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Fridays for Future

Sprachliche Perspektiven auf eine globale Bewegung

0926
2022
978-3-8233-9511-9
978-3-8233-8511-0
Gunter Narr Verlag 
Aline Wieders-Lohéac
Dagobert Höllein
10.24053/9783823395119

Die Fridays for Future-Bewegung (FFF) verschafft dem Kampf gegen den Klimawandel weltweit Gehör. Sie hat für die komplexen Daten der Klimamodelle Worte gefunden und so den Klimawandel in den Fokus medialer Berichterstattung gerückt. Das Sprechen über Klimawandel selbst steht allerdings bislang nicht im Zentrum von Presseerzeugnissen und wissenschaftlichen Publikationen. Dabei setzt politischer Wandel die sprachliche Vermittlung von Inhalten voraus. Klimapolitik bildet davon keine Ausnahme. Der Sammelband analysiert daher Äußerungen von und über FFF sprachwissenschaftlich und bietet einen methodisch und theoretisch breiten, multiperspektivischen linguistischen Zugang zum Thema: Wie wird über den Klima-wandel gesprochen? Welche Themen und Strukturen prägen den aktuellen Klimadiskurs nicht nur in Deutschland? Gibt es eine internationale Sprache der FFF?

<?page no="0"?> Fridays for Future Dagobert Höllein / Aline Wieders-Lohéac (Hrsg.) Sprachliche Perspektiven auf eine globale Bewegung <?page no="1"?> Fridays for Future Sprachliche Perspektiven auf eine globale Bewegung <?page no="3"?> Dagobert Höllein / Aline Wieders-Lohéac (Hrsg.) Fridays for Future Sprachliche Perspektiven auf eine globale Bewegung <?page no="4"?> Gefördert durch das Geistes- und Kulturwissenschaftliche Promotionskolleg des Fachbereichs 02 (GeKKo) der Universität Kassel DOI: 10.24053/ 9783823395119 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8511-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9511-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0356-5 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 17 39 57 75 95 125 141 Inhalt Dagobert Höllein (Passau) und Aline Wieders-Lohéac (Stuttgart) Linguistische Perspektiven auf die Klimaprotestbewegung Fridays for Future . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum (Bergen) “Adults who fail the next generations and children who refuse to give up”: The story about climate change as a battle between the generations . . . . . . Olaf Gätje (Kassel) Der #Flugscham und normativer Druck in der digitalen Protestkommunikation gegen die globale Erwärmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sina Lautenschläger (Magdeburg) Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Felix Böhm (Siegen) Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP - Gattungsanalytische Perspektiven auf die Fortführung einer Twitter-Debatte um politische Partizipation in Talkshow und Video-Podcast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Gallinat (Kassel) Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten. Einzelsprachliche Perspektivierungen von Akteur: innen einer Protestbewegung am Beispiel von FAZ und EL PAÍS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Dziuk Lameira (Kassel) La ola verde: Metaphern in der Berichterstattung über Fridays for Future in der spanischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristina Bedijs (Hannover) „Frech, respektlos, Kind reicher Eltern“: Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien am Beispiel der Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer . . . <?page no="6"?> 165 191 Valentina Roether (Kassel) und Aline Wieders-Lohéac (Stuttgart) #JusticiaClimáticaYa — eine multimodale Analyse von Protestplakaten der Fridays for Future-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagobert Höllein (Passau) Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Linguistische Perspektiven auf die Klimaprotestbewegung Fridays for Future Dagobert Höllein (Passau) und Aline Wieders-Lohéac (Stuttgart) 1 Fridays for Future und Sprache „I have seen many scientific reports in my time, but nothing like this. Today’s IPCC report is an atlas of human suffering and a damning indictment of failed climate leadership“ (Guterres 2022: 2), so UN-Generalsekretär António Guterres am 28. Februar 2022 bei der IPCC-Pressekonferenz. An diesem Tag veröffentlicht der IPCC den zweiten Teil des sechsten Klimareports, in dem auf 3676 Seiten aus wissenschaftlicher Perspektive erwartbare Folgen des Klimawandels und not‐ wendige Veränderungen, um diesen vorzubeugen, beschrieben werden (IPCC 2022). Guterres fordert in seiner knapp fünfminütigen Rede die Regierungen nachdrücklich zum Handeln auf. Fridays for Future (FFF) hat das Problem bereits ein paar Wochen zuvor im Hashtag #ReichtHaltNicht (FFF 2022) formuliert und zu einem erneuten globalen Klimastreik am 25. März 2022 aufgerufen. So unterschiedlich Wortwahl und Umfang der Diskursbeiträge sein mögen, gehen beide in dieselbe Richtung: Der Klimawandel ist eines der großen Probleme unserer Zeit. Und die FFF-Bewegung, die im Wesentlichen von Schüler: innen getragen wird, hat in wenigen Jahren etwas erreicht, das einem jahrzehntelangen fachlichen, wissenschaftlichen und auch politischen Diskurs nicht gelungen ist: Sie hat den Klimawandel nicht nur mit der Wucht von weltweiten Demonstrationen auf die politische Tagesordnung der Welt gesetzt, sondern das Thema mit erstaunlicher Ausdauer auch auf der Tagesordnung gehalten. Ohne die FFF-Gründerin Greta Thunberg hätte es keinen Green Deal gegeben, so der EU-Klimakommissar Frans Timmermans (Euronews 2021). Weltweit gingen junge Menschen nach ihrem Vorbild auf die Straße und nun werden ak‐ tuell rund um den Globus Regierungen ins Amt getragen, die den Klimawandel ernster nehmen und ihre Politik stärker unter seiner Prämisse gestalten. So hat die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika noch am Tag ihrer Wahl die United Nations darum ersucht, die USA erneut als Unterzeichnerstaat <?page no="8"?> des Pariser Klimaabkommens aufzunehmen (UN 2021). In Deutschland hat die sog. Ampelregierung eine Kernforderung der FFF in der Präambel des Koalitionsertrags festgeschrieben: „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität“ (Koalitionsvertrag 2021). Und nicht zuletzt ist der internationale Klimagipfel in Glasgow durch den Druck der FFF-Demonstra‐ tionen von der Straße geprägt worden. Auch wenn die Corona-Pandemie die öf‐ fentliche Aufmerksamkeit von der Klimakrise abgelenkt und Streikmaßnahmen erschwert hat und auch wenn sich noch erweisen muss, ob die Regierungen der Erde ihre Politik nachhaltig dem Kampf gegen den Klimawandel unterordnen werden: Es ist bereits historisches Faktum, dass die FFF-Bewegung die Politik der Erde beeinflusst und zu ihrem Wandel beigetragen hat. Eine Grundvoraussetzung für politischen Wandel ist dabei die sprachliche Vermittlung von Inhalten. Klimapolitik bildet davon keine Ausnahme: Die Daten, Fakten und Ereignisse, wie Waldbrände und zunehmend heißere Sommer, allein reichen offenbar nicht aus, um einen Bewusstseinswandel her‐ beizuführen. Denn all das hat bereits vor dem Erscheinen der FFF existiert. Diese Inhalte und Ereignisse müssen analysiert, berichtet und - das ist entscheidend - in Worte gefasst werden. Sie müssen so versprachlicht werden, dass sie fassbar und verständlich werden. Diese Versprachlichung haben die Aktivist: innen der Fridays for Future-Bewegung überall auf der Welt geleistet. Sie haben gegen Umweltverschmutzung und die Klimapolitik der Staaten das Wort ergriffen und den Protest damit in den Fokus medialer Berichterstattung gerückt. Umso erstaunlicher ist es, dass die sprachliche Dimension bisher nicht im Fokus der Forschung zum Klimawandel und zu den FFF stand und steht. Das ist der Ausgangspunkt für diesen Band. Deshalb werden die Worte, Äußerungen und Diskurse der FFF-Bewegung aus linguistischer Perspektive untersucht. Denn die Linguistik kann mit ihren Analysen, Methoden und Theorien einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die gesellschaftsverändernde Kraft dieser Bewegung zu verstehen. Damit sie dies kann, bietet sich bei einer weltumspannenden, sprachübergreifenden, interkulturellen Bewegung ein interdisziplinarer Ansatz an, der Analysen zur FFF-Bewegung verschiedener Länder und Sprachen vereint, um ein umfassenderes Bild der sprachlichen Mittel und Diskurse zu zeichnen und aus dem Vergleich weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Ziel des Sammelbandes ist es also, Äußerungen von Aktivist: innen und Äuße‐ rungen über Aktivist: innen der Fridays for Future-Bewegung zum Gegenstand sprachlicher Analysen zu machen. Wie wird über den Klimawandel gesprochen? Welche Themen und Strukturen prägen den aktuellen Klimadiskurs nicht nur in Deutschland? Der Band vereint hierbei in dreierlei Hinsicht eine breite 8 Dagobert Höllein und Aline Wieders-Lohéac <?page no="9"?> Darstellung des Phänomens. Auf analytischer Ebene umfasst er eine große Bandbreite sprachwissenschaftlicher Schulen, von diskurslinguistischen An‐ sätzen über Metaphernanalyse bis hin zu syntaktischen Untersuchungen und zu signifikativ-semantischen Rollenverteilungen. Gerade die Unterschiedlichkeit der Ansätze erlaubt einen breiten Blick auf das Phänomen. Und wir freuen uns, dass Forscher: innen aus unterschiedlichen linguistischen Teildisziplinen so offen für dieses Konzept waren. Die Korpusbasis ist breit und erstreckt sich von klassischen Zeitungskorpora und Reden über Fernsehinterviews bis hin zu sozialen Netzwerken wie Insta‐ gram oder Twitter, die von der Generation Z bevorzugt genutzt werden. Die unterschiedlichen Datensammlungen geben damit nicht nur einen Eindruck der unterschiedlichen (Fremd-)Darstellungen der Bewegung in der Öffentlichkeit, sondern auch einen internen Einblick in die Selbstdarstellung der Bewegung. Als Luhmann 1995 schrieb, „[w]as wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 1995: 5), bezog er sich noch auf die traditionellen Medien, die für das breite Publikum filtern und erklären. Der Satz gilt heute umso mehr, nur dass die Medien auch solche umfassen, die nun stärker reduziert auf ihre rein technische Funktion, die direkte Verbreitung von Inhalten an die Öffentlichkeit ermöglichen. Schließlich beschränkt sich die Untersuchung nicht nur auf ein Land und damit eine Sprache, sondern bringt Romanist: innen und Germanist: innen zu‐ sammen, sodass viele Greta Thunbergs, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und Lateinamerika auf ihre Sprache hin analysiert werden können. Dabei ist diese deonymische Verwendung des Namens Greta Thunberg, nur eine der vielen sprachlichen Entwicklungen, die wir FFF verdanken. Vielerorts ist man thunbergisiert, wobei das je nach Autor: in eine positive oder negative Deontik beinhalten kann, bei Thunbergismus ist die pejorative Bedeutung wiederum eindeutig. Auch dass der Klimawandel insbesondere seit dem 2015 beschlossenen Pariser Klimaabkommen nun konsequent häufiger als Klimakrise begriffen wird, ist nicht ohne den Einfluss der FFF-Bewegung nachzuvollziehen. Das Sprechen über den Klimawandel zu analysieren, ist neben der Analyse der Sprache der FFF ein zweites Ziel des Sammelbandes, das bislang nur wenig untersucht worden ist. So thematisieren die Forschungsliteratur (Reichel 2020; Brasseur et. al. 2017; Micheau 2012), Sachbücher (Behringer 2019) und Presseerzeugnisse zum Klimawandel das Sprechen über Klimawandel bislang nicht oder nur am Rand. Linguistische Ausnahmen sind bislang Nerlich et al. (2010), Makwanya (2013) und Fløttum (2020, 2014), wenn man von frühen Publikationen unter dem - mittlerweile weniger gebräuchlichen - Terminus 9 Linguistische Perspektiven auf die Klimaprotestbewegung Fridays for Future <?page no="10"?> Ökolinguistik absieht, unter dem erstmals Umwelt und Sprache zusammen betrachtet werden (Halliday 1990; Fill 2021). Über Klimawandel sprechen ist auch eine Perspektive des Forschungspro‐ jekts Climate Thinking (2022), dessen Teil wir sind. Ausgangspunkt von Climate Thinking ist die These, dass Klimawandel kein rein naturwissenschaftlich erfassbares Phänomenfeld ist, sondern auch die Geistes- und Kulturwissen‐ schaften den Diskurs mitprägen können und sollen. Der Sammelband versteht sich als Beispiel für Climate Thinking, indem er das Sprechen über Klimawandel und die Sprache der FFF linguistisch untersucht. 2 Die FFF-Bewegung Die FFF-Proteste beginnen am 20. August 2018 in Stockholm mit dem Streik Greta Thunbergs im Vorfeld der damaligen schwedischen Parlamentswahlen (Aftonbladet 2019). Unterstützt durch mediale Berichterstattung, Aufnahme in den sozialen Medien und im Speziellen über das Twitter-Hashtag #Fridays‐ ForFuture entwickelt sich der lokale Streik schnell zu einer internationalen Jugendbewegung. Insbesondere Schüler: innen streiken und organisieren in immer mehr Ländern Demonstrationen, die die FFF-Proteste ab dem Frühjahr 2019 zum globalen Phänomen werden lassen. Der erste sog. Global Climate Strike For Future am 15. März 2019 mit „weit über eine[r] Millionen“ (FFF 2019) Teilnehmer: innen bildet einen vorläufigen Höhepunkt. Kulminationspunkte medialer Beachtung sind einerseits die Großdemonstra‐ tionen im Rahmen der Global Climate Strikes For Future, deren mit Millionen Demonstrant: innen weltweit bislang größte am 20. September 2019 stattge‐ funden hat (Haunss et al 2020: 9). Andererseits sind es über das gesamte Jahr hinweg auch immer wieder Auftritte, Aktionen und Reden Thunbergs selbst. Hervorzuheben ist dabei das Treffen mit UN-Generalsekretär António Guterres auf der UN-Klimakonferenz in Katowice im Dezember 2018 (theguardian 2018), das verdeutlicht, welche Bedeutung der FFF-Bewegung von globalen Institu‐ tionen vier Monate nach ihrer Gründung bereits entgegengebracht wird. Im Jahr 2019 ist Thunberg auf allen wichtigen internationalen Zusammenkünften vertreten. So nimmt sie am 49. Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos teil und hält kurz darauf Reden vor Vertreter: innen der Europäischen Union. Über Wochen ist Thunbergs Atlantiküberquerung in einer Segelyacht ein mediales Großereignis, wobei die Berichterstattung spätestens zu diesem Zeitpunkt die starke Polarisierung der FFF-Bewegung im Allgemeinen und der Person Thunberg im Besonderen spiegelt (FAZ 2019). Von zentraler und möglicherweise sogar historisch übergeordneter Bedeutung ist Thunbergs How 10 Dagobert Höllein und Aline Wieders-Lohéac <?page no="11"?> dare you-Rede auf dem UN-Klimagipfel in New York vom 23. September, mit der die Anliegen der FFF-Bewegung weltweite Beachtung finden. Auch nach der How dare you-Rede Thunbergs gelingt es der FFF-Bewegung durch immer neue Demonstrationen und Aktionen, weltweit im Fokus medialer Aufmerksamkeit zu bleiben. Dieser Fokus hält an, bis sich Anfang 2020 die Co‐ rona-Pandemie über den gesamten Globus ausbreitet und nicht nur das öffent‐ liche Interesse von Klimawandelfragen ablenkt, sondern auch die FFF-Bewe‐ gung ihrer wichtigsten Agitationsmöglichkeit beraubt: Denn die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie machen jene Großdemonstrationen unmöglich, denen die FFF-Bewegung maßgeblich ihre Relevanz verdankt. Trotz vielfältiger Versuche, den Protest in digitaler Form fortzuführen, und einiger Großdemons‐ trationen wie der am 25. September 2020 mit enormen Teilnehmer: innen-Zahlen leidet auch die FFF-Bewegung bis zum jetzigen Zeitpunkt unter dem Einfluss der weiter andauernden Pandemie. Während die zukünftige Bedeutung der FFF-Bewegung angesichts dieser Probleme offen ist, ist ihr nachhaltiger Einfluss auf staatliche Institutionen und deren Handeln bereits dokumentierbar. Drei Reaktionen seien stellvertretend erwähnt: Erstens hat das Europäische Parlament am 28. November 2019 den Kli‐ manotstand ausgerufen (theguardian 2019). Zweitens hat die EU-Kommission am 11. Dezember 2019 The European Green Deal beschlossen, mit dem Europa bis 2050 emissionsfrei werden soll (European Commission 2019). Drittens hat mit dem Bundesverfassungsgericht am 29. April 2021 erstmals ein Gericht ein nationales Gesetz mit der Begründung für in Teilen verfassungswidrig erklärt, dass kommende Generationen durch dieses Gesetz unverhältnismäßig belastet würden (BVerfG 2021). Damit sind Kernargumente der FFF-Bewegung in kürzester Zeit zu legislativer, exekutiver und judikativer Praxis geworden. 3 FFF in der (linguistischen) Forschung Die Wissenschaft zeigt quer durch die Disziplinen Interesse an der FFF und hat die Bewegung selbst zum Gegenstand gemacht, wie zahlreiche Studien und nicht zuletzt dieser Sammelband verdeutlichen. Dieses Interesse ist abgesehen vom geschilderten Einfluss auf aktuelle Politik auch dadurch erklärbar, dass eine der FFF-Kernforderungen Listen to science lautet. Die FFF-Bewegung rückt die Wissenschaft damit in eine zentrale und machtvolle Position, deren sich die Wissenschaft würdig zu erweisen hat. Die Forschung zur FFF-Bewegung ist verglichen mit der unüberschaubaren zum Klimawandel noch übersichtlich, entwickelt sich aber rasant. Die vorlie‐ genden Studien kommen vor allem aus der Soziologie und der Politikwissen‐ 11 Linguistische Perspektiven auf die Klimaprotestbewegung Fridays for Future <?page no="12"?> schaft. Die erste Ganzschrift zum Thema haben Sommer et al. (2019) vorgelegt. Mit Fopp et al. (2021) und Haunss/ Sommer (2020) sind darüber hinaus zwei Sammelbände zum Thema publiziert worden, die das Thema soziologisch explorieren und für fachwissenschaftliche Studien anderer Disziplinen vorbe‐ reiten, wobei Haunss/ Sommer (2020) stark auf der von ähnlichen Autoren herausgegebenen Studie Sommer et. al. (2019) fußt. Eine besondere Rolle in der Forschung zu den Fridays for Future nehmen die Scientists for Future ein. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Wis‐ senschaftler: innen, die die FFF-Bewegung aktiv unterstützen (scientists4future 2021; Fopp et al. 2021). Diese Doppelfunktion ist für jene Wissenschaftler: innen in dem Maß anschlussfähig, in dem diese die Rolle der Wissenschaft als eine politische sehen. Sie ist gleichzeitig für jene in dem Maße problematisch, in dem sie der Wissenschaft eine von (zumindest aktiver) Politik unabhängigere Position zudenken. Für die nicht aktivistische Wissenschaft erwächst aus der Position in der Zukunft möglicherweise ein Problem aus dem Unterlassen der Unterstützung. Die aktivistische Wissenschaft läuft Gefahr, zumindest den Anschein zu erwecken, politisch Position zu beziehen. Ganz unabhängig von der Bewertung dieser Frage wird mit den Scientists for Future die Wissenschaft selbst zum Akteur und muss sich als Ergebnis dieser unauflöslichen Rückkopp‐ lung zumindest in Teilen selbst erforschen. Linguistische Publikationen zu FFF liegen aktuell noch eingeschränkt vor. Relevant sind insbesondere die in Reisigls (2020) OBST-Heft Klima in der Krise vereinten Aufsätze, die nicht nur auf die sprachliche Verfasstheit des Diskurses über Klima, sondern explizit auch vor allem in Kerschhofer-Puhalo (2020) auf die FFF-Bewegung eingehen. Daneben sind - mehr im Sinne von Annäherungen an das Thema - noch die studentische Metaphernanalyse Schonerts (2021) und die deutschdidaktische Untersuchung von Reidelshöfer (2020) zu nennen. Dem vorliegenden Band kommt damit - zumindest im Bereich der Linguistik - Pioniercharakter zu und die Aufgabe, über die in ihm vereinten Beiträge das Fach breit zu repräsentieren. 4 Übersicht: Aufsätze des Bandes Kjersti Fløttum (2020; 2017; 2014) hat mit ihren Untersuchungen zur Kommu‐ nikation über Klimawandel maßgeblich die linguistische Forschung auf diesem Gebiet geprägt. Ihr gemeinsam mit Ida Andersen verfasster Beitrag eröffnet den Sammelband. Darin erforschen sie epideiktische Rhetorik und Narrative in der Kommunikation der FFF in der norwegischen Presse. 12 Dagobert Höllein und Aline Wieders-Lohéac <?page no="13"?> Olaf Gätje untersucht unter dem Hashtag #Flugscham auf Twitter erschienene Beiträge auf ihre kommunikativen Ziele im gesamtgesellschaftlichen Diskurs hin und diskutiert, welche kommunikativen Rahmenbedingungen notwendig sind, damit Flugscham zu einem der Leitbegriffe der Klimaaktivist: innen werden konnte. Sina Lautenschläger untersucht in einer korpuslinguistischen Pressetextana‐ lyse framesemantische Veränderungen in der Verwendung der Lexeme Klima‐ schützer: in oder -aktivist: in im Rahmen der Berichterstattung über FFF. In seinem Beitrag fokussiert Felix Böhm mit den Aufeinandertreffen zwischen Luisa Neubauer und Christian Lindner in den kommunikativen Gattungen TV-Talkshow und Video-Podcast die Gesprächsorganisation und die kommuni‐ kative Teilhabe an medial inszenierten politischen Debatten. Maria Gallinat zeigt im Rahmen einer qualitativen Korpusuntersuchung spa‐ nischer und deutscher Zeitungstexte, die den Tageszeitungen EL PAÍS und FAZ entnommen sind, dass die Perspektivierung der FFF-Bewegung einzelsprachlich geprägt ist. Gleichzeitig ist ihr Aufsatz eine signifikativ-semantische Pilotstudie für das Spanische. Auch bei Katharina Dziuk Lameira bilden Zeitungskorpora die Grundlage ihrer Untersuchung. Sie untersucht dort vorkommende Metaphern und stellt dar, wie die Fridays for Future-Bewegung in der Berichterstattung der spani‐ schen Tageszeitungen EL PAÍS und El Mundo konzeptualisiert wird. Kristina Bedijs erarbeitet auf Basis von Twitter- und Facebook-Belegen am Beispiel der Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer Kategorien von Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien und kann mit diesen Kategorien insbesondere zeigen, dass der Diskurs von argumenta ad personam geprägt ist. In ihrer multimodalen Analyse hispanophoner Protestplakate auf Instagram zeigen Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac, dass Protest auch bei einem Thema wie der Klimakrise positiv und lösungsorientiert sein kann und wie sprachliche und bildliche Komponenten einander ergänzen. Die Frage des Aufsatzes von Dagobert Höllein ist, inwiefern die FFF-Be‐ wegung eine eigene Sprache im Sinne spezifischer syntaktisch-semantischer Profile herausgebildet hat. Dazu ist ein für den Aufsatz erstelltes Korpus aus Klimareden von FFF-Aktivistinnen und Regierungsmitglieder syntaktisch-se‐ mantisch analysiert und ausgewertet worden. Unser Dank gilt dem Promotionskolleg GeKKo (Geistes- und Kulturwissen‐ schaftlichen Promotionskolleg des Fachbereichs 02) der Universität Kassel ohne dessen großzügige finanzielle Unterstützung dieser Band nicht möglich gewesen wäre. Wir danken dem Narr-Verlag - und hier insbesondere Mareike Wagner und Tillman Bub - für die Aufnahme des Bandes und die freundliche 13 Linguistische Perspektiven auf die Klimaprotestbewegung Fridays for Future <?page no="14"?> Begleitung über die gesamte Zeit der Publikation. Nicht zuletzt möchten wir uns ganz herzlich bei Feli Sofia Vopicka und Julia Wilhelm bedanken, die mit unendlicher Akribie das Manuskript dieses Bandes eingerichtet und damit einen großen Anteil am Gelingen dieses Bandes haben. Literatur Aftonbladet 2019 = Greta-effekten. Detta har hänt. 16.06.2019. https: / / www.aftonbladet .se/ nyheter/ a/ Adx8k5/ greta-effekten-detta-har-hant (letzter Zugriff: 06.04.2022) Behringer, Wolfgang (2019). Kulturgeschichte des Klimas: Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung (= dtv 34652). München: DTV. Brasseur, Guy/ Jacob, Daniela/ Schuck-Zöller, Susanne (Hrsg.) (2017). Klimawandel in Deutschland: Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven. Berlin: Springer. 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And yet you are stealing their future”. 3 “Det er vår fremtid dere ødelegger”, see e.g. Miljøagentene’s image (2020) from a school strike. 4 “Deres ignoranse er vår dødsdom”, see e.g. Morten Lauveng’s image (2019) a school strike in Oslo. “Adults who fail the next generations and children who refuse to give up”: The story about climate change as a battle between the generations Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum (Bergen) 1 Introduction Essential means of the Fridays for Future movement include accusing the older generation and constructing a narrative of the climate cause as a matter of intergenerational (in)justice. 1 The movement’s initiator and leading figure Greta Thunberg has on many occasions accused the older generations of acting irresponsibly, having failed the young and stolen their dreams, childhood and future. From school strikes around the world, we have seen banners and heard slogans such as “Stop stealing the future” 2 , “It is our future you are destroying” 3 , and “Your ignorance is our death sentence” 4 . As such, the school strikers have brought debates about intergenerational justice to the foreground of the public debate on climate change. In Norway, smaller school strikes for the climate were arranged at the beginning of 2019. The first big and truly national school strike, which also gained much attention from the press, took place on 22 March. It is estimated that, on this particular Friday, close to 40,000 people participated in the school strikes that were organised in various cities around the country (NTB 2019). <?page no="18"?> The Norwegian school strikers’ primary claim is: “No new oil licenses”. Thus, their claim reflects a central conflict in Norway’s self-image, as an oil rich nation, yet at the same time a climate concerned nation (Fløttum et al. 2016). However, in the public debate about the youth’s climate activism, this demand was largely neglected. Instead, attention was given to the school strikes as a type of political participation. In the media, politicians, school leaders and journalists voiced concerns about the strikes’ negative effect on school attendance and thus the education of the youth. The youth, in turn, raised demands for authorised absence from school to participate in the strikes, which they claimed to be political activity. This demand was supported by the Green Party, who promoted a proposition in the Parliament to give authorised absence for participation in the climate strikes. However, the proposition was voted down. In this chapter, we examine how the narrative of the climate cause as a generational conflict is carried out by Norwegian youth and explore how this narrative functions as a means to exercise agency. To do so, we do not study the school strikes per se, but rather we look at debate pieces written by youth, where the aim is to mobilise participation in these strikes - or in other ways engage in collective action for the climate. The debate pieces we study are published in the national newspaper Aftenposten’s youth column, “Si; D” during 2019. The study produces insights into how young citizens practice rhetorical agency to affect change. This is of paramount concern, we argue, as it is the young who will live with the future consequences of today’s political decisions. In the near future they will also have to face difficult democratic decisions concerning the climate and the environment. Yet, we have limited knowledge about how children and youth express, experience, and exercise agency in an issue that will affect them and future generations the most (Hayward 2021: 87-89). The present study seeks to fill this gap. First, we present our theoretical and methodological framework; then, we present our analysis of the youth’s texts. In the analysis, we first discuss how the problem and the solution are defined. Then we go on to examine how the actants and the intrigue between them are constituted rhetorically. Finally, we discuss the rhetorical functions of the definitions and constitutions we identify, with a particular eye to the texts’ ability to produce agency and self-efficacy. 18 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="19"?> 5 In total, the 36 debate pieces contain 16 166 words. 2 Theoretical and methodological framework Our material consists of 36 debate pieces 5 written by Norwegian youth about climate change and democratic participation. The debate pieces have been published in the youth column, “Si; D”, which is a part of the national newspaper, Aftenposten, that accepts texts written by people aged 13-21 years old. We have collected all debate pieces about climate change from the column’s webpage, https: / / www.aftenposten.no/ meninger/ sid/ , from January to December 2019. Here, we analyse a selection of these debate pieces, namely the 36 texts that either thematise the school strikes directly or the youth’s democratic participation more generally (see overview of all material in Appendix). Our methodological approach is mainly qualitative. However, we have also undertaken a quantitative word frequency analysis of all the texts included in one document, using the software AntConc (Anthony 2005). The AntConc word list provided clear support for our initial research question related to the intergenerational debate/ conflict, especially through the frequent occurrences of personal pronouns such as we on one side and you on the other side. We then examine the debate pieces through a rhetorical close reading, using reflexive interpretative movements to establish what the speakers do, rather than what they say (Leff 1980). Studying these texts rhetorically entails seeing them as “purposive and effective” actions (Kjeldsen 2017: 24). Consequently, we see the youth as agents with the capacity to “induce social action” through their rhetorical actions (Hauser 2002: 3). Moreover, the rhetorical perspective requires us to view the texts as contingent and situated (Kjeldsen 2014). Rhetorical praxis concerns itself with issues in which there is no absolute certainty - with choices - and where both the outcome of the issue and what is likely to be the best course of action depend on the situation and the audience (Aristotle 2007). Thus, to examine texts from a rhetorical perspective is to ask how the texts function in their particular context. As we are performing a close reading of more than one particularly influential text, our interpretation of the material has a narrower scope than traditional rhetorical criticism. Rather than offering an “overall account of the text’s mea‐ ning and mode of operation” (Villadsen 2014: 42, our translation), we zoom in on one particularly prominent narrative - “generational conflict” - and explore how this is carried out through epideictic rhetoric, i.e. verbal display, praise and censure of the narrative’s characters. Indeed, this narrative is not equally prominent in all texts, and some speakers explicitly oppose this narrative. 19 A battle between generations <?page no="20"?> 6 All our examples are translated into English (more or less literally). The original Norwegian examples are included in brackets. However, our study does not aim to produce quantitatively representative insights about Norwegian youth’s understanding of climate change. Rather, we aim to offer an in-depth understanding of the rhetorical functions of a particular constitution of the issue and the audience. Therefore, our analysis describes and critically evaluates general tendencies in our material and demonstrate these with particularly poignant examples. 6 2.1 Epideictic rhetoric In classical theory, the epideictic was seen as a distinct speech genre, distingu‐ ished from the deliberative speech genre by situation and function (Aristotle 2007: 46-52; 75-83). Whereas deliberative speeches were held in the political assembly and were characterised by argumentation for a certain future action, epideictic speeches were held on ceremonial occasions, such as public funerals or the Olympics. The most common rhetorical device in epideictic rhetoric is the verbal displaying and praise of things, events, or people representing the values the speaker seeks to promote - and censure of that which violates these values. Simply put, deliberative rhetoric concerns the question: “What should we do about this? ”, whereas epideictic rhetoric helps to define, evaluate and self-assure groups (Vatnøy 2015: 10). In modern rhetorical theory, the epideictic is no longer viewed just as a distinct speech genre, but as a persuasive mode that can be identified in various discourses - including those that we do not primarily consider epideictic (Beale 1978; Sheard 1996). Less attention is given to the epideixis’ ceremonial functions and aesthetic qualities, and more attention is given to its performative and societal functions. It is emphasised how epideictic rhetoric can function to create understanding, educate the community’s members, and shape the community (Condit 1985; Hauser 1999; Sheard 1996). As such, epideictic rhetoric is understood as preparation for deliberation and political action (Perelman & Olbrechts-Tyteca 1971), as well as a way to perform community (Beale 1978). The performative and narrative capacities of the epideictic can, moreover, enable audiences to envision alternative ways of organising their personal and social life. Thus, epideictic rhetoric is particularly powerful to craft agency, as this type of rhetorical praxis allows speakers to make their “vision a reality for [their] audience” and instil “a belief that the power for realising the vision lies within them” (Sheard 1996: 781). To study the debate pieces from an epideictic point of view, then, is to explore the ways in which the young speakers create 20 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="21"?> identification, attempt to shape the community of climate engaged youth, and mobilise rather than persuade the audience to act. Instead of attending mainly to the speakers’ deliberative argumentation, an analysis emphasising the epideictic features of a text attends especially to the functions of performative speech acts, the construction of a “we” as a collective political subject through verbal display, expressions of praise and censure, and definitions of the situation that the speaker responds to (e.g., Vatnøy 2015, p. 12-13). As such, the epideictic perspective should be appropriate to the aim of this study. 2.2 Rhetorical narratives Rhetorical discourses never offer a complete narrative; rather they use narrative elements as a means to their argumentative and mobilising ends. The most prominent narrative qualities in the texts are the narrative characters (victim, hero and villain), the intrigue between these actors and their actions, and the moral valuation of actors and actions (see e.g., Fløttum & Gjerstad 2017; Iversen 2013). These narrative elements serve as illustrative examples within a discourse that attempts to move actual audiences to action. The rhetorical narrative “is a story that serves as an interpretative lens through which the audience is asked to view and understand the verisimilitude of the propositions and proof before it” (Lucaites & Condit 1985: 94). Thus, a characteristic trait of narratives in rhetorical discourse is that they “stop short of the formal stage of plot ‘resolution’ by virtue of its purpose to encourage audience enactment” (Lucaites & Condit 1985: 100). The situation addressed by the speaker can only be changed when the speaker manages to move the audience to act in order to bring about the desired transformation. Narratives hold a central place in epideictic rhetoric as “myths” about the community, their shared past, and visions of what could be (Condit 1985; Sheard 1996). They shape our understanding of the issue at hand and thereby serve to constitute both social reality and the audience. Furthermore, narratives can transform abstract and complex societal issues, such as climate change, into tangible and recognisable situations through familiar narrative characters. Thus, the narrative perspective is an entry point to understand the constitutive and agentic functions performed in the youth’s texts. Attending to the narrative elements of the texts allow us to identify how the speakers constitute social reality by constructing the problem they address as an intrigue between certain actors. Moreover, the identification of narrative characters and their relationships help us to understand when, how and for whom agency is crafted (e.g. by making the self and/ or the audience the hero[es] of the story), and when, 21 A battle between generations <?page no="22"?> 7 Indeed, our material consists of texts written by youth aged 13-21, meaning that some are old enough to participate in democratic processes by voting. how and by whom agency is obstructed (e.g. by making the self and/ or the audience the victim[s] of the story and an “other” the villain). We view constituting social reality and crafting agency as critical functions of any rhetorical utterance and see these as particularly pertinent to the study of young (as well as other marginalised) voices in the climate change debate. The youth are not only too young to vote 7 , they are also rhetorically underprivileged; few have ready access to a public podium, and many lack the rhetorical competency to make themselves heard. Both the youth column and the school strikes are arenas in which the young can train their rhetorical competency. However, these are not merely arenas where the youth can train to become engaged citizens. They are also arenas in which the youth exercise rhetorical citizenship, i.e. they are enacting and embodying their citizenship through communicative practice (cf. Kock & Villadsen 2014). In other words, the youth should be seen as agents, and their texts are rhetorical actions with possible consequences in the world. Therefore, we wish to understand how the narrative about climate change as a generational conflict - a prominent narrative in our material and in the FFF protests more generally - functions to constitute the audience and the reality, as well as to instil a sense of agency. To do so, we first explore how the problem and the solution are defined before examining how the actors and the intrigue between these are constituted rhetorically. 3 The youth’s narrative of a generational conflict 3.1 The problem and the solution The main complication in the narrative is climate change, which is defined as a problem that threatens the youth’s future. Moreover, another complication can be identified: that the young are unable to make themselves heard. This is both an independent complication in the narrative and an obstacle to remedy the overall problem, namely climate change. The Norwegian school strikers’ primary claim has been “no new oil licenses”. In our material, however, their cause mainly materialises either in demands that “The youth’s voice must be heard and taken seriously! [Ungdommers stemme må bli hørt og tatt på alvor! ]” (21 Oct 2019), or that they “demand a livable future for our generation and all generations that succeed us. [Vi krever 22 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="23"?> 8 This and all subsequent mention of word frequencies are identified through the quantitative frequency analysis AntConc (see above, and Anthony 2005). en levelig fremtid for vår generasjon og alle generasjoner som kommer etter oss.]” (30 April 2019). While the responsibility to act to mitigate climate change is primarily given to the adult generation - mainly politicians, but sometimes also parents, grandparents, or the adult generation in general - most debate pieces address other young people. While politicians, the government, state and Parliament are often mentioned in the texts (approx. 150 instances), the rhetorical analysis suggests that the invitation to act is primarily directed to themselves or other young people. This is supported by the reference of the first person plural pronoun we; approx. 70 % (of a total of 401) of the we occurrences refer to the youth as a collective. In other words, it is the youth who are asked to act to remedy the problem by coming together to make the older generations act. As one of the young speakers puts it: “If we who are young manage to inform the older ones around us about the gravity of the situation, and about the small measures they can take, I believe that we can achieve a lot. [Hvis vi unge klarer å opplyse de eldre rundt oss om alvoret i situasjonen, og om disse små tiltakene de kan ta, tror jeg vi kan få til mye.]” (18 Oct 2019). The youth mainly promote political participation as a means to remedy the problem. The Norwegian word streik* [strike/ strikes/ striking] appears 94 8 times in the material and is the dominating form of participation advocated. An illustrative example of how strikes are promoted as a means is the following invitation to act: “We must reclaim our future - we must strike now! [Vi må kreve tilbake fremtiden vår - vi må streike nå! ]” (28 Sept 2019). Joining the school strikes is also depicted as the only thing that the young can do to solve the problem. As one student asks rhetorically: Recently, over 40,000 pupils participated in the school strikes, demanding change and rapid action. I was one of the 15,000 that stood in front of the Storting [national assembly] to show that we care. What more can we do? [Nylig streiket over 40 000 skoleelever i Norge og krevde endring og en raskere løsning. Jeg var en av de 15 000 som sto foran Stortinget for å vise at vi bryr oss. Hva mer kan vi gjøre? ] (28 March 2019) The youth demonstrate impatience, and the situation is defined in terms of urgency. The frequency analysis shows that the temporal adverb nå [now] occurs 47 times in the material. The rhetorical close reading suggests that the concrete encouragement to act that is addressed to the audience is often articulated 23 A battle between generations <?page no="24"?> 9 We have exclusively examined the plural of the personal pronoun you (dere). In contrast to English, where you can refer both to an individual address and a collective address, Norwegian language differentiates between second singular (du) and plural (dere), making it possible to single out collective addresses. around the need to act instantly to mitigate climate change: “What we need is to do something about this NOW . It is now that this is a problem, and it is NOW we have to fix it [Det vi trenger, er at vi gjør noe med dette NÅ. Det er nå dette er et problem, og det er NÅ vi må fikse det]” (6 April 2019). To act now, it is argued, is “the only thing that can save us [Handling er det eneste som kan redde oss]” (5 March 2019). The complication to be solved is climate change, but the fact that the young are not given a voice in a matter that affects them, is an additional complication. Therefore, the young must take action to be heard, and they are advised to do so by joining the strikes. This, it is argued, is a way - perhaps the only way - that the youth can make themselves heard and thereby influence the older generations to act to mitigate climate change. 3.2 The constitution of we and them The frequency analysis identifies frequent interaction between a we and a you. We is the most frequent personal pronoun in the material, with 401 occurrences within the 36 texts. The pronoun can be used with a general reference (e.g. “If we are to have a chance to reach the 1.5 degree target… [Hvis vi skal ha sjans til å nå 1,5-gradersmålet…]”, or “Rich countries like Norway have contributed the most to creating the climate crisis, and we must therefore lead the way to limit it [Det er rike land som Norge som har bidratt mest til å skape klimakrisen, og vi må derfor gå foran for å begrense den]”. However, the pronoun mainly refers to the young (e.g., “We are part of a global movement that grows bigger every day [Vi er en del av en global bevegelse som blir større hver eneste dag]”, or “But the entire strike is based on us students taking on a burden [Men hele streiken bygger på at vi elever skal ta på oss en belastning]”. The second person plural pronoun you (‘dere’ in Norwegian) 9 also largely refers to the young (approx. 50% of a total of 97 occurrences) but, in addition, there is a clear call on politicians (38%) and to others (11%). Surprisingly, the pronoun you rarely refers to ‘parents’ or ‘adults’. However, it should be noted that the noun ‘adults’ occurs 36 times. When we look more closely at this interaction through rhetorical analysis, we find that the texts’ we are broad, diverse, and inclusive to various opinions, identities, and motives for joining the cause. As one student puts it: “We are gay, we are straight, we are religious, we are atheist, we are from the entire world and have all kinds of backgrounds [Vi er skeive, vi er hetero, vi er religiøse, vi 24 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="25"?> er ateister, vi er fra hele verden med alskens bakgrunner]” (26 Sep 2019a). The collective is nevertheless one group, defined by its shared interest: to mitigate climate change. The collective is not defined through references to a shared past, as is often the case in epideictic rhetors’ attempts to constitute the community. Rather, it is defined by reference to the collective’s shared future, which is threatened by past actions. These past actions are not the youth’s own actions. Rather, it is the older generations’ actions (and inaction) that pose a threat to the collective’s future. As such, the large and diverse group “the young” is defined as one collective, defined by its shared status as victims of older generations’ actions. This collective is clearly contrasted with its constitutive outside, i.e. a you or them. This constitutive outside includes both political actors in various positions and different parties, parents and grandparents, and general references to the adult generation. Nevertheless, they also form one collective, defined by their role as perpetrators threatening the youth’s future. The adult generation - mainly the politicians, but also parents and grandparents - are blamed for their wrongdoings in the past and their inaction in the present. The relationship between the texts’ we and them is, thus, conflictual. On the one hand, this conflict materialises as a victim-perpetrator-relationship. However, it also materialises as a hero-villain-relationship. In what follows, we examine how these two relationships are established through the locus of the irreparable (Cox 1982), the epideictic rhetoric of praise and censure, and the definition of the situation through analogies to historical justice movements. 3.3 Victim, perpetrator and the locus of the irreparable The victim role is established through censure of grown-ups. Older generations are criticised for their emission-intensive action and policies, as well as their inaction to mitigate climate change. Moreover, the constitution of the youth as victims is embedded in the locus of the irreparable, a rhetorical commonplace for assigning value, importance and urgency to a given cause by claiming that certain action or inaction will cause irreplaceable and irreparable loss (Cox 1982; see also Perelman & Olbrechts-Tyteca 1971: 66; 90-92). According to the young speakers, the older generations’ actions will make the planet uninhabitable for those who are young today. Adults are censured for committing a “climate robbery of our future [klimaran av fremtiden vår]” (5 March 2019) and for knowingly “handing over a ruined planet to the coming generation [overlevere en ødelagt planet til den oppvoksende generasjonen]” (14 Feb 2019). The “adults lead the planet toward climate chaos [voksne styrer kloden mot klimakaos]” and, 25 A battle between generations <?page no="26"?> consequently, the young are heading toward a “non-existent future [intet-ek‐ sisterende fremtid]” (23 Feb 2019). The inequitable distribution of power between the young and the old is highlighted: those who have the power to and, therefore, the responsibility to save the future, disclaim responsibility. Thus it is argued that “the youth, who neither have the right to vote or the experience to be taken seriously, are witnessing an unbelievable betrayal from the parent generation [ungdommen, som hverken har stemmerett eller nok erfaring til å bli tatt seriøst, er vitne til et svik uten like fra foreldregenerasjonen]” (20 Aug 2019). In the debate pieces, the adult generation’s inaction is commonly reduced to petty considerations. It is argued that “the last generation that have the opportunity to stop this process are not doing so, because they want to live comfortably [den siste generasjonen som har mulighet til å snu utviklingen, ikke gjør det fordi de heller vil ha det litt bedre selv]” (28 March 2019). Although the youth will do everything in their power, this power is limited, and they will have to “stand by and watch the destruction of the planet where we shall live for at least 70 more years [Ungdommen skal gjøre det vi kan, men med vår begrensede makt kan vi ikke gjøre mye annet enn å stå og se på at kloden vi skal leve minst 70 år til på, blir ødelagt]” (28 March 2019). The action to turn around this development is contrasted with “Empty words, short-term profits, ignorance, and self-praise”, which “will drive us straight off the cliff towards which we are heading [Tomme ord, kortsiktig profitt, ignoranse og selvskryt vil føre oss rett ned i det stupet vi er på vei mot]” (5 March 2019). Thus, the unique and precarious - the survival of future generations - is juxtaposed against ordinary and fungible goods - a comfortable life and short-term profits - thereby making the loss of the unique even more poignant (Cox 1982: 229). The adult generation is also condemned for its vulgar attitudes toward the climate engaged youth. They are presented as not acting to solve the problems, and they also mock and counteract the youth’s efforts to do so. Thereby, they are obstructing the youth’s possibilities to make themselves heard. The youth express “anger and despair” when realising that, such stupid things, like who I am, or the parent generation’s prejudices against me, affect something as important as the possibility to act to solve the climate crisis. Whether it is angry grandparents on Facebook or ‘funny’ parents, who are ‘just joking’ [( Jeg kjenner at jeg blir sint og fortvilet over at) så idiotiske ting som hvem jeg er og hvilke fordommer eldre har overfor meg, skal påvirke noe så viktig som klimakrisen. Om det er sinte besteforeldre på Facebook eller ‘morsomme’ foreldre som ‘bare tuller’.] (18 Oct 2019) 26 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="27"?> The speakers report being “tired of fighting for a cause and participating in democracy”, when being “treated as inexperienced children and unworthy human beings, who have lived too little to be allowed to have an opinion about our future - even though it is our future that is at stake [Vi er lei av å kjempe for en sak og delta i demokratiet som barn og unge [… men] bli behandlet både som uerfarne barn og uverdige mennesker, som har levd for lite til å skulle ha lov til å ha en mening om fremtiden vår - selv om det er vår fremtid det er snakk om! ]” (26 Sep 2019a). The youth, then, tell a story in which the unique and irreplaceable is in danger of being lost due to petty and vulgar concerns and attitudes shown by older generations. By contrasting petty behaviours to the irreparable loss, this loss appears both incomprehensible and even more precarious to avert. This contributes to making the action needed to save the youth’s future appear to be rather simple solutions. It does not require large sacrifices; what it takes to avoid losing what is precarious and unique, is to put an end to trivial and petty considerations. Generally, political and scientific narratives and arguments about climate change are embedded in a rhetoric of irreparable loss. The destruction of the environment cannot be undone, extinct species cannot be recovered, and global heating exceeding 1.5-2.0 degrees will cause irreversible changes in the climate system. However, the tipping points have not yet been reached. If they were, there would be no need for rhetorical action, no need to attempt to move the audience to act to avoid irreversible consequences. The narrative is not finished - “that which is threatened need not be lost if one acts as the rhetor requests” (Cox 1982: 230, it. in original). As a rhetorical strategy, then, the irreparable gives agency and instils a sense of urgency which may lead an audience to act; its rhetorical appeal “occurs as a forewarning, an opportunity to act in appropriate ways before it is too late” (Cox 1982: 232). Furthermore, the speakers present the young as heroes, thereby offering their audience a possibility to step forward as agents intervening in what is considered an unjust situation and to bring about change. 3.4 Heroic agents and blameworthy others The hero role is established through definitions of the situation as a climate battle fought by the youth. The youth “fight” and “go to the barricades [står på barrikadene]” for the climate (15 March 2019). Similarly, the villain role is established by the definition of whom the youth are fighting. They are fighting for the climate - but more importantly, they are fighting against those in power. 27 A battle between generations <?page no="28"?> The youth are “striking against those who lead society, and for the environment [streiker mot dem som leder i samfunnet, og for miljøet]” (31 May 2019). The youth are constituted as heroes through self-praise of their courage and determination. In contrast to the politicians and other grown-ups, the youth take responsibility, display courage and determination. In doing so, they produce hope: Even though it can feel like no one does anything to prevent the world from going under, I hear those who demand change. And it is not the politicians. It is adolescents with a burning engagement for the climate and the environment. Former classmates who plan to chain themselves up to protest against the dumping of mining waste. 14-year-olds who write in the newspaper about how immediate change is needed. [For selv om det kan føles ut som om ingen gjør noe med verdens korte levetid, hører jeg dem som krever endring. Og det er ikke politikerene. Det er ungdom med et brennende engasjement for klima og miljø. Tidligere klassekamerater som planlegger å lenke seg fast i protest mot gruvedumping. 14-åringer som skriver i avisen om hvordan vi trenger endring nå.] (4 March 2019) The storytellers, then, give themselves the hero role in their own story, which is a common strategy in political climate change narratives (cf. Fløttum & Espeland 2014). Commonly, particular individuals (most prominently Greta Thunberg, who is mentioned 76 times in the texts) are verbally displayed and praised. These individuals serve as embodiments of the entire community of young people engaging in the climate cause. “23-year-old Mari from Norway, who dedicates almost all of her time to the climate battle”, “21-year-old Jacob from the U.S., who goes to a climate lawsuit against Trump”, and “16-year-old Greta from Sweden who is on a school strike for the climate”, are all displayed as representatives of the community, as well as “representatives of a generation that has been let down [23 år gamle Mari fra Norge, som vier nesten all sin tid til klimakampen, 21 år gamle Jacob fra USA som går til klimasøksmål mot Trump og 16 år gamle Greta fra Sverige som skolestreiker for klimaet. Mari, Jacob og Greta er representanter for en generasjon som er blitt sviktet]” (14 Feb 2019). In that sense, we can say that the adult generation’s “betrayal” constitutes the youth - both as victims and heroes. This is particularly evident in some of the utterances, where the young speakers reject responsibility to act while, nevertheless, taking on this responsibility. Many state that they do not want to be heroes but are forced to be due to the older generation’s “betrayal”. This, we argue, functions to strengthen their credibility as genuine heroes. It does so because their engagement and efforts are presented as difficult sacrifices that they make, not because they want to, but because they have to. Consider, 28 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="29"?> for instance, how this 16-year-old girl describes her engagement in the climate cause: I fit into the categories “young” and “engaged”. But I do not want to. I do not want to have to fight for a sustainable future - my future. […] Being “engaged” is, for many, an involuntary choice because what is the alternative? […] I can choose between being paralysed when confronted with the greatest challenge of all times or actively fighting against it. This is a choice that I must make over and over again. It is a difficult choice and one that I should not have to make. When the few individuals who have much power renounce the enormous responsibility they have, it is easy to become disheartened. Thus, it is uplifting that many individuals take responsibility and do what they can. I am a 16-year-old schoolgirl. In crises like this, I am important. Each voice, each action, each choice and each human being counts. Not in 11 years. We are important now. [ Jeg passer innenfor kategoriene «ung» og «engasjert». Men jeg vil ikke være det. Jeg vil ikke måtte kjempe for en bærekraftig fremtid - min fremtid. […] Nettopp det å være «engasjert» er for mange et ufrivillig valg, for hva er alternativet? […] Jeg har valget mellom å stå handlingslammet i møtet med historiens største utfordring, eller å kjempe aktivt mot den. Det er et valg jeg må ta om og om igjen. Det er et valg som er tungt, og et jeg ikke burde trenge å ta. Når de få enkeltpersonene med mye makt fraskriver seg det enorme ansvaret de har, er det lett å bli motløs. Da er det oppløftende at mange enkeltpersoner faktisk tar ansvar og gjør det de kan. Jeg er en 16 år gammel skolejente. I en krisesituasjon som denne er jeg viktig. Hver stemme, hver handling, hvert valg og hvert menneske teller. Ikke om 11 år. Vi er viktige nå.] (20 Aug 2019) On the one hand, the young are not yet victims of the adult generation’s actions, i.e. they have not yet suffered irreparable loss of their future. The young can prevent this loss by becoming heroes. On the other hand, the young are already victims. They are victims because they are forced to be heroes against their will. The above-cited utterance also illustrates how the young speakers often emphasise the importance of each individual’s efforts in the issue. This emphasis functions to instil a sense of personal responsibility for the community’s welfare while making this responsibility manageable to bear: everybody - and even through the smallest acts - can make a difference. By contrast, arguments that emphasise the limited impact of “little me” or “our small nation”, commonly observed in people’s reasoning about climate change (e.g., Tvinnereim et al. 2017: 37-38; Wolrath & Wormbs 2019: 42), function to relieve the individual of responsibility. The importance of the youth’s efforts is also attributed through analogies to influential social movements of the past. Courageous and determined people, 29 A battle between generations <?page no="30"?> who have contributed to change, are displayed as role-models. In displaying praiseworthy people and events of the past, the rhetors define the situation as a decisive event that will go down in history. Moreover, they define the youth as central actors in this event. For instance, after first having displayed Mahatma Gandhi, Martin Luther King Jr. and the Vietnam and Iraq war protesters as models, one student writes: our successors shall read about the battle for the climate taking place in the 21st century. They shall read about adult politicians who failed the next generations and about the children and adolescents who refused to give up. They shall know that we fought for them. [våre etterkommere [skal] lese i historiebøkene om klimakampen i det 21. århundre. De skal lese om voksne politikere som sviktet de neste generasjonene og barn og unge som nektet å gi seg. De skal vite at vi kjempet for dem.] (Mar. 1, 2019a) What makes the youth’s actions historical is their perseverance and courage. In contrast to the adult generation “cowardliness”, the youth’s courage will produce change. As one puts it: “[W]hat you are about to create will be written in the history books. Because you are determined not to be as cowardly as those before you [det dere er i ferd med å skape, kommer til å stå skrevet i historiebøkene. Fordi dere er fast bestemt på ikke å være like feige som de kom før dere]” (Si; D, 4 March 2019). As such, the community - and its constitutive outside - is also defined, and the audience are shown how to act in this particular situation. To produce change and become part of history, they must continue to display courage and determination, i.e. they must continue to participate in democracy and make their voices heard despite the sacrifices this requires. 4 The rhetorical functions of the generational conflict-narrative We have argued that the story conveyed through the youth’s texts unfolds as follows: we (the young) are facing a problem that requires immediate action to avoid irreparable loss. Someone else (politicians, adults) has caused this problem, but we are the ones who will suffer the consequences. It is unfair - and a considerable burden to bear - but we can change the future if we choose to be courageous. All efforts - small and large - count. We are all important. As discussed earlier, this narrative is not equally prominent in all the debate pieces of our material. Although they all convey an understanding of climate change as a severe threat to the future and a problem that requires swift action, internal friction is also present. Some speakers question school strikes as an effective means or accuse the school strikers of hypocrisy (24 Feb 2019; 26 March 30 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="31"?> 2019; 24 May 2019; 31 May 2019). A few also explicitly oppose the narrative of the climate cause as a battle between the generations, arguing that this will lead to polarisation, rather than much-needed cooperation (18 March 2019; 29 Sept 2019). In such a broad and diverse movement like the FFF movement, and the environmental movement as a whole, such internal tensions are natural (see e.g. Short 1991), and further research is needed to examine the consequences and functions of such internal confrontations. Here, we have examined the rhetorical articulation and function of the narrative of the climate cause as an intergenerational conflict. We find that this narrative is crafted rhetorically by describing a situation marked by urgency and injustice. The young accuse the old of stealing their future and obstructing them from partaking in democracy to prevent this “rob‐ bery”. Whereas the overall complication - climate change - is created and can only be solved by the adult generation and those in power, the speakers mainly address other young people with their invitation to act. Thus, the texts primarily aim to mobilise other youth to participate in democracy and influence the older generations to act to mitigate climate change. To do so, the speakers offer the audience a sense of something being at stake, claim that someone else is to blame for this, and argue that the youth can change the situation. Through the locus of the irreparable, the speakers instil a sense of urgency and gravity to the situation and establish a victim-perpetrator-rela‐ tionship between “us” (the young) and “them” (the old). The young are also constituted as heroes through display and praise of individuals, representing the community, by ascribing value and importance to each individual and defining the events as historical. Thus, the audience is considered a community of young, engaged citizens who do everything in their power to save their future. The community of young, heroic citizens are juxtaposed to a “them”, who, by contrast, are cowardly, ignorant and incapable of acting upon the problem. Thereby, the intergenerational relationship is also constituted as a hero-villain-relationship. The notion of climate victims, heroes and villains has characterised much climate change discourse. These narrative characters manifest themselves, for instance, in descriptions of the wealthy and emission-intensive global North and the poor low-carbon societies of the global South, and in discourses surrounding emission-intensive companies and activists (see e.g. Hoff-Clausen 2018; Nielsen 2013). In recent years, the accusation of the older generation has become a familiar rhetorical strategy among youth, perhaps most striking in the rhetoric of Greta Thunberg. 31 A battle between generations <?page no="32"?> The identification (praise) and dissociation (blame) strategies used in epi‐ deictic to increase communal solidarity and agency can contribute to polarisa‐ tion, in this case, between the generations. As observed by Beale (1978: 243), epideictic rhetoric is “as much an instrument of social upheaval as of social concord”. The rhetorical treatment of the issue through praise and censure can function to shape and reinforce the community’s collective values and, thereby, prepare the grounds for deliberation and political action (Perelman & Olbrecths-Tyteca 1971; Condit 1985). However, the constitution of the actors as respectively victims/ perpetrators and heroes/ villains can also contribute to increased polarisation between the generations. Self-praise and blaming everybody not young can, moreover, direct the public attention away from the content of the youth’s claims and arguments, replacing public deliberation with ‘epideictic struggles’ over the moral high ground (cf. Andersen 2020: 199-238). As such, the story about climate change as a generational conflict can undermine opportunities for intergenerational understanding and cooperation. The young both demand and are dependent upon the support of the adult generation. Still, they accuse and attack the grown-ups, which may cause them to resist action. As discussed earlier, the debate pieces are not primarily addressed to an adult audience. Instead, the youth aim to mobilise other youth to participate. In this context, the praise and blame of epideictic rhetoric can, we argue, function to unite and craft agency. The apportion of blame onto a specific “other”, followed by invitation to act, gives the individual the possibility to step forward as an agent (Hoff-Clausen 2018: 37-38). The narrative of climate change as a generational conflict transforms the climate crisis from an intangible risk situation in which the young are perplexed and powerless into a tangible threat from a specific, named other, whom they have to fight. As such, their blaming of the actions and attitudes of an “other” produce a situation of urgency to which the audience must - and can - respond. Moreover, by appealing to a set of positive values shared by the audience through verbal display of persons and events, the speakers appeal to the virtues of their audience. Often, the speakers appeal directly to the audience’s sense of civic responsibility by asserting that each individual’s actions matter. This, we have argued, functions to instil a sense of civic responsibility to the youth and makes this responsibility manageable to bear. As such, the speakers tell their audience that change is desirable and possible and, thereby, can ascribe agency and self-efficacy to the audience, who is asked to contribute to this very change. The story about the climate cause as a generational conflict, characterised by an unjust distribution of power and responsibility, makes evident that the 32 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="33"?> youth do not merely demand action to mitigate climate change but also - and perhaps first and foremost - demand to be heard. 5 Literature Andersen, Ida V. (2020). Instead of the deliberative debate: How the principle of expression plays out in the news-generated Facebook discussion [Doctoral thesis]. Bergen: University of Bergen. Anthony, Laurence (2005). AntConc: Design and development of a freeware corpus ana‐ lysis toolkit for the technical writing classroom, 2005 IEEE International Professional Communication Conference Proceedings, New York: IEEE Xplore, 729−737. Aristotle (2007). On rhetoric: a theory of civic discourse. Übersetzt von Kennedy, George A. 2. Aufl. New York: Oxford University Press. Beale, Walter H. (1978). 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The climate rebellion must be integrated into the political parties. [Demonstrasjoner i gatene er ikke nok. Klimaopprøret må inn i de politiske partiene.] 14 Feb 2019 We support school skipping! [Vi støtter skulking! ] 23 Feb 2019 Don’t skip school; take responsibility instead. [Ikke skulk, ta heller ansvar.] 24 Feb 2019 Our successors shall read about adults who failed them, and young who fought. [Våre etterkommere skal lese om voksne som sviktet dem, og unge som kjempet.] 1 March 2019a It is a good citizen’s duty to demonstrate. [Det er en god samfunns‐ borgers plikt å demonstrere.] 1 March 2019b When I was thirteen, I thought that vegan was a diagnosis. [Da jeg var tretten, trodde jeg veganer var en diagnose.] 4 March 2019 «Bla, bla, bla», but where is the action? [«Bla, bla, bla», men hvor er handlingen? ] 5 March 2019 We strike for action, not «summits». [Vi streiker for handling, ikke «toppmøter»]. 15 March 2019 The strikers make it out to appear as if the politicians do not care. That is false. [Streikerne fremstiller det som om politikerne ikke bryr seg. Det er feil.] 18 March 2019 No, thousands of adolescents are not skipping school to paint a black picture of Norwegian climate policies. [Nei, tusenvis av ungdommer dropper ikke skolen for å svartmale norsk klimapolitikk.] 21 March 2019 Satiriks, Thomas Teige, Natur og Ungdom, what on Earth were you thinking? [Satiriks, Thomas Teige, Natur og Ungdom, hva i all verden var det dere tenkte på? ] 22 March 2019 The climate strike: children were jubilant that «Erna [Prime mi‐ nister of Norway] should be thrown in the mill». [Klimastreiken: Barn jublet over at «Erna skulle hives i kverna».] 26 March 2019 Adults who harass youth are also afraid of climate change. [Voksne som hetser ungdom, er også redde for klimaendringer.] 27 March 2019 We young do not need lectures about the climate crisis. Give the lectures at all public offices instead. [Vi unge trenger ikke foredrag om klimakrisen. Hold heller foredragene på alle offentlige kontorer.] 28 March 2019 36 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="37"?> Title of debate piece Date published I am striking for the climate again in May. Are you coming this time, Erna? [ Jeg streiker for klimaet igjen i mai. Kommer du denne gangen, Erna? ] 6 April 2019 Adults call us lazy and selfish. Now that we actually participate, we are asked to keep quiet. What do you really want? [Voksne kaller oss late og egoistiske. Nå som vi faktisk deltar, blir vi bedt om å tie stille. Hva vil dere egentlig? ] 23 April 2019 The Christian Democrats have let me, Greta Thunberg, and all other young people down. [KrF har skuffet meg, Greta Thunberg og alle andre unge.] 29 April 2019 Six climate activists: 24 May we strike for the climate again. [Seks klimaaktivister: 24. mai streiker vi for klimaet igjen.] 30 April 2019 We are striking for something that we ourselves do not take seriously. [Vi streiker for noe vi ikke tar på Alvor selv.] 24 May 2019a Responds to Joacim Lund: Empty chairs are not our biggest problem. [Svarer Joacim Lund: Tomme stoler er ikke vårt største problem.] 24 May 2019b You cannot strike and demand it to be without consequences. What kind of nonsense is this? [Du kan ikke streike og kreve at det er konsekvensfritt. Hva er det for noe tull? ] 31 May 2019 Shall we not be allowed to speak up when the politicians do not take our future seriously? [Skal vi ikke få si ifra når politikere ikke tar vår fremtid på alvor? ] 2 June 2019 We are witnessing an unbelievable betrayal from the parent gene‐ ration. [Vi er vitne til et svik uten like fra foreldregenerasjonen.] 20 Aug 2019 Dear politicians: We agree with you! Regards, School striker. [Kjære politikere: Vi er enige med dere! Hilsen skolestreiker.] 21 Aug 2019 To question Thunberg’s health condition is not to show conside‐ ration. It is a domination technique. [Å sette spørsmålstegn ved Thunbergs helsetilstand er ikke å vise omsorg. Det er en herskete‐ knikk.] 12 Sep 2019 What have the climate strikers actually achieved? [Hva har klima‐ streikerne egentlig oppnådd? ] 25 Sep 2019 I am one out of many climate engaged youth. Some of the comments we get should not really be published. [ Jeg er én av mange klima‐ engasjerte ungdommer. Noen av tilbakemeldingene vi får, burde egentlig ikke deles.] 26 Sep 2019a The climate crisis demands determination, but also a good debate. [Klimakrisen krever viljestyrke, men også et ryddig ordskifte.] 26 Sept 2019b 37 A battle between generations <?page no="38"?> Title of debate piece Date published I am incredibly tired of hearing the lie that the climate strikers do not promote any solutions. [ Jeg er utrolig lei av å høre løgnen om at klimastreikerne ikke kommer med løsninger.] 28 Sept 2019 We are not the only generation that has been betrayed. Such rhetoric is only contributing to polarisation. [Vi er ikke den eneste generasjonen som er blitt forrådt. En slik retorikk virker bare polariserende.] 29 Sept 2019 I felt a strong climate anxiety. I could not watch the news and I skipped science classes. [ Jeg hadde kraftig klimaangst. Jeg kunne ikke se på nyheter, og jeg skulket naturfagstimene.] 3 Oct 2019 Is it not a good thing that the trend is no longer restylane, but engagement for the planet? [Er det ikke bra at trenden ikke lenger er restylan, men engasjement for kloden? ] 18 Oct 2019 Authorised absence for political engagement in lower secondary school now! [Politisk fravær i ungdomsskolen nå! ] 21 Oct 2019 Christmas calendar 17 December : «I got a letter from the Prime Minister. Then, I joined the climate strike.” [ Julekalender 17. des‐ ember: «Jeg fikk brev fra statsministeren. Så ble jeg med i klima‐ streiken.»] 2 Dec 2019 To climate deniers: behave like adults! [Til klimafornektere: Oppfør dere som voksne! ] 17 Dec 2019a I have been a climate activist for six years, but have never been as provoked as I am now. [ Jeg har vært klimaaktivist i seks år, men aldri vært så provosert som nå.] 17 Dec 2019b 38 Ida Vikøren Andersen und Kjersti Fløttum <?page no="39"?> Der #Flugscham und normativer Druck in der digitalen Protestkommunikation gegen die globale Erwärmung Olaf Gätje (Kassel) 1 Einleitung Die globale Schülerprotestbewegung bzw. Klimajugend Fridays for Future (FFF) fordert von den politischen Entscheidungsträgern weltweit die unverzüg‐ liche Umsetzung aller geeigneten Maßnahmen zur effektiven Bekämpfung der menschengemachten Klimakrise. Von Greta Thunberg 2018 in Stockholm als Schulstreik für das Klima initiiert, hat die ökologische Protestbewegung auch und gerade in Deutschland in Teilen der jugendlichen Schülerschaft eine große, aktive und organisierte Anhängerschaft gefunden. Mit jeweils an Freitagen durchgeführten Schulstreiks und den Klima-Demos hat die Klimajugend ihren Anliegen im Jahr 2019 und Anfang 2020 - von der Corona-Pandemie jäh gestoppt - Gehör in der Gesellschaft verschafft. Profilierte Protagonist: innen vertreten zudem die Positionen und Forderungen der Bewegung in Talkshows, Interviews, in wissenschaftlichen Expertenrunden und auf politischen Podien. In Verbindung mit ihren Aktivitäten in den digitalen sozialen Netzwerken gelingt es der Klimajugend und den mit ihr sympathisierenden Milieus, die Dringlichkeit und Priorität des Protestthemas Klimakrise im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu halten. Medienwissenschaftliche Forschungen zu den Potentialen von sozialen Netz‐ werken für Jugendprotestbewegungen zeigen, dass gerade ein sog. weak-tie network wie Twitter als Medium zur Verbreitung politischer, protestbezogener Informationen geeignet ist (vgl. Valenzuela/ Arriagada/ Scherman 2014: 2059). Mit Twitter kann aber nicht nur die Steigerung der Reichweite protestrelevanter Informationen geleistet werden. Das Verschlagworten von Tweets mit sog. Hashtags dient den einzelnen Aktivist: innen zudem dazu, ihre Einzelstimme mit einem Chor von Stimmen verschmelzen zu lassen, um „gemeinsam diskur‐ siven Wandel herbeizuführen“ (Fielitz/ Staemmler 2020: 431). Dass der Hashtag <?page no="40"?> einer Protestbewegung natürlich auch von Akteur: innen verwendet wird, um Tweets mit Argumenten und Meinungen gegen die Protestbewegung und deren gesellschaftspolitische Ziele thematisch zu indizieren, sei an dieser Stelle der Vollständigkeit halber erwähnt. Ausgehend von dem Voranstehenden wird in dem vorliegenden Artikel der von der Protestbewegung auf Twitter verwendete Hashtag #Flugscham mit Blick auf die folgenden zwei Fragen thematisiert: 1. Welche kommunikativen Ziele werden mit dem Setzen dieses Hashtags im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zur Klimakrise von FFF verfolgt? 2. Das Vorhandensein welcher gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbe‐ dingungen setzt FFF und setzen die mit dieser Diskursposition Sympathi‐ sierenden bei dem kommunikativ-strategischen Einsatz von Scham und Beschämung voraus? Die Beantwortung der Fragen erfolgt in mehreren Schritten: Zunächst wird die Protestkommunikation von FFF mit Hilfe der soziologischen Systemtheorie mit dem Ziel analysiert, das Erkenntnisinteresse an einem Konzept wie ‚Flugscham‘ zu begründen. Im nächsten Schritt wird ein theoretischer Rahmen entwickelt, mit dem der Zusammenhang von Scham, ethischen Normen und gesellschaftli‐ chem Wandel konzeptualisiert wird. Im Anschluss daran werden die diskursive Prominenz des Konzepts ‚Flugscham‘ rekonstruiert sowie die kommunikative Funktion des als Hashtag verwendeten Lexems #Flugscham auf Twitter mit Hilfe sprachwissenschaftlicher Analysekategorien explorativ skizziert. Dazu werden beispielhaft einige Tweets ohne jeden Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit zur Veranschaulichung herangezogen, in denen der hier thema‐ tisierte Hashtag als politisches Schlagwort von Klimaaktivist: innen Ende 2018 verwendet wird. Abschließend werden auf Grundlage der vorangegangenen Ausführungen die beiden Forschungsfragen beantwortet. 2 Die Jugendprotestbewegung Fridays for Future und ihre politischen und gesellschaftlichen Ziele Die Forderungen von FFF stoßen in Deutschland durchaus auf eine breite und positive Resonanz. Der Diskurs zu den katastrophalen Folgen der Erder‐ wärmung für die heutige Gesellschaft und die Gesellschaften der Zukunft wird in Wissenschaft, Politik und in den Massenmedien mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und wechselnder Intensität seit Mitte der 1980er Jahre ge‐ führt. So haben Diskursereignisse wie Al Gores Dokumentarfilm zur globalen Klimakatastrophe Eine unbequeme Wahrheit aus dem Jahr 2006 dem Diskurs 40 Olaf Gätje <?page no="41"?> zur Klimakrise eine neue Dynamik und Dringlichkeit verliehen, und erst kürzlich - im Sommer 2021 - sind die Extremwetterereignisse in Europa in den Medien von einschlägigen Wissenschaftler: innen und Politiker: innen als Vorboten von künftigen durch die Erderwärmung verursachten Katastrophen gedeutet worden. Die von einer klimabewussten Öffentlichkeit positiv aufge‐ nommene Schülerprotestbewegung FFF steht also in einer Reihe mit anderen einflussreichen Diskursinstanzen, von denen die Entwicklung des Klimas als menschengemachte Klimakatastrophe konzeptualisiert wird, die es durch ent‐ schiedenes politisches Handeln zu verhindern gilt oder deren Konsequenzen, wenn die katastrophale Entwicklung schon nicht mehr abgewendet werden kann, so weit wie möglich abzumildern sind. Anders als Wissenschaft und Politik sind Protestbewegungen nun keine Funktionssysteme i.S. der modernen Systemtheorie, sie sind vielmehr als „ein eigenständiger Typ von sozialen Systemen“ (Luhmann 1996: 185) zu verstehen, dessen gesellschaftlicher Nutzen in der Formulierung von Kritik als eine Form der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung besteht (vgl. ebd.). Diese kritische Beschreibung gesellschaftlicher Zustände von einer Perspektive jenseits der Funktionssysteme Wissenschaft, Politik, Erziehung usw. wird in Form von Großdemonstrationen, durch medienwirksame Protestaktionen und - seit der ubiquitären Nutzung sozialer Netzwerke - auch mit Hilfe kommunikativer Medienpraktiken einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Insbesondere auch durch das Setzen von Hashtags auf sozialen Plattformen wie Twitter machen Protestbewegungen ihre Positionen weithin sichtbar (vgl. Dang-Anh 2019: 147). Dass die Kritik gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen von außer‐ halb der erwähnten Funktionssysteme formuliert wird, heißt allerdings nicht, dass die kritische Zustandsbeschreibung per se im Widerspruch zu den Funk‐ tionssystemen stehen muss. Im Fall der Schülerprotestbewegung FFF etwa bezieht die Analyse der Entwicklung des Weltklimas und deren Folgen für die Weltgesellschaft ihre Autorität aus den wissenschaftlich gesicherten Er‐ kenntnissen der Klimaforschung. Die von der Protestbewegung kommunizierte Beschreibung des Klimawandels, ihre Analysen der Ursachen für diesen Wandel sowie ihre Warnungen vor den dramatischen gesellschaftlichen Folgen der fortgesetzten Erderwärmung auch und gerade für die nachwachsenden Gene‐ rationen beziehen sich auf Erkenntnisse aus dem Wissenschaftssystem, die „das Wahrheitsetikett tragen und damit zur Weiterverwendung legitimiert sind“ (Luhmann 1992: 188). Allerdings nutzt die Bewegung die für Protestkommuni‐ kation typischen aufmerksamkeitserzeugenden Praktiken und Strategien zur Verbreitung, Adressierung und Relevanzsetzung dieser Erkenntnisse außerhalb 41 Normativer Druck in Protestkommunikation <?page no="42"?> des Wissenschaftssystems und leitet aus der wissenschaftlichen Fundiertheit ihrer Kritik zudem die Legitimität und Dringlichkeit ihrer politischen Forde‐ rungen ab. Im Übrigen sind diese Forderungen der Gesellschaft und insbeson‐ dere auch dem politischen Teilsystem keineswegs neu oder fremd. Vielmehr verweisen die Forderungen von FFF auf die Beschlüsse der internationalen Pariser Klimakonferenz von 2015, denen zufolge der globale Temperaturanstieg auf 1,5° C im Verhältnis zum vorindustriellen Zeitalter begrenzt werden soll. Nach dem Gesagten kann festgehalten werden: Die von der protestbewegten Klimajugend öffentlichkeitswirksam kommunizierte kritische Beschreibung der globalen Klimaentwicklung zielt darauf ab, das innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme Politik und Wissenschaft bereits prozessierte Thema der menschengemachten Erderwärmung für die Gesellschaften weltweit und ihre Regierungen ultimativ entscheidungswirksam und handlungsrelevant werden zu lassen. Die wissenschaftlich fundierte Beschreibung des komplexen Zusam‐ menhangs von Klimaentwicklung und Gesellschaft stellt dabei die argumenta‐ tive Basis der Protestkommunikation dar, aus der die politischen Forderungen nach sofortiger Umsetzung geeigneter Maßnahmen zur Begrenzung des glo‐ balen Temperaturanstiegs abgeleitet werden. Allerdings ist die systemtheoretische Beschreibung der Protestkommunika‐ tion von FFF bis zu dieser Stelle noch nicht ausreichend. Denn die Bewegung adressiert nicht allein die politischen Machthaber: innen und Entscheidungs‐ träger: innen, sondern als eine genuin soziale Bewegung versucht sie möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft für ihre Ziele zu gewinnen, deren ökologisches Denken und Handeln zu ändern, möglicherweise deren Protestpotential zu aktivieren und nicht zuletzt deren Wahlverhalten zu beeinflussen. Bei diesem Versuch ist es hilfreich, dass die Zielformulierungen der Bewegung ihre Rele‐ vanz und Dringlichkeit aus der Plausibilität des zu erwartenden Katastrophen‐ szenarios bei Nichtergreifung geeigneter politischer Maßnahmen gewinnen. Und es ist die Plausibilität des Katastrophenszenarios, die die Botschaft der Protestbewegung zu einer für ökologische Protestbewegungen in der Vergan‐ genheit häufig beobachtbare „Kommunikation von Angst“ (vgl. Luhmann 1996: 62) werden lässt. Diese Angstbezogenheit ökologischer Protestkommunikation findet bei FFF ihren Ausdruck in der klimatångest (dt.: Klimaangst), ein durch Greta Thunberg einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordener Begriff aus dem Schwedischen, der im globalen Diskurs zur Klimakrise Verbreitung gefunden hat. Von Luhmann noch abschätzig mit „Moralisierung und Emotio‐ nalisierung“ (ebd.) ökologischer Themen in Zusammenhang gebracht, ist die mit dem Protestthema von FFF assoziierte Angst in der Authentizität der Bedrohung und den schwerwiegenden sowie irreversiblen Konsequenzen der 42 Olaf Gätje <?page no="43"?> Klimakatastrophe rational begründet und somit nicht als Resultat grundlos alarmistischer, emotionalisierender Protestkommunikation zu verstehen. Die Angst und die Sorgen, die aus der angekündigten oder nach Einschät‐ zung renommierter Klimaforscher: innen bereits in vollem Gange befindlichen katastrophalen Entwicklung des Weltklimas mit ihren verheerenden Folgen für die Menschen resultieren, bleiben für die Mitglieder einer Gesellschaft und ihr Miteinander nicht folgenlos. Vielmehr wird die Lebensführung des Einzelnen verstärkt in den Fokus gerückt und es wird nach der Mitverantwor‐ tung gefragt, die das Individuum und sein Lebensstil an der Entwicklung des Weltklimas tragen. Zeugnis von dieser Entwicklung gibt beispielsweise die in den Massenmedien und in den sozialen Netzwerken kursierende Rede vom sog. CO 2 -Fußabdruck. Mit dieser Metapher wird bekanntermaßen ein Maß für die durch die Lebensführung von Individuen verursachte Emission des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid bezeichnet; dieser Abdruck kann von jedermann mit eigens dafür entwickelten CO 2 -Rechnern im Internet relativ problemlos ermittelt werden. Vor diesem Hintergrund wird die kommunikative Stoßrichtung eines Schlagwortes wie ‚Flugscham‘ angedeutet, da gerade Flug‐ reisen den CO 2 -Fußabdruck der Individuen erheblich vergrößern und mit einem klimafreundlichen Lebensstil zunehmend als unvereinbar gelten - zumindest in den der FFF-Bewegung und ihren Zielen zuneigenden Milieus. 3 Flugscham und die zugrunde liegende deontische Norm Die Propagierung von Flugscham soll im Sinne der Klimajugend die Mitglieder der Gesellschaft dazu bewegen, Flugreisen zu reduzieren oder zu vermeiden. Dabei wird auf das allzu menschliche Streben gesetzt, Handlungen und Ein‐ stellungen zu vermeiden, die von den Mitmenschen auf Grundlage allgemein anerkannter sozialer Normen als beschämend bewertet werden. Denn Scham ist „ein extrem intensives und schmerzhaftes Gefühl, das unter allen Umständen vermieden und verborgen werden soll.“ (Raub 1997: 38) Das Reisen mit dem Flugzeug u.a. durch die Verbreitung des Hashtags #Flug‐ scham als Verstoß gegen gesellschaftliche Normen zu re-konzeptualisieren, so dass der Normbrecher nicht nur sich selbst beschämt, sondern auch durch andere für den Normbruch beschämt werden kann, ist demnach der Versuch von FFF und der mit ihr assoziierten gesellschaftlichen Bewegung, disziplinie‐ rend auf die Lebensführung der Mitglieder der Gesellschaft einzuwirken. Die gesellschaftliche Androhung von Scham ist dabei ein besonders effizientes Lenkungsmittel. Denn Schamgefühle haben u.a. die genuin soziale Funktion, die Mitglieder einer Gesellschaft dazu zu bringen, „sozialen Normen und 43 Normativer Druck in Protestkommunikation <?page no="44"?> Konventionen gerecht zu werden“ (Raub 1997: 40). Und es ist dieser „diszipli‐ nierende Mechanismus“ (vgl. ebd.) eines drohenden Schamerlebnisses, der auch im affirmativen Schlagwortgebrauch des viralen Hashtags #Flugscham seine Wirkung entfalten soll. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, welche soziale Norm von Seiten der Klimaaktivist: innen nun eingesetzt wird. Die dem Mechanismus zu Grunde liegende gesellschaftliche Norm bezieht sich auf das Spannungsverhältnis, das zwischen dem Streben nach persönlichem Glück und selbstbestimmter Lebens‐ führung auf der einen und den Erfordernissen, Bedürfnissen und Prioritäten der Gemeinschaft auf der anderen Seite besteht. Dieses Spannungsverhältnis gilt für die auf Twitter aktiven Klimaaktivist: innen und Befürworter der Verbreitung von Flugscham mit Bezug auf die im Folgenden explizierte deontische Norm, so die Annahme, als gelöst: Das individuelle Streben nach Glück und Freiheit muss im Einklang mit dem gesellschaftlichen Gemeinwohl stehen. Der Grundgedanke dieser Norm lässt sich in der Geschichte der Ethik bis in die griechische Antike nachverfolgen. Nach Aristoteles müsse das vollendet Gute sich selbst genügen, wobei von einem Genügen nur dann zu sprechen ist, wenn das Gute „nicht bloß für den Einzelnen […], sondern auch für seine Eltern, Kinder, Frau, Freunde und Mitbürger überhaupt“ gelte, „da der Mensch von Natur für die staatliche Gemeinschaft bestimmt ist“ (Aristoteles: 10). Wer die Geltung dieser übergeordneten ethischen Norm durch seine/ ihre Entscheidungen in Frage stellt, z.B. weil er/ sie eine zwar bequeme und schnelle, aber klimaschädliche und damit unsoziale Flugreise macht, die womöglich auch mit der Bahn oder anderen Verkehrsmitteln hätte getätigt werden können, begibt sich somit in die Gefahr, aufgrund der internalisierten Norm aus sich selbst heraus Schamgefühle zu entwickeln oder durch Dritte für diese Flugreise beschämt zu werden. Idealerweise und ganz im Sinne der normgebenden Instanzen wird das individuelle Streben nach Vermeidung von Schamgefühlen denjenigen/ diejenige aber die Flugreise gar nicht erst antreten lassen, so dass das Klima und damit der Lebensraum der Gesellschaft geschont werden. Die Verwendung des Hashtags #Flugscham als Schlagwort durch digitale Klimaak‐ tivisten ist demnach nur dann adäquat erklärt, wenn die deontische Norm explizit gemacht werden kann, die den oben beschriebenen disziplinierenden Scham-Mechanismus funktionieren lässt. Im Fortgang wird aufgezeigt, wie der Hashtag #Flugscham zu Beginn seiner Karriere als virales Twitterphänomen fast ausschließlich in seiner affirmativen Schlagwortbedeutung verwendet wird. Erst im weiteren Diskursverlauf wird der mit dem Hashtag implizit ausgedrückte Appell, weniger oder gar nicht mehr 44 Olaf Gätje <?page no="45"?> zu fliegen, von Twitternutzern mit anderen Werten, Normen und Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens zurückgewiesen. Das heißt nicht notwen‐ digerweise, dass die Vertreter dieser Diskursposition die Geltung der erwähnten deontischen Norm in Frage stellen. Aber möglicherweise werden von dieser Diskursposition andere Normen und Werte des gesellschaftlichen Zusammenle‐ bens stärker gewichtet oder die Entscheidung für oder gegen das Reisen mit dem Flugzeug wird von der Geltung der dem Flugscham-Mechanismus zu Grunde liegenden Norm abgekoppelt. 4 Flugscham — Zur Karriere eines Lexems Das Nominalkompositum ‚Flugscham‘ ist die Lehnübersetzung des schwedi‐ schen Neologismus ‚Flygskam‘. Das Lexem ‚Flugscham‘ taucht in deutschen Presse- und Medientexten und in dem sozialen Netzwerk Twitter zum Thema Klimakrise erstmalig im November 2018 vereinzelt auf. Die Verlinkungen der ersten Tweets mit diesem Hashtag geben den Ausgangspunkt der Themenini‐ tiierung zu erkennen: ein am 14. November 2018 erschienener Artikel zur Personenmobilität bzw. zum Verhältnis von Flug- und Schienenverkehr in Schweden im deutschsprachigen Online-Magazin klimareporter.de, der auch das Phänomen der flygskam zum Gegenstand hat (klimareporter 2018). Nach mehreren vielbeachteten Auftritten Greta Thunbergs bei der UN-Klimakonfe‐ renz in Katowice Anfang Dezember 2018, bei denen die Klimaaktivistin die Phänomene Flugscham und Klimaangst der Weltöffentlichkeit bekannt gemacht hat, nimmt die Verwendung des Ausdrucks ‚Flugscham‘ im deutschsprachigen Diskurs zur Klimakatastrophe und zur Klimaprotestbewegung signifikant zu. Korpusanalysen im Archiv der geschriebenen Sprache des Deutschen Referenz‐ korpus (DeReKo) weisen auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Greta Thunbergs Auftritten in Katowice Ende 2018 und der Verbreitung des Wortes im deutschsprachigen Klimadiskurs hin. Die Analysen zeigen, dass der Ausdruck ‚Flugscham‘ erstmalig und noch vereinzelt im November 2018 in deutschsprachigen Zeitungstexten verwendet wird, und erst mit bzw. nach der Teilnahme Thunbergs an der UN-Klimakonferenz im Dezember 2018 steigt die Frequenz der Verwendung des Ausdrucks im Korpus stark an. Weitergehende Kookkurrenzanalysen zeigen außerdem, dass das Wort ‚Flugscham‘ statistisch überzufällig häufig mit dem Vornamen ‚Greta‘ bzw. dem Nachnamen ‚Thunberg‘ kookkuriert. Geht man der Frage nach dem Aufkommen des schwedischen Wortes ‚fly‐ angst‘ in den sozialen Netzwerken nach, dann lässt es sich nach Kenntnis des Verfassers erstmalig Anfang 2018 in einem Facebook-Post der schwedischen 45 Normativer Druck in Protestkommunikation <?page no="46"?> Verbraucherorganisation Sveriges Konsumenter nachweisen. Die steile Begriffs‐ karriere in schwedischen Presseerzeugnissen und Netzwerken soll an dieser Stelle nicht weiter rekonstruiert werden. Aber dass es diese gab, darauf weisen die Spekulationen der Berliner Morgenpost in ihrer Ausgabe vom 15. November 2018 hin, wonach das Wort ‚flygskam‘ in Schweden gute Chancen habe, zum Wort des Jahres 2018 gekürt zu werden. Doch nicht nur in Schweden, mit leichter zeitlicher Verzögerung ist der Ausdruck — bzw. sind seine Lehnübersetzungen — zum festen Bestandteil des Schlagwortrepertoires der Jugendprotestbewegung FFF und von Klimaschutzaktivist: innen überhaupt geworden. Als Beleg für diese Begriffskarriere im deutschsprachigen Raum kann das gute Abschneiden des Wortes ‚Flugscham‘ bei den Wahlen zum Wort des Jahres 2019 in Österreich und der Schweiz (nzz 2019) herangezogen werden. So wurde das deutsche Wort ‚Flugscham‘ bei der Wahl des Wortes für das Jahr 2019 in Österreich so häufig bei der Jury eingereicht, dass es in die engere Auswahl kam (derstandard 2020), und in der mehrsprachigen Schweiz hat das Wort für die deutsche und die französische Sprache - für das Französische allerdings als Lehnwort aus dem Schwedischen (also: ‚flygskam‘) - sogar jeweils den dritten Platz bei der Wahl des Wortes für das Jahr 2019 erlangt. Inhaltlich steht der Ausdruck für ein spezifisches Gefühl der Scham und Schuld, das sich bei Menschen einstellt oder nach Ansicht von Klimaakti‐ vist: innen einstellen sollte, die mit dem Flugzeug reisen, gereist sind oder zu reisen planen, weil das gewählte Verkehrsmittel eine unverhältnismäßig große Menge des klimaschädlichen CO 2 emittiert. Das Phänomen der Flugscham steht somit im Zusammenhang mit der Normvorstellung von Teilen der Gesellschaft, nach der die Mitglieder der Gesellschaft zur Führung eines klimabewussten und CO 2 -neutralen Lebens verpflichtet sind. Diese postulierte Norm soll für das Mobilitätsverhalten, aber auch für das Verhalten in anderen Bereichen des alltäglichen Lebens wie Ernährung oder Konsumverhalten gelten. Allein die Androhung des Empfindens von Flugscham ist im Sinne der Klimajugend (FFF) also eine Art disziplinierendes Instrument. Mit diesem soll der/ die Einzelne nicht nur dazu gebracht werden, seine/ ihre Wahl des Verkehrsmittels bei Fernreisen an der von FFF proklamierten gesellschaftlichen Norm auszurichten, sondern die Einhaltung ebendieser Norm auch von anderen einzufordern. 5 Der Hashtag #Flugscham als Schlagwort im Klimadiskurs Mit Hilfe des Setzens von Hashtags kann der Protest-Tweet des Einzelnen Teil einer „Schwarmaktivität“ (Fielitz/ Staemmler 2020: 431) werden. Dabei haben die auf Twitter von Protestbewegungen verwendeten Hashtags in der 46 Olaf Gätje <?page no="47"?> 1 Stand: 18. Dezember 2021 Regel den Charakter und die Funktion politischer Schlagwörter (s.a. Dang-Ahn/ Einspänner-Pflock/ Thimm 2013: 80). Schlagwörter wiederum sind zu verstehen als Lexeme, in denen politische Programme, komplexe Argumente oder Ideen verdichtet werden, die zudem stark meinungsbetont sind und die häufig einen impliziten Appell aufweisen (vgl. Felbick 2003: 25). Der Schlagwortcharakter konkreter Hashtags erlaubt es protestaffinen Twitternutzer: innen somit, eine für Dritte erkennbare „Diskursposition“ (vgl. Jäger 2001b: 49) zu innerhalb einer Gesellschaft kontrovers diskutierten politischen Themen einzunehmen. Außerdem wird diese Position durch das in einem zeitlich begrenzten Zeitraum wiederholte Setzen solcher Hashtag von möglichst vielen gleichgesinnten Akteur: innen verstärkt, so dass überhaupt erst von einer Schwarmaktivität im oben erwähnten Sinne gesprochen werden kann (s.a. Ang-Dahn (2019: 148f.) und Du Bois (2007: 159ff.) zum stancetaking). Doch wird mit der Verwendung von Protest-Hashtags nicht immer nur eine inhaltliche Position zu gesellschaft‐ lich und politisch brisanten Diskursen eingenommen und gestärkt. Besonders häufig verwendete Hashtags, die von den klassischen Medien und in deren Berichterstattung über die Protestbewegung aufgenommen werden, können als „Chiffren der Gegenöffentlichkeit“ (Bernard 2018: 54) fungieren. Das heißt, dass der/ die Twitternutzer: in mit der Verwendung eines Protest-Hashtags wie dem hier thematisierten nicht nur eine Diskursposition einnimmt und verstärkt, die aufgrund ihres Abweichens von einem angenommenen hegemonialen Diskurs dem „Gegendiskurs“ ( Jäger 2001a: 165) zuzuordnen ist, sondern durch seine massenhafte Verwendung im Diskurs wird der Hashtag zu einem selbst- und fremdidentifikatorischen Symbol der Klimaprotestbewegung. Im Folgenden werde ich meine Aufmerksamkeit zunächst auf die Anfangsphase der Verwendungsgeschichte des Hashtags #Flugscham in Tweets richten, in welcher der Hashtag entweder von Aktivisten der Klimajugend oder von klimaengagierten und -interessierten Akteur: innen wie zum Beispiel Journalisten verwendet wird; die Anfangsphase zeichnet sich also dadurch aus, dass der Hashtag noch primär in einer Art digitaler Filterblase zirkuliert. Als Anfangsphase der Verwendungsge‐ schichte wird der Zeitraum zwischen der Erstverwendung des deutschsprachigen Hashtags #Flugscham auf Twitter am 14. November 2018 bis zum 31. Dezember 2018 festgesetzt. In den insgesamt 119 Tweets 1 aus dieser ca. sieben Wochen umfassenden Anfangsphase wird der Hashtag bzw. seine Herkunft und sein Schlagwortcharakter entweder sachlich beschreibend, in erklärender Absicht oder als Gegenstand von Bewertungshandlungen verwendet. Um die Frage zu beantworten, in welcher Weise der Hashtag #Flugscham bzw. das entsprechende semantische Konzept Gegenstand 47 Normativer Druck in Protestkommunikation <?page no="48"?> von Bewertungshandlungen in den multimodalen Tweets geworden ist, wurden aus den 119 Tweets mit dem Hashtag #Flugscham die Tweets ausgewählt, in denen der Hashtag den Kern einer Nominalgruppe bildet, die wiederum in die den Tweet-Text konstituierenden Sätze oder satzwertigen Einheiten integriert ist. Der Entscheidung, für die Analyse nur solche Tweets heranzuziehen, in denen der Hashtag als Kern einer syntaktisch oder textgrammatisch integrierten Nominalgruppe verwendet wird, ist forschungspragmatisch motiviert: Denn die semantischen Relationen zwischen der Nominalgruppe und den anderen Konstituenten eines Satzes sowie die Modi der Sätze, in denen Nominalgruppen mit diesem Kern verwendet werden, sind für die linguistische Analyse der Bewertungshandlungen mit dem Bewertungsge‐ genstand ‚Flugscham‘ instruktiv. In 56 der 119 Tweets ist der Hashtag #Flugscham in den Tweet-Text grammatisch integriert. Bei den anderen 63 wird der Hashtag entweder allein oder als Teil einer Reihung mehrerer Hashtags dem Tweet-Text unverbunden nach- oder vorangestellt. Von den 56 Tweets enthalten wiederum 27 Bewertungshandlungen, von denen wiederum 24 das Phänomen bzw. das Konzept ‚Flugscham‘ explizit oder implizit positiv bewerten, wie anhand von fünf Beispielen aufgezeigt werden soll: Nr. Datum / Twitteraccount Tweet-Text bzw. Tweet-Teiltext 1 28. Dez. 2018 / Franziska Gau #Flugscham wäre angebracht. 2 16. Dez. 2018 / Thomas Rieg Mehr #Flugscham bitte. 3 15. Dez. 2018 / Sandro Covo Mehr #Flugscham wäre dringend nötig. 4 27. Nov. 2018 / Claudine Traber Es wäre schön, wenn #Flugscham nicht nur in Schweden existieren würde, sondern überall, auch in der #Schweiz. […] 5 24. Nov. 2018 / Urs Tanner #Flugscham, was für ein schönes Wort […] Tabelle A Dass die Verbreitung des Phänomens Flugscham in den Tweets grundsätzlich als etwas Begrüßens- und Erstrebenswertes perspektiviert wird, zeigen kursorische Analysen der in Tabelle A zitierten Tweets 1 bis 5. Die Verwendung des Konjunktivs in den Tweets 1, 3 und 4 bzw. in den darin realisierten Sprachhandlungen indiziert das Vorliegen des optativen Satzmodus, mit dem der Sprecher/ die Sprecherin seine/ ihre 48 Olaf Gätje <?page no="49"?> Einstellung des Wunsches in Bezug auf einen in der Zukunft liegenden, für erstre‐ benswert eingeschätzten Zustand (vgl. von Polenz 2008: 220) zum Ausdruck bringt. Tweet 2 ist in der musterhaften Form einer lakonischen Bitte formuliert. Ähnlich wie die Wunschsätze zielt auch der mit der Bitte zum Ausdruck gebrachte Appell auf Änderungen des gesellschaftlichen Mobilitätsverhaltens in der nahen Zukunft ab. In Tweet 5 wird das Wort ‚Flugscham‘ metonymisch für das damit bezeichnete ge‐ sellschaftliche Phänomen bzw. das individuelle Gefühl der Flugscham als schön und also positiv bewertet. Die linguistischen und rhetorischen Kurzanalysen einzelner Tweets stützen die Erkenntnisse der weiter oben angestellten systemtheoretischen Überlegungen, nach denen die Protestbewegung FFF und das klimabewusste und -engagierte Milieu im deutschsprachigen Raum auf die politischen Entscheidungs‐ träger einzuwirken versuchen. Darüber hinaus wird das Phänomen Flugscham in den Tweets affirmiert und im Diskurs forciert, mutmaßlich um mit Hilfe von Scham- und Schuldgefühlen das Mobilitätsverhalten der Mitglieder der Gesellschaft zu beeinflussen. Kritische Tweets zum Konzept ‚Flugscham‘ sind in der Anfangsphase deutlich in der Minderzahl und nehmen erst im weiteren Diskursgeschehen zu. In der Anfangsphase der Verwendung des Hashtags Ende 2018 lassen sich lediglich drei Tweets mit syntaktisch integriertem Hashtag #Flugscham feststellen, in denen das Konzept ‚Flugscham‘ negativ bewertet bzw. ironisiert wird: Nr. Datum / Twitteraccount Tweet-Text bzw. Tweet-Teiltext 1 27. Nov. 2018 / Marco Kiefer Ich habe keinen #Flugscham, dafür #Zugscham LOL [Emoticon: Tränen lachender Smiley] 2 21. Nov. 2018 / Astrid Mayer Also #flyingless gefällt mir als Hashtag definitiv besser als #Flugscham. Auch wenn gar nicht fliegen das Beste ist. 3 20. Nov. 2018 / Juan Bruno Die #Tugendterroristen spielen sich allmählich zu den Nachfolgern der #Herrenmenschen auf #Flug‐ scham sollte #Unwort des Jahres 2018 werden […] Tabelle B Mit zunehmender Verwendungsdauer und -frequenz des Hashtags #Flugscham lässt sich feststellen, dass das Erzeugen von Schamgefühlen auf Twitter auch auf andere Lebensbereiche ausgedehnt wird. So enthalten Tweets mit dem Hashtag #Flugscham aus dem Zeitraum vom 1. bis 30 November 2019 - also ca. ein Jahr nach dessen Auftauchen im deutschsprachigen Twitter-Diskurs - zunehmend analog gebildete Hashtags wie #Fleischscham, #Internetscham, 49 Normativer Druck in Protestkommunikation <?page no="50"?> #Vanscham oder auch #Klickscham. Zunehmend werden diese [x]scham-Hash‐ tags und insbesondere das mustergebende Wort ‚Flugscham‘ bzw. die damit implizit geltend gemacht Verhaltensnorm aber auch Gegenstand von Kritik, wie die folgenden drei zufällig ausgewählten Tweets aus dem erwähnten Zeitraum (November 2019) dokumentieren: Nr. Datum / Twitteraccount Tweet-Text bzw. Tweet-Teiltext 1 22. Nov. 2019 / Peter Borbe #Flugscham sollte als psychische Erkrankung aner‐ kannt werden! 2 12. Nov. 2019 / 2ndHandle Trotzdem bin ich der Meinung, dass #Flugscham eine total idiotische Wortschöpfung ist, […] 3. 10. Nov. 2019 / Martin Fehringer #Flugscham bringt nichts, denn die zunehmende Sonnenaktivität ist die Ursache #Physik […] Tabelle C Als Grund für die Zunahme von Tweets, in denen das mit dem Hashtag #Flug‐ scham bezeichnete Phänomen Gegenstand negativer Bewertungshandlungen ist, ist die Prominenz des Konzepts in den klassischen Medien (TV, Zeitungen, politische Magazine) und das damit zusammenhängende Viralgehen des Hash‐ tags in den sozialen Netzwerken anzusehen. Die damit erreichte größere und vor allen Dingen meinungsdiversere Medienöffentlichkeit, die in Teilen natür‐ lich auch in den sozialen Netzwerken aktiv ist, sorgt dafür, dass zunehmend kontroversere Diskurspositionen zum Thema Flugscham formuliert werden. Damit ist die Dynamik des Diskurses an dieser Stelle lediglich angedeutet; der Fokus des vorliegenden Artikels richtet sich jedoch primär auf die Anfangsphase der Verwendung des Hashtags #Flugscham im deutschsprachigen Diskurs zur Klimakrise mit seiner dominant affirmativen Verwendung. 6 Fazit Im vorliegenden Artikel sollten die beiden folgenden Fragen bearbeitet werden: 1. Welche kommunikativen Ziele werden mit dem Setzen des Hashtags „#Flugscham“ im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zur Klimakrise von FFF verfolgt? 2. Das Vorhandensein welcher gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbe‐ dingungen setzt FFF und setzen die mit dieser Diskursposition Sympathi‐ 50 Olaf Gätje <?page no="51"?> sierenden bei dem kommunikativ-strategischen Einsatz von Scham und Beschämung voraus? Ad 1: Mit der Verwendung des Schlagwortes ‚Flugscham‘ als Hashtag inten‐ dieren die auf Twitter aktive Klimajugend und die Mitglieder des ihr und ihren Anliegen gewogenen Milieus, im Sinne einer klimabewussten und -freund‐ lichen Lebensführung disziplinierend auf Einstellungen, Gewohnheiten und Handlungen der Mitglieder der Gesellschaft einzuwirken. Das als Hashtag viral gegangene Schlagwort ‚Flugscham‘ gilt dem/ der als Androhung von Schamge‐ fühlen, der/ die einem rücksichtsvollen und dem Gemeinsinn verpflichteten Zusammenleben das eigene, private Wohlergeben vorzieht. Die Verwendung des Schlagwortes ‚Flugscham‘ kann demnach als eine Art perlokutionärer Akt interpretiert werden, dessen Effekt in der Herstellung bzw. der Androhung von Schamgefühlen besteht. Die Probleme dieser sprechakttheoretischen Kate‐ gorie für die linguistische Analyse sprachlichen Handelns sind wohlbekannt: Perlokutionäre Akte gelingen - anders als die illokutionären Akte - nicht qua Konvention, sondern sie wirken kausal auf die Gefühle und Gedanken der Adressaten ein. Deshalb wird bei der Beantwortung der zweiten Frage erläutert, welche außersprachlichen Bedingungen vorliegen müssen, damit der hier skizzierte perlokutionäre Akt erfolgreich sein kann. Ad 2: In den nur in geringer Zahl vorliegenden sprachwissenschaftlichen Arbeiten zur Perlokution findet die perlokutionäre Kraft des „Auslösens von Scham“ - das Beschämen - besondere Beachtung. Sie gilt als „schwierige[] perlokutionäre[] Kraft“ (Staffeldt 2006: 222, Fn. 167), über die, so die Hoffnung des Autors, spätere Arbeiten mehr in Erfahrung bringen mögen. M. E. gibt die Analyse des gehashtagten Protest-Schlagwortes ‚Flugscham‘ Hinweise darauf, unter welchen Voraussetzungen das Auslösen von Scham gelingen kann. Abstrahiert man nämlich von der Verwendung des Hashtags bzw. Schlag‐ worts ‚Flugscham‘, dann lässt sich feststellen, dass sich der perlokutionäre Effekt des Auslösens von Scham mittels sprachlicher Handlungen unter Bezugnahme auf eine allgemein geltende deontische Norm innerhalb einer Gesellschaft dann einstellt, wenn der/ die Adressat: in dieser sprachlichen Handlung ebendiese Norm durch bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen verletzt. Entspre‐ chend wird in der deontischen Normenlogik konstatiert: Eine mangelnde Anpassung an rechtliche, moralische oder sonstige Regeln des Verhaltens und guten Benehmens hat für den Handelnden gewöhnlich unerfreuliche Folgen. […] Im Falle moralischer Gebote sind die Folgen Mißbilligung, Ächtung, Achtungs- und Vertrauensverlust, - Dinge, die einem Menschen in der Gesellschaft Unannehmlichkeiten bereiten. (von Wright 1977: 135f.) 51 Normativer Druck in Protestkommunikation <?page no="52"?> Die Aufzählung der unerfreulichen Folgen ließe sich problemlos durch Beschä‐ mung ergänzen. Mit Blick auf die Tweets in Tabelle B und C lässt sich allerdings auch konstatieren, dass bei den Mitgliedern der Gesellschaft keineswegs Einig‐ keit über die Reichweite der Geltung einer deontischen Norm, über deren Anwendungsbereiche oder über die Geltung der Norm als solcher herrscht: So wird die propagierte Assoziierung von Flugreisen mit Schamgefühlen von Teilen der Gesellschaft als Tugendterror von Moralaposteln gewertet, mit der die Selbstbestimmung des Individuums unzulässig eingeschränkt wird. Folglich hängt die Fähigkeit des Schlagwortes zum Auslösen von Scham bei dem Individuum von dem Grad der Anerkennung dieser von gesellschaftlichen Kräften als allgemeingültig dargestellten Norm (= Gebot) durch das Individuum ab und davon, ob es die Entscheidung für oder gegen Flugreisen dem Geltungs‐ bereich dieser Norm subsumiert. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass das Empfinden von Schamgefühlen eine Art individuelle Entscheidung ist. So weist die Sozialwissenschaftlerin Jennifer Jacquet in ihrem Buch zur Scham darauf hin, dass Normen, die in westlichen Kulturen mit Bezug auf den Wert Fairness aufgestellt werden, bessere Aussichten haben, „von der Bevölkerung umgesetzt zu werden“ ( Jacquet 2015: 98). Da der gesellschaftlich allgemein affirmierte Wert der Fairness im Kern auch in der o. g. deontischen Norm repräsentiert ist, kann auf die allgemeine Anerkennung der Norm durch die in dieser Gesellschaft sozialisierten Individuen geschlossen werden. Durch das Viralgehen des Hashtags bei Twitter und in anderen sozialen Netz‐ werken gepaart mit der dominant affirmativen Verwendung des Schlagwortes durch die Klimajugend (FFF) und andere Klimaaktivist: innen sowie durch die Verbreitung des Konzeptes ‚Flugscham‘ in den sog. klassischen Medien gewinnt die Frage, ob das Reisen mit dem Flugzeug eine Verletzung der oben erwähnten deontischen Norm und somit ein Grund für das Empfinden von Scham ist, in‐ nerhalb der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Insbesondere der Umstand, dass das Phänomen der Flugscham von einem für die Klimakrise sensibilisierten großen Teil oder zumindest vokalen Teil der Gesellschaft begrüßt, propagiert und als folgerichtige Reaktion auf eine „Verkehrtheit“ (Aristoteles: 99) ange‐ sehen wird, baut „normativen Druck“ (von Wright 1977: 135) auf, der auch die Mitglieder der Gesellschaft affiziert, die die Entscheidung für Flugreisen nicht mit Schamgefühlen in Verbindung gebracht sehen wollen. Es ist diese diszipli‐ nierende Funktion, die FFF und andere Klimaaktivisten mit der Verbreitung des Konzeptes ‚Flugscham‘ mutmaßlich zu realisieren beabsichtigen, um Flugreisen zu reduzieren und damit letztendlich die Entwicklung der Klimakrise und deren angsteinflößende Folgen für heutige und künftige Gesellschaften abzumildern. 52 Olaf Gätje <?page no="53"?> 2 Vgl. hierzu den Artikel von Dziuk Lameira im selben Band. Dass sich hier eine größere Strategie in der Protestkommunikation von FFF bzw. von Klimaaktivist: innen generell abzeichnet, darauf deuten die oben be‐ reits erwähnten Neuprägungen von morphologisch analog gebildeteten Schlag‐ worten wie ‚Fleischscham‘ oder ‚SUV-Scham‘ sowie deren Verbreitung hin. Das Wort ‚Scham‘ bezeichnet ursprünglich ein zum „Wesen des Menschen“ (Duerr 1988: 335) gehörendes Gefühl der Pein, das sich in bestimmten sozialen Situa‐ tionen unweigerlich und unkontrollierbar durch die „Entblößung des Genital‐ bereiches“ (ebd.), den sog. Schamteilen, einstellt. Wenn damit die prototypische Bedeutung des Lexems ‚Scham‘ skizziert ist, dann ist eine Wortschöpfung wie ‚Flugscham‘ oder ‚Fleischscham‘ als metaphorische Verwendung des Lexems zu analysieren, mit der Klimaaktivist: innen die Unwillkürlichkeit des Empfindens genitaler Scham - diesem Gefühl, dem der Mensch sich in unkontrollierbaren sozialen Situation ausgesetzt findet und dem er sich nicht entziehen kann - auf andere für das Klima relevante Lebensbereiche, Verhaltensweisen und ge‐ sellschaftliche Werthaltungen zu übertragen versuchen. Es ist kein Zufall, dass gerade ein Wort zur Bezeichnung des peinigenden, den Menschen aus eigener Erfahrung bekannten Gefühls der Scham in metaphorisierender Form für die auf Verhaltensänderung abzielende Protestkommunikation von Klimaaktivisten ausgiebig genutzt wird. Denn Metaphern verfügen im Sinne der kognitiven Metapherntheorie über das Potential, die gesellschaftliche Wahrnehmung von Sachverhalten und Gegenständen zu formen 2 ; Metaphern spielen sogar „eine Schlüsselrolle, wenn es um die Konstruktion sozialer und politischer Realitäten geht“ (Lakoff/ Johnson 2008: 183). Die durch Aktivisten der Klimabewegung betriebene metaphorische Verknüpfung der genitalen Scham mit Bereichen des alltäglichen Lebens, die für die katastrophale Klimaentwicklung mit ursächlich sind, wie das Fahren großer Geländewagen mit hohem Spritverbrauch im Stadtverkehr oder der Konsum von Fleisch aus der Massentierhaltung, kann demnach als Versuch verstanden werden, die Entstehung einer auf „normativem Druck“ (vgl. von Wright 1977: 137) basierenden Schamkultur zu befördern. In einer solchen Kultur können womöglich nachhaltige und schnelle Verhal‐ tensveränderungen in der Gesellschaft bewirkt werden; das Leben in dieser Gesellschaft könne aber von vielen, darauf weist der Normenlogiker Georg H. von Wright hin, als Form von Unfreiheit empfunden werden (vgl. ebd.). 53 Normativer Druck in Protestkommunikation <?page no="54"?> Literatur [Aristoteles] Aristoteles (1985): Nikomachische Ethik. 4. durchges. Aufl. Hamburg: Meiner. Bernard, Andreas (2018): Das Diktat des #Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung. Frankfurt am Main: Fischer. Dang-Ahn, Mark/ Einspänner-Pflock, Jessica/ Thimm, Caja (2013): Mediatisierung und Medialität in Social Media: Das Diskurssystem Twitter. In: Marx, Konstanze/ Schwarz-Friesel, Monika (Hrsg.): Sprache und Kommunikation im technischen Zeit‐ alter. Wieviel Internet (v)erträgt unsere Gesellschaft? 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Kurzum: Auseinandersetzungen mit und Warnungen vor dem Klimawandel sind nichts Neues, weder in Gesellschaft und Wissenschaft noch in den Massenme‐ dien oder der Politik; dass aber Kinder und Jugendliche an Freitagen nicht mehr in die Schule, sondern auf die Straßen gehen, schon. Schüler: innen, und mit ihnen Bezeichnungen wie Schüler- und Jugendbewegung, nehmen seit 2019 in klimapolitischen Debatten eine bemerkenswerte Rolle ein. Die von Fridays for Future (FFF) organisierten und durchgeführten (interna‐ tionalen) Aktionsformen, besonders die freitäglichen Schul- und die globalen Klimastreiks, reihen sich zwar ein „in eine lange Geschichte des zivilen Un‐ gehorsams in der Klimagerechtigkeitsbewegung“ (Teune 2020: 141), heben sich aber dennoch von vorangegangenen Bewegungen ab. Als Digital Natives sind die FFF-Aktivist: innen nicht nur unter anderen medialen Bedingungen aufgewachsen, sondern innerhalb der Bewegung korrelieren diese Faktoren, die sie zu einem „Faszinosum“ (Rucht 2019) macht: das niedrige Durchschnittsalter, die Herkunft aus Schichten mit hohem Bildungs‐ niveau, der überproportionale Frauenanteil, die weitgehende Informalität der Orga‐ nisationsstrukturen, die Präsenz in fast allen Regionen, die Internationalität der Bewegung, die relativ enge, Systemfragen weitgehend ausklammernde thematische Begrenzung, der friedliche Charakter der Aktionsformen und große Unterstützung der Bewegung auch durch etablierte Gruppen und Organisationen. (Rucht 2019 o. S.; vgl. auch den Sammelband von Haunss/ Sommer 2020) <?page no="58"?> 1 Obwohl im Beitrag ein alle Geschlechter ansprechender Sprachgebrauch verwendet wird, muss er an Stellen, die sich auf die Pressetexte beziehen, angepasst werden: Dort wird, wenn überhaupt gegendert wird, meist auf die Möglichkeit der Beidnennung zurückgegriffen, seltener, aber im Jahr 2019 deutlich zunehmend, findet sich die Nutzung von Binnen-I oder Asterisk. 2 Dabei handelt es sich um ein gängiges Argument im Diskurs, das sich häufig metakom‐ munikativ niederschlägt und zwar sowohl in Pressetexten als auch in wissenschaftli‐ cher Literatur, z.B. in Aussagen wie diesen: „Zunächst wurde den demonstrierenden Kindern unterstellt, sie wollten vor allem die Schule schwänzen“ (SZ, 14.03.2019); „Einzelne Lehrer: innen, Schulleiter: innen und Vertreter: innen der Schulbehörden ver‐ traten eine restriktive Linie, forderten Sanktionen und behaupteten, die Lust am Schulschwänzen sei das eigentliche Motiv der Schüler: innen“ (Rucht 2019, o. S.). 3 https: / / www1.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora/ . Alle Links wurden zuletzt am 25.04.2022 abgerufen. Da also bereits lange vor Greta Thunberg und der FFF-Bewegung (Einzel-)Per‐ sonen und Bewegungen klimapolitisch agiert haben, soll hier dreierlei analysiert werden: Es wird (1.) nicht nur der Frage nachgegangen, wie in deutschen Pres‐ setexten mittels der Mehrwortgruppe Fridays for Future über die so bezeichneten Personen berichtet wird, sondern auch, ob und welche Unterschiede sich zur Berichterstattung über Personen(gruppen) ergeben, auf die (2.) mit dem Lexem Klimaaktivistin und (3.) mit dem Lexem Klimaschützer  1 referiert wird. Wird Fri‐ days for Future anders beschrieben und damit für die öffentliche Wahrnehmung sprachlich anders ‚konstruiert‘; wird die Bewegung weniger ernst genommen, weil die Protagonist: innen ‚nur schulschwänzende‘ 2 Jugendliche sind? Oder wird gerade die Tatsache honoriert, dass es junge Menschen sind, die sich engagieren? Und: Werden Ausdrücke wie Klimaschützerin oder Klimaaktivist mit dem öffentlichkeitswirksamen Erscheinen von FFF anders oder spezifischer verwendet? Bevor diese Fragen beantwortet werden, sei zunächst das Korpus dargelegt und die Methodik erörtert. 2 Theorie und Methode 2.1 Korpus, Lexeme und Konstruktivismus Obwohl die FFF-Aktivist: innen international agieren und in der Korpuslingu‐ istik (s. 2.2) die Prämisse ‚more data is better data‘ handlungsleitend ist, muss die prinzipiell zur Verfügung stehende große Datenmenge begrenzt werden auf ein Maß, das hier bewältigbar ist. Dabei wird auf „die weltweit größte Sammlung deutschsprachiger Korpora“ mit „ausschließlich urheberrechtlich abgesicherte[m] Material“ 3 , sprich: auf das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo 2020-I) des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) zugegriffen, das unter 58 Sina Lautenschläger <?page no="59"?> 4 Sonderhefte, wie etwa Spiegel Gesund leben, Zeit Campus oder Zeit Wissen, werden ebenso ausgeschlossen wie themenspezifische Magazine (iX, c’t, spektum direkt, VDI Nachrichten). Ein Großteil des Korpus wird durch regionale Zeitungen wie Rhein-Zei‐ tung, Nordkurier, Mannheimer Morgen, Berliner Morgenpost u.v.m. konstituiert; daneben sind aber auch überregionale Zeitungen wie die tageszeitung, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Spiegel etc. vertreten. Zur Quellenübersicht s. https: / / www.ids-mannheim.de/ cosmas2/ projekt/ referenz/ virtuell.html. anderen das über 34.000.000 Texte umfassende ‚Korpus W-öffentlich‘ beinhaltet. Hieraus werden ausschließlich deutschsprachige und aus Deutschland stam‐ mende journalistische Texte aus regionalen und überregionalen Zeitungen 4 zu eigenen Korpora zusammengestellt, auf die mittels der Analysesoftware COSMAS II zugegriffen wird. Neben der nationalen findet zudem eine zeitliche Eingrenzung statt, nämlich auf die Jahre 2007, 2018 und 2019, da hier die jeweiligen Frequenz-Höhepunkte der forschungsrelevanten Lexeme (Fridays for Future, Klimaschützer*in, Klima‐ aktivist*in) vorliegen. Ausgehend von der Mehrwortgruppe Fridays for Future wurde im ‚Korpus W-öffentlich‘ eine statistische Kookkurrenzanalyse (KA) (s. 2.2) durchgeführt, die zeigt, dass es einen besonderen, statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen dieser Gruppenbezeichnung und Determinativkomposita mit Klimaals Determinans gibt, weshalb die dort auffälligen Lexeme Klimaaktivist und Klimaschützer für den semantischen Kontrast gewählt wurden. Aufgrund der Tatsache, dass sich bei FFF eine hohe weibliche Beteiligung feststellen lässt (vgl. z.B. Hurrelmann/ Albrecht 2020), ist es aber sinnvoll und notwendig, auch geschlechtergerechte und movierte Ausdrücke berücksichtigen zu können, weshalb der Platzhalteoperator + zum Einsatz kommt: Klimaaktivist++++++ und Klimaschützer++++++ erfassen dadurch, dass jedes + für 0 oder höchstens 1 Zeichen steht, neben dem generischen Maskulinum auch Singular- und Pluralformen wie Klimaaktivistin oder Klimaschützer*innen. Der Einfachheit halber wird im Folgenden auf das Aufzählen der sechs Pluszeichen verzichtet und kursiv gedruckt von Klimaschützer*in und Klimaaktivist*in gesprochen, wenn auf die angefragten Lexeme Bezug genommen wird. 59 Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? <?page no="60"?> 5 Korpus 1 stellt mit 1.095.182 Texten und 276.021.388 Wörtern das größte Korpus; Korpus 2 besteht aus 830.392 Texten mit 240.465.933 Wörtern. 403 238 844 15 58 1.509 0 0 4.578 K O R P U S 1 ( 2 0 0 7 ) K O R P U S 2 ( 2 0 1 8 ) K O R P U S 3 ( 2 0 1 9 ) Klimaschützer++++++ Klimaaktivist++++++ Fridays for Future Abb. 1: Frequenzen der Lexeme, nach Korpus gegliedert Unschwer lässt sich erkennen, dass Klimaschützer*in und besonders Klimaakti‐ vist*in im Jahr 2019 wesentlich häufiger genutzt werden als in den Vergleichs‐ jahren. Obwohl Korpus 3 mit 818.524 Texten und 234.382.737 Wörtern 5 das kleinste der drei Korpora bildet, ist es das ergiebigste - schon allein daran lässt sich eine zunehmende Relevanz klimapolitischer Zusammenhänge am Beispiel dieser Lexeme erkennen. Auf Basis dieser Korpora und mittels geeigneter Methoden (s.u.) wird die in den Massenmedien vorgenommene sprachliche Konstruktion von FFF, Kli‐ maschützer: innen und -aktivist: innen näher beleuchtet. Ziel ist es dabei, „von den Beobachtungen über typischen Sprachgebrauch in einem gewissen Maß auf die gesellschaftliche Organisation von Welt schließen zu können.“ (Buben‐ hofer 2009: 2-3) Der konstruktivistischen Prämisse folgend, dass Sprache die menschliche Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit prägt und die „Wörter und Sätze nicht die Dinge an sich [bezeichnen], sondern dies immer aus einer bestimmten Perspektive [tun]“ (Gardt 2018: 1), wird davon ausgegangen, dass sich über die Analyse sprachlicher Handlungen kulturindexikalisch etwas über Wirklichkeitswahrnehmung und gesellschaftliches Wissen erkennen lässt. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Journalist: innen bestimmten Nachrich‐ 60 Sina Lautenschläger <?page no="61"?> tenwerten folgen, nämlich besonders dem Informations-, Neuigkeits-, Konflikt- und Prestigewert (Personalisierung) (vgl. Klemm 2019). Daher „selegieren und lancieren [Massenmedien] unaufhörlich (aus ihrer Sicht) gesellschaftlich rele‐ vante Themen und organisieren Aufmerksamkeit für den kommunikativen Austausch darüber“ (Klemm 2019: 528-529), leiten also das Was und Wie der Wirklichkeitswahrnehmung ihrer Rezipient: innen an. Wie die Korpuszusammenstellung zeigt, geht es hier nicht darum, die Konstruktionen spezifischer Zeitungen aufzudecken, sondern relevant ist der Sprachgebrauch, der sich im breiten Spektrum verschiedenster regionaler und überregionaler Zeitungen regelmäßig und musterhaft sedimentiert. Um möglichst repräsentative, d.h. an ‚big data‘ gebundene Sprachgebrauchs‐ muster und deren Bedeutung erheben zu können, wird zum einen quantitativ korpuslinguistisch und zum anderen qualitativ textsemantisch vorgegangen. Beide Methoden kompensieren durch ihre je unterschiedlichen Stärken die Schwächen der anderen (vgl. Lautenschläger 2018: 129-136): Wo die Korpuslin‐ guistik auf der Textoberfläche operiert und statistisch auffällige, punktuelle Muster berechnet, zielt die Textsemantik auf bedeutungskonstituierende Spezi‐ fika, die sich auch flächig ergeben (s.u.). 2.2 Korpuslinguistik Die Korpuslinguistik geht quantitativ-empirisch vor und fokussiert jene Muster, die aus großen, maschinenlesbaren Textmengen hervorgehen (vgl. Bubenhofer 2009: 16-17). Prinzipiell kann dabei corpus-based oder corpus-driven vorge‐ gangen werden: Das Korpus wird entweder dazu genutzt, um bereits bestehende Hypothesen deduktiv durch das Korpus zu bestätigen bzw. zu verwerfen oder es wird selbst zum Analysegegenstand, d.h. Thesen über den Sprachgebrauch werden induktiv aus den Korpusdaten abgeleitet (vgl. Bubenhofer 2009: 100 ff.). Bezogen auf COSMAS II bedeutet letzteres, dass ein Such-Lexem angefragt und eine statistische Kookkurrenzanalyse (KA) durchgeführt wird. Errechnet werden dabei statistisch signifikante Kookkurrenz-Cluster mit syntagmatisch dominantem Muster. Mit Kookkurrenz ist das gemeinsame, überzufällig häufige Vorkommen von zwei oder mehr Wörtern gemeint - es geht also nicht um die bloße Frequenz, sondern darum, dass die Lexeme häufiger miteinander vorkommen als mathematisch auf Basis ihrer jeweiligen Einzelhäufigkeiten im Korpus erwartbar ist. Somit kann auch niedrigfrequentes Ko-Vorkommen als statistisch signifikantes Sprachgebrauchsmuster identifiziert werden. Diese Überzufälligkeit indiziert stets eine Besonderheit der Beziehung der Kookkur‐ renzpartner - was genau sie so besonders macht, muss jedoch qualitativ erforscht werden. 61 Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? <?page no="62"?> 6 Dabei handelt es sich z.B. um thematische Kategorien wie Staat Gesellschaft: Bildung, Politik: Inland, Staat Gesellschaft: Familie Geschlecht. Diese maschinelle Kategorisierung wird als objektive Filterungshilfe verwendet und spielt im Hinblick auf die semantische Analyse keine Rolle, weshalb sie künftig nicht mehr erwähnt wird. Es wird daher zunächst corpus-driven an die Korpora herangetreten, um anschließend die signifikantesten TOP 5-Kookkurrenzen anhand des syntagma‐ tisch dominanten Musters anzufragen und dadurch die (zu) große Textmenge zu reduzieren. Die dann verbleibenden Belege werden durch die ‚Ansicht nach Themen‘ 6 gegliedert und nach dem Prinzip der Mehrheit analysiert, d.h., dass nur diejenigen Themen inkludiert werden, deren Belege insgesamt mehr als 50% der Treffermenge abdecken (für Details s. Lautenschläger 2018: 121-124). 2.3 Framesemantik und Toposanalyse Um die Bedeutungen, die mit diesem musterhaften Sprachgebrauch einher‐ gehen, erfassen zu können, wird auf Basis des TexSem Modells (Gardt 2012) textsemantisch verfahren. Dabei treten hier, der korpuslinguistischen Datenge‐ nerierung geschuldet - wegen urheberrechtlicher Gründe werden die Texte le‐ diglich fragmentarisch erfasst und darstellt -, der kommunikativ-pragmatische Rahmen und die makrostrukturelle Ebene in den Hintergrund, um den Fokus auf die Mikrostruktur, d.h. die punktuell evozierten oder flächig invozierten Frames zu legen. Punktuelle Bedeutungsbildung bzw. Evokation heißt dabei, dass einzelne (zumeist lexikalische) Textausdrücke oder Ausdruckskombinationen in einer Weise Bedeutung evozieren, dass der betreffende Ausdruck als semantisch relevant zumindest für den weiteren Kotext seines Vorkommens bewertet wird, häufig auch für eine größere Textpassage, in besonderen Fällen sogar für den gesamten Text. (Gardt 2013: 45) Bei flächiger Bedeutungsbildung bzw. Invokation hingegen „entsteht der se‐ mantische Effekt durch die Gesamtheit der Bedeutung mehrerer Textelemente, ohne dass ein einzelnes dieser Textelemente bereits die erst über die Gesamt‐ fläche des Textes entstehende Bedeutung anzeigt.“ (ebd. 46) Framesemantisch davon ausgehend, dass Bedeutungen „aus einem Geflecht von Wissenselementen [bestehen], das im Sprachverstehensprozess im Rück‐ griff auf Hintergrundwissen erschlossen“ wird (Busse 2009: 85), wird postuliert, dass in konkreten Kommunikationssituationen ausschließlich das verbalisiert werden muss, was als verstehensnotwendig, aber noch nicht bekannt erachtet wird - alles andere wird als bereits Gewusstes vorausgesetzt. Diese Standard‐ werte, verstanden als implizite und auf typischem Erfahrungswissen basierende Informationseinheiten, sind nur eines von drei Strukturelementen eines Frames; 62 Sina Lautenschläger <?page no="63"?> 7 Frames haben eine rekursive Struktur: Typischerweise werden Frames (bzw. deren Slots) wiederum mit (Sub-)Frames gefüllt (vgl. Busse 2009: 84; Busse 2012: 418 ff.). Der Füllwert des A G E N S -Slots (= Fridays for Future) stellt somit einen (Sub-)Frame dar, der wiederum bestimmte Slots mit sich bringt. 8 Diese führt erst ab 100 Treffern zu aussagekräftigen Ergebnissen. daneben gibt es Anschlussstellen (Slots) und Füllwerte. Während Slots das Prädikationspotenzial, also zum Frame zugehörige Anschlüsse anzeigen, sind Füllwerte die konkret in der Datenbasis verbalisierten Füllungen dieser Slots. Bei einer Äußerung wie Fridays for Future demonstriert am Freitag in Kassel sind entsprechend die Slots A G E N S , T ÄTI G K E IT , Z E IT und O R T gefüllt; nicht expliziert sind hingegen beispielsweise Angaben dazu, wogegen und wie lange demonstriert wird oder welche Spezifika die Demonstrant: innen aufweisen (Wer sind sie? Welche Motive haben sie? etc. 7 ). Diese Slots können zwar explizit gefüllt werden, müssen es aber nicht, denn auf Basis voraussetzbaren Hinter‐ grundwissens gelten die Standardwerte, dass es sich um eine Demonstration primär von Schüler: innen und Student: innen gegen die bisherige Klimapolitik handelt, als präsupponierbares Wissen. Während es bei Frames ganz generell um das Geflecht aus sprachlichem und gesellschaftlichem Wissen geht, fokussiert die Toposanalyse (nach Wengeler 2003) auf dieser Basis gezielt Argumentationsmuster. Dabei steht das dreiteilige, dem alltagspraktischen Argumentieren dienende enthymemische Schlussver‐ fahren im Zentrum. Es besteht aus einer strittigen These, die mittels eines stützenden Arguments zu einer anerkannten Konklusion werden soll, wobei die Schlussregel (= Topos) beides miteinander verbindet. Die Entscheidung, ob sie als gültig akzeptiert wird, fällt dabei „auf der Basis allgemeiner Erfahrungen […] in den Bereich des gesellschaftlichen Lebens.“ (Gardt 2012: 70) D.h., dass die so „gewonnenen Schlüsse nicht zwingend logisch ableitbar [sind], da die in ihm angesetzten Prämissen nicht […] aus sich selbst heraus verständlich sind, sondern erst vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wissens, gesellschaftlicher Überzeugungen Bestand haben.“ (ebd.) Daher muss der Topos nicht zwingend expliziert werden, da er sich als Standardwert wie von selbst versteht und vorausgesetzt werden kann. 3 Analyse Die Analyse basiert auf den in Abb. 2 gelisteten Kookkurrenzen, die aber nicht checklistenartig abgearbeitet, sondern im Hinblick auf die (semantische) Ganzheit aller Belege betrachtet werden. Klimaschützer: in hat dabei eine zu geringe Treffermenge, um in Korpus 1 und 2 einer KA unterzogen zu werden 8 ; 63 Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? <?page no="64"?> 9 Z.B. Platz 4 (Gratzel) und 5 (WALD) in Korpus 2 weisen lediglich Bildunterschriften wie „Ehepaar Beese, Holjewilken Maurice Weiss/ Der Spiegel Klimaschützer Gratzel“ (Spiegel, 18.08.2018) oder Überschriften wie „KLIMASCHÜTZER WALD - Der schwei‐ gende Wald ist ein Resonanzraum der Seele“ (Die Zeit, 06.12.2018) auf. Auffälligkeiten der Belege werden daher in der qualitativen Analyse über die ‚Ansicht nach Themen‘ erfasst. Alle angegebenen Cluster sind bereinigt, d.h. forschungsirrelevante Cluster 9 werden ausgeschlossen und stattdessen relevantere, aber statistisch weniger si‐ gnifikante Kookkurrenzen einbezogen. Deren Ursprungsplatz in der Hierarchie wird hinter der Nummerierung in Klammern angegeben; hinter dem Lexem erfolgt die Angabe der Belegmenge. Korpus 1 (2007) Korpus 2 (2018) Klimaschützer++++++ 1. ungeliebte (15x) 2. Gore (17x) 3. (5) Atomkraftwerke (5x) 4. (6) Bush (9x) 5. (7) Beust (7x) 1. Umwelt (16x) 2. Baumhäuser (4x) 3. fordern (9x) 4. (7) Climate (3x) 5. (8) leidenschaftlicher (3x) Klimaaktivist++++++ Klimaschützer++++++ Fridays for Future Korpus 3 (2019) 1. Thunberg (527x) 2. schwedische (21x) 3. schwedischen (12x) 4. Extinction (49x) 5. Fridays (41x) 1. Extinction (14x) 2. Fridays (17x) 3. Umwelt (17x) 4. Wald (21x) 5. jungen (17x) 1. Klimaschutzbewegung (74x) 2. Thunberg (108x) 3. Greta (29x) 4. Schülerbewegung (60x) 5. Klimabewegung (64x) Abb. 2: Top 5-Kookkurrenzen, nach Korpus gegliedert 3.1 Korpus 1: 2007 Generell fallen die Erkenntnisse relativ spärlich aus, obwohl Korpus 1 das größte der drei Korpora ist. Zu Klimaaktivist*in lässt sich außer der Tatsache, dass es in neutralen Kontexten als enge Apposition fungiert - mehrfach ist von „Klimaaktivist Al Gore“ die Rede -, keine Musterhaftigkeit erkennen. Etwas besser ist die Datenlage zu Klimaschützer*in: Hier erweisen sich die Nachnamen Gore, Bush und Beust als signifikant, wobei nur Al Gore, „der wohl bekann‐ teste Klimaschützer der Welt“ (Zeit Online, 18.10.2007), als glaubwürdiger und ernsthaft klimapolitisch engagierter Mensch beschrieben wird. Die weitgehend positive Bewertung klimaschützenden Engagements generell lässt sich durch die Assertion „Tschechiens Präsident Vaclav Klaus wettert gegen Klimaschützer 64 Sina Lautenschläger <?page no="65"?> 10 Alle Hervorhebungen in den zitierten Presstexten gehen auf mich zurück. 11 Vermummte und Klimaaktivist werden im Text referenzidentisch verwendet, gleiches gilt für Besetzer und Klimaaktivist im Beleg der Süddeutschen Zeitung. wie Al Gore - und steht damit international zunehmend allein“ (ebd.) 10 prä‐ gnant fassen, ist aber auch bei der Infragestellung von Bushs und Beusts klimapolitischer Glaubwürdigkeit zu finden. Bushs Engagement wird z.B. als Schauspiel („Bush spielt plötzlich den Klimaschützer“, Hamburger Morgenpost, 01.06.2007) oder Überraschung („Überraschender Vorstoß des US-Präsidenten - Bush wird Klimaschützer“, Nürnberger Zeitung, 01.06.2007) wahrgenommen, da er sich „jahrelang querstellte und jetzt wenig überzeugend auf den schon lange fahrenden Zug aufspringen will“ (ebd., 05.06.2007). Ähnliches gilt für Hamburgs ehemaligen Bürgermeister Ole von Beust, der „plötzlich ‚den Klimaschutz zur Chefsache‘ machen wolle, obwohl er Umweltpolitik bislang als ‚Appendix‘ bezeichnet habe. Glaubwürdigkeit, so die Opposition einmütig, sehe anders aus.“ (taz, 16.01.2007) Ebenso kritisch wird die Werbeaktion „Deutschlands ungeliebte Klimaschützer“ des Deutschen Atomforums e.V. betrachtet, bei der „[b]esonders die einstigen Sünder“ versuchen, einen „auf Umwelt [zu machen]“ (SZ, 10.08.2007), sprich: Atomkraftwerke positiv als Klimaschützer zu framen und zu vermarkten. All das indiziert, dass Klimaschutz zwar ein wichtiges Thema ist, das aber stellenweise lediglich zu Imagezwecken instrumentalisiert wird. Eine semanti‐ sche Differenzierung der Lexeme Klimaschützer*in und Klimaaktivist*in ist auf Basis der Daten indes nicht erkennbar. 3.2 Korpus 2: 2018 Aussagekräftiger sind die Belege aus Korpus 2. Die Berichte, in denen Klimaak‐ tivist*in verwendet wird, befassen sich primär mit der Rodung des Hambacher Forst, dessen Besetzung durch Aktivist: innen und deren Widerstand gegen Braunkohleförderung. Hier finden sich zwar durchaus Darstellungen, die nicht auf den Gewaltaspekt abheben - es handele sich um „teils friedliche[n], teils destruktive[n] Widerstand“ (Nürnberger Nachrichten, 10.09.2018) und es wird darauf hingewiesen, dass „die Gefahr der Eskalation weit weniger von alteinge‐ sessenen Klimaaktivisten aus[gehe] als von bisher zwei Dutzend zugereisten Autonomen und Chaoten“ (SZ, 12.09.2018) -, aber (z.T. im Konjunktiv I ge‐ haltene) Berichte darüber, dass „von den Klimaaktivisten wiederholt Gewalt ausgegangen sei“ (SZ, 15.09.2018), dass „[i]mmer wieder RWE-Mitarbeiter und Polizisten von Vermummten [= Klimaaktivisten] 11 mit Molotow-Cocktails und mit Steinschleudern angegriffen [wurden]“ (Spiegel-Online, 05.10.2018) und dass „Nordrhein-Westfalens Sicherheitsbehörden warnen, im Dickicht verberge 65 Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? <?page no="66"?> 12 Auch wenn im weiteren Verlauf einiger Texte gegen eine solche Darstellung argu‐ mentiert wird, wird doch die (fälschliche) Assoziation von Klimaaktivist: innen mit Gewalt(bereitschaft) zunächst unter den Rezipient: innen verbreitet (vgl. George Lakoffs berühmtes Beispiel: „Don’t think of an elephant“). sich ein gewaltbereiter Kern von Linksextremisten aus halb Europa, der mit Zwillen und Molotowcocktails Polizisten jagen wolle“ (SZ 12.09.2018), domi‐ nieren deutlich. 12 Das hängt auch mit den zitierten Aussagen von Innenminister Herbert Reul zusammen: Im Hambacher Forst „agiere eine ‚gewaltorientierte linksextremistische Szene‘, würden ‚Straftaten als ziviler Ungehorsam verklärt‘“ weshalb er „[d]iesen Linksextremismus ‚sowohl repressiv als auch präventiv‘ bekämpfen [wolle], tönt der 66-Jährige“ (taz, 21.12.2018). Berichtet wird zudem, dass die örtlich aktiven Polizist: innen „weiße Schutzanzüge anlegen [mussten], da sie von Besetzern [= Klimaaktivisten] mit Beuteln voller Fäkalien beworfen und aus Kübeln mit Urin überschüttet wurden.“ (SZ, 15.09.2018) In der Diskussion um die Änderungen des Polizeischutzgesetzes, nämlich die „Schleierfahndung und den Einsatz von ‚Tasern‘ genannten Elektroschock‐ pistolen ein[zu]führen“, wird darauf verwiesen, dass „[z]uallererst gegen Kli‐ maaktivistInnen vorgegangen werden [soll]“ (taz, 09.07.2018). Werden diese Aussagen in das enthymemische Schema (s. 2.3) übertragen, zeigt sich folgender Kriminalitäts- und mithin Gefahren-Topos (vgl. Wengeler 2003: 306; 311): strittige Aussage / Konklusion: Klimaaktivist: innen sind kriminell bzw. gefährlich und müssen aufgehalten werden Schlussregeln: − Weil Menschen kriminelle Handlungen begehen und dadurch andere Menschen gefährden, müssen Maßnahmen ergriffen werden, die zur Unterlassung der kriminellen Handlungen führen (Kriminalitätstopos) − Weil die Handlungen bestimmter Menschen eine Gefahr für andere Menschen darstellen, sind sie abzulehnen und zu verhindern (Gefahren-Topos) Argumente: Klimaaktivist: innen haben Beamt: innen mit Steinschleudern und Molotowcocktails angegriffen; gegen Klimaaktivist: innen soll mit Tasern vorgegangen werden Abb. 3: Gefahren- und Kriminalitäts-Topos Neben der dominanten Darstellung von Klimaaktivist: innen als (linksextreme und) gewaltbereite Radikale zeigt sich auch eine auf Personalisierung abhebende Berichterstattung, die sich primär auf Greta Thunberg bezieht, ohne dabei aber von Fridays for Future oder generell einer Klimabewegung zu sprechen. Während die Rhein-Zeitung sie als „[15-Jährige] schwedische Klimaaktivistin 66 Sina Lautenschläger <?page no="67"?> und Initiatorin des Schulstreiks fürs Klima“ attribuiert, die „in Kattowitz eine eindringliche Rede an die Politik [hielt]“ (17.12.2018), nimmt Spiegel-Online (30.11.2018) sie als eine „herausragende Persönlichkeit[ ]“ wahr, die „so scharf‐ züngig wie radikal“ sei. Auch bei Klimaschützer*in ist die Berichterstattung über den Hambacher Forst dominant, zeigt aber keine bis wenig kontextuelle Zusammenhänge mit Linksextremismus oder Gewaltbereitschaft, dafür aber einen mit Umwelt bzw. Umweltschützer: „Umwelt- und Klimaschützer […] werden ‚sich in den nächsten Tagen mit Demonstrationen, Sitzblockaden und Waldspaziergängen für den Erhalt des Waldes einsetzen‘, teilten mehrere Initiativen gemeinsam mit.“ (Spiegel-Online 13.09.2018) Semantisch interessant ist dabei, dass mit „Polizei holt erste Aktivisten von Baum“ getitelt wird, nicht aber mit ‚Polizei holt erste Umweltschützer vom Baum‘. Dies könnte damit zusammenhängen, dass der Frame U MW E L T S C HÜTZ E R * IN - definiert als „[organisierte/ r] Anhänger/ in des Umweltschutzes“ (Deutsches Universalwörterbuch 2014) - die Friedfertigkeit als Standardwert enthält (vgl. die Waldspaziergänge als Aktionsform), der beim A K TIVI S T * IN -Frame nicht vorliegt. Kurzgefasst: Eine personalisierte Berichterstattung ist bei beiden Lexemen nur peripher zu finden und weist dort nicht auf eine negative Konnotation hin. Daneben ist jedoch festzustellen, dass mit Klimaktivist*in auf gewaltbereite, mit Klimaschützer*in hingegen auf friedvolle(re) Personen(gruppen) referiert wird. 3.3 Korpus 3: 2019 Fast alle Belege, die den Kookkurrenzen zugrunde liegen, stehen in Zusam‐ menhang mit FFF, Greta Thunberg und etwas weniger häufig mit Extinction Rebellion (XR). Auch wenn sich dabei viele Muster sedimentieren, sind doch die folgenden drei lexemübergreifend besonders dominant: 1) XR ist radikaler als FFF, was auch damit zusammenhängt, dass 2) FFF (primär) eine Kinderbzw. Jugendbewegung ist, die 3) von einer 15-Jährigen initiiert wurde. Auffallend häufig wird also der K IN D E R bzw. J U G E N D LI C H E -Frame sowohl evoals auch in‐ voziert und stellt die Grundlage aller drei Muster dar, wobei sich lexemspezifisch leichte semantische und argumentative Unterschiede ergeben. Bei Fridays for Future sind zwar Kookkurrenzen wie Klimaschutzbewegung und Klimabewegung signifikant, in deren Kotexten bemerkenswert wenig auf das Alter eingegangen und stattdessen über Statements und Forderungen von FFF berichtet wird, aber dennoch ist die Wahrnehmung von FFF als Schülerbewegung mit einer (mittlerweile)16-Jährigen Initiatorin prägend, wobei häufig auch die Lexeme Klima‐ aktivistin und Klimaaktivisten verwendet werden. Die Berichterstattung über FFF geht, das ist ein erster Befund, weitestgehend mit der über Personen(gruppen), 67 Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? <?page no="68"?> 13 Erkennbar ist dieser u.a. durch die gehäufte Verwendung umgangssprachlicher Mittel wie Partikeln (ja, Ne) und Redewendungen (in Gottes Namen, Da hört der Spaß auf). die als Klimaaktivist: innen bezeichnet werden, einher und erklärt den starken Frequenzanstieg dieses Lexems. Unabhängig vom jeweils genutzten Lexem ist die generelle Einschätzung von FFF diese: Die Bewegung gilt zwar als energisch, aber nicht als extremistisch; bei XR hingegen wird von den „radikalen Klimaschützer[n] Extinction Rebellion“ (SZ, 04.10.2019) gesprochen oder davon, dass fraglich ist, ob die „Klimaschützer[ ] von Extinction Rebellion […] extremistisches Potential“ hätten (taz, 24.10.2019). Die Tatsache, dass hier von Klimaschützer*innen, die radikal sind, die Rede ist, weicht aber die in Korpus 2 saliente semantische Differenzierung von Klimaschützer*in vs. Klimaaktivist*in nicht auf. Denn die XR-bezogenen Berichte, in denen Klimaaktivist*in genutzt wird, zeigen eine deutlichere Verknüpfung mit Radikalität und Extremität: XR wird komparativ als „der radikalere Teil der Klimabewegung“ (Hannoversche Allge‐ meine, 04.10.2019) betitelt, der „international durch spektakuläre Protestaktionen“ (Spiegel-Online, 05.10.2019) bekannt wurde, weil die Aktivist: innen „sich mit Fahnen auf die Straße [legen], während sich andere vor dem Eingang des Ministeriums festketteten“ (Berliner Zeitung, 18.04.2019) oder sie sich „in sogenannten Lock-On-Ak‐ tionen […] an Badewannen [ketten].“ (ebd., 10.10.2019) Zitierte Aussagen wie „‚Wir zielen auf Verhaftungen‘, sagten die Klimaaktivisten von Extinction Rebellion vor ihren Protesten“ (Spiegel-Online, 14.09.2019) unterstreichen die Rigorosität des zivilen Ungehorsams. Kurzum: Auf FFF und XR wird zwar sowohl mittels Klimaschützer*in als auch Klimaaktivist*in referiert, aber die Korpusbelege zu letzterem Lexem weisen einen deutlicheren Zusammenhang mit Radikalität auf - allerdings nur im Kontext von XR. Prägnant und mit ironischem Duktus 13 geht der Stern auf genau diese unterschiedliche (Medien-)Wahrnehmung von FFF und XR ein: Kinder mit niedlichen Schildern, in Gottes Namen auch freitagvormittags, das geht ja noch, sagen viele. Aber diese Leute, die ohne einen Funken Selbstironie auf Kreuzungen in Berlin-Mitte stehen, sich an Badewannen ketten und von „Rebellion“ und „Aussterben“ sprechen? Ne. Da hört der Spaß auf. Die machen ja alles kaputt - all die mühsam gewonnenen Sympathien für die Klimaschützer, sämtliche Erfolge, die die „Fridays for Future“-Bewegung erzielt hat. (Stern, 17.10.2019) Kontrastiv wird impliziert, dass die „Kinder mit niedlichen Schildern“ auf breiter Ebene Erfolge erzielt und Sympathien für den Klimaschutz gewonnen haben, gerade weil sie Kinder sind und von ihnen keine wie auch immer geartete Gefahr ausgeht. Die Evo- und Invokation des K IN D E R bzw. J U G E N D LI C H E -Frames 68 Sina Lautenschläger <?page no="69"?> 14 https: / / twitter.com/ paulziemiak/ status/ 1094105955539795968? lang=de. 15 „Weil eine Handlung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einen […] Schaden erbringt, sollte sie […] nicht ausgeführt werden.“ (Wengeler 2003: 316) ist (fast) überall in den Texten zu finden, etwa durch enge Appositionen („die Jugendlichen“, „die jungen Menschen“, „die 15-jährige Mitorganisatorin“, „die Abiturientin“, „die Studentin“), oder durch Altersangaben mit Schul-Bezügen: „Inga (16) war aus Sehnde angereist. Sie wollte auch in den Ferien Flagge zeigen: ‚Klimaschutz ist wichtig, unsere Generation muss die Folgen tragen.‘ Es gehe um die Sache, nicht ums Schule schwänzen, sagte Lotta (16).“ (Hannoversche Allgemeine, 13.04.2019) Dass es gerade junge Menschen sind, die sich bei FFF engagieren, findet im Korpus in Form anerkennenden Lobes durch bekannte (politische) Personen hochfrequenten Niederschlag, was generell zweierlei offenbart: 1. Derartiges politisches Engagement ist kein Standardwert im K IN D E R -/ J U G E N D LI C H E -Frame („Das sind ja gar nicht alles unpolitische Smartphone-Zombies“, Hannoversche Allgemeine, 05.04.2019) und wird deswegen stets lobend expliziert. 2. Das niedrige Alter der FFF-Aktivist: innen ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits haben sie, eben weil sie Kinder/ Jugendliche sind, die sich politisch organisieren, viel massenmediale Aufmerksamkeit erhalten und konnten diese nutzen, um Druck auf Politiker: innen aufzubauen. Andererseits sind es eben bloß Kinder/ Jugendliche, denen qua Alter die nötige (klimapolitische) Kompetenz abgespro‐ chen wird; sie werden daher delegitimiert. Zugleich dient den Aktivist: innen die Opposition Jung - Alt aber auch dazu, um aus dem Verantwortlichkeits-Topos, gestützt durch weitere Topoi, zu schöpfen (s. Abb. 4). Das niedrige Alter spielt im politischen, massenmedial vermittelten Diskurs nicht nur eine Rolle, um die Aktivist: innen willentlich zu diskreditieren, sondern auch dann, wenn sie im Zuge des ‚Welpenschutzes‘ verteidigt werden. Konkret lässt sich dies am „Shitstorm auf Twitter“ (SZ, 11.02.2019) nachvollziehen, den Paul Ziemiak am 10.02.2019 auslöste. Dort hieß es: „Greta Thunberg findet deutschen Kohlekom‐ promiss ‚absurd‘ - Oh, man… kein Wort von Arbeitsplätzen, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit. Nur pure Ideologie ������� Arme Greta! “ 14 Obwohl diese Kritik weder implizit noch explizit auf Thunbergs Alter abzielt, sondern anhand des Topos vom wirtschaftlichen Nutzen 15 überzeugen will, greifen Ziemiak-kritische Reaktionen das Alter auf: „Die Linken-Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler meinte: Wie klein muss eigentlich Ihr Selbstbewusstsein sein, dass Sie sich als CDU-Generalsekretär an einer 16-Jährigen aus Schweden abarbeiten müssen? “ (SZ, 11.02.2019). Auch Grünen-Politiker Cem Özdemir reagiert auf die Frage, ob er solche Angriffe „auf eine 16-Jährige nachvollziehen [kann]“ ähnlich: „Dass manche nicht einmal davor zurück‐ schrecken, ihr politisches Theater auf dem Rücken einer Schülerin auszutragen, spricht 69 Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? <?page no="70"?> 16 https: / / twitter.com/ c_lindner/ status/ 1104683096107114497? lang=de. leider Bände“ (Hannoversche Allgemeine, 11.02. 2019). Lapidar formuliert heißt das: Such dir jemanden auf (politischer) Augenhöhe, keine 16-Jährige. Damit wird implizit der Gleichheits-Topos („Gleiches muss gleich behandelt werden“, Wengeler 2003: 307) ausgehebelt, der letztlich zur De-Autorisierung von Thunbergs klimapolitischer Kompetenz führt. Die hier implizit bleibende Schlussregel wird in Christian Lindners umstrittenen Tweet vom 10.03.2019 expliziert: „Ich finde politisches Engagement von Schülerinnen und Schülern toll. Von Kindern und Jugendlichen kann man aber nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Das ist eine Sache für Profis. CL“ 16 Das starke, positiv bewertete Engagement wird mit altersbedingter Unwissenheit kontrastiert und abqualifiziert. Dass der K IN D E R -Frame aber auch argumentativ genutzt werden kann, um die Überzeugungskraft zu stärken, zeigen Paraphrasen und Zitate von Thunbergs Rede beim UN-Klimagipfel, in denen mehrere Topoi kumulieren: „[W]ie kann es sein, dass ihr, Erwachsene, sehenden Auges weitermacht mit der Zerstörung der Erde? Wie kann es sein, dass ich, das Kind, euch zeigen muss, was Vernunft ist? “ (taz, 28.09.2019); „‚Ihr habt meine Kindheit gestohlen. Ihr habt meine Träume gestohlen. Ich sollte nicht hier oben stehen, ich sollte in der Schule sein, auf der anderen Seite des Atlantiks‘, sagt Greta vor der UN-Generalversammlung […]“ (Die Zeit, 02.12.2019). Strittige Aussagen / Konklusionen: Schlussregeln: a) Vernunft- und Erfahrungstopos: Weil bestimmte Personengruppen mehr Erfahrung (in einem oder mehreren Lebensbereichen) haben, treffen sie fundierte/ vernünftige Entscheidungen und handeln danach. b) Verantwortungs-Topos / Unschuldstopos: Weil eine Gruppe verantwortlich ist für die Entstehung von Problemen, sollte sie sich maßgeblich an der Lösung beteiligen und diese Verantwortung nicht auf unschuldige/ unverantwortliche Personen(gruppen) übertragen. c) Kind-Topos: Weil Kinder unschuldig und unerfahren sind, müssen sie ge- und beschützt werden. Argumente: a) „Wie kann es sein, dass ihr, Erwachsene, sehenden Auges weitermacht mit der Zerstörung der Erde? Wie kann es sein, dass ich, das Kind, euch zeigen muss, was Vernunft ist? “ (Paraphrase der taz) b) + c) „Ihr habt meine Kindheit gestohlen. Ihr habt meine Träume gestohlen. Ich sollte nicht hier oben stehen, ich sollte in der Schule sein […].“ a) Erwachsene sollten qua Alter und Lebenserfahrung vernünftig bzw. vernünftiger handeln als Kinder, tun dies aber nicht. Kinder/ Jugendliche müssen das entgegen ihrer Rolle/ ihrer Unschuld übernehmen. b) + c) Erwachsene sind nicht nur verantwortlich für ihr (falsches) Verhalten, sondern auch für ihre Nachkommen - sie müssen sich dementsprechend verhalten und nicht unschuldige Kinder/ Jugendliche für ihre Versäumnisse und Fehler büßen lassen. Abb. 4: Kumulierte Topoi 70 Sina Lautenschläger <?page no="71"?> Abschließend lässt sich für Korpus 3 festhalten, dass bei der Mehrwortgruppe Fridays for Future eine kontextuelle Loslösung von Greta Thunberg zu finden ist und verallgemeinert über deren Forderungen und Aktionen berichtet wird. Allerdings wird dabei selten auf den Hinweis verzichtet, dass es sich (primär) um junge Menschen handelt und dass die Bewegung von einer 16-jährigen Schülerin initiiert wurde. Die Lexeme Klimaschützer*in und Klimaaktivist*in beziehen sich fast aus‐ schließlich auf FFF oder XR, wobei letztere als radikaler konzipiert werden. Dabei zeigt sich, dass mit Klimaaktivist*in etwas stärker auf deren Extremität abgehoben wird. 4 Fazit Wird über Klimaschützer*in oder -aktivist*in berichtet, findet dies in Korpus 3 fast ausschließlich im Zusammenhang mit FFF oder XR statt. Die Beobachtung, dass es sich bei FFF vornehmlich um friedlich agierende Schüler: innen, also junge Menschen handelt, ist maßgeblich und dient der Abgrenzung zur radikaler wahrgenommenen Gruppe XR. Wird ein diachroner und lexem-getrennter Vergleich herangezogen, dann zeigt sich, dass Personen, die als Klimaschützer*in bezeichnet werden, im Allgemeinen nicht mit Radikalität, sondern Friedfertigkeit assoziiert sind. Die Verwendung des Lexems nimmt 2019 im Vergleich zu 2007 zwar zu, wird aber zugunsten von Klimaaktivist*in oder Fridays for Future in der Verwendung vernachlässigt. Klimaaktivist*in erlebt 2019 eine Renaissance und unterliegt im Korpus einem Bedeutungswandel: Während es 2007 selten und nur in personalisiertem Bezug erscheint, wird es 2018 zur Bezeichnung radikaler, d.h. gewaltbereiter und auch linksextremistischer Personen verwendet, die besonders durch die Besetzung des Hambacher Forsts hervorstechen. Daneben fällt eine auf Greta Thunberg gerichtete Berichterstattung auf, die aber vergleichsweise randständig ist. Im Jahr 2019 wird zwar die Bedeutungskomponente ‚gewaltvoll-radikal‘ im Zusammenhang mit XR aufrechterhalten, aber durch die Berichte über FFF deutlich marginalisiert. Dabei wird durch das Determinatum -aktivist*in au‐ ßerordentliches klimapolitisches Engagement ausgedrückt, das aber nicht von gewaltvollen oder anderweitig radikalen Formen begleitet wird. Im Vergleich zu 2018 wird Klimaaktivist*in quasi, um es kurzzufassen, von Fridays for Future und dem K IN D E R -/ J U G E N D LI C H E -Frame absorbiert und in der Bedeutungsvariante ‚engagiertes, friedvolles, aktives politisches Handeln‘ verwendet. 71 Fridays for Future - Klimaschützer: in - Klimaaktivist: in: Gleich und doch anders? <?page no="72"?> Fridays for Future haben zweifellos starkes, massenmediales Aufsehen erregt, wodurch sich die Füllwerte insbesondere des K LIMAAK TIVI S T * IN -Frames gewan‐ delt haben: Wer 2019 in Pressetexten über Klimaaktivist: innen schreibt, meint nicht, wie es 2018 der Fall war, fäkalienschleudernde Anarcho-Rebell: innen, sondern Personen primär jugendlichen Alters, die beharrlich, friedlich und ver‐ nünftig agieren. Ob dieser jetzt noch musterhaft explizierte Füllwert langfristig als selbstverständlicher Standardwert implementiert wird, bleibt abzuwarten. Literatur Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs und Kulturanalyse. Berlin/ New York: de Gruyter. Busse, Dietrich (2012): Framesemantik. Ein Kompendium. Berlin/ Boston: de Gruyter. Busse, Dietrich (2009): Semantik. Eine Einführung. München: Fink. Brasseur, Guy et al. (2017): Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und Perspektiven. Springer, 1-4. Duden (2014): Deutsches Universalwörterbuch. 7. Aufl. Mannheim: Brockhaus. Gardt, Andreas (2018): Wort und Welt. Konstruktivismus und Realismus in der Sprach‐ theorie. In: Felder, Ekkehard/ Gardt, Andreas (Hrsg.): Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative. Berlin/ Boston: de Gruyter, 1-44. Gardt, Andreas (2013): Textanalyse als Basis der Diskursanalyse. Theorie und Methoden. In: Felder, Ekkehard (Hrsg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin/ Boston: de Gruyter, 29-55. 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Der vorliegende Beitrag untersucht exemplarisch die politische Partizipa‐ tion von FFF unter dem Blickwinkel kommunikativer Teilhabe an medial inszenierten politischen Debatten. Im Zentrum der Analyse stehen zwei Auf‐ einandertreffen von Luisa Neubauer (FFF) und Christian Lindner (FDP) in der ZDF-Talkshow Markus Lanz am 04.04.2019 und dem Video-Podcast der (Bundestags-)Fraktion der Freien Demokraten am 10.07.2019. Die Analyse dieser Debatten erscheint produktiv, weil sie sich auf denselben Twitter-Diskurs zu politischer Partizipation von Schüler*innen beziehen, aber ansonsten auffallend unabhängig voneinander stattfinden. Die Akteur*innen verhandeln also im Rahmen unterschiedlicher kommunikativer Gattungen dieselben Argumente (neu), weshalb sich in der Analyse anbietet, nicht das Was, sondern primär das kommunikative und gattungsbezogene Wer und Wie zu fokussieren. Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Er beginnt mit einer Perspektivierung politischer Partizipation als Möglichkeit des Sprechens und Gehörtwerdens im Klimadiskurs. Dabei wird nicht nur die Relevanz des vorliegenden Analysefokus herausgestellt, sondern auch auf Tweets eingegangen, welche die späteren Debatten in Talkshow und Podcast initiieren. Es schließt sich eine theoretische <?page no="76"?> 1 Die Tweets wurden am 10.03.2019 veröffentlicht und damit zu einer Zeit, in der die FFF-Demonstrationen und -Schulstreiks ein breites Medienecho erfahren haben. Annäherung an das Konzept der kommunikativen Gattung an, aus der Analy‐ sezugänge entwickelt werden. Im letzten Teil werden die Video-Daten entlang der drei Strukturebenen kommunikativer Gattungen analysiert und verglichen: die Ebene der Außenstruktur, die situative Realisierungsebene und die Ebene der Binnenstruktur. 2 Der Klimadiskurs und die Frage politischer Partizipation Die Frage nach einem ökologisch guten, nachhaltigen Handeln wird nicht erst seit den FFF-Protesten öffentlich diskutiert. Dabei hat neben der inhaltlichen Aktualisierung und Anpassung politischer Forderungen, etwa die Fokussierung des Klimawandels, und einem Wechsel zentraler Akteur*innen vor allem die Digitalisierung den Nachhaltigkeits-Diskurs verändert (vgl. Böhm/ Reszke 2021: 336). So lässt sich mit Blick auf FFF-Aktivist*innen anders als noch in den 1980/ 90er Jahren bei den „Sprecher[n] der Ökobewegung“ nicht mehr konsta‐ tieren, dass sie „nicht in ausreichendem Maße Zugang zu den wichtigen Medien“ (Haß 1991: 330) hätten. Doch nur weil sich die mediale Seite des Nachhaltigkeits-Diskurses zuneh‐ mend in das Social Web verlagert und über die Partizipation daran nicht mehr einzelne Medienakteur*innen entscheiden können, hat die diskursrelevante Frage „Wer spricht? “ (Foucault 1981: 75) sowie ihre normative Wendung Wer darf sprechen ? ihre Bedeutung nicht eingebüßt. Sie hat aber eine Veränderung erfahren: Es geht weniger darum, wer spri cht/ sprechen darf, sondern darum, wer im diskursiven „Rauschen“ ( Jungherr 2009) heraussticht/ herausstechen kann bzw. gehört wird/ gehört werden kann. Unter der Annahme, dass po‐ litisches und sprachliches Handeln stets in einem engen Verhältnis stehen (siehe Girnth 2015: 1-3), entscheidet sich an diesen Fragen, wer an politischen Prozessen partizipiert/ partizipieren darf und wer nicht. Wie relevant diese Fragen gegenwärtig sind, lässt sich anhand von zwei aufeinander bezogenen Twitter-Tweets von Christian Lindner (CL) und Luisa Neubauer (LN) verdeutlichen. 1 76 Felix Böhm <?page no="77"?> 2 Der Screenshot stammt vom 31.03.2021; nicht überprüfbar ist, ob die Avatarbilder seit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ausgetauscht wurden. Siehe weitergehend zur Tweet-Analyse: Böhm/ Gätje (2021: 135-139) und Gätje (2022) in diesem Band. Abb. 1: Tweets von Lindner und Neubauer. 2 Dass CL sich mit dem Tweet ohne explizite Adressierung in Abb. 1 nicht auf irgendein politisches Engagement von Schüler*innen bezieht, sondern auf die FFF-Proteste und damit verbundene Schulstreiks, lässt nicht dessen textuelle Oberfläche, sondern das Veröffentlichungsdatum erkennen. CL beur‐ teilt darin zwar grundsätzlich positiv, dass sich Schüler*innen politisch enga‐ gieren, schränkt dies anschließend aber dadurch ein, dass er Schüler*innen als nicht-Profis deklariert. Schüler*innen weist er dabei als jung (Kinder, Jugend‐ liche) und typischerweise nicht-wissend/ nicht-überblickend und damit als nicht ausreichend handlungskompetent aus. Die Profis charakterisiert er durch direkte Gegenüberstellung als nicht-jung und als typischerweise wissend/ überblickend. Entsprechend lässt sich daraus trotz aller Befürwortung die Konklusion ziehen: Weil die Schüler*innen von FFF keine Profis sind, sollen sie ihr politisches Engagement beenden, sobald es um Fragen der Globalisierung, Technik und Ökonomie geht, und sich nicht mehr am Diskurs beteiligen. Wenn, wie Reisigl (2020: 17) herausstellt, das politische Engagement dieser Aktivistengruppe insb. in kommunikativen Handlungen besteht, bedeutet dies folgerichtig für sie, schweigen zu sollen. Statt zu schweigen, retweetet die FFF-Aktivistin LN am selben Tag den viral gehenden Tweet und kommentiert ihn (Abb. 1). Dabei reproduziert sie CLs Terminus „Profis“. Statt Schüler*innen stellt sie Profis allerdings Berufspo‐ 77 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="78"?> litiker*innen gegenüber. Im Gegensatz zu Berufspolitiker*innen seien Profis in Parlamenten oder anderen Entscheidungsgremien nicht vertreten. CL ist somit als nicht-Profi charakterisiert. Daraus folgt vor der Blaupause des voraus‐ gegangenen Tweets: Weil CL kein Profi ist, soll er sein politisches Engagement beenden, ergo: sich nicht mehr am Diskurs beteiligen. Beide Tweets verdeutlichen, dass die Verlagerung des Klimadiskurses in das Social Web und die damit verbundene Möglichkeit zur allgemeinen Betei‐ ligung gerade nicht dazu geführt haben, dass die Frage, wer sprechen darf, an Relevanz verloren hat. So sind es auch genau diese Tweets und eben nicht die Entwicklung von klimaschützenden Technologien oder politischer, ökonomischer, sozialer Konzepte, die zu einem so großen medialen Echo führen, dass diese Tweets in verschiedenen Zeitungen kommentiert und LN und CL die ZDF-Talkshow Markus Lanz eingeladen werden. Die Fortführung dieses Diskurses in zwei medialen Debattier-Formaten, in denen beide Akteur*innen kopräsent aufeinandertreffen, wird im Folgenden aus gattungsanalytischer Perspektive untersucht. Der Fokus liegt auf der Frage, wie in diesen Daten politische Partizipation durch Teilhabe an der Kommunikation möglich wird. 3 Kommunikative Gattungen 3.1 Theoretische Annäherung Wenn die folgende Untersuchung an gattungsanalytischen Überlegungen ori‐ entiert ist, wird dabei auf theoretische Überlegungen zu kommunikativen Gat‐ tungen Bezug genommen, insb. auf deren theoretischen Bestimmungen durch Luckmann sowie deren konzeptionelle Erweiterung und stärkere linguistische Öffnung durch Günthner und Knoblauch. Aus wissenssoziologischer Perspek‐ tive definiert Luckmann (1986: 202) kommunikative Gattungen als „mehr oder minder wirksame und verbindliche ‚Lösungen‘ von spezifischen kommunika‐ tiven ‚Problemen‘“ des gesellschaftlichen Handelns. Sie entstehen, wenn in einer Gesellschaft oder einem gesellschaftlichen Teilbereich wiederkehrende, gleich‐ förmige Kommunikationsanforderungen existieren, auf die kommunikativ Han‐ delnde mit zunehmend gleichförmigen, verfestigten kommunikativen Mustern reagieren. Die wiederkehrende kommunikative Praxis kann sich schließlich in kommunikativen Gattungen regelhaft manifestieren. Dies gilt etwa für den gesellschaftlichen Teilbereich und kommunikative Probleme der öffentlichen politischen Kommunikation, Information und Meinungsbildung. Einmal als ein unbewusster „nahezu universaler Bestandteil gesellschaftli‐ cher Wissensvorräte“ (Luckmann 1986: 203) etabliert, nehmen kommunikative Gattungen in zweifacher Weise Einfluss auf kommunikativ Handelnde. Durch 78 Felix Böhm <?page no="79"?> ihren mehr oder minder großen „Verbindlichkeitscharakter“ üben sie „einerseits ‚Zwang‘ aus und wirken anderseits ‚entlastend‘“ (Luckmann 1986: 204). Vor allem durch die Entlastungsfunktion befreien sie Handelnde vor der „Improvi‐ sation angesichts sich wiederholender Kommunikationsprobleme“ (Luckmann 2006: 13), d.h. der spontanen Wahl des angemessenen kommunikative Codes der jeweiligen Kommunikationssituation. 3.2 Analysebezogene Konsequenzen Anders als Luckmann nehmen Günthner/ Knoblauch (1994) eine Abgrenzung gegenüber Texten vor und machen dadurch dessen Ansatz anschlussfähiger für die Besonderheiten linguistischer Analysen im Bereich der Mündlichkeit: Unter kommunikativen Gattungen verstehen sie „interaktiv erzeugte, dialogische Konstrukte im Interaktionsprozeß“ (Günthner 1995: 208), Texte hingegen als statisch und monologisch. Während Texte entsituiert und -kontextualisiert untersucht werden können, liegt bei der Analyse kommunikativer Gattungen ein zentraler Fokus auf situativen und gesellschaftsbezogenen Faktoren sowie auf dem Interaktionszusammenhang des kommunikativen Vorgangs. Unter‐ scheidet Luckmann analytisch die Außen- und Binnenstruktur kommunikativer Gattungen, erweitern Günthner/ Knoblauch (1994: 704) diesen Ansatz um eine „strukturelle Zwischenebene“: die „situative Realisierungsebene“. Wird im Folgenden für die Analyse von zwei Videos eine gattungsanalytische Perspektive fruchtbar gemacht, bedeutet dies nicht, dass die kommunikativen Gattungen TV-Talkshow und YouTube-Podcast bestimmt werden. Dies wäre aufgrund des geringen Korpusumfangs und fehlender Vergleichsmöglichkeiten augenscheinlich nicht möglich. Stattdessen wird entlang der drei von Günthner/ Knoblauch formulierten Strukturebenen (Ebene der Außenstruktur, situative Realisierungsebene, Ebene der Binnenstruktur) und im Vergleich von CL und LN untersucht, wie und inwieweit in diesen beiden Fällen unterschiedlicher kommunikativer Gattungen politische Partizipation im Sinne sprachlichen Han‐ delns einer prominenten FFF-Aktivistin ermöglicht und beeinflusst wird. Somit stellen die Ergebnisse eine Ergänzung der linguistischen Untersuchungen von Polit-Talks-Shows (siehe z.B. Girnth/ Michel 2015) sowie des Nachhaltigkeits‐ diskurses unter gattungstheoretischer Perspektive (siehe z.B. Auken/ Sunesen 2020) dar. Zum besseren Verständnis ist jedem Teilkapitel der Analyse eine theoretische Annäherung an die jeweilige Strukturebene vorangestellt. 79 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="80"?> 4 Analyse der Videodaten 4.1 Analysekorpus Das Korpus der vorliegenden Analyse besteht aus zwei als YouTube-Video erfasste Aufeinandertreffen von LN und CL im Rahmen medial inszenierter politischer Debatten: ● „Klima-Krach mit Lindner, Hasselhoff und Neubauer - Markus Lanz vom 04.04.2019“, ein Ausschnitt aus der TV-Talkshow Markus Lanz vom 04.04.2019 mit einer Länge von 30: 53 Minuten (kurz: Talkshow); ● „Brauchen wir Angst in der Klimafrage, Luisa Neubauer? “, eine Ausgabe des Videopodcasts der Fraktion der Freien Demokraten im Bundestag vom 10.07.2019 mit einer Länge von 87: 46 Minuten (kurz: Podcast). Beide Daten stammen aus seriell produzierten Formaten und sind nicht deren erste Ausgaben. Es ist also davon auszugehen, dass die produzierendenseitig formatbezogene Handlungs- und Kommunikationsroutinen etabliert sind und das Publikum eine formatspezifische Erwartungshaltung aufgebaut hat (vgl. Krotz 2005: 51f.). Diese Routinen und Muster können den verfestigten Eigen‐ schaften kommunikativer Gattungen TV-Talkshow und Video-Podcast entspre‐ chen, müssen aber nicht notwendigerweise ein definitorisches Merkmal dieser Gattungen darstellen. Da es sich im ersten Fall um die Second-Screen-Verwertung der Debatte handelt und beide Daten im Videoportal YouTube dauerhaft und jederzeit zugänglich sind, haben im Folgenden die rezeptionsbezogenen Unterschiede zwischen einer einmal gesendeten TV-Produktion und einem dauerhaft verfüg- und mehrfach rezipierbaren Internetproduktion keine Relevanz für die weitere Analyse. In beiden Debatten wird Bezug auf den eingangs zitierten Twitter-Diskurs genommen. Dies erfolgt u.a. in der Talkshow per Einblendungen und in beiden Daten, wie sich noch zeigen wird, durch das explizite Wiederaufgreifen des Terminus Profi. Eine Bezugnahme der späteren Podcast-Debatte auf die frü‐ here Talkshow-Debatte erfolgt hingegen nicht. Insofern markieren die Debat‐ tierenden keinen inhaltlich-argumentativen Fortschritt der Debatte, der aber eigentlich erwartbar aus einem mehrmaligen Zusammentreffen resultieren würde. Das Beharren auf Positionen und die mangelnde Verständigung als typische Elemente von Polittalkshows (vgl. Krotz 2015: 62) sind hier also in besonderer Weise erkennbar. 80 Felix Böhm <?page no="81"?> 4.2 Analyse und Vergleich der Außenstruktur Laut Günthner (1995: 204; vgl. Luckmann 1989: 39) bezieht sich die „Außen‐ struktur kommunikativer Gattungen […] auf den Zusammenhang von Gat‐ tungen und sozialen Milieus, ethnischen und kulturellen Gruppierungen, Ge‐ schlechterkonstellationen, Institutionen etc.“ Wird im Folgenden also nach der politischen Partizipation im Sinne der Möglichkeit zur diskursiven Beteiligung an einer medialen Debatte gefragt, so gerät dadurch insb. die institutionelle Si‐ tuierung der Debatte, ihre rechtliche Grundlage und institutionelle Organisation sowie die Konstellation der beteiligten Akteur*innen in den Blick. Die Produktion der Talkshow, deren TV-Ausstrahlung sowie deren auszugs‐ weise Veröffentlichung auf YouTube sind durch das öffentlich-rechtliche ZDF verantwortet. Der Videopodcast ist von der FDP-Fraktion im Bundestag und somit von Angehörigen der Partei produziert. Laut Medienstaatsvertrag sollen die Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks „durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung [wirken]“ (§26 Abs. 1 S. 1 MStV). Diese Zielsetzung überschneidet sich mit dem verfassungsrechtlichen Auftrag der Parteien, „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit[zu‐ wirken]“ (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG). Während aber eine öffentlich-rechtlich produzierte Talkshow weitergehend auch „die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote“ (§26 Abs. 2 S. 1 MStV) berücksichtigen muss, trifft dies auf den Videopodcast als Produktion der FDP nicht zu. Daraus folgt: Sofern gesellschaftspolitisch relevante Themen diskutiert werden, müssen in der Talkshow verschiedene Positionen gleichermaßen zu Wort kommen. Bei dem Podcast liegt dies im Ermessen der Produzierenden. In beiden Daten debattieren CL und LN miteinander. CL repräsentiert als Partei- und Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag den etablierten Berufs‐ politiker. LN ist eine bekannte FFF-Aktivistin. Überdies unterscheiden sie sich mindestens in Fragen des Alters, des Geschlechts, der politischen Erfahrung, der durch demokratische Wahl entschiedenen Legitimation etc. Das Aufeinan‐ dertreffen der beiden erfolgt geplant und ist durch vorausgegangene öffentliche Meinungsäußerungen zu klimapolitischen Fragen geprägt, darunter insb. durch den eingangs dargestellten Twitter-Diskurs. Die mediale Debatte lässt sich, wie allgemein Talkshows mit politischen Themen zugeschrieben, in beiden Fällen als Möglichkeit der Akteur*innen verstehen, „sich und ihre Vorhaben zu präsentieren, ihre Wahrnehmbarkeit sicherzustellen und Öffentlichkeitsmacht zu generieren“ (Dörner/ Vogt 2011: 202). Die wirksame Nutzung der Sendezeit, 81 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="82"?> 3 Diese rechnet Luckmann (1986: 204) noch der Binnenstruktur zu. die in der Talkshow, anders als im Podcast, fest definiert ist, kann damit als gattungsspezifisches Handlungsziel der Akteur*innen verstanden werden. Die Debatte der beiden Akteur*innen wird in der Talkshow von Markus Lanz (ML) moderiert, was bedeutet, dass er die geforderte Unparteilichkeit und Ausgewogenheit gesprächsführend gestalten kann. Außerdem sind mit Bettina Tietjen (BT) und David Hasselhoff (DH), dessen englischsprachige Beiträge synchron übersetzt werden, prominente Gäste aus den Bereichen TV und Film/ Musik sowie ein Publikum anwesend. Daran zeigt sich die flexible Ausrichtung dieses Formats: „Sind die Gespräche […] in der einen Folge noch ganz auf Gla‐ mourpräsentation im Boulevardmodus ausgerichtet, können sie am nächsten Tag schon eine themengebundene, engagierte politische Debatte konstituieren. Selbst innerhalb einer Sendung findet teilweise ein solcher Genrewechsel statt […].“ (Dörner et al. 2015: 48) Die Aufzeichnung erfolgt in einem Studio, das auch einen Videobildschirm aufweist. Darauf sind während der Debatte Einblendungen zu sehen, die z.T. auch bildschirmfüllend visualisiert werden und als „Interaktionsmodalität[en]“ (Klemm 2015: 105) den Debattenverlauf redaktionell beeinflussen. Der Videopodcast wird lediglich mit den zwei Debattierenden produziert. CL übernimmt zusätzlich die Rolle des Moderators, was eine parteiliche Gesprächs‐ führung als naheliegend erscheinen lässt, wenn auch nicht notwendigerweise determiniert. Weitere Gäste, ein Publikum oder Einblendungen finden sich im Datum nicht, sodass eine Fokussierung der debattenleitenden Konflikte der beiden Akteur*innen zu erwarten ist. 4.3 Analyse und Vergleich der situativen Realisierungsebene In der Analyse der situativen Realisierungsebene geraten sprachliche Phäno‐ mene in den Fokus, 3 „die den interaktiven Kontext des dialogischen Austauschs zwischen mehreren Interagierenden und die Sequentialität von Äußerungen betreffen“ (Günthner 1995: 203). Diesem Fokus entsprechend werden im Fol‐ genden die dialogische Debattenorganisation, das situativ erlangte Rederecht sowie die daraus resultierende „situative Relation der Handelnden“ (Günthner/ Knoblauch 1994: 705) betrachtet. ML als Moderator der Talkshow setzt Themen, z.T. in Verbindung mit Ein‐ blendungen, reformuliert und pointiert geäußerte Positionen in vergleichsweise umfangreichen Turns und steuert das Rederecht explizit (Turnzuweisung), indem er Fragen formuliert und an spezifische Personen adressiert. Eine explizite Themenprozessierung übernehmen allerdings auch die Gäste (vgl. 82 Felix Böhm <?page no="83"?> z.B. BT: 10: 12). Im Podcast setzt CL ebenfalls Themen (ohne Einblendungen), reformuliert, pointiert und steuert das Rederecht durch Fragen, die er an LN richtet. Aus der Doppelrolle als Moderator und Teilnehmer entsteht für ihn die Möglichkeit, das Thema zu wechseln, sobald er in der Debatte seine Position vorgebracht hat und LN ihm widersprechen kann: (1) CL find ich sehr SCHAde; und muss man Irgendwann AUCH - (--) AUCH (.) äh korrigIEren. (--) ÄHM (-) so aber jEtzt, (-) EInen schritt wEIter- (Podcast: 69: 13) Dass er sich, wie in (1), durch diese Form der Themenprozessierung einen Vorteil verschafft, bestimmt allerdings nicht die Debatte in ihrer Gesamtheit. Abb. 2 veranschaulicht in der Form von Zeitstrahlen und unter Berücksichtigung visueller Ungenauigkeiten durch den Abstraktionsgrad der Einstellung, wer in den beiden Daten zu welchem Zeitpunkt lautliche Zeichen produziert (Abb. 2: schwarze Einfärbungen). Abb. 2: Redeverteilung in Talkshow und Podcast. Es wird dabei nicht qualitativ zwischen einer einzelnen Gesprächspartikel, einem längeren Turn etc. unterschieden. Wenn in beiden Daten der Debatten‐ verlauf formal durch eine Person moderiert wird, dann lässt Abb. 2 erkennen, 83 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="84"?> dass dadurch kein strikt geordneter Debattenverlauf in Form aufeinander abgestimmter Frage-Antwort-Sequenzen sequentiell separierter Turns erreicht wird. Dies lässt sich in beiden Daten z.B. an zahlreichen Overlaps festmachen. In beiden Daten erfolgt das Rederechtmanagement über die Moderation hinaus und, wie für Face-to-Face-Kommunikation typisch, durch alle Sprecher*innen. Dabei ist das Turn-Taking in der Talkshow nicht allein auf Kooperation ausgelegt, sondern auch auf die Nutzung der Chance zur Selbstpräsentation durch möglichst große sprachliche Aktivität in der beschränkten Sendezeit. So übernehmen die Beteiligten etwa mittels Gesprächspartikeln, Simultansprechen oder Turn-Taking im Zuge von Sprechpausen das Rederecht und sichern es durch explizites Einfordern des Rederechts (2), Ankündigungen (3) oder Exkurse zur Vermeidung von Übergabepunkten. (2) CL [LAS]sen sie mich doch- (.) ML [((räuspert sich))] CL ein [EIN]ziges mal- ML [((räuspert sich))] CL wirklich das arguMENT zu Ende machen. ML ja DÜRfen sie dOch- (Talkshow: 16: 18) (3) CL jetzt fÜhren wir hier gerad eine [MEdien-] (.) LN [((unverständlich))] CL eine MEdiendebatte über (.) äh twItter, ML [hm] CL kann ich auch gerne beiträge LEI: Sten [(-)] zu dieser debAtte- ML [hm] (Talkshow: 15: 14) In der Talkshow ist dies mit hoher Frequenz bei CL festzustellen (2, 3), nur vereinzelt bei LN. Dabei zeigt CL selbst dann seine Zustimmung (4) oder Ablehnung durch Simultansprechen an, wenn er nicht das Rederecht hat und auch, ohne den Turn zu übernehmen. Dadurch erlangt er nicht nur kumuliert den größten Redeanteil, sondern dominiert auch die meisten Phasen der Debatte (Abb. 2: weiße Pfeile) und hat großen Einfluss auf die Themenprozessierung. Auf diese Weise verdeutlicht er in besonderem Umfang seinen eigenen politischen Standpunkt. LNs seltenes Simultansprechen bzw. Unterbrechungen hingegen 84 Felix Böhm <?page no="85"?> 4 Dies ist produktionstechnisch zwar darauf zurückzuführen, dass es sich bei dem Datum um einen Ausschnitt der Sendung handelt. Dieser Umstand wird im Datum aber nicht expliziert. dienen zur Zustimmung (mittels Partikeln), Präzisierung getroffener Aussagen (z.B. 22: 58) oder kritischen Nachfragen (5). (4) LN lEgen sie LOS; (.) aber sie HAM ne grEnze gesEtzt- [und sie ham] n GANZ klAres lImit; (--) CL [so ISses.] (Talkshow: 19: 59) (5) CL [(--) da MAG es,] LN [sagen sIE als] klImaPROfi? (-) (Talkshow: 08: 58) Vergleichbares lässt sich zwar auch im Podcast finden, allerdings in geringer Zahl und Frequenz, was dazu führt, dass sich dort weniger stark ein Ringen um Dominanz und Selbstpräsentation, dafür eher ein wechselseitig-dialogischer Debattenverlauf erkennen lässt. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass den Debattierenden mehr Zeit zur Verfügung steht und CL in seiner Doppelrolle selbst entscheiden kann, wie lange die Debatte zu welchem Thema geführt wird. Kumuliert erreicht LN im Podcast den größeren Redeanteil. Die situative Relation, in der die Sprechenden zueinanderstehen, wird über das Rederechtmanagement hinaus insb. zu Beginn beider Daten deutlich. ML stellt CL nicht vor und nennt auch nicht seinen Namen, bevor er die erste Frage an ihn richtet. 4 Dass es sich um die Person CL handelt, wird deshalb nur durch Aussehen, Stimme sowie durch die Einblendung seines (eingangs zitierten) Tweets mitsamt Accountnamen deutlich. LN hingegen stellt ML im Verlauf der Debatte zunächst namentlich vor, bevor er ihr eine Frage stellt (6). (6) Pub [((Applaus))] ML [luisa NEUbauer is bei uns, (1.4) die ich gerne FRAgen würde- (--)] […] warum hat euch das so auf die pALme ge‐ BRACHT, (Talkshow: 03: 18) 85 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="86"?> Während ML die Frage formuliert, wird erneut der Tweet eingeblendet. Es wird damit einerseits eine Verbindung zu dem Twitter-Diskurs geschaffen, anderseits gerät LN dadurch aus dem Bild. Zudem ist LN zwar Adressatin der Frage, soll aber für ein Kollektiv antworten (6). Sie wird also anders als CL explizit als Repräsentantin einer in dieser Sequenz nicht genannten Gruppe angesprochen. Vergleichbares lässt sich bereits bei der Vorstellung LNs durch CL im Podcast feststellen (7). Dabei weist CL sie nicht nur expliziert als Mitglied bei FFF aus, sondern charakterisiert sie auch dadurch und durch das politische Ziel der Gruppe. Als „Gesicht“ und „Führerin“ erhält sie zudem den Status einer herausstechenden Person, die für andere sprechen kann. (7) CL luIsa (.) nEUbauer is Hier, das ä: h DEUtsche gesicht von fridays for fUture- (.) die revoluTIONSführerin sozusAgen; (Podcast: 00: 13) Mit Blick auf die situativen Realisierungsebene der Talkshow lässt sich somit eine die situative Relation der Akteur*innen betreffende Opposition erkennen, die im Kern durch die Unterscheidung spricht für sich vs. spricht für eine Gruppe geprägt ist. Im Podcast finden sich zwei für die Analyse relevante Sequenzen, für die es in der Talkshow kein Äquivalent gibt. Darauf wird abschließend eingegangen. Erstens thematisiert CL in der Begrüßungssequenz seine Verwunderung, dass es zu diesem Aufeinandertreffen komme (8, 9). (8) CL ICH (.) war übrigens überrAscht dass sie der einla‐ dung gefolgt sind; LN wirkLICH? CL mhm […] LN der ERSte grund Is- (-) ich hAb jetzt schon PAAR mal, (--) ä: hm aktivistinnen und aktivIsten (-) geTROFfen; (--) u: nd (-) DIE (.) wollen nie diskutIEren; (Podcast: 00: 24) (9) CL und der <<lachend>ZWEIte GrUnd>- (--) warum ich (.) nIch (-) ts für möglich gehalten HAbe- 86 Felix Böhm <?page no="87"?> dass SIE (.) dass sie kOmmen is- (--) mhm (--) ähm vielleicht (.) besteht die geFAHR, dass ein (-) willkOmmenes FEINDbild relativiert wird; (--) ich mein WAS (.) was_was MAchen sie ohne mich, (1.1) LN Ach GOTT; (Podcast: 01: 14) Obwohl LN von der Podcast-Redaktion eingeladen worden ist, befindet sie sich - als Sprecherin für alle FFF-Aktivist*innen - im Zugzwang, zu erklären, warum sie - vermeintlich anders als andere Aktivist*innen - zur Debatte bereit ist. Dadurch wendet CL implizit die Aussage seines Tweets dahingehend, dass nicht er es sei, der FFF-Aktivist*innen vom politischen Diskurs abhalten wolle, sondern die FFF-Aktivist*innen selbst sich zwar politisch äußern, sich aber der Debatte verschließen würden. Dies ist gerade deshalb auffällig, weil CL und LN bereits in der Talkshow miteinander debattiert haben und somit CLs Diagnose nicht auf LN zutrifft. Diese erste Debatte wird in dem Podcast allerdings nicht erwähnt. Zweitens thematisiert LN am Ende des Podcasts metakommunikativ den Modus der Debatte: (10) CL DAS zEIgt- (.) es hat zumindestens mir viel FREUde gemAcht- IHnen zuzuhÖren- (--) u: nd (.) äh GANZ vorsichtig (.) ähm zu disku‐ tIEren; […] LN wir KÖNnen auch gernE: - (.) ähm ne runde WILder diskutieren; da MUSS man glaube ich keine- (--) VORsicht walten lassen […] (Podcast: 87: 13) Während CL damit markiert, er habe sich wegen seines Gastes in der Debatte zurückgehalten und sich somit selbst als empathischen Gastgeber und kompe‐ tenten Debattierer ausweist, verweist er LN in die Rolle der Beschützenswerten 87 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="88"?> 5 Inwiefern dies z.B. auf das unterschiedliche Alter der beiden Volljährigen CL (*1979) und LN (*1996), den Grad der persönlichen Vertrautheit oder eine Markierung des Moderators, welche politischen Position er sich zugehörig fühlt, ist nicht zu erkennen. und spricht ihr implizit eine vergleichbare Kompetenz ab. LN gerät somit in Zugzwang, ebenfalls die Debatte auf Metaebene zu kommentieren, sofern sie nicht seine Zuweisung akzeptieren will. Entsprechend äußert sie ihre Bereitschaft, „WILder zu diskutieren“ und weist damit die Notwendigkeit eines besonderen Feingefühls in der gemeinsamen Debatte von sich. Indem CL in diesen Sequenzen LN die nachteilige Position zuschreibt und sie in Zugzwang bringt, werden auf der situativen Realisierungsebene weitere Oppositionen er‐ zeugt, die die situative Relation der Akteur*innen betreffen. Diese Oppositionen bestehen in der Unterscheidung von will debattieren vs. will nicht debattieren und weitergehend von kann im „echten“ politischen Diskurs bestehen vs. muss vor dem „echten“ politischen Diskurs beschützt werden. 4.3 Analyse und Vergleich der Binnenstruktur Die Binnenstruktur besteht nach Günthner (1995: 201) aus jenen „‚textinternen‘, verbalen und nonverbalen Elementen, die für die betreffende Gattung konsti‐ tutiv sind“. Hierzu zählt Luckmann, bereinigt um die Elemente, die Günthner/ Knoblauch der situativen Realisierungsebene zuweisen: „Worte und Phrasen, Gesamtregister, Formeln und formularische Blöcke, rhetorische Figuren und Tropen, Stilmittel wie Metrik, Reimschema, Listen, Oppositionen usw., Laut‐ melodien […]“ (Luckmann 1986: 204). Ausgehend von den Ergebnissen des vorherigen Teilkapitels wird die Binnenstruktur im Folgenden mit Blick auf (durch Pronomen realisierte) Oppositionen weiter untersucht. In der direkten Anrede im Rahmen der Talkshow verwendet ML unterschied‐ liche Pronomina, wie (11) exemplarisch veranschaulicht. Dabei richtet er das distanzsprachliche Sie an CL, das nähesprachliche Euch an LN. (11) ML und sie ham es dann auch nochmAl nochMAL, (.) ä: h äh bei TWITter verÖffentlicht- (---) warum hat euch das so auf die pALme ge‐ BRACHT, (Talkshow: 03: 28) Mit der Wahl des distanzsprachlichen Sie für CL ist eine kulturelle Form der Höflichkeit und des Respekts realisiert, die dem nähesprachlichen an LN gerichteten Du/ Euch nicht zu eigen ist. 5 ML erzeugt hierdurch eine implizite 88 Felix Böhm <?page no="89"?> Hierarchie der Akteur*innen. Ein vergleichbarer Unterschied in der Anrede lässt sich zwischen LN und CL in beiden Daten nicht feststellen: Sie siezen sich gegenseitig. Dennoch konstruieren auch sie insb. durch Pronomen in ihren Redebeiträgen Opposition, und zwar in beiden Daten gleichermaßen (12-15) wie auch schon bei Twitter (Abb. 1): (12) LN wenn WIR sagen, (.) […] bezIEhen wir uns in ALler, (-) äh in aller dirEkteit auf die PROfisdie ja auch in fOrm von zum BEIspielin dreiundzwanzigtausend scientists for fu‐ ture HINter uns stEhen- (Talkshow: 04: 17) (13) LN was WIR machen is jA- (---) politischen WILlens (.) eInzufordern; (.) und (.) jetz nich auf grundlage was WIR uns irgendwie vOrstellen sondern, (--) auf (-) GRUNDlage was uns expErten (-) rAten; (Podcast: 27: 55) (14) CL ICH glaube wir brauchen kEIne; (-) zusätzlichen (.) klImatologischen erKENNT‐ nisse (--) ich glAUbe dass wir AUCH nichtnochmal nEU drauf HINweisen müssendass es den klImawandel GIBT; (Talkshow: 08: 49) (15) CL MEIne perspektIve. (-) ähm aber ich will (.) cOmmon GROUND suchen- (.) ähm (.) äh_weil ICH nämlich auch (.) glaube dAss- (--) dass wir durch technologIE dinge LÖsen können; aber ich HAB […] (Podcast: 40: 12) 89 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="90"?> LN, die bereits durch die Vorstellung und Formulierung von Fragen in beiden Debatten als Sprecherin einer Gruppe konstituiert ist, markiert diese Gruppen‐ zugehörigkeit, indem sie das Ich weitgehend vermeidet und sich stattdessen zum Teil eines Wir macht. CL hingegen tritt in der Regel nicht als Gruppen‐ mitglied - etwa der FDP - auf, sondern markiert seine Positionen durch ein Ich. Über Fragen der Gruppenzugehörigkeit hinaus ist diese Opposition von weiteren Aspekten begleitet, die sich als Legitimierung des Sprechens verstehen lassen. CLs Ich bildet wiederholt mit Verben wie meinen und glauben einen Matrixsatz, der eine politische Meinungsäußerung einleitet. Offenkundig geht es ihm darum, seine persönlichen Gestaltungsvorstellungen als einen Teil des demokratisch Möglichen zu präsentieren. Dies wird dadurch ergänzt, dass CL in beiden Debatten explizit den Expertenstatus in Fragen des Klimawandels von sich weist (16, 17). Dabei rekurriert er terminologisch auf den Twitter-Diskurs. (16) LN […] [oder: ; ] CL [ne ich bIn] eben KEIN klima[profi.] LN [ja Eben] […] (Talkshow: 09: 00) (17) CL wEIl (.) ich bin kein (-) PROfi. (--) ähm sie vielLEICHT, (.) (Podcast: 41: 28) LN hingegen assoziiert das Wir auffallend mit einer anderen Gruppe: die Wissenschaftler*innen bzw. Profis. Die Positionen und Forderungen des Wir ist somit nicht als persönliche politische Meinung markiert, sondern als durch wis‐ senschaftliche Erkenntnisse fundiert, und somit von der Person der Sprecherin unabhängig. Die pronominale Opposition aus Ich vs. Wir induziert somit ergänzt um weitere Aspekte eine weitere Opposition, die sich als meinungsbezogenes Sprechen vs. faktuales Sprechen charakterisieren lässt. Allerdings folgt daraus nicht, dass das Sprechen im Modus des faktualen Sprechens in beiden Debatten ein größeres Gewicht erhält, sei es in Hinblick auf den inhaltlichen Austausch oder auf die Art und den Umfang der Partizipation an beiden Debatten entspre‐ chend der drei Strukturebenen. 5 Fazit Ausgehend von einem Twitter-Diskurs konnte im vorliegenden Beitrag be‐ stimmt werden, dass politische Partizipation als Möglichkeit kommunikativer Teilhabe an öffentlichen (medialen) politischen Debatten verstanden werden 90 Felix Böhm <?page no="91"?> kann. Dies gilt insbesondere für noch nicht etablierte politische Akteur*innen wie jene, die sich unter Fridays for Furture organisiert haben. Die gattungstheoretisch perspektivierte Analyse der sich an den Twitter-Dis‐ kurs anschließenden Debatten erfolgte entlang der drei Strukturebenen kom‐ munikativer Gattungen. Dabei konnten bereits in Hinblick auf die Außen‐ struktur zentrale Unterschiede von Talkshow und Podcast herausgearbeitet werden. So ist aufgrund gesetzlicher Vorgaben in der untersuchten Talkshow eine ausgewogene Partizipation verschiedener Akteur*innen an klimabezo‐ genen Debatten erwartbar. Diese Vorgaben treffen nicht auf den Podcast zu. Die so verfasste Außenstruktur definiert allerdings nur einen Möglichkeitsrahmen für politische Partizipation als kommunikative Teilhabe, nicht deren konkrete Realisierung. Mit Blick auf die situative Realisierungsebene zeigt sich, dass in der Talkshow insb. das spezifische sprachliche Handeln der Debattierenden darüber bestimmt, wer über wie viel Rederecht verfügt und Themen setzen kann. Dabei dominiert CL durch eine Vielzahl von Strategien das Gespräch und nutzt die - anders als im Podcast - nur eingeschränkt zur Verfügung stehende Sendezeit zu einer möglichst umfassenden Selbstpräsentation. LN setzt die herausgearbeiteten Strategien hingegen nicht im selben Maße ein. Die festgesetzte Ausgewogenheit ist also nur in der Wahl der Gäste, nicht aber im Debattenverlauf erkennbar. Im Podcast ist eine solche Gesprächsdominanz nicht zu erkennen. Indem LN sich aber zu Beginn überrascht zeigt, dass LN überhaupt zur Debatte bereit sei, und zum Schluss den Modus der Debatte als „vorsichtig“ beschreibt, bringt er LN in Zugzwang. Sie muss also nicht um das Rederecht streiten, sondern grundsätzlicher erklären, dass sie zu einer politischen Debatte bereit sei und somit politisch partizipieren möchte. Die Analyse der Binnenstruktur legt schließlich ausgehend von der abwei‐ chenden Realisierung von Pronomen die unterschiedlichen Geltungsansprüche der Äußerungen beider Debattierenden offen. CL wirbt um seine persönliche politische Agenda; LN tritt hingegen als Vertreterin von FFF auf, die ihre Posi‐ tionen und Forderungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse formuliert - und dies trifft sowohl auf die Talkshow als auch den Podcast zu. Mit Blick auf die gesamte Analyse wird deutlich, dass die Wissenschaftsorien‐ tierung in den Positionen und Äußerungen von LN allein nicht dazu führt, dass ihr mehr Redezeit eingeräumt wird oder sie einen anderen debattenverlaufsbe‐ zogenen Vorteil erhält. Ganz im Gegenteil, die kommunikativen Gattungen eröffnen davon unabhängige Handlungsspielräume, in denen (der Umfang) politische(r) Partizipation als kommunikative Teilhabe trotz vorausgegangener 91 Klimastreit zwischen Fridays for Future und FDP <?page no="92"?> Einladung und unabhängig von der Wissenschaftsfundierung der Argumente situativ errungen oder sogar gerechtfertigt werden muss. Literatur Auken, Sune/ Sunesen, Christel (Hrsg.) (2020). Genre in the Climate Debate. Berlin/ Boston: de Gruyter. Böhm, Felix/ Gätje, Olaf (2021). #Merkelmussweg“ - Tweets im Wandel der Zeit. Eine schlagwort- und sprechhandlungstheoretische Analyse. In: Sehmer, Julian/ Simon, Stephanie/ Ten Elsen, Jennifer/ Thiele, Felix (Hrsg.). Recht extrem. Dynamiken in zivilgesellschaftlichen Räumen. Wiesbaden: VS, 123-148. Böhm, Felix/ Reszke, Paul (2021). Muster des Appellativen in multimodalen Performances. Der Nachhaltigkeitsdiskurs in zwei Beispielanalysen. Deutsche Sprache. 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Klima-Krach mit Lindner, Hasselhoff und Neubauer - Markus Lanz vom 04.04.2019. https: / / www.youtube.com/ watch? v=T3he_b7tsEQ&ab_channe l=ZDF (letzter Zugriff: 10.03.2022) Transkriptionskonventionen nach GAT 2 (Selting et al. 2009: 391-393) akZENT Fokusakzent akzEnt Nebenakzent : Dehnung, Längung, um ca. 0.2-0.5 Sek. (.) Mikropause, geschätzt, bis ca. 0.2 Sek. Dauer (-) kurze geschätzte Pause von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer (--) mittlere geschätzte Pause v. ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer (---) längere geschätzte Pause von ca. 0.8-1.0 Sek. Dauer (1.1) gemessene Pausen von ca. 1.1 Sek. Dauer [ ] Überlappungen und Simultansprechen ? Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase: hochsteigend , Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase: steigend - Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase: gleichbleibend ; Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase: fallend . Tonhöhenbewegung am Ende der Intonationsphrase: tief fallend 94 Felix Böhm <?page no="95"?> 1 Für kritische Anmerkungen möchte ich mich herzlich bei Vilmos Ágel, Dagobert Höllein und Valentina Roether bedanken. 2 Vgl. auch Lautenschläger in diesem Band. 3 Vgl. auch Roether/ Wieders-Lohéac in diesem Band. 4 Der empirische Teil dieser Arbeit bezieht lexikalische und textkohäsive Grundgedanken bei der Belegselektion ein (vgl. Filterschritt, Kap. 3.1). Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten. Einzelsprachliche Perspektivierungen von Akteur: innen einer Protestbewegung am Beispiel von FAZ und EL PAÍS Maria Gallinat (Kassel) 1 Einleitung 1 Die Berichterstattung über die Protestbewegung Fridays For Future ( FFF ) hat sich verändert. 2 Das wird in den deutschsprachigen Medien u.a. daran deutlich, dass die Repräsentant: innen der FFF -Bewegung nicht mehr (ausschließlich) als „Schulschwänzer“ ( FAZ , 18.01.19) oder „Schülerinnen und Schüler“ (ebd.), sondern mittlerweile (auch) als „Aktivisten“ ( FAZ , 21.09.19) bezeichnet werden. Mit diesem Wandel der Versprachlichungsvarianten scheint eine sprachliche Aufwertung der Akteur: innen sowie infolgedessen auch der FFF -Bewegung als solcher einherzugehen. Denn die Konnotationskomponenten des Lexems Aktivist umfassen einen deutlich größeren (politischen) Handlungsspielraum und markieren eine gewisse gesellschaftliche Relevanz und Wirkmächtigkeit der Akteur: innen. 3 Der vorliegende Aufsatz widmet sich ebendiesen semantischen Verände‐ rungen in der Berichterstattung über die FFF -Akteur: innen. In einer kontrast‐ iven Untersuchung (Deutsch/ Spanisch) wird dabei die Ebene der Syntax fokus‐ siert. 4 Das Vorgehen gründet auf zwei Hypothesen: Die erste Hypothese betrifft die Veränderung der Versprachlichungsvarianten der FFF -Akteur: innen in der medialen Berichterstattung. Es wird davon ausge‐ gangen, dass der beschriebene Bezeichnungswandel eine globale Veränderung <?page no="96"?> 5 Vgl. auch Ágel 2017: 7f. Sog. perspektivische Rollen, d.h. die Reihenfolge von Komple‐ menten (Welke 2019: 104-110), spielen im Rahmen dieser Arbeit allerdings nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Kap. 2.2). 6 Vgl. auch Bedijs in diesem Band. der Wahrnehmung der FFF -Akteur: innen abbildet, die sich sprachübergreifend beobachten lässt. Grundlegend für diese Hypothese ist die Ansicht, dass die Wahl einer jeweiligen Versprachlichungsvariante nicht zufällig ist und dass sich in konkreten einzelsprachlichen Strukturen bereits ein subjektiver Stand‐ punkt manifestiert. Mit anderen Worten: Im konkreten Sprachmaterial äußert sich eine einzelsprachliche Perspektive auf eine außersprachliche Entität, der Zuschreibung und Deutung bereits innewohnen. Diese sog. Perspektivierung, „also die Einnahme eines stets bestimmten Betrachterstandpunktes“ stellt dabei eine „unhintergehbare Bedingung der Kognition“ dar (Welke 2019: 107). 5 Denn mit jeder An-/ Abwahl konkreter sprachlicher Strukturen erfolgt eine Festlegung von Perspektive (= Blickwinkel) und Fokus (= Blickpunkt). (Einzel)Sprachliche Perspektivierung ist also nicht abwählbar. Folglich rü‐ cken mit jeder konkreten Versprachlichungsvariante spezifische (Be)Deutungs‐ komponenten in den Vordergrund, wie sich auch an der Berichterstattung über die Galionsfigur der Protestbewegung, Greta Thunberg, nachvollziehen lässt. Sie wird in der deutschsprachigen Presse u.a. als „Mädchen mit den Zöpfen“ ( FAZ , 12.02.19), als „Schülerin Greta Thunberg“ ( FAZ , 15.03.19) oder als „öffentliche Autistin“ ( FAZ , 05.03.20) besprochen. Dabei indizieren all diese Bezeichnungen eine gewisse Sichtweise auf ihre Person, bei der entweder ihr Geschlecht und Phänotyp allegorisch im Vordergrund stehen, Thunbergs soziale Rolle als Schülerin oder ihre neurodiversen Eigenschaften. 6 Identifikati‐ onsperspektive und -fokus sind also bei jeder dieser Versprachlichungsvarianten anders und implizieren folglich unterschiedliche konventionalisierte Konnota‐ tionen (Polenz 2008: 302). Die zweite Hypothese bezieht sich auf die Art der einzelsprachlichen Manifes‐ tation des Perspektivwechsels auf die FFF -Akteur: innen. Es wird angenommen, dass sich der am Beispiel der Lexik beschriebene Wahrnehmungswandel auch auf syntaktischer Ebene manifestiert, nämlich in Form einer Zunahme der sig‐ nifikativ-semantischen (sig.-sem.) Rolle H AN D L U N G S T RÄG E R (Ágel/ Höllein 2021, Welke 2019, Höllein 2019, 2017, Ágel 2017, Welke 2002). Diese Versprachlich‐ ungsvariante ließe sich als eigentliche, d.h. ikonische Abbildung (Ágel 2015: 161) der Wahrnehmung von FFF -Akteur: innen verstehen. Denn die Wahrneh‐ mung der Akteur: innen als (außersprachlich) handelnde Subjekte ginge bei der Versprachlichung als H AN D L U N G S T RÄG E R mit einer Perspektivierung der Akteur: innen als (innersprachlich) handelnde Subjekte einher. Es scheint zudem 96 Maria Gallinat <?page no="97"?> plausibel, dass sich die skizzierte Aufwertung des entsprechenden Personen‐ kreises auf syntaktischer Ebene in Form von Versprachlichungsvarianten ma‐ nifestiert, die einen hohen Agentivitätsgrad aufweisen. Im Kern erörtert der vorliegende Aufsatz also die Frage, inwieweit sich der lexikalisch zu beobachtende Perspektivierungswandel syntaktisch in Form einer Zunahme der sig.-sem. Rolle H AN D L U N G S T RÄG E R in der einschlägigen deutschen und spanischen Berichterstattung über die FFF -Akteur: innen manifestiert. Eine solche signifikativ-semantische und kontrastive Arbeit stellt bislang ein For‐ schungsdesiderat dar. Dieser ersten Annäherung an den Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes folgt ein theoretisches Grundlagenkapitel, das neben grammatiktheoretischer und sig.-sem. Fachliteratur v.a. Gedanken zur kontrastiven Arbeit an gram‐ matischen Phänomenen berücksichtigt (Kap. 2). Daran anknüpfend erfolgt eine Erläuterung der Parameter der qualitativen Studie sowie eine Diskussion der Ergebnisse (Kap. 3). Abschließend werden die zentralen Beobachtungen reflektiert und zusammengefasst (Kap. 4). 2 Theoretische Grundlagen Der Aufsatz beinhaltet drei theoretische Kernelemente: (a) Grammatische Text‐ analyse (kurz: GTA (Ágel 2019, 2017)), (b) Signifikative Semantik und (c) Kontrastive Grammatik. (a) Die Grammatiktheorie der GTA stellt die Basis für die theoretischen wie empirischen Ansätze des Aufsatzes dar. Als deszendente und funktionale Syntax des Gegenwartsdeutschen liefert die GTA ein holistisches Beschrei‐ bungsinventar der grammatischen Ebenen Text, Satz und Wortgruppe (Ágel 2019, 2017), welches auf der Einsicht gründet, dass die Kategorie Satz nicht die hierarchiehöchste grammatische Ebene von Textanalysen sein sollte (Ágel 2017: 24-28). Basierend auf der Grundidee, dass jeder sprachlichen Form unter Be‐ trachtung ihrer syntaktischen Funktion ein grammatischer Wert zugeschrieben werden kann (Ágel 2017: 18-20), ermöglicht die Theorie eine restlose Analyse sprachlicher Originalbelege. Neben der Trennung einer orthographischen von einer grammatischen Perspektive auf sprachliche Belege (Ágel 2017: 11-15) sind für diesen Aufsatz v.a. die valenztheoretische Gesamtausrichtung sowie das Verständnis semantischer Textanalysen der GTA zentral: Natürlich ist grammatische mit semantischer Textanalyse nicht gleichzusetzen, und es kann auch nicht die Aufgabe einer grammatischen Textanalyse sein, die semantische Textanalyse mitzuliefern oder gar zu ersetzen (s. hierzu Polenz 2008). Ihre Aufgabe 97 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="98"?> 7 Satz = grammatischer Satz nach Ágel, entspricht einem Hauptprädikat plus Kom‐ plementen und ggf. Supplementen und Kommentargliedern (Ágel 2017: 121). Grund‐ struktur = Hautprädikat und dessen Komplemente (ebd.). 8 Ein Hinweis zu den Belegmarkierungen in diesem Aufsatz: In Analogie zur GTA werden Hauptprädikate fett markiert, Kohäsionsglieder mit durchgängiger Linie un‐ terstrichen und Nichtsätze Punkt-Strich-unterstrichen. kann nur darin bestehen, diese adäquat vorzubereiten, d.h., die grammatischen Grenzen der semantischen Interpretation abzustecken. (Ágel 2017: 4) (b) Die signifikative Semantik ist eine Semantiktheorie aus semasiologischer Perspektive, deren Rolleninventar intensional und mithilfe der Prototypenthe‐ orie entwickelt wird (Welke 2019: 90, Ágel/ Höllein 2021, Höllein 2019). Sie befasst sich mit der innerstrukturellen Bedeutung einzelsprachlicher Belege, nimmt also auf syntaktischer Ebene diejenige Bedeutung in den Blick, „die den Kombinationen von lexematischen bzw. kategorematischen Einheiten mit Morphemen innerhalb des Satzes eigen ist“ (Coseriu 1987b: 90). Es wird davon ausgegangen, dass die grammatische Grundstruktur eines Satzes 7 dessen seman‐ tische Grundstruktur indiziert. Dem Prädikat kommt folglich eine besondere Bedeutung zu, denn es kann keine „von der grammatischen Struktur und der aktuellen Bedeutung des prädikatsstiftenden Verbs unabhängige semantische Struktur“ geben (Ágel 2017: 8). (1) Ihnen steht offiziell kein Streikrecht zu. (FAZ, 18.01.19) 8 (2) Gemeinsam mit den Ordnungsämtern der jeweiligen Städte haben die Aktivisten seitenlange Hygienekonzepte erarbeitet. (FAZ, 25.09.20) Nutzt man das von Ágel/ Höllein (2021) für das Deutsche vorgelegte Rollenin‐ ventar für eine sig.-sem. Analyse, so indiziert die grammatische Struktur von (1) einen Z U S TAN D während (2) eine H AN D L U N G darstellt. Die gleiche außersprach‐ liche Entität, nämlich die Akteur: innen der FFF -Bewegung, wird damit im ersten Beleg als Z U S TAN D S B E T R O F F E N E R („Ihnen“) versprachlicht und im zweiten Fall als H AN D L U N G S T RÄG E R („die Aktivisten“). Auf diese Weise manifestiert sich in der syntaktischen Versprachlichungsvariante eine spezifische Perspektivierung der FFF -Protagonist: innen. Auf die jeweils angenommenen möglichen Perspek‐ tivierungen auf syntaktischer Ebene, d.h. das der Analyse zugrundeliegende sig.-sem. Rolleninventar, wird einzelsprachspezifisch noch einzugehen sein (s. Kap. 2.1 und 2.2). (c) Wenngleich die Unterscheidung zwischen signifikativer und denotativer Semantik der traditionellen Unterscheidung von Semasiologie und Onomasio‐ 98 Maria Gallinat <?page no="99"?> 9 = das als einzelsprachunspezifischer gemeinsamer Referenzpunkt fungiert und ein konstantes Vergleichsmoment zwischen den kontrastiv untersuchten Phänomenen gewährleistet. [freie Übersetzung, M.G.] 10 Allerdings nur unter der Prämisse, dass sich diese Zeichenhaftigkeit empirisch mani‐ festiert: „[Wir bevorzugen] einen strengeren, da empirisch zweifelsfrei nachweisbaren Zeichenbegriff für Grundstrukturen als komplexe grammatisch-semantische Zeichen‐ schemata: Nur wenn sich semantische Rollen durch Produktivität und Alternation nachweisen lassen, d. h. nur wenn sie aktiv sind, sprechen wir von zeichenhaften Satzbauplänen, also von ‚echten‘ Satzbauplanzeichen.“ (Ágel/ Höllein 2021: 135) logie entspricht (Welke 2019: 103), so erfolgt in dieser Arbeit eine methodische Verzahnung beider Sprachbetrachtungsperspektiven (s. Filterschritt, Kap. 3.1). Dies ist notwendig, da kontrastive Arbeiten zur Grammatik in praktischer Hinsicht ein tertium comparationis benötigen (Coseriu 1987a: 67f.), das als „punto de referencia común supra o transidiomática” fungiert und eine „óptima invariabilidad entre los fenómenos contrastados” gewährleistet (Wotjak 2017: 36). 9 Mit der methodischen Berücksichtigung einer onomasiologischen Perspek‐ tive wird allerdings eine gewisse „ideelle Identität der Denkinhalte“ voraus‐ gesetzt, deren Zuschreibung v.a. in Bezug auf sprachvergleichende Arbeiten „praktisch gefährlich“ sein kann (Coseriu 1987a: 68). Die damit unmittelbar verbundene Frage nach der Grenze zwischen von der Einzelsprache trennbaren und nicht-trennbaren Denkinhalten (Coseriu 1987a) lässt sich auch in der vorliegenden Arbeit nicht klären. Festzuhalten ist lediglich, dass der Rückgriff auf Außersprachliches innerhalb der empirischen Arbeit methodisch begründet ist, dass aber aus genuin theoretischer Perspektive die Einzelsprache primär ist und bleibt. Mit anderen Worten: Analytisch gilt das Primat der signifikativen Semantik, denn „die sprachlichen Strukturen bedeuten etwas, und erst durch ihre Bedeutung können sie zur Bezeichnung außersprachlicher Tatbestände verwendet werden“ (Coseriu 1987b: 95). Auch wenn eine Absicherung eines tertium comparationis aus den genannten Gründen schwerfällt (Wotjak 2017: 35), ohne es wäre eine Fragestellung wie die der vorliegenden Arbeit nicht zu beantworten. 2.1 Perspektivierung im Deutschen Als Valenzträger kommt dem Prädikat in grammatischen Sätzen syntaktisch wie semantisch eine zentrale Rolle zu: Es fordert gewisse Komplemente und aktiviert dadurch einen sog. Satzbauplan (Ágel/ Höllein 2021, Höllein 2019, Ágel 2017). Satzbaupläne werden als „komplexe syntaktisch-semantische Sprachzeichen“ aufgefasst (Ágel/ Höllein 2021: 126) 10 , entsprechend verfügen sie über eine Ausdrucksseite (=Satzgliedwert) und eine Inhaltsseite (=sig.-sem. Rolle) (ebd.). 99 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="100"?> 11 Prädikatsrolle = Hauptprädikatsrolle (s. Kap. 3.1). Für Verblose Sätze (VLS)/ Nichtsätze (NiS) können im Einzelfall Prädikate und damit Prädikatsrollen rekonstruiert werden. Siehe Ágel/ Höllein (i.V.). 12 Einzig in Bezug auf das Merkmal der Eigenaktivität (Control, kurz: CONTR) gibt es Abweichungen. Bei Welke und Höllein ist +/ -CONTR grundlegend für die prototypi‐ sche Unterscheidung der Prädikatsrollen T Ä T I G K E I T und V O R G A N G (Welke 2011: 149f., Höllein 2017: 298ff.), was sich auch in den Paraphrasen der Kernrollen in Ágel/ Höllein 2021 widerspiegelt (Tab 2a, 146-148). Der vorliegende Aufsatz orientiert sich daher an der GTA, in der prototypische Prädikatsrollen ohne das Merkmal der Eigenaktivität ausgearbeitet sind (Ágel 2017). Für die Erläuterung dieser Entscheidung bleibt aufgrund der Rahmenbedingungen kein Platz. Für weitere theoretische Darlegungen siehe Höllein in diesem Band. Analytisch werden die Rollen der Satzglieder dabei ausgehend vom jeweilig identifizierten Prädikat, besser gesagt der identifizierten Prädikatsrolle 11 be‐ stimmt. Die vier modellierten Prädikatsrollen H AN D L U N G , T ÄTI G K E IT , V O R G AN G und Z U S TAN D (Ágel/ Höllein 2021, Höllein 2019, 2017, Ágel 2017) können aus theoretischer Sicht als Einheitenkategorien im Sinne Eisenbergs verstanden werden (Höllein 2017: 292), wobei es empirisch für gewisse Valenzträger synchrone Prädispositionen zu geben scheint (Höllein 2017: 302f.). Festzuhalten ist, dass für das Deutsche bereits eine umfassende und empirisch validierte Beschreibung möglicher Satzbaupläne vorliegt (v.a. Ágel/ Höllein 2021) und dass die hier durchgeführten Analysen im Wesentlichen der vorge‐ schlagenen Modellierung von Ágel/ Höllein entsprechen. 12 2.2 Perspektivierung im Spanischen Um vergleichende Aussagen zur Hypothese dieses Aufsatzes treffen zu können, müssen zwei Dinge gegeben sein: Zum einen müssen die theoretische und methodische Perspektive auf die Belege beibehalten werden, was auch eine vereinheitlichte Begrifflichkeit miteinschließt (Wotjak 2017: 35f.). Zum anderen muss die theoretische Perspektive aber gleichzeitig einzelsprachsensibel, d.h. den Gegebenheiten der jeweiligen Einzelsprache angemessen sein (ebd.). Dem‐ entsprechend werden nun zunächst (d) die theoretischen Grundlagen der gram‐ matischen Perspektive auf das Gegenwartsdeutsche für das Spanische fruchtbar gemacht, bevor (e) eine erste Annäherung an ein sig.-sem. Rolleninventar des Gegenwartsspanischen vorbereitet wird. (d) Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit lassen sich grundlegende theo‐ retische Entscheidungen der GTA auf das Spanische übertragen: So basiert die Zuschreibung grammatischer Werte auf genuin grammatischen Kriterien, mit anderen Worten: Orthographische Satzgrenzen sind von grammatischen zu unterscheiden. Das hängt auch mit der Wahl der grammatischen Theorie 100 Maria Gallinat <?page no="101"?> 13 Im Rahmen dieses Aufsatzes, der das Ziel einer ersten sig.-sem. Annäherung an den Gegenstand der Einzelsprache Spanisch verfolgt, fokussieren die valenztheoretischen Ausführungen zur spanischen Grammatikschreibung auf das Referenzwerk der Real Académia Española und Asociación de Academias de la Lengua Española (RAE/ ASALE 2009 (I) und (II)). Das ist insofern problematisch, als dass es sich bei dieser Grammatik um eine normative statt einer rein deskriptiven Grammatik handelt (Castell 2018: 121). Daraus resultiert, dass Phänomene der verschiedenen Standardvarietäten des Spanischen mitunter systematisch ausgespart werden. 14 Eine Reflexion der Valenztheorie in der spanischen Grammatikschreibung liefert Castell 2018. 15 Genau genommen geht es immer um das Hauptprädikat als hierarchiehöchstes Prädikat eines grammatischen Satzes (Ágel 2017: 11f.), allerdings werden in Ágel/ Höllein 2021 auch Nebenprädikate bei der sig.-sem. Analyse berücksichtigt, indem Hauptsatzstruk‐ turen rekonstruiert werden (Ágel/ Höllein 2021). In diesem Aufsatz wird auf eine sig.-sem. Analyse innerhalb der Nebensätze verzichtet (s. Kap. 3). 16 Gleiches gilt für das sog. sujeto (=Subjekt). Siehe hierzu RAE/ ASALE 2009 (II): 33.1a. 17 = Prädikate sind Kategorien, die Zustände, Handlungen, Besitztümer oder Prozesse ausweisen, in denen ein oder mehrere B E T E I L I G T E involviert sind. Die Mitspieler, die ein jeweiliges Prädikat in seiner konkreten Bedeutung (aus)wählt, werden K O M P L E M E N T E genannt. [freie Übersetzung, M.G.] 18 Dieses wäre entsprechend der theoretischen Ausführungen der RAE/ ASALE sonst nur im logisch-semantischen Prädikatskonzept enthalten. Vgl. RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12d. zusammen: der Valenztheorie, die für das Spanische bereits vorliegt ( RAE / ASALE 2009 (I): 1.12m) 13 und Gegenstand einer Vielzahl kontrastiver Arbeiten ist (z.B. Fandrych 2006, Meliss 2015). 14 Dabei bestehen allerdings wesentliche Unterschiede in Bezug auf die Begriffe Prädikat (= predicado) und Komplement (= argumentos). In der GTA bezeichnet der Terminus Prädikat den Valenzträger eines Satzes (Ágel 2017: 256ff.). 15 In der Referenzgrammatik der RAE/ ASALE wird der Begriff hingegen gleichermaßen als logisch-semantisches ( RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12d) wie auch als syntaktisches Konzept eingeführt ( RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12e). 16 Zentral für diesen Aufsatz ist das zweite: [L]os predicados son categorías que designan estados, acciones, propiedades o pro‐ cesos en los que intervienen uno o varios P A R T I C I P A N T E S . […] Los participantes selec‐ cionados o elegidos por cada predicado en función de su significación se denominan A R G U M E N T O S . (RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12e) 17 Ergänzt werden muss an dieser Stelle, dass das Prädikativ entsprechend der GTA -Modellierung und Begründung (Ágel 2017: 358-394) als Teil des predi‐ cado aufgefasst wird. 18 Der argumento-Begriff muss demgegenüber insofern eingeschränkt werden, als dass er in der spanischen Grammatikschreibung die semantische Valenz(potenz) miteinbezieht ( RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12k), 101 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="102"?> 19 = Ein frischer Wind, den eine ungewöhnliche Demonstration diesen Freitag in Bar‐ celona hinterlassen hat. Keine Flagge war zwischen den mehr als hundert Demons‐ trant: innen zu sehen, die den Sant Jaume-Platz besetzten. Das, was einem Banner am nächsten kam, war ein grün-blauer Erdball, vor dem sie protestierten. Auch die Einheitlichkeit der Schilder anderer Aufmärsche wurde ersetzt durch eine Vielzahl unterschiedlicher Slogans und selbst gezeichneter Bilder auf Pappkartons. Obwohl, das Auffälligste war das Alter der Teilnehmenden, die überwiegende Mehrheit war nicht älter als 20 Jahre. [freie Übersetzung, M.G.] 20 = erstens anhand der Konjunktion oder Subjunktion, die sie einleitet […] und zweitens anhand der zulässigen Tempora und Modi, die Nebensatz und Hauptsatz zueinander in Beziehung setzen. [freie Übersetzung, M.G.] während aus der Perspektive dieses Aufsatzes nur die konkreten empirischen Valenzrealisierungen von Belang sind. Weiterhin sind die grammatischen Analysen des spanischen Korpus ebenfalls funktional begründet und erfolgen deszendent, d.h. von oben nach unten, beginnend bei der Textebene. Einzelsprachliche Reflexionen der jeweiligen grammatischen Strukturen sind dabei unabdingbar, wie das Beispiel aunque (=obwohl) verdeutlicht: Un soplo de aire que ha dejado este viernes una manifestación poco frecuente en Barcelona. Ninguna bandera se vio entre el más de un centenar de manifestantes que ocupaban la plaza Sant Jaume. Lo más parecido a una enseña fue el globo verdiazul por el que protestaban. Y la uniformidad en las pancartas de otras marchas fue sustituida por decenas de eslóganes y diferentes diseños dibujados a mano en cartulinas de cartón. Aunque lo más llamativo ha sido la edad de los asistentes, la inmensa mayoría de ellos no superaba los 20 años. (EL PAÍS, 22.02.19) 19 In der GTA werden drei Textglieder unterschieden: Sätze, Nichtsätze und Kohäsionsglieder (Ágel 2017). Nebensätze stellen Teile von Gliedern dar, wes‐ halb sie nicht auf oberster Ebene analysiert werden. Während Nebensätze im Deutschen i.d.R. durch Subjunktoren und Verbletztstellung markiert sind, sind sog. oraciones subordinadas (=untergeordnete Sätze) im Spanischen anhand folgender Kriterien identifizierbar: erstens anhand der „conjunción o locución conjuntiva que las encabeza“ ( RAE/ ASALE 2009 (II): 47.1d) und zweitens anhand von „los tiempos y modos que se admiten y se relacionan en la prótasis y en la apódosis” (ebd.). 20 Aus diesen Ausführungen ergeben sich zwei Analysevarianten: 102 Maria Gallinat <?page no="103"?> 21 Die Übersetzungen von (3) und (3’) folgen im Fließtext, weil anhand dieser Belegpaare der Zusammenhang von syntaktischer und semantischer Analyse exemplifiziert wird. 22 Zu solchen sog. Parajunktoren vgl. auch Ágel 2016. 23 Denkbar wäre auch folgende Übersetzung: „Obwohl das Auffälligste das Alter der Teilnehmenden war: die überwiegende Mehrheit war nicht älter als 20 Jahre.“ Auch diese Variante würde der nachfolgenden Argumentation aber m.E. nicht widersprechen. 24 Vgl. Wotjak 2017: 35. (3) Aunque lo más llamativo ha sido la edad de los asistentes, la inmensa mayoría de ellos no superaba los 20 años. (EL PAÍS, 22.02.19) 21 (3’) Aunque lo más llamativo ha sido la edad de los asistentes, la inmensa mayoría de ellos no superaba los 20 años. (EL PAÍS, 22.02.19) Eine Analyse, die nicht auf Textebene beginnt und semantische Aspekte außer Acht lässt, könnte eine Beleganalyse wie in (3) vornehmen. Mithilfe der GTA kann an dieser Stelle aber dafür argumentiert werden, dass es sich bei diesem spezifischen „aunque“-Beleg um ein Textglied, genauer ein Kohäsionsglied handelt, wie die Analyse (3’) abbildet. 22 Anders als bei Konzessivnebensätzen stellt das „aunque“ hier also keinen integrierten Bestandteil eines Nebensatzes dar. Vielmehr übernimmt es eine Funktion auf Textebene, was sich auch an den unterschiedlichen Bedeutungen von (3) und (3’) zeigt: (3) =? Obwohl das Auffälligste das Alter der Teilnehmenden war, war die überwie‐ gende Mehrheit nicht älter als 20 Jahre. (3’) =Obwohl, das Auffälligste war das Alter der Teilnehmenden, die überwie‐ gende Mehrheit war nicht älter als 20 Jahre. 23 Im Korpus wurde der Beleg deshalb wie in (3’) analysiert. Diese Entscheidung kann für das Spanische aber nur unter Berücksichtigung der zuvor genannten einzelsprachspezifischen Kriterien (+/ - Junktor, Tempus, Modus) erfolgen. Eine Analyse als Kohäsionsglied z.B. aufgrund der auf den Junktor folgenden Verb‐ zweitstruktur wäre der Einzelsprache Spanisch unangemessen und käme einer theoretischen Übergeneralisierung gleich. 24 (e) Nach dieser grammatiktheoretischen Vorbereitung der kontrastiven Studie folgt nun eine sig.-sem. Annäherung an ein Rolleninventar für das Gegenwartsspanische: De sobra sabido es que existen incertidumbres e incongruencias incluso para la des‐ cripción del idioma materno y, con mayor razón, para la selección de una terminología apropiada para más de una lengua ya que a menudo está [sic. ésta, M.G.] no es 103 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="104"?> 25 = Es ist unlängst bekannt, dass auch in Hinblick auf die Beschreibung der eigenen Erstsprache Ungewissheiten und Inkongruenzen bestehen. Diese Unsicherheit besteht umso mehr auch in Bezug auf die Auswahl eines geeigneten Begriffsinventars für die Beschreibung von mehr als einer Sprache, da die etablierten Begriffe häufig gar nicht oder nur partiell übereinstimmen. Forschende müssen deshalb eine einheitliche Definition vorlegen, vielleicht auch eine ad hoc entwickelte. Das kann zu Verständnis‐ problemen der jeweiligen Analysen in Teilen der Forschungsgemeinschaft führen, die mitunter in Zweifel an der Validität der Untersuchung münden. [freie Übersetzung, M.G.] 26 = auf gewisse Weise ein Skelett seiner Bedeutung [freie Übersetzung, M.G.] 27 Weil dem so ist, ist man in der aktuellen Forschung dazu übergegangen, die Anzahl und die Eigenschaften von Komplementen zu bestimmen, anstatt die Einheiten mit einem sog. semantischen Etikett („una etiqueta semántica“) zu versehen (RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12i). coincidente o sólo coincide parcialmente. El investigador entonces debe imponer una definición coincidente, tal vez, una elaborada por él adhoc. [E]sto puede dar lugar a que se complique el entendimiento de sus análisis y a su validación por parte de la comunidad científica. (Wotjak 2017: 35) 25 Kontrastive Arbeiten zur Semantik des Deutschen und Spanischen nehmen vorwiegend die lexikalische Ebene in den Blick (Wotjak 2017: 33f.). Ein sig.-sem. Rolleninventar für das Gegenwartsspanische ist mir darüber hinaus nicht bekannt. Auch deshalb ist im Rahmen dieses Aufsatzes kaum mehr als eine Vorbereitung einer ersten sig.-sem. Perspektive auf das Spanische leistbar. Um die Forschungsfrage dieser Arbeit nach einer zunehmenden sprachlichen Abbildung der Wahrnehmung der FFF -Akteur: innen als handelnde Subjekte dennoch auch für den spanischen Korpusteil bearbeiten zu können, wird bei der Modellierung sig.-sem. Rollen für das Gegenwartsspanische an dieser Stelle eine starke theoretische Eingrenzung auf potenzielle Handlungsprädikate und das sujeto (=Subjekt) als möglicher H AN D L U N G S T RÄG E R vorgenommen. Auch in der Referenzgrammatik der RAE/ ASALE wird davon ausgegangen, dass die Komplemente eines Prädikats „en cierta forma un esqueleto de su significación“ ( RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12e) repräsentieren. 26 Trotz dieser inner‐ sprachlichen theoretischen Verortung von Bedeutung scheinen semantische Analysen des Spanischen denotativ begründet, denn denotative Begriffe sind ebenso gängig wie eine fachwissenschaftliche Unzufriedenheit aufgrund einer Vielzahl divergierender Beleganalysen 27 : Es una cuestión muy debatida la de dilucidar cuáles son exactamente las funciones semánticas que corresponden a los argumentos. […] Se ha observado que algunas funciones semánticas, en particular la de ‘paciente’, son usadas de forma diversa en los estudios sobre estas materias. Estas razones y otras similares llevan a pensar a 104 Maria Gallinat <?page no="105"?> 28 = Es wird kontrovers diskutiert, welche die exakten semantischen Funktionen sind, die von den jeweiligen Komplementen übernommen werden. […] Es lässt sich beobachten, dass einige semantische Funktionen, v.a. Patiens, auf vielfältige Weise im Rahmen der entsprechenden Arbeiten an das Sprachmaterial angelegt werden. Diese und ähnliche Gründe veranlassen einige Forschende dazu, diese Etiketten als relativ variabel und unpräzise zu verstehen, und anzunehmen, dass sie sich nicht mit Sicherheit unter‐ scheiden lassen, sofern sie auf weniger prototypische Prädikate angewandt werden. [freie Übersetzung, M.G.] 29 Aufgrund der Rahmenbedingungen und entsprechend des 4. Grundsatzes einer sig.-sem. Rollenbestimmung (s. Kap. 2.2 (e)) konzentriere ich meine theoretischen Überlegungen auf prototypische Strukturen, d.h. auf unmarkierte Valenzrealisierungs‐ muster, die weder emphatisch noch elliptisch sind. 30 Darüber hinaus gelten für das Spanische klare Restriktionen für die Markierung eines direkten Objekts mit oder ohne a-Anschluss (Fandrych 2006: 1198; Hopper/ Thomson 1980: 256). algunos autores que tales etiquetas son relativamente variables e imprecisas, y que no se distinguen con nitidez cuando se aplican a predicados menos prototípicos […]. (RAE/ ASALE 2009 (I): 1.12i) 28 Um diese Probleme zu überwinden, muss eine sig.-sem. Rollenbestimmung ausgearbeitet werden, die sich an sechs Grundsätzen orientiert (Höllein 2019: 18): - Grundsatz 1: Einzelsprachliche Bestimmung der Rollen - Grundsatz 2: Sprachinterne Bestimmung der Rollen - Grundsatz 3: Direkte Analyse der Rollen - Grundsatz 4: Prototypische Bestimmung der Rolle - Grundsatz 5: One-per-Sent - Grundsatz 6: Keine (Rollen-)Synonymie H ANDLUN G Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze muss zunächst überprüft werden, ob es eine Prädikatsrolle H AN D L U N G im spanischen Zeitungskorpus dieses Aufsatzes überhaupt gibt und wenn ja, welche syntaktische Struktur sich für diese als prototypisch identifizieren lässt. 29 Bei diesem induktiven Vorgehen wird das Korpus zunächst auf grammatische Sätze mit transitivem Prädikat und Akku‐ sativobjekt (=complemento directo) gescannt, weil diese mit Ágel/ Höllein als prototypische Vertreter von Handlungssätzen erwartet werden können (Ágel/ Höllein 2021: 146). Da sich Kasusmarkierungen im Spanischen hauptsächlich bei Personalpronomen 30 morphologisch manifestieren ( RAE/ ASALE 2009 (I): 16.3a), werden explizit grammatische Sätze gesucht, die eindeutig über ein 105 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="106"?> 31 = Das tat sie vor dem schwedischen Parlament, im Zentrum Stockholms. [freie Übersetzung, M.G.] 32 = Jose ist klar, dass es notwendig ist, dass die gesamte Gesellschaft ihren Teil der Verantwortung übernimmt. [freie Übersetzung, M.G.] 33 = Jose ist es klar. [freie Übersetzung, M.G.] 34 Wichtig ist an dieser Stelle zu reflektieren, dass es in Bezug auf die Wahl der Pronomina „in wichtigen Regionen der spanischsprachigen Welt zur Neutralisierung der Opposi‐ tion direktes - indirektes Objekt […] kommt“ (Fandrych 2006: 1197). Fandrych folgert daraus, dass „Anaphorisierung als Unterscheidungsinstrument unzulänglich“ ist (ebd.). Bezogen auf ein Korpus, das die Plurizentrik des Spanischen bereits in Form des Leísmo abbildet, ist dieser Anmerkung uneingeschränkt zuzustimmen. Da das vorliegende Korpus aber ausschließlich Varianten der peninsularen Standardsprache beinhaltet, halte ich den Anaphorisierungstest hier für vertretbar. Komplement im Akkusativ, sprich eines der Personalpronomen lo, los, la oder las verfügen. (4) Lo hizo junto al Parlamento sueco, en el centro de Estocolmo. (EL PAÍS, 15.03.19) 31 Im Korpus kommt genau ein solcher Beleg (4) vor, in dem das complemento di‐ recto zweifelsfrei identifizierbar ist („Lo“). Die Prädikatsrolle H AN D L U N G (im Fol‐ genden A C C IÓN ) in ihrer syntaktischen Realisierung predicado transitivo+com‐ plemento directo (=transitives Prädikat+Akkusativobjekt) existiert demnach auch im Spanischen. Es ist folglich davon auszugehen, dass im Korpus weitere Handlungssätze belegt sind, allerdings ohne Realisierung des complemento directo in Form eines Pronomens. Da das Vorhandensein des complemento directo das prototypische Kriterium zur Bestimmung von Handlungssätzen darstellt, muss es zweifelsfrei identifizierbar sein. Methodisch lässt sich dessen Existenz auf zwei Arten absichern. Zum einen qua Valenz des Prädikats, auf deren Basis zunächst der zu erwartende Satzbauplan antizipiert werden kann. Zum anderen mithilfe des Anaphorisierungstest: (5) Jose tiene claro (complemento que es necesario que toda la sociedad asuma su parte de responsabilidad directo) . (EL PAÍS, 15.03.19) 32 (5’) Jose (complemento lo directo) tiene claro. 33 Da das untersuchte Korpus das Standardspanische der iberischen Halbinsel abbildet, führt die Anwendung des Tests zu einem klaren Ergebnis. 34 Denn der Beleg verfügt eindeutig über eine syntaktische Einheit, die sich in eine 106 Maria Gallinat <?page no="107"?> 35 Zu valenziellen Unterschieden spanischer und deutscher Verba dicendi siehe Fandrych (2006: 1204f.). 36 = „Wir fordern, dass ein Klimanotstand ausgerufen wird, und dafür wollen wir an die Politiker, die Informationsmedien und die Gesellschaft appellieren.“, sagte Chirino. [freie Übersetzung, M.G.] 37 = Deshalb haben sie nein gesagt, zu Pedro Sánchez, Teresa Ribera (Ministerin für die ökologische Transition) und anderen politischen Parteien, zumindest bis nach dem 15. März. [freie Übersetzung, M.G.] kasusmarkierte Proform umwandeln lässt (5’). Der Anaphorisierungstest stellt damit ein erstes probates Mittel dar, um den Begriff einer sig.-sem. Prädikatsrolle A C C IÓN für das Spanische zu schärfen. Die identifizierten Varianten von Handlungssätzen können nun näher be‐ leuchtet werden. Dabei ist zunächst ein Umstand besonders zu berücksichtigen: das Korpus besteht einzig und allein aus Zeitungsartikeln. Aufgrund dieser Tatsache finden sich eine Reihe von Belegen mit Verba dicendi, welche als Prädikate besondere Aufmerksamkeit verdienen. 35 Verba dicendi Da bereits festgestellt wurde, dass Handlungssätze im Spanischen ebenfalls von predicados transitivos begründet werden, kann unter Bezugnahme auf die GTA auch für das Spanische konstatiert werden, dass die jeweiligen Kommunikations‐ verben transitive Szenarien entwerfen, in denen neben sujeto und Redeanzeige diverse Formen von Rede als complemento directo vorkommen (Ágel 2017: 670). (6) „Demandamos que se declare un estado de emergencia climática, y para ello queremos interpelar a los políticos, los medios de información y la sociedad”, ha dicho Chirino. (EL PAÍS, 22.02.19) 36 (7) Por ello han dicho que no a Pedro Sánchez, a Teresa Ribera, ministra para la Transición Ecológica, y a otras formaciones políticas, por lo menos hasta después del 15M. (EL PAÍS, 15.03.19) 37 Beleg (6) illustriert einen prototypischen Beleg für einen Handlungssatz mit Verbum dicendi. Das sujeto („Chirino“) sowie das complemento directo („De‐ mandamos […] sociedad“) sind makrovalenziell realisiert, d.h. prädikatsextern lexematisch realisiert (Ágel 2000: 216f.). Beleg (7) ist ebenso prototypisch (complemento directo =„que no“). Allerdings fällt auf, dass zusätzlich nur ein anderes Komplement makrovalenziell realisiert ist: das complemento indirecto („a Pedro […] políticas). Damit unterscheiden sich prototypische spanische Handlungssätze klar von prototypischen deutschen Handlungssätzen. 107 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="108"?> 38 Auf die Vordenker: innen des Modells der strukturellen Valenzrealisierung sowie die Grundzüge der Theorie kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Vgl. Ágel 2000: 215-235. 39 = Es sind Lernende der Oberstufe und Studierende zwischen 14 und 25 Jahren, die ein gemeinsames Ziel haben: denen Druck machen, die dabei sind, ihnen „ihre Zukunft rauben“, damit sich die Dinge ändern, „solange noch Zeit dafür bleibt“. Eine Zeit, die sie - wie sie selbst sagen - nicht mit Fotos und politischem Gepose vergeuden wollen. Deshalb haben sie nein gesagt, zu Pedro Sánchez, Teresa Ribera (Ministerin für die ökologische Transition) und anderen politischen Parteien, zumindest bis nach dem 15. März. [freie Übersetzung, M.G.] 40 Eine exhaustive Beschreibung der Bedingungen für makrovalenziell realisierte Subjekte darf m.E. nicht allein die Satzebene in den Blick nehmen. Gerade vor dem Hintergrund eines schriftsprachlichen Zeitungskorpus und den damit verbundenen Explizitheitser‐ wartungen ist eine textlinguistische Reflexion von Bedingungen für unmarkierte Makrosubjekte angebracht, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. 41 Auch: sujeto táctico, sujeto nulo, sujeto vacío, sujeto elidido, sujeto sobrentendido, sujeto catalizado (RAE/ ASALE 2009 (II) 33.4b). Im Gegensatz zum Deutschen ist es im Spanischen möglich, Subjekte mikro- oder makrovalenziell zu realisieren (Ágel 2000: 216f.). 38 Denn durch „die - eindeutiger markierte - Verbalflexiv-Kongruenz“ (Fandrych 2006: 1198) können im Spanischen und anderen romanischen Sprachen vollständige Sätze ohne sujeto expreso (=makrorealisiertes Subjekt) gebildet werden ( RAE/ ASALE 2009 (II) 33.4a). Erst unter Einbezug des Kontextes wird deutlich, welches Subjekt jeweils mikrovalenziell realisiert, sprich welche semantische Füllung gültig ist. Im Fall von (7) sind es die FFF -Akteur: innen: Son estudiantes de instituto y de universidad, de 14 a 25 años que tienen un objetivo común: hacer presión a quienes les “están robando el futuro” para que las cosas cambien “ahora que todavía queda tiempo”. Un tiempo que según ellos no van a perder con “fotos y postureo político”. Por ello han dicho que no a Pedro Sánchez, a Teresa Ribera, ministra para la Transición Ecológica, y a otras formaciones políticas, por lo menos hasta después del 15M. (EL PAÍS, 15.03.19) 39 Fandrych (2006: 1198) spricht davon, dass Makrosubjekte im Spanischen „nur unter bestimmten Bedingungen notwendig“ sind. Damit meint er u.a. empha‐ tische Hervorhebungen oder die Vermeidung von Ambiguität (ebd.). 40 Keiner dieser beiden Gründe trifft auf die konkrete Textstelle zu. In Beleg (7) wäre daher die Verwendung einer Pro-Form, die im Deutschen prototypisch wäre, im Spanischen markiert. Daraus folgt: Mikrosubjekte (=sujetos no expresos) 41 sind unmarkierte Phä‐ nomene des Spanischen, die keinesfalls zu unvollständigen Sätzen führen. Das sig.-sem. Potenzial eines Satzes mit sujeto no expreso unterscheidet sich 108 Maria Gallinat <?page no="109"?> 42 Weiterführende rolleninterne Unterschiede zwischen unmarkierten wie markierten subjektbezogenen Valenzrealisierungstypen können nicht berücksichtigt werden (z.B. semantische Zentriertheit, Transitivitätsgrad). Mit anderen Worten: Die Auswirkungen der strukturellen Valenzrealisierung (Mikrosubjektsprache vs. Makrosubjektsprache) auf die sig.-sem. Rolle H A N D L U N G S T R Ä G E R können hier weder erörtert noch modelliert werden. 43 = Kongruenz mit dem Verb, Kasus (im Fall einiger Pronomina) und syntaktische Position der Nominalgruppe [freie Übersetzung, M.G.] 44 = Während des Klimastreiks in Milan (Italien) verbrennen die Schüler: innen einen Nachbau des Planeten Erde. [freie Übersetzung, M.G.] 45 = Sie hat angefangen, ein ökologisches Bewusstsein zu entwickeln, als ihr eine Lehrerin in der 10. Klasse vom Ökofeminismus erzählte. [freie Übersetzung, M.G.] deshalb nicht grundlegend von einem Satz mit unmarkiertem Makrosubjekt (=sujeto expreso). Beide subjektbezogenen Valenzrealisierungstypen kodieren in Handlungssätzen die sig.-sem. Rolle H AN D L U N G S T RÄG E R , was entsprechend in der Modellierung zu berücksichtigen ist (s. Tab. 1). 42 H ANDLUN G S T RÄG E R Als H AN D L U N G S T RÄG E R (im Folgenden A C T O R D E LA A C C IÓN ) lässt sich für das Spanische in Analogie zur sig.-sem. Rollentheorie für das Deutsche das sujeto (expreso o no expreso) eines Handlungssatzes anlegen. Das sujeto (expreso o no) ist auf Basis dreier Kriterien eindeutig identifizierbar: „la concordancia con el verbo, el caso (en ciertos pronombres) y la posición sintáctica que ocupa el grupo nominal” ( RAE/ ASALE 2009 (II) 33.1d). 43 Anhand zwei ausgewählter Korpusbelege lässt sich diese theoretisch-methodische Absicherung des sujeto exemplifizieren: (8) Los estudiantes queman una réplica del planeta Tierra durante la huelga por el clima en Milán, Italia. (EL PAÍS, 28.09.2019) 44 (9) Ella comenzó a tomar conciencia ecologista cuando en 4° de la ESO una profesora le habló sobre ecofeminismo. (EL PAÍS, 15.03.2019) 45 In Beleg (8) ist das Kriterium der Kongruenz zwischen sujeto und predicado entscheidend. Obwohl beide Nominalgruppen des Satzes - „Los estudiantes“ (=die Schüler: innen) und „una réplica del planeta Tierra“ (=ein(en) Nachbau des Planeten Erde) - kasusunspezifisch sind und damit prinzipiell beide als sujeto des Satzes fungieren könnten, handelt es sich beim sujeto eindeutig um „Los estudiantes“. Nur zwischen „Los estudiantes“ und „queman“ (=verbrennen) besteht Kongruenz hinsichtlich Person und Numerus, wobei Numerus hier die entscheidende Kategorisierung ist, da beide Nominalgruppen drittpersonig sind. 109 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="110"?> 46 = syntaktische Position vor dem finiten Verb [freie Übersetzung, M.G.] Anders verhält es sich in Beleg (9). Hier gibt es zwar auch zwei Nominal‐ gruppen, die kasusunspezifisch sind („Ella“ (=sie) und „conciencia ecologista“ (=ökologisches Bewusstsein)), allerdings stimmen beide in Person und Numerus mit dem Prädikat überein. Zudem ist der Kasus des Pronomens ella nicht eindeutig ( RAE/ ASALE 2009 (I) 16.3a), weshalb an dieser Stelle das Kriterium der Reihenfolge zum Tragen kommt. Sofern zwei Nominalgruppen potenziell kongruent sind, indiziert die „posición sintáctica preverbal“ 46 das sujeto ( RAE/ ASALE 2009 (II) 33.1f). Das heißt explizit nicht, dass die syntaktische Positio‐ nierung Kasusrollen im Spanischen festlegt, das sujeto kann sehr wohl divergie‐ rende syntaktische Positionen einnehmen (ebd.). Nichtsdestotrotz kann diese topologische Perspektive auf Belege bei der Analyse helfen, weil syntaktische Positionierungen eine gewisse Perspektiviertheit der Komplemente indizieren: Die Perspektiviertheit der Argumente hinsichtlich ihrer Reihenfolge als 1.,2.,3. Argu‐ ment ist ein elementares kognitives Universal. Es erwächst aus der materiell-gegen‐ ständlichen Tätigkeit der Lebenspraxis überhaupt. Die spezifischen Koordinationen von Argumentfolge und signifikativ-semantischen Rollen sind durch Handlungsop‐ tionen gedeckt (bspw. die Zuordnungen 1. Argument - Agens und 2. Argument - Patiens). Die Verbindung der perspektivischen Rollen mit signifikativ-semantischen Rollen ermöglicht eine verlässliche Unterscheidung der Argumente. (Welke 2019: 110) Auch unter Berücksichtigung perspektivischer Rollen, d.h. der „Reihenfolge, in der Rollen von den Sprechern/ Hörern in den Blick genommen werden“ (Welke 2019: 90) bestätigt sich also die Annahme, dass „Ella“ das sujeto von Beleg (9) darstellt. A C C IÓN UND A C T O R D E LA A C C IÓN Diese Ausführungen zusammengefasst lassen sich für die vorliegende Untersu‐ chung des spanischen Teilkorpus zwei sig.-sem. Rollen klar identifizieren: Rolle Semantische und syntakti‐ sche Beschreibung Beispiele A C C IÓN [H A N D L U N G ] ‚semantische Rolle eines transitiven Prädikats‘ Lo hizo junto al Parlamento sueco, en el centro de Esto‐ colmo. Los estudiantes queman una réplica del planeta Tierra du‐ rante la huelga por el clima en Milán, Italia. 110 Maria Gallinat <?page no="111"?> Rolle Semantische und syntakti‐ sche Beschreibung Beispiele A C T O R D E L A A C C IÓN ( E X P R E S O O N O E X ‐ P R E S O ) [H A N D L U N G S T R Ä G E R ] ‚gegenstandsbezogene se‐ mantische Rolle des (Mikro)Subjekts einer Hand‐ lung‘ ex- Los estudiantes preso queman una réplica del planeta Tierra durante la huelga por el clima en Milán, Italia. Lo no (hizo) expreso junto al Parla‐ mento sueco, en el centro de Estocolmo. Tab. 1: Ansätze sig.-sem. Rollen des Spanischen Die Entscheidung, makrovalenziell und mikrovalenziell realisierte Subjekte in der sig.-sem. Rolle A C T O R D E LA A C C IÓN zusammenzufassen, ist dabei als Forschungszwischenergebnis zu verstehen. Graduelle Unterschiede in Bezug auf deren Qualität als H AN D L U N G S T RÄG E R bedürften einer tiefergehenden Aus‐ einandersetzung mit Hopper/ Thomsons Transitivitätskontinuum und der Un‐ terscheidung zwischen ‚foregrounding‘ und ‚backgrounding‘ (vgl. Hopper/ Thomson 1980). Nachfolgend werden die aufgeführten Belegbeispiele als Prototypen der jeweiligen sig.-sem. Rolle verstanden. Auch wenn Prototypen per definitionem nicht alle Vertreter einer Kategorie gleichermaßen umfassen, ist damit ein erstes theoretisches Grundgerüst entwickelt, an dem sich die Analyseentscheidungen der qualitativen Studie orientieren. 3 Qualitative Studie Die vorliegende Untersuchung fußt auf der Annahme, dass innerhalb der medialen Berichterstattung ein globaler Perspektivierungswandel in Bezug auf die FFF -Akteur: innen stattgefunden hat, welcher sich auch auf syntaktischer Ebene manifestiert. Die Studie besitzt ein qualitatives Design und knüpft an eine Erkenntnis Lautenschlägers an, die die Berichterstattung im Jahr 2019 als Dreh- und Angelpunkt des Perspektivwandels auf FFF -Akteur: innen herausarbeitet (Lautenschläger in diesem Band). 3.1 Hypothesen, Korpus, Methode Die zentrale Hypothese dieses Aufsatzes ist, dass der lexikalisch zu beobach‐ tende Perspektivierungswandel sich in der einschlägigen deutschen Berichter‐ stattung syntaktisch in Form einer Zunahme der sig.-sem. Rolle H AN D L U N G S ‐ T RÄG E R manifestiert. Weiterhin wird angenommen, dass dieser nicht nur in 111 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="112"?> 47 Mit der Auswahl dieser Zeitung erfolgt auch schon eine Festlegung des zu erwartenden Spanisch. Es sei an dieser Stelle explizit darauf verwiesen, dass die Varietät der iberischen Halbinsel hier nicht als alleinige Standardvarietät des Spanischen verstanden wird. Diese Fokussierung erfolgte rein aus forschungspraktischen Gründen. 48 Ursprünglich sollten die Globalen Klimastreiks als Vergleichsmomente im Rahmen der Studie fungieren. Da aber nicht immer über diese in den jeweiligen Tageszeitungen berichtet wurde, mussten andere Erhebungsanlässe entwickelt werden, die einen möglichst direkten Vergleich der Berichterstattungen ermöglichen. 49 Obwohl in der Fachliteratur der Winter 2018/ 2019 als Ausgangspunkt für Proteste in Deutschland besprochen wird (Haunss et al. 2020: 7; Sommer et al. 2020: 15) und bereits erste Aktionen im Dezember 2018 stattfanden, beginnt das deutschsprachige Korpus im Januar 2019, weil dieses als sog. Klimajahr gilt und im Archiv des FAZ zuvor keine anderen Artikel unter dem ausgezeichneten Suchbegriff auffindbar sind. den deutschsprachigen Medien nachzuvollziehen ist, sondern sich als Ausdruck eines globalen Perspektivwechsels auch in der spanischen Berichterstattung findet - in Form der sig.-sem. Rolle A C T O R D E LA A C C IÓN . Das Untersuchungskorpus besteht dabei aus acht Zeitungsartikeln aus den Jahren 2019 und 2020, darunter fünf deutsche Artikel aus der FAZ und drei spanische aus EL PAÍS . 47 Die Untersuchungsmedien wurden ausgewählt, weil sie große überregionale Tageszeitungen darstellen. Dass das Korpus hinsichtlich der einzelsprachlichen Anteile nicht gleichmäßig verteilt ist, liegt zum einen darin begründet, dass die Hypothesen des Aufsatzes auf Beobachtungen bezüg‐ lich der deutschsprachigen Berichterstattung basieren. Zum anderen resultiert diese Ungleichverteilung daraus, dass es sich bei diesem Aufsatz um eine erste theoretische Annäherung an eine sig.-sem. Rollenanalyse des Spanischen handelt (vgl. Kap. 2.2). Die Korpuskompilierung erfolgte weiterhin mittels einer Stichwortsuche in den Archiven von FAZ und EL PAÍS (Suchbegriff: Fridays for Future). Für die konkrete Textauswahl war ein Zusammenspiel aus zwei Kriterien entscheidend: (1) Zeitpunkt außersprachlicher Ereignisse und (2) Textspezifika (Art, Fokus, Umfang). Außersprachliche Ereignisse wurden dann als relevante Erhebungsan‐ lässe gewertet, wenn sie als Wegmarker der FFF -Bewegung angesehen werden können und in den Tageszeitungen besprochen wurden. 48 Generell wurde dabei ein Fokus auf das Klimajahr 2019 gelegt, denn „[s]elten war ein Jahr so sehr von den Berichterstattungen über die Klimakrise dominiert wie 2019“ (Goldenbaum/ Thompson 2020: 183). Um die grammatische Entwicklung der medialen Perspektive nachvollziehen zu können, wurde zunächst der Auftakt der Proteste in Deutschland respektive Spanien im Korpus berücksichtigt ( Jah‐ resbeginn 2019). 49 Ebenfalls aus 2019 wurden der erste Globale Klimastreik (15. März 2019) als Globalisierungsmoment sowie die Globale Klimawoche (20.-27. September 2019) als bisheriger „Mobilisierungshöhepunkt“ (Haunss et al. 2020: 112 Maria Gallinat <?page no="113"?> 50 Unter „Berichterstattungen im engeren Sinne“ verstehe ich Ereignis-initiierte und primär berichtende Sachverhaltsdarstellungen (d.h. keine Interviews, Kolumnen oder Leser: innenbriefe). Ein Fokus auf die FFF-Bewegung liegt vor, wenn primär über die Struktur der Organisation, den Ablauf von Protestaktionen oder die Akteur: innen im Einzelnen berichtet wird. 8) in das Korpus aufgenommen. Konkret umfasst das Korpus ausschließlich Berichterstattungen im engeren Sinne 50 , die den Fokus auf die FFF -Bewegung legen und zwischen ca. 2.000 und ca. 5.000 Zeichen umfassen. Zusätzlich zu diesen drei sprachvergleichend-relevanten Auswahlzeit‐ punkten wurden für das deutsche Korpus außerdem die Sommerferien 2019 als Beweismoment für die Bewegung sowie der sechste Globale Klimastreik im September 2020 als Zeitpunkt ein Jahr nach dem bisherigen Höhepunkt ausgewählt. Korpustexte Zeichen (ohne Leer‐ zeichen) Ausbreitung der Bewegung in Deutschland und Spanien ( Jahresbeginn 2019) Bundesweiter Protest. Tausende Schüler schwänzen fürs Klima (FAZ, 18.01.19) 3.406 Cambio climático: El #FridaysForFuture llega a Barcelona (EL PAÍS, 22.02.19) 1.943 Erster Globaler Klimastreik (15. März 2019) „Fridays For Future“: Schüler in mehr als 100 Staaten demonstrieren für mehr Klimaschutz (FAZ, 15.03.19) 5.030 Huelga climática: Los jóvenes españoles que luchan contra el cambio climático (EL PAÍS, 15.03.19) 3.951 Demonstrationen trotz Sommerferien ( Juni 2019) „Fridays for Future” macht keine Ferien (FAZ, 29.06.19) 2.486 Globale Klimawoche (20.-27. September 2019) Zehntausende demonstrieren für Klimaschutz (FAZ, 21.09.19) 4.189 Cambio climático: La protesta climática transciende a los jóvenes y vuelve a llenar las calles de todo el planeta (EL PAÍS, 28.09.19) 4.862 Sechster Globaler Klimastreik (25. September 2020) „Kein Grad weiter! “: Fridays for Future kehrt zurück auf die Straße (FAZ, 25.09.20) 3.963 113 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="114"?> 51 Wie „Schülerinnen und Schüler“, „Schulschwänzer“, „Teilnehmer“, „junge Menschen“, „junge Männer und Frauen“, „Kinder und Jugendliche“, „Thunberg und ihre Mitstreiter“, „Aktivisten“, „Achtzehnjährige“, „Aktivistin Leonie Bremer“, „Klimaaktivistin“ oder „un centenar de jóvenes“, „manifestantes“, „la estudiante sueca de 16 años Greta Thunberg“, „un grupo de jóvenes“, „la generación sin futuro“, „los organizadores de Fridays for Future“ usw. 52 = die Einheitlichkeit der Schilder anderer Aufmärsche wurde ersetzt durch eine Vielzahl unterschiedlicher Slogans und selbst gezeichneter Bilder auf Pappkartons [freie Übersetzung, M.G.] Korpustexte Zeichen (ohne Leer‐ zeichen) FAZ: EL PAÍS: 19.074 10.756 Tab. 2: Das Analysekorpus (chronologisch sortiert nach Erhebungsanlässen) Um die angeführten Hypothesen überprüfen zu können, mussten Texteinheiten des Korpus herausgehoben werden, in denen über FFF -Akteur: innen gespro‐ chen wird, d.h. in denen die Akteur: innen konkret versprachlicht werden. Methodisch wurde deshalb zunächst die lexikalische Ebene in den Blick ge‐ nommen (Schritt 1: Filterschritt). Nachfolgend widmete sich die Untersuchung den grammatischen Strukturen auf Satzebene (Schritt 2: Analyseschritt). Den empirischen Fixpunkt des Filterschritts bilden lexikalische Einheiten, die die FFF -Akteur: innen (nicht die Protestbewegung als solche) sprachlich fassen. Neben Nominalgruppen 51 werden dabei Pronomina einbezogen, die sich auf Aktivist: innen insofern beziehen, als dass von Referenzidentität ausgegangen werden kann, sowie Texteinheiten mit Mikrosubjekten, sofern deren semanti‐ sche Füllung über den Kontext entsprechend bestimmbar ist. Aufgrund dieses Vorgehens können Belege wie (10)-(13) im weiteren Analyseverfahren nicht berücksichtigt werden: (10) Auch in Schulen in Hamburg, Bremen und Niedersachsen blieben am Freitag viele Stühle unbesetzt. (FAZ, 18.01.19) (11) "Fridays for Future" macht keine Ferien (FAZ, 29.06.19) (12) la uniformidad en las pancartas de otras marchas fue sustituida por decenas de eslóganes y diferentes diseños dibujados a mano en cartulinas de cartón (EL PAÍS, 22.02.2019) 52 114 Maria Gallinat <?page no="115"?> 53 = In Spanien rief diese Bewegung am 01. März zu ihrem ersten Protest auf. [freie Übersetzung, M.G.] (13) En España, este movimiento convocó su primera protesta el 1 de marzo (EL PAÍS, 15.03.19) 53 Der Analyseschritt bezieht sich nachfolgend auf die verbliebenen Texteinheiten und segmentiert diese in Textglieder. In grammatischen Sätzen wird dann syntaktisch wie semantisch nur auf Hauptsatzebene analysiert. Das bedeutet: Anders als bei Ágel/ Höllein findet keine Annotation von syntaktischen Struk‐ turen innerhalb von Nebensätzen oder Infinitivkonstruktionen statt (vgl. Ágel/ Höllein 2021). Denn für eine kontrastive Analyse von Perspektivierungen wäre es m.E. wichtig, alle sprachlichen Merkmale, die Einfluss auf die spezifische Art der Versprachlichung der FFF -Akteur: innen nehmen, systematisch, d.h. kontrolliert, zu vergleichen. Das ist im Rahmen dieses Aufsatzes schlicht nicht leistbar, da schon innerhalb des deutschen Teilkorpus Belege vorliegen, in denen FFF -Akteur: innen auf ganz unterschiedlichen syntaktischen Ebenen versprachlicht werden, obwohl alle innerhalb von Nebensätzen auftauchen: (14) Das löste besonders in Bayern eine Diskussion darüber aus, ob Schüler für einen solchen Zweck den Unterricht schwänzen dürfen. (FAZ, 18.01.2019) (15) "In einer Zeit, in der allerorten nach mehr politischem Einsatz von Schüle‐ rinnen und Schüler gerufen wird, ist es der falsche Weg, bei dem heute stattfindenden Schülerstreik im Namen des Klimaschutzes direkt nach Strafen zu schreien", erklärte die bildungspolitische Sprecherin der Landtags-SPD, Margit Wild. (FAZ, 18.01.2019) Einige Versprachlichungsvarianten der FFF -Akteur: innen, die im Korpus belegt sind, bleiben folglich unterbestimmt, weil sie sich unterhalb der Hauptsatzebene befinden. Syntaktisch-semantische Strukturen in Nichtsätzen (Ágel/ Höllein i.V.) fließen dagegen systematisch in die Auswertung ein, weil sie als Textglieder syntaktisch auf einer Ebene mit Hauptsatzstrukturen liegen: (16) Schüler bei der „Fridays for Future“-Klimademonstration in der Düsseldorfer Innenstadt (FAZ, 15.03.19) So stellt Beleg (16) ein Korpusbeispiel für das Tag ‚ K E IN E R O L L E ‘ dar, weil Existenzialnichtsätze keine sig.-sem. Rollen kodieren (Ágel/ Höllein i.V.). 115 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="116"?> 3.2 Auswertung und Diskussion der Ergebnisse Bevor auf Antworten und weiterführende Fragen eingegangen wird, die das Korpus hinsichtlich der aufgeworfenen Hypothesen liefert, wird die Auswer‐ tung der Ergebnisse zunächst schematisch dargestellt. Auswertung der Ergebnisse Sowohl für das deutsche als auch für das spanische Teilkorpus lassen sich trotz des insgesamt kleinen Korpus Mengenverhältnisse der einzelnen sig.-sem. Rollen herausstellen. Diese sind jedoch aufgrund des bestehenden Ungleichge‐ wichts zwischen den theoretischen Modellierungen in Bezug auf die jeweiligen Einzelsprachen gänzlich anders ausgestaltet. Die tabellarischen Ausführungen geben einen ersten Einblick, auf den dann jeweils einzelsprachspezifisch einzu‐ gehen ist. FAZ-Korpus Rolle 18.01.19 15.03.19 29.06.19 21.09.19 25.09.20 H A N D L U N G S T R Ä G E R 5/ 26 (19,2 %) 13/ 26 (50 %) 13/ 19 (68,4 %) 4/ 22 (18,2 %) 13/ 24 (54,2 %) H A N D L U N G S G E G E N S T A N D 2/ 26 (7,7 %) - - 1/ 22 (4,55 %) 1/ 24 (4,2 %) H A N D L U N G S B E T R O F F E N E R - 1/ 26 (3,85 %) - - - T ÄT I G K E I T S T R Ä G E R 6/ 26 (23,1 %) 5/ 26 (19,2 %) 2/ 19 (10,5 %) 10/ 22 (45,5 %) 3/ 24 (12,5 %) T ÄT I G K E I T S B E T R O F F E N E R - 1/ 26 (3,85 %) - - - Z U S T A N D S T R Ä G E R 3/ 26 (11,5 %) 2/ 26 (7,7 %) 2/ 19 (10,5 %) 1/ 22 (4,55 %) 2/ 24 (8,3 %) Z U S T A N D S B E T R O F F E N E R 1/ 26 (3,85 %) - - - - V O R G A N G S T R Ä G E R 1/ 26 (3,85 %) 2/ 26 (7,7 %) 1/ 19 (5,3 %) 3/ 22 (13,6 %) - K E I N E O D E R A N D E R E R O L L E 8/ 26 (30,8 %) 2/ 26 (7,7 %) 1/ 19 (5,3 %) 3/ 22 (13,6 %) 5/ 24 (20,8 %) Tab. 3: Sig.-sem. Rollenvorkommen im deutschen Teilkorpus 116 Maria Gallinat <?page no="117"?> Tab. 3 gibt einen Überblick über die sig.-sem. Rollen, in denen die FFF -Ak‐ teur: innen versprachlicht werden. In der letzten Zeile sind dabei Belege gesam‐ melt, die in diesem Aufsatz semantisch nicht spezifischer bestimmt werden (können). Das ist der Fall, wenn die Akteur: innen innerhalb von Adverbialen, auf einer hierarchieniedrigeren Ebene oder innerhalb von Existenzialnichtsätzen versprachlicht werden (K E IN E R O L L E ) oder in Form einer sig.-sem. Präpositio‐ nalobjektsrolle (A N D E R E R O L L E ). EL PAÍS-Korpus Rolle 22.02.19 15.03.19 28.09.19 A C T O R D E L A A C C IÓN [ H A N D L U N G S T R Ä G E R ] 5/ 17 (29,4 %) 8/ 37 (21,6 %) 7/ 20 (35 %) N I N G ÚN U O T R O R O L [ K E I N E O D E R A N D E R E R O L L E ] 12/ 17 (70,6 %) 29/ 37 (78,4 %) 13/ 20 (65 %) Tab. 4: Sig.-sem. Rollenvorkommen im spanischen Teilkorpus Unter NIN GÚN U O T R O R O L werden in Tabelle 4 ebenfalls Belege aufgeführt, die in diesem Aufsatz semantisch nicht spezifischer bestimmt werden (können). Aufgrund der schmalen Theoriebasis zum Spanischen ist das bereits der Fall, wenn die Akteur: innen nicht in Form der Rolle A C T O R D E LA A C C IÓN versprach‐ licht werden ( O T R O R O L ). Darüber hinaus ist das analog zur deutschen Korpu‐ sauswertung der Fall, wenn die Akteur: innen innerhalb von Adverbialen, auf einer hierarchieniedrigeren Ebene oder innerhalb von Existenzialnichtsätzen versprachlicht werden ( NIN GÚN R O L ). Diskussion der Ergebnisse Wie Tabelle 3 und 4 illustrieren, hat sich die zentrale Hypothese des Aufsatzes nicht eindeutig bestätigt. Eine ikonische Abbildung der Wahrnehmung der FFF-Akteur: innen als handelnde Subjekte lässt sich weder im deutschen Teil‐ korpus in Form einer chronologischen Zunahme der sig.-sem. Rolle H AN D L U N G S ‐ T RÄG E R noch im spanischen Teilkorpus in Form der Rolle A C T O R D E LA A C C IÓN nachzeichnen. Damit ist der der Hypothese zugrundeliegende Ansatz m.E. aber auch (noch) nicht widerlegt. Was nämlich v.a. Tabelle 3 für das FAZ -Korpus offenbart, ist zunächst eine stetige Zunahme der Rolle H AN D L U N G S T RÄG E R , die im Artikel „Fridays for Future“ macht keine Ferien ( FAZ , 29.06.19) ihren Höhepunkt erreicht (68,4 %). Danach fällt die Anzahl an H AN D L U N G S T RÄG E R N für eine Momentaufnahme des 117 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="118"?> 54 = Die Proteste, die sich an der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg orientieren, haben sich auf Städte der ganzen Welt ausgebreitet; [freie Übersetzung, M.G] Korpus rapide ab (auf 18,2 %), wobei dieser Tiefststand an H AN D L U N G S T RÄG E R N einhergeht mit einem Höchststand an T ÄTI G K E IT S T RÄG E R N (45,5   %). Der Höhepunkt zum Zeitpunkt der Sommerferien lässt sich als konkretes Momentum des Perspektivierungswechsels interpretieren. Denn dass danach so ein deutlicher Abfall der Anzahl an H AN D L U N G S T RÄG E R N zu verzeichnen ist, hängt auch damit zusammen, dass nun nicht mehr nur auf die Akteur: innen als Leitfiguren der Protestbewegung sprachlich Bezug genommen wird, sondern vielmehr auf die Bewegung als solche. Über die Sommerferien scheint sich Fridays for Future als Organisation etabliert zu haben, was sich auf lexikalischer Ebene sowohl für das deutsche als auch für das spanische Teilkorpus daran festmachen lässt, dass die Bezeichnungen „Aktivisten“ (17) und „activista“ (18) für die FFF -Akteur: innen jeweils erst danach belegt sind. (17) Unangemeldete Blockaden hätten die Aktivisten schnell wieder aufgelöst. (FAZ, 21.09.19) (18) Las protestas, que se inspiran en la activista sueca Greta Thunberg, se han vuelto a extender por ciudades de medio mundo; (EL PAÍS, 28.09.19) 54 Diese Entwicklung scheint sich auch in der semantischen Füllung der jeweiligen Prädikate selbst abzubilden. Auch hier lässt sich z.B. in Bezug auf konkrete Tätig‐ keitsprädikate ein Unterschied zwischen den Realisierungen vor und nach den Sommerferien feststellen. Während die Protestaktionen der FFF -Akteur: innen zu Beginn der Protestbewegung noch als „auf die Straße gehen“-Szenarien ver‐ sprachlicht wurden ( FAZ , 18.01.19), wird später das Prädikat „demonstrierten“ verwendet ( FAZ , 21.09.19). Gerade weil die Akteur: innen, so könnte man argumentieren, nach und nach als gesellschaftspolitisch wirkmächtig wahrgenommen werden, werden sie nicht mehr als H AN D L U N G S T RÄG E R bzw. A C T O R E S D E LA A C C IÓN in den Ergebnissen der Korpusuntersuchung abgebildet. Denn parallel dazu entwickelt sich eine abstrakte Organisationsebene der Bewegung, die in den Berichterstattungen aufgegriffen wird. Dadurch gerät das methodische Vorgehen der vorliegenden Arbeit an seine Grenzen. Aufgrund der methodischen Entscheidungen des erläu‐ terten lexikalischen Filterschritts sowie der Fokussierung der Hauptsatzebene im Rahmen des Analyseschritts (vgl. Kap. 3.1) geraten einige Belege aus dem Blick, die den grundsätzlichen Ansatz der Hypothese stützen. 118 Maria Gallinat <?page no="119"?> 55 = Aber dieses Mal sind die Proteste über die Kids hinaus gegangen und haben vielerorts die Erwachsenen miteinbezogen […]. [freie Übersetzung, M.G] (19) Mit dem „Klimastreik“ wollte (Sub- Fridays for Future jekt) über die bisherigen freitäglichen Demonstrationen hinausgehen. (FAZ, 21.09.19) (20) (Sub- Der letzte globale Klimastreik, bei dem die Teilnehmer auf die Straße gingen jekt) , fand am 29. November 2019 statt. (FAZ, 25.09.20) Beleg (19) und (20) veranschaulichen, dass die Protestbewegung selbst (19) bzw. ihr zugehörige Abstrakta (20) nun zunehmend als Subjekte, d.h. -T RÄG E R versprachlicht werden. Diese Entwicklung zeichnet sich auch im spanischen Teilkorpus ab. (21) Pero en esta ocasión (sula protesta jeto) ha trascendido a los chicos y en muchos lugares ha sumado a los adultos […]. (EL PAÍS, 28.09.19) 55 Wie Beleg (21) zeigt, hat auch im spanischen Teilkorpus eine gewisse Abnabe‐ lung der Protestbewegung von den einzelnen Akteur: innen stattgefunden. Der zitierte Zeitungsartikel ( EL PAÍS , 28.09.19) ist deshalb besonders betroffen vom methodischen Filterschritt. Allein dieser Umstand spiegelt die Entwicklung der Protestbewegung sowie die Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Wahrneh‐ mung auf eine Art und Weise wider, die nicht in (analytische) Verbindung mit den konstatierten Thesen gebracht werden kann. 4 Fazit Der Aufsatz ist zu verstehen als eine kontrastive Anwendung der sig.-sem. Rollentheorie des Deutschen sowie als Momentaufnahme eines ersten sig.-sem. Zugangs zur Einzelsprache Spanisch. Die zentrale Hypothese des Aufsatzes hat sich weder für das deutsche noch für das spanische Teilkorpus bestätigt. Eine ikonische Abbildung der Wahrnehmung der FFF -Akteur: innen als (au‐ ßersprachlich) handelnde Subjekte in Form einer chronologischen Zunahme der sig.-sem. Rolle H AN D L U N G S T RÄG E R bzw. A C T O R D E LA A C C IÓN lässt sich im untersuchten Korpus nicht beobachten (Hypothese 2). Eine Veränderung der Wahrnehmung von Fridays for Future ließ sich dennoch anhand der konkreten sprachlichen Materialisierung sowohl für das EL PAÍS als auch für das FAZ -Teilkorpus nachweisen (Hypothese 1). Allerdings scheint das methodische Vorgehen dieses Aufsatzes nur partiell geeignet, diesen Wandel 119 Erst Schulschwänzer, dann Klimaaktivisten <?page no="120"?> von Wahrnehmung und Perspektivierung als Zusammenhang zwischen Außer‐ sprachlichem und Innersprachlichem darzulegen. Die Diskussion und Reflexion der Ergebnisse hat gezeigt, dass sehr wohl Tendenzen einer ikonischen Beziehung zwischen FFF -Akteur: innen und deren Versprachlichung bestehen. Nur ist diese komplexer als in der Hypothese des vorliegenden Aufsatzes formuliert. Außerwie innersprachlich zeigt sich näm‐ lich eine Emanzipation der Protestbewegung von ihren Anfängen selbst. Au‐ ßersprachlich ist sie buchstäblich den Kinderschuhen entwachsen, da mehr und mehr Erwachsenengruppen sich der Organisation anschließen; innersprachlich wird zunehmend die Bewegung selbst als -T RÄG E R / A C T O R wahrgenommen und perspektiviert. Gerade die Tatsache, dass sich diese Entwicklung in beiden Teilkorpora beobachten lässt, ist ein starker Hinweis auf den skizzierten Zu‐ sammenhang. Eine methodische Fokussierung auf die FFF-Akteur: innen greift daher zu kurz. Denn die Entwicklung des Sprechens über die FFF -Akteur: innen scheint untrennbar mit der Entwicklung des Sprechens über die Protestbewe‐ gung selbst verbunden. Korpus EL PAÍS, 22.02.19 = CAMBIO CLIMÁTICO. El #FridaysForFuture llega a Barcelona. 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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 148, S. 34. https: / / fazarchiv.faz.net/ document? id=RMO__FDA201906295746811#s tart (letzter Zugriff: 14.04.21) FAZ, 21.09.19 = Zehntausende demonstrieren für Klimaschutz. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 220, S. 37. https: / / fazarchiv.faz.net/ document? id=RMO__FDA201909215 814299#start (letzter Zugriff: 14.04.21) FAZ, 25.09.20 = „Kein Grad weiter! “: Fridays for Future kehrt zurück auf die Straße. Von Madeleine Brühl. https: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ inland/ zurueck-auf-die-strasse -fridays-for-future-ruft-zu-klimastreik-auf-16969238.html (letzter Zugriff: 06.04.2022) Literatur Ágel, Vilmos (2000). Valenztheorie (= Narr Studienbücher). Tübingen: Narr. Ágel, Vilmos (2015). Grammatik und Literatur: Grammatische Eigentlichkeit bei Kehl‐ mann, Timm, Liebmann, Handke, Strittmatter und Ruge. In: Brinker-von der Heyde, Claudia/ Kalwa, Nina/ Klug, Nina-Maria/ Reszke, Paul (Hrsg.). 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Das Handelsblatt berichtet über die Entwicklung der Bewegung in Spanien folgendermaßen: In Spanien dagegen wird die „Fridays for Future“-Bewegung gerade erst populär. Es begann vor zwei Monaten mit dem Protest von Studenten der Uni Girona und hat sich seit dem [sic! ] landesweit ausgedehnt. Nach Angaben der Madrider Sprecherin der Bewegung, Irene Rubiera, sind die spanischen Demonstranten aber älter als in anderen Ländern. Sie seien in der Regel Studenten und nicht mehr Schüler (Handelsblatt 2019). In der kognitiven Metapherntheorie nach Lakoff/ Johnson (1980) werden Meta‐ phern als alltägliches Phänomen betrachtet. Sowohl unsere Sprache als auch unser Denken und Handeln seien durch ein metaphorisches Konzeptsystem strukturiert (Lakoff/ Johnson 1980: 3). Aus Sicht der Theorie der Konzeptuellen Metapher untersucht der Beitrag daher, wie die Fridays For Future-Bewegung in der spanischen Presse konzeptualisiert wird. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die kognitive Metapherntheorie gegeben. Anschließend werden relevante Aspekte des Verstehens von Metaphern und ihrer Einbettung im Text vorgestellt. In einem weiteren Schritt wird die metaphorische Konzeptualisie‐ rung der FFF-Bewegung in der spanischen Presse anhand von Artikeln der spanischen Tageszeitungen El País und El Mundo analysiert. <?page no="126"?> 1 In der Weiterentwicklung der Theorie der konzeptuellen Metapher (CMT) lautet die Definition: „A conceptual metaphor is understanding one domain of experience (that is typically abstract) in terms of another (that is typically concrete)“ (Kövecses 2017: 13), wobei domain (nach Forcevilles Definition von Frame) definiert wird als „a coherent organization of human experience“ (Kövecses 2017: 24). 2 Um die Unterscheidung zwischen konzeptuellen und sprachlichen Metaphern zu erleichtern, werden konzeptuelle Metaphern in Kapitälchen oder in Großbuchstaben geschrieben (Kövecses 2010: 4). 2 Metaphern 2.1 Kognitive Metapherntheorie Metaphern sind ein „sprachwissenschaftlicher Gegenstand von großer Kom‐ plexität“ (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 2) und seit der Antike Gegenstand verschiedener Theorien und Überlegungen von der Substitutionsbzw. Ver‐ gleichstheorie (Aristoteles, Quintilian) der klassischen Rhetorik, über die Interaktionstheorie nach Richards (1936) und Black (1954) (nach Groeben/ Christmann 2003: 654), die Bildfeldtheorie (Weinrich 1958) zur konzeptuellen Metapherntheorie (Lakoff/ Johnson 1980, 1999; Lakoff 1993), welche seit dem Erscheinen von Metaphors We Live By (Lakoff/ Johnson 1980) stets weiterent‐ wickelt und ergänzt wurde (z.B. durch neuere Theorien wie dem Conceptual Blending (Fauconnier/ Turner 2002); für einen Überblick über die Forschung zu Metaphern s. Liebert 2009, zur Theorie konzeptueller Metaphern s. Kövecses 2017). Skirl/ Schwarz-Friesel (2013) definieren die Metapher aus linguistischer Sicht als: […] eine besondere Form des nicht-wörtlichen Gebrauchs eines Ausdrucks in einer bestimmten Kommunikationssituation. Dabei stehen der Gegenstand, der durch die lexikalische Bedeutung des Ausdrucks erfasst wird, und der Gegenstand, auf den sich der Ausdruck bei metaphorischer Verwendung bezieht, (im Normalfall) in einer spezifischen Ähnlichkeits- oder Analogiebeziehung (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 4). Lakoff/ Johnson definieren die Metapher aus Sicht der holistischen kognitiven Linguistik folgendermaßen: „The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another“ (Lakoff/ Johnson 1980: 5). 1 Gemäß der Theorie der konzeptuellen Metapher (auch CMT, „conceptual metaphor theory“) stellen metaphorische Ausdrücke (auch sprachliche oder linguistische Metaphern) wie (1) oder (2), die in der Alltagssprache vorgefunden werden können, eine sprachliche Realisierung der zugrundeliegenden konzep‐ tuellen Metaphern bzw. des zugrundeliegenden Metaphernkonzepts (in diesem Fall TIM E I S M O N E Y2 ) dar: 126 Katharina Dziuk Lameira <?page no="127"?> (1) „You’re wasting my time“ (Lakoff/ Johnson 1980: 7). (2) „That flat tire cost me an hour“ (Lakoff/ Johnson 1980: 8). Dabei behauptet die CMT jedoch nicht, dass jeder sprachlichen Metapher eine konzeptuelle Metapher zugrunde liegt (Kövecses 2017: 14). Konzeptuelle Meta‐ phern verbinden zwei konzeptuelle Domänen, indem ein mapping, also eine Menge systematischer Übereinstimmungen zwischen dem Ursprungsbereich (source domain, span. dominio fuente) und dem Zielbereich (target domain, span. dominio meta) hergestellt wird (Kövecses 2017: 14). In den Beispielen (1) und (2) nach Lakoff/ Johnson wäre M O N E Y der Ursprungsbereich und TIM E der Zielbereich. Auf sprachlicher Ebene wird also die konzeptuelle Domäne Z E IT durch Ausdrücke beschrieben, die sich bei nichtmetaphorischer Verwendung auf den konzeptuellen Bereich G E L D beziehen. Während bei Lakoff/ Johnson (1980) die sprachlichen Beispiele für die von ihnen postulierten Metaphernkonzepte noch auf der Intuition der Autoren ba‐ sieren, versuchen nachfolgende Arbeiten die konzeptuellen Metaphern anhand von Korpusanalysen nachzuweisen (z.B. Kövecses 1990, Baldauf 1997). Die meisten konzeptuellen Metaphern und ihre sprachlichen Realisierungen sind laut CMT Teil des mentalen Lexikons von Muttersprachlern (Kövecses 2017: 14). Die konzeptuelle Metapherntheorie geht davon aus, dass im Normalfall abstrakte konzeptuelle Domänen mittels physisch erfahrbarer konkreter Do‐ mänen konzeptualisiert werden. Die umgekehrte Konzeptualisierungsrichtung gilt als markiert und als Fall von besonderem poetisch-ästhetischem Gebrauch (Kövecses 2017: 16). Skirl/ Schwarz-Friesel (2013) definieren Konzeptualisierung als „de[n] grundlegende[n] Prozess der Bildung von geistigen, intern gespei‐ cherten Repräsentationen“, dessen „Resultat […] die geistige Vorstellung“ ist, „die wir uns von etwas gemacht haben“ (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 8). Skirl/ Schwarz-Friesel stellen das Metaphernverstehen folgendermaßen dar: Eine Metapher der Form X ist ein Y wird verstanden wie K O N Z E P T1 I S T WI E K O N Z E P T2 B E ZÜG LI C H D E R M E R KMAL E Z (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 9). Nach Gibbs (1994: 116-118) besteht das Sprachverstehen aus vier Teilen, die ein temporales Kontinuum darstellen (Gibbs 1994: 116): ● Verstehen (comprehension) als Prozess, in welchem Rezipienten die Be‐ deutung einer Äußerung oder die Intention eines Sprechers verstehen (Gibbs 1994: 116). Dieser Prozess läuft unbewusst und sehr schnell ab und unterscheidet sich im Fall von Metaphern nicht vom Verstehen wörtlicher Bedeutung; 127 Metaphern in der Berichterstattung über FFF in der spanischen Presse <?page no="128"?> 3 Mit kontextueller Bedeutung ist hier mit Steen et al. (2010: 33) die Bedeutung eines metaphorischen Ausdrucks in seiner konkreten Verwendungssituation gemeint. ● Erkennen (recognition) als bewusste Identifikation von Verstehenspro‐ dukten als „types“; so wird die Bedeutung einer bestimmten Äußerung als metaphorisch erkannt; ● Interpretation (interpretation): im Fall von Metaphern das bewusste Er‐ kennen von Ähnlichkeiten zwischen Ziel- und Ursprungsbereich sowie ● Wertschätzung (appreciation), welche sich auf die ästhetische Bewertung des Verstehensprodukts bezieht. Dabei ist laut Gibbs nur der erste Schritt des Verstehens obligatorisch, während alle weiteren Schritte fakultativ sind (Gibbs 1994: 116-118). 2.2 Metaphern im Text Semino (2008) nennt acht Phänomene des Vorkommens von Metaphern in Texten bzw. Muster, die diese in Texten bilden („the patterning of metaphors in discourse“, Semino 2008: 22): ● Wiederholung (repetition): Eine metaphorisch verwendete lexikalische Ein‐ heit wird im Text wiederholt. Dabei müssen nicht immer die gleichen kontextuellen 3 Bedeutungen vorliegen, sondern den verschiedenen lingu‐ istischen Metaphern im Text können unterschiedliche konzeptuelle Meta‐ phern zugrunde liegen (Semino 2008: 22f.). ● Rekurrenz (recurrence): Metaphorische Ausdrücke im Text beziehen sich auf denselben Ursprungsbereich (Semino 2008: 23). ● Cluster (clustering): In einem Textabschnitt kommen ungewöhnlich (bzw. überdurchschnittlich) viele Metaphern vor, die zu unterschiedlichen Ur‐ sprungsbereichen gehören (Semino 2008: 24). ● Erweiterung (extension): ein besonderer Typ des Clusters, bei dem mehrere sprachliche Metaphern, die demselben semantischen Feld oder demselben Ursprungsbereich angehören, in unmittelbarer Nähe auf den gleichen Ziel‐ bereich angewendet werden (Semino 2008: 25). Die Definitionen können variieren: Für Semino (2008) liegt eine erweiterte Metapher vor, wenn sich mindestens zwei sprachliche Metaphern auf die gleiche Konzeptkom‐ bination beziehen (Semino 2008: 25). Skirl/ Schwarz-Friesel (2013) nennen den Fall, dass eine Konzeptkombination über mehrere Sätze hinweg durch verschiedene lexikalische Items realisiert wird fortgeführte Metapher oder Metaphernkomplex (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 65f.). Der Unterschied zwi‐ schen einer Rekurrenz und einer Erweiterung liegt laut Semino in ihrem 128 Katharina Dziuk Lameira <?page no="129"?> 4 Nach Skirl/ Schwarz-Friesel sind kreative Metaphern metaphorische Ausdrücke, die neu erscheinen, jedoch nur eine linguistische Variation einer konventionellen Konzept‐ kombination darstellen, z.B. im Fall von „Geldbächlein“ als kreative Variation der konzeptuellen Kombination G E L D A L S W A S S E R , die sich in der lexikalisierten Metapher „Geldquelle“ nachweisen lässt (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 30). Innovative Metaphern hingegen, stellen eine neue Konzeptkombination dar, z.B. „Geldhaar“ oder „Finanz‐ fussel“ (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 30). Abstand innerhalb eines Textes. Dabei ist ein größerer Abstand eher der Rekurrenz zuzuordnen und ein geringerer der Erweiterung. Die Grenzen zwischen den Phänomenen sind schwer zu ziehen und die beiden Phäno‐ mene können sich überschneiden (Semino 2008: 30). ● Kombination und Mischung (combination and mixing): Metaphorische Ausdrücke, denen unterschiedliche Ursprungsbereiche zugrunde liegen, können auf unterschiedliche Weise im Text interagieren. Sie können kom‐ biniert werden und so ein komplexes metaphorisches Szenario hervorrufen oder aber auch nicht zusammenpassen. Metaphorische Äußerungen, die nicht harmonieren, werden auch gemischte Metaphern genannt (mixed metaphor, Semino 2008: 27). ● Wörtlich-metaphorische Oppositionen (literal-metaphorical oppositions): Die metaphorische und wörtliche Grundbedeutung werden gleichzeitig evoziert (Semino 2008: 27). ● Signalisierung (signalling): Metaphern können durch den Kotext, also die sprachliche Umgebung, angezeigt werden (Semino 2008: 27f.). ● Intertextuelle Bezüge (intertextual relations): Besonders auffällige oder kontroverse Metaphern können in anderen Texten wiederaufgenommen werden und dort ablehnend oder zustimmend behandelt werden. Eine Metapher kann auch im Zusammenhang mit einem bestimmten Thema in verschiedenen Texten immer wieder verwendet werden (Semino 2008: 28f.). Kommen kreative oder innovative Metaphern 4 (oder im Fall von Fremdspra‐ chenlernenden, subjektiv-innovative Metaphern, s. Koch 2013: 257) isoliert in einem Text vor, sind also nicht Teil einer fortgeführten Metapher, kann ihre Interpretation erschwert sein. Durch den Kotext können Autoren und Auto‐ rinnen jedoch Hinweise auf eine bestimmte Lesart geben (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 69f.). Nach Skirl (2009) werden zwei Formen der Kotextualisierung un‐ terschieden. Zum einen die determinierende Kotextualisierung, die auf einer expliziten Nennung der Metaphernbedeutung im Kotext beruht. Zum anderen die restringierende Kotextualisierung, welche eine bestimmte Interpretation nahelegt, ohne die Bedeutung explizit im Text zu nennen (Skirl 2009: 163). 129 Metaphern in der Berichterstattung über FFF in der spanischen Presse <?page no="130"?> Weitere Strategien zur Erleichterung der Metaphernidentifikation oder zur Absicherung des Metaphernverständnisses sind die Einführung einer neuen Metapher mittels eines Vergleichs, die Verwendung expliziter sprachlicher Hinweise wie bildlich gesprochen oder im übertragenen Sinne, von Zusätzen wie gewissermaßen, so eine Art oder sozusagen oder das Hervorheben von metaphorischen Ausdrücken mit grafischen Mitteln wie der Kursivschrift oder Anführungszeichen. Durch das Hinzufügen eines Attributs kann ebenfalls auf die richtige Lesart der Metapher hingewiesen werden (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 53f.). Der Kotext kann darüber hinaus dazu beitragen, Lesenden die metaphorische Motiviertheit lexikalisierter Metaphern, die nicht mehr als Metaphern wahrge‐ nommen werden, wieder ins Bewusstsein zu rufen. In diesem Fall spricht man von Remetaphorisierung oder Remotivierung (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 29). 3 Die metaphorische Konzeptualisierung der Fridays For Future-Bewegung in El País und El Mundo Im Folgenden wird die metaphorische Konzeptualisierung der FFF-Bewegung in der spanischen Presse anhand von Artikeln der spanischen Tageszeitungen El País und El Mundo analysiert. Zu diesem Zweck werden zunächst Aspekte der Verwendung von Metaphern in der Pressesprache vorgestellt (Kap. 3.1). Anschließend werden die Kriterien für die Korpuserstellung und die Auswahl der Metaphern beschrieben (Kap. 3.2). In Kapitel 3.3 werden schließlich die Ergebnisse der Metaphernanalyse präsentiert. 3.1 Metaphern in der Pressesprache Lüger unterscheidet nach dem zugrundeliegenden Intentionstyp fünf journalis‐ tische Textklassen: informationsbetonte Texte (Lüger 1995: 66), meinungsbetonte Texte (Lüger 1995: 67), auffordernde Texte (Lüger 1995: 70), instruierend-anwei‐ sende Texte (Lüger 1995: 71) sowie kontaktorientierte Texte (Lüger 1995: 72). Die hier analysierten Texte sind vor allem den informationsbetonten und meinungsbetonten Texten zuzuordnen. Zu den informationsbetonten Texten zählt Lüger Meldungen, harte Nachrichten (hard news), weiche Nachrichten (soft news), Berichte, Reportagen, Problemdarstellungen und weitere Textsorten wie Wetterberichte (Lüger 1995: 89-125). Zu den meinungsbetonten Texten gehören laut Lüger die Textsorten Kommentar, Glosse, Kritik und Meinungsinterview (Lüger 1995: 125-144). Laut Brandstetter (2009: 43), die Metaphern in der Europa-Berichterstattung französischer und deutscher Tageszeitungen und ihre Funktionen im Text 130 Katharina Dziuk Lameira <?page no="131"?> untersucht, ist aufgrund des Zeitdrucks, unter dem Journalisten beim Verfassen von Artikeln stehen, davon auszugehen, dass sie eher konventionelle Metaphern verwenden. Darüber hinaus orientieren sich Journalisten beim Schreiben oft an den Vorlagen von Nachrichtenagenturen und Pressestellen (Brandstetter 2009: 44). Des Weiteren würden Metaphern in „meinungsbetonten Texten wie Kom‐ mentar oder Leitartikel […] sehr viel häufiger“ verwendet als in „berichtenden Artikeln“ (Brandstetter 2009: 75). Laut Skirl/ Schwarz-Friesel sind die wichtigsten kommunikativen Funktionen von Metaphern die „Förderung von Erkenntnis im Sinne der Explikation und Perspektivierung“ (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 61), indem durch Metaphern abstrakte Bereiche konkretisiert oder exemplifiziert werden, die „Persuasion, womit das intentional rezipientenbeeinflussende Überzeugen oder Überreden“ gemeint ist (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 62), die positive oder negative Evalua‐ tion, also die „Vermittlung von Werturteilen“ (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 63) sowie die Emotionalisierung, zu der es kommt, wenn positive oder negative Eva‐ luationen von Rezipienten geteilt werden und „bei ihnen ähnliche Emotionen auslösen“ (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013: 63). Darüber hinaus können Metaphern in der Pressesprache auch eine unterhaltende Funktion haben (vgl. Osthus 1998) oder als Aufhänger in Überschriften lesemotivierend (Reger 1977: 278) wirken. 3.2 Methode Für die Korpuserstellung wurden die Internetarchive der beiden auflagen‐ stärksten spanischen Tageszeitungen El País und El Mundo mithilfe des Such‐ begriffs „Fridays for Future“ durchsucht. Anschließend wurden die 30 Artikel aus dem Jahr 2019 mit der höchsten Übereinstimmung mit dem Suchbegriff für die Analyse ausgewählt. Die Metaphernidentifikation konzentrierte sich auf Metaphern, deren Zielbereiche die F F F - B E W E G U N G oder einzelne AK TIVI S TIN N E N oder AK TIVI S T E N der Bewegung sind. Die Zielbereiche F F F - D E M O N S T R ATI O N ( E N ) und andere K LIMA - B E W E G U N G E N waren davon teilweise nicht klar abzugrenzen und wurden in Zweifelsfällen ebenfalls bei der Analyse berücksichtigt. Im Gegensatz zur systematischen Analyse konzeptueller Metaphern stehen in diesem Beitrag die einzelnen metaphorischen Ausdrücke und ihre textuelle Einbettung im Vordergrund. Dabei werden für jeden metaphorischen Ausdruck auch mögliche Ursprungs- und Zielbereiche bzw. konzeptuelle Metaphern formuliert und in Kapitälchen dargestellt. Jedoch wird nicht davon ausgegangen, dass die formu‐ lierten Metaphernkonzepte ein stabiles Konzept in der Sprechergemeinschaft darstellen. 131 Metaphern in der Berichterstattung über FFF in der spanischen Presse <?page no="132"?> 3.3 Die metaphorische Konzeptualisierung einer wachsenden Bewegung Die Metaphern, mit denen die FFF-Bewegung beschrieben wird, wandeln sich im Laufe des Jahres 2019 und spiegeln damit die Entwicklung der Bewegung in Spanien wider. Während im Februar 2019 noch über FFF als Phänomen im Aus‐ land und über die Demonstrationen in Ländern wie Deutschland, Schweden oder Belgien berichtet wird, nimmt die spanische FFF-Bewegung an der Universität Girona ihren Anfang, gefolgt von Streiks in Barcelona, Madrid und Valencia. Zu dieser Zeit zählen die Streiks in Spanien noch nicht viele Teilnehmende. Die FFF-Bewegung wird im Sinne einer F LÜ S S I G K E IT , die langsam von außen nach Spanien eindringt bzw. die gesellschaftlichen Schichten durchdringt, konzeptualisiert (s. (3) „calar“, ‚durchdringen‘): (3) […] estas concentraciones, que no terminan de calar en España con la misma intensidad que en otros países europeos como Bélgica o Alemania, que han vivido varias multitudinarias manifestaciones (El País, 01.03.2019). Auch Ende September 2019 wird die FFF-Bewegung als „importiert“ bezeichnet (4), also als ein Phänomen, das aus dem Ausland nach Spanien gebracht wurde: (4) […] los amigos que importaron el movimiento de Greta a España (El País, 22.09.2019). In einem Artikel in El País wird die Bewegung Anfang März als O B J E K T konzep‐ tualisiert und als ‚zerstreut‘ charakterisiert (5). Eine erste Demonstration wird als ‚kraft- oder gehaltlos‘ („de manera descafeinada“) beschrieben (6): (5) Este movimiento de protesta ha llegado a España de momento disgregado y sin movilizaciones masivas (El País, 01.03.2019). (6) La concentración ha comenzado a las 12.30 con pocos asistentes y de manera descafeinada, pero a lo largo de la hora y media que ha durado se han sumado más personas (El País, 01.03.2019). Mit dem ersten internationalen Streik am 15. März schließlich protestieren auch in Spanien Zehntausende und die Verbreitungsgeschwindigkeit der Bewegung wird mit einem Lauffeuer („como pólvora“, wörtl. ‚wie (Schieß)pulver‘) vergli‐ chen (7): 132 Katharina Dziuk Lameira <?page no="133"?> (7) "Viernes para el futuro" o #FridaysForFuture, la etiqueta en inglés con la que la protesta se ha extendido como pólvora, primero en las redes sociales y luego en las calles de decenas de ciudades de todo el mundo (El País, 11.03.2019). Zur Konzeptualisierung der FFF-Bewegung bzw. der Proteste oder der Akti‐ vist: innen (insbesondere Greta Thunberg) dienen im Analysekorpus die Quell‐ bereiche K R I E G / KAM P F , F E U E R , WA S S E R , P F LANZ E N , O R KAN S T U R M , E R D B E B E N , S C HI F F , S P O R T , R E B E L LI O N und F AMILI E . Insbesondere die sprachlichen Metaphern des Ursprungsbereichs K R I E G / KAM P F , P F LANZ E oder E R D B E B E N wiederholen sich, sodass im Folgenden nur exemplarisch Belege aufgelistet werden. Der am häufigsten verwendete Quellbereich ist der konzeptuelle Bereich K R I E G / KAM P F (Belege (8)-(12)), der sprachlich durch Metaphern wie lucha, combatir (8), pertrechados (9), bastión (10), compañero…de batallas (11) oder capitaneadas (12) realisiert wird: (8) […] desde la plataforma Fridays for Future Castelló (FFF) se han organizado para que la capital de la Plana sea una más de las ciudades de todo el mundo en la que la lucha por combatir el cambio climático esté presente […] (El Mundo, 30.04.2019). (9) Las calles de Berlín volvieron a llenarse de jóvenes dando gritos y pertre‐ chados con ocurrentes pancartas (El País, 15.03.2019). (10) El bastión de la representación mexicana del movimiento son los estudiantes de universidades y escuelas privadas, […] (El País, 20.09.2019). (11) […] compañero de clase y de batallas climáticas […] (El País, 22.09.2019). (12) […] por las protestas de los alumnos de los “Fridays for Future” capitaneadas por Greta Thunberg […] (El País, 06.11.2019). Ein weiterer Ursprungsbereich ist der konzeptuelle Bereich WA S S E R . Dabei werden die Demonstrationen mithilfe der konventionellen Metaphern oleada (13), ola (14) und (15) sowie marea (16) als Welle oder Flut bezeichnet. (13) […] Martín-Sosa, que considera que la oleada de protestas multitudinarias son el resultado natural de dos elementos (El Mundo, 06.12.2019d). (14) De la calle a la política: la ‘ola verde’ toma Europa (El Mundo, 27.05.2019). (15) A medida que la ola verde iba tiñendo el globo […] (El País, 22.09.2019). (16) […] la marea verde exhibe su capacidad de movilización en tiempo récord (El País, 22.09.2019). 133 Metaphern in der Berichterstattung über FFF in der spanischen Presse <?page no="134"?> Durch die Konzeptualisierung der Demonstrationen bzw. der Protestbewegung als Wassermasse könnten die Rezipienten Merkmale wie V O N G R O S S E M A U S MA S S , P LÖT Z LI C H , U NA U F HAL T S AM oder WI E D E R H O L T AU F T R E T E N D inferieren. Eine mögliche negative Wertung im Sinne der Merkmale Z E R S TÖR E R I S C H wird durch den Kotext jedoch nicht nahegelegt, sondern die Verbreitungsgeschwindigkeit und Macht der Bewegung wird betont (Beleg (16), „su capacidad de movilización en tiempo récord“). Die Belege (14), (15) und (16) zeigen eine Kombination dieser Metapher mit der politischen Farbsymbolik, indem die W E L L E oder F L U T durch das Merkmal G RÜN , was im Sinne von ‚ökologisch‘ verstanden wird. In Beleg (15) wird zusätzlich das Verb teñir im Sinne von ‚eine politische Einstellung übernehmen‘ verwendet, wobei die ola verde das FÄR B E MITT E L darstellt. Bei den Belegen (15) und (16) handelt es sich um Metaphern aus demselben Zeitungsartikel, die sich auf den gleichen Ursprungsbereich beziehen. Aufgrund des großen Abstands der beiden sprachlichen Metaphern handelt es sich nach Semino (2008: 23) um eine Rekurrenz. Beleg (17) könnte sowohl dem Ursprungsbereich WA S S E R als auch dem Ursprungsbereich P F LANZ E N zugeordnet werden. In diesem Fall liefert der Kotext keine Hinweise auf den Ursprungsbereich, jedoch können in beiden Fällen Merkmale wie E IN E N U R S P R U N G IM IN N E R E N HA B E N oder B E G IN N E N inferiert werden. (17) La protesta del 15-M Climático brota en Valencia (El País, 15.03.2019c). Beleg (18) und (19) stellen Realisierungen der Metapher F F F I S T E IN E P F LANZ E dar: (18) […] lanzó a través de Instagram las semillas de una movilización en este municipio de unos 36.000 habitantes […] (El País, 22.09.2019). (19) […] Marta, Marina y Martina, que superaron el listón de los 20 años y aprove‐ charon la relativa libertad para diseminar las semillas en los institutos: «… los movimientos estudiantiles han sido el germen de muchos cambios a lo largo de la historia» (El Mundo, 16.10.2019). In Beleg (19) wird das Metaphernkonzept F F F AL S P F LANZ E von den interviewten Aktivistinnen übernommen. Dabei wird es auf sprachlicher Ebene anders realisiert („diseminar las semillas“) als im Zitat („el germen“) und diesem direkt vorangestellt. Die Belege (20), (21) und (22) weisen den Ursprungsbereich F E U E R auf: 134 Katharina Dziuk Lameira <?page no="135"?> (20) GRETA, LA CHISPA QUE ENCENDIÓ LAS PROTESTAS (El Mundo, 27.09.2019). (21) Según la portavoz de Rebelión por el clima, la chispa que ha encendido la participación masiva en distintos países ha sido Greta Thunberg, […] (El Mundo, 27.09.2019). (22) […] uno de los jóvenes que prendió la mecha de este movimiento ecologista en España desde la ciudad de Girona (El Mundo, 15.03.2019b). Auch Beleg (20) ist ein Beispiel für eine Metapher, die von einer interviewten Aktivistin übernommen wurde und als Aufhänger und in einer Zwischenüber‐ schrift genutzt wurde. Diese wird im Verlauf des Artikels im Zitat einer Aktivistin in der gleichen sprachlichen Form wieder genannt (Beleg (21)). In den folgenden Belegen werden die Demonstrationen als E R D B E B E N konzep‐ tualisiert und in Form der Metaphern epicentro (23) und sacudido (24) sprachlich realisiert: (23) La concentración de este 15-M verde ha tenido como epicentro en Castellón la plaza de la Independencia (El País, 15.03.2019c). (24) Multitudinarias manifestaciones, con especial participación de jóvenes y estu‐ diantes, han sacudido durante este viernes varias ciudades del planeta en protesta por el cambio climático (El Mundo, 20.09.2019b). Für die Quellbereiche O R KAN S T U R M , E R D B E B E N , S C HI F F , S P O R T , R E B E L LI O N und F AMILI E wurden jeweils nur einzelne Belege im Korpus gefunden: (25) El huracán Greta llegó a Colombia para sumar fuerzas, […] (El País, 22.09.2019). (26) En otros puntos de España, el desembarco del movimiento ha sido tan reciente que ha limitado el número de participantes e incluso de convocatorias por falta de organizadores suficientes (El Mundo, 15.03.2019b). (27) Anna Taylor, 17 años, cofundadora de YouthStike4Climate [sic! ], recogiendo el testigo de la activista Greta Thunberg (El Mundo, 15.03.2019b). (28) Amor y odio por Greta Thunberg: la 'lideresa' de la rebelión climática (El Mundo, 21.09.2019). (29) […] movimientos hermanos, como Rebelión, Extinción o Ecologistas en Acción (El País, 16.09.2019). Dabei bezieht sich Beleg (25) auf die Konzeptkombination F F F I S T E IN O R KAN S T U R M , Beleg (26) konzeptualisiert F F F AL S S C HI F F , in Beleg (27) wird das Weiterführen der 135 Metaphern in der Berichterstattung über FFF in der spanischen Presse <?page no="136"?> Protestbewegung als S TA F F E L LA U F konzeptualisiert, Beleg (28) stellt F F F AL S R E B E L ‐ LI O N und G R E TA TH U N B E R G AL S R E B E L LI O N S AN FÜH R E R IN dar und Beleg (29) schließlich konzeptualisiert das Verhältnis der verschiedenen Umweltprotestbewegungen zueinander im Sinne einer V E R WAN D T S C HA F T . 3.4 Die Eigennamenmetapher Greta Laut Ewald (2014) weisen Namenmetaphern im Vergleich zu appellativischen Metaphern sowohl auf konzeptueller als auch auf sprachlicher Ebene Besonder‐ heiten auf (zu den Besonderheiten von Namenmetaphern siehe Thurmair 2002 und Ewald 2014). So bilden im Gegensatz zu Appellativ-Metaphern, bei denen der Ursprungsbereich ein Klassen-Konzept ist, welches „auf ein Klassen- oder ein Individuen-Konzept im Zielbereich projiziert wird“, im Fall von Namenme‐ taphern Individuen-Konzepte den Ursprungsbereich (Ewald 2014: 200): Namenmetaphern heben sich von Appellativmetaphern grundsätzlich durch Nutzung von Individuen-Konzepten (im Ursprungsbereich) sowie durch ihre damit verbundene Weltwissensbasiertheit ab. (Ewald 2014: 212) Im Unterschied zu Appellativmetaphern sind die Rezipienten bei der Interpre‐ tation von Namenmetaphern allein auf ihr Weltwissen über Ursprungs- und Zielbereich angewiesen (Ewald 2014: 205f.): Bei der Interpretation von Namenmetaphern ist der Rezipient dagegen […] allein auf sein Weltwissen angewiesen. Der Interpretationsprozess gestaltet sich hier in‐ sofern komplexer, als das Individuen-Konzept des Ursprungsbereichs zunächst in ein Klassen-Konzept überführt werden muss: Der Rezipient hat zum einen sein Wissen über den Namenträger zu aktivieren und zum anderen herauszufinden, für welche Kategorie von Referenten dieser ein besonders guter Vertreter ist, für welche Kategorie er daher stehen könnte (Ewald 2014: 205). Im Korpus findet sich mehrmals die metaphorische Verwendung des Eigenna‐ mens Greta (Belege (30)-(34)), auf die im Folgenden näher eingegangen wird. (30) […] Martina Dono, Marina Pascual y Marta Cifre, algo así con [sic! ] las Gretas mallorquinas, impulsoras locales del movimiento Fridays for Future (El Mundo, 16.10.2019). (31) [..] Luisa Neubauer, algo así como la Greta alemana (El País, 03.08.2019). (32) Los ‘gretas’ que despiertan la conciencia en África (El País, 22.11.2019). (33) Licypriya Kangujam y Vanessa Nakate, las ‘Gretas’ del sur (Titel, El País, 06.12.2019). 136 Katharina Dziuk Lameira <?page no="137"?> (34) Son las otras Gretas, dos jóvenes activistas de los países del sur tan concien‐ ciadas por la lucha contra el cambio climático como la adolescente sueca (El País, 06.12.2019, Kursivierung im Original). Der Gebrauch von Anführungszeichen (Belege (32) und (33)), die Kursivierung (Beleg (34)) sowie die Formulierungen „algo así como“ (Belege (30) und (31)) dienen als Metaphernmarker, die auf die metaphorische Verwendung des Ei‐ gennamens Greta hindeuten. Es finden sich sowohl Belege für einen Gebrauch im Singular (31) als auch Belege mit Plural -s, welche sich auf mehrere Akti‐ vist: innen beziehen ((30), (32), (33) und (34)). Im analysierten Korpus findet sich auch ein Beispiel, das sich sowohl auf weibliche als auch auf männliche Refe‐ renten bezieht („Los ‚gretas‘“, (32)). Die Attribute („mallorquinas“, „alemana“, „del sur“) beziehen sich nicht auf den Ursprungsbereich G R E TA , sondern auf den Zielbereich und wirken somit in Zusammenspiel mit dem metaphorisch gebrauchten Eigennamen Greta konterdeterminierend (vgl. Ewald 2014: 204). Der Kotext der Metaphern weist darauf hin, dass die Greta-Metapher im untersuchten Korpus im Sinne von AK TIVI S TIN O D E R AK TIVI S T , DI E O D E R D E R E IN E K LIMA B E W E G U N G INITII E R T O D E R AN FÜH R T verstanden wird. Die Indizierung durch Anführungszeichen sowie die Erklärungen im Text deuten darauf hin, dass es sich nicht um eine konventionalisierte Metapher handelt, sondern um einen „metaphorisch ad-hoc“ gebrauchten Namen (Thurmair 2002: 15f.). Eine erste Internetrecherche zeigt, dass die Greta-Metapher in anderen Sprachen auch andere Bedeutungen haben kann. So bezieht sie sich in einem Artikel der französischsprachigen Schweizer Tageszeitung 24 heures auf ein junges Mädchen, das sich für einen Spielplatz in ihrem Wohnviertel einsetzt (24 heures, 2021). In diesem Fall entfallen also die Merkmale AN FÜH R E N O D E R AN FÜH R E R IN E IN E R B E W E G U N G und U MW E L T S C H U T Z und es können die Merkmale J U N G E S MÄD C H E N und E N G A G I E R T inferiert werden. Laut Ewald treten nicht konventionalisierte Namen häufig in Überschriften auf (Ewald 2014: 210). Dies ist auch bei den Belegen (32) und (33) der Fall. 4 Fazit Die Ergebnisse der Metaphernanalyse in der Berichterstattung über die FFF-Be‐ wegung in der spanischen Presse spiegeln die Entwicklung der Bewegung in Spanien wider. Während die Proteste in Spanien Anfang März 2019 noch nicht das Ausmaß der Proteste in anderen Ländern erreicht haben und FFF eher als Phänomen im Ausland wahrgenommen wird, werden ab dem 15. März 2019 137 Metaphern in der Berichterstattung über FFF in der spanischen Presse <?page no="138"?> vor allem Metaphern verwendet, die die schnelle Verbreitung und Macht der Bewegung verdeutlichen. Als Quellbereiche der FFF-Metaphern wurden im untersuchten Korpus die Bereiche K R I E G / KAM P F , F E U E R , WA S S E R , P F LANZ E N , O R KAN S T U R M , E R D B E B E N , S C HI F F , S P O R T , R E B E L LI O N und F AMILI E identifiziert. Trotz der verwendeten Quellbereiche deutet der Kotext der Metaphern eher auf eine neutrale bis positive Wertung hin. Mögliche negative Evaluationen durch die Konzeptualisierung als Naturphäno‐ mene wie O R KAN oder F L U TW E L L E werden durch den Kotext nicht nahegelegt. Eine häufige Kritik an der Theorie der konzeptuellen Metapher nach Lakoff/ Johnson (1980) ist, dass sie nicht festlegen, wie die konzeptuellen Metaphern zu den sprachlichen metaphorischen Ausdrücken formuliert werden. Laut Skirl geben Lakoff/ Johnson „keine Regeln für die Festlegung des Abstraktionsgrades für konzeptuelle Metaphern an, sondern postulieren diese Abstraktionen nach Gutdünken“ (Skirl 2009: 68). Daher stellt die Formulierung der Herkunftsbe‐ reiche eine überwiegend interpretative Arbeit dar. So könnten die Belege für die Ursprungsbereiche R E B E L LI O N , S C HI F F und F E U E R teilweise auch zum Ursprungsbereich K R I E G / KAM P F gezählt werden oder die Ursprungsbereiche O R KAN S T U R M und E R D B E B E N könnten zu einem übergeordneten Ursprungsbereich NAT U R KATA S T R O P H E N zusammengefasst werden. Für diese Arbeit wurde ein nied‐ rigerer Abstraktionsgrad für die Formulierung der konzeptuellen Metaphern gewählt, um die Ergebnisse transparenter darzustellen und somit für mögliche weitere Studien zur metaphorischen Konzeptualisierung der FFF-Bewegung vergleichbarer zu machen. Bei der Mehrzahl der gefundenen Metaphern handelt es sich um konventio‐ nelle Metaphern, deren metaphorische Bedeutung im Wörterbuch aufgeführt ist. Bei der metaphorischen Nutzung des Eigennamens Greta handelt es sich um eine neue Metapher, die auch als solche in den analysierten Texten kenntlich gemacht wird. Es ist davon auszugehen, dass die Greta-Metapher auch in an‐ deren Sprachen genutzt wird. Eine erste Internetrecherche zeigt, dass sie dabei auf Französisch bereits losgelöst vom Kontext der Klimabewegung verwendet wird. Weitere Studien müssen zeigen, inwieweit die Greta-Metapher in Zukunft in anderen Sprachen und Kontexten Verwendung findet und ob sie sich zu einer konventionellen Metapher entwickeln wird. 138 Katharina Dziuk Lameira <?page no="139"?> Literatur Baldauf, Christa (1997). Metaphern und Kognition: Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetapher. Frankfurt am Main: Lang. Black, Max (1954). Die Metapher. In: Haverkamp, Anselm (Hrsg.) (1996). Theorie der Metapher. 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Stuttgart: Klett. 140 Katharina Dziuk Lameira <?page no="141"?> „Frech, respektlos, Kind reicher Eltern“: Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien am Beispiel der Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer Kristina Bedijs (Hannover) 1 Einführung: Hate Speech in sozialen Medien und Misogynie Toxisches Verhalten in sozialen Medien nimmt in den letzten Jahren immer mehr zu, wird aber auch verstärkt in der soziologischen und linguistischen Forschung in den Blick genommen, um verschiedene Phänomene von Grenzüberschrei‐ tungen im Internet zu verstehen und für das betroffene Individuum wie für die Gesellschaft schädlichen Effekten entgegenzuwirken. Einer repräsentativen Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft aus dem Jahr 2019 zufolge waren 8 % der Befragten bereits persönlich von Hate Speech betroffen, 40 % haben Hasskommentare im Internet beobachtet - unter jüngeren Menschen (18-24 Jahre) ist der Anteil mit 17 % direkter Betroffenheit und 73 % Beobachtung bedeutend höher (cf. Geschke et al. 2019: 19, 23). Marx zufolge geben je nach Studie zwischen 20 % und 40 % der Kinder und Jugendlichen im Schulalter an, bereits Opfer von Cybermobbing geworden zu sein (Marx 2017: 43). Die starke Zunahme verletzender, hetzerischer, verleumderischer Kommen‐ tare in sozialen Netzwerken könnte mit internetspezifischen Merkmalen zu tun haben: • das Mobbing ist für andere sichtbar, • die Identität der Täter*innen kann durch Pseudonymität oder Anonymität verdeckt bleiben, • die Opfer sind schutzlos, • die Opfer sind machtlos, • der Schmerz der Opfer ist real (cf. Marx 2017: 25ff.). Die Aussicht, dass Hasskommentare (oder, wie bei Marx, Cybermobbing) einen realen Effekt auf die Opfer haben (können), während Täter*innen kaum Konsequenzen zu befürchten haben, könnte das Phänomen insgesamt befeuern. Eine strafrechtliche Verfolgung in Deutschland ist problematisch, da es weder <?page no="142"?> einen Straftatbestand Online-Hassrede gibt, noch eine einheitliche Abgrenzung dessen, was Hate Speech genau ist. Butler (1997: 18) diskutiert Hate Speech als Sprechakt, „the performance of the injury itself, where the injury is understood as social subordination“. Koreng (2017: 151f.) sieht „die sprachliche Abwertung einzelner Menschen oder Gruppen von Menschen […], ergo die ‚gruppenbezo‐ gene Menschenfeindlichkeit‘“ als kennzeichnend für Hate Speech. Sponholz (2018: 48) nennt Hate Speech „eine Form der kommunikativen Herstellung menschlicher Minderwertigkeit“. Geschke et al. (2019) legen in ihrer Studie folgende Definition zugrunde: Aggressive oder allgemein abwertende Aussagen gegenüber Personen, die be‐ stimmten Gruppen zugeordnet werden, werden „Hate Speech“ genannt bzw. synonym auch „Hassrede“, „Hasssprache“ oder „Hasskommentare“. Dabei kann es um unter‐ schiedliche Gruppen bzw. soziale Kategorien gehen, von Geschlecht oder der ethni‐ schen Herkunft bis hin zu Berufsgruppen wie „Politiker*innen“. Hate Speech ist nach dieser Definition somit abzugrenzen von individuellen Formen der Herabsetzung, die sich nicht auf bestimmte Gruppenmitgliedschaften beziehen, wie z. B. individuelle Beleidigungen, Belästigungen oder Cybermobbing. „Hasssprache“ bezieht sich damit weniger auf die Emotion, als vielmehr auf negative Vorurteile gegenüber spezifischen Gruppen von Menschen. Mit Hate Speech ist also vor allem vorurteilsgeleitete, abwertende Sprache gemeint. (Geschke et al. 2019: 15) Auch wenn Hate Speech kein strafrechtlicher Begriff ist (cf. Koreng 2017: 151, 159), kann entsprechendes Verhalten rechtlich relevant sein, wenn es als „Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung, öffentlicher Aufruf zu Straftaten, Volksverhetzung, Nötigung und Bedrohung“ (Geschke et al. 2019: 15) gewertet wird. Seit dem 1. Oktober 2017 soll das Netzwerkdurchsetzungsgesetz dabei helfen, Hasskriminalität in sozialen Netzwerken zu bekämpfen, indem die Plattformen zu einer Überprüfung der auf ihnen veröffentlichten Inhalte und ggf. zügigen Entfernung strafbarer Inhalte verpflichtet werden (cf. BMJV 2020), wobei die Effektivität des NetzDG in der juristischen Anwendungspraxis bislang eher als geringfügig bewertet wird (cf. Liesching et al. 2021). Bei der Frage, ob Frauen von Hate Speech stärker und in anderer Weise betroffen sind als (cis hetero) Männer, ist das Bild bislang nicht eindeutig: In der Untersuchung von Hunt/ Evershed/ Liu (2016) über „abusive content“ in Tweets an oder über prominente Politikerinnen und Politiker in vier englischsprachigen Ländern lag der Anteil hetzender Kommentare bei den Frauen in drei von sechs Vergleichsfällen deutlich höher als bei den Männern, insgesamt gesehen lässt sich aus den Daten jedoch schwer eine Tendenz ermitteln. Nadim/ Fladmoe schreiben: „Perhaps contrary to popular belief, we find that in the general 142 Kristina Bedijs <?page no="143"?> population women are not more likely than men to experience online harass‐ ment“ (2021: 254). Ihre Hypothese, dass Frauen online andere Hasskommentare erhalten als Männer, finden sie in ihrer Studie jedoch bestätigt: „Women are more exposed to online harassment directed toward gender than men“ (2021: 255). Während Männer also insgesamt häufiger aufgrund des Inhalts ihrer konkreten Meinungsäußerung („what they think“) angegriffen werden, betrifft Hate Speech gegen Frauen tendenziell häufiger ihre Persönlichkeit und ihre Gruppenzugehörigkeit („who they are“, Nadim/ Fladmoe 2021: 255). Ein möglicher Effekt (und häufig wohl auch bereits das Ziel) von On‐ line-Hasskommentaren ist das so genannte Silencing: Die Attackierten ver‐ suchen sich dem Hass zu entziehen, indem sie sich nicht weiter öffentlich äußern. Dies betrifft Frauen ebenfalls in anderer Weise als Männer. Sie re‐ agieren bei gruppenbezogenen (im Vergleich zu inhaltsbezogenen) Hasskom‐ mentaren stärker als Männer mit Rückzug (cf. Nadim/ Fladmoe 2021: 156). Somit bieten gruppenbezogene Hasskommentare eine reelle Möglichkeit, ins‐ besondere Frauen mit unliebsamer Haltung aus dem öffentlichen Diskurs herauszudrängen. Mit Bezug auf Cybermobbing thematisiert Willard das Machtungleichge‐ wicht zwischen Täter*innen und Opfern: „It appears that sometimes less powerful young people are using the Internet to attack more powerful people or groups of people“ (Willard 2007: 28) -, jedoch ist Macht im Internet anders als im Offline-Bereich nicht mit körperlicher Überlegenheit assoziiert (cf. Marx 2017: 29). Macht kann in sozialen Netzwerken allerdings auch sein: ● das Wissen über die Möglichkeit, eine reale Rufschädigung oder seelische Verletzung bei der attackierten Person herbeizuführen, ● selbst als Person im Schutz der Anonymität bleiben zu können (auch wenn durchaus viele Täter*innen mit Klarnamenprofilen handeln) und damit Gegenangriffe kaum fürchten zu müssen, ● das Gefühl, im Recht (ggf. in der Mehrheit) zu sein, dies öffentlich zu äußern und dabei möglicherweise sogar andere für die eigene Position zu gewinnen, ● Zeit und Ausdauer für Online-Kritik und Hasspostings aufwenden zu können und damit insbesondere Personen des öffentlichen Lebens vor die Wahl zu stellen, Hate Speech entweder auf ihren Profilen/ Seiten für alle sichtbar stehen zu lassen oder ihrerseits Zeit für Diskussionen oder Löschaktionen aufzuwenden, was wiederum Zeit und Energie von deren eigentlichen Beschäftigung (Politik, Aktivismus, Kultur…) abzieht und damit auch ein realer Machtumkehreffekt ist. 143 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="144"?> Online-Hassrede wird ganz überwiegend aus dem rechten Spektrum heraus geführt: Das Bundeskriminalamt ordnete 77 Prozent der als strafrechtlich relevant ausgewerteten Hasskommentare 2018 dem rechten bis rechtsextremen Spektrum zu (BKA 2019); Staatsanwalt Christoph Hebbecker von der „Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen“ nennt sogar noch höhere Zahlen: „‚80 vielleicht auch 85 Prozent plus x‘, also die ‚ganz weit überwiegende Anzahl der Fälle, die wir täglich bearbeiten‘“ (Büüsker 2019). Für das rechte bis rechtsextreme Spektrum sind bestimmte gesellschaftspolitische Themen regelrechte Trigger für Hate Speech - darunter Migrationspolitik, Feminismus, Queerpolitik und auch Klimaschutz: „In den Kreisen der Klimawandelleugner und der Rechtsnationalisten (die häufig identisch sind) versucht man seit jeher, den Klimaschutz als abgehobene, hysterische, ideologisch verbohrte, wirtschaftsfeindliche Angelegenheit von Ökosozialisten abzutun. Man kennt das Spiel seit mehr als 30 Jahren“ (Probst 2019). Querverbindungen existieren auch zwischen Klimawandelleugnung und Antifeminismus, wie sich an Netz‐ werken im rechten Spektrum immer wieder nachweisen lässt: „Klimawandel und Gender-Kritik werden bei Science Files übrigens auch verknüpft, etwa wenn […] behauptet wird, ‚Die Klimahysterie ist weiblich‘, und dies für einen Angriff auf [Geschlechterforscher*innen] genutzt wird“ (Henninger im Interview mit Thorwarth 2019). Schon zehn Jahre zuvor untersuchten Anshelm und Hultman die Motive einer kleinen Gruppe von Klimawandelskeptikern in Schweden und fanden ebenfalls die Verbindung zu antifeministischen Einstellungen: „[…] for these climate sceptics it was not the environment that was threatened, it was a certain kind of modern industrial society built and dominated by their form of masculinity“ (Anshelm/ Hultman 2014: 85). An der Spitze der Fridays-for-Future-Klimaschutzbewegungen stehen in vielen Ländern junge Frauen: Greta Thunberg und Isabelle Axelsson in Schweden, Luisa Neubauer und Carla Reemtsma in Deutschland, Vanessa Nakate in Uganda, Anuna de Wever, Kyra Gantois und Adélaïde Charlier in Belgien, Loukina Tille in der Schweiz, Anna Taylor im Vereinigten Königreich. Bei den weltweiten Klimaschutz-Demonstrationen am 15. März 2019 waren fast 60 Prozent der Teilnehmenden in Berlin und Bremen weiblich (cf. Sommer et al. 2019: 11). Auch dieser Zusammenhang ist kein Zufall: Klimagerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit sind eng miteinander verwoben, Frauen sind und werden von Klimawandelfolgen besonders hart getroffen und ihr Interesse, sich dagegen einzusetzen, ist entsprechend groß (cf. Bauriedl 2019, Clute-Simon 2019). Der vorliegende Beitrag stellt die Frage, ob in einem ganz konkreten Fall die oben beschriebene Strategie gruppenbezogener (statt inhaltsbezogener) 144 Kristina Bedijs <?page no="145"?> 1 Hier spielen verschiedene psychologische Verhaltensmuster eine Rolle, die Menschen in ihrer Meinungsbildung beeinflussen, wie der Bandwagon Effect, dem zufolge Menschen dazu neigen, sich einer öffentlichen Meinung anzuschließen. „On social media, Likes and user comments can be perceived as the metaphorical ‚bandwagon‘, reflecting the popular attitudes and opinions among peer social media users“, schreiben Boot/ Dijkstra/ Zwaan (2021: 2) in ihrer Untersuchung von Meinungsbildung und Reaktionen auf ein Nachrichtenposting über die Klimaaktivistin Greta Thunberg in einem Face‐ book-ähnlichen Netzwerk. Hasskommentare gegen die Aktivistin Luisa Neubauer auf Twitter eingesetzt wird, um sie zu diskreditieren - und möglicherweise zum Schweigen zu bringen. 2 Anlass, Korpus und Methodik Am 17. Juni 2021 um 17: 43 Uhr veröffentlichte Luisa Neubauer auf ihrem Instagram-Kanal ein Video, in dem sie über Klimagerechtigkeit spricht und den Regierungsparteien (CDU-CSU/ SPD) sowie konkret dem CDU-CSU-Kanz‐ lerkandidaten Armin Laschet Verlogenheit bei ihren Klimaschutzmaßnahmen vorwirft (Neubauer 2021, siehe auch Anhang). Während die Kommentare direkt unter diesem Video überwiegend Zustimmung signalisieren, kam es in der Folge auf anderen Social-Media-Plattformen zu einer deutlich kritischeren Debatte. Auslöser war das Magazin FOCUS, das auf seiner Facebook-Seite „FOCUS Online“ am 18.06.2021 um 17: 59 Uhr (und danach noch einmal um 20: 30 Uhr sowie zahlreiche Male auf den Schwesterseiten „FOCUS Online Video“, „FOCUS Online Finanzen“, „FOCUS Online Wissen“, „FOCUS Online Digital“ und „FOCUS Online Politik“) einen Artikel mit Kurzzusammenfassung des Videos verlinkte (Titel des Artikels: „Neubauer feuert erneut gegen La‐ schet und unterstellt ihm Verlogenheit - Video“, FOCUS 2021). Der Beitrag erhielt innerhalb weniger Stunden 185 Kommentare - nahezu ausschließlich Gegenrede gegen Luisa Neubauers Position (wobei nicht nachprüfbar ist, wie viele der Kommentierenden das Video gesehen haben, wie viele den Artikel bei FOCUS gelesen haben und wie viele sich allein anhand des Teasers eine Meinung gebildet haben). Bei Facebook ist die Dynamik von Kommentarspalten aufgrund kognitiver Verzerrungsmechanismen häufig dergestalt, dass die ersten Kommentare die Stoßrichtung vorgeben, der Algorithmus diese anhand der Reaktionen und Antworten darauf noch stärker hervorhebt und selten eine ausgewogene, gar sachliche Diskussion geführt wird geschweige denn die Meinungsrichtung der Kommentare geändert werden könnte. 1 Von Facebook aus wurde ein Screenshot des Beitrags nach Twitter getragen und das Video auch durch mehrere andere Medien verlinkt. Bei Twitter ist es aufgrund der anderen Struktur der Beiträge und des Algorithmus durchaus 145 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="146"?> möglich, dass eine Diskussion nicht von Anfang an in eine Richtung gelenkt wird. Viele Tweets nehmen Bezug auf das Video und kommentieren zustimmend oder ablehnend. Binnen Stunden wurde ein bereits früher aufgekommener Hashtag zu diesem Anlass reaktiviert und so häufig verwendet, dass er in den Twitter-Trends auftauchte: #LangstreckenLuisa. Für die Analyse der Hate-Speech-Strategien dieses Anlasses wurden 77 der Kommentare unter dem genannten Facebook-FOCUS-Beitrag mit ExportCom‐ ments.com extrahiert, zu einem Korpus zusammengefasst und in MAXQDA codiert. Eine eindeutig negative Haltung gegenüber Luisa Neubauer oder ihrer Position enthalten demnach 65 Kommentare (84,42 %). Ein zweites, ebenfalls in MAXQDA codiertes Korpus bilden mit dem Tool TAGS aus Twitter extrahierte Tweets, die ab dem Moment der Veröffentlichung des Videos bis zum Vormittag des 19.06.2021 entweder mit dem Hashtag #LangstreckenLuisa oder mit der Nennung des Namens „Luisa Neubauer“ veröf‐ fentlicht wurden. Retweets wurden ausgeschlossen. Um Bots und Trollaccounts möglichst auszuschließen, wurden nur Tweets von Accounts berücksichtigt, die mindestens 25 Follower haben. Zur Auswertung verbleiben 216 Tweets, von denen nach Codierung 123 eindeutig negativ sind (56,94 %). Die negativen Kommentare und Tweets wurden inhaltlich analysiert und codiert (Codeset siehe Anhang). Die Analyse erfolgte angelehnt an DIMEAN im Bereich der intratextuellen Ebene (cf. Spitzmüller/ Warnke 2011). Die Ergebnisse werden im folgenden Abschnitt strukturiert vorgestellt. 3 Hasspostings gegen Luisa Neubauer auf Twitter und Facebook - „what she thinks“ oder „who she is“? 3.1 Das Codeset Es ist auffällig, dass eine Gruppierung der Codes in „inhaltsbezogen“ (Kritik an „what she thinks“) und „gruppenbezogen“ (Kritik an „who she is“) nur wenige Codes ergibt, die Luisa Neubauer nicht als Person, für ihre Gruppenzugehörig‐ keit, ihren Charakter usw. angreifen: Falsche Argumente / Methoden codiert Äußerungen, die inhaltliche Kritik an den Positionen Neubauers (oder weiter gefasst der FFF-Bewegung oder der Partei Bündnis90/ Die Grünen) anbringen: 146 Kristina Bedijs <?page no="147"?> 2 Auch wenn sämtliche Kommentare von Seiten stammen, die ganz ohne Facebook- oder Twitterprofil öffentlich einsehbar sind und damit „in den öffentlichen Raum“ geschrieben wurden, ist es ethisch sinnvoll, im Forschungsrahmen verwendete So‐ cial-Media-Daten nicht unmittelbar auf die Personen zurückführbar darzustellen, insbesondere da es für solche Korpuserhebungen weder im Vorfeld noch im Nachhinein möglich ist, das Einverständnis der Personen einzuholen. Es ist denkbar, dass sich das Bewusstsein der Nutzer*innen über die Social-Media-Öffentlichkeit oder ihre Haltung zu einem Thema nachträglich ändern, sie aber nicht in der Lage sind, eigene Beiträge vollständig zu entfernen. Alle Namen von Nutzer*innen wurden deshalb ersetzt, um eine Identifizierung der realen Personen zu erschweren. Cf. zur Pseudonymität in der Social-Media-Forschung auch Gerrard 2020. Sabine Franz-meiert 2 , 19.06.21 05: 56: 22 Wenn es sich alle leisten können, wird die Anzahl der Flüge nicht weniger. Elitäre Forderungen codiert etwas konkreter den Vorwurf, dass ihre Forderungen nur für wohlhabende Menschen passend sind und finanziell schwächer Gestellte überproportional belastet würden: @kevin_ffm, 19.06.21 09: 15: 55 #langstreckenluisa zeigt wieder, dass man sich Klimaschutz von FFF und Grüne leisten können muss. Die Unterschicht wird mit Füßen getreten und letztendlich sind sie es, die unter solchen Maßnahmen leiden. Hinzu kommen Beiträge, die Klimaschutzforderungen als Verschwörungsnar‐ rativ oder Ökoterrorismus einordnen, sowie thematische Ablenkungsmanöver (Derailing) und Bezüge auf die schwedische Klimaschützerin Greta Thunberg in Form von Greta-Memes. Insgesamt sind diese inhaltsbezogenen Codes nur zu 18,46 % im Face‐ book-Korpus und zu 30,08 % im Twitter-Korpus vertreten, weshalb darauf verzichtet wird, den unspezifischen Falsche Argumente-Code in detailliertere Subcodes zu splitten. Die überwältigende Mehrheit der analysierten Beiträge enthält einen Anteil gruppenbezogener Kritik (92,31 % im Facebook-Korpus, 82,11 % im Twitter-Korpus). Die zugehörigen Codes beziehen sich auf (un‐ terstellte) Charaktereigenschaften, Familie, Verhaltensweisen, Intelligenz, Äu‐ ßerlichkeiten und weitere Aspekte, die jeweils als individuelle Beleidigung aufgefasst werden können. Im Folgenden werden Beiträge mit besonders häufig vergebenen Codes analysiert, um darin mögliche Muster aufzudecken. 147 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="148"?> 3 Über Neubauers Eltern sind kaum gesicherte Informationen bekannt. Ihre Mutter Frauke Neubauer ist eine Tochter von Dagmar und Feiko Reemtsma, sie leitete gemeinsam mit ihrem Mann Harry bis zu dessen Tod 2016 (cf. Neubauer 2020) ein Alten- und Pflegeheim in Hamburg (cf. Freie und Hansestadt Hamburg 2008: 30), das sie wahrscheinlich immer noch führt. Die aus den Verwandtschaftsbeziehungen der Familie Neubauer mit der Familie Reemtsma resultierende Vermögensteilhabe aus dem inzwischen verkauften Unternehmen Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH (cf. Lindner 2007: 10) ist nicht genau bekannt (siehe Code Nazi-Familie). 3.2 Facebook Unter den 65 negativ codierten Facebook-Kommentaren sind 15, die mindestens dreifach codiert wurden. Ein Blick auf die häufigsten Codes, die in Kombination mit mindestens zwei anderen vorkommen, ist bereits aufschlussreich: 8x Misogynie, 7x Ageism, 7x RichKid, 6x Inkompetent / Ahnungslos / Unerfahren / Nicht ernstzunehmen, 4x Faul / Schmarotzerin, 4x Beleidigung, 4x Irrelevant, 3x Realitätsfern, 3x „die Neubauer“. Misogynie codiert Äußerungen, die als frauenfeindlich aufzufassen sind (auch in dem Sinne, dass sie nicht in gleicher Weise gegen Männer eingesetzt werden können). Mit Ageism sind Äußerungen codiert, die Luisa Neubauer aufgrund ihres jungen Alters abwerten. RichKid codiert Äußerungen, die Luisa Neubauer als Kind reicher Eltern 3 , damit ohne eigene Leistung wohlhabend und nicht empathiefähig gegenüber der ‚normalen Bevölkerung‘ darstellen. Ähnlich wird Luisa Neubauer in den mit Faul / Schmarotzerin codierten Äußerungen unterstellt, Aktivismus auf Kosten der Allgemeinheit zu betreiben, ohne die Erfahrung eigener bezahlter Arbeit zu haben. Mit inkompetent etc. codierte Äußerungen sprechen Luisa Neubauer sachinhaltliche und lebenspraktische Kompetenzen ab. Als Beleidigung sind Äußerungen codiert, die Kraftausdrücke oder allgemein als Abwertung verstandene Begriffe enthalten. Äußerungen mit dem Code Irrelevant sprechen Luisa Neubauer ab, gesellschaftlich eine Rolle zu spielen. Als realitätsfern codierte Äußerungen beinhalten den Vorwurf an Luisa Neubauer, von den Herausforderungen des ‚wahren Lebens‘ nichts zu verstehen. Schließlich gibt es einen Code für das auffällige Muster, über Luisa Neubauer als „die Neubauer“ zu schreiben: die Verwendung des Definitartikels 148 Kristina Bedijs <?page no="149"?> 4 Die Verwendung des definiten Artikels vor Nachnamen bei Frauen kann „teils mit aufwertender Funktion (vor allem bei Künstlerinnen), teils (nur ugs.) in abwertender Funktion“ (Helbig/ Buscha 1996: 369) erfolgen. Die aufwertende Funktion ist allerdings auf eine kleine Anzahl konkreter prominenter Frauen beschränkt (u.a. „die Dietrich, die Callas, die Garbo, die Knef “), weshalb sie bei Schmuck (2016: 52) auch als „Divenartikel“ bezeichnet wird. Es dürfte als gesichert anzunehmen sein, dass Luisa Neubauer in der öffentlichen Wahrnehmung noch keinen „Divenstatus“ erreicht hat und „die Neubauer“ deshalb sehr wahrscheinlich in der umgangssprachlichen, abwertenden Funktion zu verstehen ist. 5 Alle Facebook-Kommentare und Tweets wurden ohne Änderungen an der Schreibweise übernommen. vor dem Nachnamen als genderspezifische Form der despektierlichen Onymik gegenüber Frauen (cf. Schmuck 2017: 50ff.). 4 Kein einziger dieser Codes gehört zur Kategorie „inhaltsbezogen“, stattdessen handelt es sich um Argumente ad personam. Dass Luisa Neubauer vor allem als Person kritisiert und angegriffen wird, erscheint bei diesem erheblichen Ungleichgewicht von inhaltsbezogenen zu gruppen-/ personenbezogenen Kom‐ mentaren recht deutlich. Es folgen einige Beispiele zur Illustration anhand mehrfach codierter Kom‐ mentare 5 . Martin Wegeling , 19.06.21 06: 58: 48 [Nutzername] ist immer einfach wenn man Geld von Mami und Papi bekommt und in seinem Leben finanziell noch nie für sich selbst sorgen musste. (RichKid + Faul) Der folgende Kommentar ist sechsfach codiert, die Person lädt darin eine ganze Kollektion an Anschuldigungen an Luisa Neubauer ab: Nina Markdorf, 19.06.21 07: 57: 06 Frech, respektlos, Kind reicher Eltern. Hat keine Ahnung von arbeiten, wirklich arbeiten für das tägl. Leben, nicht mal hier und da jobben. Aber dann Reden ohne nachzudenken. Aber machtbessen. (RichKid + Faul + Respektlos + Machtbesessen + Beleidigung + Inkompetent) Im folgenden Kommentar nutzt die Person eine besonders expressive Version despektierlicher Onymie: die Verwendung des Definitartikels ergänzt durch die Movierung des Nachnamens mit dem femininen Suffix -in. Schmuck zufolge sind „[i]n den Dialekten (z.B. Pfälzisch, Hessisch) […] Movierungen von Frauen‐ namen bis heute im Gebrauch, wenngleich anscheinend oft negativ konnotiert“ (Schmuck 2017: 34). Dass hier eine Abwertung impliziert ist, wird in jedem Fall durch den Kontext klar, in dem mit „Alabasterärschchen“ und „Papi“ mit einem 149 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="150"?> Vulgarismus und einem ironischen Diminutiv auf ihren familiären Wohlstand angespielt wird: Manfred Heldmann, 19.06.21 09: 10: 34 Hat die Neubauerin eigentlich schon mal geschafft oder hat sie vom Papi alles in ihr Alabasterärschchen geschoben gekriegt? (RichKid + Faul + Misogynie + Beleidigung + „die Neubauer“) Der folgende Kommentar stellt eine Pseudofrage, denn mit Sicherheit weiß die schreibende Person, wer Luisa Neubauer ist. Zu behaupten, man kenne sie nicht, spricht ihr die Relevanz als Führungsperson einer großen aktivistischen Bewe‐ gung ab. Gleichzeitig wertet die Bezeichnung als „Wesen“ sie als Frau ab, indem sie in die geschlechtliche Uneindeutigkeit oder Neutralität verwiesen wird. Das „spezifische, meist pejorisierende Potenzial neutraler Frauenbezeichnungen“ (Nübling 2019: 41) ist gut untersucht: „Die Neutrumzuweisung bei Menschen rückt diese in den Bereich unreifer Junglebewesen oder unbelebter Objekte, das Neutrum verleiht ihnen etwas Gegenständlich-Patientives“ (ebd.), so auch in diesem Kommentar, der mit wenigen Worten umfängliche Herabwertung erreicht: Georg Bäumler, 19.06.21 11: 23: 44 Wer ist denn jenes Wesen ? (Irrelevanz + Misogynie) Interessant auch der folgende Kommentar, in dem die Person möglicherweise zu Beginn des Schreibprozesses noch „eine junge Frau“ oder eine ähnliche fe‐ minine Bezeichnung geplant, dann aber doch die Diminuierung/ Infantilisierung von Luisa Neubauer ins Neutrum-„Mädchen“ beschlossen und den indefiniten Artikel bei der Korrektur übersehen hat: Thomas Na, 19.06.21 14: 10: 04 Eine furchtbares neunmalkluges Mädchen. Warum bietet man ihr eine solche Bühne? (Irrelevanz + Misogynie + Ageism + Beleidigung + Dumm) Die Anklage im folgenden Kommentar bezichtigt Luisa Neubauer, ohne ihren Namen zu nennen, mehreren Gruppen anzugehören, die aus Sicht der schrei‐ benden Person nicht positiv besetzt sind (westdeutsch, wohlstandsverwahrlost, keine Entbehrung gewöhnt, Grünenwählerin, widerlich). Es lässt sich nicht überprüfen, ob dies eine Überlegung im Schreibprozess dargestellt hat, jedoch fällt der Kommentar durch den alliterierenden Klang des <w> auf: 150 Kristina Bedijs <?page no="151"?> 6 Luisa Neubauers Großeltern sind der Zigarettenfabrikant Feiko Reemtsma und dessen erste Ehefrau Dagmar Reemtsma, geb. von Hänisch. Die familiäre Verbindung zur ehemaligen Inhaberfamilie der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH (über die die Familie seit 2002 keinerlei Kontrolle mehr hat, cf. Lindner 2007: 10) bedeutet für Luisa Neubauers Familie tatsächlich ererbten Wohlstand - in welchem Umfang, ist allerdings nicht öffentlich bekannt. Medien insbesondere aus dem rechten Spektrum suggerieren Sebastian Fischer, 19.06.21 06: 36: 48 Eine westdeutsche Wohlstandsverwahrloste,die noch nie in ihrem Leben Verzicht üben musste! Das typische Wählerklientel der Grünen! Widerlich! ���� (Faul + Beleidigung) Abschließend verdeutlicht der folgende Kommentar, dass für die schreibende Person Luisa Neubauers unterstellte Inkompetenz mit einer altersbezogenen Herabsetzung als „Blag“ zusammengehört und dies wiederum mit dem Vorwurf, dass sie sowieso nur vom Geld ihrer Familie lebe: Kai Hersh, 19.06.21 06: 43: 45 Als Angehörige einer Hamburger Millionärsippe kann das verwöhnte Blag es halt nicht verstehen. (RichKid + inkompetent + Ageism) Dieser Kommentar ist der einzige im Facebook-Korpus, der annähernd in die Richtung „Luisa Neubauers Familie hat vom Nationalsozialismus profitiert“ deutet. Anspielungen darauf kommen im Twitter-Korpus mehrfach vor, solche Tweets sind mit Nazi-Familie codiert. Schauen wir nun, welche Code-Häufig‐ keiten sich in den Tweets zeigen. 3.3 Twitter 11 der 123 eindeutig negativen Tweets sind mindestens dreifach codiert. Auch im Twitter-Korpus sind die häufigsten in Kombination mit mindestens zwei weiteren Codes verwendeten Codes sprechend: 8x RichKid (s.o.), 5x Heuchlerin / Unglaubwürdig / Doppelmoral / Verlogen, 4x Nazi-Familie, 3x Falsche Argumente oder Methoden, 2x Dumm, 2x Überheblich, 2x Göre. Heuchlerin etc. wurde vergeben, wenn Luisa Neubauer in einer Äußerung vorgeworfen wird, selbst anders zu handeln und zu leben, als sie es mit den von ihr geforderten Maßnahmen von anderen verlangt. Der Code Nazi-Familie betrifft Luisa Neubauers Verwandtschaft zur ehemaligen Tabakkonzern-Inha‐ berfamilie Reemtsma 6 , die teilweise große Nähe zum nationalsozialistischen 151 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="152"?> immer wieder erhebliche Firmenbeteiligungen und immenses Vermögen der Neubauers (cf. Klimanews 2021, Rohbohm/ Junge Freiheit 2019). Regime zeigte (cf. Lindner 2007: 82ff.), während des Kriegs davon profitierte, dass Tabakwaren stark nachgefragt (cf. Lindner 2007: 246) und zwischenzeitlich sogar als „kriegswichtige Produktion“ eingestuft waren (cf. Lindner 2007: 250), und auch Zwangsarbeiter*innen einsetzte (cf. Lindner 2007: 238, 248ff.). Mit dumm wurden Äußerungen codiert, die Luisa Neubauer mit diesem oder einem verwandten Begriff bezeichnen und ihr damit kognitive Einschränkungen bescheinigen. Der Vorwurf, überheblich (oder Verwandtes) zu sein, wird Luisa Neubauer ebenfalls häufig angetragen, er impliziert Empathielosigkeit und Arroganz. Schließlich sind mit Göre Äußerungen codiert, die explizit dieses Wort enthalten, mit dem Frauen beleidigt und ageistisch herabgesetzt werden (eine Göre ist laut Duden ein „[vorwitziges, freches kleines] Mädchen“, im DWDS ist Göre als „abwertend“ gekennzeichnet). Lediglich der Code Falsche Argumente oder Methoden ist inhaltsbezogen: hiermit sind Äußerungen codiert, in denen Luisa Neubauers inhaltliche Posi‐ tionen kritisiert, richtiggestellt, verurteilt etc. werden, ohne dass dies einen Angriff auf sie als Person impliziert. Im Twitter-Korpus kommt inhaltsbezogene Kritik insgesamt zumindest etwas häufiger vor als im Facebook-Korpus, was auch mit der unterschiedlichen Funktionsweise der Algorithmen und dadurch mitverursachten Meinungssteuerung zusammenhängt. Doch auch im Twitter‐ korpus sind die meisten häufig kombinierten Codes gruppenbezogen. Die folgenden Beispiele zeigen, dass Hate Speech auf Twitter zum selben Thema doch etwas anderen Mustern folgt als auf Facebook: @MiezeKatze23, 19.06.21 08: 40: 37 Naja,aber wenn die Familie mit den Nazis paktiert&Zwangsarbeiter ausgebeutet hat,dann könnte man die Kohle doch wieder zurückgeben(z.B. an Nachfahren der Zwangsarbeiter),um zu demonstrieren was für ein ��� ensguter und moralisch ein‐ wandfreier Mensch man ist,oder? #LangstreckenLuisa (Heuchlerin + RichKid + Nazi-Familie) Ganze neun Tweets spielen mehr oder weniger explizit auf die Verwicklungen von Luisa Neubauers Familie zur Zeit des Nationalsozialismus an. Dieses dunkle Kapitel in der Familiengeschichte ist ein starkes Argument, um Luisa Neubauer anzugreifen: Sie, die anderen vorschreiben will, wie man „gut“ zu leben hat, und die oft (gerade im konkreten Video) von Gerechtigkeit redet, hat eine Familie, die in der Vergangenheit (vermeintlich) Profit über Gerechtigkeit und Menschlichkeit gestellt hat. In Kommentaren wie oben wird eine Wiedergut‐ 152 Kristina Bedijs <?page no="153"?> machung von Luisa Neubauer gefordert, ihr also eine direkte Verantwortung für Taten ihrer Vorfahren zugeschrieben. Brisant ist das Thema Nazi-Familie aber nicht nur in Bezug auf Luisa Neubauers Gerechtigkeitsforderungen, sondern auch weil zum einen das während des Zweiten Weltkriegs durch Zwangsarbeit erwirtschaftete Familienvermögen als Luisa Neubauers direktes finanzielles Polster interpretiert und damit doppelt unverdient und moralisch verwerflich dargestellt wird. Auch kam es im Mai 2021 während der erneuten Unruhen in Is‐ rael zu Antisemitismusvorwürfen gegen Fridays for Future. Auslöser waren ein Instagram-Posting und ein Twitter-Thread von internationalen FFF-Accounts mit propalästinensischen Stellungnahmen am 11. und 19.05.2021 - wovon sich die deutsche FFF-Sektion umgehend distanzierte, in der Folge aber in vielen Medien und auf Twitter auch weiterhin mit dem Verdacht antisemitischer Tendenzen belastet wurde (cf. Heinrich 2021). Nur Tage zuvor hatte Luisa Neubauer dem CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen in einer Talkshow Antise‐ mitismus vorgeworfen - insofern bietet die Angelegenheit eine Möglichkeit, Luisa Neubauer Unaufrichtigkeit vorzuhalten, da ihre eigene Familie und ihre Klimaschutzbewegung selbst nicht frei von Antisemitismus zu sein scheinen. Luisa Neubauers vorgebliche Doppelmoral wird auch auf Twitter immer wieder thematisiert: @freiesreden, 19.06.21 07: 55: 23 #LangstreckenLuisa steht für alles, was ich an der FFF-Generation nicht mag: Wohl‐ standsverwahrlosung, Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit. (Heuchlerin + RichKid + Überheblichkeit) @Westradio8, 18.06.21 22: 09: 19 Eine steinreiche Vielfliegerin, die die ganze Welt bereist hat, aber ihren Mitmenschen das Fliegen verbieten will, spricht von „Verlogenheit“. Dann schauen Die mal in den Spiegel Frau Neubauer! (Heuchlerin + RichKid) Im zweiten Kommentar fällt auf, dass die schreibende Person sich von Luisa Neubauer durch das in sozialen Medien deutlich markierte Siezen (cf. Gredel 2021: 125) und die Anrede mit Anredenomen „Frau Neubauer“ distanziert. Sofern zwischen zwei Nutzenden sozialer Netzwerke nicht ganz erhebliche Dif‐ ferenzen bestehen, wird in der Regel Duzen und die Anrede mit Vornamen bzw. dem im Netzwerk genutzten Namen als angemessen empfunden, auch wenn sich die Personen nicht gegenseitig kennen (pointiert, wenn auch nicht linguistisch ausgeführt in der Kolumne von Rezo 2020). Die in anderen Kontexten voll‐ kommen angemessene Anrede wird nur durch das Medium Twitter und dessen Höflichkeitskonventionen zu einem Ausdruck von Ablehnung, Distanzierung 153 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="154"?> 7 Fridays for Future ist grundsätzlich eine überparteiliche Bewegung, Luisa Neubauer ist allerdings seit 2017 Parteimitglied bei Bündnis 90/ Die Grünen (cf. Neubauer/ Scheuble 2021). und Abwertung. Die Anrede als „Frau Neubauer“ ist besonders interessant, da die unangemessene Höflichkeit als Distanzierung eine weitere Form darstellt, die junge Erwachsene Luisa Neubauer nicht angemessen anzureden - neben beispielsweise Spitznamen, der Diminuierung als Mädchen und vor allem der Beschimpfung als „Göre“: @jacquelinedd3, 19.06.21 08: 37: 37 Wohlstandsverwahrloste Göre (RichKid + Göre) Hier taucht die „Göre“ wieder in Kombination mit dem Vorwurf des unver‐ dienten Reichtums auf, Luisa Neubauer wird also maximal infantilisiert - im folgenden Kommentar bezichtigt die schreibende Person sie zusätzlich der Klimawandelpanikmache: @MorningNewsDE, 18.06.21 07: 26: 35 Wetterparanoide Wohlstandsgöre: #LuisaNeubauer wirft Parteien „verlogene Klima‐ debatte“ vor [Link zu einem Tagesspiegel-Beitrag über Luisa Neubauers Video] (RichKids + Göre + Panikmache) Auf den ersten Blick paradox erscheint der folgende Kommentar, in dem die Person suggeriert, sich überhaupt nicht für Luisa Neubauer und ihre Bewegung zu interessieren: @flaechenkunst, 18.06.21 07: 05: 11 Wer ist Luisa Neubauer? ? ? Was ist fridays for future? In China is n Sack Reis umgefallen. Das ist aufregender. (Irrelevant) Wäre Luisa Neubauer tatsächlich so unwichtig, würde sich allerdings die schreibende Person kaum die Mühe machen, überhaupt darüber zu twittern. Wer einen solchen Beitrag verfasst, ist sich der gesellschaftlichen Relevanz der benannten Person sehr bewusst. Es handelt sich um einen in sich paradoxen Versuch, einer prominenten Person ein Stück ihrer Relevanz zu entziehen, indem diese öffentlich für irrelevant erklärt wird. Schließlich sollen noch einzelne Beiträge misogyne Attacken gegen Luisa Neubauer auf Twitter illustrieren. Das erste Beispiel ironisiert gendersensible Sprache, die in der Partei Bündnis 90/ Die Grünen 7 grundsätzlich (allerdings mit 154 Kristina Bedijs <?page no="155"?> Genderstern, nicht mit Doppelpunkt) angewendet wird und auch sonst mit eher linken Milieus assoziiert wird: @GrundlagenMan, 19.06.21 09: 30: 07 Warum ist #langstreckenluisa in den Trends, ist die Grün: innen wieder irgendwo hingeflogen? #Doppelmoral (Heuchlerin + Gendern) Die Person spielt hier auf ein Wortspiel an, das Friedrich Merz (CDU-Politiker) am 17.04.2021 auf Twitter postete, um seine Ablehnung gegen gendergerechte Sprache zum Ausdruck zu bringen: (https: / / twitter.com/ _FriedrichMerz/ status/ 1383343760260567043, letzter Zugriff: 06.04.2022) Die (aus seiner Sicht) Absurdität gegenderter Sprache, auf die Merz damit hin‐ weisen will, illustriert er ausgerechnet mit Beispielen, die nichts mit gendersen‐ sibler Sprache zu tun haben und eher als Witz taugen - in konservativen Kreisen wurde aber vor allem die Feminisierung „Grüninnen“ begeistert aufgenommen und seitdem auch mit verschiedenen typographischen Genderzeichen variiert auf Twitter weiterverbreitet. Merz’ Unterstellung, solche Wortkonstruktionen seien das Ergebnis von linken und grünen Sprachvorschriften im Namen der Gleichstellungspolitik, ermöglicht umgekehrt die Aktivierung des ganzen Anti-Gendersprachpolitik-Frames durch die Nutzung von einer einzigen dieser Konstruktionen. Im oben zitierten Tweet ist offenbar das Ziel, Luisa Neubauer als Grüne mit dem Thema „absurdes Gendern“ in Verbindung zu bringen, um auch ihre Klimaschutzforderungen als Nonsens abzuwerten. Besonders drastisch frauenfeindlich ist der Tweet von @GegenMerkel: @GegenMerkel, 18.06.21 23: 27: 27 Was meint ihr, sollte #Langstreckenluisa nicht in #Tittenluisa umbenannt werden? 155 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="156"?> Ist das nicht passender? Ich habe das Gefühl, dass sie bald in einem Porno auftreten möchte. Was wollt ihr? ● Langstreckenluisa ● Tittenluisa ● Maoam (Misogynie + #tittenluisa) Es geht hier gar nicht um das Thema des Videos oder sonstige Aktivitäten von Luisa Neubauer, sondern der Hashtag #Langstreckenluisa wird ausschließlich eingesetzt, um einen sexistischen Kommentar abzugeben, mit einem Vulga‐ rismus für weibliche Brüste einen Spitznamen (und neuen Hashtag, der in der Folge auch eine Reihe weiterer derb sexistischer Tweets nach sich zog) zu kreieren und am Ende noch ein Meme in Form einer Umfrage mit dem bekannten Maoam-Werbeslogan unterzubringen. Subtileren Sexismus verbreitet der folgende Kommentar: @Holmes_Fan, 18.06.21 11: 12: 03 Wenn Luisa #Neubauer ein Mann wäre, wäre sie längst stellvertr. Schriftführerin des örtlichen Kaninchenzuchtvereins! (Misogynie + Irrelevanz) Luisa Neubauer wird hier für bedeutungslos erklärt, indem ihr ein besonders unbedeutendes Amt (anstatt der Führungsrolle) in einem besonders unbedeu‐ tenden Verein (anstatt der nationalen Sektion einer weltweiten Aktivismusbe‐ wegung) zugesprochen wird - misogyn wird die Äußerung dadurch, dass die Person behauptet, Luisa Neubauer habe ihre aktuelle Bedeutung nur deshalb, weil sie eine Frau ist. Hier wird implizit geschlechtsbedingte Bevorzugung von Frauen suggeriert. 4 Schlussbemerkungen Aus den für diesen Beitrag untersuchten Stichproben von Facebook-Kommen‐ taren und Twitter-Beiträgen (Tweets) können aufgrund der Korpusgröße insge‐ samt keine generalisierbaren Schlüsse gezogen werden. Tendenzen bei Mustern und Strategien im Bereich Hate Speech sind dennoch erkennbar. So zeigen die analysierten Tweets und Kommentare, dass die persönlichen Angriffe gegen Luisa Neubauer besonders häufig Charakterzüge sowie ihre gesellschaftliche Bedeutung als Aktivistin betreffen. 156 Kristina Bedijs <?page no="157"?> 25,74 % der Tweets und 5 % der Facebook-Kommentare versuchen, Luisa Neubauers Äußerungen und Forderungen zu delegitimieren, indem sie ihr Doppelmoral oder Verlogenheit unterstellen oder sie als Person für irrelevant er‐ klären (28,33 % bei Facebook, 8,91 % bei Twitter). Zudem wird sie als Kind reicher Eltern dargestellt, das aufgrund des familiären Wohlstands die Lebensrealität anderer Menschen nicht nachvollziehen kann und entsprechend realitätsferne, ärmere Menschen benachteiligende Forderungen stellt. Beiträge, in denen Luisa Neubauer als „Mädchen“ oder, vulgär-abwertend, als „Göre“ bezeichnet wird, bedeuten ebenfalls eine Infantilisierung und damit Delegitimierung. Diese finden sich nur im Teilkorpus Facebook-Kommentare. Diese Form der Herab‐ setzung deutet aber auf eine misogyne Strategie hin, da bereits fraglich ist, ob es die gleiche ageistische Wirkung hat, einen erwachsenen Mann als „Junge“ zu bezeichnen. Eine männliche Entsprechung von „Göre“ gibt es gar nicht. Hier würde sich anbieten, ageistische Delegitimierung männlicher Aktivisten in einem Vergleichskorpus zu analysieren. Deutlich misogyn sind die auf Luisa Neubauer als Frau bezogenen Attacken, die sich in gleicher Weise kaum auf Männer anwenden lassen. In den hier untersuchten Teilkorpora sind diese Angriffe insgesamt nicht häufig zu finden, jedoch in den jeweiligen Fällen zum Teil durchaus drastisch sexistisch. Ohne einen direkten Vergleich stellt sich die Misogynie des vorliegenden Falls vor allem in der eklatanten Häufung von gruppenbezogenen Schmähungen dar, was die Studie von Nadim/ Fladmoe (2019) stützt, der zufolge Hate Speech gegen Frauen besonders häufig ihre Identität („who they are“) betrifft und seltener Kritik an ihren Positionen beinhaltet: 92,31 % der negativ codierten Tweets und 93,85 % der negativ codierten Facebook-Kommentare enthalten gruppenbezogene Kritik, inhaltsbezogene Kritik lediglich 39,32 % der negativ codierten Tweets und 10,77 % der negativ codierten Facebook-Kommentare. Bei Facebook wird also im untersuchten Fall fast gar nicht inhaltlich diskutiert oder kritisiert, sondern nahezu ausschließlich ad personam attackiert (und zwar mit besonderem Fokus auf misogyne, ageistische und die Kompetenz anzweifelnde Kommentare), während bei Twitter immerhin noch einige Tweets persönliche Angriffe mit inhaltlicher Kritik verbinden. Ob in vergleichbaren Fällen die Hasskommentare gegen männliche Aktivisten eine ähnlich hohe Quote im Bereich der individuellen, gruppenbezogenen Abwertung aufweisen - beispielsweise altersbezogen oder sexualisiert - oder ob dort mehr auf der Inhaltsebene kommentiert wird, wäre eine wichtige Fragestellung für Anschlussuntersuchungen. 157 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="158"?> Aus vergleichenden Ergebnissen könnten dann wiederum Strategien zum genderspezifischen Umgang mit Hate Speech in sozialen Netzwerken entwickelt werden. Literatur Anshelm, Jonas/ Hultman, Martin (2014). A green fatwā? Climate change as a threat to the masculinity of industrial modernity. NORMA: International Journal for Masculinity Studies 9 (2), 84-96. Bauriedl, Sybille (2019). 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Und es wird politisch befeuert wie sonstwas. Das hört man von Sahra Wagenknecht, von den Linken, das hört man von den Sozialdemokraten, und das hört man auch immer wieder von der Union. Und dann stellt sich ein Armin Laschet hin und sagt also „nee, das mit dem CO2-Preis, was die andern da wollen, wenn das so hoch ist nee das geht nicht, denn es gibt ja Menschen in diesem Land, die können sich’s nicht leisten, einen Flug nach Mallorca zu bezahlen, wenn er dann 70€ mehr kostet durch den CO2-Preis“. Und da hat er erstmal recht. Total valider Punkt. Ist das also der Moment, wo Armin Laschet die armen Leute verteidigt? Ja, fast. Wenn die Sache nicht so verdammt verlogen wäre. Denn das Problem ist ja nicht der CO2-Preis an sich. CO2 verursacht in der Welt einen realen Schaden und der muss irgendwo eingerechnet werden. Das Problem entsteht erst dann, wenn Menschen es sich eben nicht leisten können, 70€ mehr zu bezahlen für einen Flug. Und wenn man jetzt wirklich ehrlich wäre, wäre die allererste Frage, die man sich dann stellt: wie kann es sein, dass wir in einem Land leben, in dem es Menschen gibt, die sich 70€ mehr für ein Flugticket nicht leisten können? Liegt es vielleicht daran, dass die Mindestlöhne seit Jahren nicht so steigen, wie sie steigen müssten? Liegt es vielleicht daran, dass die Menschen in diesem Land immer mehr Miete zahlen? Liegt es vielleicht daran, dass wir ’n strukturelles Problem mit Kinderarmut haben und dass Kinder, die in Armut geboren werden, da sehr sehr schlecht wieder rauskommen? Liegt es vielleicht daran, dass wir die Reichen so wenig besteuern, sie fordern jetzt schon selbst ein, mehr besteuert zu werden? Liegt es vielleicht daran, dass man noch immer kein Konzept gefunden hat, mit Arbeitslosen in irgendeiner Form von Menschenwürdigkeit umzugehen? Liegt es vielleicht daran, dass man einfach vor allem jahrzehntelang so unsoziale Politik gemacht hat und soziale Ungerechtigkeit befürwortet, bestärkt oder zumindest legitimiert hat, Armin Laschet? Was hier effektiv passiert, ist, dass man Umstände, die 161 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="162"?> man selbst geschaffen oder zumindest legitimiert hat, in Regierungsverantwortung, als Ausrede und Vorwand nutzt, um eine Klimakrise nicht so aufzuhalten wie man es machen müsste. Was heißt das im Umkehrschluss? Die Alternative zu Klimaschutz ist ja einfach Klimakrise. Das ist ja die Auswahl, die wir haben: Klimaschutz oder Klimakrise. Und indem man sich gegen Klimaschutz entscheidet in aller Radikalität und Schnelle und Effektivität wie man’s bräuchte, sagt man halt eigentlich, unausge‐ sprochen, Ja zur Klimakrise. Und wen trifft denn jetzt die Klimakrise, wenn sie weiter eskaliert, weil wir sie nicht aufhalten, wen trifft die denn am meisten? Stimmt, es sind genau diejenigen, die Schwächeren, die Armen, die weniger haben. Ganz plakatives Bei[spiel]: Wer hat vielleicht eher ’n großen Garten, wer ist näher an den Orten, wo man eben ’n bisschen so Urlaub machen kann? Stimmt. Diejenigen, denen es strukturell besser geht. Den Besserverdienenden. Und wen trifft diese Hitzewelle am meisten? Stimmt, diejenigen, die kränker, schwacher, weniger verdienend sind. Diejenigen, die strukturell in zu kleinen, hitzigen Wohnungen wohnen, die sich nicht leisten können, mal eben so’n bisschen frei zu machen, die nachts vielleicht nicht lüften können, weil die Straße so laut ist, die die Abgase abbekommen und die Hitze obendrauf. Mehr Klimakrise heißt mehr soziale Ungerechtigkeit. Und es es gibt eine Million Beispiele dafür, wie die Klimakrise genau diejenigen trifft, die am wenigsten haben. Die logische Antwort auf die Situation wäre also dafür zu sorgen, dass wir so schnellen, radikalen, effektiven, nachhaltigen Klimaschutz wie möglich haben, der sozial nachhaltig aufgestellt ist, dass er die Menschen nicht zusätzlich belastet, und tendenziell eher entlastet. Wie das gehen kann, liegt auf dem Tisch. Es gibt unzählige Beispiele, Berechnungen von Ökonominnen und Ökonomen und Instituten, überall gibt es die Vorlagen, die zeigen, wie kann das aussehen. Wer dann nachhaltigen, sozial gerechten Klimaschutz machen möchte, kann das machen. Aber so zu tun, als würde man irgendwelche armen Menschen verteidigen, indem man weniger Klimaschutz macht, ist praktisch doppelt verlogen. Wenn man weiß, dass mehr Klimakrise mehr soziale Benachteiligung schafft, und wenn man eben aber auch feststellt, wenn man Klimaschutz gerecht aufstellt, dann kann er soziale Entlastung schaffen. Und weil wir wissen, dass Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen, nennen wir das Ganze Klimagerechtigkeitsbewegung. Und weil wir auch wissen, dass politisch nichts in die Gänge kommt, wenn wir nicht auf die Straße gehen, machen wir das. Jeden Freitag von jetzt bis zur Bundestagswahl sind wir auf der Straße und kämpfen gemeinsam für ökologische und soziale Gerechtigkeit. Es gehört zusammen und wir lassen uns nicht abwimmeln oder kleinkriegen, weil eine andere Welt eben möglich ist. Wir sehn uns auf der Straße. 162 Kristina Bedijs <?page no="163"?> Codeset und Häufigkeitsverteilung in den Teilkorpora Facebook Twitter Häufigkeit % Häufigkeit % #LangstreckenLuisa 1 1,54 6 4,88 #RichKids 14 21,54 32 26,02 #tittenluisa 0 0,00 3 2,44 Ableismus 2 3,08 1 0,81 Ageism 8 12,31 0 0 Antisemitismusvorwurf 0 0,00 1 0,81 Auslachen 1 1,54 2 1,63 Beleidigung 8 12,31 2 1,63 Bodyshaming 1 1,54 0 0 die Neubauer 4 6,15 0 0 Drohung 2 3,08 0 0 Dumm 2 3,08 9 7,32 Elitäre Forderungen 2 3,08 10 8,13 Falsche Argumente / Methoden 6 9,23 16 13,01 Faul / Schmarotzerin 16 24,62 7 5,69 Freiheitsdiebstahl - freudlos 0 0,00 1 0,81 Gendersprache 0 0,00 1 0,81 Göre 2 3,08 5 4,07 Greta-Meme 0 0,00 2 1,63 Hass verdient 0 0,00 1 0,81 Heuchlerin - Unglaubwürdig - Doppelmoral - Verlogen 3 4,62 26 21,14 inkompetent - ahnungslos - un‐ erfahren - nicht ernstzunehmen 8 12,31 7 5,69 Ironie 1 1,54 4 3,25 Irrelevanz 17 26,15 9 7,32 163 Hate Speech gegen Frauen in sozialen Medien <?page no="164"?> Facebook Twitter Häufigkeit % Häufigkeit % Klassismusvorwurf 0 0,00 2 1,63 linksextrem 0 0,00 2 1,63 machtbesessen 2 3,08 0 0 Misogynie 11 16,92 2 1,63 Nazi-Familie 1 1,54 9 7,32 Nerven 1 1,54 3 2,44 Ökoterrorismus / Ökopopu‐ lismus 0 0,00 5 4,07 Panikmache 0 0,00 2 1,63 realitätsfern 5 7,69 4 3,25 respektlos 3 4,62 0 0 Schadet sich selbst 0 0,00 1 0,81 Sexismusvorwurf 0 0,00 1 0,81 Themen-Derailing 3 4,62 1 0,81 Tod 0 0,00 1 0,81 Überheblichkeit 1 1,54 2 1,63 Unspezifische Abwertung 0 0,00 2 1,63 Verschwörungsnarrativ 3 4,62 4 3,25 vorlaut 2 3,08 0 0 164 Kristina Bedijs <?page no="165"?> #JusticiaClimáticaYa — eine multimodale Analyse von Protestplakaten der Fridays for Future-Bewegung Valentina Roether (Kassel) und Aline Wieders-Lohéac (Stuttgart) 1 Einleitung Die Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er Jahre war Ausgangs‐ punkt für verschiedenste Karrieren: Themen, Parteien und Personen. Doch eine der erfolgreichsten und nachhaltigsten Karrieren, die in dieser Zeit ihren Ursprung nahm, war sicher jene vom Autoaufkleber zum Kulturgut, Erken‐ nungsmerkmal und kollektiven Wahlspruch. Noch heute kommt sie den meisten beim Thema Atomkraft sofort in den Sinn und findet sich auf Rucksäcken oder Straßenlaternen: die strahlende rote Sonne, umrandet vom Schriftzug „ ATOMKRAFT? NEIN DANKE “. Ursprünglich 1975 von einer jungen Klima‐ aktivistin in Dänemark entworfen, ist das Design mittlerweile als „The Smiling Sun“ ( OOA Fonden) geschützt. Der Slogan schaffte es weltweit in über 60 Sprachen, die hispanophone Welt kennt ihn als „ ¿NUCLEAR? NO GRACIAS “. Oft sind es gerade kurze und prägnante Sprache-Bild-Kombinationen, die über die Zeit erhalten bleiben, Jahre und Jahrzehnte später noch Identität stiften, die politischen Diskurse dieser Zeit widerspiegeln und zusammenfassen und die immer wieder aufgegriffen werden. Auch heute - insbesondere in Zeiten sozialer Netzwerke - prägen Bilder und Slogans politische Bewegungen. Konzentriert finden sich solche multimo‐ dalen politischen Botschaften auf Demonstrationen, auf denen Plakate zum Hauptkommunikationsmedium werden. Sie enthalten in prägnanter Weise die Forderungen und Argumentationen der Bewegungen und werben um Aufmerk‐ samkeit und Unterstützung für ihre Ziele. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht geben sie so einen Einblick in die Konstruktion des Diskurses innerhalb der und durch die Bewegung. Wir gehen deshalb in diesem Beitrag der Frage nach, wie Aktivist: innen der Fridays for Future-Bewegung ( FFF ) umweltpolitische Missstände und For‐ derungen kommunizieren. Mithilfe welcher Schlagwörter und Bilder konden‐ sieren die Akteur: innen politische Debatten auf Plakatlänge und verleihen ihren <?page no="166"?> Anliegen Dringlichkeit? In diesem Aufsatz rücken wir die spanischsprachigen Protestplakate der Bewegung in den Fokus und stellen die Ergebnisse einer multimodalen Korpusanalyse vor. 2 Theoretische und methodische Grundlagen Um Protestplakate im Ganzen linguistisch analysieren zu können, werden zunächst theoretische Bausteine der Schlagwort- und Multimodalitätsforschung vorgestellt. Daraus folgen gleichzeitig Schlüsse auf das methodische Vorgehen. 2.1 Schlagwörter Protestbewegungen verfolgen hauptsächlich ein Ziel: Sie wollen Aufmerksam‐ keit erregen, um auf Missstände hinzuweisen. Gerade auf einem Plakat, das es dann - so die Hoffnung der Träger: innen - in die Medien schafft, soll auf einen Blick erfasst werden können, worum es geht (cf. Rucht 2019: 4). Es kann keine ausführliche Argumentation erfolgen. Das Ideal der prägnanten Kürze ergibt sich bei Slogans und Schlagwörtern aus deren (pragmatischen) Funktionen. Beide Arten sprachlicher Einheiten sollen stets ein jeweils relevantes Wissen (Vorstellungen) und zugleich ein jeweils ganz bestimmtes Wollen (Einstellungen) einerseits ausdrücken, andererseits evozieren, beides mög‐ lichst ökonomisch. (Niehr 2007: 459) Dafür werden oftmals Schlagwörter genutzt, „[d]enn Schlagwörter sind stets auf die emotionale und intellektuelle Beeinflussung der Öffentlichkeit gerichtet, sie sind immer auch motiviert von dem Willen, die intellektuelle Wirklichkeitser‐ fahrung zu lenken.“ (Strauß et al. 1989: 33) Idealerweise wird beim Lesen die gewünschte Richtung erkannt und die Begründung vervollständigt sich von selbst in Gedanken. Die Wahl des jeweiligen Schlagwortes gibt den Leser: innen Richtung und Begründung für eine Bewertung vor. „In textsemantischen Ana‐ lysen spielen sie vor allem dort eine Rolle, wo in Texten argumentiert, gestritten und appelliert wird“ (Gardt 2012: 68) - wie auf Demonstrationsplakaten. Poten‐ ziell eignet sich fast jedes Wort zum Schlagwort, erst der Kontext schafft die deontische Aufladung (cf. Niehr 2007: 496). Die deontische Aufladung ist eine Sollens-Bedeutung: Der Begriff selbst beinhaltet die Wertung und Aufforderung, dass etwas getan werden muss (cf. Hermanns 1989: 74ff.). Unkraut sollte vernichtet werden, Freiheit hingegen verteidigt. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Herangehensweisen: das Benennen der gegnerischen Konzepte durch pejorative Schlagwörter, sogenannter S TI G MAWÖR T E R , und das Hervorheben der eigenen Position durch F AHN E NWÖR T E R . Dasselbe Konzept kann durch Stigma- 166 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="167"?> und Fahnenwörter beschrieben werden, was für eine Person Umweltschutz ist, bezeichnet eine andere als Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit. Politische Bewegungen sind demnach auf prägnante Schlagwörter angewiesen und bringen sie zahlreich hervor. Umgekehrt gibt es den Fall, dass Einigkeit ob des Signifiants herrscht und alle Seiten den Begriff positiv bewerten, das konkrete Konzept aber stark abweicht, es herrscht „ideologische Polysemie“ (Dieckmann 1969: 70). Solche unumstritten positiv besetzen Begriffe bezeichnet man als H O C HW E R TWÖR T E R . 2.2 Multimodalität Protestplakate bestehen aber nicht nur aus sprachlichen Elementen wie Schlag‐ wörtern, sondern beinhalten auch ein bildliches Umfeld, mit dem sie eine Beziehung eingehen, sodass sie multimodal erfasst werden müssen, um ihre Bedeutung vollständig zu entschlüsseln. Multimodalität meint, nicht nur in Bezug auf digitale Texte, die Kombination mehrerer Zeichensysteme, etwa Sprache, Bild und Ton. Die Zeichensysteme können medial unterschiedlich realisiert werden (etwa als Protestplakat aus Pappe, als Klima-Podcast oder als Beitrag in den sozialen Medien) und als multimodaler Text über verschiedene Wahrnehmungskanäle rezipiert werden (d.h. in diesen Beispielen visuell und/ oder auditiv). Sprache ist ein Zeichensystem, das medial mündlich oder schriftlich realisiert, also als auditiver Ton oder visueller Text wahrgenommen werden kann (Klug/ Stöckl 2015: 245). Jedes Zeichensystem, auch als mode bezeichnet, verfügt über eigene Ressourcen, Strukturen und Potenziale, die erstmals ausführlich von Kress/ van Leeuwen (1996) beschrieben wurden. Für Bilder konstatiert Klug (2016: 173ff.) einen hohen Aufmerksamkeitswert, leichte Konzeptualisierung und Memorisierung. Sie eignen sich daher zur Illus‐ tration und Emotionalisierung. Zusätzlich zu den verschiedenen Modalitäten als Zeichenressourcen spielen auch periphere Modalitäten eine Rolle, die nur in Verbindung mit einem Zeichensystem existieren können, z.B. die Typografie schriftlich realisierter Sprache oder die Positionierung von Bildern (cf. Meer/ Pick 2019a: 65-69, 73). In Anlehnung an Schmitz (2011: 25) definieren wir Protestplakate als Sehflä‐ chen, d.h. „Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsam Bedeutungseinheiten bilden.“ Deren Bedeutung ergibt sich u.a. aus der Front‐ stellung gewisser sprachlicher und/ oder visueller Elemente, den dynamischen Beziehungen (Vektoren) zwischen Elementen und der Nutzung des Raumes (cf. Kress/ van Leeuwen 2006: 175-214). 167 #JusticiaClimáticaYa <?page no="168"?> 1 In den untersuchten Ländern war Instagram in Statistiken unter den beliebtesten drei sozialen Netzwerken: In Spanien lag Instagram 2020 auf Platz 2 der meistgenutzten Apps unter Jugendlichen, unmittelbar hinter dem Messenger-Dienst Whatsapp (IAB 2020). In Mexiko führen Facebook und Whatsapp die Liste der beliebtesten Apps an, Klug (2016: 168) hält das Bewusstsein für die Multimodalität von Texten inzwischen für etabliert. Denn „will man Sprache so beschreiben, wie sie gebraucht wird, lässt sie sich nicht aus ihren multimodalen Kontexten lösen.“ Daher nehmen wir an, dass sich auch die Bedeutung eines Protestplakats aus dem Zusammenspiel der genutzten Zeichensysteme ergibt. Dies impliziert, dass die Modalitäten auf Textebene miteinander verknüpft sind, sowohl entweder intravs. intermodal als auch intravs. intertextuell (Klug 2016). Erst die Verflechtung der Modalitäten ergibt die Gesamtbedeutung des Textes. Die Modalitäten „se combinan para generar interpretaciones que solo pueden obtenerse de la combinación de dichos discursos, y no de las interpretaciones parciales obtenidas de los mismos“ (Yus 2021: 325). Damit wird die Emergenz, die in der Textlinguistik grundlegend ist, auf Multimodalität übertragen, sodass die Bedeutung eines multimodalen Textes mehr ist als die Summe der Einzel‐ bedeutungen der jeweiligen modes. Klug/ Stöckl (2015: 261) sehen in der Frage „[w]ie teilen sie [die Modalitäten, Anm. d. Verf.] sich die kommunikative Arbeit im Gesamttext? “ eine grundlegende Forschungsrichtung, weshalb sie in dieser Studie einbezogen wird. Texte können folglich in unserem Verständnis Bild- und Sprachzeichen gleichermaßen enthalten. 2.3 Von der Straße ins Netz — Kommunikationswege der FFF Die Kommunikation der FFF basiert einerseits auf Diskurstraditionen früherer (Umwelt-)Bewegungen. Andererseits unterscheidet sie sich von diesen „durch die intensive Nutzung sozialer Medien“ (Kerschhofer-Puhalo 2020: 80). Es gilt nicht mehr nur physisch an Protestaktionen teilzunehmen, sondern auch virtuell Unterstützung zu signalisieren und Texte zu teilen. Soziale Medien ermöglichen so einer noch größeren Masse, Teil der sozialen Bewegung zu sein. Denn „individuals can not only be part of a movement by a low-cost effort via social media but rather activist [sic] may use social media to catalyse the partici‐ pation and popularity of certain social movement which they support.“ (Brünker et al. 2019: 305) Im Zuge der Coronapandemie ermöglichten diese Mechanismen einen Fortgang des Klimaprotests auch abseits von Massendemonstrationen und damit eine neue Form des Protestierens auf Distanz. In dieser Arbeit fokussieren wir Instagram als Kommunikationsmedium der FFF . Es ist eines der beliebtesten sozialen Netzwerke besonders unter Jugendli‐ chen. 1 Eine relevante Eigenschaft dieser Texte ist ihre Reichweite: „Angaben 168 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="169"?> Instagram liegt bei Jugendlichen auf Platz 3 (Hurtado et al. 2019). Auch Studien aus Chile zeigen, dass Instagram vor allem bei der „generación Z“ beliebt ist, d.h. Personen zwischen 13 und 21 Jahren (CADEM 2019). 2 Zur Gegenüberstellung von Jung und Alt bei norwegischen Klimastreiks cf. Fløttum/ Andersen im selben Band. über die Anzahl von Abrufen, Likes, Kommentaren usw. sind eine neue Form der Zuschreibung von Rezeptions- und ggf. auch Überlieferungswert“ (Adamzik 2018: 47). Speziell für die FFF war die Verbreitung von Informationen über soziale Netzwerke essenziell. Hätte Greta Thunberg zu Beginn ihres Schulstreiks in Stockholm keine Bilder auf Twitter und Instagram verbreitet und damit eine wachsende Reichweite erzielt, wäre daraus womöglich keine globale Protestbewegung erwachsen (cf. Meer/ Pick 2019b: 163f.). Die kommunikativen Folgen dieser neuen digitalen Protestform betreffen sowohl die Protestplakate selbst als auch die Berichterstattung. Wurden in Berichten über FFF bisher auf Fotos „vornehmlich die ganz jungen Demonstrie‐ renden mit selbst gebastelten Schildern und individuellen Sprüchen“ gezeigt (Rucht 2019: 5f.) und „eine Menschenmasse, die in starkem Kontrast zu den düsteren Szenarien einer möglichen Klimakatastrophe den Eindruck von Zuver‐ sicht vermittelt“ (ebd.), so dominieren nun Portraitfotos von Demonstrierenden in sozialen Netzwerken, die erst durch das Liken und Teilen zu einem Netz von Akteur: innen werden. Zentral in der Verbreitung ist dabei die Rolle der Lokalgruppen, die über eigene Accounts die Beiträge der Aktivist: innen bündeln und ein buntes Mosaik des digitalen Streiks entwerfen. Inhaltlich schlägt sich die Struktur in einer „multitude de voix, de points de vue, de valeurs, de visions du monde et d’intérêts liés au changement climatique“ nieder (Fløttum et al. 2019: 3). Was Fløttum et al. als „polyphonie“ (ebd.) in Bezug auf Argumentation, Er‐ zählung und Rhetorik des Klimadiskurses untersuchen, zeigt sich im Speziellen auch auf einzelnen Protestplakaten. Spieß (2019) stellt für deutschsprachige Protestplakate fest, dass sie oft von dichotomischen Figuren geprägt sind, wie z.B. „Klimawende statt Weltende“ (ebd.), eine Struktur, die, indem sie erst ein F AHN E NW O R T und anschließend ein S TI G MAW O R T nennt, auch direkt den Ausweg sichtbar macht. Weitere Muster sind nach Spieß (2019) Reimschemata, Vergleiche, Ironie und Kontraste, etwa zwischen früher und heute oder zwischen den Generationen. 2 Auf diese Weise „arbeiten die Freitags-Demonstrant*innen daran, die Glaubwürdigkeit von Sprecher*innen im Diskurs neu zu verteilen, indem sie sich als eine Gruppe äußern, die nicht einmal wahlberechtigt ist“ (ebd.). Mit welchen sprachlichen und multimodalen Mitteln die spanischspra‐ chige FFF dies tut, zeigt die folgende Korpusanalyse. 169 #JusticiaClimáticaYa <?page no="170"?> 3 Eine Analyse von Protestplakaten beispielsweise aus Pressetexten würde womöglich andere Muster im Sinne der Fremdstatt der Selbstinszenierung aufzeigen. 3 Korpus Um der Frage nachzugehen, wie die Anliegen der FFF sprachlich und bildlich, also multimodal konstruiert werden, werden Protestplakate analysiert, die im Rahmen des zum Zeitpunkt der Untersuchung aktuellen globalen Klimastreiks am 25. September 2020 gestaltet wurden. Laut eigenen Angaben der Bewegung war dies der Klimaprotest mit den meisten Teilnehmenden seit Beginn der Co‐ ronapandemie (cf. FFF 2021). An jenem Freitag nahmen weltweit laut internen Angaben 286.222 Personen an Veranstaltungen der FFF im Rahmen des „Global Day of Climate Action“ („Día Global de Acción por el Clima“) in 93 Ländern teil (ebd.). Aufgrund der Coronapandemie fanden sowohl Demonstrationen mit entsprechenden Hygienekonzepten statt als auch erstmals im großen Stil digitale Proteste unter dem Hashtag #digitalstrike bzw. #huelgadigital. Zur Berichterstattung über verschiedene Aktionen weltweit posteten Ortsgruppen der FFF auf Instagram Fotos, aus denen die Protestplakate entnommen wurden. Instagram gilt unter den sozialen Netzwerken als besonders visuell, da kein Text ohne Foto oder Video veröffentlicht werden kann, sodass jeder Post immer auch Bildzeichen enthält. Yus (2021: 331f.) konstatiert in diesem Zusammenhang eine sprunghafte, fragmentarische, dafür aber vernetztere Lesart der Beiträge im Gegensatz zu analogen Texten, aus der sich ein Kampf um die Aufmerksamkeit der Rezipient: innen ergibt. Das Korpus besteht aus Fotos, welche die FFF zur Selbstdarstellung veröffent‐ lichten und so eine interne Perspektive auf die Bewegung ermöglichen. 3 Zur Ver‐ linkung der Beiträge nutzten die Autor: innen die Hashtags #JusticiaClimáticaYa, das Motto des Streiktages, #huelgadigital sowie #25S mit Referenz auf das Datum. Das Korpus besteht ausschließlich aus spanischsprachigen Protestplakaten. Um der Protestbewegung als plurizentrischem Phänomen gerecht zu werden, umfasst das Korpus Plakate aus Mexiko, Spanien, Argentinien, Peru und Chile. In diesen Ländern ist die Reichweite der Instagram-Accounts mit deutlich über 10.000 Follower: innen hoch. Die Interaktion der jeweiligen Beiträge, etwa Likes oder Kommentare, werden nicht in die Analyse einbezogen. Auf den Fotos sind neben den Plakaten ausschließlich demonstrierende Menschenmengen oder Einzelpersonen zu sehen. Der Schwerpunkt der multimodalen Analyse liegt auf den Plakaten selbst. 170 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="171"?> 4 Anzahl der Abonnent: innen der jeweiligen Instagram-Accounts. 5 Das gesamte Korpus ist in Schriftform im Anhang dieses Beitrags zu finden. Die Abkürzungen in den folgenden Belegen beziehen sich dabei auf die lokalen FFF-De‐ monstrationen, auf denen die analysierten Plakate getragen wurden: A = Argentinien, C = Chile, M = Mexiko, P = Peru, S = Spanien. Die Zahl gibt die Nummerierung innerhalb des Korpus an. Typografie und Hervorhebungen entsprechen dem Original. Die Bilder selbst konnten aus rechtlichen Gründen nicht angehängt werden. Land Accounts Reichweite 4 [Stand: 18.03.21] Anzahl der Protestplakate Argentinien @fridaysforfuture.arg @fridaysforfuture.caba 18.200 4.357 27 Chile @fridaysforfuturechile @fridaysforfuturesantiago 38.300 43.600 10 Mexiko @fridaysforfuturemx @fffcdmx 15.100 1.612 22 Peru @fridaysforfutureperu @fridaysforfuturelima 19.000 912 13 Spanien @juventudxclima @fridaysformadrid 11.200 10.500 11 Summe: 83 Tab. 1: Korpuszusammenstellung 5 4 Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse Es folgt ein kurzer quantitativer Überblick über das Korpus, bevor Schlagwörter, multimodale Muster und die beiden Schwerpunkte Dringlichkeit und Forde‐ rungen im Detail vorgestellt werden. Dabei betrachten wir die sprachliche und bildliche Konstruktion des Klimadiskurses auf Protestplakaten als multimodal miteinander verwoben. Zunächst ist der kommunikativ-pragmatische Rahmen (Gardt 2012; Klug 2016) der 83 Protestplakate ähnlich. Die Textproduzent: innen sind Jugendliche der FFF , die mit ihren Texten klimapolitische Forderungen zum Ausdruck bringen. Aus dem Kontext von Straßendemonstrationen und digitalen Streiks ergibt sich der appellative Charakter der Texte (cf. Hermanns 2007: 460). Über die Plakate kommunizieren die Protestierenden mit antizipierten Leser: innen, darunter mehr oder weniger direkt mit Co-Aktivist: innen, Bürger: innen, Jour‐ nalist: innen und Politiker: innen. Auf der Mehrheit der Fotos sind auch die Pla‐ katträger: innen abgebildet. Lediglich die chilenische Ortsgruppe legte ihre For‐ 171 #JusticiaClimáticaYa <?page no="172"?> derungen demonstrativ vor dem Regierungsgebäude ab, wodurch die Schilder selbst zu Akteuren wurden (cf. Kerschhofer-Puhalo 2020). Die 83 Protestplakate sind trotz ihres digitalen Auftritts bis auf zwei Aus‐ nahmen alle handgeschrieben bzw. gebastelt. In drei Fällen wurde das Bild sichtbar digital bearbeitet und nachträglich durch einen Schriftzug ergänzt. Doch selbst in diesen Fällen bildet ein analoges Plakat den Ausgangspunkt. Dies gilt auch in den Ländern, in denen die Demonstrationen coronabedingt ausschließlich (Mexiko) oder teilweise (Peru) digital stattfanden. Das gibt den Demonstrationen der globalen Bewegung einen persönlichen Charakter und zeigt eine stärkere individuelle Investition, denn die Gestaltung der Plakate verlangt Zeit. Die digitale Verbundenheit der Generation wird dennoch deutlich: Auf vierzehn der Plakate finden sich bis zu drei handgeschriebene Hashtags, obgleich diese technisch zur Systematisierung und Filterung von Inhalten auf Papier nicht wirken können, wie sie es online tun. In Anlehnung an Eckkrammer (2019: 349) handelt es sich hierbei also um „Rückkopplungseffekte des Social Web auf die traditionellen analogen […] Textwelten“. Trotz materiell bedingt fehlender Verlinkung verweisen die Hashtags auf Papier auf das gesamte Diskursuniversum im Netz. Knapp die Hälfte der Plakate enthält nur Sprachzeichen, die allerdings oft unterschiedlich bunt hervorgehoben sind. Alle anderen enthalten Bilder, Grafiken und Symbole, die mehr oder weniger stark mit den sprachlichen Komponenten verflochten sind. Rhetorisch-stilistisch lassen sich die Plakate größtenteils als sachlich und nüchtern beschreiben. Im Gegensatz zu den bei Spieß (2019) untersuchten deutschsprachigen Plakaten (cf. 2.3) wird nur in wenigen Fällen Humor oder Ironie genutzt, wie die Belege (1) und (2) zeigen. Auch Reime (Beleg 3) sind selten. Etwas häufiger finden sich hingegen auch in der hispanophonen Welt dichotomische Figuren (Beleg 4 und 5). (1) Si los árboles dieran WIFI la mayoría los plantaría COMO LOCOS, lastima que solo produzcan el OXIGENO QUE RESPIRAMOS. (M25) (2) SI EL PLANETA FUERA UN BANCO YA LO HABRÍAN RESCATADO (A11) (3) SIN PLANETA NO HAY CROQUETAS (VEGANAS) (S3) (4) ALCEMOS LA VOZ NO EL NIVEL DEL MAR (A7) (5) CAMBIEMOS EL SISTEMA NO EL CLIMA (P3) Musterhaft im gesamten Korpus ist hingegen die Personifikation von Mutter Erde. 172 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="173"?> 6 Keywords sind die im Vergleich zum Vorkommen im Vergleichskorpus relativ häufigsten Wörter (cf. Stubbs 2010: 35); es wurde nicht zwischen Groß- und Kleinschreibung unterschieden und eine Mindestfrequenz von zwei vorausgesetzt, um das Ergebnis nicht durch Einzelfälle, wie vereinzelte Hashtags oder Rechtschreibfehler, zu verzerren. 7 Auf Platz fünf findet sich „guardia indígena“, das ausschließlich in Peru vorkommt und deren Plakat auf die für die Rechte der Indigenen eintretende Gruppierung Bezug nimmt. 8 Die Suche war begrenzt auf zwei Wörter, es folgt aber stets future. (6) MAMI QUE TU QUIEREEE? […] (M4) (7) RESPETA A TU MADRE (S9) Plakat (6) verstärkt die Rollenverteilung Mensch-Erde zusätzlich, indem offen‐ sichtlich der Tonfall eines quengelnden Kindes durch Dehnungsvokale nachge‐ ahmt wird. Auch Plakat (7) greift einen bei hispanophonen Kindern bekannten Satz auf. Doch nicht nur durch Worte wird personifiziert. Die Erde wird auch bildlich mit Atemschutzmaske und der Aufschrift „ APENAS RESPIRA “ (M7) dargestellt. 4.1 Schlagwörter auf Protestplakaten Ausgangspunkt für die Schlagwortanalyse ist eine quantitative Auswertung des Korpus, die aufgrund dessen geringer Größe nicht im Zentrum der Unter‐ suchung steht, dennoch aber in seiner Gesamtheit Erkenntnisse über keywords und Kollokationen ermöglicht. 6 Vergleicht man das Korpus mithilfe von SketchEngine mit einem großen gesamtspanischen Korpus (hier esTenTen2018) und extrahiert die keywords, so finden sich in den Top 10 Escazú, fightclimateinjustice, recuperaciónverde, justi‐ ciaclimática, fridays, climático, sos, planeta. Zwar verzerren die hashtagbedingte Zusammenschreibung und die Anglizismen die Statistik. Dennoch werden das Thema Klima und das damit verbundene Problem bereits in den keywords deutlich. Aussagekräftiger noch sind die relativ häufigsten Kollokationen 7 : planeta b, justicia climática, fridays for  8 , emergencia climática, acción climática, crisis climática. Die Mehrzahl der Belege enthält das Lemma Klima: Es möge gerecht verteilt werden, es müsse zu seinem Schutz gehandelt werden, es sei in der Krise, entsprechend dringend sei es, denn eine Alternative, einen Ersatzplaneten, gebe es nicht. Die Liste verdeutlicht, dass die Begriffe fast alle deontisch aufgeladen sind. Die crisis climática, wie jede Form von Krise, trägt die Dring‐ lichkeit und die Notwendigkeit des Handelns in sich und beschreibt damit ein Phänomen, das andere als cambio climático bezeichnen. Der Terminus 173 #JusticiaClimáticaYa <?page no="174"?> 9 Zu den Begriffen Klimawandel, Klimakrise und Klimakatastrophe sowie deren Wir‐ kungen bei Reszke (2021) sowie Tereik (2016: 111ff.). 10 Das ist nicht begrenzt auf den Klimadiskurs weltweit, sondern insgesamt im politischen Diskurs ein positiv besetzter Begriff: Man denke an Obamas Wahlkampagne 2012 mit „Change we can believe in“ oder an Hollandes Wahlkampfslogan im selben Jahr „Le changement c’est maintenant“ oder an die argentinische Partei „Juntos por el Cambio“, ehemals „Cambiemos“. „inadvertent climate modification“ (cf. Matthew et al. 1971) wurde zunächst durch Erderwärmung/ calentamiento global („global warming“ Broecker 1975) und schließlich durch Klimawandel/ cambio climático abgelöst. Nicht zuletzt Frank Luntz, Berater von George W. Bush junior, war sich der Deontik bewusst und riet 2002 dem damaligen Präsidenten, Wandel/ change in seinen Reden zu bevorzugen, denn „climate change suggests a more controllable and less emotional challenge“ (Christensen 2019). Es wundert daher nicht, dass sich die FFF mit einer Ausnahme, für den Begriff crisis climática entschieden hat, der als S TI G MAW O R T fungiert. 9 Cambio/ cambiar in unterschiedlichen Formen tritt hingegen sonst als positives Schlagwort auf, die Veränderung ist etwas Erstrebenswertes (Beleg 8). Wandel hin zu einer klimafreundlichen Politik, eine Veränderung des Systems sei nötig (Beleg 5). (8) DEBEMOS CAMBIAR, PODEMOS CAMBIAR, VAMOS A CAMBIAR […] (M22) (5) CAMBIEMOS EL SISTEMA NO EL CLIMA (P3) In der Zusammenschau zeigt sich, dass cambio ein H O C HW E R TW O R T ist: Sowohl Klimaaktivist: innen als auch Politiker: innen nutzen Wandel  10 , um bei den Adressat: innen das Bild einer positiven Zukunft zu erzeugen. Insgesamt dominieren die H O C HW E R TWÖR T E R auf den Plakaten: Neben cambio ist von justicia die Rede, von futuro und salud/ sano. Unbestritten wünscht sich sicherlich jede: r Gesundheit, eine Zukunft und Gerechtigkeit. Was die Einzelperson wiederum unter diesem Konzept versteht, kann sehr unterschied‐ lich ausfallen. Gerade die Unterschiedlichkeit dieser Vorstellung ermöglicht es allen, diese Schlagwörter uneingeschränkt positiv zu finden und das macht sie zu idealen Begriffen für Demonstrationsplakate, die einen massentauglichen Konsens trotz individueller Deutungen ermöglichen. Einen der wichtigsten Gründe für die Klimakrise sieht die FFF im sistema. Dieses S TI G MAW O R T findet sich nicht nur in Peru (Beleg 5), sondern z.B. auch in Argentinien: „ NO ES EL CLIMA ES EL SISTEMA “ (A3). Das System wird gleichgesetzt mit dem Problem und Probleme sollten behoben werden. Das 174 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="175"?> 11 Cf. Priester (2012); zur Sprache populistischer Bewegungen in Krisenzeiten cf. Issel-Dombert/ Wieders-Lohéac (2018). 12 Geprägt wurde der Ausdruck vom ehemaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der 2014 eine Rede beim Klimagipfel in New York mit den Worten begann: „There is no plan B because there is no planet B.“ (UN News 2014). 13 Ein Bild der Faust, das die Bewegung inzwischen für sich beansprucht, ist die Geste zweier aneinandergehaltener Fäuste. Sie steht für einen Personenkreis, den FFF selbst als MAPA bezeichnet (für Most Affected People and Areas): „We are the least responsible for the climate emergency, but we are the ones who suffer the most from its conse‐ quences” erklärt die Bewegung auf Twitter (FFF-2020). Als Zeichen der Solidarisierung zeigen sich auch Aktivist: innen des „Globalen Nordens“ mit der entsprechenden Faust-Geste u.a. auf den Fotos zur Inszenierung des digitalen Protests, aus denen das Korpus extrahiert wurde. In diesem Fall überlagern sich funktionell Bild der Bewegung und Bild des Protests. System ist ein beliebtes Schlagwort: Oft wird es bei (populistischen) Volksbewe‐ gungen als Schuldiger für alles Leid genannt, es wird hier der typische Gegensatz von „denen (da oben)“ und „wir (hier unten)“ aufgetan. 11 Dass dieses System, das die Klimakrise (mit-)verschuldete, sich wandeln muss, ist für FFF unausweichlich. Diese wortwörtliche Alternativlosigkeit zeigt sich in dem am häufigsten und überall auftretenden Schlagwort planeta b, im Kontext: No hay planeta B, analog zum englischen Phraseologismus There is no planet B  12 . Aus diesem Nichtvorhandensein eines weiteren bewohnbaren Planeten erwächst die Handlungspflicht eines jeden Menschen zur Rettung der Erde. Planeta (b), der die ideale und komfortable Lösung des Problems wäre, fungiert daher als F AHN E NW O R T . Dass gerade dieser nicht existiert, impliziert eine besondere deontische Aufladung, die nur hypothetisch funktioniert. Übergreifend zeigt die Schlagwortanalyse, dass im untersuchten Korpus die H O C HW E R TWÖR T E R cambio/ cambiar, justicia, futuro und salud/ sano in Anzahl und Frequenz den S TI G MAWÖR T E R N crisis climática und sistema überlegen sind. Gemeinsam mit dem F AHN E NW O R T planeta b konstruieren die H O C HW E R TWÖR T E R eine positive Deontik, die sich auch im folgenden Teilkapitel zeigen wird. 4.2 Multimodale Muster Die bildlichen Elemente des Korpus lassen sich grundlegend in zwei Katego‐ rien unterteilen: Bilder der Bewegung wie Bäume und Windkraftanlagen in Abgrenzung zu Bildern des Protests, etwa ein Megafon oder eine Faust. 13 Erstere ermöglichen eine Identifikation der FFF und ihrer spezifischen Inhalte, während letztere der sozialen Praktik des Protests entsprechen und auch in inhaltlich anderen Protestbewegungen Verwendung finden. Von den insgesamt 61 bildlichen Elementen zeigen 17 und damit die größte Gruppe die Erde. Prototypisch wird sie als Kugel mit blauen und grünen Teilen verbildlicht. Etwa 175 #JusticiaClimáticaYa <?page no="176"?> ein Drittel der Illustrationen stellt die Erde mit Flammen dar, ein Symbol, das im übertragenen Sinne für die Erderwärmung steht. Diese Häufigkeit deckt sich mit dem in Kapitel 3.1 erläuterten F AHN E NW O R T planeta (b). Die Funktion der Bildzeichen auf den untersuchten Sehflächen besteht darin, die sprachlichen Zeichen zu ergänzen und/ oder zu ersetzen (oder vice versa). Auffällig sind dabei in der Binnenstruktur der Plakate die intermodalen Ver‐ knüpfungen zwischen Sprache und Bild. Wenn beispielsweise die Buchstaben des Lexems ‚movilidad‘ visuell mit zwei Rädern (M4) oder das <o> von ‚mirando‘ als Auge mit Wimpern (C5) dargestellt werden, liegt eine enge multimodale Verflechtung vor, die an die indexikalische Funktion von Zeichen erinnert. Dabei verweisen die bildlichen Elemente auf die Bedeutung der Sprachzeichen und umgekehrt. Gleiches gilt für die Lexeme ‚llamas‘ und ‚casa‘, die in gelb-roten Flammen bzw. blau-grünen Flächen koloriert sind (A8). Multimodal wird auf diese Weise deutlich, dass ‚casa‘ für den Planeten Erde steht. Typografie ist nach Klug/ Stöckl (2015: 247) ein paraverbaler Aspekt und damit eine periphere Modalität des sprachlichen Zeichensystems. Im Korpus ist neben der überwiegenden Großschreibung vor allem die Farbsymbolik markant. Die Farben Schwarz, Rot und Grün prägen das Korpus. In roter Schrift stehen auf den Sehflächen mehrheitlich Probleme und Konflikte, z.B. „ EMERGENCIA CLIMÁTICA “ (M1), „ ERRORES “ (A21), „ QUIEBRE “ (M11) und „ SISTEMA “ (P3). Außerdem ist das semantische Feld von Krieg und Gewalt meist in Rot verschriftlicht, u.a. „ ASESINADOS “ (C2), „ LLAMAS “ (A8) und „ MATANDO “ - „ MIRANDO “ (C5). Grüne Schriftfarbe wird im Gegensatz überwiegend für Zielvorstellungen und zukunftsweisende Perspektiven genutzt: „ #RECUPERA‐ CIÓN VERDE “ (M13), „ EL FUTURO DE LA TIERRA ES EL NUESTRO “ (M15), „ VAMOS A CAMBIAR “ (M22). Exemplarisch für die Farbsymbolik im Korpus soll Beleg (5) stehen: (5) CAMBIEMOS grün EL schwarz SISTEMA rot NO rot, eingekreist EL schwarz CLIMA grün (P3) Liest man nur die Wörter in gleicher Schriftfarbe, wird der Vorwurf deutlich, dass sich das Klima ändere (cambiemos clima), aber das System nicht (sistema no). Die Verneinung ist zusätzlich durch eine Umrandung typografisch hervor‐ gehoben. 4.3 Facetten der Dringlichkeit Auffällig ist, wie viele Plakate auf die Notwendigkeit sofortigen Handelns drängen. Die Untersuchung ergibt, dass etwa die Hälfte der Plakate Dringlich‐ 176 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="177"?> 14 Das Plakat stellt einen intertextuellen Verweis auf eine Rede Greta Thunbergs dar, die sie im Januar 2019 im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in Davos hielt. Dort sagte sie im Wortlaut: „I don’t want you to be hopeful. I want you to panic … and act as if the house was on fire.” (World Economic Forum 2019). keitsmarker aufweist. Das sind zunächst explizit Temporaladverbien wie ya, ahora, hoy in den folgenden Belegen: (9) #JusticiaClimáticaYA (M27) (10) El momento de actuar ante la crisis climática es AHORA! (M14) (11) SOS HOY ES EL DIA CERO (A15) Außerdem enthält das Korpus einige Substantive, deren Semantik Dringlichkeit beinhaltet: pánico, presente, emergencia, crisis (climática). Laut RAE (2021) bedeutet Krise bereits eingetretene Veränderung: „Cambio profundo y de con‐ secuencias importantes en un proceso o una situación […]“, im Falle des Klimas eine, die nicht erwünscht ist und auf die entsprechend sofort reagiert werden müsse. Ähnlich verhält es sich mit emergencia, das auf mexikanischen und peruanischen Plakaten vorkommt und laut DEM (Diccionario del español de México, 2021) ein „Acontecimiento o situación imprevista y peligrosa, grave o dañina“ ist. Auf anderen Plakaten ist von erwünschter pánico die Rede („ NO QUIERO QUE TENGAS ESPERANZA QUIERO QUE ENTRES EN PÁNICO “ M3). 14 Panik sei demnach die Voraussetzung für aktives Handeln. Zudem machen die Jugendlichen deutlich, dass sie nicht für ihre Zukunft, sondern für ihre Gegenwart kämpfen („ LUCHANDO POR NUESTRO PRESENTE “ M8), woraus sich ebenso Dringlichkeit ergibt. Das Korpus enthält des Weiteren das ehemalige Notsignal „ SOS “ (M2, A15), das einzig und allein entstanden ist, um zur sofortigen Unterbrechung des umliegenden Sendebetriebs zu führen und somit Dringlichkeit zu signalisieren (cf. International Wireless Telegraph Convention 1907: 38). Es sollte ein kurzes, von allen leicht zu verstehendes Morsesignal sein, damit sprachenunabhängig jede: r es verstehen und Hilfe leisten kann (cf. Eul 2008). Da die Aktivist: innen sich mit ihren Aktionen an die ganze Welt wenden, scheint der Rückgriff auf diesen international bekannten Notruf folgerichtig. Auch wenn von planeta B die Rede ist, zeigt sich der Zeitdruck. Denn die Negation einer Alternative muss nur benannt werden, wenn Plan(et) A keine mögliche Option (mehr) ist. Genauso verhält es sich bei den Kollokationen „ SIN PLANETA “ (S3) und „ PLANETA MUERTO “ (A9). 177 #JusticiaClimáticaYa <?page no="178"?> 15 Hierbei handelt es sich um einen Klassiker der Umweltbewegung. Der Ursprung ist umstritten, oft wird er als „Native American saying“ zitiert (cf. Simpson/ Speake 2008). Spätestens seit den 1980er Jahren findet sich dieser Spruch auf Plakaten der Umweltbewegung, wie zum Beispiel bei Greenpeace (Spiegel 1982). Ein weiterer sprachlicher Dringlichkeitsmarker sind Modi. Dass unmittelbar gehandelt werden muss, sieht man z.B. an der Verbalperiphrase mit progressiv präsentischem Wert in Beleg (12): (12) LA TIERRA NO ESTA MURIENDO ESTA SIENDO ASESINADA (M17) Das Gerundium im Spanischen zeigt an, dass in diesem Moment der Mord geschieht: Die Erde liegt nicht im Sterben, sie wird gerade ermordet. Jetzt muss also eingegriffen werden, auch wenn kein Agens adressiert wird. Verstärkt wird die Dringlichkeit oft noch paraverbal durch Ausrufezeichen, Unterstreichungen und Majuskeln. Darüber hinaus wird sie auch bildlich konstruiert, etwa über die Illustration der Erde in Flammen oder das Anfügen von Flammen an einzelne Wörter (z. B. an „ GUARDIA INDÍGENA “ P8). Das semantische Feld Gefahr, das per se Dringlichkeit impliziert, wird über das Verkehrszeichen ‚Achtung‘ (A20, P1), Totenköpfe (C2), rote, d.h. blutige Hand‐ abdrücke (P6, P7) und den intertextuellen Verweis auf die Textsorte Drohbrief bedient: Das Plakat in Beleg (13) wurde nicht handschriftlich verfasst, sondern bildet aus einzeln ausgeschnittenen Buchstaben den Schriftzug. (13) cuando el último árbol sea cortado, el último río envenenado, el último pez pescado, solo entonces el hombre descubrirá que el dinero no se come 15 (M23) Im multimodalen Vergleich von Sprache und Bild zeigt sich, dass die Folgen des Klimawandels und die Zerstörung des Planeten bildlich detailreicher und dramatischer dargestellt werden als verbal. Während Ausdrücke wie „ EMER‐ GENCIA CLIMÁTICA “ (M1) sprachlich abstrakt auf den Notstand hinweisen, zeigen z.B. Illustrationen von gerodeten Bäumen (M10), Massentierhaltung (A2, M10), schmelzenden Polen (M10), Grundwasserverunreinigung (P10) und Luftverschmutzung (P2, M10, M7) die konkreten Folgen auf. Die Funktion der Bilder liegt somit in der Illustration, Präzision und Emotionalisierung der Klimakrise (cf. Kapitel 2.2). Vor allem die multimodale Kombination der Zeichensysteme ergibt den Charakter der Dringlichkeit auf den Protestplakaten. Die Bildelemente verleihen der Sehfläche eine apokalyptische Komponente, die in diesem Ausmaß in der Sprache nicht vorliegt. 178 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="179"?> 16 Eine der Hauptforderungen der FFF in Lateinamerika ist die Ratifizierung des Es‐ cazú-Abkommens der Vereinten Nationen, dem bisher ersten Klimaabkommen in Lateinamerika und der Karibik. Zwar wurde es bisher von 24 Ländern unterzeichnet, aber nur von der Hälfte ratifiziert (CEPAL 2021). 4.4 Forderungen multimodal kommuniziert Neben der Konstruktion von Dringlichkeit liegt ein zweiter Schwerpunkt im untersuchten Korpus auf der Artikulation konkreter Forderungen. Die Ver‐ sprachlichung dieser appellativen Sprechakte erfolgt zunächst über Strukturen, die auf den ersten Blick auch in anderen Kontexten als Forderungen deutlich erkennbar wären: Wenn von queremos, debemos, podemos etc. zu lesen ist, machen die Modalverben allein den Aufforderungscharakter deutlich. Ebenso verhält es sich bei Imperativen, wie folgende Belege zeigen: (14) CONSTRUYE el futuro PLANTA ÁRBOLES (S1) (15) CUIDA A MI FUTURO […] (M16) (16) Firmen ESCAZÚ (C3) 16 Bemerkenswert ist dabei, dass Imperative, die sich an alle richten und nicht spezifisch an eine: n Politiker: in, in der 2. Person Singular formuliert werden oder seltener im Plural, wobei das Verbalparadigma des Spanischen Lateinamerikas im Plural nicht zwischen 2. und 3. Person unterscheidet. Nicht immer wird der Imperativ verbalisiert, verkürzt findet man auch „ ESCAZÚ AHORA ! “ (P4) oder „ JUSTICIA CLIMÁTICA YA ! “ (M18), wo Ausrufezeichen und der in Kapitel 4.2 analysierte Temporalmarker ya die Forderung klarstellen. Auf anderen Plakaten wird mithilfe von Ausrufezeichen auf Klimagerechtigkeit insistiert, z.B. „¡ JUSTICIA CLIMÁTICA ! “ (M11). Eine Besonderheit stellen appellative Sprechakte als Substantiv-Adjektiv-Kollokati‐ onen dar, die gänzlich ohne Verben und Satzzeichen auskommen: „ MOVILIDAD SUSTENTABLE ” (M13), nachhaltige Mobilität, ist für sich betrachtet noch kein Aufruf, aber als Äußerung auf einem Plakat wird im Kontext der Demonstration seine Funktion klar. Auch auf Wahlplakaten ist das seit jeher ein beliebtes Mittel (cf. Lessinger/ Holtz-Bacha/ Cornel 2015: 96f.), dem erst der kommunikativ-prag‐ matische Rahmen der Wahlkampagne den Aufforderungscharakter verleiht. Schließlich gibt es Wörter, deren Semantik selbst eine Forderung impliziert: (17) POR EL DERECHO A UNA EDUCACIÓN MEDIO AMBIENTAL! (C11) (18) POR EL DERECHO A RESPIRAR, APRUEBO! (C10) 179 #JusticiaClimáticaYa <?page no="180"?> (19) ¡Por la SALUD! (S7) (5) CAMBIEMOS EL SISTEMA NO EL CLIMA (P3) Die Belege (17) - (19) bedeuten für etwas zu sein. In (5) kommt zur Semantik von cambiar noch der subjuntivo hinzu, dem Modus für das, was sein sollte. Die Beispiele verdeutlichen, dass sich die Herangehensweisen nicht ausschließen, sondern oft in Kombination auftreten und sich dadurch verstärken. Wofür diese Lexeme und damit die gesamte Bewegung stehen, wird erneut durch die multimodale Perspektive auf das Korpus deutlich. Im Kontrast zu der zuvor aufgezeigten apokalyptischen bildlichen Darstellung des Klimawandels und seiner Folgen konstruieren andere Bildzeichen eine positive Perspektive auf Naturschutz: Illustrationen von Bäumen (M9, S1, A4, P11, C7), Bienen (M26, C7), Bergen (P11), Blumen (P9, P12) und Wasser (P13) zeichnen ein positives Bild der gefährdeten Natur, das als Zielvorstellung fungiert und mit dem H O C HW E R TW O R T futuro interagiert. Diese Bilder sind klar handlungsleitend, indem sie dazu auffordern, Maßnahmen zu ergreifen, die diese Umwelt(-utopie) ermöglichen. Konkrete Lösungsansätze werden ebenso verbildlicht. Auf den Protestpla‐ katen finden sich z.B. Fahrräder (M4, M9, M13), Tiere in Freilandhaltung (P11) sowie Windräder (M9, P11). Diese stehen in direktem Bezug zum H O C HW E R TW O R T cambiar. Bildlich wird der geforderte Wandel durch Maßnahmen konkretisiert, die nicht versprachlicht werden. Sowohl die apokalyptischen als auch die lösungsorientierten Bilder der Plakate tragen entscheidend zur emotionalen Bewertung der Sehflächen bei und machen die intensive Verflechtung der Modalitäten im Korpus deutlich. 5 Fazit Die Fridays-for-Future-Bewegung artikuliert ihren Protest derzeit weltweit sowohl bei Demonstrationen als auch digital über soziale Netzwerke. In Bezie‐ hung zueinander stehen diese beiden Protestformen, indem Lokalgruppen zur Berichterstattung und Selbstdarstellung Fotos von Demonstrationen posten, denen sich Aktivist: innen virtuell anschließen, indem sie ihre Plakate teilen. Die Untersuchung hat gezeigt, wie die FFF durch geschickte Kombination sprachlicher und bildlicher Elemente auf die Klimakrise aufmerksam macht. Sprachlich wie auch bildlich und in der multimodalen Verflechtung zeigt sich, dass die Plakate Dringlichkeit konstruieren und ihren Protest über die Notwendigkeit des akuten Handelns legitimieren. Diese Erkenntnis scheint zunächst naheliegend, ist doch sofortiges Handeln der Politik meist das Ziel 180 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="181"?> einer Demonstration. Hier ist sie jedoch ein wichtiger Teil der Forderung selbst, da keine arbiträre Regelung oder ein nationales Gesetz zur Eile drängt, sondern die Lebensumstände selbst. Darüber hinaus werden konkrete Forderungen deutlich, die sprachlich benannt und bildlich konkretisiert werden. Gemein haben diese appellativen Sprechakte eine konstruktive und lösungsorientierte Komponente. Multimodal konstruiert die Bewegung auf ihren Plakaten das Bild einer erstrebenswerten, nachhaltigen Zukunft. Tragen die Bilder einerseits allgemein zu einer stärkeren Emotionalisierung bei und helfen bei der Bewertung (lapidar ausgedrückt: apokalyptische Szena‐ rien sind schlecht, eine grüne Welt mit Bienen gut), erfüllen sie andererseits auch eine konkretisierende Funktion, die sich in der Konstruktion der Forderungen zeigt. Die geradezu kindliche Einfachheit der Bilder und ihrer Interpretation lassen die Problematik umso deutlicher wirken. Auch Dringlichkeit wird bildlich klar und konkret konstruiert, etwa mit Flammen und Gasmasken. Sprachlich wird sie mehrheitlich durch Temporaladverbien, aber auch Modi und Abstrakta wie crisis und emergencia, die schnelles Handeln erfordern, konstruiert. Auffällig ist die hohe Frequenz an H O C HW E R TWÖR T E R N , wie cambio und justicia, die im politischen Diskurs von Politiker: innen jeder Couleur verwendet werden und eine starke Identifikation mit der Bewegung erlauben, definiert doch jede Person das Konzept auf ihre Art. Die positive Deontik fügt sich insgesamt stimmig in den trotz akuter Klima‐ katastrophe hoffnungsvollen Ton der Plakate, den Rucht (2019: 5f.) der gesamten Bewegung zuschreibt, welche „den Eindruck von Zuversicht vermittelt“. Die zur Selbstdarstellung veröffentlichen Protestplakate lassen die Bewegung somit kritisch und zugleich konstruktiv wirken. Nur vereinzelt gibt es Vorwürfe an das sistema, die bei populistischen Bewegungen zentral sind, aber es finden sich bei FFF weder die im Populismus üblichen Sündenböcke noch gibt es eine (sprach‐ liche) Ausgrenzung einer Gruppierung. Gemeinsam wird das Ziel erreicht: DEBEMOS CAMBIAR, PODEMOS CAMBIAR, VAMOS A CAMBIAR (M22). 181 #JusticiaClimáticaYa <?page no="182"?> Korpus Instagram. fridaysforfuture.arg. https: / / www.instagram.com/ fridaysforfuture.arg/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. fridaysforfuture.caba. https: / / www.instagram.com/ fridaysforfuture.caba/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. fridaysforfuturechile. https: / / www.instagram.com/ fridaysforfuturechile/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. fridaysforfuturesantiago. https: / / www.instagram.com/ fridaysforfuturesantia go/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. fridaysforfuturemx. https: / / www.instagram.com/ fridaysforfuturemx/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. fffcdmx. https: / / www.instagram.com/ fffcdmx/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. fridaysforfutureperu. https: / / www.instagram.com/ fridaysforfutureperu/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. fridaysforfuturelima. https: / / www.instagram.com/ fridaysforfuturelima/ (letzter Zugriff: 18.03.2021) Instagram. juventudxclima. https: / / www.instagram.com/ juventudxclima/ (letzter Zu‐ griff: 18.03.2021) Instagram. fridaysformadrid. https: / / www.instagram.com/ fridaysformadrid/ (letzter Zu‐ griff: 18.03.2021) Literatur Adamzik, Kirsten (2018). 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QUIERO QUE SIENTAS EL MIEDO QUE YO SIENTO TODOS LOS DÍAS Y QUIERO QUE LUEGO ACTÚES” - “Greta Thunberg” M4 MAMI QUE TU QUIEREEE? Conciencia Ambiental Energías limpias Movi‐ lidad y Alimentación sostenible #RecuperaciónVerde M5 MEXICANOS AL GRITO DE Tierra M6 ¿Qué queremos? ¡Justicia climática! ¿Cuándo la queremos? ¡Ahora! #FFFTJ M7 APENAS RESPIRA. M8 ¡LUCHANDO POR NUESTRO PRESENTE, NO SOLO POR NUESTRO FUTURO! M9 ASI COMO PROMUEVEN EL USO DE CUBREBOCA DEBERIAN PRO‐ MOVER EL CUIDADO DEL MEDIO AMBIENTE M10 ES UN GRAN ERROR NO HACER NADA POR CREER QUE SE HACE POCO M11 ¡ JUSTICIA CLIMÁTICA! En un punto de QUIEBRE la ACCIÓN es la SOLUCIÓN #ContagiaElCambio M12 EL COVID NO ES LA ÚNICA CRISIS M13 MOVILIDAD SUSTENTABLE FFFMX #RECUPERACIÓNVERDE M14 #FightClimateInjustice El momento de actuar ante la crisis climática es AHORA! M15 #FIGHTCLIMATEINJUSTICE #FFF EL FUTURO DE LA TIERRA ES EL NUESTRO ACCIÓN CLIMÁTICA YA! M16 CUIDA A MI FUTURO JUSTICIA CLIMÁTICA M17 LA TIERRA NO ESTA MURIENDO ESTA SIENDO ASESINADA M18 JUSTICIA CLIMÁTICA YA! POR UN MUNDO SANO #ContagiaElCambio M19 ¿TAMBIÉN QUIERES USAR MASCARILLA POR CONTAMINACIÓN? RECUPERACIÓN VERDE M20 NO HAY PLANETA B #fffHgo #QueremosUnFuturoNOHidrocarburos 186 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="187"?> M21 NO HAY PLANETA B M22 DEBEMOS CAMBIAR, PODEMOS CAMBIAR, VAMOS A CAMBIAR 1,5: EL MANTRA DE LA TIERRA PARA SALVAR A LA HUMANIDAD M23 cuando el último árbol sea cortado, el último río envenenado, el último pez pescado, solo entonces el hombre descubrirá que el dinero no se come M24 #FightClimateInjustice NO SE LES ESCUCHA, PERO TIENEN VOZ. LU‐ CHAN POR SU PRESENTE NO SÓLO POR SU FUTURO. No seremos presos de la injusticia M25 FRIDAYS FOR FUTURE Si los arboles dieran WIFI la mayoría los planta‐ rían COMO LOCOS, lastima que solo produzcan el OXIGENO QUE RESPI‐ RAMOS M26 SI SE PIERDE ESTA LUCHA, SE PIERDEN TODAS Fridays for future México M27 #JusticiaClimáticaYA b) Spanien S1 CONSTRUYE el futuro PLANTA ÁRBOLES S2 ¡NO HAY UN PLANeta B! S3 SIN PLANETA NO HAY CROQUETAS (VEGANAS) S4 QUEREMOS UN CAMBIO, PERO NO CLIMATICO S5 otro MUNDO es POSIBLE S6 + RENOVABLES - ELÉCTRICAS S7 ¡Por la SALUD! S8 NO HAY PLANETA B S9 RESPETA A TU MADRE S10 BASTA DE POLÍTICAS COMERCIALES ECOCIDAS STOP UE-MER‐ COSUR c) Argentinien A1 COMER ANIMALES NOS ESTÁ MATANDO A2 LA VIDA NO TIENE PRECIO LOS ANIMALES NO SON OBJETOS A3 NO ES EL CLIMA ES EL SISTEMA 187 #JusticiaClimáticaYa <?page no="188"?> A4 ¿QUÉ VERDE MIRÁS? A5 NO HAY OTRO PLANETA B A6 TODO ESTE MALDITO SISTEMA ESTÁ MAL A7 ALCEMOS LA VOZ NO EL NIVEL DEL MAR A8 NUESTRA CASA ESTÁ EN LLAMAS A9 NO HAY FUTURO EN UN PLANETA MUERTO A10 SOMOS EL FUTURO PERO NOS ESTAMOS HACIENDO CARGO DEL PRESENTE A11 SI EL PLANETA FUERA UN BANCO YA LO HABRÍAN RESCATADO A12 MI CARTEL ES TAN PEDORRO COMO TU POLÍTICA AMBIENTAL A13 HAY + PLÁSTICO QUE SENTIDO COMÚN A14 NI 1 GRADO + NI 1 ESPECIE - A15 SOS HOY ES EL DÍA CERO A16 NO HAY PLANETA B A17 SALVEN NUESTRO FUTURO A18 ACTUAR YA A19 NOS ESTÁN ROBANDO EL FUTURO A20 TÚ TAMBIÉN ESTAS EN PELIGRO DE EXTINCIÓN A21 EL MAYOR DE TODOS LOS ERRORES ES NO HACER NADA POR-QUE SOLO PUEDES HACER POCO A22 NO HAY PLANETA “B”! d) Peru P1 ! COVID 19 < CRISIS CLIMÁTICA > ACTÚA AHORA ! P2 #JUSTICIACLIMÁTICA P3 CAMBIEMOS EL SISTEMA NO EL CLIMA. P4 ESCAZÚ AHORA! P5 LAS VIDAS INDÍGENAS IMPORTAN P6 LA SANGRE DE LOS INDÍGENAS NO SE NEGOCIA 188 Valentina Roether und Aline Wieders-Lohéac <?page no="189"?> P7 GUARDIAS INDÍGENAS P8 GUARDIA INDÍGENA P9 La Madre tierra nos necesita, con cuidado y cariño la podemos proteger #JusticiaClimática #25S #EMERGENCIAEcológica P10 HOY ES EL COVID MAÑANA EL CLIMA #25S P11 CUIDAR LA NATURALEZA ES CUIDAR DE NOSOTROS P12 EL AGUA ES DE TODOS Y TODOS DEBEMOS CUIDAR DE ELLA. LAKUMAMA NOS CRIA A TODOS Y TODOS DEBEMOS CUIDAR DE ELLA. #emergencia climática P13 CUIDEMOS EL AGUA PORQUE EL AGUA ES VIDA #EMERGENCIA ECOLÓGICA e) Chile C1 SI EL AGUA ES UN BIEN PRIVADO LA VIDA TAMBIÉN LO ES C2 NADIE ‚MORIRÁ‘ EN QUINTERO, ESTÁN SIENDO ASESINADOS C3 Firmen ESCAZÚ C4 PIÑERA, ¡FIRMA ESCAZÚ! C5 LAS EMPRESAS TE ESTÁN MATANDO Y TÚ SÓLO ESTÁS MIRANDO C6 1a PANDEMIA DE MUCHAS SI NO PARAMOS EL CAMBIO CLIMÁ‐ TICO C7 APRUEBO CONSTITUCION Ecológica C8 NO+ RALKO… PÁSCUALAMA… DOMINCA … ALTO MAIPO … AP‐ REUBA % C9 -EGO +ECO C10 POR EL DERECHO A RESPIRAR, APRUEBO! C11 POR el DERECHO A UNA EDUCACIÓN MEDIO AMBIENTAL! 189 #JusticiaClimáticaYa <?page no="191"?> Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ Dagobert Höllein (Passau) 1 Einleitung Fridays for Future ( FFF ) sind die bislang wirkmächtigste Jugendbewegung, die sich gegen das Voranschreiten menschengemachten Klimawandels engagiert. Sie richtet sich gegen die Zerstörung der Umwelt im Allgemeinen und die Kar‐ bonisierung der Atmosphäre im Besonderen ( FFF 2021). Der Protest der FFF -Be‐ wegung gründet sich im Kern auf Sprache, die insbesondere in Reden realisiert wird - zunächst auf Demonstrationen und seit Beginn der Corona-Pandemie verstärkt über das Internet (Kerschhofer-Puhalo 2020). In diesem Beitrag wird deshalb untersucht, inwiefern die FFF -Bewegung eine eigene Sprache im Sinne spezifischer syntaktisch-semantischer Profile herausgebildet hat. Die Forschung zur Sprache der FFF -Bewegung und der Sprache über Klima‐ wandel ist bislang zumeist lexikal-semantisch oder diskurslinguistisch ausge‐ richtet (Fløttum 2020). Quantitative und qualitative Forschungsergebnisse der lexikalischen Ebene finden sich in Lautenschläger (in diesem Band) und Whit‐ marsh (2009). Die Ergebnisse der diskurslinguistischen Untersuchungen liegen mit Roether/ Wieders-Lohéac (in diesem Band), Tereick (2016) und Fløttum (2014) vor. Im Gegensatz dazu wird hier die mittlere, syntaktisch-semantische Dimen‐ sion untersucht, die bislang nicht im Fokus der Forschung gestanden hat. Scheinbar ist diese Dimension eine wenig intuitive, um sprachliche Profile der FFF -Bewegung zu identifizieren. Meine Hypothese ist jedoch, dass diese Dimension weitgehend nicht der Planung der Produzierenden unterliegt und dadurch umso wahrscheinlicher nicht-intendierte sprachliche Eigenheiten ge‐ rade auf ihr analysierbar sind. Zur Untersuchung der syntaktisch-semantischen Dimension bzw. der Sprache der (deutschen) FFF -Bewegung ist ein Korpus aus acht Reden erstellt und analysiert worden. Für die FFF -Bewegung sind darin jeweils zwei Reden der Aktivistinnen Clara Mayer und Luisa Neubauer enthalten, die mit jeweils <?page no="192"?> 1 Nichtprototypische Komplementrealisierungen bzw. Nichtrealisierungen stellen Ab‐ weichungen gegenüber der Grundvalenz dar und werden über das konstruktionsgram‐ matische Theoriekonzept der Koerzion erklärt. In den Reden sind jedoch sämtlich kon‐ ventionelle Valenzen vorgekommen, die sich über das Grundvalenzkonzept erklären lassen. Deshalb sei zur Erklärung dieses Phänomens auf Höllein (2020: 85-89, 2019: 52-57) verwiesen. zwei Reden Angela Merkels und Svenja Schulzes als Vertreterinnen der Bun‐ desregierung kontrastiert werden, um potentielle sprachliche Eigenheiten vor diesem Hintergrund besser identifizieren zu können. 2 Theoretische Grundlagen Die syntaktisch-semantische Analyse der politischen Reden wird mit der in Höllein (2020) präsentierten Verbundtheorie vorgenommen, die Valenztheorie und Konstruktionsgrammatik verbindet und auf Arbeiten von Ágel (2017), Fischer (2013) und Welke (2019) basiert. Ihre theoretischen Kernelemente sind die monodimensionale Grundvalenztheorie, signifikative Semantik und Satzbauplanzeichen (Argumentstrukturmusterkonstruktionen), die mit Hilfe des folgenden Beispiels eingeführt und erläutert werden: (1) Wir haben eine Diskussion verändert. (Neubauer) Subjekt Prädikat Akkusativobjekt Prädikat H A N D L U N G S ‐ T R Ä G E R H A N D L U N G H A N D L U N G S G E G E N S T A N D H A N D L U N G 1. Mithilfe der u.a. auf Welke zurückgehenden Grundvalenztheorie werden Sätze analysiert, in denen die prototypischen Valenzen eines Verbs realisiert sind. Die hier vertretene monodimensionale Grundvalenztheorie gründet auf der Valenzrelation B E T E ILI G TH E IT , die auf den valenziellen Grundgedanken Tesnières (1976) zurückgeht. Zur Grundvalenz gehören also die Aktanten, die am Szenario beteiligt sind. In Satz (1) realisiert das Verb verändern in diesem Sinn seine Grundvalenz mit den zwei Komplementen Wir und eine Diskussion. 1 2. Die signifikative Semantik ist eine semasiologische Semantiktheorie, die im Gegensatz zur denotativen Semantik von der einzelsprachlichen Bedeutung und nicht von der Bezeichnung ausgeht (Coseriu 1970: 56-58). Zentral sind sprach‐ liche Sachverhalte und nicht - wie implizit oder explizit in der denotativen Semantik üblich - Situationen der außersprachlichen Wirklichkeit. In dieser Studie ist insbesondere der Bereich semantischer Rollen relevant. Signifikative 192 Dagobert Höllein <?page no="193"?> 2 Inwiefern uns außersprachliche Situationen sprachfrei zugänglich sind, kann und soll hier nicht vertieft werden. Die signifikative Semantik folgt der konstruktivistischen Auffassung, dass die außersprachliche Wirklichkeit uns einzelsprachlich vermittelt zugänglich ist. Rollen können im Gegensatz zu traditionellen Rollensemantiken u.a. abstrakte Sachverhalte sicher analysieren: (1’) Eine Diskussion wird von uns verändert. Subjekt Prädikat Präpositionalobjekt von+Dat Prädikat V O R G A N G S T R Ä G E R V O R G A N G V O R G A N G S A U S LÖ S E R V O R G A N G Signifikativ-semantisch szeniert das Prädikat in (1) den Satz als H AN D L U N G , weshalb das Subjekt die Rolle H AN D L U N G S T RÄG E R und das Akkusativobjekt die Rolle H AN D L U N G S G E G E N S TAN D tragen. In (1’) szeniert das Prädikat den Satz dagegen als V O R G AN G mit entsprechenden Auswirkungen auf die Rollen der Komplemente. Damit wird der Perspektivwechsel des Vorgangspassivs seman‐ tisch erfasst. Die denotative Semantik würde mit Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit die Rollen Agens und Patiens in beiden Sätzen analysieren und damit gerade die relevante Bedeutungsunterscheidung zwischen den Sätzen nicht erfassen. 2 Relevant für die Analyse sind die in der folgenden Tab. 1 erläuterten signifikativ-semantischen Rollen. Für das vollständige Rollenset sei auf Ágel/ Höllein (2021) verwiesen. Rolle Paraphrase Beispiele H A N D L U N G ‚die eigenaktive (+CONTR) und dynamische (+DYN) semantische Rolle eines transitiven Prädikats‘ Meine ganze Generation hat diese Krise nicht verur‐ sacht. (Mayer) H A N D L U N G S T R Ä G E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Subjekts eines Handlungsprädikats‘ Ich will Ihnen vier Beispiele dafür nennen. (Schulze) H A N D L U N G S G E G E N ‐ S T A N D ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Akkusativobjekts eines Handlungsprädikats‘ Man kann auch einen Ort sehen. (Neubauer) H A N D L U N G S B E T R O F ‐ F E N E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Dativobjekts eines Handlungsprädikats‘ Die Europäische Kommis‐ sion hat uns mit dem Green Deal den Weg aufgezeigt. (Merkel) 193 Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ <?page no="194"?> 3 Zur Darstellung der signifikativ-semantischen Präpositionalobjektsrollen siehe Höllein (2019). Rolle Paraphrase Beispiele T ÄT I G K E I T ‚die eigenaktive (+CONTR) und dynamische (+DYN) semantische Rolle eines intransitiven Prädi‐ kats‘ Wir möchten schreien. (Neubauer) T ÄT I G K E I T S T R Ä G E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Subjekts eines Tä‐ tigkeitsprädikats‘ Bei der Aussage musste ich lachen. (Mayer) T ÄT I G K E I T S B E T R O F ‐ F E N E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Dativobjekts eines Tätigkeitsprädikats‘ Ich danke allen, die mit‐ machen. (Merkel) V O R G A N G ‚die nicht eigenaktive (-CONTR) und dynamische (+DYN) seman‐ tische Rolle eines intransitiven Prädikats‘ Das wird hart. (Neubauer) V O R G A N G S T R Ä G E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Subjekts eines Vor‐ gangsprädikats‘ Klimaschädliches Ver‐ halten wird teurer. (Schulze) V O R G A N G S B E T R O F ‐ F E N E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Dativobjekts eines Vorgangsprädikats‘ Sie werden dieser Verant‐ wortung nicht gerecht. (Mayer) Z U S T A N D die nicht eigenaktive (-CONTR) und statische (-DYN) semanti‐ sche Rolle eines intransitiven Prä‐ dikats‘ Das ist unser Ding. (Neu‐ bauer) Z U S T A N D S T R Ä G E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Subjekts eines Zu‐ standsprädikats‘ Berlin ist unglaublich viel‐ fältig. (Mayer) Z U S T A N D S B E T R O F ‐ F E N E R ‚gegenstandsbezogene semanti‐ sche Rolle des Dativobjekts eines Zustandsprädikats‘ Mein Dank gilt auch der chilenischen Regierung. (Schulze) Tab. 1: Signifikativ-semantische Kernrollen 3 3. Die unter Satz (1) und (1’) realisierten Analyseschemata der Satzbauplan‐ zeichen erinnern nicht zufällig an die Darstellung konstruktionsgrammati‐ scher Argumentstrukturmusterkonstruktionen. Auch die Satzbauplanzeichen bestehen aus Satzgliedern auf der Ausdrucksseite und semantischen Rollen auf der Inhaltsseite. Im Unterschied zur gebrauchsbasierten Konstruktionsgram‐ 194 Dagobert Höllein <?page no="195"?> matik nach Goldberg (1995; 2019) ist die Inhaltsseite jedoch nicht denotativ, sondern wie bereits geschildert signifikativ-semantisch modelliert (vertiefend siehe Ágel/ Höllein 2021). In Satz (1) wird im transitiven Satzbauplanzeichen die Ausdrucksseite also von den Satzgliedern Prädikat, Subjekt und Akkusativobjekt gebildet; die In‐ haltsseite wird durch die Perspektivrolle des Prädikats H AN D L U N G (Höllein 2017) und die mit ihm in Beziehung stehenden Subjekts- und Objektsrollen H AN D ‐ L U N G S T RÄG E R und H AN D L U N G S G E G E N S TAN D konstituiert. Die Satzbauplanzeichen des Deutschen und ihre Theorie sind in Ágel/ Höllein (2021) und Höllein (2019) theoretisch beschrieben und empirisch abgesichert worden. Auf Basis der geschilderten Verbundtheorie sind die Reden des Korpus untersucht worden und das heißt konkret, dass Satzglieder und semantische Rollen analysiert worden sind. Für das Folgende zentral ist, dass mit Hilfe dieser Analysen Textmuster identifizierbar werden. 3 Korpus und Methode Das Korpus der Studie besteht aus acht Reden, die diplomatisch transkribiert werden, um im Anschluss die syntaktisch-semantische Analyse durchführen zu können. Es handelt sich mit Ausnahme der frei vorgetragenen Rede Neubauers vom sechsten Dezember 2020 mutmaßlich um Manuskriptreden. Abgebildet auf die traditionelle dichotome Klassifikation von Manuskript- und Stegreifrede sind jedoch alle Reden als Mischformen zwischen den Polen anzuordnen. Denn die Rednerinnen haben diese zwar „in der Funktion Planer-als-destinierter-Spre‐ cher“ (Gätje 2020: 109) vorbereitet und als „Sprecher-als-ehemaliger-Planer“ (ebd.) realisiert; zu welchem Grad aber die Planung realisiert worden ist, kann und soll hier nicht untersucht werden. Dass durch die Transkription Performan‐ zaspekte wie die Intonation ausgeschlossen werden, ist nur ein scheinbarer Nachteil. Denn erst durch den Fokus auf die syntaktisch-semantische Analyse besteht die Möglichkeit, Eigenheiten auf dieser bislang (insbesondere für die FFF -Reden) nicht untersuchten Dimension zu identifizieren. Die Analyse erstreckt sich auf alle grammatischen Sätze der Reden, die auf Basis der in Kap. 2 erläuterten Theorie analysiert werden. Für die FFF -Bewe‐ gung werden jeweils zwei Reden der FFF -Aktivistin Luisa Neubauer und der „Pressesprecherin“ (Deutsche Welle 2019) der Berliner FFF -Gruppe Clara Mayer analysiert. Als Kontrollgruppe werden jeweils zwei klimapolitische Reden von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesumweltministerin Svenja Schulze untersucht, wie Tab. 2 illustriert. 195 Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ <?page no="196"?> 4 Zusätzlich ist die Reduktion auf zwei Rednerinnen geboten, da keine relevanten Akteur: innen der FFF-Bewegung identifiziert werden konnten, die zwei Reden bei einschlägigen Veranstaltungen im nötigen Umfang auf Deutsch gehalten haben. Selbst exponierte Akteur: innen wie Carla Reemtsma wurden deshalb nicht berücksichtigt. Rede Autor: in Rededatum und Ort Zei‐ chen Quelle (letzter Zugriff: 06.04.2022) 1 Clara Mayer 14.05.19 VW-Hauptver‐ sammlung 3420 http: / / youtu.be/ MPh_KXTfjqg 2 Clara Mayer 19.07.19 FFF- Demonstration Berlin 2316 http: / / youtu.be/ MRaC3EJ5K8g 3 Luisa Neubauer 25.09.20 FFF- Demonstration Berlin 4384 http: / / youtu.be/ TatxwaWQaFs 4 Luisa Neubauer 06.12.20 Dannen‐ röder Forst 3590 http: / / youtu.be/ r81Hbb4Cf Yc 5 Angela Merkel 23.09.19 UN- Klimagipfel 3508 http: / / youtu.be/ i0YmTKL-zrY 6 Angela Merkel 28.04.20 XI. Petersberger Klimadialog 6239 https: / / www.bundeskanz‐ lerin.de/ bkin-de/ aktu‐ elles/ rede-von-bundeskanz‐ lerin-merkelim-rahmen-des-xi-pe‐ tersberger-klimadia‐ logs-am-28-april-2020-video‐ konferenz--1748018 7 Svenja Schulze 10.12.19 Weltklimakonferenz Madrid 3387 https: / / www.bmu.de/ rede/ na‐ tionales-statement-zur-welt‐ klimakonferenz-in-madrid/ 8 Svenja Schulze 06.05.20 Deutscher Bundestag 3460 https: / / www.bmu.de/ rede/ rede-von-svenja-schulze-imdeutschen-bundestag-anlaess‐ lich-der-befragung-der-bun‐ desregierung/ Tab. 2: Redenkorpus Das Korpus ist, um einen Ausgleich im Spannungsfeld von handhabbarer Kor‐ pusgröße 4 und Repräsentativität zu erreichen, nach einer Struktur organisiert, die ich als 2x2x2-Korpus beschreibe: zwei Reden von jeweils zwei Personen aus zwei Gruppen. Indem jeweils zwei Reden einer Person analysiert werden, 196 Dagobert Höllein <?page no="197"?> 5 Die Frage nach der begrifflichen Verfasstheit und dem Verhältnis von Individualstil und Textprofil ist komplex und muss hier ungeklärt bleiben, siehe zur Klärung aber Spies/ Breuer (2014: 11). wird die Gefahr einer untypischen Rede diversifiziert. Zudem wird durch die Analyse von zwei Personen pro Gruppe das Risiko reduziert, den Individualstil überzubewerten und durch die 2x2 Reden der zweiten Gruppe darüber hinaus die Kontrastierung möglich. Die Diversifizierung ermöglicht ein balanciertes Korpus bei akzeptabler Größe. 4 Auswertung der Korpusanalysen Innerhalb der Reden einer Person treten für die einzelnen untersuchten syntak‐ tischen und semantischen Parameter ähnliche Werte auf. Präziser gleichen sie sich zum Teil auf den Prozentpunkt, wie die Werte der Akkusativobjekte in den Reden Mayers, die in beiden Reden 19 % betragen. Auch wenn die Datenmenge zu klein ist, um auf dieser Basis von Individualstil oder Textprofil zu sprechen, ist die syntaktische und semantische Homogenität so ausgeprägt, dass die Werte beider Reden einer Person im Folgenden gemittelt dargestellt werden können. 5 In den folgenden Unterkapiteln 4.1 und 4.2 wird untersucht, welche syntak‐ tischen bzw. semantischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Reden der einzelnen Personen - insbesondere zwischen den Reden der FFF-Aktivis‐ tinnen und den Reden der Regierungsvertreterinnen - bestehen. Ebenfalls zur besseren Übersicht werden die Ausdrucksseiten der Satzbauplanzeichen (Satzglieder) und deren Inhaltsseiten (signifikativ-semantische Rollen) getrennt voneinander dargestellt. 4.1 Ausdrucksseiten: Satzglieder/ Komplemente Die Ergebnisse der syntaktischen Analyse sind in Tab. 3 aufgeführt. Gelistet werden dabei nur Elemente der Satzbauplanzeichen (Komplemente), also z.B. keine Adverbiale, da diese nicht Teil der Satzbauplanzeichen sind. Ausgangs‐ punkt sind dabei alle Haupt-, Nebensatz- und Infinitivkonstruktionsprädikate. Neben den Reden der untersuchten Personen sind in Tab. 3 die Reden von Mayer und Neubauer zur Gruppe FFF und die Reden von Merkel und Schulze zur Gruppe Regierung aufsummiert worden. Um die in Tab. 2 aufgeschlüsselten, di‐ vergierenden Redelängen vergleichen zu können, sind die Daten in Bezug auf die Prädikate normalisiert worden, wobei als Ausgangspunkt die Neubauer-Rede vom 25. September 2020 fungiert, die mit 140 Prädikaten die größte Anzahl enthält. 197 Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ <?page no="198"?> 6 Es werden nur Satzglieder gelistet, die in den Reden mindestens einmal nachgewiesen sind. Deshalb sind u.a. Genitivobjekte und Verbativobjekte nicht aufgeführt. Unter Präpositionalobjekt sind aus Übersichtsgründen alle Präpositionalobjekte zusammen‐ gefasst worden. Mit Höllein (2019) müssten präzise bis zu 17 Präpositionalobjekte unterschieden werden. Satzglied Mayer Neu‐ bauer ∑ FFF Merkel Schulze ∑ Regie‐ rung Subjekt 63 % 73 % 68 % 48 % 48 % 48 % Akkusativ‐ objekt 19 % 18 % 19 % 33 % 28 % 30 % Präpositio‐ nalobjekte 13 % 7 % 10 % 11 % 16 % 14 % Direktivum 2 % 1 % 1 % 4 % 6 % 5 % Dativobjekt 3 % 1 % 2 % 4 % 2 % 3 % Tab. 3: Satzglieder/ Komplemente 6 Die gerundeten Werte in Tab. 3 verdeutlichen zunächst die interne Daten-Ho‐ mogenität der untersuchten Gruppen FFF und Regierung: Analog zu den Ergebnissen der Einzelreden sind die Verteilungen in den Reden von Merkel und Schulze sehr ähnlich und auch die Reden von Mayer und Neubauer weisen eine gewisse, wenn auch weniger ausgeprägte (vgl. z.B. die Subjektrealisierungen) Homogenität auf. Die Verteilung der Satzglieder im Sinne einer quantitativen Reihenfolge ist in allen Reden für die am stärksten realisierten Satzglieder identisch. So werden in allen Reden in absteigender Reihenfolge Prädikate, Subjekte, Akkusativobjekte und Präpositionalobjekte am häufigsten realisiert, was eine typische Verteilung darstellt (vgl. Ágel 2017: 474f.). Einzig bei den schwach belegten Satzgliedern Dativobjekt und Direktivum sind Unterschiede in der Häufigkeitsverteilung zu beobachten. So werden in den Reden der Regierung mehr Direktiva als Dativobjekte, in den Reden der FFF dagegen mehr Dativobjekte als Direktiva realisiert. Die Gruppenhomogenität wie auch der Kontrast zwischen den Gruppen wird durch folgende Beobachtung unterstützt: Die Abweichung bei den prozentualen Werten zwischen den Gruppen ist mehrheitlich größer als die der internen Unterschiede. Selbst im Fall der größten internen Abweichung, die bei den Subjektrealisierungen der FFF -Reden zu beobachten ist, beträgt die interne Abweichung innerhalb der Reden-Gruppe FFF 10 Prozentpunkte (63 % Mayer 198 Dagobert Höllein <?page no="199"?> zu 73 % Neubauer); die Abweichung zu der Reden-Gruppe Regierung dagegen 20 Prozentpunkte (48 % Regierung vs. 68 % FFF ). Syntaktisch kann dies als erster Unterschied zwischen der Sprache der Gruppen FFF und Regierung bewertet werden: Die Sprache der FFF nutzt bevorzugt Satzbauplanzeichen, die nur ein Subjekt enthalten, während die Regierung stärker mehrgliedrige Satzbauplanzeichen (insbesondere transitive) verwendet. Der Effekt auf die Subjektpläne zieht semantische Unterschiede nach sich, wie in Kap. 4.2 deutlich wird. Auffällig in den FFF - und Regierungsreden ist die häufige Realisierung von Präpositionalobjekten. Dass es sich nicht um eine syntaktische Anomalie handelt, legt z.B. die Untersuchung Ágels (2017: 474f.) nahe: Hier wie dort ist das Präpositionalobjekt das hinter Prädikat, Subjekt und Akkusativobjekt am vierthäufigsten realisierte Satzglied und liegt damit vor Direktivum und Dativ‐ objekt. Bei Mayer ist die Anzahl der Präpositionalobjekte sogar nur um sechs Prozentpunkte geringer als die der Akkusativobjekte (13 % Präpositionalobjekte vs. 19 % Akkusativobjekte). Die Ergebnisse sind jedoch insofern zu relativieren, als es im Deutschen 17 Präpositionalobjekte gibt und so ein Oberbegriff (analog zu Kasusobjekten) einzelnen Kasusobjekten gegenübergestellt wird. (2) Ich möchte heute über Privilegien (PO über+Akk / I N T E L L E K T U E L L E S T H E M A ) reden. (Mayer) (3) Menschen warten darauf, dass wir einpacken und nach Hause gehen. (PO auf+Akk / P R O S P E C T U M ) (Neubauer) (4) Ich bitte Sie alle um Ihre Unterstützung dafür. (PO um+Akk / A C C I P I E N D U M ) (Merkel) (5) Das spüren wir am viel zu warmen April. (PO an+Dat / D E T E C T U M ) (Schulze) Die Sätze (2)-(5) und die Analysen in Klammern verdeutlichen die syntakti‐ sche und semantische Vielfalt der Präpositionalobjekte (siehe dazu Höllein (2019)). Bei der quantitativen Betrachtung der PO fällt auf, dass die prozentuale Verwendung zwischen den Personen gegenüber der Gleichförmigkeit der Reali‐ sierung bei anderen Satzgliedern deutlich abweicht. Vorsichtig ließe sich daraus schließen, dass die Präpositionalobjekte diejenigen Satzglieder sind, die am ehesten einen Individualstil indizieren. Einen Unterschied zwischen FFF und Regierung kann man aus den Präpositionalobjekten dagegen - wiederum wegen der geringen Belegzahlen - nicht ableiten. Die deutlichsten syntaktischen Unterschiede zwischen FFF und Regierung werden aber an zwei Phänomenen deutlich: den erwähnten Unterschieden in der Subjektgewichtung einerseits und der abweichenden Realisierung von 199 Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ <?page no="200"?> 7 In klassischer Terminologie würde von Vorwärtsellipsen (Klein 1993: 772) gesprochen. Akkusativobjekten andererseits. Der relative Subjektanteil an der Gesamtheit der Satzglieder ist in den FFF -Reden prozentual deutlich höher als in den Regierungsreden. Der Befund ist durch die Annahme virtueller Subjekte nach Ágel (2017) einerseits wie in Beleg (6) und der Realisierung überdurchschnittlich vieler Infinitivkonstruktionen in Beleg (7) in den Regierungsreden andererseits erklärbar. (6) Wir steigen mit einem klaren Zeitplan aus der Kohleverstromung aus, unter‐ stützen gleichzeitig die betroffenen Regionen durch massive Strukturhilfen und bauen die erneuerbaren Energien aus. (Schulze) Der orthographische Satz (6) besteht aus drei grammatischen Sätzen, von denen - in der Terminologie Ágels (ebd.) - nur der erste real ist, während die zwei unterstrichenen Sätze virtuell sind. Virtuell deshalb, weil, vereinfacht gesagt, in den Konjunkten zwar kein Subjekt realisiert ist, das bereits realisierte Subjekt aber seine Gültigkeit für die weiteren Sätze beibehält. 7 Präzise müssten in Tab. 3 die virtuellen Satzglieder ausgezeichnet werden. Die quantitativen Unterschiede in den Subjektrealisierungen geben allerdings Hinweise auf syntaktische Un‐ terschiede, weshalb die Darstellung hinreichend ist. Auch die verstärkte Realisierung von Infinitivkonstruktionen in den FFF -Reden schlägt sich im Bereich der Subjekte nieder. Da in Infinitivkonstruk‐ tionen strukturell keine Subjekte realisiert werden können, wird dieser struktu‐ relle Unterschied zu einem gewissen Grad durch eine niedrigere Subjektanzahl indiziert. (7) Wir bleiben aufgefordert, die nationalen Beiträge bis 2030 zu verbessern, weltweit Langfriststrategien bis 2050 zu entwickeln und für eine entsprechende Klimafinanzierung zu sorgen. (Merkel) In Satz (7) sind auf erster Ebene unterhalb des Hauptsatzes drei nebengeordnete Infinitivkonstruktionen und im Umfeld der transitiven Prädikate jeweils Akku‐ sativobjekte, aber keine Subjekte realisiert. Satz (7) illustriert damit plakativ den strukturellen Unterschied zu den Reden der FFF -Bewegung, in denen Infinitivkonstruktionen seltener sind. In unmittelbarer Folge unterscheiden sich die syntaktischen Profile beider Gruppen auch im Gebrauch der Akkusativobjekte. Prozentual werden in den Regierungsreden 12 % mehr Akkusativobjekte und damit transitive Strukturen 200 Dagobert Höllein <?page no="201"?> realisiert als in den FFF -Reden. Dieser Befund wird dadurch manifestiert, dass die internen Unterschiede bei der Realisierung der Akkusativobjekte innerhalb der Gruppen klein sind ( FFF : 19 % Mayer; 18 % Neubauer; Regierung: 33 % Merkel; 28 % Schulze). Die semantischen Konsequenzen werden im folgenden Kapitel vertieft. Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass sich über die syntaktische Betrach‐ tung deutliche Unterschiede zwischen den FFF - und Regierungsreden insbeson‐ dere im Gebrauch der Subjekte und Akkusativobjekte ergeben. Individuelle syntaktische Marker sind dagegen am ehesten im Bereich der Präpositionalob‐ jekte zu suchen. 4.2 Inhaltsseiten: Signifikativ-semantische Rollen Nachdem mit den Satzgliedern die Ausdrucksseiten der Satzbauplanzeichen untersucht worden sind, werden in diesem Kapitel die Inhaltsseiten, also die signifikativ-semantischen Rollen, ausgewertet, um die syntaktischen Indizien für Textprofile durch die satzsemantischen abzusichern. Rolle Mayer Neu‐ bauer ∑ FFF Merkel Schulze ∑ Regie‐ rung H A N D L U N G 28 % 21 % 24 % 55 % 53 % 54 % T ÄT I G K E I T 29 % 38 % 34 % 22 % 21 % 22 % V O R G A N G 9 % 7 % 8 % 5 % 9 % 7 % Z U S T A N D 34 % 34 % 34 % 18 % 17 % 17 % Tab. 4: Verteilung signifikativ-semantischer Sachverhaltsrollen im Korpus Die gerundeten satzsemantischen Daten in Tab. 4 lassen zunächst drei Schluss‐ folgerungen zu, die sich auf die Gesamtheit der Daten beziehen: Erstens verdeutlichen die semantischen deutlicher noch als die syntaktischen Daten die Unterschiede zwischen den Gruppen FFF und Regierung. Während die Regierungsreden mehrheitlich die Prädikatsrolle H AN D L U N G (54 %) szenieren, realisieren die Reden der FFF am stärksten die Perspektiven T ÄTI G K E IT und Z U S TAN D (jeweils 34 %). Insbesondere der Vergleich dieser Werte ist erstaunlich eindeutig. Bei den Perspektiven T ÄTI G K E IT und Z U S TAN D weichen die Werte zwischen den Gruppen deutlich ab. Bei der Perspektive H AN D L U N G beträgt die Abweichung einen Spitzenwert von 30 Prozentpunkten (24 % FFF vs. 54 % Regierung). Mögliche Gründe für diese eklatanten Abweichungen und eine inhaltliche Analyse folgen im Anschluss an die quantitative Aufarbeitung. 201 Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ <?page no="202"?> 8 Dieser Befund erhält durch die signifikativ-semantische Analyse einer Rede Merkels zur Migrationspolitik der Bundesregierung durch Neidert (2019: 45) weitere Unterstützung. Trotz der unterschiedlichen Thematik ist die Verteilung der Prädikatsrollen ähnlich zu den hier analysierten Reden Merkels. Zweitens wird die interne Homogenität beider Gruppen bestätigt, auch wenn die semantischen Daten weniger einheitlich als die syntaktischen sind. Auffällig sind die Regierungsreden, die für alle semantischen Perspektiven ähnliche Verteilungen aufweisen. Die größte Differenz beträgt vier Prozentpunkte bei der Perspektive V O R G AN G (5 % Merkel vs. 9 % Schulze). Die FFF -Reden bestätigen diesen hohen Homogenitätsgrad für die Perspektiven V O R G AN G und Z U S TAN D und weisen nur bei den Perspektiven H AN D L U N G (21 % Neubauer vs. 28 % Mayer) und T ÄTI G K E IT (29 % Mayer vs. 38 % Neubauer) größere Unterschiede auf. Während für die Regierung - durch die routinierte Abfassung der Reden - eine gewisse Homogenität zu erwarten war und nur das Ausmaß überrascht, erstaunt die Homogenität der FFF -Reden angesichts der vergleichsweise unge‐ übten Rednerinnen. Die Vorerwartung war, dass sich die bereits geschilderte allgemeine Abgrenzung zum Redenprofil der Regierung über den Mittelwert der FFF -Gruppe nachzeichnen lässt, die interne Streubreite der Werte aber relativ groß ist. Diese überraschenden Ergebnisse bestätigen allerdings die syntaktischen Indizien für die Existenz einer von den Aktivistinnen gepflegten einheitlichen Sprache der FFF . Drittens stehen die Einzelreden in einem analogen semantischen Ähnlich‐ keitsverhältnis zu ihrer Gruppe in Opposition zur Kontrastgruppe. D.h., dass jede Rede einer Gruppe den anderen Reden ihrer Gruppe und/ oder den aufsum‐ mierten Werten der eigenen Gruppe in fast allen Werten ähnlicher ist als den Reden der Kontrastgruppe oder den aufsummierten Werten derselben. So ist der H AN D L U N G S -Wert für die Reden von Mayer 28 % und hat damit weniger Abstand (ist ähnlicher) zum Wert von Neubauer (21 %) und dem der FFF -Reden (24 %), als zu den Werten der Reden von Merkel (55 %), Schulze (53 %) bzw. der Regierungsreden insgesamt (54 %). 8 Diese Ähnlichkeitsbeziehungen sind mit Ausnahme der Perspektive V O R G AN G , die allerdings nur schwach realisiert worden ist, bei allen untersuchten semantischen Werten erkennbar. Auch diese komplexere Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den Reden der eigenen Gruppe bzw. dem hohen Kontrast der FFF -Reden zu den Reden der Regierungsreden stützt die Annahme einer eigenen Sprache der FFF -Bewegung. Über diese allgemeinen Schlussfolgerungen hinausgehende semantische In‐ terpretationen sind mit Vorsicht anzustellen, da gerade aus signifikativ-seman‐ tischer Perspektive nicht wie in der denotativen Semantik üblich Bezeichnungen als Bedeutungen interpretiert und in der Folge semantische Termini wie H AN D ‐ 202 Dagobert Höllein <?page no="203"?> L U N G mit außersprachlichen Handlungen kurzgeschlossen/ verwechselt werden dürfen, wie folgende Beispiele illustrieren: (8) Wir brauchen eine CO 2 -Bepreisung. (Merkel) (9) X tut/ macht/ baut/ fertigt Y. Zustände der außersprachlichen Wirklichkeit, wie ‚X braucht Y’, können im Deutschen problemlos wie in Beleg (8) als H AN D L U N G versprachlicht werden (Höllein 2017). So wird der Zustand des Bedarfs nach einer CO 2 -Bespreisung in einem sprachlichen Muster realisiert, das semantisch H AN D L U N G (Dynamik) bedeutet - präzise das transitive Satzbauplanzeichen mit Subjekt/ H AN D L U N G S ‐ T RÄG E R - Prädikat/ H AN D L U N G - Akkusativobjekt/ H AN D L U N G S G E G E N S TAN D . Proto‐ typisch wird dieses Muster von Verben wie in (9) in Fällen verwendet, in denen sich die außersprachliche Wirklichkeit mit der sprachlichen Realisierung deckt. Dass sich außersprachliche Situationen und sprachliche Sachverhalte nicht in allen Fällen decken müssen, wird in der Semantik durch die Fokussierung auf die Denotation zumeist nicht erkannt (zum Problem siehe Welke (2019: 92-97)). Denotativ-semantisch wird Satz (8) auf Basis der Bezeichnung auch sprach‐ lich in der Regel als Zustand interpretiert, womit jede Möglichkeit zur semanti‐ schen Interpretation entfällt bzw. der Satz semantisch unauffällig erscheint. Sig‐ nifikativ-semantisch legt die Versprachlichung des außersprachlichen Zustands als sprachliche H AN D L U N G dagegen folgende Schlussfolgerung nah: Gerade, weil signifikativ-semantisch die Diskrepanz zwischen sprachlichem Sachverhalten und Situationen der Wirklichkeit offengelegt wird, ist die signifikative Semantik geeignet, Persuasion auf einer bislang nicht identifizierbaren Dimension abzu‐ bilden. Die statische Situation in der Welt wird dynamisch versprachlicht und das als H AN D L U N G S T RÄG E R versprachlichte Wir wird sprachlich dynamisiert. Das in Beleg (8) gezeigte Muster ‚situativer Zustand wird als H AN D L U N G versprach‐ licht‘, ist kein Einzelfall, sondern wird in den Regierungsreden massiv eingesetzt und ist damit ein semantischer Marker für die Sprache der Regierung. Zu erklären ist die hohe Realisierungsdichte der Perspektive Z U S TAN D in den FFF -Reden als de-facto-Gegenstück zur Perspektive H AN D L U N G der Re‐ gierungsreden. Geht man von der naheliegenden Vorannahme aus, dass die FFF -Bewegung eine dynamische Sprache nutzt und die Regierung einer Sprache der Statik, sind die Ergebnisse erstaunlich. Es ist umgekehrt: Die Sätze der FFF -Reden realisieren vornehmlich die Perspektive Z U S TAN D (17 % Regierung vs. 34 % FFF ), während die Sachverhalte in den politischen Reden der Regie‐ rung mehrheitlich als H AN D L U N G perspektiviert werden (21 % Neubauer vs. 203 Syntaktisch-semantische Spezifika in Reden der ‚Fridays for Future‘ <?page no="204"?> Merkel 55 %). Diese empirischen Befunde dürfen nicht verkürzt als ‚ FFF = statisch vs. Regierung dynamisch‘ interpretiert werden. Im Gegenteil sind eine signifikativ-semantische Analyse der Satzbedeutungen und eine anschließende Interpretation notwendig, welche Situationen (Denotate) als Bezüge in Frage kommen. Eine Einzelbetrachtung der Sätze (10) bzw. (11), die für die jeweilige Rede Neubauers und Mayers Zentralsätze sind und (leicht abgewandelt) jeweils sechsmal wiederholt werden, verdeutlicht das: (10) Das ist krass. (Neubauer) (11) Es ist ein Privileg. (Mayer) (12) Dass wir hier stehen können […], das ist ein Privileg. (Mayer) Sprachlich sind diese Sachverhalte als prototypische Z U S TÄN D E zu bestimmen, deren Denotate jedoch schwer fassbar sind. Beide Sätze (und ihre Abwand‐ lungen) behaupten über andere vorangehende/ folgende Sachverhalte, dass sie in dieser Weise zu bewerten sind (d.h. krass bzw. ein Privileg sind) und zielen dadurch nur indirekt auf die Wirklichkeit, wie Beleg (12) expliziert. Auf die Wirklichkeit zielt der vorangehende Sachverhalt Wir stehen hier. In der Vagheit des Denotats und der Wiederholung der wertenden Z U S TAN D S -Sätze besteht aber eben das persuasive Moment. Die rhetorische Idee ist dabei simpel: Die wertende Attribuierung wird durch die Wiederholung zunehmend akzeptabler und das so entstehende Muster erleichtert die Übertragung auf analoge und scheinbar-analoge Sachverhalte. Diese Befunde können wie folgt interpretiert werden: Die Regierung, die in der Wirklichkeit statisch die Macht hat und diese Wirklichkeit verändern kann, stellt Zustände der Wirklichkeit sprachlich als H AN D L U N G E N dar und szeniert sich so als dynamisch. Die FFF -Bewegung dagegen ist (abgesehen von einem gewissen Momentum) in der Wirklichkeit zumindest weniger mächtig als die Regierung und hat nur über die Sprache die Möglichkeit, diese Wirklichkeit zu beeinflussen. Sie nutzt deshalb Z U S TAN D S -Sätze, um Wertungen vorzunehmen, die durch die Wiederholung verfestigt werden sollen. In Sätzen wie (10)- (12) der FFF -Reden werden außersprachlich Situationen sprachlich über die Z U S TAN D S -S ÄT Z E gewertet. Auch wenn diese letzten Anmerkungen die Daten weitreichender interpre‐ tieren und deshalb spekulativer sind, gründen sie auf den engen Datenanalysen dieser Studie. Im Ganzen bestätigen die semantischen Daten die sich bei der syntaktischen Auswertung abzeichnende Antwort auf die Frage des Aufsatzes: Die FFF (wie auch die Regierung) haben eine eigene Sprache, die sich über 204 Dagobert Höllein <?page no="205"?> die Ausdrucks- (Satzglieder) und Inhaltsseiten (semantische Rollen) der Satz‐ bauplanzeichen voneinander separieren lässt. 5 Fazit Ziel des Aufsatzes war zu überprüfen, inwiefern sich die Reden der FFF -Bewe‐ gung vor der Folie von Klimareden der Bundesregierung durch sprachliche (syntaktisch-semantische) Eigenheiten auszeichnen. Die Redenanalyse der FFF -Aktivistinnen Mayer und Neubauer und der Regierungsreden von Merkel und Schulze hat Folgendes ergeben: Die FFF -Bewegung hat - kontrastiert mit der Regierung - eine eigene Sprache, im Sinne eines spezifischen syntaktisch-se‐ mantischen Profils bzw. der Kombination konventioneller syntaktisch-seman‐ tischer Muster. Konkret weichen im syntaktischen die Subjekt- und Akkusativobjektrealisie‐ rungen so deutlich voneinander ab, dass diese als Erkennungsmerkmal der FFF -Reden gegenüber den Regierungsreden fungieren können. Semantisch konnte gezeigt werden, dass die Regierungsreden Sprache nutzen, um Zustände der außersprachlichen Wirklichkeit als H AN D L U N G E N zu perspektivieren. Die FFF versucht dagegen über Z U S TAN D S -Sätze, Neubewertungen von Sachverhalten der außersprachlichen Wirklichkeit sprachlich zu verfestigen. Ob die Sprache der FFF eine Sprache ohne Vorbild ist, kann aus dem untersuchten Korpus nicht geschlossen werden. Allerdings weisen die Daten insofern in diese Richtung, als die FFF -Reden einerseits intern sprachlich homogen sind und sich andererseits deutlich von der Kontrastgruppe (den Regierungsreden) unterscheiden. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die syntaktisch-semantische Dimension der Satzbauplanzeichen geeignete theoretische Instanzen sind, um Differenzen zwischen Reden herauszuarbeiten und Textprofile zu ermitteln. Bei einer mög‐ lichen Wiederaufnahme der FFF -Proteste nach einem Ende der Covid-19-Pan‐ demie könnten die Ergebnisse dieser Studie über ein größeres Korpus mit weiteren Reden der FFF -Bewegung (und der Regierung) auf einer breiteren Basis überprüft werden. Literatur Ágel, Vilmos (2017). Grammatische Textanalyse: Textglieder, Satzglieder, Wortgruppen‐ glieder. Berlin/ Boston: de Gruyter. Ágel, Vilmos/ Höllein, Dagobert (2021). Satzbaupläne als Zeichen: Die semantischen Rollen des Deutschen in Theorie und Praxis. 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Dabei setzt politischer Wandel die sprachliche Vermittlung von Inhalten voraus. Klimapolitik bildet davon keine Ausnahme. Der Sammelband analysiert daher Äußerungen von und über FFF sprachwissenschaftlich und bietet einen methodisch und theoretisch breiten, multiperspektivischen linguistischen Zugang zum Thema: Wie wird über den Klimawandel gesprochen? Welche Themen und Strukturen prägen den aktuellen Klimadiskurs nicht nur in Deutschland? Gibt es eine internationale Sprache der FFF?