleich es Schuld mit sich brachte. Diese Überlegungen führen uns zum Agon des Dramas Dionisio Ridruejo - Una pasión española, zur Frage nach der Schuld derjenigen, die im Jahr 1975 346 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="347"?> darauf warteten, die Maske des Franquismus absetzen zu können, gleich einem Schauspieler, der das Ende einer grotesken Inszenierung herbeisehnt, um seine unliebsame Rolle abzulegen. Dies geschah bei einigen erst, als der bereits ans Krankenbett gefesselte “Spielleiter“ starb. 3.3 Gescheiterter Übergang? Zur Interdependenz von Schuld, Vergebung und Versöhnung Innerhalb des „teatro del drama de España“ versammelt Amestoy fünf Figuren, die, obwohl sie unterschiedliche politische Positionen vertreten oder sich durch gänzlich apolitisches Verhalten auszeichnen, eine Gemeinsamkeit aufweisen. Auf ihre je eigene Weise hat jede Figur eine Mitverantwortung für die 1975 immer noch existierende Militärdiktatur sowie dafür, dass dem Übergang Spaniens von der Diktatur zur Demokratie keine von der Bevölkerung oder der organisierten Opposition ausgehende Bewegung vorausging, welche die Phase der transición sowie die Erinnerungskultur nach 1975 unter andere Vor‐ zeichen gesetzt hätte. Die Fiktion entspricht hier insofern der lebensweltlichen politischen Situation im Juni 1975, als dass es das Warten auf die Veränderung mit der Vermeidung einer offenen politischen Konfrontation in Beziehung setzt, wie sie beispielsweise von Dionisio Ridruejo eingegangen wurde. Mit Blick auf die spanische Geschichte, insbesondere auf die Phase der Aufklärung, ist man, obgleich man die Gefahr einer plakativen ironischen Zuspitzung eingeht, dazu geneigt, von einer ‚Demokratie von oben’ zu sprechen, wobei sich der Begriff ‚oben’ in diesem Fall sowohl auf den König Juan Carlos I. als auch auf die “göttliche Fügung“ bezüglich des Ablebens Francos beziehen ließe. Die Ausdrucksformen der Mitverantwortung sind bei den auftretenden Figuren zwar völlig unterschiedlicher Natur, führen letztlich jedoch zum selben Ergebnis, dem jahrzehntelangen Fortschreiben einer Militärdiktatur, deren Ende Mitte 1975 zwar erwartet, jedoch nicht aktiv herbeigeführt wurde, sowie zu einem Übergang, in dessen Verlauf die Aufgabe der Demokratisierung nicht in den Händen einer demokratischen Opposition lag, sondern, man bedenke das Beispiel Adolfo Suarez, in den Händen der Franquisten. Die vier Militärvertreter waren und sind allesamt Teil des franquistischen Systems und profitieren in der residencia militar von den Privilegien eines soldatischen Lebens innerhalb einer Militärdiktatur. Selbst der der Unión Militar Democrática (UMD) angehörende CAPITÁN profitiert vom Einfluss seines hochrangigen Vaters. Damit sind sie, unabhängig von ihrer eigentlichen Haltung gegenüber dem Regime, mitverant‐ wortlich für das Regime. Der erzwungene Aufenthalt der Figuren im manicomio fungiert damit nicht nur als Symbol für die scheinbare Ausweglosigkeit aus 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 347 <?page no="348"?> 734 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-22. dem überkommenden System, sondern zudem als Symbol für die politische Mitverantwortung der Figuren bzw. für die Unmöglichkeit, sich von dieser Mitverantwortung freizusprechen. Als funktionaler Teil des Systems ist ein Außerhalb schlichtweg nicht denkbar. Gleichermaßen hat die Aufkündigung der Solidarität repressive Maßnahmen seitens der Machthaber zur Folge. Ein Grund für die Komplexität des Theatertextes von Ignacio Amestoy besteht m. E. in der Verhandlung des diffizilen Verhältnisses von Einzel- und Kollektivschuld bzw. von moralischer und politischer Schuld. Dionisio Ridruejo - Una pasión española ist ein Drama über Schuld und die Frage nach dem Umgang mit Schuldgefühlen, die sich aus der Diskrepanz zwischen dem Sein und dem Tun ergeben. Der Theatertext fungiert als unbequemes Gewissen in einer Phase, in der die Versöhnung ohne ein vorheriges Schuldbekenntnis erreicht werden soll. Zugleich fungiert Dionisio Ridruejo innerhalb der fiktionalen Welt als Instanz des Gewissens, die all denjenigen den Spiegel vorhält, die ein “Leben in der Maske“ führten. Der Begriff der ‚Schuld’ ist m. E. zentral für die Beschäftigung mit diesem Theatertext. Deshalb soll in der Folge auf die Überlegungen des deutschen Philosophen Karl Jaspers sowie des französischen Philosophen Paul Ricœurs, eine der Leitfiguren dieser Studie, zum Begriff der Schuld rekurriert werden. Die terminologische Schärfung des Schuldbegriffs ermöglicht es anschließend, nach der Ästhetisierung des Verdrängens auf dramatischer Ebene und der Initiierung der Vergebung auf theatralischer Ebene zu fragen. Karl Jaspers unterscheidet vier Schuldbegriffe, die vor der „Flachheit des Schuldgeredes“ 734 bewahren und die der vorliegenden Analyse zugrunde gelegt werden sollen: die kriminelle Schuld, die politische Schuld, die moralische Schuld und die metaphysische Schuld. Die Parameter, die Jaspers diese Schulbegriffe voneinander unterscheiden lassen, stellen die jeweils richtenden Instanzen und die sich im Anschluss an das Schuldbekenntnis ergebenden Folgen dar. Kriminelle Schuld, so Jaspers, lädt sich derjenige auf, der ein Verbrechen begeht, eine objektiv nachweisbare Handlung also, die gegen die herrschenden Gesetze verstößt und somit zum Gegenstand gerichtlicher Verhandlung wird. Die Instanz für die Bestimmung krimineller Schuld ist das Gericht, die Folge der juristische Strafvollzug. Die politische Schuld dagegen „besteht in den Handlungen der Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates tragen muß, dessen Gewalt ich unterstellt bin und durch dessen Ordnung ich mein Dasein habe (politische Haftung).“ 735 Jaspers 348 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="349"?> 735 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-21. 736 Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-726. 737 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-44. 738 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-44f. 739 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-21. geht davon aus, dass jeder Mensch eine Mitverantwortung für die Regierung trägt, der er untersteht. Wer politische Haftung übernehmen muss, entscheidet nicht das Gericht, sondern der Wille des Siegers, desjenigen also, der einzig aufgrund seiner Machtposition über die Zuschreibung der Begriffe ‚Opfer’ und ‚Täter’ bestimmen kann. Diese Zuschreibungen sind entsprechenden Ver‐ änderungen unterworfen, abhängig davon, wer am Ende eines Machtkampfes als Sieger hervorgeht. Mit Blick auf das ausgehende 20. Jahrhundert und den Beginn des 21. Jahrhundert spricht der französische Philosoph Paul Ricœur in Anlehnung an den Begriff Jaspers’ von den Autoritäten, die die Interessen und Rechte der Opfer vertreten. 736 Die Folge der politischen Schuld, so Jaspers und Ricœur, ist der verantwortungsbewusste Umgang mit dem historischen und politischen Erbe, denn „[e]in Volk haftet für seine Staatlichkeit. […] Wir ‘haften’ kollektiv.“ 737 Diese kollektive politische Haftung bzw. Verantwortung darf jedoch niemals allein als Grundlage für das Einfordern moralischer Schuld missbraucht werden: Mit Blick auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs formuliert Jaspers: Die Frage ist, in welchem Sinn jeder von uns sich mitverantwortlich fühlen muß. Zweifelsohne in dem politischen Sinne der Mithaftung jedes Staatsangehörigen für die Handlungen, die der Staat begeht, dem er angehört. Darum aber nicht notwendig auch in dem moralischen Sinne der faktischen oder intellektuellen Beteiligung an den Verbrechen. Sollen wir Deutsche für die Untaten die uns von Deutschen zugefügt wurden oder denen wir wie durch ein Wunder entgangen sind, haftbar gemacht werden? Ja - sofern wir geduldet haben, daß ein solches Regime bei uns entstanden ist. Nein - sofern viele von uns in ihrem innersten Wesen Gegner all dieses Bösen waren und durch keine Tat und durch keine Motivation in sich eine moralische Mitschuld anzuerkennen brauchen. Haftbarmachen heißt nicht als moralisch schuldig erkennen. 738 Der Begriff der metaphysischen Schuld, der hier, anders als bei Jaspers, vor dem der moralischen Schuld erläutert wird, spielt auf eine aprioristische Soli‐ darität zwischen Menschen an, in die jeder Einzelne hineingeboren wird. Die Mitverantwortung für „alles Unrecht und alle Ungerechtigkeiten in der Welt“ 739 ergibt sich, wenn der Mensch nicht alles in seiner Macht stehende unternimmt, um dieses Unrecht zu verhindern. Die Instanz dieses transzendentalen Schuld‐ begriffs ist Gott allein, die Folge das Ausbleiben christlicher Gnade. 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 349 <?page no="350"?> 740 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-21. 741 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-46. 742 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-46. 743 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-46. 744 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-47. Die moralische Schuld schließlich betrifft allein das Individuum, das durch einen Akt der Reflexion zum Richter seiner selbst wird. „Für Handlungen, die ich doch immer als einzelner begehe, habe ich die moralische Verantwortung, und zwar für alle meine Handlungen, auch für politische und militärische Handlungen, die ich vollziehe. Niemals gilt schlechthin ‚Befehl ist Befehl’“ 740 , so Jaspers. Die richtende Instanz ist in diesem Fall das Gewissen, genauer, das moralische Gewissen. Moralisch zu richten setzt voraus, sich selbst gegenüber als Objekt auftreten zu können. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von einer „moralischen Selbstdurchleuchtung“ 741 . Die Reflexion des Selbst, die Beobach‐ tung des eigenen Handelns von einem Punkt außerhalb unserer Selbst ist die conditio sine qua non des moralischen Gewissens. Diese Annahme macht Jaspers Behauptung nachvollziehbar, dass „Hitler und seine Komplizen […] außerhalb der moralischen Schuld [stehen], solange sie sie überhaupt nicht spüren.“ 742 Wo kein innerer Richter, da kein innerer Henker. Wo kein Gewissen, da keine moralische Schuld. Und dies ist völlig unabhängig von der kriminellen und politischen Schuld zu sehen, die sich „Hitler und seine Komplizen“ aufgeladen haben. „Die moralische Schuld besteht bei allen, die dem Gewissen und der Reue Raum geben. Moralisch schuldig sind die Sühnefähigen […].“ 743 Jaspers nennt mit Blick auf das Nazi-Regime sechs exemplarische Kategorien für ein Leben in moralischer Schuld. Diese sind zweifelsohne auf jedes Leben innerhalb von Diktaturen übertragbar. Er unterscheidet das Leben in der Maske, das Leben mit einem falschen Gewissen, Halbheit und innere Angleichung, die Selbsttäuschung, das aktive und passive Eingehen von moralischer Schuld sowie das Mitläufertum. Die Klärung dieser Begriffe, die teils eine strukturelle Nähe zum Theaterspiel aufweisen, bildet den letzten Schritt, bevor die Analyse des Theatertextes mithilfe eines differenzierten Schuldbegriffe fortgeführt wird. Unter einem Leben in der Maske versteht Jaspers „[l]ügenhafte Loyalitäts‐ bekundungen gegenüber drohenden Instanzen“, die ein bestimmtes Sprechen, Gebären und Verhalten einfordern. Die Konsequenz dieser Ausdrucksform der moralischen Schuld ist der Schleier des Als-ob, die Maske der ideologischen und politischen Konformität, ein Spiel zum Zwecke des „Dabeiseins“. „Die Tarnung gehörte zum Grundzug unseres Daseins. Sie belastet unser moralisches Gewissen.“ 744 350 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="351"?> 745 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-49. 746 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-51. Das falsche Gewissen weist eine strukturelle Nähe zum Begriff der ‚Anagno‐ risis’ auf, der ein Wiedererkennen meint, einen im Kontext der Schuld auf sich selbst bezogenen Akt des Erkennens. Auf das Erkennen der eigenen Schuld folgt das beklemmende Gefühl, zugleich Subjekt und Objekt einer Täuschung gewesen zu sein, sich selbst unwissend etwas vorgespielt zu haben. Der Um‐ stand, es nicht besser gewusst zu haben, unfreiwillig eine Rolle angenommen zu haben, verhindert nicht das Gefühl moralischer Schuld, das im Moment des Richterspruchs des eigenen Gewissens einsetzt. Bedingung dafür ist jedoch die Wiedererkennung, die Anagnorisis. Mit den Begriffen der ‚Halbheit’ bzw. der ‚inneren Angleichung’ spielt Jaspers auf diejenigen an, die versuchen, dem offensichtlich Schlechten zum Zwecke der eigenen Gewissensberuhigung etwas Gutes abzugewinnen. Die Folgen dieser sich irrenden Objektivität bestehen darin, dass vermeintlich Positives, wie das Versprechen auf Vollbeschäftigung oder ein Ende der Nahrungsknappheit, gegen Negatives, wie rassistische Übergriffe, aufgerechnet wird. Der filternde und daher trügerische Blick sieht die Vorteile und blendet die Kollateralschäden und Verwerfungen aus. Der Begriff der ‚Selbsttäuschung’ im Sinne Jaspers geht einen Schritt weiter als die innere Angleichung. Während durch die innere Angleichung der Ver‐ such unternommen wird, das Schlechte schlichtweg zu überblenden, geht der Selbsttäuschung das bewusste Erkennen und Benennen des Schlechten voraus, ähnlich wie beim Leben in der Maske. Die Besonderheit der Selbsttäuschung besteht nun darin, die eigene Handlungsfähigkeit gegenüber der drohenden Gefahr zu überschätzen und die Schlagkraft der drohenden Gefahr zu unter‐ schätzen. „Manche gaben sich der bequemen Selbsttäuschung hin: Sie würden diesen Staat schon ändern, die Partei werde wieder verschwinden, spätestens mit dem Tod des Führers. Jetzt müsse man dabei sein, um von innen heraus die Sache zum Guten zu wenden.“ 745 Hier werden die Hoffnungen mit der Besorgnis über den gegenwärtigen Zustand verrechnet, um sich der Notwendigkeit des Einschreitens zu entziehen. Schließlich ist die moralische Schuld der Passivität anders einzuschätzen als die der Aktivität der Ausführenden, Leitenden und Propagandisten, so Jaspers. „Aber die Passivität weiß ihre moralische Schuld für jedes Versagen, das in der Nachlässigkeit liegt, nicht jede irgend mögliche Aktivität zum Schutz Bedrohter, zur Erleichterung des Unrechts, zur Gegenwirkung ergriffen zu haben.“ 746 Selbst im Sichfügen, meint Jaspers, besteht immer die Möglichkeit 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 351 <?page no="352"?> 747 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-51. 748 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-22. der vorsichtigen, jedoch wirksamen Aktivität und somit des Widerstands. Das Wissen um diese Möglichkeit bildet den Kern der moralischen Schuld der passiv Bleibenden, derjenigen, die vermeintlich keinen aktiven Beitrag zu Leid und Unrecht geleistet, dies jedoch ebensowenig im Hinblick auf die Verhinderung dieses Unrechts getan haben. Die letztgenannte Ausdruckform der moralischen Schuld ist das Mitläu‐ fertum. Jaspers spricht von der moralischen Schuld „im äußeren Mitgehen“, von einer äußeren Anpassung, die ihren Ausdruck beispielsweise in der Ein‐ gliederung in die Einheitspartei und der Aufnahme der vorgegebenen Diskurs‐ regeln finden kann. „Ein ‚Abzeichen’ war nötig, äußerlich, ohne innere Zu‐ stimmung.“ 747 Doch nicht jeder gab sich dieser scheinbaren Alternativlosigkeit geschlagen. Eine Entschuldigung für das Mitläufertum ist angesichts derjenigen, die nicht mitliefen, derjenigen, die inneren oder äußeren Widerstand leisteten, schlichtweg nicht zu rechtfertigten. Das Mitläufertum unterscheidet sich vom Leben in der Maske durch die Offizialität. Das Mitläufertum im Sinne Jaspers meint nicht die soziale Loyalitätsbekundung, sondern die nominelle Zugehörig‐ keit, die ihren Ausdruck beispielsweise im Eintritt in die Einheitspartei oder in der Übernahme eines politischen Amtes findet. Im Anschluss an diese definitorische Schärfung des Schuldbegriffs, die auch die vorliegende Studie vor der „Flachheit des Schuldgeredes“ 748 bewahren soll, gilt es zur Analyse des Theatertextes zurückzukehren. Zunächst ist zu fragen, welche Rolle die Einbettung des dramatischen Geschehens im emblematischen Jahr 1975 für die Verhandlung des Schuldmotivs spielt. Wenige Monate vor dem Tod Francisco Francos waren sich sowohl die Politikerinnen und Politiker Spaniens - mit Ausnahme einiger politischer Hardliner wie den Mitgliedern des ‚búnker’ - als auch der Großteil der Bevölkerung darüber bewusst, dass der Franquismus nach dem Tod Francos der Geschichte angehören würde. Auch wenn die konkrete Umsetzung der postfranquistischen Neuorientierung noch nicht geklärt war, so zweifelte niemand daran, dass das Land vor einer historischen Zäsur stand. Das Wissen um diese politische Strukturveränderung, unabhängig davon, ob dieser eine Fortführung der franquistischen leyes funda‐ mentales unter anderem Namen, ein radikaler Bruch mit der franquistischen Gesetzgebung oder ein milder Übergang folgen würde, bildet somit die histori‐ sche Fläche, auf der sich das dramatische Geschehen sowie die binnenfiktionale Auseinandersetzung abspielen. Als Beleg dient folgender Dialog aus der Mitte des ersten Akts: 352 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="353"?> 749 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-195. 750 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-213. CAPITÁN. Señor, toda comunidad necesita una autoridad que se haga respetar y querer. GENERAL. Exacto. Lástima que el caudillo se nos esté acabando y no haya surgido otro para sucederle. CAPITÁN. Vamos a tener un rey. GENERAL. ¿Está usted seguro? CAPITÁN. Eso es lo que el jefe ha previsto. GENERAL. Ojalá el caudillo fuera eterno. CAPITÁN. Nada es eterno. GENERAL. Solo Dios, ¿verdad, hijo? CAPITÁN. Eso creemos. 749 Das Wissen um das Ende des Franquismus implizierte das Wissen um die bevorstehende Integration in den europäischen Staatenbund unter demokrati‐ schen Vorzeichen. Auch dies wird im Text explizit ausformuliert. Als Coronel Arenas vom Tod Dionisio Ridruejos erfährt, reagiert er mit folgendem Aus‐ spruch: „¡Dionisio! […] Te hemos matado antes de que llegaras a la tierra prometida.“ 750 Auf den hier formulierten alttestamentarischen Verweis wird genauer einzugehen sein, wenn sich die Analyse der biblisch-liturgischen Ebene des Theatertextes widmet. Vorerst soll festgehalten werden, dass das Handeln der Figuren auch als Verhandlung der eigenen Position angesichts des bevorstehenden Übergangs zur Demokratie, für den Ridruejo seit den 1960er Jahren eintrat, betrachtet werden muss. Dieser Umstand, und dies ist für die weitere Interpretation von entscheidender Bedeutung, ruft bei all denjenigen die richtende Instanz des moralischen Gewissens auf den Plan, deren Hoffnung auf ein Ende des Franquismus und den Übergang zur Demokratie nicht mit ihrem politischen Verhalten während des Franquismus korrespondierte. Es ist die Diskrepanz zwischen innerer Haltung und äußerer Handlung, wahrem Sein und Tun, die das Thema der Schuld in das Drama einschreibt und nicht nur zur Quelle der psychopathologischen Heimsuchung auf Seiten des Coronel Arenas wird, sondern ebenso die Hoffnung auf die dem Schuldbekenntnis folgende Vergebung nährt. Aus der Differenz zwischen Sein und Tun speist sich das moralische Gewissen, das somit per definitionem als negative Erfahrung beschrieben werden muss. Das Gewissen setzt die Moralfähigkeit, die Thomas v. Aquin als synteresis beschrieb, voraus, da durch diese das Ausbleiben der 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 353 <?page no="354"?> 751 Mieth, Dietmar: „Gewissen“, in: Wils, Jean-Pierre/ Hübenthal, Christoph (Hgg.), Lexikon der Ethik, Paderborn 2006, S.-126. 752 Die metaphysische Schuld wird an dieser Stelle nicht übersehen, jedoch aufgrund der mangelnden Relevanz für die Überlegungen vorerst ausgespart. 753 Oliva, „Prólogo“, S.-17. 754 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-45. 755 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte Vergessen, S.-703. 756 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte Vergessen, S.-705. Anwendung der moralischen Erkenntnis (concientia i S. v. Thomas v. Aquin) erst entdeckt wird. 751 Alle fünf Figuren im Drama sind schuldig, obgleich es sich bei ihrer ge‐ meinsamen Schuld zunächst um eine politische Schuld im Sinne Karl Jaspers handelt. 752 Sowohl die vier Militärvertreter als auch die Enfermera trifft die politische Haftung, weil sie eine stabilisierende und generierende Funktion innerhalb des „teatro del drama de España“ 753 ausüben und „[…] auch sie ihr Leben durch die Ordnung des Staates haben.“ 754 Für sie gibt es somit kein Außerhalb der politischen Verantwortung, ebensowenig wie es ein physisches Außerhalb für die Insassen des manicomio gibt. Anders verhält es sich mit der kriminellen Schuld, welche den Justizapparat als richtende Instanz voraussetzt. Weder die Verbrechen, die vom General, dem Coronel und dem Comandante während des Spanischen Bürgerkriegs verübt wurden, noch das Leid, das der Coronel als divisionista verursachte, stehen innerhalb des noch herrschenden franquistischen Systems zur Verhandlung. Weitaus ergiebiger ist die Frage nach der im Drama verhandelten moralischen Schuld. Wie mit Blick auf Jaspers herausgestellt wurde, setzt das Erkennen moralischer Schuld einen Akt der Reflexion voraus, durch den das Subjekt sich und seine Handlungen von einem Punkt außerhalb seiner selbst betrachtet und mithilfe seines Gewissens das Verhältnis von Sein und Tun bemisst. Paul Ricœur formuliert entsprechend: „Der Reflexion bietet sich die Schulderfahrung als eine Gegebenheit an. Sie gibt ihr zu denken. „755 In diesem Prozess treten drei Komponenten zusammen: Der Handelnde (1) erkennt die vergangene oder gegenwärtige Handlung (2) als die eigene an und prüft sie vor der Folie seines moralischen Gewissens (3). „Die Reflexion […] führt ins Zentrum der Selbst-Erinnerung zurück, die der Ort der für das Schuldgefühl konstitutiven Affektion ist.“ 756 Die Anerkennung einer Verbindung zwischen Handelndem und Handlung bezeichnet Ricœur als ‚Zurechenbarkeit’. Die Schuld, so Ricœur, sei „im Be‐ reich der Zurechenbarkeit zu suchen. Das ist der Bereich der Verbindung der Handlung mit dem Handelnden, des ‚Was’ der Handlung mit dem ‚Wer’ des Handlungsvermögens - der agency. Es ist eben diese Verbindung, die in der 354 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="355"?> 757 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S.-703. 758 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte Vergessen, S.-703. 759 Als Beispiel können die politischen Unruhen in Katalonien ab 2017 infolge eines von der katalanischen Generalitat durchgeführten Unabhängigkeitsreferendums angeführt werden. Die Regierung Mariano Rajoys (Partido Popular) erklärte dieses Referendum für verfassungswidrig. Die innenpolitische Krise befeuerte noch immer existierende, auf den Franquismus zurückgehenden Ressentiments zwischen Madrid und Barcelona und erschwerte die diplomatischen Verhandlungen. Vgl. Minder, Raphael: The Struggle for Catalonia. Rebel Politics in Spain, London 2017. Erfahrung der Schuld in gewisser Weise schmerzlich affiziert und verletzt wird.“ 757 Die Fähigkeit zur Reflexion und der damit verbundenen Zurechenbarkeit hat für Ricœur eine essentielle erinnerungskulturelle Dimension. Denn nur dort, wo das eigene Handeln gegenwärtig und nachträglich reflektiert und Subjekten zugerechnet wird, besteht die erst durch ein Schuldbekenntnis aufkeimende Hoffnung auf Vergebung, die wiederum Voraussetzung für Versöhnung ist. „Es kann nämlich nur da Vergebung geben, wo man jemanden beschuldigen kann, ihn für schuldig halten oder erklären kann“ 758 , so Paul Ricœur. Und: „Die Schuld ist die existenzielle Voraussetzung der Vergebung […].“ Anders gewendet, Vergebung und Versöhnung können nicht ohne Schuld existieren und Schuld wiederum ist nicht ohne die Fähigkeit der Reflexion und der Zure‐ chenbarkeit denkbar. Diese logische Folge führt schlüssig vor Augen, weshalb die Transition im post-franquistischen Spanien aus heutiger Perspektive von Beginn an zum Scheitern verurteilt war und sich noch immer in innenpoli‐ tischen Krisen bemerkbar macht. 759 Genauer, weshalb die Stabilisierung der jungen Demokratie durch eine Rhetorik der Versöhnung und des Konsenses lediglich auf politisch-repräsentativer Ebene gelingen konnte. Es lässt sich keine Versöhnung herstellen, wo sich niemand zu Schuld bekennt. Denn erst dieses Bekenntnis ermöglicht den Akt der Vergebung. Und erst die Vergebung ist es, die ein versöhnliches Miteinander in den Bereich des Möglichen rücken lässt. Die Versöhnung bedarf der Augenhöhe und der Gleichberechtigung, sie schließt hierarchische Bestimmung aus und, dies ist entscheidend, sie ist nicht stellvertretend zu leisten, sondern muss von denen eingegangen werden, die im Sinne der Schuld und der Vergebung ein Recht auf das Austragen des Versöhnungsaktes haben. Nicht weniger schwer wiegt die Aporie einer durch Verzeihung zu ermöglichenden Versöhnung. Entweder sie setzt eine entsprechende Bitte voraus […] und scheitert im kollektiven Maßstab schon deshalb, weil eine solche Bitte von äußerster Seltenheit ist und für Andere nicht stellvertretend ausgesprochen werden kann; oder aber eine 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 355 <?page no="356"?> 760 Liebsch, Burkhard: „Menschen: Reste, Zeugnisse und Spuren. Ricœurs Spätwerk ‚Gedächtnis, Geschichte, Vergessen’ mit und gegen Foucault gelesen“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58/ 4 (2010), S.-538. 761 Römer, Inga: „Eskapistisches Vergessen? Der Optativ des glücklichen Gedächtnisses bei Paul Ricœur“, in: Liebsch, Burkhard (Hg.), Bezeugte Vergangenheit und versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur, Berlin 2010 (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 24), S.-299. ideale beziehungsweise reine Verzeihung liegt nur dann vor, wenn Sie nicht zum Ausgleich für ein Verlangen nach ihr, sondern ganz und gar einseitig gewährt wird wie eine Gabe. In diesem Fall obläge es allein den Opfern, Verzeihung zu gewähren. Doch niemand kann anstelle eines Anderen oder im Namen ungezählter Anderer, die fast sämtlich nicht mehr leben, verzeihen. Deshalb, schreibt auch Ricœur unmissver‐ ständlich, kann es keine Politik des Verzeihens oder der Versöhnung geben. 760 Damit bleibt der Akt der Vergebung immer ein Akt auf der Ebene des Indivi‐ duums, auf kollektiver Ebene wird er dagegen zum Symbol und damit zum uneigentlichen Stellvertreter. Auch wenn repräsentative Schuldbekenntnisse von großer Bedeutung auf friedenspolitischer Ebene sind, so können die Ver‐ treter des Volkes niemals mit deren Stimme sprechen und den Verursachern individuellen Leids ihre Taten vergeben. Das Recht auf Vergebung wird im Moment der Zufügung des Leids an das Opfer übertragen, welches fortan die Möglichkeit besitzt, auf die Reue des Täters vergebend zu reagieren. Inga Römer formuliert mit Blick auf den Begriff der Vergebung bei Ricœur entsprechend: Zunächst ist hervorzuheben, dass Vergebung weder befohlen noch für andere erteilt werden kann. Wird sie befohlen, ist sie eine erneute Unterdrückung des Opfers, dem sie aufgezwungen wird. Wird sie für andere erteilt, so wird dem Opfer ebenfalls seine Möglichkeit, die Vergebung zu verweigern, abgenommen und fügt ihm gleichermaßen eine erneute Ungerechtigkeit zu. Nur das Opfer selbst kann aus freien Stücken vergeben. 761 Der hegelianische Begriff der ‚Synthese’ entspricht der Idee der für eine Versöh‐ nung notwendigen Augenhöhe, versteht Hegel doch unter Synthese eine Art Aussöhnung von These und Antithese, zweier gegenläufiger jedoch gleichbe‐ rechtigter Perspektiven, die gemeinsam einen neuen Standpunkt ausgestalten. 3.4 Zur Schuldfähigkeit statischer Figuren In Anlehnung an Karl Jaspers und Paul Ricœur wurde festgehalten, dass die Fähigkeit zur Reflexion eine Voraussetzung für das Empfinden moralischer Schuld darstellt. Erst indem sich das Individuum zu sich selbst in Beziehung 356 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="357"?> 762 Mieth, „Gewissen“, S.-128. 763 Mieth, „Gewissen“, S.-129. setzt und sich zum Objekt der moralischen Durchleuchtung macht, wird es auf die Differenz zwischen wahrem Sein einerseits und Tun andererseits, zwischen innerem Gesetz und äußerer Handlung, aufmerksam. Die richtende Instanz des moralischen Gewissens, das immer als negative Erfahrung im Sinne einer Differenz wahrgenommen werden muss, tritt fragend an den Träger des Gewissens heran. Es liefert keine Antworten, sondern weist auf Versäumnisse und Verfehlungen hin, was den Philosophen Wilhelm Weischedel zur Annahme führte, dass das Gewissen die Grundfunktion habe, den Menschen und sein Tun in Frage zu stellen. Mit Blick auf diesen anthropologischen Gewissensbegriff Weischedels schreibt Dietmar Mieth: Demnach besteht das Wesen des Gewissens nicht darin, dass es fertige Antworten gibt, sondern dass es radikal in Frage stellt. Da, phänomenologisch gesehen, die Primärerfahrung des Gewissens als negativ beschrieben werden kann, das heißt, als Verfehlung eines möglichen Gutes, kann man sagen, dass das Gute im Gewissen indirekt erfahren wird, aus der Spannung mit dem direkten Bösen, das als unser Tun und unser Sein vor uns tritt. 762 Dieser anthropologische Gewissensbegriff räumt dem Individuum neben der In‐ ternalisierung kultureller, politischer, gesellschaftlicher oder göttlicher Normen immer auch die Möglichkeit eines „moralischen Selbstfindungsprozesses“ 763 ein. Die Freiheit des Individuums ist zwar durch diese vorentschiedenen ge‐ sellschaftlichen Grundeinstellungen determiniert, doch wäre gesellschaftliche Weiterentwicklung nicht denkbar, wenn das Individuum ausschließlich das Verhältnis zwischen einer dominanten, beispielsweise politischen Norm und der Erfüllung dieser Norm zur Richtschnur der Selbstbeobachtung macht. Ein solcher Ansatz würde übersehen, dass der Akt der Selbstbeobachtung immer auch die determinierenden Strukturen mitdenkt und miteinander in Beziehung setzt. Der Ausgangspunkt für einen Bruch mit einer politischen Norm kann bei‐ spielsweise darin bestehen, dass diese nicht mit der internalisierten göttlichen Norm übereinstimmt. Genauso kann ein Bruch mit der göttlichen Norm mit der neu gewonnenen Überzeugung von einer politischen Norm einhergehen, die jeder Form der Dogmatik eine Absage erteilt und einen Atheismus ohne Furcht vor göttlicher Strafe denkbar werden lässt. Entscheidend ist, dass die Aufgabe einer bestimmten normativen Grundeinstellung zugunsten einer anderen, die schwerer wiegt und damit als überzeugender empfunden wird, Einfluss auf die 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 357 <?page no="358"?> 764 Mieth, „Gewissen“, S.-129. 765 Oliva, „Prólogo“, S.-15. persönliche und damit auch auf die gesellschaftliche Entwicklung ausübt. Zur Möglichkeit der Revision der normativen Einflüsse schreibt Mieth: Diese Vorgegebenheiten gehören sicherlich auf der einen Seite zu seiner Determina‐ tion, auf der anderen Seite besteht aber gerade die Gewissensfreiheit des Menschen darin, seine Determinanten erkennen und sich zu ihnen verhalten zu können. Indem der Mensch Verantwortung vor seinem Gewissen übernimmt, trägt er zugleich auch Verantwortung für sein Gewissen. 764 Die Fähigkeit zur Reflexion ermöglicht folglich nicht nur die moralische Bewer‐ tung des realen Seins und Tuns vor der Folie des wahren Seins, sondern bringt ebenso die Verantwortung mit sich, sich zu den normativen Determinanten zu positionieren und das wahre Sein selbst infrage zu stellen. Reflexion wird damit zur Bedingung für Veränderung, für den Ausbruch aus dem immer gleichen Kreislauf der Normerfüllung. Die Einnahme einer durch die Reflexion eröffneten Metaperspektive erlaubt es erst, die gültigen Determinanten zu prüfen. Umgekehrt führt das Ausbleiben oder Verhindern von Reflexion zu Stagnation und Lähmung. Die Unveränderlichkeit von Individuen steht somit in engem Verhältnis zur Unveränderlichkeit der kulturellen, sozialen oder politischen Gegebenheiten, die die Individuen umgeben. Diesen Zusammenhang schreibt Ignacio Amestoy in seinen Theatertext ein, indem er vier der fünf Figuren innerhalb des Huis clos statisch konzipiert. Die politische Stagnation, die in Form des manicomio eine räumliche Entsprechung findet, ist das Ergebnis der Unveränderlichkeit der Figuren, die dieses System repräsentieren. Einzig der Coronel entwickelt sich im Laufe des Dramas weiter, auch wenn es sich dabei nicht um eine kontinuierliche Entwicklung handelt, sondern um einen diskontinuierlichen und sprunghaften Wandel infolge einer Anagnorisis im zweiten Akt. Mit dieser Behauptung soll der Annahme César Olivas widersprochen werden, der Coronel entwickle sich genau wie die anderen Figuren nicht weiter: „Como los otros personajes, no evoluciona en absoluto en escena, pues la acción transcurre en dos días, los últimos días de su vida.“ 765 Die Kürze der dargestellten Zeit, auf die Oliva Bezug nimmt, schließt eine Entwicklung m. E. keineswegs aus, sondern intensiviert stattdessen den Moment der Anagnorisis, den Moment, in dem der Coronel sich nicht nur offen zu seiner Schuld bekennt, sondern ebenso sein Handeln an der erkannten Schuld ausrichtet. 358 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="359"?> 766 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-212. Die Beschreibung des Capitán als statisch konzipierte Figur mag auf den ersten Blick überraschen, handelt es sich neben dem Coronel doch um den einzigen Vertreter der demokratische Idee und somit des Wunsches nach Ver‐ änderung. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass er diese Position im Gegensatz zum Coronel bereits zu Beginn des dramatischen Geschehens offen ausspricht, ja sogar versucht, den Coronel für die eigene Sache zu gewinnen: „CAPITÁN. Que olvide las locuras y luche por la cordura. Este pueblo está harto de locos e iluminados.“ 766 Obwohl der Capitán als Repräsentant der Demokratie, der Modernisierung und somit des jungen Spaniens als sympathische Figur auftritt, bleibt die Kritik Amestoys an dessen Statik, das heißt, am Ausbleiben einer aktiven politischen Umsetzung seiner Ziele, nicht unausgesprochen, wenngleich diese Kritik erst am Ende des Dramas formuliert wird. Im Anschluss an das Schuldbekenntnis des Coronel, bittet dieser den Capitán, ihn ein letztes Mal zu unterstützen und sich solidarisch zu erweisen. Nachdem der Coronel den Entschluss gefasst hat, sich mit einem der von der Decke hängenden Seile zu erhängen, weil er den Gang ins gelobte Land der Demokratie nicht verdient habe, fordert er den Capitán dazu auf, mit ganzer Kraft an dessen Beinen zu reißen, um den qualvollen Erstickungstod zu vermeiden. Gefangen in der Konzeption des gemäßigten Demokraten verweigert der Capitán dem Coronel jedoch die Solidarität und erstickt auf diese Weise jede Hoffnung auf einen Ausbruch aus der Passivität im Keim. Er schreitet nicht zur Aktion, macht sich die Hände nicht schmutzig, sondern wartet bis der Coronel eines qualvollen Todes gestorben ist. CORONEL. (Sube por la cuerda. Cuando está a tres metros del suelo, sujetándose con un brazo a la parte superior de la cuerda, enrolla el sobrante inferior alrededor de su cuello. Cuando ha realizado la operación, mira al CAPITÁN, que le está observando sorprendido. El CORONEL, con firmeza, le gritará al CAPITÁN.) ¡Capitán, haga algo por mí! CORO. Gloria in excelsis Deo. CORONEL. ¡Comience a hacer algo por su patria! CORO. …bonae voluntatis. CORONEL. ¡Cuélguese de mis piernas! CORO. Laudamus te, - benedicimus te, - adoramus te, - […] El CAPITÁN no obedece la orden del CORONEL. Aparta su mirada, dirigiéndola primero al suelo y, más tarde, a lo alto del patio de butacas. Al tiempo, el CORONEL muere 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 359 <?page no="360"?> 767 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-236f. 768 Die Historikerin Irene Mañas Romero betont, dass der franquistische Rekurs auf das antike Rom schon immer ambivalenter Natur war. Rom war einerseits Invasor, ahogado entre convulsiones, con un grito desesperado, antes de precipitarse como un fardo sobre la escena. Por su lado, el CORO sigue interpretando al ‘Gloria’ mientras cae el - TELÓN 767 Es ist der Blick auf den Boden, der als Beleg dafür gesehen werden könnte, dass sich der Coronel seiner moralischen Schuld, die sich aus dessen politischer Passivität ergibt, bewusst wird. Im Unterschied zu Dionisio Ridruejo proklamiert er die demokratische Idee nicht öffentlich. Statt mit den Konsequenzen des Kampfes für die Demokratie zu leben, statt inneres und äußeres Exil in Kauf zu nehmen und statt die politische Idee vor den erreichten militärischen Rang zu stellen, wie es Dionisio Ridruejo getan hat, sucht er Unterschlupf in dem System, gegen das er zu sein vorgibt. Doch schon im nächsten Moment verdrängt der Blick „a lo alto del patio de butacas“, in Richtung Horizont, die aufkommenden Schuldgefühle. Die beginnende Reflexion über die politische Gegenwart und Mitverantwortung wird durch den Blick in die Zukunft verdrängt, die Erfahrung wie die Wahrnehmung weichen der Hoffnung, einer Zukunftgerichtetheit, die um den Preis der Passivität erkauft ist. Auf der Ebene der Figurenkonzeption erscheint der Capitán damit auf derselben Ebene wie der General, der Coman‐ dante oder die Enfermera. Denn alle vier Figuren zeichnen sich durch ihre Unveränderlichkeit aus, durch sie nicht nur Verantwortung für die Fortdauer der Diktatur, sondern ebenso für eine ‚Demokratie von oben’ haben. Die Unveränderlichkeit des Generals, des Stellvertreters des konservativen franquistischen Lagers, nimmt dabei parodistische Züge an. Als Personifikation des Erz-Franquismus verfügt er über einen eingeschränkten Satz an Merkmalen. So versucht er, den Legitimitätsanspruch des Regimes noch im Jahr 1975 auf die gebetsmühlenartigen Wiederholungen der christlich konnotierten Heilsbot‐ schaft des Franquismus sowie auf die Warnungen vor den ewigen Feinden des Kommunismus und der Freimaurerei zu stützen. Seine Rückwärtsgewandtheit tritt unmittelbar zu Beginn seines ersten Auftritts zutage. Für den General gehen Disziplin und Ordnung mit einem Verzicht auf das eigene Denkvermögen einher, der Sinn des Soldaten liegt einzig in seiner ausführenden Funktion. Diese Grundüberzeugung unterstreicht der General in den folgenden Repliken durch einen Rekurs auf das antike Rom, eine beliebte, insbesondere während des Bürgerkriegs und der Kooperation mit dem faschistischen Italien herange‐ zogene, propagandistische Vergleichsfolie. 768 Nicht zufällig leitet der General 360 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="361"?> andererseits verantwortlich für das kulturelle und christliche Erbe. Generell, so Mañas Romero, rekurrierte die franquistische Propaganda vor allem in den Jahren auf das antike Rom, solange eine politische Nähe zum faschistischen Italien unter Mussolini bestand, der sich als Erbe und Nachfolger des römischen Imperiums stilisierte. Vgl. Mañas Romero, Irene: „La historia de Roma y la España romana como elementos de la identidad española durante el periodo franquista”, in: Moreno Martín, Francisco J. (Hg.), El franquismo y la apropiación del pasado. El uso de la historia, de la arqueología y de la historia del arte para la legitimización de la dictadura, Madrid 2017, S.-89ff. 769 Vgl. Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-184. 770 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-188f. seine Präsenz mit dem Imperativ „¡Obedezca, comandante! “ ein, obgleich sein Ruf nach Disziplin durch seine Leidenschaft für das Kartenspiel und, wie an anderer Stelle deutlich wird, für den Alkohol 769 konterkariert wird: GENERAL. ¡Obedezca, comandante! Usted, obedezca siempre. Sin pensar nada más. CORONEL. Buenas tardes, general. CAPITÁN. Señor. GENERAL. El comandante tenía buenas cartas y le ha dolido levantar la partida. Pero lo ha hecho. Y yo le alabo. La disciplina es el mayor bien que tiene un soldado. ¡Sigamos el ejemplo de Roma! Hace más de cincuenta años que analicé las acciones de aquel pueblo privilegiado y todavía las tengo en mi memoria. ¿Recuerdan ustedes la desobediencia y la humillación de Fabio Máximo Rulliano? ¿No? Capitán, ¿usted no lo sabe? Es una grandiosa historia. Fabio Máximo Rulliano era el jefe de la caballería del ejército mandado por Papirio Curso. En una batalla, cuando Papirio Curso había mandado contener el ataque, Fabio Máximo Rulliano desobedeció el mandato y se lanzó sobre el enemigo, al que despedazó. Fue un gran triunfo para Roma. Pero Fabio Máximo Rulliano tuvo que reconocer su falta, arrojarse a los pies de Papirio Curso y pedirle perdón públicamente por su indisciplina. CAPITÁN. Supongamos que Fabio Máximo Rulliano no hubiera desobedecido y Papirio Curso hubiese perdido la batalla. GENERAL. Su protegido pide que le den una lección. CORONEL. No le vendría mal. GENERAL. Capitán, el Imperio habría tardado cuarenta años más en desmoronarse. ¡Y quién sabe si todavía estaríamos gozando de la ‘pax romana’! CAPITÁN. Entonces me alegro de que Fabio Máximo Rulliano actuara. GENERAL. Estos muchachos no saben que la disciplina gana las guerras. CAPITÁN. O la indisciplina. Ustedes se sublevaron contra la legalidad. No fueron disciplinados. GENERAL. Cuando los políticos se alejan a la patria de sus destino, los militares tenemos que coger las armas para que todo vuelva al orden. 770 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 361 <?page no="362"?> 771 Zit. nach Collado Seidel, Der Spanische Bürgerkrieg. S.-167f. 772 Paradigmatisch für diese Feindlichkeit gegenüber freidenkerischen Tendenzen steht die Beschimpfung des spanischen Schriftstellers und einstigen Rektors der Universität von Salamanca Miguel de Unamuno durch General José Millán Astray. Während einer Veranstaltung im Oktober 1936 skandierte der General: „Tod den Intellektuellen! “; vgl. Collado Seidel, Der spanische Bürgerkrieg, S.-168. 773 Vgl. Collado Seidel, Der spanische Bürgerkrieg, S.-171ff. Die Identifikation mit Francisco Franco, die während der bereits erwähnten und im Folgekapitel genauer zu untersuchenden Persönlichkeitsstörung zur tranceartigen Besessenheit wird, lässt die Figur des Generals völlig im fran‐ quistischen Diskurs aufgehen. Dieser bediente sich insbesondere militärischer und christlicher Isotopien. Die militärische und göttliche Ordnung bildete im Rahmen der franquistischen Propaganda das Gegengewicht zur als zer‐ setzend und subversiv bezeichneten Kraft des Kommunismus, der rojos. Ab dem Ausbruch des Bürgerkrieges setzte die “nationale Bewegung“ auf die pauschalisierende rhetorische Vereinheitlichung der politischen Gegner. Den im Sammelbecken der “roten Gefahr“ befindlichen Republikanern, Kommunisten, Anarchisten oder Regionalisten wurde das Stigma angeheftet, ‚unspanisch’ zu sein, ja das Wesen der Spanier von innen heraus zu befallen. Folgende von Carlos Callado Seidel zitierte Stellungnahme des falangistischen Putschisten Ernesto Giménez Caballero im Jahr 1938 dient als Beleg für diese groteske Sichtweise, die sich in den Repliken des Gerneral Castillo wiederfindet: „Sie [die Roten] hatten den Kern unseres Wesens, unsere Seele als Spanier und als Menschen zerstört. […] Der Katholik in Spanien hatte Gott verloren; der Monarchist den König, der Aristokrat den Adel; der Soldat sein Schwert; der Unternehmer seinen Unternehmungsgeist; der Arbeiter seine Arbeit; die Frauen ihr Zuhause; das Kind die Achtung vor dem Vater. Selbst die spanische Sprache, die ständige Begleiterin des spanischen Weltreichs, […] war zum Spucknapf […] geworden.“ 771 General Castillo vertritt noch immer dieses antidemokratische und antimo‐ derne Denken der Putschisten, die den Gehorsam und die Ordnung über die Freiheit des Denkens stellten 772 und für die der Kampf gegen den kommunis‐ tischen Feind im Jahr 1975 noch längst nicht ausgefochten war. Vielmehr bildete der Kommunismus eine ständige Bedrohung für die auf den Werten des katholischen Glaubens und der militärischen Disziplin errichteten Ordnung des franquistischen Regimes. 773 Folgende Replik aus dem ersten Akt zeugt von der Verschmelzung von Nationalismus und Katholizismus, von der immer wieder neu befeuerten, paranoiden Furcht vor dem Kommunismus sowie von der dog‐ matischen Gleichsetzung des politischen Feindes mit dem “Bösen“ schlechthin: 362 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="363"?> 774 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-199. GENERAL. […] No nos damos cuenta de que el enemigo no descansa. No pudo con nosotros cara a cara y ahora socava nuestros cimientos. Ha establecido su cuartel general en las alcantarillas y desde allí mina nuestros principios cristianos, católicos. Han contratado viajantes de ideas, vendedores de puerta a puerta, charlatanes que han llegado a camuflarse de pastores para así estar más cerca de la ovejas, para estar más cerca de la víctimas. A algunos, incluso, los han disfrazado de soldados. Reclutan a sus agentes entre aquellos compatriotas grises y oscuros que hacen lo que se les diga con tal de no ser tachados de no ir a la moda. Es la subversión. Ya no atacan directamente al fondo doctrinal. Eso es muy expuesto, muy peligroso; se puede fracasar. Pocos espíritus pueden aceptar y digerir el mal químicamente puro. […] Coronel, la Patria está en peligro. El humo de Satanás penetró un maldito día en la Capilla Sixtina y no va a haber más remedio que montar otra vez nuestros caballos, enfundados en nuestras armaduras relucientes y emprender de nuevo la cruzada. Marcharemos sobre Rusia con el fusil en una mano y el crucifijo en la otra. 774 Die vollkommene Korrespondenz zwischen ideologischer Überzeugung und politischem Handeln lässt den General außerhalb der Kategorie der moralischen Schuld im Sinne Karl Jaspers agieren. Er ist sich schlichtweg keiner Schuld bewusst, weil er sich und somit das Regime im Recht sieht und, angesichts der “roten Gefahr“, sogar als Opfer versteht. Als Repräsentant der Sieger bestimmt er über die Zuschreibungen von Gut und Böse, auch wenn diese aufgrund seiner paranoiden Züge wie auch in Anbetracht des historischen Kontexts bereits im Moment des Ausspruchs ironisiert werden. Als Personifikation des von General Castillo geforderten soldatischen Gehor‐ sams kann sein ständiger Begleiter, Comandante Castro, betrachtet werden. Seinem Mangel an Reflexion, der geistigen Selbstdurchleuchtung, steht eine Be‐ tonung des Physischen und somit der an die Gegenwart gekoppelten materiellen Welt gegenüber. Hunger und sexueller Trieb heften ihn an das Hier und Jetzt und statten die Figur mit den dienertypischen Attributen der Selbsterhaltung aus. Die Einfalt und Körperbezogenheit des Comandante ironisiert den darüberge‐ legten Duktus des ordnungsbemühten Soldaten. Zudem gibt der sonst übliche Gehorsam sein diskriminierendes Männlichkeitsverständnis der Lächerlichkeit preis. Nachdem der General sein Hinterteil entblößen muss, damit ihm die Enfermera vor den Augen aller die notwendigen Medikamente spitzen kann, reagiert der Comandante ganz im Sinne eines im Franquismus kultivierten Geschlechterverständnisses. Das Lob des Generals, dem Repräsentanten der franquistischen Ideologie, bestätigt diese diskursive Gelehrigkeit: 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 363 <?page no="364"?> 775 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-190. 776 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-194f. (Vgl. ebenso S.-227). GENERAL. ¿A usted que le parece, Castro? COMANDANTE. Que las mujeres nos están acorralando poco a poco, mi general. Si empezamos a bajarnos los pantalones sin ton ni son, esto puede acabar como el rosario de la aurora. Es urgente romper el cerco y pasar a la ofensiva, es decir, que sean ellas las que bajen la guardia en primer lugar. Abajo las faldas. Ya veremos lo que hacemos nosotros con nuestros pantalones. GENERAL. Muy bien, Castro. Hacía bastante tiempo que no le oía razonar con tanta sensatez […]. 775 Als unreflektierter Gefolgsmann verfügt der Comandante über kein moralisches Gewissen im Hinblick auf sein politisches Handeln. Er führt aus, wartet auf Befehle, kommen diese nun von hierarchisch höhergestellten Instanzen oder seinem eigenen Körper. Dramenstrukturell betrachtet, teilt er sich mit der Enfermera die Funktion der impliziten Szenenunterteilung. Ebenso wie die Auftritte und Abgänge der Enfererma gleichbedeutend sind mit dem Beginn einer neuen, jedoch nicht eigens paratextuell markierten Szene, so dienen auch die Unterbrechungen des Comandante zur Veränderung der Gesprächssituation. Nicht selten handelt es sich dabei um Diskussionen über den politischen Zustand Spaniens, wie sie sich vor allem zwischen dem Coronel, dem General und dem Capitán entspinnen. Anlässe seiner Unterbrechungen bilden zumeist die anstehenden Mahlzeiten: CAPITÁN. A veces están muy cerca el uno del otro. GENERAL. Pero una cosa es el tirano y otra es el jefe. CAPITÁN. Ciertamente, general. GENERAL. ¿Cómo va usted a comparar a Enrique Octavo o a Stalin con Alejandro, César, Napoleón o nuestro mismo Caudillo? COMANDANTE. Como no empecemos a ensayar no va a dar la hora de la merienda. 776 Die dramenstrukturelle Funktion der Enfermera erfährt innerhalb des Textes eine semantische Wiederaufnahme. Als Mitarbeiterin des manicomio repräsen‐ tiert sie die dort geltende Ordnung, kümmert sich um das Wohlbefinden der Insassen und erinnert diese gleichermaßen an ihre Aufgaben und Pflichten. Sie diszipliniert und kokettiert, und strukturiert das Zusammenleben derjenigen, die sich innerhalb des Huis clos gegenseitig zur Hölle werden. Ihre Gebundenheit an den Raum macht sie zur Allegorie Spaniens im Jahr 1975. Dies wird besonders in der surrealistischen Schlussszene deutlich, in der die unbewussten Wünsche und Triebe der statischen Figuren, des Capitán, des General und des Coman‐ 364 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="365"?> 777 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-231. dante, zum Vorschein kommen. In ihrem Versuch, den anderen Figuren ihre geheimen Wünsche von den Lippen abzulesen, scheut sie sich nicht, ihre Reize einzusetzen, auch wenn diese Rechnung nur auf den ersten Blick aufzugehen scheint. Denn obgleich der tiefe Ausschnitt für die drei Männer verlockend wirken mag, so täuscht dieser Akt der Anbiederung nicht über ihre eigentliche Unbeholfenheit zurück. Zu groß ist ihr Hemd, in das sie noch hineinwachsen muss. Und zu unsicher ist die Fahrt mit einem Zweirad, so dass sie der Stütze durch ein drittes Rad bedarf. Ihr Sonnenhut darf sicherlich als Anspielung auf den Tourismus verstanden werden, der sich zu einer der bedeutendsten Einnahmequellen Spaniens ab der politischen Öffnung in Richtung in Europa entwickelt hatte. Durch folgende Replik wird die surrealistische Szene kurz vor Schluss eingeführt: ENFERMERA. (Entra con un enorme y escotado camisón, dejando ver generosamente sus pechos enormes. En la cabeza, una gran pamela. Viene montada en un gran triciclo blanco de ruedas enormes y con un portaequipajes. Da una vuelta por el escenario y desde el lado opuesto llama al CAPITÁN, yendo a continuación hacia él.) ¡Capitán! Le traigo un paquete del Alto Estado Mayor. (Lo abre y es una máscara de oficial estadounidense. La Enfermera se la pone al CAPITÁN y le da un largo beso. Bailan.) 777 Von höchster militärischer Stelle, dem Alto Estado Mayor, einem franquistischem Militärorgan der Fuerzas Armadas Españolas, das noch bis 1980 weiterbestand, erhält der Capitán eine Maske eines amerikanischen Offiziers. Dieses Präsent symbolisiert nicht nur den Wunsch nach einer Professionalisierung des spani‐ schen Militärs nach amerikanischem Vorbild, sondern führt ebenso vor Augen, dass für die Erreichung dieses Ziels ein radikaler Bruch mit dem bestehenden System abträglich wäre. Schließlich möchte der Capitán Teil eines modernen Militärapparats sein. Kaum hat sich die Verwandlung des Capitán in einen Vertreter der USA vollzogen, fällt ihm die Enfermera um den Hals. Die Bedeutung der USA für die Beendigung der politischen Isolation und die allmähliche Reintegra‐ tion Spaniens in die internationale Gemeinschaft während des Franquismus wurde bereits betont. In dieser Szene scheint jedoch auf die Festigung dieser Freundschaft durch den im Jahr 1976 vereinbarten Nuevo Convenio de Amistad y Cooperación zwischen beiden Ländern angespielt zu werden, der von der Enfermera, der Allegorie Spaniens, überschwänglich in Form eines Kusses besiegelt wird. 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 365 <?page no="366"?> 778 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-231. 779 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-232. 780 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-232f. Der Überbetonung der körperlichen Triebe entsprechend wird der Coman‐ dante anschließend mit einem überdimensionierten Phallus ausgestattet, die ihm die Manneskraft zu verleihen scheint, von der er stets träumte. ENFERMERA. (Se acerca bailando, hacia el COMANDANTE. Deja al CAPITÁN, haciendo el cambio de pareja con el COMANDANTE.) Os traigo el regalo de una amiga. (Va hacia el carrito y saca del portaequipajes un paquete.) […] ENFERMERA. (Mostrándole el regalo: unos testículos enormes y negros y una verga roja descomunal, ambos de trapo, que se sujetan a la cintura por medio de un cinturón.) ¡A ver lo que haces con tu amiga! 778 Schließlich wendet sich die Enfermera General Castillo zu, um dessen verbor‐ gene Wünsche zu befriedigen. Sein Präsent wurde der Enfermera von einem „motorista de El Pardo“ 779 übergeben, einem der berüchtigten Motorradboten Francos. Berüchtigt deshalb, weil Franco bekannt dafür war, seine Minister genauso schnell zu ernennen wie zu entlassen. Da es zuweilen nicht schnell genug zu gehen schien, zog Franco es vor, die entsprechenden Politiker durch einen Motorradboten von ihrer Entlassung oder Ernennung in Kenntnis zu setzen. Einen Rüffel der Staatsverwaltung hatte er ohnehin nicht zu befürchten. ENFERMERA. (Cerca del General) ¡Excelencia! Tengo un encargo urgente que darle. Me lo ha comunicado el motorista de los ceses y nombramientos. […] COMANDANTE. (Se apresura a desenvolver el paquete.) ¡Un cofre! GENERAL. ¿Un cofre? COMANDANTE. Aquí está la llave. GENERAL. ¡Ábralo! COMANDANTE. (Tras abrirlo.) ¡Señor, una corona! ¿Será de rey? […] ENFERMERA. Bien, general, ¿qué tal se está con corona? GENERAL. Todavía no me he visto en el espejo, ni en la televisión. Supongo que pareceré un rey. (Se echan todos a reír, menos el CORONEL, que sigue en el suelo con su letanía. Se le acerca la ENFERMERA con el triciclo.) 780 Dass der Befehl zur Krönung des Generals von einem „motorista de El Pardo“ überbracht wird, ist kein Zufall. Der königliche Palast im Nordwesten Ma‐ drids wurde regelmäßig von Franco bewohnt und wurde somit Schauplatz 366 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="367"?> 781 Dass Franco keineswegs Anhänger einer monarchistischen Lösung war, stellte José Mariá Toquero in Franco y Don Juan. La oposición manárquica al franquismo (1989) heraus. Es sei hier darauf verwiesen, dass die Monarchisten eine oppositionelle Gruppierung innerhalb des Franquismus darstellte, vgl. hierzu Bernecker, Walther L.: „Die Rolle von Juan Carlos“, in: ders./ Collado Seidel, Carlos (Hgg.), Spanien nach Franco, München 1993 (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 67), S.-150-170. 782 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-233. 783 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-230. weitreichender politischer Entscheidungen. Zweifelsohne verweist diese Szene auf die von Franco vorgesehene Inthronisierung des bourbonischen Prinzen Juan Carlos. Dieser wurde von Franco als legitimer Nachfolger bestimmt, was zur Re-Etablierung der Monarchie im Jahr 1975 führte. 781 Die Krönung des bourbonischen Prinzen am 22. November 1975 sowie dessen Antrittsrede wurden mit Spannung erwartet. Der designierte Nachfolger, der bis dato wenig im medialen Rampenlicht gestanden war, steigerte aufgrund der um die Welt gehenden Fernsehbilder schlagartig seinen Bekanntheitsgrad. Die Hoffnung des Generals nach einer legitimen Fortsetzung des Franquismus verbindet sich in dieser Szene mit seinem verborgenen Wunsch, selbst in die Fußstapfen seines ideologischen Vorbilds zu treten und den Zusammenfall zwischen Stellvertreter und Referenten endgültig zu vollziehen. Einzig der Coronel geht nicht auf die Verführungen der Enfermera ein und steht stattdessen außerhalb des grotesken Schauspiels: „CORONEL. (No haciendo caso de las caricias y manejos de la ENFERMERA […].“ 782 Deutlich durchschaut er unterdessen die Täuschung durch das System, das daran inter‐ essiert ist, sich zu konservieren statt sich weiterzuentwickeln: „CORONEL. Yo no soy un traidor, César. Yo he sido el traicionado. […].“ 783 Im Unterschied zu den beschriebenen flat characters, die sich aufgrund ihrer Eindimensionalität und Statik nicht oder nur kurz (Capitán) zu sich selbst in Beziehung setzen, zeichnet sich der Coronel durch die Fähigkeit der Reflexion und somit durch die Fähigkeit der moralischen Positionierung zum eigenen Handeln und Verhalten aus. In der Folge gilt es, den Kampf des Coronel zwischen seinem Wunsch nach Selbstvergessenheit und der Heimsuchung durch sein moralisches Gewissen in den Fokus zu rücken. Dieser Kampf gestaltet sich als ein Ringen zwischen Körper und Geist und damit zwischen Wahrnehmung und Erinnerung. 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 367 <?page no="368"?> 784 Dies belegt die surrealistische Schlussszene, in der die verborgenen Wünsche der Figuren zum Vorschein kommen. In dieser Szene überreicht die entblößte Enfermera, Allegorie des sich anbiedernden Spaniens, dem General eine Krone, dem Comandante einen überdimensionierten Phallus und dem Capitán „una máscara oficial estadouni‐ dense“; vgl. Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-231. 785 Vgl. Doménech Rico, „Introducción“, S.-60. 786 Vgl. Gil Pecharromán, Julio: Con permiso de la autoridad. La España de Franco (1939-1975), Madrid 2008, S.-106f. 3.5 Biomechanik: Körperwahrnehmung als Verdrängungsstrategie auf der Bühne Der Coronel Arenas oszilliert zwischen den entgegengesetzten Polen der Selbst‐ vergessenheit und der Reflexion. Um den schmerzlichen Affekt, der Folge der Anerkennung moralischer Schuld ist, zu unterdrücken und eine Konfrontation mit den zurückliegenden Verfehlungen und gegenwärtigen Versäumnissen zu vermeiden, versucht er die reflexive Bewegung des Geistes zu unterbinden. Als Fluchtort dient dem Coronel der Raum des Materiellen, des Körpers, der für ihn ein Gegengewicht zur Schwerelosigkeit der Geistesbewegung darstellt. Der Versuch, die präsentische Wahrnehmung an die Stelle der repräsentativen Wahrnehmung, das Erleben an die Stelle der Erinnerung zu setzen, fungiert als Verdrängungsstrategie, die den Geist im gegenwärtigen Handeln verankern soll. Die körperliche Bewegung wird somit zur Antipode der geistigen Bewegung und des aus der Reflexion resultierenden Schuldgefühls. Die physische Diszi‐ plinierung zielt auf die Gegenwärtigkeit des Geistes und, auf diese Weise, auf die Verhinderung der moralischen Selbstdurchleuchtung ab. Nicht zufällig beginnt der Theatertext mit einem Basketballspiel zwischen dem Coronel und dem Capitán. Zum einen symbolisiert dieser Sport für den Capitán das moderne und demokratische Nordamerika 784 , zum anderen dient er als Anspielung auf die Annäherung Francos an die USA ab 1943. Nachdem die Niederlage des Nazi-Regimes an der Ostfront nicht mehr abzuwenden war, näherte sich Franco den Alliierten an, allen voran den USA, um Spanien nicht zur nächsten Zielscheibe der demokratischen Verbündeten werden zu lassen. 785 Für die USA war Spanien ein willkommener strategischer Partner im Kampf gegen den Kommunismus, so dass die amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman und, ab 1953, Dwight D. Eisenhower eine Zusammenarbeit mit Franco eingingen. Formell wurde diese Annäherung durch die 1953 unterzeichneten Pactos de Madrid besiegelt, die eine wirtschaftliche und militärische Zusammen‐ arbeit vorsahen. 786 CAPITÁN. ¿No fue una cancha de baloncesto donde se produjo el primer encuentro conocido entre las Fuerzas del Tío Sam y las de Franco? 368 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="369"?> 787 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-179f. 788 Vgl. Santolaria Solano, Fermín Cabal, entre el realismo y la vanguardia, S.-792. 789 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-183. CORONEL. Los yanquís nos invitaron a veinte oficiales del Estado Mayor de Tierra a un curso sobre ‚La estrategia de Occidente ante posibles amenazas exteriores’. En tres meses, lo que mejor aprendimos fue a jugar al ‚basquet’. Especialmente su padre. 787 Ignacio Amestoy integriert hier die auf Konstantin Stanislawski und Wsewolod Meyerhold zurückgehende Technik der ‚Biomechanik’ in die Struktur des dramatischen Geschehens. Genau wie José Luis Alonso de Santos oder Fermín Cabal wurde auch Ignacio Amestoy vom amerikanischen Regisseur William Layton beeinflusst, der die Schauspieltheorie Stanislavskis und Meyerholds in den 1960er Jahren nach Spanien brachte. 788 Der Zweck der körperlichen Beanspruchung, die Amestoy auch in Stücken wie Mañana aquí a la misma hora einsetzt, ist es, die Schauspieler über den Weg der intensivierten Wahrnehmung des eigenen Körpers zu einer stärkeren Identifikation mit den jeweiligen Rollen zu befördern. Das körperliche Erleben bzw. der physische Nachvollzug der Rolle soll den empathischen Akt des Sich-Einfindens in der zu spielenden Rolle erleichtern. Was auf lebensweltlicher Ebene zu einer verstärkten Identifikation mit der auszufüllenden Rolle führen mag, fungiert innerhalb des dramatischen Geschehens als Technik des Verdrängens, denn im Falle des Coronel dient die Vergegenwärtigung des Physischen, das Spüren des eigenen Körpers im Hier und Jetzt, der Vermeidung geistiger Reflexion. Nachdem der Coronel zu Beginn des ersten Aktes von den Eindrücken der Kriegswirren am Ufer des Wolchow heimgesucht wird, wirkt sein Griff nach dem Spielgerät wie der Versuch, seinen Geist mittels seines Körpers sowie der greifbaren Materie erneut in der Gegenwart zu verankern: CORONEL. Era de noche. Allí siempre es de noche. Después de un bombardeo intenso, inexorable, cruel, entramos en la aldea, como perros hambrientos de sangre y de vida. […]. Y nevaba. (El CORONEL está temblando.) CAPITÁN. ¡No se enfríe, señor! (Le acerca un albornoz y se lo pone.) CORONEL. Nevaba. Hacía un frío horrible. CAPITÁN. Se encuentra bien? CORONEL. (Incorporándose) -¿Dónde está el balón? 789 Als der Coronel wenige Repliken später zum ersten Mal in die Rolle des Dionisio Ridruejo fällt und der Capitán die Enfermera daraufhin über den besorgniser‐ 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 369 <?page no="370"?> 790 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-184f. 791 Morente Valero, „El vencedor vencido. Dionisio Ridruejo en su laberinto“, S.-179. regenden Zustand des Coronel informieren möchte, findet dieser zu seiner Geistesgegenwärtigkeit zurück, in dem er sich durch Muskelübungen zunächst der Präsenz des eigenen Körpers und somit der präsentischen Wahrnehmung versichert. Geistige und körperliche Disziplinierung gehen Hand und Hand, der wahrgenommene Körper fungiert als Anker, der ein Abdriften des Geistes verhindern soll. Anders gewendet, das Mittel der körperlichen Disziplinierung sowie die Selbstvergessenheit im Spiel dienen dem Coronel als Strategien der Vergegenwärtigung seiner selbst bzw. der Verdrängung intelligibler Repräsen‐ tation. Denn während die Materie des Körpers stets gegenwärtig ist, stehen dem Geist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen offen. Die Inten‐ sität der körperlichen Disziplinierung symbolisiert den gewaltsamen Versuch, der reproduktiven und produktiven Einbildungskraft Herr zu werden. ENFERMERA. ¿No estaban ustedes ensayando? CAPITÁN. Todavía no. Yo he sido quién llamó. Era el coronel Arenas el que no se encontraba bien. CORONEL. (Hace ejercicios violentos en las espalderas con normalidad.) Solo ha sido un desfallecimiento momentáneo. Ya ha pasado. CAPITÁN. Estoy seguro de que fue algo más que un desfallecimiento. (La ENFERMERA se muestra confusa.) CORONEL. (Lanzándose desde las espalderas hacia la ENFERMERA, con un espectacular salto.) Señorita, ¿a quién va a creer usted? ¿A sus ojos o a mi capitán? 790 Die Absicht des Coronel, sich gerade nicht zu sich selbst in Beziehung zu setzen, die Verweigerung der Reflexion, zeugt vom Wunsch des Verdrängens. Doch was ist der Gegenstand dieses Verdrängungswunsches? Folgender Dialog zwischen dem Coronel und dem Capitán zu Beginn des ersten Aktes liefert einen Beleg für die Schuldgefühle des Coronel, die er angesichts der Diskrepanz zwischen seinem wahren Sein, seiner inneren Haltung, und seinem politischen Verhalten empfindet. Im Unterschied zum General, bei dem ideologische Po‐ sition und politisches Handeln im Einklang stehen, plagt den Coronel sein moralisches Gewissen. Im Gegensatz zur propagandistischen Verschmelzung von Nationalismus und Katholizismus deutet er am Ende des folgenden Dialogs ein entpolitisiertes Glaubensverständnis an, das als moralische Orientierung für sein Handeln zu fungieren scheint. Der Glaube des Coronel ist als biogra‐ phischer Verweis auf Dionisio Ridruejo zu lesen, für den der Katholizismus eine lebenslange Konstante darstellte. 791 370 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="371"?> 792 Im Jahr 1942 schrieb Ridruejo ein Gedicht mit dem Titel „A un almendro“. In diesem sind u. a. folgende Verse zu finden: „Estas son polvo de la tierra. ¿Cuántas, / cuántas veces has muerto? A cada muerte / recreces tu presencia adolescente / cada vez más pujante y venidera.“ Interessanterweise fungiert die Metapher des Mandelbaums innerhalb des Dramas als Sinnbild für die Ausweglosigkeit, während Ridruejo den Mandelbaum als Quelle der immer wieder aufkeimenden Hoffnung besingt: „Duro hueso es tu fruto, pero dentro / de su lechosa entraña están las alas / de la incansable vida, y tú no cesas / de ser nuevo y eterno, / de ser milagro y aventura sólo, / ¡oh, soldado infantil de la esperanza! “ Ridruejo, Memorias de una imaginación, S.-83. 793 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-186. CORONEL. Cuando el flor del almendro ha caído sobre la tierra solo cabe, hasta su fin, la espera muda del paso del tiempo. CAMPITÁN. Señor, cada año florecen los almendros. 792 CORONEL. Cada día florecen los hombres, sin que nada cambie. A una flor le sucede otra flor. A un hombre, otro hombre. A un general, otro general. A un tirano, otro tirano. Todo es siempre igual. CAPITÁN. Si queremos que todo siga siendo igual. CORONEL. ¿Cabe oponerse? CAPITÁN. Sí, cabe oponerse. CORONEL. ¿Qué puede hacer la flor para no caer de su rama? CAPITÁN. ¿Qué puede hacer el hombre para no mancharse las manos de sangre? CORONEL. Qué hará un naufrago para no nadar en el mar de sangre en que está? CAPITÁN. No es solución el ahogarse. CORONEL. Entonces ¿qué? ¿Aprender a volar? CAPITÁN. Siempre hay un tablón, una balsa, una isla donde resistir. CORONEL. ¿Un exilio donde sentarse a ver pasar el entierro del sanguinario? CAPITÁN. Hablo de resistir. CORONEL. ¿Piensa que muchos de nosotros no nos hemos resistido? CAPITÁN. Muchos de ustedes, y no le estoy acusando particularmente de nada, han sido los afiladores de la daga del matarife. CORONEL. Hijo, no pensará de mí… CAPITÁN. Mi coronel, sabe de sobra lo que puedo pensar de usted. CORONEL. ¿Nadie perdonará mis errores? CAPITÁN. Usted mismo. CORONEL. ¿Y Dios? 793 Die Feststellung des Capitán, dass, trotz politischer Repression, immer eine Möglichkeit zum Widerstand besteht, verweist auf den Kern der moralischen Schuld des Coronel. Der Capitán macht dem Coronel nicht die politische Schuld zum Vorwurf, sondern die politische Passivität, die den Capitán ironischerweise 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 371 <?page no="372"?> 794 Jaspers, Die Schuldfrage, S.-51. 795 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-184. selbst trifft. „Aber die Passivität weiß ihre moralische Schuld für jedes Versagen, das in der Nachlässigkeit liegt, nicht jede irgend mögliche Aktivität zum Schutz Bedrohter, zur Erleichterung des Unrechts, zur Gegenwirkung ergriffen zu haben“ 794 , formuliert Jaspers. Der Coronel ist ein „Mitläufer“ im Sinne Karl Jaspers, der seine eigentliche Haltung hinter der Offizialität seines militärischen Amtes verbirgt. Zugleich führt er ein „Leben in der Maske“, das sich durch falsche Loyalitätsbekundungen gegenüber drohenden, hierarchisch höher gestellten Instanzen wie dem General auszeichnet: CAPITÁN. ¡Tenga cuidado! Baje, por favor. Hemos de prepararnos para el ensayo. Pronto estarán aquí el general y su ayudante. CORONEL. (Bajando del la escala.) ¡El general! ¡ A vuestras órdenes, mis general! A vuestras órdenes, vuecencia! Capitán, usted no sabe lo que decían los griegos: ‘El buen soldado debe temer a su general más que al enemigo.’ 795 Sein „Dabeisein“ ( Jaspers) rechtfertigt der Coronel, indem er die Verfehlungen als Notwendigkeiten umdeutet - eine Folge des moralischen Gewissens, die Jaspers mit den Begriffen der ‚Halbheit’ oder der ‚inneren Angleichung’ be‐ schreibt. So war es Teil des franquistischen Diskurses, die Rigorosität der Exekutive sowie die Unterdrückung der politischen Opposition als notwendige Maßnahmen zu kennzeichnen, ohne die weder staatliche Ordnung und Friede noch der Wohlstand der Folgegenerationen zu garantieren wären. Mit folgenden Rechtfertigungssentenzen verteidigt sich der Coronel zu Beginn des Dramas gegenüber dem Vorwurf des Capitán, jahrzehntelang als Marionette Francos gedient zu haben: CORONEL. (Vuelve al tratamiento de respeto.) Ha valido la pena que su padre, yo y unos cuantos fuésemos unas marionetas. Nuestro pueblo puede ahora mirar, de tú a tú, al mundo sin que, mientras, el hambre le coma el estómago. […] CORONEL. Usted no ha conocido la miseria. ¡Pregúntale a su padre por su padre! ¡Por los días y noches de siega por un mendrugo de pan! […] CORONEL. Se ha hecho lo que hemos podido hacer. […] CORONEL. El Ejército no se ha plegado a los caprichos de nadie. Para el Ejército siempre ha sido una prioridad el servicio al pueblo. 372 IV VERDRÄNGEN UND ERINNERN IM THEATER <?page no="373"?> 796 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-181f. 797 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-180. 798 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-182. 799 Amestoy, Dionisio Ridruejo---Una pasión española, S.-212. […] El Ejército debe cuidar de la riqueza de su pueblo, no de su pobreza; de su unión y no de su desunión, y de defender la Patria ante el invasor. 796 Mithilfe der zur Schau getragenen Regimetreue überblendet der Coronel sein Wissen um die begangenen Verfehlungen sowie seine politische Untätigkeit, die im Kontrast zur Radikalität Ridruejos steht, der ständigen Vergleichsfolie des Coronel. Durch körperliche Disziplinierung und systemkonformes Ver‐ halten richtet der Coronel seinen Geist an den politischen Gegebenheiten aus, wenngleich ihm dies nur zu Beginn des Dramas gelingt. Als der Capitán seinen unterdessen gebrechlichen und kranken Vater mit dem rüstigen und äußerlich vor Gesundheit strotzenden Coronel vergleicht, scheint dieser dem unwissenden Rezipienten einen erst im Nachgang zu verstehenden Hinweis auf seine psychische Fragilität zu geben: „CORONEL. No se fíe de las apariencias.“ 797 Die Bilder des Krieges („CORONEL. He vivido dos guerras y una larga pos‐ guerra…“ 798 ) lassen sich nicht einfach vertreiben, die Gefechte an der russischen Front nicht einfach auslöschen. Das Erlebte trieb den Coronel zu mehreren Selbstmordversuchen, die allesamt scheiterten und den offiziellen Grund für seinen Aufenthalt in der residencia militar darstellen. Auf die Frage, warum er sich nach den Kriegserlebnissen das Leben nehmen wollte, entgegnet der Coronel: CORONEL. ¿Yo? Porque nada tenía sentido? Porque todo aquello era una gran locura. CAPITÁN. ¿Y las otras veces? CORONEL. Al descubrir alguna nueva locura. CAPITÁN. ¿Y la última? CORONEL. ¿La última? CAPITÁN. Sí. CORONEL. (Incorporándose, tomando el balón y tirándolo desde lejos) Porque me siento cómplice de demasiadas locuras. 799 Krampfhaft kämpft der Coronel gegen seine Schuldgefühle, auch wenn diese ihn immer wieder einholen. Sein moralisches Gewissen wird zur permanenten Bedrohung der äußeren Ordnung („las apariencias“) bzw. Haltung des Coronel, sein Inneres wird ihm zum Feind, weil es ihm sein falsches Gewissen, die 3 Dionisio Ridruejo - Una pasión española (1983) von Ignacio Amestoy Egiguren 373 <?p