Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ)
Ein Lehr- und Praxisbuch
0321
2022
978-3-8233-9513-3
978-3-8233-8513-4
Gunter Narr Verlag
Doreen Bryant
Alexandra Lavinia Zepter
10.24053/9783823395133
Im Rahmen von performativen Zugängen zu sprachlichem Lernen erhalten der sich bewegende Körper, das eigene ästhetische Wahrnehmen, Fühlen, Handeln und Erleben oder auch das kreativ-spielerische Gestalten, Darstellen, Inszenieren von Sprache zentrale Bedeutung. In den letzten Jahren rücken diese Aspekte auch im Bereich des Erwerbs von Deutsch als Zweitsprache zunehmend in den Blick. Das Lehr- und Praxisbuch präsentiert nach kognitionspsychologischer und spracherwerbstheoretischer Verortung eine Reihe performativ-orientierter didaktischer Ansätze und illustriert diese mit konkreten Unterrichtsbeispielen.
<?page no="0"?> Mit Zusatzmaterial Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) Ein Lehr- und Praxisbuch Doreen Bryant / Alexandra L. Zepter <?page no="1"?> Prof. Dr. Doreen Bryant ist Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik mit dem Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache an der Universität Tübingen. Ihre Lehr- und Forschungsinteressen liegen an den Schnittstellen von Sprachtheorie / Spracherwerbsforschung / Sprachdidaktik. Performative Sprachvermittlungsansätze stellen einen ihrer didaktischen Schwerpunkte dar. Prof. Dr. Alexandra L. Zepter ist außerplanmäßige Professorin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Sprache und Körper bzw. sprachliches Lernen, Performativität und ästhetische Erfahrung, inklusive Sprachdidaktik sowie sprachsensibler Fachunterricht. In der Lehre bildet interdisziplinäres Forschendes Lernen einen weiteren Schwerpunkt. <?page no="4"?> Doreen Bryant / Alexandra Lavinia Zepter Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) Ein Lehr- und Praxisbuch <?page no="5"?> Sofern nicht anders gekennzeichnet, liegen die Rechte an sämtlichen Abbildungen bei den Herausgeberinnen. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395133 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-8513-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9513-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0342-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibli‐ ografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="6"?> 9 11 17 1 19 1.1 19 1.2 24 1.3 33 1.4 38 1.5 39 1.6 43 2 47 2.1 48 2.2 53 2.3 62 2.4 75 3 79 3.1 80 3.2 84 3.3 89 3.4 90 3.5 93 3.6 96 4 105 4.1 106 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Einführung in das Lehr- und Praxisbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I: Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff der Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortverwandtschaften und Bedeutungsvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . Performativität und Performanz in der Sprachwissenschaft . . . . . . . . Performativität im Kontext von Kunst- und Theatertheorien . . . . . . . Zwischenfazit: zwei Bedeutungsvarianten von performativ und Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Performativität in Pädagogik, Deutschdidaktik und theaterpädagogisch orientierter Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . . . Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) . . . . . . . . . Kognitionstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einblicke in Embodiment-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Körper: Embodied Cognition und Sprachverarbeitung . Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherwerbstheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spracherwerbsszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebrauchsbasierte (usage-based) Spracherwerbskonzeption . . . . . . . . Zur Rolle von Chunks beim Sprachgebrauch und im Spracherwerb (L1 und L2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Explizites Wissen - implizite Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Relevanz von Input, Output und Interaktion im L2-Erwerb . . . . . Didaktische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachdidaktische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 4.2 113 4.3 123 133 135 5 138 6 153 7 173 185 8 188 9 208 10 231 249 11 252 12 267 13 284 301 14 303 15 321 16 340 355 17 357 18 363 19 373 Taskorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext- und Progressionsorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil II: Performative Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Fokus: Mediale Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe | Eveline Einhauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai | Guylène Colpron, Mechthild Dörfler, Carmen Sorgler . . . . . . . . . . . . . Die Kunst des Debattierens | Benjamin Siegmund . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit | Derya Dinçer . . . . . Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens | Alexandra L. Zepter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen | Lorenz Hippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung | Helga Gese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen | Alexandra L. Zepter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals | Birgit Gunsenheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Fokus: Bewegen und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliches Lernen durch Bewegung | Alexandra L. Zepter . . . . . . . . Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) | Heike Bischoff & Doreen Bryant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf | Anne Sass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramagrammatik - eine strukturfokussierende Ausprägung des dramapädagogischen Fremdsprachenunterrichts | Doreen Bryant . . . Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken | Doreen Bryant . Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild | Doreen Bryant & Nadine Schlockermann . . . . 6 Inhalt <?page no="8"?> 20 391 21 414 22 425 452 455 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle | Doreen Bryant . . . . . . . . . Dramagrammatik in Alphabetisierungskursen | Petra Schappert . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="10"?> Vorwort Dieses Buch zu schreiben, war uns ein ganz besonderes Anliegen. Die Umsetzung hat uns unsagbar viel Freude bereitet, aber sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung vieler weiterer Menschen. Wir danken von Herzen unseren Gastau‐ tor: innen, die sich dem Projekt mit großem Enthusiasmus angeschlossen und - aus unserer Sicht - wunderbare Beiträge zu Teil II des Lehr-/ Praxisbuches verfasst haben. Wie danken Amelie Eisinger für ihren schier unermüdlichen Einsatz beim Test- und Korrekturlesen sowie Slavica Stevanovic und Eva-Larissa Maiberger für das kritische Lesen einzelner Kapitel. Bei Eva-Larissa Maiberger bedanken wir uns zudem für das Verfassen ausgewiesener Abschnitte in Kapitel 3. Ein großer Dank geht auch an Birla Erhard für ihre phänomenalen Illustrationen und ihre Flexibilität, diese auch unter großem Zeitdruck mit uns zu entwickeln. Ebenso danken wir David Zepter für das Geschenk einer sehr besonderen Abbildung, Annika Cueppers für ihre grafischen Entwürfe zu zwei Inszenierungstechniken, Gianmarco Amato, Sarah Unger und Lisa Vix für ihre Unterstützung bei der Erstellung einzelner Materialien. Nicht zuletzt geht unser tiefgreifender Dank an den Narr Verlag und an Kathrin Heyng für ihre umsichtige Begleitung des Projekts und ihre Flexibilität, in jeder Lage mit uns eine Lösung zu finden. Wir widmen dieses Buch Jürgen Kaltenbach und Philipp Zepter, die das Projekt von Beginn an mit großem Interesse verfolgt, auf zahlreiche gemeinsame Sonntage verzichtet und uns fortwährend mit enormem Engagement und positiver Energie unterstützt haben. Au im Bregenzer Wald (Österreich), Neujahrsretreat 2022 Doreen Bryant und Alexandra L. Zepter <?page no="12"?> Zur Einführung in das Lehr- und Praxisbuch Im Rahmen von performativen Zugängen zu sprachlichem Lernen erhalten der sich bewegende Körper, das eigene ästhetische Wahrnehmen, Fühlen, Handeln und Erleben oder auch das kreativ-spielerische Gestalten, Darstellen, Inszenieren von Sprache zentrale Bedeutung. In den letzten Jahren rücken diese Aspekte auch im Bereich des Erwerbs von Deutsch als Zweitsprache und Sprachbildung im Unterricht vermehrt in den Blick. Sondiert man allein nur die jüngst erschienene Literatur zu den verschiedenen Facetten des ästhetischen und performativen Lernens im DaZ-/ DaF-Unterricht sowie im sprachheterogenen inklusiven Unterricht, wird schnell deutlich, wie groß das Interesse an dem Thema ist. Moraitis et al. (2018) stellen z. B. bei einem Fokus auf kulturelle Bildung ein breites Spektrum an Projektberichten zur Sprachförderung durch kulturelles und ästhetisches Lernen vor. Ein ‚Varieté der Vielfalt‘ entfalten auch Mayer, Geist & Krapf (2018), wenn sie ästhetisches Lernen in Sprache, Spiel, Bewegung und Kunst ausloten. Von Sambanis & Walter (2019) werden, u. a. neurodidaktisch perspektiviert, diverse Theaterimpulse zum Sprachenlernen dargelegt. Einen weiten Fächer unterschiedlicher performativer Zugänge in der Sprach-, Literatur- und Kul‐ turdidaktik diskutieren auch Even, Miladinović & Schmenk (2019). 2020 widmet die Zeitschrift Fremdsprache Deutsch gar ein eigenes Themenheft der „Performative[n] Didaktik“ (Heft Nr. 62); und Dorner-Pau (2021) legt eine Monographie vor, die auf per‐ formative Verfahren zur Förderung von Kompetenzen des Beschreibens in sprachlich heterogenen Grundschulklassen fokussiert. Als besonders einschlägig hat sich nicht zuletzt Bernstein & Lerchners Band „Ästhetisches Lernen im DaF-/ DaZ-Unterricht. Literatur - Theater - Bildende Kunst - Musik - Film“ (2014, in der Reihe Materialien Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (MatDaF)) erwiesen; deklariert ihn doch der Fachverband Deutsch als Fremdsprache in seinem Rechenschaftsbericht 2020/ 21 als den absoluten Spitzenreiter im Feld der rezipierten Bände. Wir können nicht alle impulsträchtigen Werke nennen, alles in allem ist jedoch herauszustreichen: Umfang und Ausstrahlung der Publikationen zeigen, dass die Thematik ästhetischen und performativen Zweitsprachenlernens in der DaF-/ DaZ-Di‐ daktik keine flüchtige Modeerscheinung ist, sondern sich im deutschdidaktischen Ringen um die Frage, wie Zweit- und Fremdsprachenunterricht für die Lernenden optimal zu gestalten ist, als eine besonders erfolgversprechende Perspektive erweist. Vor diesem Hintergrund verorten wir uns und führen mit diesem Lehr-/ Praxisbuch in unterschiedlichen Kontexten entstandene performativ orientierte didaktische An‐ sätze und methodische Zugriffe zusammen und zeigen für sie, wie sie sich kognitions‐ psychologisch, (zweit-)sprachenerwerbstheoretisch sowie zweit- und fremdsprachen‐ didaktisch fundieren lassen. Illustriert werden die performativen Zugänge zu Deutsch <?page no="13"?> als Zweitsprache zudem in insgesamt siebzehn Kapiteln durch praktische Beispiele für Unterrichtsstunden, -reihen oder -projekte. Wir verstehen dieses Praxis- und Lehrbuch als Angebot, den DaZ-Unterricht durch eine weitere Perspektive zu bereichern. Performative Zugänge können für die Gestal‐ tung ganzer Unterrichtsreihen genutzt werden, aber ebenso gewinnbringend kann es sein, Unterricht je nach Bedarf durch ein einzelnes oder wenige niederschwellige performative Elemente aufzulockern. Ziele und Zielgruppen Das praxisbezogene Lehrbuch richtet sich an Lehramtsstudierende und Referendare, an DaZ-/ DaF-Studierende sowie an Sprach- und Fachdidaktiker: innen und Lehrkräfte, die sich Einblicke in die Thematik des performativen Lehrens und Lernens wünschen. Das Buch kann als Seminarlektüre im Rahmen der (hochschulischen) DaZ-Ausbildung und als Begleiter fachdidaktischer Übungen genutzt werden; es eignet sich aber auch ebenso gut für das Selbststudium und als Inspirationsquelle, performative Elemente in den eigenen Unterricht zu integrieren. Zielgruppe der im Lehrbuch vorgestellten didaktischen Konzepte und Methoden sind Schüler: innen, die ihren Erstkontakt mit der deutschen Sprache erst im Schulalter hatten, ebenso Schüler: innen mit nicht-deutscher Erstsprache, die in Deutschland aufgewachsen sind, aber in dem einen oder anderen sprachlichen Bereich Unterstüt‐ zungsbedarf haben. Alle thematisierten Zugänge sind (obgleich mit einer Beispiel‐ stunde/ Unterrichtssequenz für eine bestimmte Zielgruppe und einen bestimmten Kontext konkretisiert) mit entsprechenden Modifizierungen grundsätzlich in verschie‐ denen Unterrichts- und Sprachförderkontexten anwendbar: a. im außerschulischen DaZ-/ DaF-Unterricht, b. in Vorbereitungsbzw. Willkommensklassen, c. im fachsensiblen Sprachunterricht, d. in der additiven Sprachförderung, e. im Deutschunterricht, f. in einem parallel zum Deutschunterricht stattfindenden Unterricht ‚Deutsch im Mehrsprachigkeitskontext (DiM)‘, der auf spezifische, mehrsprachigkeitsbedingte Schwierigkeiten gezielt einzugehen vermag, g. im sprachsensiblen Fachunterricht sowie im Rahmen fachübergreifender Unter‐ richtskooperationen (z. B. Deutsch - Geografie, s. Kap. 7; Deutsch - Musik, s. Kap. 13; Deutsch - Sport, s. Kap. 14) und h. in schulischen bzw. außerschulischen Projekten (z. B. Theatercamps, s. Kap. 20). Aufbau Das Buch umfasst zwei Hauptteile: Teil I fokussiert auf die theoretische Fundierung und führt die Leser: innen in vier themenrelevante Grundlagenbereiche ein. Kapitel 1 gibt zunächst Einblick in den Begriff der Performativität und legt dar, was im Rahmen dieses Lehrbuches unter ‚performativen Zugängen zu Deutsch als Zweitsprache‘ zu verstehen ist. Die folgenden drei Kapitel führen von den kognitionspsychologischen 12 Zur Einführung in das Lehr- und Praxisbuch <?page no="14"?> Grundlagen eines performativ orientierten Sprachenunterrichts (Kapitel 2) über die spracherwerbstheoretische Basis (Kapitel 3) zu einer sprachdidaktischen Verortung (Kapitel 4). Vor diesem Hintergrund stellt Teil II die exemplarische Auswahl von fünfzehn performativen Zugängen thematisch geordnet in vier Rubriken vor. Jede Rubrik setzt einen anderen Schwerpunkt, was jedoch nicht kategorisch zu verstehen ist, da alle Lehr-Lern-Bereiche und thematisierten Dimensionen letztlich ineinandergreifen. Die Denklinie setzt an bei den klassischen Kompetenzbereichen des Sprechens und Zuhörens (Rubrik der ‚Medialen Mündlichkeit‘; Kap. 5-7) sowie des Lesens und Schreibens (Rubrik der ‚Medialen Schriftlichkeit‘; Kap. 8-10) und adressiert in diesem Rahmen jeweils drei verschiedene performative Zugänge - zum Miteinandersprechen, zum mündlichen Erzählen und Debattieren; zum Vorlesen, zum generativen und szenischen Schreiben. Insofern sprachliches Lernen notwendig mündliche und/ oder schriftliche Kommu‐ nikation erfordert und in diesem Sinne stets auch mit einem Lernen in diesen Bereichen einhergeht, bedeuten die folgenden Rubriken keine Abkehr von diesen Kompetenzdimensionen. Sie setzen nur jeweils einen anderen Fokus und bringen damit besondere didaktische Akzente mit ein, welche sich aus einer performativen Perspek‐ tive auf zweitsprachliches Lernen ergeben. Mit der Rubrik ‚Wortgestalt, Rhythmus und Musik‘ (Kap. 11-13) rücken dabei vorrangig morphologische, prosodische und phonetisch-phonologische Aspekte des Deutschen als Lerngegenstände in den Blick. Die Rubrik ‚Bewegen und Handeln‘ (Kap. 14-16) systematisiert und fokussiert die per‐ formativen Potenziale von sowohl bewegungsbasiertem als auch handlungsorientier‐ tem Zweitsprachenunterricht, illustriert an unterschiedlichen morpho-syntaktischen, semantischen bzw. grammatischen Lerngegenständen. Final werden performative Zugänge zu grammatischem Lernen mit der Rubrik ‚Dramapädagogische Gramma‐ tikvermittlung‘ (Kap. 17-21) noch einmal in besonderer Weise dramagrammatisch perspektiviert. Übergreifend zielt die Konzeption von Teil II darauf ab, einen möglichst breiten Fächer an Methodenvielfalt, die eine performativ orientierte Zweitsprachendidaktik bereithält, abzubilden. Ebenso wird die Vielfalt der Zielgruppen durch konkrete Unterrichtsbeispiele angesprochen, welche in Bezug auf die adressierte Altersstufe vom Beginn der Primarstufe bis zur Berufsvorbereitung reichen und querliegend die Förderung auf unterschiedlichen Sprachniveaus ansetzen lässt. Generell kann der jeweilige Fokus weitergedacht werden für andere Altersstufen und Kompetenzstände. Auch mit Blick auf das Spektrum möglicher Unterstützungsgrade von Scaffolding bis sprachlicher Improvisation finden sich in Teil II sowohl konkrete Beispiele für performative Ansätze, die stärker ein gesteuertes Sprachlernen realisieren, als auch für Zugänge, die Freiraum und Inseln für kreative Erfahrungen in der Zweitsprache schaffen. Grundsätzlich sprechen wir uns mit diesem Lehrbuch dafür aus, (sprachliche) Heterogenität im Unterricht zu begrüßen und Diversität als Bereicherung zu erleben - 13 Zur Einführung in das Lehr- und Praxisbuch <?page no="15"?> eine Bereicherung, die allerdings auch das Desiderat einer Vielfalt von Lernzugängen aufruft. Die in diesem Lehr-/ Praxisbuch präsentierten performativen Zugänge konso‐ lidieren ebendiesen Weg zu einer binnendifferenzierenden Lernzugangsvielfalt und scheinen uns in diesem Rahmen auch wegweisend im Kontext von Inklusion bzw. für inklusiv gestaltete Lehr-Lern-Settings. Hinweise für die Nutzung Teil I bildet das theoretische Fundament für Teil II; Teil II ist jedoch im Prinzip auch ohne vorherige Lektüre von Teil I zu verstehen. Themenspezifisch relevante Konzepte werden in den Kapiteln jeweils direkt erläutert bzw. bei allgemeinen Grundlagen Verweise auf Teil I gelegt. Je nach Wunsch und Bedarf kann man in diesem Sinne auch direkt in Teil II eintauchen und die Lektüre von Teil I später anschließen bzw. nachholen. Wer sich einen schnellen Überblick verschaffen möchte, dem seien die einleitenden Abstracts zu den Rubriken und Kapiteln empfohlen. In der narr eLibrary finden sich alle in Teil II vorgestellten Beispielstunden/ Unterrichtssequenzen zusätzlich in einer tabellarisch organisierten Zusammenschau. In beiden Teilen nutzen wir zur Visualisierung strukturgebender Elemente verschie‐ dene Icons, die im Folgenden kurz erklärt werden. Aktivierung Jedes Grundlagenkapitel von Teil I und jede Rubrik von Teil II beginnt mit einer Aktivierung, bestehend aus unterschiedlichen Aufgaben, um auf das jeweilige Thema einzustimmen und bereits vorhandenes Wissen zu mobilisieren. Erklär-Kasten Grundlegende Konzepte, Theorien oder Modelle, die für das Verständnis wesentlich sind, werden abgehoben vom Fließtext in Erklär-Kästen erläutert. Ein Erklär-Kasten dient der ersten Einführung in die relevanten Zusammenhänge und schafft Orientie‐ rung für die theoretische Einordnung. Aufgaben * Reproduktion ** Anwendung *** Vertiefung Am Ende eines jeden Kapitels finden sich Aufgaben mit unterschiedlichem Anspruch und Schwierigkeitsgrad - zu erkennen an der Anzahl der Sterne. Aufgaben, die überprüfen, ob ausgewählte Inhalte des gelesenen Kapitels wiedergegeben werden können, sind mit einem Stern versehen. Aufgaben, die das Gelesene anwenden lassen oder zur Reflexion darüber anregen, sind mit zwei Sternen ausgewiesen. Die besonders anspruchsvollen, mit drei Sternen markierten Aufgaben beinhalten in der Regel zusätzliche Lektürehinweise, um das zuvor Gelesene zu vertiefen und in einen größeren Forschungskontext einzubetten oder um komplexe Problemstellungen zu bearbeiten. Aufgrund der (jedem Kapitel folgenden) Aufgaben in unterschiedlichen Niveaustufen 14 Zur Einführung in das Lehr- und Praxisbuch <?page no="16"?> eignet sich das Lehrbuch neben dem Selbststudium auch gut für den Einsatz in hete‐ rogenen Seminargruppen. Zusammen mit den Beispielstunden mögen die Aufgaben auch als Inspirationsquelle für den eigenen Unterricht oder für Praxisbausteine im Rahmen von Aus- und Fortbildungsangeboten dienen. Vertiefende Literatur Alle in den jeweiligen Kapiteln zitierten Quellen finden sich gesammelt im Literatur‐ verzeichnis am Ende des Lehr-/ Praxisbuches. Wird in einem Kapitel zusätzlich im Text nicht aufgeführte Literatur zur vertiefenden Lektüre empfohlen, so wird diese am Kapitelende unter dem Icon für vertiefende Literatur aufgeführt. Manche Kapitel stellen darüber hinaus für die Beispielstunden eigens angefertigte Materialvorlagen zur Verfügung. Diese stehen in der narr eLibrary zum Download bereit. Jedes Zu‐ satzmaterial ist im Buch mit einem eindeutigen Hinweis am Seitenrand und einer Zusatzmaterialien-ID gekennzeichnet. Im eBook genügt ein Klick auf die ID, um auf das Material zuzugreifen. Käufer: innen des gedruckten Buchs erhalten mit ihrem Gutscheincode auf der zweiten Umschlagseite kostenfreien Zugriff auf das eBook und die Zusatzmaterialien zum Buch (siehe Hinweise dort zum genauen Prozedere). Abschließend sei hervorgehoben: Unser vorrangiges Anliegen ist es, ein Lehr-/ Praxis‐ buch bereitzustellen, mit dem sich in hochschulischen Seminaren, im Referendariat oder in Fortbildungen auf vielfältige Weise arbeiten lässt: So steht es den Rezipieren‐ den zur Wahl, verschiedene Schwerpunkte herauszugreifen, Praxis zu simulieren, Anleitungen (in Auszügen) zu erproben und zu adaptieren bzw. für eigene Kontexte weiterzuentwickeln. Für all dies hoffen wir, viele Anregungen geben zu können, und wünschen allen Leser: innen vor allem viel Freude und neue Entdeckungen bei der Lektüre. Eine Anmerkung zum Schluss: Wir bemühen uns um gendersensible Sprache. Nur bei pronominalen/ referenziellen Bezügen (jede Schülerin/ jeder Schüler, die/ der … ihre/ seine … etc.) verzichten wir aus Gründen der Lesbarkeit auf die Nennung beider Genusformen. Stattdessen versuchen wir, in ausgeglichener Weise mal die eine, mal die andere Form zu verwenden. Gemeint sind dann stets alle möglichen Geschlechtsidentitäten. 15 Zur Einführung in das Lehr- und Praxisbuch <?page no="18"?> Teil I: Grundlagen <?page no="20"?> 1 Zum Begriff der Performativität In diesem Lehr- und Praxisbuch stehen performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) im Mittelpunkt. Was ist genau unter einem performativen Zugang zu verstehen? Was bedeutet performativ? Was hat performativ mit Per‐ formanz zu tun und woher stammen die Begriffe? In diesem Kapitel gehen wir diesen Fragen nach und beleuchten verschiedene begriffliche Facetten und Verwendungskontexte. Aktivierung a. Haben Sie den Begriff performativ schon einmal gehört? Wenn ja, in welchem Kontext? Wenn nicht, kennen Sie ähnlich lautende Begriffe? Welche Assoziationen und Ideen haben Sie dazu, was performativ bedeuten könnte? Fertigen Sie auf der Basis Ihrer Überlegungen eine kleine Mindmap an: performativ b. Das Kapitel wird zeigen, dass sich verschiedene Forscher: innen, z. T. aus unter‐ schiedlichen Fachperspektiven, mit den Begriffen performativ, Performativität und Performanz beschäftigt haben. Recherchieren Sie dazu im Vorfeld: □ Wer sind Noam Chomsky, Ferdinand de Saussure, John L. Austin, John R. Searle, Erika Fischer-Lichte? Wann haben sie gelebt bzw. wann sind sie geboren? Fertigen Sie eine Zeitlinie an. □ Welchen wissenschaftlichen Fachdisziplinen gehören die Fünf jeweils an und welcher Name fällt in Bezug auf die Disziplinzugehörigkeit aus dieser Reihe heraus? 1.1 Wortverwandtschaften und Bedeutungsvarianten Was tun, wenn man die Bedeutung eines Begriffs nicht kennt? Man schlägt im Fremdwörterduden oder in einem etymologischen Wörterbuch (zur sprachlichen Herkunft von Wörtern) nach. Interessanterweise findet sich in Ersterem, dem gro‐ ßen Duden-Fremdwörterbuch, kein eigener Eintrag für Performativität. Unter dem englisch-amerikanischen Stichwort ‚Performance‘ entdeckt man aber performativ. <?page no="21"?> Der Blick ins etymologische Wörterbuch von Kluge (1999) verrät, dass das Adjektiv performativ aus dem Englischen entlehnt und aus dem Verb to perform (‚ausführen‘) abgeleitet ist. Abb. 1.1: Duden. Das große Fremdwörterbuch (2003: 1019) Abb. 1.2: Kluge - etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1999: 621) Sichtet man zusätzlich ein englisches Lexikon, z. B. das Pons-Großwörterbuch, finden sich für das Verb to perfom die Übersetzungen ‚etwas vorführen‘, ‚etwas verrichten‘, ‚etwas durchführen‘ (ein Experiment, eine Operation), ‚etwas (eine Zeremonie, ein Ritual) vollziehen‘. How did she perform? wird mit ‚Wie war sie? ‘ übersetzt und bezieht sich dann auf das Tun bzw. Handeln (do, act) der Person (Pons 2002: 649). Aus dem englischen Verbstamm perform gehen neben der Adjektivbildung performa‐ tiv auch die im Deutschen verwendeten Substantivierungen Performance, Performanz und Performer hervor. Wie dem Fremdwörterbuch zu entnehmen ist (Abb. 1.1), werden Performance und (die in Aussprache und Schreibung dem Deutschen angepasste Form) Performanz unterschiedlich verwendet. Performance und Performanz sind also keineswegs in allen Verwendungskontexten austauschbar. Die folgende Abbildung 1.3 bietet ausgehend vom Verb to perform eine erste Systematisierung der miteinander verwandten Wörter. Allen gemeinsam ist der Stamm perform: 20 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="22"?> Abb. 1.3: Wortverwandtschaften mit dem Stamm perform und Bedeutungsvarianten Sowohl beim Verb selbst als auch bei den Ableitungen sehen wir eine Reihe von Bedeutungsvarianten. Bei dieser lexikalischen Mehrdeutigkeit (fachsprachlich auch: Ambiguität) handelt es sich um Polysemie, abzugrenzen von Homonymie. Lexikalische Mehrdeutigkeit Von lexikalischer Mehrdeutigkeit (Ambiguität) spricht man, wenn Ausdrücke mit derselben Lautund/ oder Schriftform mehr als eine lexikalische Bedeutung aufweisen (Löbner 2003: 58). Es gilt zwei Arten lexikalischer Mehrdeutigkeit zu unterscheiden: die eher selten anzutreffende Homonymie und die für den lexikalischen Bestand einer Sprache typische Polysemie. Bei Homonymie handelt es sich „um Lexeme mit verschiedenen Bedeutungen, die zufällig dieselbe Form haben“ und die verschiedenen Ursprungs sind (ebd.: 58-59). Zum Beispiel Ton → der Ton als akustisch wahrnehmbare Schwingung der Luft vs. der Ton als formbares Bodenmaterial. Von Polysemie spricht man, „wenn ein Lexem ein Spektrum von zusammenhän‐ genden Bedeutungsvarianten hat“ (ebd.: 58), „denen ein gemeinsamer Bedeutungs‐ kern zugrunde liegt“ (Bußmann 2002: 524). Zum Beispiel Ton → der Ton als akustisch wahrnehmbare Schwingung der Luft; als Klang; als Betonung/ Akzent; als Rede-, Sprech-, Schreibweise (Tonfall); … Welche Grundbedeutung, welcher Bedeutungskern ist nun aber in den Bedeutungsva‐ rianten (etwas ausführen, etwas durchführen, etwas aufführen, …) des allen Ableitungen 21 1.1 Wortverwandtschaften und Bedeutungsvarianten <?page no="23"?> zugrundeliegenden Verbs to perform zu erkennen? Als allen Varianten gemein lässt sich die Bedeutung ‚etwas zielgerichtet tun‘ identifizieren (siehe Abb. 1.3). Damit gleicht der Bedeutungskern von perform der Definition von handeln in Abgrenzung zu tun (vgl. zum Handlungsbegriff auch Kapitel 15 in diesem Lehrbuch). Tun und Handeln In unserem alltäglichen Sprachgebrauch unterscheiden wir oft nicht zwischen tun und handeln. So wird tun häufig auch als das Ausführen einer Handlung verstanden. U. a. in der Philosophie bemüht man sich jedoch um eine genauere Definition der Begriffe handeln und Handlung (Prechtl & Burkard 2008: 230 f.): Philosophisch betrachtet, lässt sich Handeln als jedes zielgerichtete Tun des Menschen begreifen. Das Ziel muss nicht notwendig ein (aus der Handlung her‐ vorgehendes) Produkt oder Werk sein, sondern kann auch im Vollzug selbst liegen. Aus psychologischer Perspektive zeichnet sich eine Handlung (in Abgrenzung zu anderen Tätigkeiten) zudem dadurch aus, dass die Aktivität bewusst eingesetzt wird, um das anvisierte Ziel zu erreichen (Aebli 2006: 182). Man betrachte zum Beispiel die Handlung des Schreibens, bei der unterschiedliche Ziele im Fokus stehen können. Geht es darum, einen Text zu schreiben, z. B. einen Brief, so ist das Ziel der Schreibhandlung ein Textprodukt, das aus der Handlung des Schreibens hervorgeht. Sollen dagegen, z. B. im Anfangsunterricht der Primarstufe, die motorischen Abläufe beim Handschreiben geübt werden, so liegt das Ziel der Schreibhandlung im Vollzug selbst. Das Beispiel des Schreibens macht auch deutlich, dass - auch wenn das Tun notwendig zielgerichtet sein muss, um als Handeln zu gelten - die Absichten der Person, die handelt, vielfältig und in sich komplex sein können. Ich kann z. B. die Handlung des Briefschreibens ausführen und mein Ziel kann der fertige Brief sein, den ich an meine Freundin schicken möchte. Gleichzeitig kann ich mit dem Briefschreiben jedoch auch die Absicht verbinden, meine Gedanken und meine Gefühle zu klären und für mich selbst genauer zu verstehen, warum mich ein bestimmtes Erlebnis, von dem ich meiner Freundin im Brief berichte, traurig oder wütend gemacht hat. Auch hier liegt das Ziel im Vollzug selbst. Angesichts des gemeinsamen Bedeutungskerns eines zielgerichteten Tuns überrascht es, dass in allen aufgeführten Wörterbüchern bei den perform-Einträgen handeln, das Handeln und die Handlung nahezu keine Erwähnung finden. Diese Beobachtung löst noch mehr Erstaunen aus, wenn wir uns den Verwendungen von performativ in den Diskursen der Fremdsprachen- und Zweitsprachendidaktik zuwenden und dort entdecken, dass performative Methoden in der Regel als handlungsorientiert definiert werden. Den aufmerksamen Lesenden wird jedoch auch nicht entgangen sein, dass Handlung zumindest an einer Stelle im Fremdwörterduden (Abb. 1.1) auftaucht. Dort wird 22 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="24"?> performativ als ein Fachbegriff aus der Sprachwissenschaft ausgewiesen - als „eine mit einer sprachlichen Äußerung beschriebene Handlung zugleich vollziehend, z. B. ich gratuliere dir“. Was ist darunter genau zu verstehen? Und ist performativ ausschließlich ein sprachwissenschaftlicher Fachbegriff ? Eine weiterführende Recherche fördert zu Tage, dass der Handlungsbegriff für die begriffliche Bestimmung von performativ nicht nur in der Sprachwissenschaft, sondern auch in zahlreichen anderen Fachdiskursen zentral ist - und dass überdies erst in diesen anderen Fachdiskursen der Begriff Performativität thematisiert und diskutiert wird, dessen Bedeutung in unserer Systematisierung in Abb. 1.3 noch einen blinden Fleck darstellt. In den verschiedenen Fachdiskursen werden performativ und Performativität jedoch z. T. mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet, ein übergreifend einheitliches Be‐ griffsverständnis gibt es nicht. So gesteht u. a. auch Hudelist (2017: 9) in einem Beitrag zu „Performanz, Performativität und Performance“ bereits in seinem Beitragstitel ein, dass ihm nur eine „unvollständige Rekonstruktion“ der Begriffe gelingen kann. In seiner Darlegung weist er zudem darauf hin, dass die „Anwendungsgebiete […] sehr vielfältig [sind] und […] verschiedene Disziplinen [betreffen]. Daraus resultieren manchmal unterschiedliche Verwendungen bzw. Verständnisse der Begriffe“ (ebd.). In einen direkten Bezug zu Performativität setzt Hudelist den Begriff der Performanz, dessen Mehrdeutigkeit ebenfalls breit gefächert ist. Nach Wirth (2002: 9) geben „auf die Frage, was der Begriff Performanz eigentlich bedeutet, […] Sprachphilosophen und Linguisten einerseits, Theaterwissenschaftler, Rezeptionsästhetiker, Ethnologen oder Medienwissenschaftler andererseits sehr verschiedene Antworten“. Herausfordernd ist diese Mehrdeutigkeit nicht zuletzt deshalb, weil u. a. in den Kul‐ turwissenschaften die mit den Begriffen Performanz und Performativität verbundenen Denkanstöße großen Einfluss genommen haben; ja, in den 1990er Jahren gar zu einem performative turn führten (vgl. Hudelist 2017: 16). Einzugestehen ist an dieser Stelle, dass das bis hierhin skizzierte Begriffsbild noch keineswegs zufriedenstellend ist. Einerseits erscheint es unvollständig (es fehlt trotz Konsultation der Wörterbücher die Bedeutung für Performativität) und andererseits in Anbetracht der Bedeutungsvarianten und unterschiedlicher Verwendungskontexte auch verwirrend. Wir bitten die Lesenden an dieser Stelle um etwas Geduld und versprechen in Abschnitt 1.4 mehr Transparenz zu schaffen. Zuvor laden wir dazu ein, in zwei Fachdiskurse einzutauchen, um den dortigen Verwendungsweisen der Begriffe nachzuspüren. Abschnitt 1.2 führt uns zunächst in die Sprachwissenschaft, in der das Attribut performativ in Anwendung auf sprachliche Äußerungen historisch zum ersten Mal definiert und diskutiert wurde. Dem sprachwissenschaftlichen Verständnis von Performanz und Performativität stellen wir in Abschnitt 1.3 eine kunstbzw. theatertheoretische Perspektive auf Performance und Performativität gegenüber. Nach dem klärenden Zwischenfazit von 1.4 zur Systematisierung der Begrifflichkeiten in den beiden ausgewählten Fachdiskursen entwickeln wir darauf aufbauend in Abschnitt 1.5 eine didaktische Perspektive auf Performativität. Ziel des Kapitels ist einerseits, einen 23 1.1 Wortverwandtschaften und Bedeutungsvarianten <?page no="25"?> Überblick über das Spektrum möglicher Verwendungsweisen und Bedeutungsnuancen der Begriffe performativ, Performanz, Performance und Performativität zu gewinnen, um anderseits final (in Abschnitt 1.6) das Lehr- und Praxisbuch mit seinem Verständnis von Performativität im Begriffsspektrum zu verorten. 1.2 Performativität und Performanz in der Sprachwissenschaft Wir steigen ein mit der Performanz, denn die sprachwissenschaftliche Verwendung von performativ lässt sich besser nachvollziehen, wenn man die von Performanz bereits kennt. In der Sprachwissenschaft kommt der Ausdruck als Fachbegriff in der Regel nicht alleine vor, sondern wird in Opposition zu Kompetenz gebraucht. Das zweigliedrige (= dichotome) Begriffspaar Sprachkompetenz/ Sprachperformanz (im Englischen linguistic competence vs. linguistic performance) stammt von dem Linguisten Noam Chomsky (*1928), der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel hin zu einer damals ‚neuen‘, vorrangig kognitiv orientierten Linguistik einläutete (vgl. Zepter 2013: 80 f.). Dabei greift Chomsky mit Sprachkompetenz/ Sprachperformanz eine Unterschei‐ dung auf bzw. führt sie weiter, die vor ihm bereits Ferdinand de Saussure (1857-1913), ebenfalls ein maßgeblicher Wegbereiter in der Sprachwissenschaft, mit seiner dichoto‐ men Unterscheidung von langue (Sprachsystem) und parole (Sprachgebrauch) getrof‐ fen hatte. Sprachliche Performanz (ebenso parole) bezieht sich in diesem Kontext auf den konkreten Gebrauch von Sprache, also auf jedes in einer bestimmten Situation, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort stattfindende individuelle Sprachverwendungsereignis. Abb. 1.4: Performanz 24 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="26"?> Immer dann, wenn wir Sprache gebrauchen, wenn wir sprechen oder wenn wir zuhören, sind das Instanzen unserer Sprachperformanz. Chomsky ging u. a. von der Beobachtung aus, dass wir beim Gebrauch unserer Erstsprache, die wir in unseren ers‐ ten Lebensjahren in der Regel scheinbar mühelos und ohne expliziten Sprachunterricht unserer Eltern erwerben, beliebig Sätze bilden können - Sätze, die wir ggf. vorher noch nie irgendwo gehört haben. Man kann das selbst ausprobieren. Denken Sie sich aus, was Sie in zehn Jahren gerne machen möchten, und erzählen Sie das einer Freundin/ einem Freund oder schreiben Sie es auf. Von Relevanz ist nicht so sehr, was Sie inhaltlich sagen; Chomskys Punkt wäre stattdessen, dass Sie sich bei Ihrer Zukunftsgeschichte nicht darauf beschränken werden, einzelne Wörter unverbunden aneinanderzureihen. Sie werden Sätze bilden, die einer bestimmten Ordnung, einer Satzstruktur, folgen; und zwar auch, wenn Sie gar nicht explizit darauf achten oder wenn ein Satz dabei ist, den Sie inhaltlich so vorher noch nicht in einem anderen Kontext gehört haben. Selbst wenn Sie im Rahmen Ihres Sprachgebrauchs Fehler machen, wissen Sie im Prinzip doch, wie Sie auf einer basalen Ebene in Ihrer Erstsprache grammatisch korrekte Sätze bilden können. Tiere, so Chomsky, können das nicht, nur Menschen sind hierzu in der Lage. Chomskys zentrale These war, dass eine solche Sprachverwendung (= Sprachperfor‐ manz) nur auf der Basis unbewusster kognitiver Strukturen bzw. nur auf der Grundlage einer kognitiven Sprachkompetenz möglich ist (vgl. u. a. Chomsky 2002: 48). Im Visier hatte er eine Kompetenz, über die Menschen, aber nicht Tiere, allgemein von Geburt an verfügen und die sie befähigt, Sprache zu erwerben. Seit den 1950er Jahren konzentriert sich seine Forschung auf die Erschließung der Sprachkompetenz mit dem Ziel, eine Theorie über das damit verbundene syntaktische (= satzstrukturbezogene) Basiswissen zu entwickeln. Die Erforschung von Sprachperformanz ist diesem Ziel untergeordnet bzw. tritt dahinter zurück. Aber man muss Chomskys Fokus nicht folgen und kann den linguistischen Performanz-Begriff im Prinzip unabhängig von dem Begriffspaar Kom‐ petenz/ Performanz und einer spezifischen Priorisierung der beiden Ebenen nutzen. Wertfrei bezieht er sich auch dann auf den Gebrauch von Sprache, also auf die konkrete Sprachverwendung. Zum Ausgangs- und Ankerpunkt theoretischer Überlegungen avanciert diese kon‐ krete Sprachverwendung bereits in den 1960er Jahren bei dem Sprachphilosophen John L. Austin (1911-1960), der für die Linguistik auch den Begriff der Performativität geprägt hat. Anders als Chomsky interessierte Austin sich im Besonderen für die Bedeutungsdimension von sprachlichen Äußerungen, d. h. für die Frage, was Sätze, wenn wir sie im Kontext einer konkreten Sprachverwendung äußern, bedeuten und wie sich diese Bedeutung systematisch beschreiben lässt. 25 1.2 Performativität und Performanz in der Sprachwissenschaft <?page no="27"?> Sprachphilosophie vs. Linguistik Seit dem 19. Jahrhundert und den Arbeiten von Ferdinand de Saussure (1857-1813) wird die Sprachwissenschaft auch als Linguistik bezeichnet. Die Sprachwissenschaft ist eine wissenschaftliche Disziplin, die darauf abzielt, Sprache und Sprechen systematisch zu beschreiben und zu erklären. Die moderne Sprachwissenschaft (= Linguistik) geht grundlegend vom Zeichencharakter menschlicher Sprache aus (→ Ein Wort, z. B. Baum, ist ein sprachliches Zeichen, das als Stellvertreter für eine bestimmte Bedeutung, ein bestimmtes Objekt in der Welt steht). Sie untersucht, was sprachliche Zeichen sind und wie sie in einer Sprache miteinander kombiniert und geordnet (= strukturiert) werden. Dabei sind verschiedene Strukturebenen zentral; z. B. Phonetik/ Phonologie (→ Lautstruktur), Morphologie (→ Wortstruktur), Syntax (→ Satzstruktur), Semantik (→ Analyse der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken), Pragmatik (→ Analyse des Gebrauchs und der Bedeutung sprachli‐ cher Ausdrücke in konkreten Äußerungssituationen) (vgl. Bußmann 2002: 640). Die Sprachphilosophie ist ein Zweig der Philosophie und kann heute auch als eine Teildisziplin der Linguistik aufgefasst werden, historisch reicht sie jedoch sehr viel weiter zurück. Die Sprachphilosophie beschäftigt sich mit der Bedeutungsdimen‐ sion von Sprache und deren Verhältnis zur Wirklichkeit. Ihr Untersuchungsbereich deckt sich damit zu großen Teilen mit dem der Semantik und Pragmatik. Genau betrachtet, waren Sprachphilosophen wie John L. Austin Wegbereiter für die Entwicklung von Semantik und Pragmatik in der modernen Sprachwissenschaft. Vor Austin hatte sich die sprachphilosophische Tradition mit der Bedeutung von sprachlichen Äußerungen in erster Linie aus der Perspektive heraus beschäftigt, dass Äußerungen „wahrheitsfähige Gebilde“ (Hoffmann 2010: 155) darstellen. Ein Satz wie z. B. Mona sitzt auf dem Stuhl ist eine Aussage, die, wenn sie in einer bestimmten Situation geäußert wird, entweder wahr oder falsch sein kann. Ein möglicher Weg, die Bedeutung des Satzes zu fassen, ist zu sagen, dass wir die Bedeutung von Mona sitzt auf dem Stuhl verstehen, wenn wir genau wissen, in welchen Äußerungssituationen der Satz wahr ist und in welchen er falsch ist - wenn wir also die Wahrheitsbedingungen des Satzes kennen. Austin bricht mit dieser Tradition, dass eine Aussage generell als etwas zu definieren ist, das entweder wahr oder falsch sein kann. Einen wesentlichen Beitrag zu diesem Bruch leistet sein Aufsatz „Performative und konstatierende Äußerung“ (1962); eben hier expliziert Austin erstmals den Begriff performativ. Der Ausgangspunkt in Austins Aufsatz ist die Unterscheidung von zwei verschie‐ denen Typen von Äußerungen: Konstatierende Äußerungen sind solche, die aus der sprachphilosophischen Tradition bereits bekannt sind - Aussagen, die, wenn man sie in einer spezifischen Situation äußert, entweder wahr oder falsch sein können: 26 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="28"?> Konstatierende Äußerung Eine Äußerung, die etwas aussagt (= konstatiert), das in der Äußerungssituation entweder wahr oder falsch ist: 1. Die Katze ist auf der Matratze. 2. Alle Kinder von Hans sind kahlköpfig. 3. Mona sitzt auf dem Stuhl. 4. Ich sitze auf dem Stuhl. Beispiele u. a. nach Austin (1962/ 2010: 167) Austins zentrale Beobachtung ist, dass sich nicht alle Äußerungen, selbst wenn sie sprachlich ähnlich oder analog gestaltet sind, unter der Definition einer konstatieren‐ den Äußerung verorten lassen. Performative Äußerungen sind im Kontrast dazu solche, bei denen die Sprecherin mit dem Akt der Äußerung eine Handlung vollzieht. Die Äu‐ ßerung beschreibt etwas und das, was sie beschreibt, wird im Zuge des Äußerungsaktes zu einer Handlung. Performative Äußerung Eine Äußerung, mit der die Sprecherin/ der Sprecher mit dem Akt der Äußerung das in der Äußerung Beschriebene als Handlung vollzieht: 1. Ich taufe dieses Schiff „Freiheit“. 2. Ich bitte um Entschuldigung. 3. Ich heiße Sie willkommen. 4. Ich rate Ihnen, das zu tun. Beispiele u. a. nach Austin (1962/ 2010: 163) Geht man auf die Suche, lassen sich noch viele weitere Beispiele finden. In der Regel treten performative Äußerungen in einer bestimmten syntaktisch-morphologischen Form auf. Das Prädikat steht in der 1. Person Singular und wird durch ein performatives Verb gebildet, das an sich eine Handlung beschreibt, die sich im Äußerungsakt realisiert: Ich gratuliere dir …; ich befehle dir …; ich bezweifle, dass …; ich betone …; ich warne euch …; ich schlussfolgere, dass …; ich fordere dich dazu auf, dass …; ich verurteile dich zu … usw. Durch die Äußerung - also nur dadurch, dass etwas gesagt wird - wird jeweils die Handlung des Gratulierens, Befehlens, Bezweifelns etc. vollzogen. Nach Austin kann die Handlung einer performativen Äußerung gelingen oder ggf. misslingen, an sich aber weder wahr noch falsch sein. In diesem Sinne könnte man bei der Analyse der Bedeutung von performativen Äußerungen eher von Gelingensbedin‐ gungen als von Wahrheitsbedingungen sprechen. 27 1.2 Performativität und Performanz in der Sprachwissenschaft <?page no="29"?> Eines der bekanntesten Beispiele von Austin für diesen Zusammenhang ist die Taufformel (vgl. das Beispiel Ich taufe dieses Schiff „Freiheit“): Soll die Äußerung und damit die Handlung gelingen, muss der Kontext ‚stimmen‘: Wir brauchen eine passende Situation, ein bis dahin noch ungetauftes Schiff muss präsent sein, die Sprecherin oder der Sprecher müssen für den Taufakt autorisiert sein etc. Aber sofern die Gelingensbedingungen erfüllt sind, wird mit dem Akt der sprachlichen Äußerung die Handlung der Taufe vollzogen. Abb. 1.5: Beispiel einer performativen Äußerung, Illustration von Austins Taufformel Bei näherer Betrachtung ist die Unterscheidung zwischen Gelingens- und Wahrheits‐ bedingungen komplexer, als sie auf den ersten Blick scheinen mag. So diskutiert Austin in seinem Aufsatz, inwiefern auch konstatierende Äußerungen gelingen oder misslingen können. Wenn jemand zum Beispiel den Satz äußert Alle Kinder von Hans sind kahlköpfig und Hans hat gar keine Kinder, dann ist es schwierig zu sagen, dass in diesem Kontext der Satz falsch ist; eher könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Aussage in dieser Äußerungssituation unpassend ist und „daneben geht“ (Austin ebd.: 168), also nicht gelingt. Im Übrigen ist die Frage berechtigt, ob nicht auch eine konstatierende Äußerung eine Form des Handelns darstellt: Die Äußerung in einer bestimmten Sprechsituation ist ja auch eine Handlung an sich - ein Äußerungsakt. Wenn ich den Satz Alle Kinder von Hans sind kahlköpfig ausspreche, dann tue ich etwas: Ich behaupte, dass alle Kinder von Hans kahlköpfig sind. Ich führe damit ebenfalls eine Handlung aus: die des Behauptens. John R. Searle (*1932), ein ebenfalls für die Theoriebildung maßgebender Sprachphi‐ losoph, der Austins Überlegungen aufgegriffen und weiterentwickelt hat, hat später in seinem Aufsatz „How Performatives Work“ (1989) aber noch einmal explizit darauf gedrungen, dass performative Äußerungen eine besondere Klasse von Akten bzw. Handlungen darstellen. Wenn ich den Satz Alle Kinder von Hans sind kahlköpfig äußere, dann ist das eine sprachliche Handlung, insofern ich etwas behaupte oder etwas 28 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="30"?> berichte. Die Handlung betrifft den Sprechakt, aber nicht das, was inhaltlich in dem Satz beschrieben wird. Bei einer explizit performativen Äußerung wird dagegen nach Searle genau die Handlung vollzogen, die in dem Satz ausgedrückt wird. Searle bringt u. a. das Beispiel, dass man die Handlung des Versprechens vollziehen kann, einfach indem man sagt I promise to come and see you (= „Ich verspreche, dich zu besuchen.“); dass aber dazu im Gegensatz noch keine Eier gebraten werden, wenn man nur sprachlich äußert I fry an egg (ebd.: 535). Abb. 1.6: Illustration einer explizit und einer nicht explizit performativen Äußerung Wir können diesen Unterschied wie folgt an dem Kahlkopf-Satz verdeutlichen: Nach Searle ist die einfache Äußerung Alle Kinder von Hans sind kahlköpfig keine explizit performative. Anders liegt der Fall, wenn ich den Satz mit einem performativen Verb verknüpfe und z. B. den folgenden komplexen Satz (bestehend aus Haupt- und Nebensatz) äußere: Ich behaupte, dass alle Kinder von Hans kahlköpfig sind. In diesem zweiten Fall erhalten wir eine performative Äußerung. Denn inhaltlich wird nun auf den Akt des Behauptens fokussiert und mit der Äußerung die im Hauptsatz beschriebene Handlung - der Akt des Behauptens - vollzogen. Wenn wir Searles Punkt zu Austins Analyse hinzufügen, entsteht folgendes Bild: Die Äußerungen Ich brate ein Ei oder Alle Kinder von Hans sind kahlköpfig sind keine explizit performativen Äußerungen, aber in einem weiter gefassten Verständnis von Sprachhandlung können es doch auch sprachliche Handlungen sein. Stellen Sie sich z. B. eine Situation vor, in der eine Fernsehköchin vor den Augen ihrer Zuschauer: innen ein Gericht mit Eiern zubereitet und äußert: Zuerst brate ich ein Ei. Die Äußerung ist vielleicht nicht explizit performativ, kann jedoch als eine sprachliche Handlung des 29 1.2 Performativität und Performanz in der Sprachwissenschaft <?page no="31"?> Beschreibens verstanden werden. Indem die Fernsehköchin den Satz äußert, handelt sie sprachlich: Sie beschreibt, was sie am Herd tut. Das Eierbraten ist eine Kochhandlung; das Sprechen bzw. mündliche Beschreiben ist eine Sprachhandlung. Der einzige Unter‐ schied zur explizit performativen Äußerung besteht darin, dass es bei Letzterer statt zwei Handlungen nur eine gibt - eine einzige Handlung, die das betrifft, was inhaltlich in dem Satz beschrieben wird: Ich äußere Ich taufe dieses Schiff „Freiheit“ und durch meine Äußerung wird die Taufhandlung vollzogen; hier gilt also: Sprachhandlung = Taufhandlung. Noch einmal zurück zu Austin: Austin selbst weist bereits darauf hin, dass Äu‐ ßerungskonstruktionen mit einem performativen Verb (wie versprechen, befehlen, gratulieren, schlussfolgern etc.) in der 1. Person Singular in erster Linie dazu dienen, „explizit und gleichzeitig deutlicher zu machen, welchen Akt man beim Aussprechen der Wendung zu vollziehen gedenkt“ (Austin 1962/ 2010: 166). Aber dieser explizite Weg ist nicht der einzige, um sprachlich zu handeln. So können wir z. B. die Handlung des Befehlens im Rahmen einer Äußerung mit einem performativen Verb explizit machen - oder das sprachliche Mittel des Aufforderungssatzes nutzen. Letzteres ist impliziter, die sprachliche Handlung des Befehlens wird aber immer noch strukturell markiert - z. B. im Deutschen mit dem Verb im Imperativ, positioniert am Anfang des Satzes; die Handlung ist damit zu erschließen, wenn wir mit den satzstrukturellen Merkmalen des Aufforderungssatzes vertraut sind: Sprachhandlung des Befehlens/ der Bitte Sprachhandlungen können mit performativen Verben expli‐ ziert, aber auch durch andere sprachliche Mittel lexikalisch und/ oder strukturell kenntlich gemacht werden: 1. Ich befehle Dir, die Tür zu schließen. 2. Schließ die Tür! 3. Ich bitte Dich, die Tür zu schließen. 4. Bitte schließ die Tür! 5. Könntest du bitte die Tür schließen? ! Beispiele u. a. nach Austin (1962/ 2010: 166) Austin gelangte in seiner Auseinandersetzung letztlich zu der Erkenntnis, dass die Mög‐ lichkeiten, mit Sprache zu handeln, seine Definition der performativen Äußerungen weitreichend übersteigen und dass die Linguistik vor dem Desiderat steht, die Facetten sprachlichen Handelns noch sehr viel umfassender systematisch zu beschreiben (vgl. Austin 1962/ 2010: 171). Das bedeutet, Austin nutzte die Gegenüberstellung konstatierend/ performativ eher als „Leiter“, „um die [sprachphilosophische] Tradition zu überwinden“ (Hoffmann 2010: 156). Nach Hoffmann (ebd.) „zeigt [der Aufsatz] den Denkweg […] hin zur Hand‐ 30 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="32"?> lungstheorie der Sprache“. In diesem Sinne waren Austins und auch Searles Arbeiten - ihre Darlegung der ersten Sprechakttheorien und einer erstmaligen systematischen Modellierung dessen, was Menschen ‚tun‘, wenn sie ‚sprechen‘ (Austins klassisches Werk How to do things with words, 1962) - in der Folge paradigmenbildend für eine handlungsbezogene Sprachauffassung. Heute leben diese Ansätze weiter in handlungsorientierten Sprachtheorien und zahl‐ reichen sprachwissenschaftlichen und sprachdidaktischen Diskursen. Man vergleiche z. B. die Richtung der funktionalen Pragmatik und die Theorie der sprachlichen Handlungsmuster nach Konrad Ehlich (1998), die richtungsweisend ist für (fachdidak‐ tische) Diskurse zu Bildungssprache, Fachsprache bzw. bildungssprachlichen Praktiken (vgl. u. a. Feilke 2013; Morek & Heller 2019). Nach u. a. Feilke (2013) zeichnen sich Bildungssprache und Fachsprache, die in der Schule und in allen Kontexten der Wis‐ sensaneignung und Wissensvermittlung eine zentrale Rolle spielen, gerade dadurch aus, dass in ihnen bestimmte sprachliche Handlungen gehäuft auftreten: Handlungen des Erklärens, Beschreibens, Begründens, Argumentierens etc. Das Konzept der sprachlichen Handlung wird hier noch weiter gefasst und bezieht sich nicht nur auf einzelne Äußerungen bzw. Sätze, sondern auch auf größere Sprech- und Texteinheiten. Dabei werden neben mündlichen vorrangig Schreibhandlungen bzw. sprachliche Handlungen in geschriebenen Texten berücksichtigt. Der Umstand, dass dabei nicht unbedingt performative Verben, sondern sehr viel weitreichender auch andere für den jeweiligen Sprachhandlungstyp charakteristische sprachliche Mittel auftreten können, macht die sprachliche Rezeption und Produktion umso anspruchs‐ voller. So stellt Feilke (2014) heraus, dass für die verschiedenen Sprachhandlungen je spezifische kommunikativ-sprachliche Handlungskomponenten und wiederkehrende Formulierungen - er nennt sie Textprozeduren - typisch sind. Ein Beispiel: Wenn man im Rahmen einer Argumentation eine bestimmte Position vertritt und potenzielle Gegenargumente abwägt und entkräftet, dann vollzieht man die Sprachhandlung des Konzedierens. Im Deutschen nutzt man dazu typischerweise Textprozeduren wie: zwar … aber; sowohl … als auch; dennoch …; trotzdem. Generell lassen sich bildungssprachli‐ che Kompetenzen vor diesem Hintergrund auch über den flexiblen und differenzierten Zugriff auf die je angemessenen sprachlichen Mittel bzw. Textprozeduren bemessen. In schulischen Curricula, die heute vorrangig kompetenzorientiert, also auf die im Unterricht zu erwerbenden Fähigkeiten hin ausgerichtet sind, werden einige der betreffenden Sprachhandlungen auch als Operatoren bezeichnet. Schulcurricular relevante Sprachhandlungen - Operatoren In der Schule werden in fast allen Fächern zur Bearbeitung von Lernaufgaben und Prüfungsaufgaben verschiedenste Handlungen, sogenannte Operatoren, benötigt. In den meisten Fällen sind Operatoren Sprachhandlungen bzw. die betreffenden Operationen werden durch Sprachhandlungen realisiert. Bei Operatoren, die für die Schulabschlussprüfungen (z. B. Abitur) erforderlich sind und darauf zuführend 31 1.2 Performativität und Performanz in der Sprachwissenschaft <?page no="33"?> bereits in der Sekundarstufe I und II geübt werden, unterscheidet man in der Regel zwischen drei verschiedenen, in ihrer Komplexität ansteigenden Anforderungsbe‐ reichen: Ein erster Anforderungsbereich betrifft die Reproduktion, also das Wiedergeben von Sachverhalten, die in einer Aufgabe thematisiert werden. Eine Reprodukti‐ onsleistung kann auch die Verwendung von gelernten Methoden involvieren. Relevante Operatoren in diesem Anforderungsbereich sind z. B. etwas (einen Sach‐ verhalt, einen Begriff) (be-)nennen, beschreiben, wiedergeben und zusammenfassen. Ein zweiter Anforderungsbereich bezieht sich auf die Reorganisation und den Transfer von Gelerntem auf neue Kontexte und Sachverhalte. In diesem Zusam‐ menhang können z. B. die Operatoren einordnen, vergleichen, erläutern, erklären, in Beziehung setzen zum Tragen kommen. Der dritte Anforderungsbereich richtet sich schließlich auf Reflexion und Problem‐ lösung. Hierzu gehören u. a. die Operatoren deuten, beurteilen, bewerten, begründen, kritisch Stellung nehmen, argumentieren, und im Kontext von schriftlicher Problem‐ lösung z. B. einen eigenen Text entwerfen, planen und gestalten. Die Aneignung von Operatoren bzw. von für die Wissensaneignung und Wissens‐ vermittlung relevanten sprachlichen Handlungen - und damit u. a. die Fähigkeit, Sachverhalte zu erklären, zu beschreiben, ein Urteil zu begründen, für eine bestimmte Position zu argumentieren etc. - wird als Schlüssel für schulischen Lernerfolg erachtet. Dementsprechend stehen Operatoren/ Sprachhandlungen im curricularen Fokus. Dabei übt man in der Primarstufe im Deutschunterricht insbesondere das Erzählen und die damit verbundenen Handlungskomponenten zunächst medial mündlich, dann schriftlich. Auf der Schwelle zur Sekundarstufe kommt das mündliche und schriftliche Beschreiben hinzu, später das mündliche und schriftliche Argumentieren mit allen involvierten sprachlichen Teilhandlungen. Einige der Unterrichtsvorschläge in diesem Lehr-/ Praxisbuch fokussieren auf die Förderung einzelner Operatoren sowie der damit jeweils verbundenen sprachlichen Mittel: Erzählen (Kapitel 5, 6), Beschreiben und Interpretieren (Kapitel 19), Argumentieren (Kapitel 7). Abschließend lässt sich in Bezug auf die in diesem Abschnitt verhandelten Zu‐ sammenhänge festhalten, dass es bei den skizzierten sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Perspektiven auf die Begriffe Performanz und Performativität vorrangig darum geht, den allgemeinen und äußerungsspezifischen Handlungscharak‐ ter von Sprache und Sprechen an sich zu analysieren. Performativ wird als Attribut zu Sprache bzw. zu bestimmten sprachlichen Äußerungen angewandt, um auszudrücken, dass diese sprachlichen Äußerungen eine spezifische Form des Handelns darstellen. Sprache/ Sprechen wird grundlegend in Bezug zu Handeln gesetzt: 32 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="34"?> Abb. 1.7: Performanz und performativ in der sprachwissenschaftlichen Theoriebildung Wohlgemerkt geschieht dies bei Austin und Searle noch, ohne ein ganzheitliches - kognitive und körperlich-sinnliche sowie ästhetische Dimensionen mit einbeziehendes - Verständnis von Sprache, Sprechen oder Handeln zu entwickeln. Letzteres begegnet uns erst im Rahmen von anderen fachtheoretischen Verhandlungen von Performati‐ vität, u. a. im Kontext von Ästhetik-, Kunst- und Theatertheorien, auf die wir im folgenden Abschnitt eingehen. 1.3 Performativität im Kontext von Kunst- und Theatertheorien Im Kontext von Kunst- und Theatertheorien findet sich eine andere Verwendung von Performativität, die dem Bedeutungskern des Handelns gleichfalls treu bleibt, weiterführend aber doch eine andere Richtung einschlägt. Hilfreich, um die sprachwis‐ senschaftliche und die theatertheoretische Perspektive zueinander in Bezug zu setzen, ist eine Unterscheidung, auf die Hempfer (2011: 14) und ihn aufgreifend Hudelist (2017: 12) aufmerksam machen: Im Englischen kann performance sowohl ‚Ausführung‘ als auch ‚Aufführung‘ bedeuten. (Diesbezüglich sei an die Abb. 1.3 in Kap. 1.1 erinnert. Unter den dort aufgeführten Bedeutungen des englischen Verbs to perform findet sich neben ‚ausführen‘ auch ‚vorführen‘ - im Sinne von ‚aufführen‘.) Bei der im letzten Abschnitt (1.2) thematisierten Auffassung von Austin und Searle über den Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen ist ausschließlich Ersteres gemeint. Wenn also z. B. Searle Äußerungen auch als performances bezeichnet, dann geht es ihm um das Ausführen einer sprachlichen Handlung, nicht um das Aufführen im Sinne der Vorführung einer Handlung vor anderen auf einer Bühne. Die Aufführung bzw. Vorführung wird jedoch zu einem zentralen Kriterium in kunstbzw. theaterwissenschaftlichen Perspektiven auf den Begriff der Performativität. Entscheidend in diesen Fachdiskursen ist, dass der Ausgangs- und Ankerpunkt für die Attribuierung von performativ nicht mehr (nur) die sprachliche Äußerung ist. Perfor‐ mativ wird nun (breiter) auf bestimmte Prozesse und Formen von Kunst, Kunstwerken und Kultur bezogen - und in diesen Zusammenhängen auch auf besondere Formen des künstlerisch-kreativen Handelns sowie des ästhetischen Erlebens und Erfahrens, die den gesamten Körper miteinbeziehen. 33 1.3 Performativität im Kontext von Kunst- und Theatertheorien <?page no="35"?> Abb. 1.8: Performative Kunst Körper, körperlich-sinnliche Dimensionen Körper kann sich im Prinzip auf die materielle/ physische Substanz und den Raumumfang von Objekten und Gegenständen aller Art beziehen. Wir meinen in diesem Lehr- und Praxisbuch in der Regel aber stets den menschlichen Körper in seiner lebendigen und vom Menschen selbst (leiblich) erlebten Form. Dieser menschliche Körper integriert grob gefasst drei verschiedene (körper‐ lich-sinnliche) Dimensionen (vgl. Zepter 2013): 1. Die Dimension der Sinne bzw. der sinnlichen Wahrnehmung. Traditionell werden fünf Sinne unterschieden: die visuelle Wahrnehmung (Sehen), die auditive Wahrnehmung (Hören), die olfaktorische Wahrnehmung (Riechen), die gustatorische Wahrnehmung (Schmecken) und die taktile Wahrnehmung (Fühlen über die Haut). Relevant ist aber auch die propriozeptive Wahrneh‐ mung (die Eigenwahrnehmung); sie bezieht sich auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers, dessen Haltung, Stellung im Raum und dessen Bewegungen. 2. Die Dimension der Motorik, die alle Bewegungen des Körpers bzw. einzelner Körperteile umfasst. 3. Die Dimension der Emotionen (vgl. detaillierter u. a. Holodynski 2006). Ästhetische Erfahrung Ästhetische Erfahrung wird in zahlreichen kunst- und theatertheoretischen Dis‐ kursen und oft auch in unserem alltäglichen Sprachgebrauch thematisiert; eine genaue Definition ist aber kaum möglich, da der Begriff des Ästhetischen äußerst vielschichtig ist und (ähnlich wie der Begriff der Performativität) in diversen Fachdiskursen aus unterschiedlichen Perspektiven verhandelt wird. Wir folgen hier im Wesentlichen Brandstätter (2012/ 2013): In einem engeren Begriffsverständnis bezeichnet ästhetische Erfahrung das, was wir im Rahmen der sinnlichen Wahrnehmung von Kunst bzw. Kunstwerken erfahren. Solche auf Kunst gerichteten sinnlichen Wahrnehmungen können sich sowohl im Zuge der Kunstrezeption ereignen (→ ich betrachte ein Bild, das ich nicht selbst gemalt habe; ich höre ein Musikstück von meiner Lieblingssängerin etc.) als auch 34 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="36"?> im Kontext der Kunstproduktion (→ ich komponiere ein Musikstück und in diesem Prozess halte ich inne und höre mir das bereits Komponierte an etc.). Brandstätter (2012/ 2013) betont, dass begrifflich weiter gefasst nicht nur der Um‐ gang mit ausgewiesenen Kunstwerken, sondern auch alltägliche Begebenheiten Anlässe für ästhetische Erfahrungen bieten können. Wesentlich für eine ästheti‐ sche Erfahrung ist u. a., dass die sinnliche Wahrnehmung: a. ganzheitlich körperlich vollzogen wird: Dass also ggf. mehrere Sinne (z. B. bei einem Musikstück Hören und Propriozeption) und auch die Dimension der Emotionen die Erfahrung gemeinsam konstituieren; b. nicht einseitig zweckorientiert ist: Dass also die ästhetische Erfahrung quasi sich selbst genügt und als solche auch wahrgenommen wird. Ich muss z. B. das, was ich akustisch höre, als Musik erleben und empfinden bzw. wertschätzen; oder ich muss einen Text, den ich lese, als eine Form von Literatur/ Kunst erfahren und wertschätzen und nicht nur als eine einfache Quelle für Sachin‐ formationen. Wie in der Philosophie und den Kulturwissenschaften sind auch die Fachdiskurse zur Performativität in den Kunstwissenschaften breit gefächert; sie werden bis heute intensiv geführt. Wir beschränken uns in der Darstellung auf die einschlägigen theaterwissenschaftlichen Arbeiten von Erika Fischer-Lichte (vgl. 2001; 2002; 2012). Fi‐ scher-Lichte richtet ihr Erkenntnisinteresse auf eine theoretische Klärung des Begriffs der Performativität im Kontext ästhetischer Erfahrung und verschiedener Kunstfor‐ men. Weiterführend stellt sie auch Überlegungen dazu an, welche lebensweltlichen (Kommunikations-)Situationen bzw. welche von Menschen hervorgebrachten Prozesse und Produkte ebenfalls performativen Charakter haben können. Performativität wird in diesem Sinne in ihrer Relevanz für Kultur und Gesellschaft allgemein interpretiert. Das Theater, dessen performative Funktion sich „auf den Vollzug von Handlungen - durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer“ richtet (Fischer-Lichte 2002: 279), erfasst Fischer-Lichte dabei „als performative Kunst par excellence“ (ebd.: 288). Was ist damit gemeint? Wenn wir uns überlegen, bei welchen Kunstformen der Vollzug von Handlungen für das Kunstwerk an sich von zentraler Bedeutung ist, dann gilt das offensichtlich in besonderem Maße für das Theater. Das Kunstwerk beim Theater - das theatrale Kunstwerk - entsteht ja in der Regel erst im Moment seiner Aufführung und durch das Miteinander-Handeln von Personen auf und vor der Bühne und es existiert nur in dieser Flüchtigkeit. Ästhetische Wirklichkeit und Bedeutung konstituieren sich derart notwendig im Rahmen von dynamischen Prozessen und in der körperlich verankerten Kopräsenz von Agierenden und Zuschauenden (vgl. auch Paule 2017: 43 f.). Weitergedacht trifft das Gleiche sehr wohl auf alle darstellenden Künste zu: neben Theaterschauspiel, Musiktheater und Kleinkunst auch auf Tanz, Filmkunst, Kunst im Kontext von (neuen) Medien etc. Denn die darstellenden Künste werden klassisch 35 1.3 Performativität im Kontext von Kunst- und Theatertheorien <?page no="37"?> darüber definiert, dass sich das Kunstwerk in der Präsentation, der Darbietung vor Publikum - und somit auch im Zuge der damit verbundenen Handlungen - ereignet. In der Klassifizierung der verschiedenen Kunstformen und Kunstgattungen grenzt man die darstellenden Künste in der Regel von den bildenden Künsten ab. D. h., man stellt ihnen die Kunstgattungen Malerei, Zeichnung, Bildhauerei, Fotografie etc. gegenüber, bei denen das Kunstwerk visuell gestaltet und als solches in einem Handlungsprodukt fixiert ist. Ähnliches gilt für die Literatur als sprachlich gestaltete Kunst, wenn man bei Literatur ausschließlich an das in Schrift und Text fixierte Kunstwerk denkt. Fehlt dann den bildenden Künsten und der Literatur die performative Funktion, die den darstellenden Künsten inhärent ist? Mitnichten: Gerade der letztgenannte ‚Gegensatz‘ - darstellende Kunst vs. Literatur - weicht in seinen Konturen auf, wenn man erkennt, dass die Übergänge fließend sind und dass Performativität bzw. der Vollzug von Handlungen im Literaturkontext ebenso wesentlich werden kann. Denken Sie z. B. an Lyrik und an ein Gedicht, das sich als Kunstwerk erst in der sprechenden, stimmlichen Gestaltung und Präsentation und dem damit verbundenen Handeln realisiert. Ähnliches gilt für das Drama bzw. alle Texte mit verteilten Rollen. Oder was ist mit Erzähltexten, die in der mündlichen Präsentation unter Einsatz des gesamten Körpers der Erzählerin/ des Erzählers (Mimik, Gestik, Bewegung) und unter Einbezug der Zuschauer: innen und Zuhörer: innen zu (neuem) Leben erweckt werden? Fischer-Lichte (2002: 285) macht auf die heute immer häufiger entstehenden performativen „Grenzgänge zwischen den Künsten“ aufmerksam, bei denen neben Film, Tanz, Dichtung und Musik auch Malerei u. a. beteiligt sind, bei denen z. B. ein Bild auf der Bühne entsteht/ gemalt wird usw. Auch die noch weiter generalisierende Auffassung von Fischer-Lichte, dass nicht nur Kunstwerke, sondern auch andere von Menschen hervorgebrachte Prozesse und Produkte performativen Charakter haben können, ist aus einer lehr-lern-bezogenen Perspektive nicht unerheblich (siehe auch Abschnitt 1.5). Im Prinzip muss z. B. ein einfacher Text an sich kein großartiges ‚Kunstwerk‘ sein und doch kann eine gekonnte mündliche Präsentation ebendies entstehen lassen oder sich diesem zumindest stärker annähern. Je nach Präsentationsgeschick gelingt dies sogar mit einem Sachtext oder einem Auszug aus dem Telefonbuch. Dabei bedeutet, eine performative Perspektive auf Literatur und sprachlich gestaltete Kunst bzw. allgemeiner auf Schrift, Text und Spre‐ chen einzunehmen, keineswegs eine Senkung des Anspruchs, im Gegenteil. Es bedeutet eine Verschiebung des Fokus von den Handlungsprodukten auf die Handlungsprozesse und allgemeiner auf alle Handlungen, die die Entwicklung, die Konstitution und die Wahrnehmung, die ästhetische Erfahrung der Produkte formen und unterstützen können. Aber noch einmal zurück zum Theater als der performativen Kunst par excellence: Der enge Bezug zwischen den Begriffen Performativität und Theatralität ergibt sich für Fischer-Lichte (2002) im Zuge einer Systematisierung auf der Grundlage von vier Aspekten: Inszenierung, Korporalität, Wahrnehmung und Aufführung/ Performance. Alle vier Aspekte gemeinsam definieren Theatralität. D. h. immer da, wo sich Theatralität 36 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="38"?> ereignet, wo ein theatrales Kunstwerk realisiert wird, kommen alle vier Aspekte zusammen: Es gibt eine Aufführung, es wird etwas inszeniert, handelnde Körper sind ganzheitlich einbezogen und Wahrnehmung (von Zuschauenden/ Zuhörenden) spielt eine zentrale Rolle. Jeder einzelne Aspekt kann dagegen allein oder in Kombination mit den anderen darauf hinweisen, dass ein (künstlerischer) Prozess/ ein Kunstwerk per‐ formativen Charakter hat; Fischer-Lichte spricht hier von „Begriffsabschattung[en]“ (ebd.: 300) von Performativität, je nachdem, welchen theoretischen Kontext man anlegt. Wir interpretieren Fischer-Lichtes Grundgedanken zu den vier Aspekten im Folgen‐ den auf der Basis möglichst einfacher Beispiele (vgl. ebd.: 299): 1. Zum Aspekt der Inszenierung: Beim Theater betrifft die Inszenierung die Art und Weise, wie ein Stück in Szene gesetzt wird. Denken Sie z. B. an ein bekanntes Drama wie Goethes Faust, das Sie eventuell selbst bereits in verschiedenen Inszenierungen auf der Bühne erlebt haben. Durch eine spezifische Rollen- und Raumgestaltung, zeitliche Verortung etc. kann ein Stück grundsätzlich sehr unterschiedlich inszeniert werden. Ein Kunstwerk/ ein von Menschen im Alltag hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn seine Entstehung inszenierte Handlungen involviert. 2. Zum Aspekt der Korporalität: Ein theatrales Kunstwerk wird von handelnden Menschen hervorgebracht, die die Handlungen mit ihrem Körper (ihrer Stimme, ihrer Mimik und Gestik, ihrer Körperhaltung und Bewegung, ihren Emotions‐ ausdrücken etc.) gestalten. Ein Kunstwerk/ ein von Menschen hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn seine Entstehung körperlich (= korporal) vollzogene Handlungen integriert. Abb. 1.9: Theatralität und Performativität 37 1.3 Performativität im Kontext von Kunst- und Theatertheorien <?page no="39"?> 3. Zum Aspekt der Wahrnehmung: Das theatrale Kunstwerk braucht für seine Entstehung zwingend auch Publikum, das das Entstehende wahrnimmt und durch seine Reaktionen, ggf. auch durch ein Eingreifen den Handlungsvollzug mit beeinflusst. Ein Kunstwerk/ ein von Menschen hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn es für Zuschauende/ Zuhörende realisiert wird, so dass sich die Bedeutung u. a. in (zeitlich gebundener) Wahrnehmung konstituiert. 4. Zum Aspekt der Aufführung/ Performance: Ein Theaterstück wird ‚auf die Bühne‘ gebracht und existiert nur in diesem räumlichen und/ oder zeitlichen Miteinander von handelnden Schauspielenden und körperlich anwesenden Zuschauenden/ Zu‐ hörenden bzw. in der Präsentation auf der Bühne. ‚Bühne‘ ist dabei im weitesten Sinne zu verstehen und kann auch eine spontan improvisierte Form haben. Ein Kunstwerk/ ein von Menschen hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn es handelnd vollzogen und die Handlungen aufgeführt/ präsentiert werden. Alles in allem zeigt die skizzierte kunsttheoretische Perspektive auf den Begriff der Performativität eine Bezugnahme auf Handlungsvollzüge, die die Handlung und das Miteinander-Handeln als zentrale Bedingungen für das Hervorbringen von Kunst und Kultur erfasst. Generell wird ein ganzheitliches - kognitive und körperlich-sinnliche sowie ästhetische Dimensionen mit einbeziehendes - Verständnis von Handeln, Mit‐ einander-Handeln und dann auch von Sprechen und Sprachgebrauch vorausgesetzt. Es ist diese Perspektive, die sich auch in verschiedenen pädagogischen und fachdidak‐ tischen Diskursen finden lässt. Dort wird sie in ihrer Relevanz für Lernprozesse, im Besonderen auch sprachliche Lernprozesse, ausgedeutet. 1.4 Zwischenfazit: zwei Bedeutungsvarianten von performativ und Performativität Bevor wir uns den pädagogischen und fachdidaktischen Diskursen zuwenden, wollen wir zuvor noch einen Blick zurück auf den Einstieg in dieses Kapitel und die dortige Systematisierung der Wortverwandtschaften mit dem Stamm perform werfen. Abbil‐ dung 1.3 hatte den Begriff der Performativität zunächst als blinden Fleck ausgewiesen. Nach den Ausführungen in den Abschnitten 1.2 und 1.3, die deutlich werden ließen, wie unterschiedlich der Begriff in der sprachwissenschaftlichen (nach Austin und Searle) und in der theaterwissenschaftlichen (nach Fischer-Lichte) Fachdisziplin definiert wird, schlagen wir nun für den Umgang mit dem blinden Fleck eine Zweiteilung vor, um beide Perspektiven zu berücksichtigen. Abbildung 1.10 zeigt eine mögliche Systematisierung, die nicht die gesamte Kom‐ plexität der Bedeutungsvarianten einfängt, dafür aber die aus den beiden Disziplinen erwachsene Unterschiedlichkeit zusammenfassend in den Blick rückt: 38 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="40"?> Abb. 1.10: Wortverwandtschaften mit dem Stamm perform und Bedeutungsvarianten in der Kunst- und Theatertheorie und in der Sprachwissenschaft Der Bedeutungskern des zielgerichteten Tuns (= Handeln) bildet die begriffliche Grundlage für beide fachspezifischen Verständnisse von Performativität, aber das Attribut performativ erhält in der Kunst-/ Theatertheorie einen anderen Bezugspunkt als in der Sprachwissenschaft (Kunst vs. sprachliche Äußerung) und wird als ‚vorfüh‐ rend‘ (im Sinne von ‚aufführend‘) oder als ‚ausführend‘ interpretiert. Zudem wird performativ auch verstanden und gebraucht als „Performativität betreffend“, wobei mit Performativität in den beiden Disziplinen jeweils unterschiedliche Konzepte assoziiert werden (in Abb. 1.10 durch die dünnen gestrichelten Pfeile ausgedrückt). Der nächste Abschnitt führt uns vor diesem Hintergrund final zur didaktischen Perspektive auf Performativität, bei der dem Attribut performativ ein weiterer, dritter Bezugspunkt (Lehr-/ Lern-Prozesse) zuteilwird. Zugleich integriert die didaktische Perspektive beide Bedeutungsvarianten ‚vorführend‘ und ‚ausführend‘ und übernimmt aus dem kunst-/ theatertheoretischen Ansatz das ganzheitliche Verständnis des Hand‐ lungsbegriffs. 1.5 Performativität in Pädagogik, Deutschdidaktik und theaterpädagogisch orientierter Fremdsprachendidaktik Dass sich pädagogische und fachdidaktische - darunter deutschdidaktische und fremd‐ sprachendidaktische - Diskurse für den Begriff der Performativität öffnen, liegt dann nahe, wenn wir auch didaktische Prozesse der Vermittlung und Aneignung grundlegend als „performative, kulturell-soziale Handlungsprozesse begreifen“ (Zirfas 2017: 18). Das bedeutet, als Ankerpunkt für die Attribuierung von performativ rücken in diesen Disziplinen Lehr- und Lern-Prozesse und die darauf gerichteten Didaktiken in den 39 1.5 Performativität in Pädagogik, Deutschdidaktik und Fremdsprachendidaktik <?page no="41"?> Blick. Performativität und damit verbundene Aspekte wie Aufführung, Inszenierung, Körperlichkeit werden als didaktische Ressource für Lehren und Lernen erkannt und analysiert. Abb. 1.11: Performative Lehr-Lern-Prozesse Didaktisches Konzept vs. Methode Didaktik ist die Wissenschaft des Lehrens und Lernens. Man kann darunter aber auch die Kunst des Lehrens und Lernens verstehen. Fachdidaktiken, wie z. B. die Deutschdidaktik oder Sprachdidaktik, richten ihr Forschungsinteresse auf ein bestimmtes Fach und die damit verbundenen Lehr-Lern-Gegenstände (z. B. die deutsche Sprache; Schreiben; Lesen; Sprechen und Zuhören; Umgang mit Literatur und Medien) und beforschen deren Erwerb und Vermittlung im schulischen Unterricht oder auch in anderen Kontexten. Worin besteht in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen einem didak‐ tischen Konzept und einer Methode? Eine klare Abgrenzung ist schwer, da Konzept und Methode in der Regel ineinan‐ dergreifen und oft auch synonym (= gleichbedeutend) verwendet werden. Im Prinzip richtet sich das didaktische Konzept auf das Was einer Lehr-Lern-Si‐ tuation, eines Unterrichts: Das didaktische Konzept gibt an, welche Lerninhalte im Fokus stehen und was die Lernziele sind. Im Schreibunterricht könnte z. B. ein didaktisches Konzept zum Einsatz kommen, das auf das motorische Schreiben fokussiert und hier im Besonderen den Lernenden das Ziel setzt, eine Hand-/ Arm- und Körperhaltung zu entwickeln, die ein flüssiges Schreiben bestmöglich unterstützt. Die Methode richtet sich komplementierend auf das Wie des Erwerbs und die Vermittlung in der Lehr-Lern-Situation: Die Methode gibt an, wie Lerninhalte verhandelt und Lernziele angesteuert werden. Im Beispiel des Unterrichts zum motorischen Schreiben könnte z. B. eine Methode zum Einsatz kommen, bei der eine bestimmte Handhaltung körperlich vorgemacht und mit spezifischen Bewegungsübungen praktiziert wird, oder eine Methode, bei der eine angestrebte Handhaltung nur verbal (mit Worten) erklärt wird. 40 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="42"?> Sondiert man die verschiedenen Ansätze zur Performativität in Pädagogik und Didak‐ tik, wird deutlich, dass sich die Theoriebildung der letzten zwei Jahrzehnte komplex entfaltet hat und dass sie bis heute nicht abgeschlossen ist. Interdisziplinär betrach‐ tet, treffen die pädagogischen und didaktischen Disziplinen auf eine facettenreiche Diskussion zu den Begriffen Performativität, Performanz und Performance in der Sprachphilosophie, den Kultur-, Kunst- und Medienwissenschaften. Sie sehen sich vor die Aufgabe gestellt, die Begriffe vor diesen Hintergründen für die eigene Disziplin auszuloten und zu konturieren (für umfassende Diskussionen siehe u. a. Wulf & Zirfas 2007; Even & Schewe 2016; Hudelist & Krammer 2017; Even, Miladinović & Schmenk 2019). In seiner Bestimmung einer performativen Deutschdidaktik diskutiert z. B. Krammer (2017), in welcher Weise sich in den Arbeitsbereichen des Deutschunterrichts kulturelle Praktiken des Aus- und Aufführens finden lassen - wie relevant etwa Sprechakte und körperliche Handlungen für sprachliche Lehr- und Lernprozesse sind und welche Bedeutung das Aufführen für die unterrichtliche Verhandlung von Literatur hat (ebd.: 30). Nach Krammer erforscht eine performative Deutschdidaktik u. a., „inwiefern [bei sprachlichen und literarischen Lehr- und Lern-Prozessen] Aspekte wie Körperlichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit oder Lautlichkeit berücksichtigt werden“ (ebd.: 38). Schlägt man die Brücke von den Kunst- und Theaterwissenschaften zur Deutschdidaktik, liegt es nahe, generell performative Prozesse künstlerischen Handelns auch hinsichtlich ihrer didaktisch-methodischen Gestaltungsmöglichkeiten für die Vermittlung und Unterstützung sprachlichen Lernens zu analysieren und nutzbar zu machen (vgl. ebd.). Solch eine Perspektive wird vor allem dann wünschenswert, wenn man Sprachtheo‐ rien voraussetzt, die Sprache - ausgehend vom Sprachgebrauch - als ein zugleich kognitives und sinnliches Gebilde erfassen (vgl. Zepter 2013). Involvieren Sprachpro‐ duktion und Sprachrezeption (Sprechen, Zuhören, Lesen, Schreiben) körperlich-sinn‐ liche Dimensionen (Sinneswahrnehmung, Emotionen, Bewegung), impliziert dies, dass auch Lernprozesse in diesen Bereichen von einem vermittelnden bzw. angeleiteten Einbezug der körperlich-sinnlichen Dimensionen profitieren. Im folgenden Kapitel gehen wir darauf noch genauer ein und stellen eine theoretische Grundlage vor. Im Kontext der Arbeiten von Manfred Schewe und Susanne Even (vgl. u. a. Schewe 1993; Even 2011; Even & Schewe 2016; Even, Miladinović & Schmenk 2019) hat sich in der Fremdsprachendidaktik ein Diskurs zu performativen Lehr- und Lernkonzepten entwickelt, der einen expliziten Schwerpunkt auf die Bedeutung von Kunst und Thea‐ tralität legt. Exemplarisch greifen wir einen Beitrag von Dragan Miladinović auf, der systematisierend acht Prinzipien für einen performativen Fremdsprachenunterricht zusammenführt. Bei deren Anwendung kommen „sowohl spracherwerbsorientierte als auch ästhetisch-künstlerische bzw. körper(sprach)liche Elemente zum Tragen“ (Miladinović 2019: 17). Die Idee eines entsprechenden Fremdsprachenunterrichts ist in diesem Sinne, sprachliches Lernen (einer Fremdsprache) mit ästhetisch-künstlerischem und körperbezogenem Lernen gleichwertig zu verzahnen - in der Erwartung, dass sich 41 1.5 Performativität in Pädagogik, Deutschdidaktik und Fremdsprachendidaktik <?page no="43"?> 1 Ein Prinzip betrifft die Förderung performativer Kompetenz. Miladinović (2019: 9) definiert perfor‐ mative Kompetenz nach Hallet (2010: 5) als „Bündel von Fähigkeiten des Individuums, die Insze‐ niertheit allen sozialen Handelns zu verstehen, selbst soziale Interaktionssituationen zu initiieren, diese selbstbestimmt mitzugestalten und die eigene Rolle darin kritisch zu reflektieren.“ Es geht also u. a. um ein Können, zu analysieren und zu reflektieren, inwiefern Situationen, in denen Menschen miteinander handeln, inszeniert sind oder Aspekte von Inszeniertheit aufweisen, ähnlich wie dies auch bei Fischer-Lichte thematisiert wird. Synergieeffekte einstellen. Die folgende Grafik zeigt alle acht Prinzipien im Überblick (vgl. ebd.: 17-19): 1 Abb. 1.12: Acht Prinzipien eines performativen Fremdsprachenunterrichts (vgl. Miladinović 2019: 17-19) Zusammenfassend lässt sich zu den letzten drei Abschnitten festhalten: Wir haben den Begriff der Performativität in (grob eingeteilt) drei verschiedenen Fachkontexten nach‐ gezeichnet: Sprachwissenschaft, Theaterwissenschaft und Didaktik. Im Fokus stehen stets Handlungsvollzüge; jedoch werden diese im ersten (sprachwissenschaftlichen) Kontext nicht notwendig ganzheitlich begriffen, in den anderen beiden schon. Überdies wird das Attribut performativ jeweils auf unterschiedliche Gegenstände angewendet: (i) auf sprachliche Äußerungen; (ii) auf Kunstformen, künstlerische Produkte und Prozesse; (iii) auf Lehr- und Lernprozesse, Lehr-Lern-Konzepte und Didaktiken. Dabei ist auch der Begriff des Handlungsvollzugs nicht eindimensional und kann sowohl auf das Ausführen einer Handlung (in (i) und (iii)) als auch auf das Aufführen einer Handlung (in (ii) und (iii)) verweisen. 42 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="44"?> Dieses Lehr- und Praxisbuch stellt performative Zugänge zu Deutsch als Zweitspra‐ che in den Mittelpunkt und verortet sich im Rahmen der deutsch- und fremdsprachen‐ didaktischen Perspektiven auf Performativität. Das bedeutet, auch hier wird Perfor‐ mativität als didaktische Ressource erkannt. Die damit verbundenen Möglichkeiten des zweitsprachlichen Lehrens und Lernens werden am Beispiel von verschiedenen didaktischen Konzepten bzw. Methoden und konkretisierenden Unterrichtsvorschlä‐ gen aufgezeigt (siehe Teil II). Im nun folgenden und letzten Abschnitt dieses begriffsklärenden Kapitels fassen wir abschließend zusammen, welche Kriterien genau einen ‚performativen Zugang‘ ausmachen. 1.6 Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache werden mittels didaktischer Kon‐ zepte geschaffen, die bei der Idee ansetzen, dass der Körper und dass künstlerisch-krea‐ tives Arbeiten und ästhetische Erfahrung Ressourcen für (zweit-)sprachliches Lernen darstellen. Sie setzen damit eine Sprachauffassung voraus, die Sprache - ausgehend vom Sprachgebrauch - kognitiv und sinnlich begreift (Zepter 2013). Sprachgebrauch und sprachliche Handlungen werden generell ganzheitlich verstanden, da sie kognitive und körperliche Dimensionen (Sinneswahrnehmung, Emotionen, Bewegung) einbin‐ den und kognitive Prozesse an sich körperlich verankert sind (siehe Kapitel 2). Ebenso sind Handlungen in performativen Zugängen zu Deutsch als Zweitsprache ganzheitlich zu verstehen: als ein raum-, zeit- und situationsgebundenes Zusammen‐ wirken von kognitiven und körperlich-sinnlichen Dimensionen des kreativ-spieleri‐ schen Miteinander-Handelns und ästhetischen Erlebens/ Erfahrens. Handlungen wer‐ den in performativen Zugängen körperlich vollzogen und man kann sie in diesem Rahmen in Bezug zu mentalen Vorstellungen, begrifflichen Abstraktionen und sprach‐ lichen Beschreibungen setzen. Handlungen werden nicht nur im Geiste vorgestellt, sie werden ausagiert. Vor diesem Hintergrund ergibt sich abschließend folgende Definition: Abb. 1.13: Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache 43 1.6 Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) <?page no="45"?> Aufgaben 1.* Sie haben in diesem Kapitel drei fachliche Perspektiven auf das Attribut ‚perfor‐ mativ‘ kennengelernt. Rekapitulieren Sie die mit den drei Perspektiven jeweils verbundenen Bedeu‐ tungen und entwerfen Sie eine eigene grafische Form, in der Sie die Bedeutungen zusammen abbilden und zueinander in Bezug setzen. 2.** Analysieren Sie die folgenden Äußerungen. Welche sind explizit performativ im Sinne Searles? a. Ich verspreche dir, dass ich morgen einen Kuchen backen werde. b. Ich werde morgen einen Kuchen backen. c. Ich rufe dich heute Abend an. d. Wir gratulieren ganz herzlich zum Geburtstag! e. Ich verfluche dich, auf dass du eine Woche lang schlafen mögest. f. Ich lach mich schlapp. g. Ich erlaube dir noch eine Stunde Smartphone-Zeit. h. Wir fahren am Wochenende nach Berlin. i. Ich gebe zu, dass ich mich geirrt habe. j. Na gut, ich verzeihe dir. Formulieren Sie selbst fünf weitere Beispiele für explizit performative Äußerun‐ gen. 3.** In dieser Aufgabe geht es um die Analyse der sprachlichen Handlungen Positio‐ nieren, Begründen und Schlussfolgern: a. Überlegen Sie in einem ersten Schritt, mit welchen sprachlichen Mitteln man im Deutschen die drei Sprachhandlungen ausdrücken kann. Welche Formulierungen (Textprozeduren) bieten sich z. B. an, wenn Sie im Rahmen einer Argumentation Ihren Standpunkt für oder gegen eine bestimmte Maßnahme, ein bestimmtes Verhalten o. Ä. vertreten? Welche Satzmuster sind im Deutschen gängig, um eine Begründung auszudrücken? Welche, wenn Sie einen Schluss ziehen? Sammeln Sie verschiedene sprachliche Mittel und bearbeiten Sie dann Aufgabe (b). b. Der folgende argumentative Text stammt von einem 14-jährigen Gesamt‐ schüler einer inklusiven Gesamtschule. Seine Erstsprache ist Deutsch. (Die grammatischen und orthographischen Fehler wurden aus dem Original übernommen.) Schreibziel war eine Stellungnahme zu der Frage, ob das Trainingsgelände des 1. FC Köln im Grüngürtel erweitert werden soll oder nicht. Analysieren Sie, welche Äußerungen oder Äußerungsteile sich als Sprachhandlungen des Positionierens, des Begründens oder des Schlussfol‐ gerns identifizieren lassen. An welchen sprachlichen Mitteln machen Sie das fest? 44 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="46"?> Ich bin dafür weil es wichtig ist, dass man Sport machen kann. Es ist für mich aber wichtiger, dass die Jugendlichen mehr Gelegenheit haben, zu trainieren als die Erwachsenen. Man sollte auch auf die Umwelt achten und keinen Kunstrasen verwenden. Außerdem sollten nur Tore und einige Bänke aufgestellt werden, damit der Ort denkmalgeschützt ist. Mehr braucht man meiner Meinung nach nicht. Ich bin außerdem Dafür, dass der 1. FC Köln die Trainingsplätze selber bezahlt und zusätzlich Geld an die Stadt spendet, damit sie an einem anderen Ort einen neuen Park bauen kann oder einen alten Park erweitert. Damit die Umwelt durch die Autos, die dorthin fahren müssen, nicht so sehr verschmutzt wird, könnte man die Plätze auch näher an einer Bahnlinie bauen. Es wäre aber auch wichtig, dass Leute aus Lindental anderen Stadtteilen beim 1. FC Köln spielen können. Leute aus Stadtteilen, die weiter weg sind, machen das dann aber wahr‐ scheinlich nicht. Viele Leute aus Lindenthal, also dem Stadtteil, welches am nächsten beim Trainingsgelände liegt, sind dagegen. In vielen anderen Stadtteilen sind allerdings Leute dafür. Es wäre sinnvoll, die Trainingsplätze an einem Ort aufzubauen, an dem die Leute dafür sind. Dadurch hatten sowohl die Leute aus Lindenthal, als auch andere Leute aus anderen Stadtteilen zufrieden. Mein Fazit ist, dass man ein Trainings‐ gelände bauen sollte, aber an einem anderen Ort. 4.** Diese Aufgabe ist in Kleingruppen (3-5 Personen) zu bearbeiten: a. Nach Fischer-Lichte können auch die nicht-darstellenden Künste perfor‐ mativen Charakter aufweisen, wenn z. B. das Malen eines Bildes als Performance gestaltet und auf die Bühne gebracht wird o. Ä. Tauschen Sie sich in Ihrer Gruppe dazu aus, inwiefern Sie selbst bereits mit performativen Grenzgängen zwischen den Künsten in Berührung gekommen sind. b. Der folgende Text ist eine Wettervorhersage eines deutschen Nachrichten‐ senders. Überlegen Sie gemeinsam, auf welche verschiedenen Weisen sich der Text performativ gestalten lassen könnte. Erproben Sie z. B. den mündli‐ chen Vortrag mit unterschiedlicher emotionaler Grundstimmung (fröhlich, ängstlich, wütend, traurig); oder mit jeweils verändertem Einsatz von begleitenden Bewegungen. Entwickeln Sie abschließend zwei verschiedene (kontrastierende) Inszenierungen der Wettervorhersage und tragen Sie sie den anderen Gruppen vor. 45 1.6 Performative Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) <?page no="47"?> Am Samstag ziehen im Nordosten die Schauer ab und dann herrscht in vielen Landesteilen freundliches und trockenes Wetter. Im Verlauf ziehen aber von Westen neue Schauer und Gewitter auf. 20 bis 29 Grad. 5.*** Lesen Sie vertiefend Miladinović (2019). Diskutieren Sie anschließend, welche der von Miladinović für einen performativen Fremdsprachenunterricht aufge‐ stellten Prinzipien Sie als besonders zentral erachten, welche scheinen Ihnen eher nachgeordnet, und warum? Welche Prinzipien könnte man ggf. zu einem Prinzip zusammenfassen? Denken Sie im Rahmen der Diskussion auch an Ihre eigenen Erfahrungen im Fremdsprachenunterricht (entweder als Lehrende oder als Lernende): Haben Sie ein oder mehrere der Prinzipien bereits kennen gelernt oder selbst angewendet? Wenn ja, in welcher Weise? Wo sehen Sie erste Anknüpfungspunkte für Ihre eigene (zukünftige) Lehrtätigkeit? 46 1 Zum Begriff der Performativität <?page no="48"?> 2 Kognitionstheoretische Grundlagen Dieses Kapitel zeigt auf, wie sich die Idee, dass der Körper eine Ressource für sprachliches Lernen und noch allgemeiner für unser Denken und unsere kognitive Sprachverarbeitung darstellt, kognitionstheoretisch fundieren lässt. Aktivierung Abb. 2.1: Sprache und Körper a. Vertiefen Sie eins der obigen Beispiele und überlegen Sie, was Ihnen aus Ihrer eigenen Erfahrung dazu einfällt. b. Bilden Sie Kleingruppen (4-5 Personen). Wählen Sie eine oder mehrere der folgenden Fragen und kommen Sie diesbezüglich miteinander ins Gespräch über Ihre persönlichen Erfahrungen: Können Sie eigene Beispiele finden, wie Sie etwas besser behalten, wenn Sie beim Memorieren auf die eine oder andere Weise Ihren Körper ins Spiel bringen? Oder kennen Sie es selbst, dass Ihnen mehr einfällt, wenn Sie gehen oder laufen, statt zu sitzen; und wenn ja, in welchen Situationen <?page no="49"?> nutzen Sie das? Oder können Sie Beispiele geben, welche Gesten Sie häufig selbst benutzen und was sie bedeuten? c. Haben Sie den Begriff Embodiment schon einmal gehört? Versteckt ist darin body, englisch für ‚Körper‘. Was könnte Embodiment auf Deutsch heißen? Versuchen Sie sich an einer Übersetzung und überlegen Sie, welche Assoziationen der Begriff bei Ihnen weckt: Was könnte sich dahinter für eine Theorie ‚verbergen‘? **** Die Aktivierungsbeispiele in den Sprechblasen geben einen ersten Eindruck, inwiefern Sprachgebrauch bzw. sprachliches Handeln nicht nur Kognition - einen Geist - erfor‐ dert, sondern auch einen Körper (vgl. Zepter 2013). Wenn wir unsere Sprachfähigkeit als ein geistiges/ kognitives Vermögen erachten, dann deuten die Beispiele an, dass der menschliche Geist nicht ohne Körper funktionieren kann. Eine kognitionstheoretische Grundlage für diese Idee bieten Embodiment-Theorien. In den letzten beiden Jahrzehnten erfahren sie in unterschiedlichen humanwissen‐ schaftlichen Disziplinen, insbesondere in der Psychologie und in den Neurowissen‐ schaften, zunehmend Beachtung (vgl. u. a. Gallagher 2005; Tschacher 2006; Tschacher & Bergomi 2011; Tschacher, Ramseyer & Koole 2018). Im Folgenden erläutern wir zunächst, was unter Embodiment zu verstehen ist und welche Bedeutung Embodiment-Theorien dem Körper für die menschliche Kognition grundsätzlich beimessen (Kap. 2.1). Wir geben verschiedene Beispiele, die illustrieren, wie eng Kognition und Körper verbunden sind und wie sie sich wechselseitig beein‐ flussen können. Anschließend gehen wir noch einmal genauer auf die Verknüpfung von Sprache und Körper ein und stellen auch dazu mehrere Beispiele aus der Theorie der Embodied Cognition vor (Kap. 2.2). Embodied Cognition erklärt, wie sich Begriffe und unsere sprachlichen Repräsentationen der Begriffe (= unser Wortschatz) auf der Basis unserer körperlichen Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt entwickeln und wie somit selbst das kognitive (semantische, pragmatische) Verstehen von mündlichen Äußerungen (beim Zuhören) und von schriftlichen Texten (beim Lesen) eine kör‐ perliche Basis erfordert. Abschließend zeigen wir an einigen Beispielen auf, wie Reaktionszeitexperimente belegen, dass wir im Prozess der Sprachverarbeitung - beim Verstehen von Texteinheiten, Sätzen und Wörtern - direkt auf körperliche Erfahrungen zurückgreifen bzw. die gleichen kognitiven Bereiche wie bei motorischer Tätigkeit und/ oder Sinneswahrnehmung involviert sind (Kap. 2.3). 2.1 Einblicke in Embodiment-Theorien Der Begriff Embodiment stammt ursprünglich aus den Kognitionswissenschaften, wird aber inzwischen in weiteren humanwissenschaftlichen Disziplinen verwendet. Ins Deutsche lässt er sich nur schwer übersetzen, am ehesten vielleicht mit ‚Verkörperung’, 48 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="50"?> obgleich dies bedeutungsbezogen nicht wirklich treffend ist. Wir favorisieren die Rede von ‚Körperverankerung’ oder ‚Körpereinbettung’. Basis und allen Embodiment-Ansätzen gemein ist die Annahme, dass bei einer In-Bezug-Setzung von Psychischem (= Geist, Seele) und Physischem (= Körper) nicht nur Geist und Gehirn eng zusammenhängen (vgl. Tschacher 2006). Stattdessen geht man davon aus, dass sich inneres Erleben aus einem komplexen Zusammenspiel heraus gestaltet - zwischen Geist, Gehirn und Körper bzw. zwischen Denken (Kognition), Wahrnehmen (Sinne), Fühlen (Emotionen) und Bewegen (Motorik) (siehe Abb. 2.2). Abb. 2.2: Embodiment Geist vs. Gehirn Geist wird hier als eine psychische Größe mit Kognition gleichgesetzt und Ko‐ gnition als die Gesamtheit aller Prozesse und Strukturen des Geistes aufgefasst. Kognitive Prozesse umgreifen u. a. alle Formen des Denkens wie etwa Schluss‐ folgern, Urteilen, Planen, Entscheiden, Problemlösen, Erinnern, Vorstellen etc. Beispiele für kognitive Strukturen sind Wissen, Begriffe, Gedächtnis. Auch unsere Sprachfähigkeit kann als ein geistiges/ kognitives Vermögen erachtet werden. Das menschliche Gehirn ist (im Gegensatz zum Geist) physisch und der im Kopf des Körpers gelegene Teil des zentralen Nervensystems; das zentrale Nervensystem umfasst Gehirn und Rückenmark und ist der zentrale Ort, wo alle Informationen des Körpers über neuronale Netzwerke verarbeitet werden. 49 2.1 Einblicke in Embodiment-Theorien <?page no="51"?> In den Wissenschaften besteht heute Konsens darüber, dass das menschliche Gehirn dafür verantwortlich ist, nicht nur die körperlichen Informationen zu verarbeiten, sondern auch alle geistigen/ kognitiven Prozesse und Strukturen zu regulieren. Uneinigkeit herrscht aber nach wie vor darüber, in welchem Zusam‐ menhang Physisches (inklusive des Gehirns) und Psychisches genau stehen. Embodiment-Theorien geben dafür eine mögliche Beschreibung. In Embodiment-Theorien spricht man im Sinne eines ganzheitlichen Verständnisses des menschlichen Organismus davon, dass Geist und Körper eine funktionelle Einheit bilden. Damit ist gemeint: Menschliche Kognition benötigt, um sich im Zuge des menschlichen Daseins entwickeln und intelligent arbeiten zu können, über das Gehirn hinaus eine Umwelt, in die das Gehirn eingebettet ist und die den Menschen mit Erfahrungen versorgt. Ausschlaggebend ist die These, dass der Körper selbst bereits ein Teil der unver‐ zichtbaren Umwelt ist. Über die Sinne wirken nicht einfach Umweltreize auf einen Organismus ein und veranlassen ihn zu bestimmten Denkprozessen und einem Ver‐ halten bzw. zu einer motorischen Reaktion. Kognition findet vielmehr in ständiger Wechselwirkung statt - einerseits mit dem Zustand der äußeren Umwelt, andererseits mit dem Zustand der inneren Umwelt, also mit dem Zustand des Körpers. Dabei spielen für den Ablauf der kognitiven Prozesse, für das, was wir denken, u. a. der Körperaus‐ druck, die Körperhaltung, die Körperspannung und die Emotionen eine wesentliche Rolle. Sowohl die weitere Umwelt als auch der Körper können als Kontrollparameter auf die kognitiven Musterbildungen Einfluss nehmen (vgl. Tschacher 2006: 15, 31; Lakoff & Johnson 1999: 16 ff.). Somit konstituiert der Körper also zugleich sowohl ein Medium für Umwelterfahrung als auch selbst eine Erfahrungsquelle. Wir geben im Folgenden einige Beispiele, um den komplexen wechselseitigen Einfluss von Kognition und allen körperlich-sinnlichen Dimensionen zu illustrieren. Das erste Beispiel betrifft den Zusammenhang von Bewegung, Emotionen und Denken und stammt aus der Studie von Michalak, Rhode & Troje (2015), zitiert in Tschacher (2022). Bewegung, Emotion und Denken Wenn wir gehen, tun wir dies in einer bestimmten Gangart, die je nach unserer emotionalen Stimmung variieren kann. Intuitiv naheliegend ist die Auffassung, dass unsere emotionale Stimmung unsere Gangart beeinflusst. Wenn wir fröhlich sind und uns fröhlich fühlen, gehen wir mit einer aufrechteren Körperhaltung und ‚beschwing‐ ter‘, als wenn wir traurig sind. Letzteres führt eher dazu, dass wir die Schultern hängen lassen, gebeugter gehen etc. Michalak, Rohde & Troje (2015) konnten in ihrer experimentellen Studie zeigen, dass auch die andere Einflussrichtung möglich 50 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="52"?> ist: Die Gangart kann unsere emotionale Stimmung und damit einhergehend unsere sprachliche Erinnerungsleistung beeinflussen. So funktionierte das Experiment: Die gesunden, erwachsenen Proband: innen muss‐ ten zunächst eine Liste, die Wörter mit positiver und negativer Bedeutung enthielt, auswendig lernen. Anschließend sollten sie auf einem Fließband gehen und wurden durch ein Feedback über technische Hilfsmittel dazu gebracht, zwei verschiedene Gangarten umzusetzen: Die eine Gangart entsprach einem ‚fröhlichen Gehen‘, die andere einem ‚traurigen Gehen‘. Anschließend an die Phase des Gehens wurde erneut die zuvor auswendiggelernte Wörterliste abgefragt. Die Erinnerungsleistung der Proband: innen mit der fröhlichen Gangart unterschied sich systematisch von der Gruppe mit der traurigen Gangart. Während Erstere sich besser an die Wörter mit einer positiven Bedeutung erinnerten, erinnerten die ‚traurig Gehenden‘ mehr negative Wörter. Abb. 2.3: Unterschiedliche Gangarten („fröhlich“, „traurig“) Ähnlich wie die Gangart scheint auch Gestik Einfluss auf kognitive Prozesse nehmen zu können. Die folgenden Beispiele stammen von der Forschergruppe um Goldin-Meadow (siehe in der Zusammenfassung auch Zepter 2013: 273 ff.). Sie zeigen nicht nur, dass Gestik eine Sprecherin bei einer kognitiven Herausforderung konstruktiv unterstützt; sondern auch, dass die Ausführung von Gesten unmittelbar die Gedankenführung beeinflussen kann. Gestik und Denken, Gedankenführung Zuerst zum Aspekt der Unterstützung (vgl. Goldin-Meadow et al. 2001): In einem Test lösten Kinder (von im Durchschnitt knapp zehn Jahren) und junge Erwachsene (im Hochschulalter) zunächst selbstständig altersgerechte Mathematikaufgaben. In einem zweiten Schritt sollten die Testpersonen eine Reihe von vorgelegten Testeinheiten memorieren - die Kinder Wörter, die Erwachsenen Zahlen. Anschließend wurden sie 51 2.1 Einblicke in Embodiment-Theorien <?page no="53"?> gebeten, mündlich zu erklären, mit welchen Teilschritten sie die Mathematikaufgaben gelöst hatten. Letzteres geschah unter zwei Bedingungen: Einmal (a) waren bei den mündlichen Erläuterungen spontane Handgesten erlaubt, das andere Mal (b) mussten die Hände still gehalten werden. Nach der Erklärungsperiode konnten nun generell sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen signifikant mehr von den zuvor memorierten Testeinheiten eben dann erinnern, wenn sie bei der zwischengeschalteten Aufgabenerläuterung spontane Gesten hatten ausführen dürfen. In beiden Gruppen waren diese Resultate unabhängig von dem jeweiligen mathematischen Wissen der Testpersonen robust. Das heißt, der Gestenvollzug verbesserte die spätere Erinnerungsleistung unabhängig davon, wie leicht oder schwer die Testperson die Mathematikaufgabe ursprünglich hatte lösen können. Offenbar entlasten die Handgesten die Sprecherin/ den Sprecher bei einer mündlichen Erklärungsaufgabe in Hinsicht auf die kognitiven Ressourcen, so dass im Anschluss mehr Ressourcen für die Erinnerungsaufgabe zur Verfügung stehen (vgl. Goldin-Meadow et al. 2001: 521). Darüber hinaus konnten Broaders et al. (2007) nachweisen, dass die Ermutigung zur Ausführung von Handgesten bei Grundschulkindern die Wahrscheinlichkeit erhöht, zuvor ungelöste Mathematikaufgaben schlussendlich zu bewältigen. In der betreffen‐ den Studie galt es, Mathematikaufgaben an der Tafel selbstständig zu lösen und dabei gleichzeitig die gewählte Strategie zu erläutern. Dabei zeigte sich, dass Kinder, die an den gestellten Aufgaben zuerst scheiterten, von einem zusätzlichen Gesteneinsatz durchschlagend profitierten. Offensichtlich setzte der Weg über die Gestik weitere Kreativität frei bzw. ermöglichte es, zuvor unzugängliches Wissen verfügbar zu machen und neue Problemlösungsstrategien anzuwenden. Ein weiteres Beispiel von Beilock & Goldin-Meadow (2010) belegt, dass das Po‐ tenzial von Gesten so weit greift, dass ihre Ausführung unmittelbar den Aufbau kognitiver Repräsentationen beeinflussen kann. D. h., hier zeigte die experimentelle Untersuchung, dass nicht nur der Handlungsvollzug, sondern auch Gestik relevante Aktionsinformationen zu den kognitiven Repräsentationen, die Personen von einer betreffenden Handlungsaufgabe haben, hinzufügt. Mit anderen Worten, die Beschrei‐ bung einer Handlungsaufgabe qua Gestik verändert unser Denken über die Aufgabe. Ist die ergänzte Information kompatibel mit den für die Aufgabe erforderlichen Teilhandlungen, verbessern sich im Anschluss weitere Durchführungen der Aufgabe; ist sie es nicht, so tritt eine Verschlechterung ein. So funktionierte die Studie: Die Teilnehmer: innen mussten in einem ersten Schritt das mathematische Geduldsspiel der ‚Türme von Hanoi’ lösen; ein Problem, bei dem es gilt, einen Turm aus nach oben hin kleiner werdenden Scheiben unter bestimmten beschränkenden Stapelbedingungen ab- und wieder aufzubauen. 52 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="54"?> Abb. 2.4: Türme von Hanoi (plus Lösungsweg) Anschließend sollte mittels Gestik der gefundene Lösungsweg beschrieben und ab‐ schließend das Turmspiel wiederholt werden. In einem Teil der Fälle wurden nun die Türme für den Wiederholungsgang manipu‐ liert. Die Gewichte der Scheiben wurden so verändert, dass die kleinste Scheibe schwer und nicht mehr gut mit einer Hand tragbar, die größte dafür leicht war usw. Das Spiel wurde also so verändert, dass die zuvor etablierten gestischen Informationen nicht mehr zu den erforderlichen Teilhandlungen der Aufgabe passten. Das Resultat: Die Ausführungsleistung verschlechterte sich signifikant. Ein wesentlicher Punkt ist dabei: Die Ausführungsleistung litt bei entsprechend widersprüchlicher Manipulation auch bei Testpersonen, denen der Lösungsweg zuvor nur mittels Gestik demonstriert worden war; also bei Personen, die die ‚Türme von Hanoi’ noch nicht selbst gelöst hatten, jedoch durch die Ansicht einer gestischen Demonstration auf die Handlungsaufgabe vorbereitet bzw. kognitiv beeinflusst worden waren (vgl. Beilock & Goldin-Meadow 2010: 1609). Dieser Abschnitt hat illustriert, wie eng Kognition und Körper generell verbunden sind und wie sie sich wechselseitig beeinflussen können. Das folgende Kapitel 2.2 zeigt auf, dass diese enge Verknüpfung auch unser Sprachvermögen und unseren Sprachgebrauch bzw. die sprachliche Begriffsverarbeitung betrifft. 2.2 Sprache und Körper: Embodied Cognition und Sprachverarbeitung Wie kommen wir eigentlich zu unseren kognitiven Repräsentationen von der Welt? Wie erwerben wir z. B. einen Begriff wie Flugzeug? Gemeint ist hier das Bedeutungs‐ konzept von dem deutschen Wort Flugzeug, das im Englischen plane heißt und im Französischen avion. Wie entsteht auf kognitiver Ebene dieses Bedeutungskonzept? Und wenn wir das Wort Flugzeug im Rahmen unseres Sprachgebrauchs benutzen - wenn wir das Wort z. B. hören oder lesen und das Bedeutungskonzept (= den Begriff) 53 2.2 Sprache und Körper: Embodied Cognition und Sprachverarbeitung <?page no="55"?> kognitiv erschließen bzw. reaktivieren -, was passiert dann auf der Ebene unserer kognitiven Sprachverarbeitung? In traditionellen Kognitionstheorien ist man lange davon ausgegangen, dass die betreffenden Sprachverarbeitungsprozesse komplett isoliert und als solche amodal ablaufen und im genannten Fall z. B. nichts (mehr) mit unseren zurückliegenden individuellen Wahrnehmungserfahrungen von Flugzeugen zu tun haben. Anders ausgedrückt: Man nahm an, dass die aktuale Sprachverarbeitung völlig unabhängig ist von der kognitiven Verarbeitung von konkreten Situationen, in denen man z. B. ein Flugzeug am Himmel gesehen, es bei einem Abflug oder einer Landung gehört hat oder in denen man selbst in einem Flugzeug geflogen ist. Amodale vs. multimodale Sprachverarbeitung In traditionellen kognitionspsychologischen Theorien wird unser Geist bzw. Ge‐ hirn als ein System mit verschiedenen, getrennt arbeitenden Modulen betrachtet. Hierbei hat jedes Modul eine spezifische Aufgabe. Nach diesen Theorien besitzen wir ein spezifisches Modul für Sprache, das unabhängig von Motorik und Wahr‐ nehmung funktioniert. Der Modularitätsgedanke, d. h. die Annahme von isolierbaren Subsystemen mit bereichsspezifischen Operationen, hat sich insbesondere durch die Schriften von Jerrold Katz und Jerry Fodor (u. a. Katz & Fodor 1963; Fodor 1983) in der Sprachwis‐ senschaft (vor allem in der Generativen Grammatiktheorie nach Noam Chomsky; vgl. Kap. 1.2) etabliert. Unter dem Einfluss ihrer Arbeiten betrachtete man Sprache als von anderen kognitiven Systemen abzugrenzendes Modul, welches in sich selbst wiederum in einzelne Subsysteme untergliedert ist. Die moderne Kognitionspsy‐ chologie distanziert sich von diesen Annahmen. Es sind vor allem vier Aspekte der sprachtheoretischen Modularitätsannahme, die von kognitions-psychologischer Seite angezweifelt werden: (i) Das konzeptuelle System ist von anderen kognitiven Systemen unabhängig und arbeitet nach modulspezifischen Prinzipien. (ii) Bedeutungsrepräsentationen sind amodal (abstrakt) und nicht modalitätsspezifisch (z. B. visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch). (iii) Bedeutungsrepräsentationen sind dekontextualisiert - sozusagen enzyklopädische Einträge, welche die typischen Merkmale erfassen. (iv) Be‐ deutungsrepräsentationen sind stabil und werden in nahezu gleicher Ausprägung personen- und situationsübergreifend abgerufen. (Bryant 2012a: 76, nach Barsalou 2009: 237) Katz & Fodor (1963) gingen z. B. davon aus, dass amodale kognitive Repräsenta‐ tionen von Begriffen mit abstrakten Merkmalslisten vergleichbar sind; Listen die aktiviert werden, wenn der Begriff kognitiv verarbeitet wird (vgl. Katz & Fodor 1963). (Kognitiv abgespeichert wäre dann bei Flugzeug z. B. eine Liste der Art ‚Maschine, motorbetrieben, zwei Flügel, flugfähig …‘ o. Ä.). In den letzten ca. 20 Jahren haben sich in den Kognitionswissenschaften im Kontext der Embodied Cognition verschiedene Schulen bzw. Strömungen herausgebildet, die 54 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="56"?> (bei aller Divergenz) eines verbindet: die Infragestellung amodaler Bedeutungsreprä‐ sentationen und die Annahme einer multimodalen Sprachverarbeitung. Danach läuft die Sprachverarbeitung in komplexer Verzahnung mit anderen kognitiven Domänen ab, welche u. a. die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, motorischen und sozial-interaktiven Handlungen oder auch von Emotionen betreffen. In diesem Theorienspektrum ist auch der Ansatz der Erfahrungsspuren (Zwaan & Madden 2005) zu verorten, demzufolge Erfahrungen auf multimodale Weise gespei‐ chert und später als sensomotorische Repräsentationen wieder abgerufen werden. Die Kognitionstheorie der Embodied Cognition schlägt einen Weg ein, der unseren körperlichen Erfahrungen eine ganz zentrale Bedeutung zumisst. Kernidee des Ansatzes der Erfahrungsspuren nach Zwaan & Madden (2015) ist die Annahme, dass unsere Erfahrungen - bzw. genauer das, was wir in einer bestimmten Situation mit unseren verschiedenen Sinnen wahrnehmen, was wir fühlen, unsere Bewegungsabläufe, wenn wir motorische Handlungen vollziehen - dass all dies kogni‐ tiv auf multimodale Weise gespeichert wird. Derart entstehen auf kognitiver Ebene (multimodale) Repräsentationen der Situationselemente, die wir später wieder abrufen können und die als ‚Erfahrungsspuren‘ auch direkt im Rahmen der Sprachverarbeitung aktiviert werden. Bryant et al. (2019: 33) veranschaulichen das Prinzip mittels eines Beispiels aus dem Spracherwerb: Stellen Sie sich eine Situation vor, in der ein Kind mit seinen Eltern spazieren geht. Das Kind sieht ein fliegendes Objekt am Himmel, das ein brummendes Geräusch macht, und zeigt darauf. Die Eltern benen‐ nen daraufhin das Objekt „Das ist ein Flugzeug …“. Sämtliche Informationen, die im Kontext des Erscheinens des Objektes vom Kind wahrgenommen werden, wer‐ den verknüpft und als Erfahrungsspur ab‐ gespeichert. Wird nun das Kind in einer späteren Situation erneut mit dem Wort Flugzeug konfrontiert, kommt es zur Reak‐ tivierung der Erfahrungsspur, in der das Aussehen und das Geräusch eines Flug‐ zeuges sowie dessen typische Lokalisie‐ rung im Raum (in diesem Fall oben am Himmel) verankert sind. Abb. 2.5: Beispiel für die Herausbildung von Erfahrungsspuren und ihrer Verknüpfung mit einem sprachlichen Ausdruck 55 2.2 Sprache und Körper: Embodied Cognition und Sprachverarbeitung <?page no="57"?> Der Begriff Flugzeug kann sich auf dieser Basis im Zuge von Erfahrungen entwickeln - Erfahrungen, die ein Individuum in Situationen macht, in denen das, wofür der Begriff steht bzw. was er bedeutet, erlebt und thematisiert wird. In diesem Fall also in Situationen, in denen ein oder mehrere reale Flugzeuge auftreten. Kognitive Begriffsrepräsentationen und sinnliche Wahrnehmung Passend dazu argumentiert u. a. Barsalou (1999, 2009) dafür, dass Begriffe auf kogni‐ tiver Ebene ‚perzeptuelle (= wahrnehmungsbezogene) Repräsentationen‘ darstellen; er nennt sie auch ‚Simulatoren‘. Jeder Simulator beruht auf einer Sammlung von Informationen aus potenziell unterschiedlichen Modalitäten. Gesammelt werden diese Informationen im Rahmen originärer Wahrnehmungen und Handlungen. Die Wahr‐ nehmungen können die klassischen Sinne (visuell, auditiv, olfaktorisch, gustatorisch, taktil) betreffen, aber ebenso die Propriozeption, also die Wahrnehmung des eigenen Körpers, dessen Haltung, Stellung im Raum und dessen Bewegungen im Rahmen von Handlungen. Das bedeutet, dass sich ein Simulator (ein Begriff) auf kognitiver Ebene sukzessive auf der Basis zahlreicher Erfahrungen entwickelt und verändert. Jede Erfahrung ermöglicht im Prinzip bei selektiver Aufmerksamkeit auf spezielle Teilaspekte die analytische Extraktion dieser Teilinformationen. Im Langzeitgedächtnis werden diese Teilinformationen zu einem multimodalen Symbolsystem, einem Simulator, geordnet und mit anderen Simulatoren innerhalb eines mit der Zeit stetig wachsenden Begriffs‐ systems vernetzt. Barsalou gibt das Beispiel Fahrrad, dessen Simulator sich auf alle Fahrrad-Erfahrun‐ gen gründet, die eine Person gemacht hat; genauer, auf den Teilinformationen, die in den betreffenden Situationen extrahiert wurden. Bei Fahrrad kann es sich z. B. um Informationen handeln, wie ein Fahrrad aus unterschiedlichen Perspektiven aussieht, wie man sich auf/ mit ihm bewegt etc. (Barsalou 1999: 586). 56 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="58"?> Abb. 2.6: Beispiel für eine kognitive Repräsentation des Begriffs Fahrrad Je nachdem, welche Modalitäten besonders relevant sind, entwickeln sich unterschied‐ lich differenzierte multimodale Begriffsprofile (Wilson-Mendenhall et al. 2011: 1107). So wird beispielsweise für das Konzept eines Musikinstruments Audition eine größere Rolle spielen als etwa für die kognitive Repräsentation einer Frucht. Für Letztere mögen Geschmacks- und Geruchseindrücke im Vordergrund stehen; jedoch können z. B. bei einem ‚knackigen Apfel’ auch Hörempfindungen von Bedeutung sein. Bei Begriffen von motorischen Handlungen wie z. B. tanzen sind ggf. Bewegungsabläufe zentral etc. Auch abstrakte Begriffe können sich in diesem Rahmen auf der Basis von Erfah‐ rungen und originären Wahrnehmungen entwickeln. Nach Wilson-Mendenhall et al. (2011) zeichnen sich abstrakte Begriffe im Besonderen dadurch aus, dass sie sich auf gesamte Situationen beziehen. Ein Emotionsbegriff wie Angst wird dann z. B. mit den unterschiedlichen Situationen verknüpft, in denen eine Person Angst verspürt hat, und den Wahrnehmungen, die sie in der Situation realisiert hat, inklusive der Wahrnehmungen der eigenen Körperhaltung und der eigenen körperlichen Reaktionen (Starre, Zusammenzucken, Zusammenkrampfen, Ducken o. Ä.). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auf sprachlicher Ebene manche Emotionsausdrücke in ihrer wörtlichen Bedeutung direkt auf die mit der Emotion 57 2.2 Sprache und Körper: Embodied Cognition und Sprachverarbeitung <?page no="59"?> häufig verbundenen Körperhaltungen verweisen. Man vergleiche beispielsweise im Deutschen die Wörter traurig und froh/ fröhlich: Abb. 2.7: Herkunftswörterduden - Eintrag trauern (2001: 861) Abb. 2.8: Herkunftswörterduden - Eintrag froh (2001: 238) Begibt man sich auf die Suche nach der Herkunft der Wörter, so entdeckt man, dass das Adjektiv traurig vom Verb trauern abgeleitet ist und als solches verwandt mit gotisch driusan, das ‚fallen‘ bedeutet, sowie mit den altenglischen Verben dreosan (‚(nieder-)fal‐ len‘) und drūsian (‚sinken; matt, kraftlos werden‘). Laut etymologischem Wörterbuch ist die eigentliche Bedeutung des Emotionsausdrucks ‚den Kopf sinken lassen‘ oder ‚die Augen niederschlagen‘, beides körperliche Gebärden, die typischerweise bei trau‐ ernden/ traurigen Personen zu beobachten sind. Ähnlich, nur komplementär, verhält es sich beim Wort froh, das sich aus Adjektiven mit der Bedeutung ‚hurtig‘, ‚eilig‘ bzw. ‚lebhaft, schnell‘, ggf. auch ‚hüpfend‘ entwickelt hat - energetische Bewegungsformen, die oft mit einer fröhlichen Stimmung einhergehen. Körper, Metaphernbildung, Sprache und Zeit Ergänzend zu der Idee, dass sich abstrakte Begriffe auf gesamte Situationen bzw. Situationserfahrungen beziehen, gehen Lakoff & Johnson (1999) davon aus, dass bei der Entwicklung von abstrakten Begriffen Metaphernbildungen und die metaphorische Übertragung von körperlichen Erfahrungen auf einen anderen Bereich von Bedeutung sein können. Sie illustrieren dies am Beispiel des abstrakten Konzepts von Zeit: Anders als in physikalischen Theorien von der Zeit beruht unser kognitiver (psychischer) Zeitbegriff nach Lakoff & Johnson zu einem Großteil auf einer metaphorischen Version unseres Verständnisses von Bewegung im Raum. Viele Sprachen spiegeln diese metaphorischen Verstehensprozesse auch in festen Redewendungen, wobei die räumlichen Vorstellungen von Zeit und die metaphorischen Übertragungen nicht in allen Sprachen gleich sein müssen. Lakoff & Johnson differenzieren eine Auswahl von einschlägigen Metaphern und ihren Niederschlag im Englischen. Eine Metapher betrifft die ‚Zeitorientierung’, bei der 58 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="60"?> der räumliche Standpunkt der Beobachterin/ des Sprechers als Gegenwart assoziiert, die Zukunft im Raum davor und die Vergangenheit im Raum dahinter ‚verortet’ wird. Den Hintergrund bildet die Vorstellung einer Zeitlinie, die auf eine ‚Vorne-hinten-Achse‘ abgebildet wird, welche durch den eigenen Körper verläuft: Die Zukunft liegt vor dem Körper, die Vergangenheit dahinter (siehe auch Kap. 2.3). Im Englischen spiegeln diese metaphorische Übertragung u. a. Ausdrücke wie in (1-4) wider; ähnliche Wendungen finden sich auch im Deutschen (5, 6): Zeitorientierung 1. That’s all behind us now. 2. Let’s put that in back of us. 3. We’re looking ahead to the future. 4. He has a great future in front of him. 5. Das liegt jetzt bald alles hinter uns. 6. Lasst uns nach vorne in die Zukunft blicken. Englische Beispiele nach Lakoff & Johnson (1999: 140) Die Metapher von Zeit als etwas, das sich auf uns zu und an uns vorbei bewegt, mani‐ festiert sich u. a. in folgenden englischen Wendungen - mit ähnlichen Entsprechungen im Deutschen: 59 2.2 Sprache und Körper: Embodied Cognition und Sprachverarbeitung <?page no="61"?> Zeit in Bewegung Die Zeit bewegt sich in einer Zeitpassage: 1. The time will come when there are no typewriters. 2. The time has long gone when you could mail a letter for three cents. 3. The time for action has arrived. 4. The deadline is approaching. 5. Es wird die Zeit kommen, in der wir nicht mehr über das Virus diskutieren. 6. Wir sind nun in einer Zeit angekommen, in der der Klima‐ wandel unsere größte Herausforderung darstellt. Englische Beispiele nach Lakoff & Johnson (1999: 143) Insgesamt lässt sich festhalten, dass nach der Theorie der Embodied Cognition der Auf‐ bau und der Gehalt von kognitiven Begriffsrepräsentationen auf unseren körperlichen Erfahrungen basieren und damit geprägt sind von unseren Sinneswahrnehmungen, von Wahrnehmungen der eigenen Bewegungen und/ oder Emotionen. Zentral ist die Annahme, dass die kognitive Aktivierung der Begriffe im Kontext von Denkprozessen und von Sprachverarbeitung aufs Engste verknüpft ist mit den kognitiven Bereichen, die bei originären Sinneswahrnehmungen und körperlich vollzogenen Handlungen involviert sind (Barsalou 1999: 585) - der Unterschied ist ein qualitativer, weil im Falle der Begriffsaktivierung nur simuliert wird; aber Sprachverarbeitung wird nicht als isolierter, kategorisch verschiedener kognitiver Prozess erfasst. Wesentlich für die Begriffsauffassung der Embodied Cognition ist im Übrigen das dynamische Prinzip. Wenn sich ein Begriff auf kognitiver Ebene sukzessive auf der Basis zahlreicher Erfahrungen entwickelt, dann verändert er sich in diesem Rahmen natürlich auch und ist als solcher keine statische Größe. Körperliche Raumerfahrung und Interpretation von Zeit Ein Beispiel für diese Dynamik geben Boroditsky & Ramscar (2002), deren Studie illustriert, wie unsere Raumerfahrungen in alltäglichen Situationen (z. B. auf einer Zugfahrt oder in einer Warteschlange) auch kurzfristig unser Denken über Zeit - also unseren abstrakten Begriff von Zeit - variieren lassen. Der Einfluss unserer körperlichen Erfahrungen ist dabei eng verknüpft mit dem, was wir von diesen Erfahrungen (kognitiv) reflektieren (vgl. ebd.: 185). Boroditsky & Ramscar gehen zunächst von der Differenzierung zweier verschiede‐ ner Zeitvorstellungen aus - beide übertragen (auf einer Vorne-hinten-Achse) eine körperliche Erfahrung von Raum auf Zeit. Bei der ersten, der ‚Ego-moving Perspective’, erlebt man sich selbst als vorwärts bewegend durch die Zeit, bei der zweiten, der 60 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="62"?> ‚Time-moving Perspective’, scheint man selbst als fixer Punkt im Raum, auf den sich die Zeit (quasi wie ein heranschnellender Zug) zubewegt. Abb. 2.9: ‚Ego-moving Perspective‘ - ‚Time-moving Perspective‘ Wir können diese beiden Perspektiven mit folgendem im Englischen und im Deutschen mehrdeutigen Szenario voneinander abgrenzen. Angenommen, man spricht über ein Meeting, das ‚nächsten Mittwoch‘ stattfinden sollte, nun aber ‚zwei Tage nach vorne geschoben‘ wurde; im Englischen: „Next Wednesday’s meeting has been moved forward 2 days“ (Boroditsky & Ramscar 2002: 185). An welchem Tag findet das Meeting dann statt? Aus der ‚Ego-moving’-Perspektive, bei der man sich selbst in der Zeit nach vorne bewegt, wird man schließen, das Meeting sei auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, und dementsprechend das neu angesetzte Meeting auf Freitag datieren. Hingegen wird eine Person, die die ‚Time-moving’-Perspektive einnimmt und somit die Zeit als ihr entgegenkommend erlebt, das Meeting auf Montag vorverlegt interpretieren. Das erstaunliche Ergebnis der Studie von Boroditsky & Ramscar ist, dass die ‚Ego-moving’- und die ‚Time-moving’-Perspektive keine fixe Vorstellung zu sein scheinen und dass Personen nicht entweder nur über das eine oder das andere Bedeu‐ tungskonzept verfügen. Stattdessen legt die Untersuchung nahe, dass eine Perspektive in Abhängigkeit vom jeweiligen Situationskontext gewählt und von den damit verbun‐ denen Raumerfahrungen direkt beeinflusst wird. So zeigte das Experiment in einer Warteschlange, dass Wartende systematisch umso eher die ‚Ego-moving’-Perspektive 61 2.2 Sprache und Körper: Embodied Cognition und Sprachverarbeitung <?page no="63"?> 1 Dass die Art, wie wir Erfahrungen reflektieren, ebenso wesentlich ist, zeigte ein weiteres Experiment am Flughafen. Hier wählten Personen, die gerade zuvor geflogen waren, gleichfalls signifikant häufiger die ‚Ego-moving’-Perspektive als Personen, die (noch) nicht geflogen waren. Dabei hatten Erstere wohlgemerkt ihren Körper nicht mittels eigener Muskelkraft im Raum nach vorne bewegt, sondern sich in einem durch den Raum fliegenden Objekt aufgehalten. einnahmen, je mehr bzw. weiter sie sich gerade zuvor tatsächlich im Raum nach vorne bewegt hatten. 1 Noch ein abschließender und zum nächsten Abschnitt überleitender Gedanke zur Sprachverarbeitung: Den Proband: innen der Studie wurde zur Ermittlung der jeweils eingenommenen Perspektive das Meeting-Szenario vorgelegt und sie mussten den betreffenden Satz „Next Wednesday’s meeting has been moved forward 2 days“ interpretieren. Um die Satzbedeutung zu bestimmen, muss der jeweilige Satz (wie jede sprachliche Äußerung) kognitiv verarbeitet werden. Wie die Ergebnisse der Studie nahelegen, wurde hierbei auf die eigene unmittelbare körperliche Erfahrung zurück‐ gegriffen. Damit liefert die Studie von Boroditsky & Ramscar unterstützende Daten für die Annahme, dass Erfahrungsspuren bei der Sprachverarbeitung reaktiviert werden. Noch expliziter belegen dies die Reaktionszeitexperimente, die wir im folgenden, letzten Abschnitt des Kapitels vorstellen. 2.3 Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente Die enge Verknüpfung von Sprache und nicht-sprachlichen Erfahrungen bei der Be‐ deutungskonstitution konnte inzwischen auch durch bildgebende Studien untermauert werden. So fanden beispielsweise Hauk, Johnsrude & Pulvermüller (2004) in einer EEG-Studie heraus, dass die visuelle Präsentation von Verben wie lick (‚lecken‘), pick (‚greifen‘) oder kick (‚treten‘), die das Gesicht, die Hand oder den Fuß involvierende Tä‐ tigkeiten beschreiben, zu unterschiedlichen Aktivierungen in den korrespondierenden Arealen des motorischen und prämotorischen Kortex führen. Also das alleinige Lesen des Wortes pick bewirkt ein kortikales Aktivierungsmuster, das zumindest teilweise der Aktivierung einer tatsächlichen Greifhandlung entspricht (Bryant et al. 2018: 33 f.). Aber auch behaviorale Untersuchungen, bei denen die Proband: innen auf sprachli‐ che Stimuli mit bestimmten Verhaltensmustern reagieren, liefern empirische Evidenz für den Ansatz der Erfahrungsspuren - so auch die zahlreichen Reaktionszeitexperi‐ mente der Embodied-Cognition-Forschung. Deren Ergebnisse stützen die Annahme, dass bei der sprachlichen Verarbeitung von Bedeutung, die in der einen oder anderen Weise etwas mit Bewegung oder Wahrnehmung zu tun hat, die gleichen kognitiven Bereiche beansprucht werden wie bei originärer Bewegung und Wahrnehmung. Bevor wir auf einige Reaktionszeitexperimente etwas genauer eingehen, vorab ein kurzer Einblick in die zugrundeliegende Logik der experimentellen Vorgehensweise: In der Regel müssen die Proband: innen beurteilen, ob ein Satz sinnhaft (Der Mann öffnet 62 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="64"?> die Tür) ist oder nicht (Die Banane öffnet das Wasser). Dies sollen sie so schnell wie möglich tun. Die Reaktionszeit, die sie benötigen, um auf eine bestimmte Antworttaste zu drücken, wird gemessen. Die Proband: innen halten die Identifikation von Sinnhaf‐ tigkeit für ihre einzige Aufgabe, auf die sie daher ihre volle Aufmerksamkeit richten. Verborgen bleibt ihnen das eigentliche Forschungsinteresse: Um zur Antworttaste zu gelangen, müssen die Proband: innen eine bestimmte Bewegung ausführen und diese Bewegung ist entweder passend zur Bedeutung des sinnhaften Satzes oder konfligiert mit ihr. Welche Überlegungen stecken hinter diesem Setting? Wenn Sprachverarbeitung nichts mit originärer Bewegung zu tun hat, dann sollten auch keine Unterschiede in den Reaktionszeiten auftreten. Wenn dagegen bei der Sprachverarbeitung über Erfahrungsspuren von Bewegung die gleichen kognitiven Bereiche aufgerufen werden wie bei tatsächlichen Bewegungen, dann sollten Sprachverarbeitungsprozesse und Bewegungsprozesse ggf. miteinander in Konflikt geraten können, was sich in einer längeren Reaktionszeit niederschlagen sollte. Umgekehrt wäre bei einer Passung von Satzbedeutung und ausgeführter Bewegung eine kürzere Reaktionszeit zu erwarten. Derartige Befunde würden belegen, dass der kognitive Prozess des Satzverstehens aufs Engste mit der kognitiven Aktivierung von motorischen Prozessen verknüpft ist. Ebendiese Evidenz für Embodied Cognition und Erfahrungsspuren im Prozess der Sprachverarbeitung liefern die folgenden experimentellen Studien - für die Satzebene wie auch für die Wortebene. Sprachverarbeitung auf Satzebene - motorische Aktionen mit entgegengesetzter Richtung Eine der bekanntesten Reaktionszeitstudien im beschriebenen Setting stammt von Glenberg & Kaschak (2002). Das Experiment funktionierte wie folgt (vgl. ebd.: 559 f.): Den erwachsenen Proband: innen wurden in ihrer Erstsprache Englisch nicht-sinnhafte Sätze (z. B. „Boil the air“) und sinnhafte Sätze vorgelegt, deren Sinnhaftigkeit es jeweils zu beurteilen galt. Die sinnhaften Sätze thematisierten entweder eine Aktion, bei der eine Armbewegung in Richtung zum eigenen Körper ausgeführt wird (z. B. “Open the drawer! “ ‚Öffne die Schublade! ‘); oder eine Aktion, bei der das Gegenteil der Fall ist und die Armbewegung vom Körper wegführt (z. B. “Close the drawer! “ ‚Schließe die Schublade! ‘). 63 2.3 Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente <?page no="65"?> Abb. 2.10: Experimentdesign bei Glenberg & Kaschak (2002) (eigene Nachbildung) 64 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="66"?> Bei der Beurteilung der Sätze mussten die Testpersonen entweder eine Ja-Taste (für das Urteil ‚Ja, der Satz macht Sinn.‘) oder eine Nein-Taste (für das Urteil ‚Nein, der Satz macht keinen Sinn.‘) drücken. Da als Ausgangsposition eine Taste zu drücken war, die sich auf einer horizontal ausgerichteten Konsole mittig zwischen der Ja- und Nein-Taste befand, involvierte das Antworttastendrücken jeweils eine Armbewegung hin zum eigenen Körper oder weg vom eigenen Körper (vgl. Abb. 2.10). Es gab zwei Testbedingungen. In der einen Testbedingung entsprach die Ja-Taste der (ausgehend von der Mitteltaste) dem Körper ‚nahen Taste‘ und die Nein-Taste der ‚fernen Taste‘ (Abb. 2.10, linke Spalte). In diesem Fall ist bei dem Satz „Öffne die Schublade! “ die ‚Beurteilungsbewegung‘, die mit dem Arm zum Drücken der Ja-Taste auszuführen ist, kompatibel mit der Satzbedeutung - denn beide Male wird eine Armbewegung hin zum eigenen Körper ausgeführt. Bei dem komplementären Satz „Schließe die Schublade! “ ist sie es dagegen nicht. Kehrt man die Versuchsbedingung um und vertauscht die Ja- und Nein-Taste (Abb. 2.10, rechte Spalte), dann ist die korrekte Urteilsbewegung kompatibel mit dem Satz „Schließe die Schublade! “ und inkompatibel mit „Öffne die Schublade! “. Unter beiden Testbedingungen mussten die Proband: innen bei einem Teil der sinnhaften Sätze, um die Ja-Taste zu erreichen, eine mit der Satzbedeutung inkompatible Bewegung ausführen, während bei dem anderen Teil der sinnhaften Sätze die Beurteilungsbewegung kompatibel war. Zu den Ergebnissen der experimentellen Studie von Glenberg & Kaschak (2002): Die Reaktionszeiten waren bei der mit der Satzbedeutung kompatiblen Beurteilungsbewe‐ gung deutlich kürzer als bei der inkompatiblen Beurteilungsbewegung. Die Ergebnisse lassen sich dahingehend interpretieren, dass beim Lesen der Sätze Erfahrungsspuren der beschriebenen Aktivität reaktiviert wurden. Sprachliche Verarbeitung auf Satzebene - Zeitverstehen Eine ähnliche Reaktionszeitstudie führten Ulrich et al. (2012) zur Verarbeitung von temporalen Bezügen in Sätzen durch. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass in embodiment-theoretischer Auffassung ein möglicher kognitiver Zeitbegriff die Zukunft räumlich vor dem eigenen Körper, die Vergangenheit hinter dem eigenen Körper figuriert - auf einer Vorne-hinten-Achse, die durch den eigenen Körper verläuft (siehe Kap. 2.2). Ulrich et al. konnten mit ihrer Studie empirische Evidenz dafür generieren, dass - ganz ähnlich wie bei Sätzen, die motorische Aktionen beschreiben - auch bei der sprachlichen Verarbeitung von temporalen Bezügen die gleichen kognitiven Bereiche wie bei originärer Bewegung beansprucht werden. Das Experiment funktionierte wie folgt: Ulrich et al. präsentierten ihren Proband: in‐ nen, in diesem Fall mit Erstsprache Deutsch, auf einem Computerbildschirm Sätze, die entweder auf ein Ereignis in der Zukunft oder in der Vergangenheit verweisen und sinnhaft sind oder nicht: z. B. sinnhaft, Zukunft „Morgen früh unterschreibt der Chef den Antrag.“; nicht-sinnhaft, Zukunft „Nächsten Sonntag wird das Rathaus die Erbse heiraten.“ (ebd.: 486). In diesem Setting (vgl. ebd.: Experiment 1, 486 ff.) sollten 65 2.3 Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente <?page no="67"?> die Proband: innen nur dann mit einer Beurteilungsbewegung reagieren, wenn es sich um einen sinnhaften Satz handelte. Dabei gab es zwei Bedingungsszenarien: Im ersten Szenario mussten die Proband: innen bei ‚sinnhafter Satz, Zukunft‘ mit einer Armbewegung nach vorne, weg von ihrem Körper antworten, bei ‚sinnhafter Satz, Vergangenheit‘ mit einer Armbewegung nach hinten. Im zweiten Szenario galt es, die Armbewegungen genau in die entgegengesetzte Richtung auszuführen. Bei einer Vorstellung von Zeit auf einer Vorne-hinten-Achse entsprechen also in Szenario 1 die Beurteilungsbewegungen den temporalen Satzbedeutungen, im komplementären Szenario 2 widersprechen sie sich. Die beiden Szenarien vergleichend ergaben sich signifikante Unterschiede in den Reaktionszeiten: Bei einer Passung von Beurteilungs‐ bewegung und temporaler Satzbedeutung reagierten die Proband: innen systematisch schneller als bei einer Nicht-Passung. Zwei weitere Reaktionszeitstudien, die im Zusammenhang mit den körperbasierten Zeitkonzepten Erwähnung finden sollen, stammen aus der gleichen Forscher: innen‐ gruppe wie Ulrich et al.: Eikmeier et al. (2013) und Eikmeier et al. (2015). Hintergrund des Vergleichs der beiden Studien bildet die Annahme, dass bei der sprachlichen Ver‐ arbeitung von temporalen Bezügen räumliche Repräsentationen genutzt werden, dass jedoch die räumlich basierten Zeitkonzepte prinzipiell differieren können (erinnere Kap. 2.2). So ist neben der Vorstellung einer Vorne-hinten-Achse, die durch den eigenen Körper verläuft, alternativ auch die Übertragung der Zeitlinie auf eine räumliche Links-rechts-Achse (links ≈ Vergangenheit, rechts ≈ Zukunft) denkbar. Eikmeier et al. (2013) gingen zunächst der Frage nach, wie stark die Verknüpfung zwischen der Vorstellung von Zeit und der räumlichen Repräsentation einer Vorne-hin‐ ten-Achse ist. Wenn die Zukunft als etwas interpretiert wird, das vor dem eigenen Körper, also vorne liegt, die Vergangenheit komplementär hinten, macht es dann einen Unterschied, ob wir einen entsprechenden temporalen Bezug sprachlich mit den Wörtern Zukunft/ Vergangenheit oder mit den Wörtern vorne/ hinten benennen? Um dies herauszufinden, legten Eikmeier et al. (2013) ihren Proband: innen Sätze vor, die entweder auf ein Ereignis in der Zukunft oder in der Vergangenheit verwiesen. Unter der ersten Testbedingung mussten die Proband: innen, wenn ein Vergangen‐ heitssatz auf dem Computerbildschirm erscheint, laut „Vergangenheit“ sagen, bei einem Zukunftssatz mit „Zukunft“ reagieren. Bei einem zweiten Durchlauf galt es, komplementär einem Vergangenheitssatz das Wort „Zukunft“, einem Zukunftssatz das Wort „Vergangenheit“ zuzuordnen. Anschließend wurde das gesamte Experiment unter beiden Testbedingungen wiederholt, nur hatten die Proband: innen nun mit den Wörtern „vorne“ und „hinten“ zu reagieren. Das erwartbare Ergebnis war, dass die Reaktionszeiten im Falle der Antwortwörter Zukunft/ Vergangenheit bei der ‚inkongruenten Bedingung‘ (Zuordnung des Gegenteil‐ wortes) signifikant langsamer waren als bei der ‚kongruenten Bedingung‘ (Zuordnung des passenden Wortes). Weniger erwartbar war, dass der Differenzgrad der Reakti‐ onszeiten zwischen der kongruenten Bedingung und der inkongruenten Bedingung konstant blieb, wenn die Proband: innen mit den Wörtern vorne und hinten reagieren 66 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="68"?> sollten. Die Assoziierung, dass die Zukunft räumlich vor uns bzw. vor dem eigenen Körper liegt und die Vergangenheit dahinter, ist offenbar so stark, dass es bei der sprachlichen Verarbeitung der Bedeutungen keinen signifikanten Unterschied macht, ob wir für das Zukünftige das Wort Zukunft oder das Wort vorne gebrauchen (und ebenso für das Vergangene). Eikmeier et al. (2015) replizierten das gleiche Reaktionszeitexperiment, nur mussten die Proband: innen dieses Mal mit den Wörtern links und rechts (statt hinten und vorne) reagieren. Auch hier ergab sich ein Unterschied zwischen der kongruenten und der inkongruenten Bedingung, allerdings war er im Vergleich sehr viel schwächer ausge‐ prägt (ca. 66 % kleiner als bei der Reaktion mit den Wörtern Vergangenheit/ Zukunft; vgl. ebd.: 1882). Das bedeutet, dass die Verknüpfung zwischen der Vorstellung von Zeit und der räumlichen Repräsentation einer Links-Rechts-Achse allgemein weit weniger stark zu sein scheint als die Assoziierung mit einer Vorne-hinten-Achse. Die Ergebnisse passen zu der Beobachtung, dass in zahlreichen Sprachen durch entsprechende Metaphorik die Vorne-hinten-Achse Verwendung findet (siehe Kap. 2.2 für Beispiele im Englischen und Deutschen), dass aber bisher keine Sprache gefunden werden konnte, in der Ausdrücke mit Bezug zur Links-Rechts-Achse genutzt werden (Eikmeier et al. 2013: 1879). Eikmeier et al. (ebd.: 1882) diskutieren, ihre Daten interpretierend, u. a. die Möglichkeit, dass die Vorstellung einer von links nach rechts laufenden Zeitlinie vorrangig ein kulturelles Artefakt darstellt, das von Erfahrungen mit Kalendern, Schriftsystemen, bei denen von links nach rechts geschrieben wird, oder Darstellungen von Zeitlinien in Grafiken o. Ä. herrührt. Gehen wir davon aus, dass unsere lebensweltlichen Erfahrungen bei unserem eigenen Körper beginnen, ist die Prominenz der Vorne-hinten-Achse auch deshalb plausibel, weil wir uns, wenn wir uns gehend oder laufend bewegen und dabei psychisch ‚gefühlte‘ Zeit vergeht, in der Regel, von unserer Körperausrichtung her betrachtet, nach vorne bewegen (Füße, Gesicht etc. nach vorne) - und nicht seitwärts. Die bisher vorgestellten Reaktionszeitexperimente zur sprachlichen Verarbeitung von motorischen Handlungs- und Zeitkonzepten betreffen die Satzebene. Kommen wir nun zur Wortebene, und zwar in der Erst- und Zweitsprache. Sprachverarbeitung auf Wortebene: L1 und L2 Noch weiß man relativ wenig über die Reaktivierung von Erfahrungsspuren bei der Verarbeitung einer Zweitsprache (L2), hat man sich doch bislang primär der Verarbeitung der Erstsprache (L1) zugewandt. Doch die Ergebnisse der wenigen bislang vorliegenden L2-Studien weisen darauf hin, dass in der L2-Verarbeitung ebenfalls Erfahrungsspuren aktiviert werden. Hintergrund der Studie von Dudschig, de la Vega & Kaup (2014) bildet die Beob‐ achtung, dass uns zahlreiche Objekte in der realen Welt relativ zu unserer Körper‐ ausrichtung entweder ‚oben‘ oder ‚unten‘ im Raum lokalisiert begegnen: Flugzeug, Sonne, Stern z. B. oben am Himmel, Maulwurf, Wurzel oder Schuh unten am Boden. 67 2.3 Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente <?page no="69"?> 2 Zumindest gilt dies, wenn die Lehr-Lern-Arrangements eher eindimensional auf theoretisches Lernen ausgerichtet sind und dabei keine performativen Zugänge gewährt werden. In erstsprachlichen Situationen wird sehr oft darauf gezeigt und sowohl die Zeigebe‐ wegungen, bei denen unser Arm sich nach oben oder nach unten bewegt, als auch unsere Blickbewegungen nach oben oder nach unten gehören zu den Erfahrungen, die kognitiv zusammen mit dem Wort abgespeichert werden (siehe Kap. 2.2, Abb. 2.5). Reaktionszeitexperimente (u. a. Lachmair et al. 2011) mit L1-Sprecher: innen belegen entsprechende Erfahrungsspuren (ebd.: 15), weil kongruente Bedingungen, bei denen die Proband: innen zur Wortidentifikation bei einem ‚Aufwärts-Wort‘ den Arm/ die Hand heben oder nach oben blicken müssen (und bei einem ‚Abwärts-Wort‘ nach unten), kürzere Reaktionszeiten erzielten als inkongruente Bedingungen. Wie aber verhält es sich beim Gebrauch einer Zweit- oder Fremdsprache? Die Frage ist nicht trivial, denn viele unterrichtliche Situationen, in denen wir in einer fremden Sprache neue Wörter lernen, unterscheiden sich von lebensweltlichen Situationen, in denen wir die Referenzobjekte ‚real‘ oben oder unten im Raum lokalisiert wahrnehmen und darauf zeigen. In unterrichtlichen Settings sind körperliche Erfahrung und die handelnde Interaktion mit anderen Lernenden oft weniger dominant (ebd.: 15). 2 Dudschig, de la Vega & Kaup (2014) wenden einen bereits von Lachmair et al. (2011) erprobten Versuchsaufbau an, der die Wortverarbeitung auf einer unbewussten, automatisierten Ebene zu erfassen sucht. Der Versuchsaufbau entspricht einer modifi‐ zierten Stroop-Aufgabe (benannt nach J. Ridley Stroop 1935), bei der die Proband: innen auf die Schriftfarbe reagieren. Ein bewusstes Lesen der Wörter einschließlich einer tieferen semantischen Verarbeitung ist hierbei nicht erforderlich. Den Testpersonen werden nacheinander einzelne Wörter in einer bestimmten Farbe präsentiert. Die Farbe des Wortes bestimmt, wie zu reagieren ist. Die Bedeutung des Wortes ist damit irrelevant und wird nur unbewusst erfasst. Im Design von Dudschig et. al. (2014) steht eine Farbe für eine bestimmte auszu‐ führende direktive Bewegung. In der Ausgangsposition halten die Proband: innen mit jeder Hand je eine Ausgangstaste gedrückt, die auf einer vertikal ausgerichteten Konsole mittig angebracht sind (vgl. Abb. 2.11). Erscheint nun z. B. ein Wort in blauer Farbe, muss man mit einer Hand auf eine Antworttaste drücken, die sich oberhalb der Ausgangstaste befindet, und dafür den Arm nach oben bewegen. Eine andere Farbe erfordert dagegen eine Abwärtsbewegung (zu einer Antworttaste unterhalb der Ausgangstaste). Die Proband: innen fokussieren auf die Farben, auf die sie mit Aufwärts- und Abwärtsbewegungen reagieren sollen, die sprachliche Verarbeitung der präsentierten Wörter läuft derweil unbewusst und automatisiert ab. Den Proband: in‐ nen werden in randomisierter Abfolge sowohl ‚Aufwärts-Wörter‘ (Flugzeug, Sonne, Stern etc.) als auch ‚Abwärts-Wörter‘ (Maulwurf, Wurzel, Schuh etc.) präsentiert. Entweder ist deren Bedeutung kompatibel mit der geforderten Antwortbewegung (z. B. es ist ein Aufwärts-Wort und die Farbe erfordert eine Aufwärtsbewegung) 68 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="70"?> - oder inkompatibel (z. B. es ist ein Aufwärts-Wort, aber die Farbe erfordert eine Abwärtsbewegung). Abb. 2.11: Versuchsaufbau bei Dudschig et al. (2014) Dudschig et al. wählten für ihre Studie Erwachsene (Studierende), die Deutsch als Erstsprache sprechen und Englisch in ihrer Schulzeit als Fremdsprache gelernt (jedoch noch nie in einem englischsprachigen Land gelebt) haben. In einem ersten Experiment mussten die Proband: innen im beschriebenen Setting sowohl auf deutsche (L1) als auch auf englische (L2) Aufwärts- und Abwärts-Wörter nach Farbansage mit kongruenten und inkongruenten Bewegungen reagieren; in einem zweiten Experiment wurden nur englische Wörter (L2) präsentiert. Bei beiden Experimenten zeigte sich, dass die Reaktionszeiten unter der kongruenten Bedingung systematisch kürzer sind als unter der inkongruenten Bedingung (vgl. ebd.: 16 f.). Wörter wie Stern und star wurden also mit Aufwärtsbewegungen schneller verarbeitet, Wörter wie Wurzel und root schneller mit Abwärtsbewegungen. Bei den L1-Wörtern im ersten Experiment ergab sich ein etwas stärkerer Effekt, aber auch bei den L2-Wörtern war der Unterschied zwischen der kongruenten und der inkongruenten Bedingung signifikant. Dudschig et al. (2014: 18) schlossen noch ein drittes Experiment im gleichen metho‐ dischen Design an, nur wurden in diesem Fall L2-Emotionsausdrücke präsentiert: Adjektive wie happy, joyful, sad, depressed etc. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die embodiment-theoretische Auffassung, dass die sprachliche Verarbeitung von abstrakten Emotionsbegriffen mit Erfahrungsspuren verknüpft ist, die auf Situationen zurückgehen, in denen die benannten Emotionen erlebt und wahrgenommen wurden (Kap. 2.2). Als Teil der Erfahrungsspuren könnten dann ebenfalls Körperhaltungen 69 2.3 Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente <?page no="71"?> und Bewegungen prägend sein. Positive Emotionsausdrücke wie fröhlich und freudig würden mit aufrechten, dynamisch nach oben gerichteten Körperhaltungen und Bewegungen korrespondieren, negative Emotionsausdrücke wie traurig und deprimiert entsprechend mit dem Gegenteil (erinnere auch Abb. 2.7, 2.8). Dudschig et al. erwarte‐ ten vor diesem Hintergrund auch bei den Emotionsadjektiven einen Kongruenzeffekt und das dritte Experiment bestätigte dies. Positive Emotionsadjektive wurden mit Aufwärtsbewegungen systematisch schneller verarbeitet, negative Emotionsadjektive schneller mit Abwärtsbewegungen. Insgesamt lässt sich folgendes Zwischenfazit ziehen: Dass eine Passung von moto‐ risch-sensorischer Erfahrungsspur und originärer Bewegung die Sprachverarbeitung im Vergleich zu einer Nicht-Passung beschleunigen kann und dass dies auch in einer Sprache, die nicht als Erstsprache erworben wurde und also den Status einer Lerner: in‐ nensprache hat, gelten kann - diese Beobachtung ist für didaktische Überlegungen bedeutsam. Denn eine schnellere Sprachverarbeitung lässt ggf. auch eine Entlastung des Lernprozesses erwarten. Indirekt wird also für die Didaktik impliziert, dass motorische und sensorische (wahrnehmungsbezogene) Erfahrungen den sprachlichen Lernprozess erleichtern können, wenn die motorisch-sensorischen Erfahrungen in einem funktionalen bzw. sinngebenden Bezug zum Lerngegenstand/ Lernziel (z. B. Wortschatz/ Wortschatzerweiterung) stehen (vgl. Kiefer & Trumpp 2012: 16). Auch aus der Reaktionszeitstudie von Bergen et al. (2010) lassen sich entsprechende Implikationen ableiten. Hier steht allerdings die Passung bzw. Nicht-Passung von Wörtern und Bildern im Fokus; genauer von Verben, die eine motorische Tätigkeit beschreiben (z. B. laufen, tanzen, kratzen, Kaugummikauen), und von Bildern, die visuell abbilden, wie die Tätigkeit von einer Person (im Bild als Strichmännchen skizziert) ausgeführt wird (Abb. 2.12). Den Hintergrund bilden EEG-Studien, die belegen, dass bei der sprachlichen Verar‐ beitung von Tätigkeiten, die mit bestimmten Körperteilen ausgeführt werden (z. B. laufen mit den Füßen und Beinen vs. kratzen mit Hand und Arm) neuronal jeweils die gleichen Areale des motorischen und prämotorischen Cortexes aktiviert werden wie bei einer mit den betreffenden Körperteilen physisch ausgeführten Tätigkeit (Bergen et al. ebd.: 969; erinnere auch die zu Beginn dieses Abschnittes erwähnte Studie von Hauk, Johnsrude & Pulvermüller 2004). Dabei unterscheiden sich die aktivierten Cortexregio‐ nen in Abhängigkeit der jeweils agierenden Körperteile - bei Fuß-/ Bein-Bewegungen ist also eine andere Region aktiv als bei Hand-/ Arm- und wieder eine andere bei Mund-/ Gesicht-Bewegungen. Bergen et al. wollten nun herausfinden, ob die Beobachtung, dass die sprachliche Verarbeitung eines Tätigkeitsverbs eine bestimmte, körperteilspezifische Hirnregion beansprucht - die gleiche, die auch für die Ausführung der Tätigkeit benötigt wird - auch funktional relevant für den sprachlichen Verstehensprozess ist (ebd.: 970). Wenn nach der Embodied-Cognition-Theorie unsere Begriffe von motorischen Aktio‐ nen unmittelbar auf den eigenen physischen Erfahrungen und Wahrnehmungen der originären motorischen Aktionen basieren und wenn Erfahrungsspuren auch auf ko‐ 70 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="72"?> 3 Sie können natürlich den Joggingpfad entlang tanzen, aber dann laufen Sie nicht mehr. gnitiver Ebene für die Sprachverarbeitung wesentlich sind, dann sollten Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die sich zwischen motorischen Aktionen auf der physischen Ausführungsebene ergeben, auch die Sprachverarbeitung beeinflussen können. Man mache sich dafür klar, dass sich Tätigkeiten, die bei der Ausführung die gleichen Körperteile beanspruchen, stärker ähneln als solche, die von unterschiedlichen Kör‐ perteilen ausgeführt werden. Die Beanspruchung gleicher Körperteile wird körperlich auch dadurch nachvollzogen, dass sich zwei Tätigkeiten ggf. gegenseitig blockieren oder behindern, während ‚unähnliche‘ Tätigkeiten eher miteinander vereinbar sind und parallel ablaufen können (ebd.: 971). Stellen Sie sich z. B. vor, Sie laufen einen Joggingpfad entlang. Dann können Sie kaum gleichzeitig (während des Laufens) einen Walzer tanzen. 3 Sich beim Laufen dagegen mit der Hand am Arm zu kratzen, ist sehr viel eher kompatibel. Lauf- und Tanzbewegung beanspruchen beide hauptsächlich Füße/ Beine, das Kratzen dagegen Hand und Arm (vgl. Abb. 2.12). Abb. 2.12: Visualisierungen der Verben laufen und kratzen (Bergen et al. 2010: 971) Um die funktionale Relevanz der körperlichen Ähnlichkeit/ Unähnlichkeit von motori‐ schen Aktionen für den sprachlichen Verstehensprozess nachzuweisen, präsentierten Bergen et al. ihren Proband: innen auf einem Computerbildschirm jeweils Paare von (a) einem Bild mit einem Strichmännchen, das eine bestimmte motorische Aktion ausführt (vgl. Abb. 2.12), und (b) einem agentiven Verb mit dynamischer Aktionsart (z. B. laufen, tanzen, kratzen). Die Proband: innen mussten möglichst schnell entscheiden, ob das Verb eine gute Beschreibung der visualisierten Tätigkeit darstellt oder nicht - ob also Wort und Bild die gleiche motorische Aktion repräsentieren oder nicht. Die Tätigkeiten beanspruchten entweder die Körperteile Mund/ Gesicht, Hand/ Arm oder Fuß/ Bein. Bergen et al. erwarteten, dass die physische Ähnlichkeit/ Unähnlichkeit der Tätig‐ keiten, die mit einer Aktivierung von gleichen/ verschiedenen motorischen Cortexre‐ gionen einhergeht, auch die visuelle Wahrnehmung und die sprachliche Verarbeitung 71 2.3 Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente <?page no="73"?> 4 Kantonesisch ist eine chinesische Sprache, die vor allem in Südchina gesprochen wird. der motorischen Aktionen beeinflusst. Das bedeutet, experimentell interessant waren für sie gerade die Fälle, bei denen das Verb nicht zum Bild passt (z. B. das Bild zeigt ein laufendes Strichmännchen und das Verb ist kratzen). Dabei vermuteten Bergen et al., dass die Proband: innen systematisch mehr Zeit benötigen, eine Nicht-Passung zu identifizieren, wenn die visualisierte Tätigkeit und die benannte Tätigkeit die gleichen Körperteile beanspruchen (z. B. Lauf-Bild ≠ tanzen), als wenn unterschiedliche Körperteile involviert sind (Lauf-Bild ≠ kratzen). Das Erkennen, dass das Verb tanzen etwas anderes bedeutet, als das Lauf-Bild visualisiert, sollte also signifikant länger dauern als das Erkennen, dass das Verb kratzen das Lauf-Bild nicht adäquat beschreibt. Bergen et al. (2010) konnten mit ihrer Studie genau dies nachweisen - und das nicht nur für zwei verschiedene Erstsprachen (Englisch und Kantonesisch 4 ). Sie belegten überdies, dass die Zusammenhänge auch bei Zweitsprachenlernenden (mit L2 Englisch) auftreten (ebd.: 977 ff.). Der Effekt, dass sich die Reaktionszeiten der Wort- und Bildverarbeitung verlängern, wenn zwei unterschiedliche motorische Aktionen, die die gleichen Körperteile beanspruchen, verglichen werden, erwies sich als umso stärker, je höher die Kompetenzen der Proband: innen in der Zweitsprache entwickelt waren. Dies legt nahe, dass sich mit zunehmender zweitsprachlicher Kompetenz auch die Verknüpfung von Sprachverarbeitung und Erfahrungsspuren bzw. die körperliche, (multi-)modale (motorisch-sensorische) Verankerung von Wortbedeutungen ausbaut: As they [L2-learners] become more fully proficient users of their nonnative language, the connections between words and the modal representations of their meanings become stronger and more easily activated, such that they perform more like native speakers in behavioral language tasks. In other words, the more deeply linguistic representations are grounded [= embodied], the more language users understand, or, the more they understand, the deeper their linguistic representations reach. (Bergen et al. 2010: 979) Je besser sie [L2-Lernende] ihre Zweitsprache beherrschen, desto stärker und leichter werden die Verbindungen zwischen Wörtern und den modalen Repräsentationen ihrer Bedeutungen aktiviert, so dass sie bei verhaltensbezogenen Sprachaufgaben mehr wie Erstsprachler han‐ deln. Mit anderen Worten: Je tiefer die sprachlichen Repräsentationen körperlich verankert sind, desto mehr verstehen die Sprachbenutzer, oder, je mehr sie verstehen, desto tiefer reichen ihre sprachlichen Repräsentationen. (Eigene Übersetzung) Insgesamt unterstreicht die Reaktionszeitstudie von Bergen et al. also die Relevanz von Erfahrungsspuren und generiert empirische Evidenz für ein Zweitsprachenlernen, bei dem - wie im Erstspracherwerb - Wortbedeutungen (hier von Handlungsverben) mit originären körperlichen Erfahrungen abgeglichen werden. Dabei ist hervorzuheben, dass die bisher thematisierten L2-Experimente (sowohl von Dudschig et al. 2014 als auch von Bergen et al. 2010) davon ausgehen, dass die Bedeutungskonzepte, die den in der L2 zu lernenden Wörtern zugrunde liegen, denen der L1 entsprechen und umgekehrt. Dass also z. B. die Wörter Flugzeug und plane 72 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="74"?> 5 Die folgenden Ausführungen stammen aus Bryant et al. (2019) - der für eine Monografie zu Raumausdrücken gekürzten und modifizierten deutschsprachigen Fassung des englischen Artikels. 6 Der Unterschied zwischen AUF und ÜBER besteht lediglich im Merkmal [± KONTAKT], vgl. im Deutschen auf dem Tisch vs. über dem Tisch. Es handelt sich um zwei Subkategorien EINER kogni‐ zierten lokalen Domäne - dem Raum oberhalb des Relatums (im Beispiel: Tisch). Es gibt Sprachen (z. B. Türkisch, Koreanisch, Japanisch), die für den oberen Raum nur einen Ausdruck nutzen. Dementsprechend wäre zu erwarten, dass die mit dem oberen Raum assoziierten Erfahrungsspuren an nur einen Raumausdruck geknüpft sind. potenziell mit sehr ähnlichen kognitiven Begriffsrepräsentationen verknüpft sind. Nun gibt es zwischen Sprachen aber auch beachtliche begriffliche Unterschiede. Man denke beispielsweise an das türkische Nomen merdiven, das die Bedeutungskonzepte der deutschen Nomen Leiter und Treppe vereint. Wie wirken sich derartige Unterschiede auf die Sprachverarbeitung, auf die Erfahrungsspuren aus? Der folgende Abschnitt gibt hierauf am Beispiel lokaler Präpositionen erste Antworten. Sprachverarbeitung in der L2 - bei Äquivalenz/ Nichtäquivalenz mit L1-Ausdruck In der Studie von Ahlberg et al. (2018) 5 wurde erstmals im kognitionspsychologischen Rahmen der Embodied Cognition der Frage nachgegangen, welche Erfahrungsspuren beim bilingualen Menschen reaktiviert werden, wenn dieser in der L2 auf ein Wort trifft, das sich in seiner Bedeutung und dementsprechend in seinen Verwendungskon‐ texten (und damit einhergehend mit den verkörperlichten Erfahrungen) unterscheidet von dem semantisch nächsten Vergleichswort der L1. Als sprachlicher Untersuchungs‐ gegenstand fungierten lokale Präpositionen, da Zweitsprachlernende gerade hiermit besondere Schwierigkeiten haben. Präpositionen wurden bislang noch nicht im Kontext des Erfahrungsspurenansatzes untersucht. Ausgewählt hat man für das Experiment lokale Konfigurationen der oberen Peripherie (AUF und ÜBER). 6 Einige Sprachen (darunter: Deutsch, Englisch, Russisch) haben für die Konfigura‐ tionen zwei Kategorien (mit zwei unterschiedlichen Raumausdrücken; im Deutschen die Präpositionen auf und über) ausgebildet, andere Sprachen (darunter: Türkisch und Koreanisch) hingegen nur eine Kategorie. Die Annahme war, dass die mit den Raum‐ ausdrücken der L1 assoziierten Erfahrungsspuren die Verarbeitung der Raumausdrücke der L2 (Deutsch) in positiver oder aber in negativer Weise beeinflussen, und zwar in Abhängigkeit davon, ob sich die Raumkategorisierung in den beiden Sprachen gleicht oder unterscheidet. An der Studie nahmen (neben L1-Sprecher: innen des Deutschen) erwachsene Deutschlernende, deren L1 wie das Deutsche zwischen AUF und ÜBER unterscheidet (L1 Englisch, L1 Russisch), teil und Deutschlernende, deren L1 über nur einen Ausdruck für diese lokale Domäne verfügt (L1 Türkisch, L1 Koreanisch). 73 2.3 Sprachverarbeitung und körperliche Erfahrungsspuren: Evidenz durch Reaktionszeitexperimente <?page no="75"?> Abb. 2.13: Versuchsaufbau bei Ahlberg et al. (2018) Der experimentelle Aufbau entsprach im Wesentlichen dem der Studie von Lachmair et al. (2011) und Dudschig et al. (2014). Den Versuchspersonen wurden die Präpositionen in unterschiedlichen Farben auf einem Bildschirm präsentiert (Abb. 2.13). Ihre Aufgabe bestand darin, auf diese Farben entweder mit einer Handbewegung nach oben oder einer Handbewegung nach unten zu reagieren. Hinweise auf eine sensomotorische Repräsentation bei der Sprachverarbeitung liegen vor, wenn auf die Präpositionen auf und über, die ein Objekt auf der Vertikalen oberhalb eines Relatums verorten, schneller mit einer Handbewegung nach oben reagiert wird (kompatible Reaktion) als mit einer Handbewegung nach unten (inkompatible Reaktion). Gleiches gilt umgekehrt für die Präposition unter. In der Tat zeigten sich in der Studie solche Kompatibilitätseffekte - Evidenz dafür, dass beim Sehen der Präpositionen automatisch lokale Informationen aktiviert und die körperlichen Reaktionen entsprechend beeinflusst werden. Damit liefern die Ergebnisse dieser Studie für eine weitere Wortart (neben Nomen und Verben) empirische Evidenz für den Erfahrungsspurenansatz. Dabei zeigten die deutschlernenden Proband: innen bei der Verarbeitung von Raum‐ ausdrücken der L2 Deutsch in Abhängigkeit der Raumkategorisierung in ihrer L1 unterschiedliche Aktivierungsmuster: Im Englischen und Russischen gibt es für den oberen Raum zwei lokale Präpositionen. Die mit diesen Raumausdrücken verknüpften Erfahrungsspuren werden von den englischen und russischen Deutschlernenden beim Lesen der deutschen Äquivalente reaktiviert. Dementsprechend konnten bei auf und bei über Kompatibilitätseffekte beobachtet werden. Im Kontrast dazu reagierten die koreanischen und türkischen Deutschlernenden, deren jeweilige Erstsprache für den oberen Raum nur einen Raumausdruck nutzt, im Experiment auch nur auf eine der 74 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="76"?> beiden lokalen Präpositionen, auf die sie offenbar ihre mit dem oberen Raum assozi‐ ierten L1-Erfahrungsspuren projizierten. Dass die Präposition auf (und nicht etwa über) als L1-Äquivalent fungiert, kann auf ihre höhere Gebrauchsfrequenz zurückgeführt werden. Bezugnehmend auf die zum Teil lang anhaltenden Schwierigkeiten, die Zweitspra‐ chenlernende mit dem Erwerb des L2-Raumausdruckssystems haben (u. a. Becker & Carroll 1997; Bryant 2012; Grießhaber 1999), ist anzunehmen, dass bei Unterschieden zwischen der L1- und der L2-Raumkategorisierung die L1-Erfahrungsspuren den L2-Erwerb im jeweiligen Bereich erschweren. Auf den Ansatz der Erfahrungsspuren vertrauend, sollten die Lernenden in solchen Fällen mit Sprache verknüpfte sensomo‐ torische Angebote erhalten (u. a. Bryant 2012: 207 f, 287; siehe auch Kap. 14 in diesem Band für einen performativen Vorschlag, Raumausdrücke mit Bewegung zu vermit‐ teln). Als Inspirationsquelle eignet sich der handlungsbegleitende Input, den Kinder im Erstspracherwerb erhalten (siehe auch Kap. 3 und 4). So könnte (die kritischen Kategorien) betreffend neben dem bestehenden L1-Muster ein neues L2-Muster an Erfahrungsspuren etabliert werden. 2.4 Fazit Kognition und Körper interagieren in einem komplexen Zusammenspiel: Kognitive Prozesse der Sprachverarbeitung beruhen auf unseren körperlichen Erfahrungen. Begriffe (Bedeutungskonzepte) sind dynamische kognitive Repräsentationen von der Welt: Sie können in Abhängigkeit eines individuellen Lernprozesses nicht nur zahlrei‐ cher, sondern auch in sich reichhaltiger werden - je nachdem, was wir in unserer spezifischen Umwelt erleben, wie wir diese erfahren und wie wir sie reflektieren. Eine Passung von Bewegungsbzw. Wahrnehmungsimpulsen und Sprachinput beschleunigt und entlastet die Sprachverarbeitung sowohl in der Erstals auch in der Zweitsprache. Die in diesem Kapitel dargestellten, empirisch belegten Zusammenhänge haben auch didaktische Implikationen für den (Zweit-)Sprachenunterricht: Wenn Konzepte bzw. der begriffliche Inhalt von Ausdrücken mit neuen körperlichen Erfahrungen eine Erweiterung und Vertiefung erfahren, können und sollten wir den Körper als Ressource für die Förderung der Begriffsentwicklung und der Sprachverarbeitung (für Sprachverstehens- und Sprachproduktionsprozesse) nutzen. Lehrkräften, denen bei sprachlichen Ausdrücken konzeptuelle Unterschiede zwischen der L1 und der L2 Deutsch bekannt sind, ist zu empfehlen, Gelegenheiten für den Aufbau von sensomotorischen Erfahrungsspuren und deren Verknüpfung mit den L2-Ausdrücken zu schaffen (siehe die Aufgaben 4 und 5). Lehr-Lern-Konzepte, die performative Zugänge zu (zweit-)sprachlichem Lernen schaffen, bauen systematisch auf der Perspektive des Körpers als Ressource auf, wenn sie in der einen oder anderen Form ausloten, wie sich Sprachunterricht körperlich verankert handlungsorientiert gestalten und wie sich die Bandbreite unserer Sinnes‐ 75 2.4 Fazit <?page no="77"?> wahrnehmungs-, Gefühls- und Bewegungsmöglichkeiten für die Lehr-Lern-Prozesse auf kreative Weise förderlich nutzen lässt. Aufgaben 1.* Diese Aufgabe ist in Kleingruppen (3-5 Personen) zu bearbeiten: Rekapitulieren Sie das Experiment von Michalak, Rohde & Troje (2015) zu den Effekten einer traurigen und fröhlichen Gangart und betrachten Sie den folgenden Cartoon (© 1960 United Feature Syndicate, Inc.): Erproben Sie in Ihrer Gruppe verschiedene Körperhaltungen und tauschen Sie sich darüber aus, welche emotionale Grundstimmung Sie jeweils mit einer bestimmten Haltung verknüpfen. Reflektieren Sie über Ihre eigenen Haltungen, wenn Sie unterrichten: Überlegen Sie gemeinsam, welche Körperhaltung(en) für welche Unterrichtsituationen besonders wünschenswert ist/ sind und warum. 2.** Wählen Sie einen Begriff und erstellen Sie für diesen Begriff ein potenzielles multimodales Begriffsprofil - auf der Basis Ihrer eigenen Erfahrungen mit dem Bedeutungskonzept. 3.** Sammeln Sie Beispiele - im Deutschen und/ oder einer anderen Sprache Ihrer Wahl - für feste Redewendungen und/ oder Lexeme, die nahelegen, dass körper‐ liche Perspektiven metaphorisch auf andere Objektbereiche übertragen oder unbelebte Objekte über einen Vergleich mit dem menschlichen Körper begriffen werden. (Zum Beispiel: begreifen; Fuß einer Lampe; Auge eines Leuchtturms …) 4.** Überlegen Sie, wie eine Unterrichtseinheit aussehen könnte, die Deutschler‐ nende mit L1 Türkisch oder L1 Koreanisch an die konzeptuelle Unterscheidung der lokalen Präpositionen auf und über heranführt und dabei Gelegenheiten schafft, die beiden L2-Raumausdrücke mit sensomotorischen Erfahrungsspuren zu verknüpfen. 76 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="78"?> 5.** Von einem deutschlernenden Kind mit Türkisch als L1 und mehreren Jahren Deutschkontakt stammt die folgende mündliche Bildbeschreibung (Bryant 2012a: 149). Die Treppe is auf den Wand. Warum verwendet dieses Kind (wie auch andere Deutschlernende mit Türkisch als L1) hier das Wort Treppe? Wie würden Sie eine auf dem Erfahrungsspuren‐ ansatz basierende Vermittlung der Wörter Treppe und Leiter gestalten? Die Äußerung beinhaltet (neben dem falschen Genus für Wand) noch drei weitere (vermutlich eingeschliffene) zielsprachliche Abweichungen, für deren Überwindung ebenfalls der Erfahrungsspurenansatz genutzt werden könnte. Benennen Sie die Abweichungen und skizzieren Sie Ihre diesbezüglichen didak‐ tischen Ideen. 6.*** Die Reaktionszeitstudie von Ulrich et al. (2012) zur Zeitvorstellung entlang einer räumlichen Vorne-hinten-Achse baut Ergebnisse weiter aus, die zuvor in einer Studie von Sell & Kaschak (2011) ermittelt wurden. Lesen Sie vertiefend Sell & Kaschak und legen Sie dar, mit welchem methodischen Setting diese Reaktionszeitstudie für die Textebene zeigt, was Ulrich et al. für die Satzebene belegt haben. 7.*** Nach dem Embodied-Cognition-Ansatz entwickeln sich unsere kognitiven Be‐ griffsrepräsentationen auf der Basis sinnlicher Wahrnehmungen. In Kap. 2.2 wurde bereits ausgeführt, wie die Theorie auch die Entwicklung abstrakter Begriffe zu erklären vermag. Wie verhält es sich aber beim Erlernen ‚neuer‘ Kon‐ zepte bzw. sprachlicher Ausdrücke, wenn die lernende Person keinerlei Zugang zu einer Situation hat, in der sie sensomotorische Erfahrungen mit möglichen Referenzobjekten machen könnte - entweder weil der Erfahrungsraum nicht zugänglich oder dies generell nicht möglich ist, z. B. bei Konzepten wie Zebra (wenn man noch nie ein Zebra gesehen hat), Gallenflüssigkeit oder Atlantis? Bilden Sie Kleingruppen (3-4 Personen) und entwickeln Sie gemeinsam mögli‐ che Erklärungshypothesen im Rahmen des Embodied-Cognition-Ansatzes. Lesen Sie anschließend vertiefend Günther et al. (2020) und exzerpieren Sie, mit welchem methodischen (Reaktionszeitexperiment-)Setting Günther et al. empirische Evidenz dafür generieren, dass sich auch unsere kognitive Repräsen‐ tationen von ‚neuen‘, nicht direkt wahrnehmbaren Konzepten indirekt auf der Basis sensomotorischer Erfahrungen herausbilden. 8.*** Lesen Sie vertiefend Tschacher (2006). Darin werden verschiedene Argumente vorgestellt, warum die menschliche Intelligenz einen Körper braucht, um sich entfalten zu können. Exzerpieren Sie die Argumente und diskutieren Sie ihre 77 2.4 Fazit <?page no="79"?> Stärke. Welches Argument finden Sie am überzeugendsten und warum? Disku‐ tieren Sie auch die grundsätzliche Relevanz der Embodiment-Auffassung für Ihren eigenen (zukünftigen) Sprachunterricht und Ihre Lehrtätigkeit. Vertiefende Literatur MacWhinney, B. (1999). The emergence of language from embodiment. In B. MacWhinney (Hrsg.), The emergence of language (S. 213-256). Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates Publishers. 78 2 Kognitionstheoretische Grundlagen <?page no="80"?> 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen Dieses Kapitel liefert die spracherwerbstheoretischen Grundlagen für die weiteren didaktischen Überlegungen und die methodischen Ansätze in Teil II des Buches. Darüber hinaus fungiert es als ein wesentliches Verbindungsglied zwischen Ka‐ pitel 2 und 4 zu den kognitiven und sprachdidaktischen Grundlagen performativer Zugänge zu Deutsch als Zweitsprache: Die Theorie der Embodied Cognition zum Aufbau kognitiver Repräsentationen von der Welt und den hierbei involvierten Erfahrungsspuren (Kap. 2) findet in diesem Kapitel ihr Korrelat in der gebrauchs‐ basierten (usage-based) Spracherwerbskonzeption, die ihrerseits die Bedeutung des Inputs in konkreten Situationen und der Mustererkennung hervorhebt. Der gebrauchsbasierte Erwerbsansatz führt wiederum zu einer Auseinandersetzung mit weiteren Theorien zur Relevanz des Inputs, Outputs und der Interaktion für den Spracherwerb. Deren didaktische Implikationen leiten uns dann zum Ansatz des Task-based language teaching, den Kapitel 4 vorstellen und hinsichtlich performativer Gestaltungsmöglichkeiten perspektivieren wird. Aktivierung a. Vergleichen Sie (i) die Erwerbssituation eines Deutsch als Erstsprache erwer‐ benden Kindes mit (ii) der eines in einer deutschsprachigen Kita Deutsch als Zweitsprache erwerbenden Kindes und mit (iii) der eines gerade nach Deutschland gekommenen zehnjährigen Kindes ohne Deutschkenntnisse. Bilden Sie Kleingruppen (3‒4 Personen) und bestimmen Sie mögliche Vergleichs‐ kategorien (z. B. sprachliche und kognitive Ausgangssituation, typische sprachan‐ regende Interaktionen, Qualität des Inputs, Quantität des Inputs, …). Kontrastieren Sie auf dieser Basis die drei Erwerbsszenarien. b. Stellen Sie sich folgende zwei Situationen vor: □ Sie unterrichten im Ausland an einer Schule Deutsch als Fremdsprache. Sie sprechen die Landessprache nicht. Ihre Schüler: innen sind ca. 14 Jahre alt. □ Sie unterrichten in Deutschland an einer Schule eine Vorbereitungsklasse. Die Schüler: innen sind ca. 13-16 Jahre alt und kommen aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Arbeiten Sie in Ihren Kleingruppen Gemeinsamkeiten und zentrale Unterschiede heraus, und zwar aus der Lehr- und aus der Lernperspektive. Worin sehen Sie jeweils die größten didaktischen Herausforderungen? c. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie arbeiten an einer Schule und wer‐ den damit beauftragt, ein additives Sprachförderangebot für Schüler: innen mit Sprachförderbedarf zu konzipieren. Unter den Schüler: innen sind Kinder mit Deutsch als Erstsprache, Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, die in Deutschland <?page no="81"?> aufgewachsen sind und Kinder, die erst seit einem Jahr Deutsch lernen. Worin könnten (neben individuellen und neben gruppenübergreifenden) gruppenspezi‐ fische Unterstützungsbedarfe liegen? ***** 3.1 Spracherwerbsszenarien Der Erwerb (mindestens) eines Sprachsystems gehört zu den verlässlichen kognitiven Leistungen der frühen Kindheit. Sind es zwei Sprachen, mit denen ein Kind von Geburt an aufwächst, spricht man von bilingualem oder simultanem Erstsprachenerwerb, andernfalls von monolingualem Erstsprachenerwerb. Kommt zur Erstsprache (L1) zeitversetzt eine weitere Sprache hinzu, wird diese als Zweitsprache (L2) erworben. In Bezug auf den Weg in die Mehrsprachigkeit steht damit dem simultanen Erwerb zweier Sprachen (2 L1) der sukzessive Erwerb einer bzw. mehrerer Sprachen (L1 > L2 > L3 > …) gegenüber. Beim sukzessiven Erwerb unterscheidet man zwischen frühem kindlichen, (spätem) kindlichen (ab ca. 6-7 Jahren) Zweitsprachenerwerb und Zweitsprachenerwerb von Jugendlichen und Erwachsenen (siehe u. a. Schulz & Grimm 2019; Rösch 2011; Rothweiler 2007). Der sukzessive Erwerb kann natürlich/ ungesteuert im Zuge alltäglicher Kommunikation oder aber gesteuert (durch Unterricht oder andere Formen der Förderung) erfolgen, wobei die beiden Szenarien häufig auch in Kombination auftreten (z. B. additive Sprachförderung in der Kita oder in der Schule). Der Begriff Zweitsprach(en)erwerb fungiert einerseits als Oberbegriff für Zweitspra‐ chenerwerbskontexte (in Abgrenzung zum Erstsprach(en)erwerb), andererseits als Kontrastpartner zu Fremdsprach(en)erwerb. Wird die Zielsprache in einem Land bzw. in einer Sprachgemeinschaft, wo sie nicht als Mittel zur alltäglichen Kommunikation dient, gesteuert erworben, spricht man von Fremdsprachenerwerb. Man denke an den klassischen Fremdsprachenunterricht (z. B. Englisch und Französisch) an deutschen Schulen oder an Deutsch als Fremdsprache (DaF), unterrichtet an Goethe-Instituten überall in der Welt. Lebt man hingegen inmitten (und nicht isoliert von) der zielsprachlichen Kultur, ist die Sprachaneignung (im Kontrast zum gesteuerten Fremdsprachenerwerb) natür‐ lichen Erwerbsprozessen unterworfen. In diesem Fall spricht man von Zweitsprachen‐ erwerb. Deutsch als Zweitsprache Mit dem Erwerb von Deutsch als Zweitsprache ist die Aneignung des Deutschen in einem Land gemeint, in dem Deutsch die Amtssprache und Sprache der Mehrheit ist, während zugleich andere Erstsprachen verwendet werden (Hoffmann et al. 2017: 5). 80 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="82"?> Verläuft der Zweitsprachenerwerb ohne jegliche steuernde Einflussnahme, dann ist die/ der Lernende auf sich allein gestellt und erschließt sich eigenständig auf der Basis des Inputs die Regelhaftigkeiten des Sprachsystems. Die Situation ähnelt der des erst‐ spracherwerbenden Kindes. Dieses erhält jedoch bei transparentem Situationsbezug einen sich dem kognitiven und sprachlichen Entwicklungsstand anpassenden Input (Ritterfeld 2000). Anpassungen des Inputs im L1-Erwerb Der Input für das spracherwerbende Kind muss einerseits an die kognitive und sprachliche Entwicklung angepasste Daten zur Verfügung stellen, andererseits kommt ihm auch eine aktivierende, zur eigenen Sprachproduktion anregende Funktion zu. Er verändert sich kontinuierlich hinsichtlich der Kommunikationsin‐ halte, der linguistischen Strukturen und der vom Kind erwarteten Versprachlich‐ ungen. Diese Adaptationen lassen sich in drei, chronologisch aufeinander folgende Stufen unterteilen: die Ammensprache, die stützende Sprache und die lehrende Sprache: Mit der im ersten Lebensjahr verwendeten Ammensprache, die sich durch eine „überzogene Intonationsstruktur“ (hohe Stimmlage, überdeutliche Betonung, Vokaldehnung und Rhythmisierung), durch häufige Wiederholungen einfacher (und vereinfachter) Wörter und Phrasen sowie ein hohes Maß an Emotionalität auszeichnet, wird die Aufmerksamkeit des Kindes auf Sprache, auf Kommunikation gelenkt. Die primäre Funktion der im zweiten Lebensjahr dominierenden stützenden Sprache ist der Wortschatzaufbau. Ritualisierte Sprachspiele (vgl. (1)), die der Benennung von Objekten dienen, werden in Regelmäßigkeit praktiziert. Typischer‐ weise wird dabei zunächst mit einem Ausruf und einer Frage auf ein Objekt aufmerksam gemacht ((a) und (b)), dann folgt die Benennung (c) und mit nochma‐ liger Wiederholung des Wortes eine Bestätigung (d). (1) a. Oh, schau, was das ist! b. Was ist das nur? c. Das ist ein Hühnchen. d. Ja, das stimmt, das ist ein Hühnchen. Ritualisierte Handlungen des Zeigens und Benennens nutzen dann auch die Kinder, um durch deiktische Gesten die ‚Namen‘ von Objekten zu erfahren, die in konkreten Situationen spontan ihr Interesse wecken (siehe Flugzeugbeispiel Abb. 2.5 in Kap. 2.2). Während im zweiten Lebensjahr der Fokus auf dem lexikalischen Aufbau liegt, rückt ab dem dritten Lebensjahr die grammatikalische Entwicklung in den Fo‐ kus. Mit der lehrenden Sprache erhalten die Kinder (als Reaktion auf ihre Äußerungen) zielsprachliche Muster, die zum einen wohlgeformt sind und zum anderen strukturelle und/ oder semantische Erweiterungen darstellen (vgl. (2)). 81 3.1 Spracherwerbsszenarien <?page no="83"?> Verschiedene Sprachlehrstrategien kommen zur Anwendung: u. a. Korrektur (E1), grammatikalische Vervollständigung (E2), Hinzufügung semantischer Detailinfor‐ mationen (E3): (2) K: Der hat da rein getut. E1: Rein getan. E2: Der hat etwas da rein getan. E3: Der Junge hat die Äpfel in den Korb getan. Um Kinder zur eigenen Sprachproduktion zu motivieren, nutzen die erwachsenen Bezugspersonen unterschiedliche Fragetypen, wobei mit „Ja“ oder „Nein“ zu beant‐ wortende Entscheidungsfragen ein nur geringes Anregungspotenzial besitzen - im Kontrast zu Fragen, die eine mehr Informationen enthaltende Antwort verlangen. Als besonders animierend gilt auch die Strategie der Widerspruchsprovokation. Hierbei benennt die/ der Erwachsene einen Gegenstand falsch oder beschreibt einen Sachverhalt inkorrekt, um das Kind aus der Reserve zu locken. Anregend und förderlich für den Ausbau des sprachlichen Repertoires erweist sich zudem eine Gesprächsführung, bei der man gemeinsam möglichst lange an einem Thema bleibt (= vertikale Dialogstruktur) und das Kind somit einen inhaltlich wie auch strukturell differenzierten Input erhält. (nach Ritterfeld 2000: 408-420) Der an Zweitsprachenerwerbende gerichtete Input ist für gewöhnlich weniger ange‐ passt. Wenn der Input in Qualität und Quantität nicht ausreichend ist, um Interimshy‐ pothesen über die Zielsprache oder Behelfslösungen über Bord zu werfen und es keine korrigierende Instanz gibt, besteht im ungesteuerten Zweitsprachenerwerb die Gefahr, dass sich nicht-zielsprachliche Konstruktionen verfestigen. Auch kann es sein, dass komplexe Strukturen nicht in Angriff genommen werden, weil sie nicht ausreichend im Input enthalten sind und/ oder nicht eingefordert werden. Interimsgrammatik, Interimshypothese Auf dem Weg in die Zielsprache konstruiert die/ der Lernende auf der Basis bisheriger L2-Erfahrungen (und anderer Faktoren wie z. B. Einflüsse der L1) ein individuelles Sprachsystem, das sich zunehmend der Zielsprache annähert. Man spricht auch von Interlanguage (Selinker 1972) oder Interimsgrammatik. Die Annahmen, die der/ die Lernende hierbei über die Zielsprache trifft, nennt man Interimshypothesen. Um ein Beispiel für eine typische Interimshypothese von Deutschlernenden im späten kindlichen oder im erwachsenen L2-Erwerb zu nennen: Aufgrund der Struktur in einfachen deutschen Hauptsätzen (Ich mag Pizza, Wir gehen ins Kino), die im Input sehr häufig enthalten sind, bilden viele Lernende die Interimshypo‐ 82 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="84"?> 1 Die der vorherrschenden Lehrmeinung zugrundeliegenden Erkenntnisse stützen sich vor allem auf Einzelfallstudien. Ulrich (2017) zeigt auf der Basis einer repräsentativen Stichprobe (968 Kinder im Alter zwischen 4; 0 und 8; 11), dass der Erwerb der syntaktischen Grundregeln keinesfalls für alle Kinder mit Deutsch als L1 so mühelos und schnell vonstattengeht, wie bislang angenommen, sondern sich durchaus bei einigen bis zum Schuleintritt hinziehen kann (Bryant & Rinker 2021: 280-282). Auch ist im Erstsprachenerwerb nicht garantiert, dass Kinder vor dem Schuleintritt Input aus komplexeren, schriftnahen Sprachvarietäten erhalten (vgl. Kap. 4.3). Einen ersten Zugang dazu können u. a. Erzähl- und Vorlesesituationen im familiären Kontext bieten (vgl. Kap. 12), die aber (je nach sozioökonomischem oder kulturellem Hintergrund) nicht in allen Familien Usus sind. these, dass im Deutschen immer die Abfolge ‚Subjekt - Prädikat‘ gilt. Entspricht diese angenommene Abfolge zudem der L1-Wortstellung (z. B. Russisch, Englisch, Spanisch) erfährt die Interimshypothese zusätzliche Unterstützung. Diese Hypo‐ these führt allerdings zu zielsprachlichen Abweichungen, wenn beispielsweise ein Temporaladverbial den Satzanfang bildet (*Morgen wir gehen ins Kino) und muss revidiert werden. Die Lernenden benötigen einen Input, der hinreichend Evidenz liefert, dass das Deutsche eine Verbzweit-Sprache ist und vor dem finiten Verb nur eine Konstitu‐ ente stehen darf. Um die Lernenden zur zielsprachlichen Hypothese zu führen, benötigen sie viele Sätze vom Typ: Morgen gehen wir ins Kino. Die primäre Zielgruppe der methodischen Ansätze dieses Buches sind Kinder und Jugendliche mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) - also Deutschlernende, die in einem deutschsprachigen Land leben. Unter ihnen sind Deutschlernende: a. deren Erwerb nahezu ohne Steuerung verlief, b. deren ungesteuerter Erwerb in der Kita und/ oder in der Schule durch verschiedene Angebote zusätzlich unterstützt wurde, c. deren Einstieg in die deutsche Sprache (z. B. in einer Vorbereitungsklasse) gesteu‐ ert (wie im Fremdsprachenunterricht) verlief - mehr oder weniger flankiert durch Gelegenheiten des natürlichen Sprachkontakts mit L1-Sprecher: innen. Der Erstsprachenerwerb gilt im Allgemeinen als sehr robust und sein Erfolg (so keine Sprachstörungen oder besondere Förderbedarfe vorliegen) bezogen auf das Beherrschen der basalen Grammatik als garantiert. Er verläuft unabhängig von In‐ telligenz und unabhängig von der Modalität (ob nun Laut- oder Gebärdensprache) recht systematisch und mit beeindruckender Geschwindigkeit. Die Kinder durchlau‐ fen unabhängig von der Zielsprache bestimmte Entwicklungsstufen und benötigen keine explizite Instruktion. Das erstsprachliche Wissen ist überwiegend implizit, dem Bewusstsein nicht ohne Weiteres zugänglich. Kerngrammatische Bereiche wie etwa die Wortstellungsregularitäten gelten im Alter von vier Jahren als erworben (u. a. Kauschke 2012: 93). 1 Ein deutlich heterogeneres Bild begegnet uns beim Zweitsprachenerwerb, und zwar in Bezug auf die Dauer, den Verlauf und das Erreichen eines bestimmten Sprachniveaus. 83 3.1 Spracherwerbsszenarien <?page no="85"?> Dass es Unterschiede zwischen L1- und L2-Erwerb gibt, ist unstrittig (Meisel 2007: 99), denn ein gleiches Ziel kann von unterschiedlichen Ausgangspunkten nicht auf gleichem Wege erreicht werden (ebd.: 99). Während L1-Lernende bei Null starten, verfügen L2-Lernende bereits über ein zumindest teilweise ausgebildetes Sprachsystem (mit möglicherweise verursachenden Interferenzen); über weiter entwickelte kognitive Fähigkeiten, die andere Sprachverarbeitungsoptionen eröffnen; über konkrete kom‐ munikative Bedürfnisse und Handlungsroutinen sowie über Welterfahrungen. Daher sind Äußerungen zu Beginn des L2-Erwerbs in der Regel länger und komplexer als frühe L1-Äußerungen (ebd.: 99). Trotz des vielversprechenden Auftakts, erreichen viele L2-Lernende nicht das Sprachniveau, das sie anstreben. Welche Faktoren in welcher Gewichtung welchen Einfluss auf die L2-Entwicklung haben, beschäftigt die Forschung anhaltend. Aufgrund des komplexen Zusammenspiels zahlreicher Faktoren (z. B. Alter zu Erwerbsbeginn, Dauer des Sprachkontakts, Inten‐ sität des Kontakts, sozioökonomischer Hintergrund, Sprachlernbegabung, Sprachlern‐ erfahrungen, Motivation, Einstellung zur Zielsprache - um hier nur einige zu nennen) ist jedes Mehrsprachigkeitsprofil einzigartig (Bryant & Rinker 2021: 22). Die oben skizzierten Erwerbsszenarien geben lediglich eine erste Orientierung und erlauben keine verlässlichen Aussagen über den Erfolg des Zweitsprachenerwerbs (ebd.: 16). Bei allen noch ungeklärten Forschungsfragen zum wechselseitigen Wirken innerer und äußerer Faktoren, herrscht aber doch Einigkeit darüber, dass die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten maßgeblich von der Quantität und Qualität des Inputs abhängen (Bryant & Rinker 2021: 19-23). Input gehört zu den äußeren erwerbsbeeinflussenden Faktoren, die von Seiten der Lehrkraft entscheidend mitbestimmt werden - im Fremdsprachenerwerb noch mehr als im Zweitsprachenerwerb, da bei Letzterem auch außerhalb des Unterrichts sprachanregende Begegnungen (u. a.) mit Gleichaltrigen im schulischen und außer‐ schulischen Bereich stattfinden. Die Chance eines DaZ-Unterrichts besteht neben der Unterstützung des Sprachauf- und -ausbaus auch in der Korrektur von im unge‐ steuerten Erwerbsprozess eingeschliffenen nicht-zielsprachlichen Konstruktionen. Ein strukturfokussiertes Vorgehen ist hierbei unerlässlich (siehe Kap. 3.6). 3.2 Gebrauchsbasierte (usage-based) Spracherwerbskonzeption Eine der entscheidenden Fragen in der Spracherwerbstheorie betrifft die Rolle des Inputs. Diesbezüglich gibt es zwei grundlegend verschiedene Auffassungen: Der nati‐ vistischen Annahme zufolge ist der Mensch für den Erwerb der Sprache prädisponiert, d. h. ein erheblicher Teil des impliziten Sprachstrukturwissens ist über das genetische Erbgut vermittelt und somit angeboren (u. a. Chomsky 1981; erinnere Kap. 1.2, zur Sprachkompetenz). Dem Input kommt in diesem Fall lediglich eine Triggerfunktion zu, um das bei Geburt bereits vorhandene grammatische Regel-/ Strukturwissen sprach‐ 84 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="86"?> 2 Der Begriff ‚usage-based‘ geht zurück auf die Annahme von Langacker (1987), dass das Sprach‐ system einer / eines Sprachgebrauchenden in den konkreten Sprachereignissen (den usage-events = Gebrauchsereignissen) oder Äußerungen verankert (grounded) ist (Behrens 2009: 384). Durch Langackers Verständnis, dass Sprachkompetenz auf allgemeinen und nicht spezifischen, separierten kognitiven Fähigkeiten beruht, „erweist sich der ‚usage-based‘-Ansatz als einheitlicher theoretischer Ansatz […] für die Modellierung des Erwerbs sprachlicher Strukturen“ (Pracht 2010: 14). Der Begriff ‚usage based‘ ist jedoch in verschiedenen theoretischen Kontexten „aufgegriffen, angewandt und weiterentwickelt“ (ebd.: 13) worden, so etwa von Langacker (1987; 2000), Bybee (2006; 2008) oder Tomasello (2003). Wir fokussieren im Folgenden auf Tomasello, der vor allem die sozialen Wurzeln von Sprachentwicklung herausarbeitet (Behrens 2009: 406). spezifisch auszudifferenzieren. Mit der nativistischen Position verknüpft ist zudem die Auffassung, dass Sprache mental separat repräsentiert und (weitgehend) unabhängig von Wahrnehmung (und Motorik) verarbeitet wird (siehe Kap. 2.2). Während Befürworter: innen der nativistischen Theorie der Interaktion mit der Umwelt und dem konkreten Sprachangebot der Umgebung eine geringe Bedeutung beimessen, rücken gerade diese Aspekte in der gebrauchsbasierten (usage-based) Spracherwerbskonzeption in den Vordergrund (u. a. Tomasello 2003, 2006; Behrens 2009, 2011). Gebrauchsbasierte Spracherwerbstheorien wie die des Anthropologen und Verhaltensforschers Michael Tomasello modellieren Spracherwerb grundsätzlich nicht als isolierten kognitiven Prozess; stattdessen sind übergreifende Kompetenzen von Einfluss. Das bedeutet, als angeboren gelten nicht das grammatische Wissen, sondern Fähigkeiten der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, des Denkens, des Lernens, des sozialen Verhaltens ‒ Fähigkeiten, die im komplexen Zusammenspiel und bei entsprechendem Umweltangebot den Erwerb von Sprache (inklusive grammatischen Wissens) ermöglichen. 2 Wie die Bezeichnung ‚gebrauchsbasiert‘ bereits andeutet, sind der Gebrauch von Sprache (die Performanz, siehe Kap. 1.2) und damit die situationsbezogene sprach‐ liche Verständigung zwischen Kommunikationspartner: innen bzw. die intendierten (nicht zufälligen) sprachlichen Handlungen in Kommunikationssituationen für den Erwerb zentral. Sie bieten dem Kind die Basis, bei Wiederholung gleicher Sprachhand‐ lungen/ Äußerungen in ähnlichen Situationen sprachliche Verwendungsmuster zu er‐ schließen. Ausschlaggebend ist dabei der Versuch, die Intentionen für die Äußerungen zu ergründen und diese auch nachzuahmen. Durch wiederholtes Hören und Verwenden von Äußerungen mit leichter Variation (z. B. ich will Eis, ich will Pommes, ich will Cola, …) wird ein Prozess der Schematisierung und Analogiebildung bzw. Musterfindung eingeleitet, der langsam zum Erwerb des L1-spezifischen grammatischen Wissens führt. Ein Muster oder Schema ist in diesem Fall eine bestimmte (regelmäßige) Ordnung des Strukturaufbaus: Beim Beispiel ‚ich will Eis, ich will Pommes, …‘ ist der jeweils erste Teil der Äußerungen gleichgestaltet, am Schluss kommt ein variables Element, das mit unterschiedlichen Ausdrücken (Zielobjekten des Haben-Wollens) gefüllt werden kann (‚ich will X‘). Kontrastiert man ‚ich will Eis‘ mit ‚du willst Eis‘, ‚wir wollen Eis‘, ließe sich die Schematisierung auf eine noch abstraktere Ordnungsebene heben, wobei 85 3.2 Gebrauchsbasierte (usage-based) Spracherwerbskonzeption <?page no="87"?> der Bedeutungszusammenhang ‚Person möchte X in ihren Besitz bringen‘ mit der grammatischen Struktur ‚NP Subjekt/ Nominativ - Verb Modal/ wollen - NP Objekt/ Akkusativ ‘ korreliert. Grundsätzlich geht der gebrauchsbasierte Ansatz davon aus, dass der langsame Auf- und Ausbau grammatischen Strukturwissens und die Musterfindung stets in den Kommunikationssituationen und bei den intendierten Bedeutungszusammenhängen ansetzt und dass in der Folge auch mental keine isolierte Grammatik repräsentiert ist, sondern dass die mentale Grammatik aufs Engste mit dem mentalen Lexikon verknüpft ist. Theoretisch modelliert wird dies im Rahmen der sogenannten Konstruktionsgram‐ matik. Konstruktionsgrammatik Den sprachtheoretischen Hintergrund von gebrauchsbasierten Spracherwerbs‐ theorien bildet die Auffassung, dass in Bezug auf die mentale Repräsentation unserer Sprachfähigkeit die mentale Grammatik (der L1) aufs Engste mit dem mentalen Lexikon verknüpft ist. Modelliert wird dies als Konstruktionsgrammatik. Konstruktionsgrammatiker: innen wie Lakoff (1987), Goldberg (1995, 2006) oder Croft (2001) gehen davon aus, dass sich die Struktur einer Sprache vollständig durch Form-Bedeutungspaare, sogenannte Konstruktionen, beschreiben lässt, bei‐ spielsweise: 1. Uhr / ‚Instrument zur Zeitmessung‘ 2. V transitiv -bar → X ist V-bar / ‚X kann man V-en.‘ (z. B.: V = mach- → X ist machbar. / X kann man machen.) 3. Form: [[NP Nom ] [V] [NP Dat ] [NP Akk ]] / ‚Übertragung eines Besitzverhältnisses’ (z. B.: Die alte Dame gibt dem Gärtner einen Brief.) Die Beispiele illustrieren, dass sich der Konstruktionsbegriff auf alle linguistischen Beschreibungsebenen bezieht, so etwa in (1) die Ebene der Lexeme, die Ebene von Morphemverknüpfungen (Wortbildungsstruktur (2) und Flexionsstruktur), die Ebene der syntaktischen Struktur von Phrasen und Sätzen (3). Konstruktionen sind auch kombinierbar: In dem Beispielsatz unter (3) manifestiert sich nicht nur eine Gesamtkonstruktion zur Übertragung eines Besitzverhältnisses; [die alte Dame] ist auch für sich betrachtet eine Nominalphrasenkonstruktion mit ‚Artikel - Adjektiv - Nomen‘ im Nominativ, die wiederum aus drei einfachen Konstruktionen bzw. Lexemen (die, alte, Dame) besteht. In der Modellierung von kognitivem Sprachwissen in einer Konstruktionsgrammatik wird für das abstrakte grammatische Muster (das Schema) keine mentale Repräsenta‐ tion unabhängig von der Abstraktionsbasis der lexikalischen Einheiten angenommen. Entsprechend geht der gebrauchsbasierte Spracherwerbsansatz davon aus, dass die Musterfindung und das Erkennen einer Konstruktion stets bei den konkreten Äuße‐ rungen auf Inhaltsebene beginnen. 86 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="88"?> Für die sich nur langsam entfaltenden Abstraktionsprozesse ist ein erster Schritt wesentlich: Kinder erwerben komplexe sprachliche Ausdrücke und Konstruktionen ihrer L1 zunächst in Form von sprachlichen Gestalten ‒ d. h. in größeren, unanalysier‐ ten Einheiten, als Chunks (siehe den nächsten Abschnitt, Kap. 3.3). Leitend ist der Inhalt, also die Bedeutung eines Chunks und wie man mit ihm in einer Kommunikati‐ onssituation agieren kann. Hypothesen über die Form der Konstruktion, d. h. über den Strukturaufbau und das zugrundeliegende grammatische Muster des Chunks, welches sich auch in anderen Ausdrücken findet und sich für die Bildung neuer Ausdrücke nutzen lässt - solche Generalisierungen werden erst nach Aneignung einer kritischen Masse memorierter Ausdrücke unterschiedlicher Komplexität initiiert (vgl. Tomasello 2003, 2006). Das bedeutet: Um ein Muster zu erkennen, braucht es eine Basis an zahlreichen gleichen, aber auch leicht variierenden Äußerungen. Dies macht die Art und Quantität des Inputs zu einer wesentlichen Größe im Erwerbsprozess. Eine zentrale Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, in welchem Verhältnis Wie‐ derholung und Variation stehen müssen, damit der Erwerb optimal verläuft. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Tokenfrequenz (der Vor‐ kommenshäufigkeit eines konkreten Elements) und Typefrequenz (dem Vorkommen von verschiedenen Vertretern eines zugrunde liegenden Musters). Beide Frequenzty‐ pen lassen sich auf allen sprachlichen Ebenen ermitteln (Bryant 2012a: 195): So gilt beispielsweise für die Domäne der dynamischen lokalen Verben, dass die Typefrequenz von Fortbewegungsverben (gehen, fahren, kriechen, schleichen, schlendern, rennen, sprinten, fliegen, …) in den meisten Kontexten höher ist als die von kausativen Positi‐ onsverben (setzen, stellen, legen, stecken, …). Und innerhalb der Fortbewegungsverben ist gehen der Vertreter mit der höchsten Tokenfrequenz. Wie ist der Input nun optimal anzureichern? Angenommen, das Erwerbsziel ist ‚Fortbewegungsverben + rein‘. Ist es für den Erwerbsprozess günstiger, nur den Hauptrepräsentanten (als prototypischen Vertreter) der Fortbewegungsverben in hoher Tokenfrequenz anzubieten, vgl. (1), oder sollte man die Typefrequenz lancieren, vgl. (2), oder entspricht eine Kombination aus hoher Tokenfrequenz beim Prototypen und moderater Typefrequenz, (vgl. (3)), dem optimalen Input? (1) reingehen, reingehen, reingehen, reingehen, reingehen, reingehen, reingehen, rein‐ gehen (2) reingehen, reinlaufen, reinrennen, reinfahren, reinschleichen, reinspringen, reinstol‐ pern, reinstürzen (3) reingehen, reingehen, reingehen, reingehen, reinlaufen, reinfahren, reinschleichen, reinspringen Casenhiser & Goldberg (2005) haben (anhand anderer Konstruktionen einer zu lernen‐ den Kunstsprache) gezeigt, dass (3) das ideale Angebot für die Lernenden darstellt. Warum? 87 3.2 Gebrauchsbasierte (usage-based) Spracherwerbskonzeption <?page no="89"?> Eine hohe Tokenfrequenz führt zur Verankerung/ Einschleifung, indem sie starke Gedächt‐ nisspuren hinterlässt, während die Variation der Types zur Abstraktion führt. (Tomasello 2003, zitiert in Behrens 2009: 399; eigene Übersetzung) Durch die hohe Tokenfrequenz wird eine solide Ankerstruktur gelegt, die Wiederer‐ kennen ermöglicht. Durch die Typefrequenz wird die Analogiebildung und Muster‐ findung angeregt. Mangelt es in sensiblen Erwerbsphasen an Types, kommt es zur Fossilisierung der Ankerstruktur. Dieser Effekt zeigt sich beispielsweise bei einigen DaZ-Lernenden, wenn sie als einziges Fortbewegungsverb gehen verwenden oder bei statischer Lokalisierung nur sein gebrauchen. Dem ist mit rechtzeitiger Typevarianz beizukommen (Bryant 2012a: 195). Laut Casenhiser & Goldberg (2005) entspricht das Token-/ Type-Frequenzmuster 4+/ 1-1-1-1 von (3) in etwa dem elterlichen Input, und zwar sprachübergreifend (u. a. Cameron-Faulkner et al. 2003). Ein solches Muster, bei dem ein Type oder einige wenige Types in hoher Tokenfrequenz vorkommen, während die anderen Types in deutlich niedrigerer Frequenz auftreten, nennt man aufgrund der ungleichen Verteilung skewed (‚schief ‘, ‚verzerrt‘). Diese Art von Input gilt als typisch für die kindgerichtete Sprache im L1-Erwerb und wird auch als begünstigend im L2-Erwerb erachtet (u. a. Bybee 2008). Die empirische Evidenz für den gesteuerten L2-Erwerb ist jedoch widersprüchlich (siehe Madlener 2015, 2016). In ihrer eigenen Unterrichtsstudie, die Madlener mit erwachsenen Deutschlernenden auf B2-Sprachniveau unter verschiedenen Inputbedin‐ gungen durchgeführt hat, konnten die Lernenden nicht vom ‚schiefen‘ Frequenzmuster profitieren, aber von einer niedrigen Typefrequenz bei hoher Tokenfrequenz eines jeden Types. Daraus ableitend, empfiehlt Madlener, dass Sprachlehrbücher die Type‐ frequenz am Anfang des Aneignungsprozesses eines Musters eher sparsam dosieren sollten: Zukünftige Lehrwerke für Deutsch als Zweitsprache sollten daher grundsätzlich Inputfluten bereitstellen, um die Chancen für beiläufiges Grammatiklernen konsequent zu erhöhen. Darüber hinaus zeigt unsere Studie, dass der Erfolg des beiläufigen Grammatiklernens aus Inputfluten mit geringerer lexikalischer Dichte (d. h. reduzierter Typefrequenz) zunimmt. Dies deutet darauf hin, dass man den Lernenden die Möglichkeit geben sollte, neue Muster im Input mit niedriger Typefrequenz zu erkennen, bevor sie dazu gedrängt werden, eine größere Vielfalt an lexikalischen Konkretisierungen für die Zielkonstruktion zu entdecken. Es sollte daher vermieden werden, dass die Lernenden gleichzeitig mit dem Erwerb eines neuen Musters auch neues Vokabular lernen, da dies zu einer kognitiven Überlastung führt. Daher sollte bei erstem Kontakt mit einer neuen Konstruktion bezogen auf die Typefrequenz ein ‚Weniger ist mehr‘-Ansatz verfolgt werden. (Madlener 2016: 167; eigene Übersetzung) Insgesamt lässt sich aus der Perspektive des gebrauchsbasierten Spracherwerbsansat‐ zes resümieren, dass der Input sowohl in seiner Quantität als auch Qualität von wesentlicher Bedeutung für den Erwerbsprozess ist. Auch bei Zweitsprachenlernenden wird die Aneignung von Mustern begünstigt, wenn die Typefrequenz zunächst moderat dosiert wird. Erst später (nach Mustererkennung) ist die Typefrequenz zu erhöhen, 88 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="90"?> 3 Auszug aus Bryant & Rinker (2021: 234-235). um einen produktiven Gebrauch des Musters anzustoßen. Die Grundlage aber für Mustererkennung liefern Chunks, mit denen sich nun das folgende Teilkapitel befasst. 3.3 Zur Rolle von Chunks beim Sprachgebrauch und im Spracherwerb (L1 und L2) 3 Das englische Wort Chunk bedeutet ins Deutsche übersetzt ‚Brocken‘, ‚großes Stück‘, ‚Klumpen‘, ‚Klotz‘ oder ‚Segment‘. In der Sprachtheorie bezeichnet man als Chunks sprachliche Sequenzen von unterschiedlicher Komplexität, die als Ganzes gespeichert und abgerufen werden. Als holistische Einheit belasten sie das Arbeitsgedächtnis weniger als die Komposition ihrer einzelnen Bestandteile (vgl. Miller 1956). L1-Spre‐ cher: innen machen regen Gebrauch von Chunks und erreichen so eine enorme Geschwindigkeit in der Sprachverarbeitung (u. a. Pawley & Syder 1983) - sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption (Aguado 2014). Auch die Sprache von L2-Lernenden gewinnt mit dem Gebrauch von Chunks an Flüssigkeit und Natürlichkeit (Stengers et al. 2011). L2-Lernende, die sich geschickt mit situationsangemessenen Chunks zu verständigen wissen, wähnt man schnell auf einem hohen Sprachniveau und ist überrascht, wenn Folgeäußerungen dem nicht mehr entsprechen. Für Lehrkräfte ist es oft nicht leicht zu entscheiden, ob die/ der Lernende eine Struktur als memorisierte Sequenz oder unter Anwendung der Regel eigenständig produziert. Das „Chunking“ sollte dabei nicht negativ bewertet werden, es handelt sich um eine zu unterstützende Erwerbsbzw. Lernstrategie (u. a. Handwerker 2008). Über ein umfangreiches Chunk-Repertoire zu verfügen, ist schließlich nicht nur für den Sprachgebrauch, sondern auch für den Grammatikerwerb von Vorteil, denn es kann als Induktionsbasis für das Erschließen von Regelhaftigkeiten der Zielsprache zur Verfügung stehen. Im L1-Erwerb gebrauchen Kinder zunächst unanalysierte Einheiten und generieren sukzessive aus der Chunk-Basis über verschiedene Abstraktionsstufen die zugrunde‐ liegenden Konstruktionen (u. a. Tomasello 2006; siehe oben, Kap. 3.2). Auch im kindlichen L2-Erwerb gibt es Hinweise darauf, dass Sequenzen aus dem zielsprachlichen Input als Chunks gespeichert werden, die dann als Basis für spätere Analyseprozesse dienen (u. a. Wong Fillmore 1976). Jugendliche und erwachsene L2-Lernende verwenden zwar ebenfalls Chunks, scheinen diese aber weniger nutzen zu können, um daraus Regelhaftigkeiten zu extrahieren (Aguado 2014). Ältere Lernende achten offenbar mehr auf einzelne Wörter und weniger auf Wortsequenzen und Syntagmen (Handwerker & Madlener 2009). Möglicherweise ist dies eine Folge des im Fremdsprachenunterricht immer noch praktizierten Vokabellernens (Aguado 2014). 89 3.3 Zur Rolle von Chunks beim Sprachgebrauch und im Spracherwerb (L1 und L2) <?page no="91"?> Alle L2-Lernenden sollten darin unterstützt werden, die Potenziale des Chunkings für den Sprachgebrauch und vor allem auch für den Grammatikerwerb zu nutzen. Beispielsweise wird mit einem vorstrukturierten Input, der in verständlichen situativen Kontexten wiederkehrend gleiche und leicht modifizierte Chunks anbietet, zunächst erreicht, dass die Lernenden die Chunks situativ angemessen und korrekt gebrauchen, ohne sich deren atomarer Bestandteile bewusst zu sein. Grammatikerwerb beginnt dann, wenn die Lernenden im Input ähnliche Chunks identifizieren, wie etwa mit dem Stift, mit der Schere, mit dem Lineal, und am Artikel Gleiches und Unterschiedliches bemerken (Bischoff & Bryant 2020). Das Entdecken von Regelhaftigkeiten kann z. B. durch Markierungen oder auch gezieltes Fragen beschleunigt werden. Der vorstruk‐ turierte Input mit ähnlichen Chunks hilft (den jüngeren Lernenden besser als den älteren), Muster und zugrundeliegende Konstruktionen zu erkennen. Bei Schüler: innen und Erwachsenen sollte dieser Prozess explizit (metasprachlich) unterstützt werden (Handwerker & Madlener 2009). 3.4 Explizites Wissen - implizite Fertigkeiten Das Langzeitgedächtnis kann in zwei unterschiedliche Subsysteme unterteilt werden: in das deklarative/ explizite und in das implizite System (vgl. Jäncke 2021: 426). Es wird angenommen, dass (sprachliche) Informationen in diesen Gedächtnissystemen unterschiedlich aufgenommen, verarbeitet und gespeichert werden. Bei den im deklarativen Gedächtnissystem gespeicherten Informationen soll es sich um explizites Wissen u. a. in Form von Faktenwissen (semantisches Subsystem) handeln. Explizites Wissen ist dem Bewusstsein zugänglich und kann daher auch versprachlicht werden. Eine Grammatikregel, die im Unterricht explizit vermittelt wird und von den Lernenden gelernt und wieder bewusst abgerufen werden kann, wäre ein Beispiel hierfür. Im Gegensatz hierzu sind im impliziten Gedächtnissystem Informationen gespei‐ chert, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind und daher auch meist gar nicht oder nur schwer beschrieben werden können. Ein Subsystem des impliziten Gedächtnisses stellt das prozedurale Gedächtnis dar. In diesem sollen Fertigkeiten gespeichert sein, die sich nur durch Üben über einen längeren Zeitraum entwickeln können (learning by doing) (vgl. Jäncke 2021: 487). „Je besser die Fertigkeit beherrscht wird, desto weniger bewusster Kontrollaufwand und Aufmerksamkeit müssen eingesetzt werden“ (ebd.: 487). Dies hat den Vorteil, dass weitere kognitive Ressourcen zur Bewältigung anderer Aufgaben zur Verfügung stehen (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass die Grammatik der Erstsprache implizit erworben und im prozeduralen Gedächtnis gespeichert wird (z. B. Jäncke 2021, Paradis 2009). L1-Sprecher: innen bilden Äußerungen nicht mühevoll und kontrolliert einer explizit gelernten Regel entsprechend, sondern haben den Vorteil, dass dieser Prozess auto‐ matisiert erfolgt und kognitive Ressourcen schont. So fällt es z. B. beim impliziten 90 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="92"?> 4 Diese können sich nach Paradis (2009) nicht mehr wie L1-Sprechende oder jüngere L2-Lernende bei der Verarbeitung von Grammatik gänzlich auf ihr prozedurales Gedächtnis stützen. Gründe hierfür sind sowohl kognitive als auch biologische Ursachen (vgl. Paradis 2009: 113) sowie L1-Transfer (vgl. Paradis 2009: 96). Sprachgebrauch leichter, sich auf den Inhalt einer Äußerung zu fokussieren oder sogar einer anderen Tätigkeit nebenher nachzugehen. Daher gilt auch für Sprechende einer Fremd- oder Zweitsprache eine implizite Sprachverarbeitung als erstrebenswert. Es wird jedoch kontrovers diskutiert (→ die sogenannte Schnittstellen-Frage (Inter‐ face-Hypothesen)), ob und auf welche Weise explizit vermitteltes Wissen in einem Fremd- oder Zweitsprachenunterricht dazu beitragen kann, dass implizite sprachliche Fertigkeiten erworben werden. Interface-Hypothesen Krashen (1981; 1985) vertritt die Annahme, dass keine Schnittstelle zwischen explizitem und implizitem Wissen existiert und gilt somit als ein Vertreter der Non-Interface-Position. Krashen (1981) unterscheidet strikt zwischen Lernen mit Bewusstsein und Erwerb ohne Bewusstsein und misst dem bewussten Lernen sehr wenig Relevanz für den rezeptiven und produktiven Spracherwerb von älteren L2-Lernenden bei. Explizites, dem Bewusstsein zugängliches Wissen könne ledig‐ lich den Sprach-Output als eine Art Monitor (die sogenannte Monitor-Hypothese) überwachen. Insofern habe explizites Wissen keinen Einfluss auf den impliziten Spracherwerb, womit Krashen sich von den folgenden Positionen unterscheidet. Paradis (2009) wird ebenfalls als ein Vertreter der Non-Interface-Position ange‐ sehen, da er verneint, dass eine Schnittstelle zwischen explizitem Wissen und impliziten linguistischen Fertigkeiten existiert. Er lehnt dabei jedoch vor allem den Begriff Schnittstelle ab und geht durchaus davon aus, dass explizites Wissen indirekt einen positiven Einfluss auf den Aufbau impliziter linguistischer Fertigkeiten haben und es zu einem Wechsel von einer deklarativen zu einer prozeduralen Verarbeitung kommen kann. Durch explizite formfokussierende Verfahren kann die Aufmerksamkeit von älte‐ ren L2-Lernenden 4 auf sprachliche Strukturen gelenkt werden und sie können dadurch unterstützt werden, die Oberflächenstruktur des Inputs zu bemerken (siehe Noticing-Hypothese) und diese Zielstrukturen anschließend selbst in bedeu‐ tungsvollen Kommunikationssituationen zu gebrauchen. Durch den Gebrauch könne dann Intake von Input abstrahiert werden (ein unbe‐ wusster Prozess) und nur dieser Intake kann zum Aufbau impliziter Fertigkeiten beitragen (ebd.; zum Unterschied zwischen Input und Intake, s. im folgenden Kap. 3.5). Wurde die Zielstruktur gänzlich verinnerlicht und die Fertigkeit im pro‐ zeduralen Gedächtnis durch Intake-Abstraktion aufgebaut, findet ein Wechsel bei der Verarbeitung vom deklarativ-expliziten zum prozedural-impliziten Gedächtnis 91 3.4 Explizites Wissen - implizite Fertigkeiten <?page no="93"?> statt und die Zielstruktur kann aus diesem Gedächtnissystem automatisiert abge‐ rufen werden (vgl. Paradis 2009: 68). Ellis (2005) als Vertreter der Weak-Interface-Hypothese geht ebenfalls davon aus, dass es für L2-Lernende hilfreich sein kann, wenn ihre Aufmerksamkeit durch (mehr oder weniger) explizit formfokussierende Verfahren auf sprachliche Muster oder Konstruktionen gelenkt wird, damit diese sprachlichen Strukturen von den Lernenden memoriert und anschließend gebraucht werden können. Werden diese Strukturen dann im bedeutungsvollen (rezeptiven/ produktiven) Sprachge‐ brauch immer wieder aus dem Arbeitsgedächtnis abgerufen, können implizite Lernprozesse (z. B. Kategorisierungsprozesse) initiiert werden (vgl. Ellis 2005: 320-321) (siehe auch den gebrauchsbasierten Ansatz), die den Aufbau prozeduraler Fertigkeiten begünstigen. Nach der Weak-Interface-Position kann explizites Wissen einen positiven Einfluss auf den Aufbau impliziter Fertigkeiten haben, indem hierdurch die Aufmerksam‐ keit auf ein bestimmtes sprachliches Phänomen gelenkt, Noticing (s. Kap. 3.5) verbessert und der Gebrauch einer Zielstruktur angeregt werden kann. In DeKeysers (z. B. 1997, 2015, 2020) Strong-Interface-Position nimmt dekla‐ ratives, explizites Wissen eine noch zentralere Rolle ein als bei den anderen Positionen, da er davon ausgeht, dass das explizite Wissen für die Sprachaneignung teilweise sogar benötigt wird. Nach DeKeyser könne durch intensives Üben anhand geeigneter Aufgabenformate deklaratives, explizites sprachliches Wissen prozeduralisiert und dadurch nach und nach zu automatisiertem explizitem Wissen (nicht implizitem Wissen) werden. DeKeyser geht von keiner Umwandlung des Wissens aus, sondern hebt lediglich hervor, dass explizites Wissen eine kausale Rolle für den Aufbau prozeduralen und automatisierten Wissens spielt (vgl. DeKeyser 2015: 103). Prozedurales und automatisiertes Wissen setzt er dabei nicht mit implizitem Wissen gleich. Das durch Üben entstehende automatisierte explizite Wissen gleiche lediglich in seiner Funktion implizitem Wissen. (vgl. Kohl-Dietrich & Maiberger, im Druck) Nach Kohl-Dietrich & Maiberger (im Druck) vereint die verschiedenen Schnittstel‐ len-Positionen neben ihren erheblichen Unterschieden die gemeinsame Annahme, dass unter bestimmten Bedingungen explizites Wissen für die Sprachaneignung förderlich sein kann. Entscheidend dabei ist, die Aufmerksamkeit der Lernenden auf sprachliche Strukturen zu lenken, die ihnen aufgrund ihrer bisherigen Sprachlern- und Spracher‐ werbserfahrungen Schwierigkeiten bereiten könnten (z. B. Cintrón-Valentín & Ellis 2015). Diese Verfahren können in ihrem Explizitheitsgrad variieren (z. B. explizite Instruktion, Inputflut etc.) (s. Kap. 3.6). 92 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="94"?> 3.5 Zur Relevanz von Input, Output und Interaktion im L2-Erwerb Input ist nicht gleichzusetzen mit Intake - mit dem, was tatsächlich auf der Rezipieren‐ denseite aufgenommen wird. Input wird von Lernenden selektiv wahrgenommen. Der Input-Processing-Ansatz (u. a. van Patten 1996, 2004) versucht zu erklären, warum der Input nicht unmittelbar zum Intake wird: Die Inputverarbeitung findet im Arbeitsge‐ dächtnis statt - zuständig für eine vorübergehende Speicherung. Das Arbeitsgedächt‐ nis hat eine nur geringe und zeitlich begrenzte Speicherkapazität, die es optimal zu nutzen gilt. Hierfür folgen die Lernenden in frühen Erwerbsphasen dem „Primacy of Meaning Principle“, demzufolge im Prozess der Inputverarbeitung die Bedeutung im Vordergrund steht, formbezogene Aspekte spielen eine nachgeordnete Rolle (van Pat‐ ten 2004: 14). Aufgrund der begrenzten Verarbeitungskapazitäten gelingt es Lernenden oftmals nicht, gleichzeitig auf Inhalt und Form zu achten. Grammatische Einheiten und strukturelle Regelhaftigkeiten bleiben daher oft lange unerkannt. Maßnahmen, die die Lernenden in Bezug auf die für sie im Vordergrund stehenden Inhalte entlasten (z. B. handlungsbegleitendes Sprechen, Parallelisierung von Sprache und Bild; siehe Teil II, u. a. Kap. 5, 9, 15), setzen Kapazitäten frei, um auf Wortstellungsregularitäten und grammatische Formen zu achten, sodass eine simultane Verarbeitung von Inhalt und linguistischer Form möglich wird (Bischoff & Bryant 2020: 295). Die Frage, wie aus Input Intake werden kann, beschäftigt die Forschung bereits seit den 1980er Jahren. Einige der zentralen Hypothesen zu Input und Output seien im Folgenden kurz zusammengetragen. Die Input-Hypothese von Krashen (1985) besagt, dass Sprachaneignung dann erfolgt, wenn der Input verständlich ist und ein wenig über dem Niveau der bereits beherrschten Sprache (= „i“) liegt - ausgedrückt mit der Formel „i+1“. Der sprachliche und situative Kontext sollte so gestaltet werden, dass die noch unbekannten Aspekte verstanden werden können. Allein auf der Basis von Inputverarbeitung wird die L2-Entwicklung allerdings noch nicht hinreichend vorangetrieben. Sprachverstehen ist möglich, auch ohne den Input bis ins letzte Detail analysiert zu haben. Wie u. a. Swain (1985) und Swain & Lapkin (1995) betonen, sind Sprachlernende nur dann, wenn sie selbst Output erzeugen, wirk‐ lich gezwungen, sich der Formseite der Sprache zu stellen und ihre eigenen Strukturen mit denen der Zielsprache zu vergleichen und dabei gegebenenfalls Differenzen und auch Lücken im Ausdrucksrepertoire zu bemerken (→ Output-Hypothese). Output-Hypothese Nach der Output-Hypothese von Swain (1985) ist eine notwendige Bedingung für die zielsprachlich korrekte Verwendung einer L2, dass Lernende die Möglichkeit erhalten, diese sowohl mündlich als auch schriftlich produzieren zu können. Dabei ist nicht nur der frequente Gebrauch der L2 entscheidend, sondern auch die Be‐ schaffenheit des produzierten Outputs. Lernende müssten dazu veranlasst werden („pushed“, ebd.: 249), Output zu generieren, der nicht nur verständlich, sondern 93 3.5 Zur Relevanz von Input, Output und Interaktion im L2-Erwerb <?page no="95"?> in einem bestimmten Kontext als adäquat betrachtet werden kann. Angelehnt an Krashens Input-Hypothese (1985), bei der ein Input als relevant für den Sprach‐ erwerb erachtet wird, der leicht über dem bereits erreichten Sprachniveau der Lernenden liegt, sollten die Lernenden dazu gebracht werden, ihren Output auf eine nächste „Stufe“ zu bringen (Swain 1985: 249). Es geht um einen Sprachgebrauch, „der in Bezug auf seinen Informationsgehalt und/ oder seine grammatikalischen, soziolinguistischen oder diskursiven Merkmale eine verbesserte Version einer früheren Version ist” (Swain 2005: 473; eigene Übersetzung). Das Generieren von Output kann neben einem flüssigeren Sprachgebrauch drei weitere Funktionen übernehmen (vgl. Swain 2005: 474-478): (i) Noticing/ Triggering: Wenn Lernende Output produzieren, müssen sie aktiv nach zielsprachlich korrekten Strukturen und passendem Wortschatz suchen, damit sie ihr Anliegen verständlich machen können. Dieser Suchprozess kann dazu führen, dass ihnen ihre sprachlichen Einschränkungen bewusst werden und sie gegebenenfalls ihre Aufmerksamkeit im Folgenden auf die relevanten Strukturen im Input richten. Wenn Lernende bemerken, dass ihre Äußerung fehlerhaft (oder nicht angemessen) war, kann dies ein wichtiger Schritt hin zu einem korrekteren Sprachgebrauch bedeuten. (ii) Hypothesis-Testing: Der generierte Output dient Lernenden als Hypothese und anhand der Reaktion der Interaktionspartner: innen können sie einen Abgleich zwischen ihrer Äußerung und der zielsprachlich korrekten Form vornehmen. (iii) Metalinguistic reflection: Eventuelle sprachliche Abweichungen von der L2 bieten (wenn bemerkt) den Lernenden die Möglichkeit, diese auf einer metalingu‐ istischen Ebene zu reflektieren und gegebenenfalls zu korrigieren. „Die These ist, dass die Verwendung von Sprache, um über die von anderen oder von sich selbst produzierte Sprache zu reflektieren, den Zweitsprachenerwerb fördert“ (Swain 2005: 478; eigene Übersetzung). Im Fokus der Noticing-Hypothese von Schmidt (1990) steht der Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Inputverarbeitung. Erst durch das Bemerken bestimm‐ ter Aspekte im Input werden diese zum Intake - eine Voraussetzung, um weiteren Verarbeitungsprozessen zugeführt zu werden, die schließlich im Erwerb münden (können). Die sich hieraus ableitende didaktische Frage lautet: Wie lässt sich in einem bedeutungsorientierten Unterricht die Aufmerksamkeit auf sprachliche Formen lenken, um deren Aneignungsprozess anzustoßen (s. Kap. 3.6)? 94 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="96"?> Noticing-Hypothese Schmidt (1990) beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle das Bewusstsein (consciousness) bei der Sprachaneignung spielt. Consciousness as awareness kann nach Schmidt in drei Ebenen unterteilt werden: Perception (Wahrnehmen), Noticing (Bemerken), Understanding (Verstehen) (Schmidt 1990: 132). Die drei Ebenen werden im Folgenden an einem Beispiel näher erklärt, das von Schmidt (1990) übernommen und leicht modifiziert wurde. Perception bedeutet, dass im Zuge von Wahrnehmung eine mentale Repräsentation eines externen Einflusses erzeugt wird. Wenn eine Person einen Text liest, dann nimmt er/ sie die syntaktischen Strukturen, denen sich der Schreibende bedient hatte, wahr (im Sinne von Perception) und es entsteht eine mentale Repräsentation. Die Strukturen sind der Person jedoch nicht bewusst zugänglich, da die Aufmerk‐ samkeit auf dem Inhalt des Textes liegt. Die Person könnte sich nun jedoch dazu entschließen, ihre Aufmerksamkeit willentlich auf die syntaktischen Strukturen des Textes zu lenken oder farbliche Hervorhebungen einiger syntaktischer Strukturen im Text könnten sie hierzu veranlassen. Die syntaktischen Strukturen würden somit von der Ebene der Perception auf die Ebene des Noticing gebracht werden und von der Person bemerkt werden. Die dritte Ebene Understanding ist eine noch höhere Stufe des Bewusstseins und beinhaltet z. B. das Wissen über die Grammatikregeln der bemerkten syntaktischen Strukturen im Text. Schmidt geht nun davon aus, dass für die Sprachaneignung vor allem Bewusstsein im Sinne des Noticing notwendig ist, damit Input weiterverarbeitet werden kann und zu Intake wird („intake is that part of the input that the learner notices”, Schmidt 1990: 139). Bewusstsein im Sinne von Understanding könne zwar eine unterstützende Funktion für die Sprachaneignung annehmen, stelle jedoch keine Voraussetzung dafür dar (Schmidt 2012: 32). Die Interaktionshypothese (u. a. Long 1996) betont die Relevanz interaktiver Aufga‐ ben für die Sprachentwicklung. Eine erfolgreiche Interaktion setzt voraus, dass man sein Gegenüber versteht und dass man auch selbst verstanden wird. Die Lernenden er‐ leben sich in der Interaktion einerseits als Rezipierende von Input, den es zu analysieren und zu verstehen gilt. Andererseits agieren sie selbst als Sprachproduzierende und müssen Output generieren, der für die Empfänger: innen verständlich ist. Bei Unver‐ ständlichkeit wird nonverbal und/ oder verbal (durch Nachfragen) reagiert und es muss eine sprachliche Modifizierung bzw. Vereinfachung vorgenommen werden. Der Input wird somit verständlicher. Während des Aushandelns der Bedeutungsunklarheiten ist die Aufmerksamkeit auch auf die Formseite der Sprache gelenkt, ohne jedoch den Fokus auf die Bedeutungsseite zu verlieren. 95 3.5 Zur Relevanz von Input, Output und Interaktion im L2-Erwerb <?page no="97"?> Zweifelsohne steckt in interaktiven Aufgaben und dem Aushandeln von Bedeutung sprachmotivierendes Potenzial (u. a. Pica et al. 1993; Pica 1994). Skehan & Foster (2001) geben allerdings zu bedenken: Der Ansatz der Bedeutungsaushandlung (“negotiation of meaning approach”, ebd.: 186) „leads to whatever use of form is necessary to get the job done, without automatic need to be correct, complete, or complex” (ebd.: 187). Es bedarf daher sprachanregender Aufgaben, die auch gezielt die Form mit in den Blick nehmen (s. Kap. 3.6 und Kap. 4.2). 3.6 Didaktische Implikationen Die vorangegangenen Teilkapitel haben die Relevanz von Input, Output und Interak‐ tion für den Spracherwerb herausgestellt. Input wird u. a. als Induktionsbasis zur Mustererkennung benötigt, Output u. a., um bei der Sprachproduktion Lücken oder zielsprachliche Abweichungen zu bemerken, und Interaktionen, um (motivierende) Gelegenheiten für Input und Output zu bieten. Eine gebrauchsbasierte Didaktik schafft (sich am natürlichen Erwerb orientierend) bedeutungsvolle Kontexte, in denen die Lernenden einerseits einen Input erhalten, der als Fundus taugt, um entweder Chunks in typischer Verwendung zu erleben und/ oder Form-/ Funktionszusammenhänge zu erkennen bzw. Regelhaftigkeiten zu extrahieren. Andererseits müssen die Lernenden dazu gebracht werden, selbst Out‐ put zu generieren. Dies kann in einem engen, gerade Spracherwerbsanfänger: innen Sicherheit gebenden Fragekorsett geschehen (vgl. Tab. 3.1), vor allem aber im Rahmen verschiedener Aufgabentypen (siehe Kap. 4.2) - Aufgaben, die einen mehr oder weniger großen Freiraum zur sprachlichen Ausgestaltung lassen und unterschiedliche Formen der Unterstützung bieten (siehe Aufgabe 6 zum Scaffolding am Ende des Kapitels). 96 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="98"?> 5 HOSS = Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (siehe Kap. 15). Tab. 3.1: Fragen zur gezielten Output-Generierung im HOSS 5 (Bischoff & Bryant 2020: 297) Ergänzend zu Tab. 3.1: „Mit den Elizitierungsfragen erhalten die Lernenden die Möglichkeit, memorierte Chunks abzurufen. Lernenden, für die die (a)-Fragen noch zu schwierig sind, benötigen, obgleich sie in konzeptueller Hinsicht die Antwort kennen, für deren Versprachlichung noch ein strukturelles Muster. Ein solches wird ihnen durch Alternativfragen gegeben (siehe die (b)-Fragen). Einerseits entlastet dieser Fragetyp mit seinen zwei Vorgaben in semantischer Hinsicht, andererseits macht er in struktureller Hinsicht eine fehlerfreie Repro‐ duktion wahrscheinlicher. Der korrekte Output wirkt sich wiederum begünsti‐ gend auf das Verinnerlichen der neuen Struktur aus. Zudem erhalten durch diese Fragetechnik alle Lernenden noch einmal den grammatisch und phonologisch korrekten Input“ (ebd.: 297). Die Interaktion wie auch die für den Lernerfolg mitentscheidende Motivation, sich überhaupt auf die Interaktion einzulassen, wird maßgeblich durch die Aufgabengestal‐ tung bestimmt. Ein passender gebrauchsorientierter, methodischer Ansatz wird mit dem Task-based language teaching (TBLT) in Kap. 4.2 vorgestellt. Wir konzentrieren uns abschließend auf die Gestaltung des Inputs, und zwar auf Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit der Lernenden auf bestimmte Zielstrukturen zu lenken. 97 3.6 Didaktische Implikationen <?page no="99"?> 6 Für einen Überblick über die input- und interaktionsfokussierte Spracherwerbsforschung siehe Kleinschmidt-Schinke (2020). 7 In Anlehnung an Dannenbauer (1994). Allein die mündliche Interaktion zwischen Lehrkraft und Lernenden bietet diesbe‐ züglich vielfältige Optionen. 6 Tab. 3.2: Proaktive Modellierungstechniken 7 im HOSS (Bischoff & Bryant 2020: 326) Eine Inspirationsquelle (für die Sprachtherapie wie auch für die Fremd-/ Zweitspra‐ chendidaktik) zur Gestaltung der an die Lernenden gerichteten Sprache stellt die leh‐ rende Sprache des Erstspracherwerbs dar (s. Kap. 3.1; im Erklär-Kasten zu ‚Anpassungen des Inputs im L1-Erwerb‘). Tab. 3.2 enthält eine Reihe proaktiver formfokussierender Modellierungstechniken, die sich insbesondere am Anfang des Zweit-/ Fremdsprachen‐ 98 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="100"?> 8 Für einen Transfer dieser Strategien in den sprachsensiblen Fachunterricht siehe Maiberger (2021). erwerbs zur handlungsbegleitenden Sprache eignen und die den Äußerungen der Lernenden vorausgehen bzw. den Lernenden Äußerungen entlocken sollen. Für die an die Lernenden gerichtete Sprache sollten sich Lehrkräfte sowohl proak‐ tiver formfokussierender Techniken (Tab. 3.2) wie auch reaktiver, auf die Lernenden‐ äußerungen unmittelbar reagierender Techniken (s. Feedbackstrategien in Tab. 3.3) bedienen. Korrektives Feedback Wenn L2-Lernende in die Interaktion mit anderen treten, kann sich dies positiv auf den Erwerb der Zielsprache auswirken. Denn in Kommunikationssituationen erhalten sie nicht nur positive Evidenz in Form von Input und somit ein Modell, was in der Zielsprache als grammatikalisch/ lexikalisch richtig und/ oder akzeptabel gelten kann, sondern gegebenenfalls auch negative Evidenz. Mit negativer Evidenz ist gemeint, dass Lernende durch die Reaktionen der Interaktionspartner: innen Informationen darüber erhalten, was in der Zielsprache nicht möglich ist, also grammatikalisch inkorrekt oder nicht akzeptabel ist (vgl. Long 1996: 413). Negative Evidenz wird in der L2-Forschung häufig auch als korrektives Feedback bezeichnet (vgl. Schoormann & Schlak 2012: 190) und kann verschiedene Reaktions‐ möglichkeiten auf die sprachliche Beschaffenheit einer Lernendenäußerung beinhal‐ ten. Lyster & Ranta (1997) arbeiteten auf der Grundlage empirischer Daten sechs mündliche korrektive Feedbackformen heraus. Diese „vorgeschlagene Typologie ist bis heute maßgebend“ (Schoormann & Schlak 2011: 49-50). Tab. 3.3 beinhaltet die sechs Feedbackstrategien jeweils mit einer Beschreibung und einem Beispiel. Die Beispiele beziehen sich auf die Äußerung eines Lernenden: Er gehte nach Hause (ebd.). Bei Reformulierungen (recasts) und expliziten Korrekturen (Zeile 1-2) erhalten Lernende neben impliziter bzw. expliziter negativer Evidenz zusätzlich positive Evidenz in Form von korrektem Input (vgl. Long 1996: 413). Bei den vier weiteren Strategien (Zeile 3-6), die als prompts zusammengefasst werden, wird Lernenden hingegen das zielsprachlich korrekte Modell vorenthalten und sie werden aufgefordert, sich selbst zu korrigieren. 8 Es gilt in der L2-Forschung mittlerweile als weitgehend akzeptiert, dass mündlich realisiertes korrektives Feedback einen positiven Effekt auf den Fremd-/ Zweitspra‐ chenerwerb haben kann (vgl. Schoormann & Schlak 2012: 172). 99 3.6 Didaktische Implikationen <?page no="101"?> Korrektives Feedback Beschreibung und Beispiel 1 recast (Reformulierung) Die implizite Feedbackform beinhaltet die Reformulierung einer als fehlerhaft betrachteten Lernenden-Äußerung durch die Lehrkraft, ohne dass diese explizit auf den Fehler hinweist (Lyster & Ranta 1997: 46-47). Er ging also nach Hause. Was hat er denn dort gemacht? 2 explicit correction (explizite Korrektur) Eine explizite Korrektur beinhaltet, dass die Lehrkraft deut‐ lich hervorhebt, dass die Äußerung nicht korrekt war. Dar‐ über hinaus gibt sie die richtige Form vor (Lyster & Ranta 1997: 46). Gehte ist nicht richtig. Es muss heißen, er ging nach Hause. 3 clarification request (Klärungsaufforderung) Bei einer Klärungsaufforderung gibt die Lehrkraft den Ler‐ nenden einen Hinweis, dass etwas missverständlich oder nicht korrekt war. Dies ist ein Feedback-Typ, der sich entwe‐ der auf Probleme bei der Verständlichkeit oder der Genauig‐ keit oder auf beides beziehen kann (Lyster & Ranta 1997: 47). Wie bitte? 4 repetition (Fehlerwiederholung) Bei einer Fehlerwiederholung wiederholt die Lehrkraft meist mit besonderer Betonung die inkorrekte Form, um so den Fehler hervorzuheben und eine Reformulierung durch den Lernenden anzuregen (Lyster & Ranta 1997: 48). Er gehte? 5 elicitation (Elizitierung) Eine Form von Elizitierung ist, dass die Lehrkraft in ihrer eigenen Äußerung eine Art Lücke lässt, die von der Lernen‐ den gefüllt werden muss. Davor kann sie auch einen Hinweis geben, was fehlerhaft war (Lyster & Ranta 1997: 48). Nicht er gehte, sondern er …? 6 metalinguistic feedback (metasprachliches Feed‐ back) Ein metasprachliches Feedback kann in Form einer Aussage oder Frage formuliert sein und gibt den Lernenden einen er‐ klärenden Hinweis, was zielsprachlich inkorrekt war (Lyster & Ranta 1997: 47-48). Es handelt sich bei dem Verb gehen um ein unregelmäßiges Verb. Handelt es sich bei dem Verb gehen um ein regelmäßiges Verb? Tab. 3.3: Feedbackstrategien Madlener-Charpentier & Behrens (im Druck) stellen das Spektrum formfokussierender Techniken auf einem Kontinuum (Abb. 3.1) von „implizit-minimalinvasiv“ (z. B. durch die Anreicherung des Inputs mit den Zielstrukturen = Inputflut) über Techniken der Hervorhebung der zielsprachlichen Strukturen (= Input Enhancement) bis hin zur expliziten Strukturvermittlung dar. Sie halten zwar explizit-bewusstmachende Techniken punktuell für sinnvoll, plädieren aber dafür, den Schwerpunkt auf impli‐ 100 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="102"?> 9 Siehe Madlener (2015: 2017) und auch Kap. 3.2. 10 Z. B. Dictogloss (Wajnryb 1990; Eckerth 2008). Bei diesem Aufgabentyp rekonstruieren Lernende gemeinsam einen zuvor gehörten Text und müssen dabei ihre Aufmerksamkeit auch auf die Form richten. Als Indikatoren für Aufmerksamkeit in kollaborativen Dialogen gelten Selbstkorrekturen, Fremdkorrekturen und Metasprache. Schumacher et al. (im Druck) berichten, wie Lernende auf B1-Niveau die Aufgabe mit einem Text, der mit den sogenannten Wechselpräpositionen angereichert (geflutet) wurde, bewältigen. zite formfokussierende Herangehensweisen zu legen, um „eine Verbesserung und Intensivierung des weitgehend unbewussten inzidentellen Lernens eben durch eine verbesserte Inputverarbeitung [zu] ermöglichen“ (ebd.). Wir erachten insbesondere für Lernende im Schulalter (und ältere) auch Phasen der expliziten Formfokussierung für ausgesprochen wichtig - eingebettet in bedeutungsvolle Kontexte, die Form-Be‐ deutungsbezüge erfahrbar machen, idealerweise integriert in Sequenzen, in denen Phasen impliziter und expliziter Formfokussierung sinnvoll aufeinander abgestimmt sind (siehe Kap. 4.2). Abb. 3.1: Optionen didaktischer Formfokussierung zwischen Aufmerksamkeitslenkung und Bewusst‐ machung (nach Madlener-Charpentier & Behrens, im Druck) Wir danken Eva-Larissa Maiberger für das Verfassen von Kap. 3.4, der beiden Erklär-Kästen zur Noticing- und zur Output-Hypothese in Kap. 3.5 und für den Absatz zum Korrektiven Feedback mit Tab. 3.3 in Kap. 3.6. 101 3.6 Didaktische Implikationen <?page no="103"?> Aufgaben 1.* Erklären Sie den Unterschied zwischen Zweitsprachenerwerb und Fremdspra‐ chenerwerb. 2.** Beschreiben Sie möglichst detailreich Ihre eigene Mehrsprachigkeit und gehen Sie auch darauf ein, wie sich diese über die Jahre verändert hat. Verwenden Sie in Ihrer Darstellung auch visualisierende Elemente (z. B. eine Sprachsilhouette oder einen Zeitstrahl). 3.** Warum ist es hilfreich, sich als (angehende) Lehrkraft mit der eigenen Mehr‐ sprachigkeit auseinanderzusetzen? Tauschen Sie sich über Ihre Reflexionen in der Seminargruppe aus. 4.** Welche der folgenden Verben gehören zum Konstruktionstyp [[NP Nom ] [V] [NP Dat ] [NP Akk ]] / ‚Übertragung eines Besitzverhältnisses‘? schenken, zeigen, bringen, schicken, vormachen, verkaufen, versprechen, geben, übergeben, überreichen, übertragen, erzählen, vermachen, vererben, anver‐ trauen Bilden Sie Kleingruppen (ca. 3 Personen) und überlegen Sie gemeinsam, welches Verb oder welche Verben prototypisch für diese Konstruktion sind. Nehmen Sie dann an, das Lernziel Ihres DaZ-Förderunterrichts ist die Sensibi‐ lisierung für das grammatische Muster der ditransitiven Verben vom benannten Konstruktionstyp: □ Welches Verb oder welche Verben wählen Sie aus, um die Implementierung einer soliden Ankerstruktur zu unterstützen? □ Wie sähe eine optimale Kombination von Wiederholung (Tokenfrequenz) und Variation (Typefrequenz) aus? □ Wie gestalten Sie die Typefrequenz im Laufe späterer Unterrichtssequenzen zum Konstruktionstyp? Diskutieren Sie anschließend Ihre Vorschläge mit einer weiteren Kleingruppe. 5.*** Welche Faktoren beeinflussen den L2-Erwerb? Lesen Sie Kersten (2020) und/ oder Bryant & Rinker (2021: 19-23). Auf welche der Faktoren können Sie als Lehrkraft (in spe) in welcher Weise Einfluss nehmen? 6.*** In Kap. 3.1 befindet sich ein Erklär-Kasten, der für den L1-Erwerb die Anpas‐ sungen der kindgerichteten Sprache an die kognitive und sprachliche Entwick‐ lung illustriert. Mit Unterstützung der Eltern erreichen die Kinder das jeweils nächstliegende Entwicklungsniveau. Wood, Bruner & Ross (1976) gebrauchen die Metapher Scaffolding (‚Gerüst‘) für elterliche Hilfestellungen, die Kinder in die Zone der proximalen Entwicklung (Wygotski 1964) führen. Sobald das Kind die Handlung selbstständig ausführen kann, wird das ‚Gerüst‘ wieder abgebaut. Gibbons (2002) greift die Metapher des Scaffolding für den Zweitspra‐ chenerwerb auf, um damit ein Unterstützungssystem im Fachunterricht zu 102 3 Spracherwerbstheoretische Grundlagen <?page no="104"?> bezeichnen (Kniffka 2010: 1). Lesen Sie zum Scaffolding-Konzept im Rahmen eines sprachsensiblen Fachunterrichts vertiefend Kniffka (2012) und diskutieren Sie anschließend in Kleingruppen (ca. 4 Personen), wie sich die Ausführungen von Kap. 3.6 in Bezug setzen lassen zum Konzept des Mikro-Scaffolding. 103 3.6 Didaktische Implikationen <?page no="106"?> 4 Sprachdidaktische Grundlagen Dieses Kapitel legt das sprachdidaktische Fundament für Teil II des Lehr- und Praxisbuches. Es vermittelt Einblicke in sprachdidaktische Fragestellungen, Handlungsoptionen und Modelle, die später für die performativen Zugänge und die ausgearbeiteten Beispielstunden relevant werden. Aktivierung In Abb. 4.1 ist eine mögliche Szene aus einer fiktiven Unterrichtsstunde für Deutschler‐ nende zu sehen. Die gestellte Aufgabe wirkt auf die Lernenden nicht allzu motivierend. Woran könnte das liegen? Abb. 4.1: Unterrichtsszene <?page no="107"?> Überlegen Sie zu zweit oder in Kleingruppen (3-4 Personen), wie unter Einbeziehung eines oder mehrerer Bilder: a. die Aufgabenstellung motivierender gestaltet werden könnte. b. verschiedene sprachliche Kompetenzbereiche gefördert werden könnten. c. eine Aufgabensequenz mit zunehmender sprachlicher Komplexität aussehen könnte. Tauschen Sie sich dann in neu gebildeten Kleingruppen aus oder tragen Sie Ihre Überlegungen im Plenum zusammen. **** Das didaktische Grundlagenkapitel besteht aus drei Teilkapiteln. Im ersten Teilkapitel (4.1) wird modelliert, wie inhalts- und prozessbezogene Kompetenzen im Fremd-/ Zweitsprachenunterricht miteinander zu verknüpfen sind, um im Anschluss daran die besonderen Potenziale eines performativen Unterrichts herauszustellen. Das zweite Teilkapitel (4.2) führt ein in den in der modernen Fremd-/ Zweitsprachendidaktik sehr populären Ansatz des Task-based language teaching (TBLT). Es präsentiert ein breites Spektrum an Aufgabentypen, betont die Relevanz von kommunikativer Sinnhaftigkeit einerseits und Formfokussierung andererseits und illustriert deren Zusammenführung an einer Aufgabensequenz mit performativen Elementen. Das dritte und letzte Teilkapitel (4.3) gibt bezugnehmend auf das ‚Nähe-Dis‐ tanz‘-Kommunikationsmodell von Koch & Oesterreicher (1985, 1997, 2007) Anregun‐ gen, wie im (performativen) Fremd-/ Zweitsprachenunterricht progressionssensibel Kontexte für einen situationsangemessenen Sprachgebrauch geschaffen werden kön‐ nen. 4.1 Kompetenzorientierung In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit den im DaZ-Unterricht zu fördernden Kompetenzen. Wir zeigen auf, wie ausgehend vom Thema und dem gewählten performativen Zugang verschiedene Kompetenzbereiche einbezogen werden, um ein ganzheitliches und synergetisches Sprachlernen zu ermöglichen - d. h. ein Sprachler‐ nen, bei dem stets mehrere Lernbereiche zusammenwirken. Bevor wir auf die DaZ-spezifischen Kompetenzen zu sprechen kommen, sei noch einmal kurz daran erinnert, wann und wodurch ausgelöst der Kompetenzbegriff im deutschen Bildungssystem Einzug hielt. Hierfür müssen wir auf dem Zeitstrahl keinen allzu langen Weg zurücklegen. Den Impuls zu einer grundlegenden Veränderung und Neuausrichtung im deutschen Bildungssystem gab das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der ersten internationalen Vergleichsstudie PISA im Jahr 2000. Danach fand ein Umdenken in der Bildungspolitik statt. Hatte man in den Lehrplänen bislang zu vermittelnde Inhalte vorgegeben (= Input), formulierte man nun Kompe‐ tenzen, die die Schüler: innen erwerben sollten (= Outcome) (Budde et al. 2012: 19). 106 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="108"?> Figurativ gesprochen wurde damit im Bildungssystem ein Schalter umgelegt, und zwar „von der Inputzur Outcome-Orientierung“ (ebd.). Mit der Kompetenzorientierung rückten Anwendbarkeit und Übertragbarkeit von Gelerntem stärker in den Vordergrund. Der Psychologe Franz E. Weinert definiert Kompetenzen als die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (2001: 27) Inzwischen wurde der Kompetenzbegriff noch weiter ausdifferenziert. Man unterschei‐ det zwischen prozessbezogenen und inhaltsbezogenen Kompetenzen. Prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen Prozessbezogene Kompetenzen beziehen sich auf allgemeine, das jeweilige Fach betreffende, nicht an bestimmte Inhalte gebundene Kompetenzen, die sich über die gesamte Schullaufbahn weiterentwickeln; inhaltsbezogene Kompetenzen beziehen sich auf konkrete Inhalte und beschreiben die erwarteten fachlichen Kompetenzen für die jeweiligen Stufen [https: / / km-bw.de/ , 03.12.2021]. Die entsprechenden Kompetenzen sind also fachspezifisch festgelegt. Beispiels‐ weise würde im Mathematikunterricht der Grundschule das Lösen von Aufgaben der vier Grundrechenarten zu den inhaltsbezogenen Kompetenzen zählen. Die Fähigkeiten des Überprüfens von Ergebnissen und des Bewertens verschiedener Lösungswege (u. a. bei Aufgaben der vier Grundrechenarten) gehören dagegen zu den prozessbezogenen Kompetenzen, da bei ihnen erwartet wird, dass sie im Verlauf höherer Jahrgangsstufen im Zuge der Bearbeitung anspruchsvollerer Inhalte weiter ausgebaut und verbessert werden. Das Beispiel macht auch deutlich, dass inhalts- und prozessbezogene Kompetenzen nicht isoliert voneinander erworben und gefördert werden können, sondern aufeinander abzustimmen sind. Abbildung 4.2 gibt spezifiziert für dieses Lehr- und Praxisbuch einen Überblick der im DaZ-Kontext relevanten und zu fördernden Kompetenzen. Um Schüler: innen, die erst im Schulalter mit der deutschen Sprache in Kontakt gekommen sind, oder Schüler: innen nichtdeutscher Herkunftssprachen, die zwar in Deutschland aufgewachsen sind, aber in der Unterrichtssprache Deutsch Sprachför‐ derbedarf haben, an die sprachlichen Anforderungen des Regelunterrichts heranzu‐ führen, bedarf es ebenfalls eines kompetenzorientierten Unterrichts. Dieser sollte optimalerweise bei der Bearbeitung eines bestimmten Themas prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen aufeinander abgestimmt in den Blick nehmen und (den Entwicklungsstand der Lernenden berücksichtigend) zusammenführen. Die für den 107 4.1 Kompetenzorientierung <?page no="109"?> 1 Es handelt sich um eine stark modifizierte und erweiterte Version einer Grafik aus dem Baden-Würt‐ tembergischen Curriculum Deutsch im Kontext von Mehrsprachigkeit (S. 6), die nach einer Vorlage aus dem Bildungsplan BW 2016 Deutsch Sekundarstufe I (S. 5) entstanden ist. Zweitsprachenerwerb relevanten prozessbezogenen Kompetenzen (man spricht auch von Teilfertigkeiten) sind: ■ Hör-/ Hörsehverstehen ■ Sprechen ■ Lesen/ Leseverstehen ■ Schreiben Die inhaltsbezogenen Kompetenzen zielen auf den Sprachgebrauch und die Sprachre‐ flexion und schließen auch den Umgang mit Medien, Texten und Operatoren mit ein. Wie lassen sich nun aber im DaZ-Unterricht prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen in Beziehung zueinander setzen? Dies sei mit Hilfe der Abb. 4.2 kurz illustriert: Abb. 4.2: Prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen für DaZ 1 In das weiße Themen-Feld des Schaubildes lässt sich jedes dem Sprachentwicklungs‐ stand und der Jahrgangsstufe angemessene Stundenthema einfügen (z. B. Schule, Ta‐ gesablauf, Einkaufen, Familie, Tiere im Zoo, Personenbeschreibung, Fahrradreparatur, Bundestagswahl). Ausgehend vom Thema und zunächst im Bereich der inhaltsbezoge‐ 108 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="110"?> nen Kompetenzen bleibend, wird im nächsten Schritt überlegt: Welche sprachlichen Mittel sind für die Bearbeitung dieses Themas relevant? Beispielsweise für das Thema Tagesablauf: Temporaladverbiale (am Morgen, mittags etc.); für Personenbeschreibung: Adjektive (groß, stattlich etc.). Welche sprachlichen Mittel sollten also eingeführt und geübt werden? Und welche (dis-/ kontinuierliche) Textform erweist sich unter Berücksichtigung des aktuellen Sprachniveaus als besonders geeignet? Zum Beispiel für das Thema Schule: Stundenplan; Einkaufen: Einkaufsliste; Tagesablauf: Tagebuch‐ eintrag; Personenbeschreibung: Steckbrief (vgl. Curriculum Deutsch im Kontext von Mehrsprachigkeit, Baden-Württemberg, 2019: 5). Anschließend gilt es zu überlegen, welche der prozessbezogenen Kompetenzen (Hören, Hörsehverstehen, Sprechen, Lesen, Leseverstehen, Schreiben) bei der The‐ menbearbeitung in welcher Weise einbezogen werden sollten. Idealerweise werden inhaltsbezogene Kompetenzen (ein konkretes Thema mit spezifischem Wortschatz, be‐ stimmte grammatische Mittel und/ oder eine bestimmte Textsorte) unter Einbeziehung mehrerer prozessbezogener Kompetenzen erarbeitet, geübt, gefestigt und erweitert. Hierbei sollten die rezeptiven Kompetenzen (Hören, Lesen) den produktiven (Sprechen, Schreiben) vorausgehen (ebd.: 5). Welche der Kompetenzen in einer Unterrichtseinheit gefördert werden, ist also ab‐ hängig von einer Vielzahl von Faktoren. Dabei hat der gewählte (zum Thema passende) performative Zugang einen maßgeblichen Einfluss auf diese Entscheidung und auf die konkrete Ausgestaltung und Verknüpfung einzelner Kompetenzbereiche. Auf der rechten Seite von Abb. 4.3 sind alle in diesem Lehr- und Praxisbuch vorgestellten performativen Zugänge in einer zufälligen Abfolge aufgelistet. Abb. 4.3: Zusammenhang von Thema, performativem Zugang und Kompetenzbereichen Der Zusammenhang von Thema, performativem Zugang und Kompetenzbereichen sei im Folgenden kurz veranschaulicht - beginnend mit dem Einfluss des performativen Zugangs auf die prozessbezogenen Kompetenzen: 109 4.1 Kompetenzorientierung <?page no="111"?> Angenommen das Thema der Unterrichtseinheit oder der Doppelstunde wäre ‚Märchen‘, dann könnte man sich diesem beispielsweise durch emotionsauslösende, zum Sprechen anregende Bilder nähern (Kap. 5) oder über die Erzählkunst und hierfür, um das Sprachverstehen zu unterstützen, das japanische Bildertheater Kamishibai einsetzen (Kap. 6). Bei beiden performativen Zugängen liegt der Förderschwerpunkt auf den prozessbezogenen Kompetenzen medialer Mündlichkeit (Hören, Hörsehver‐ stehen, Sprechen). Die mediale Schriftlichkeit (Lesen, Leseverstehen, Schreiben) ist zwar bei diesen Zugängen nachgeordnet, kann und sollte aber (je nach Fortschritt im Alphabetisierungsprozess bzw. im Zweitschrifterwerb) mit spezifischen Aufgaben einbezogen werden. Will man als Lehrkraft bei der Behandlung des Themas ‚Märchen‘ dagegen die mediale Schriftlichkeit fokussieren, dann bieten sich beispielsweise die performativen Zugänge des Vorlesetheaters (Kap. 8) oder des performativ-ästhetische Dimensionen integrierenden generativen Schreibens an (Kap. 9). Auch hier gilt - wie zuvor (nur komplementär) -, dass auch Fertigkeiten medialer Mündlichkeit bean‐ sprucht werden, beispielsweise bei den mündlichen Absprachen und dem Aushandeln einzelner Beiträge in Vorbereitung auf die jeweiligen Präsentationsphasen. Jedes Thema, jeder Text (so auch ein Märchen) lässt sich darüber hinaus nutzen, um grammatische Strukturen in ihrer Funktion erfahrbar zu machen und den inhalts‐ bezogenen Kompetenzbereich Sprachgebrauch/ Sprachreflexion zu stärken. Für einen performativen Grammatikzugang eignet sich die Methode der Dramagrammatik in besonderer Weise (Kap.17 bis 21). Auch hier wird darauf geachtet, alle Teilfertigkeiten einzubeziehen. Die Lehrkräfte haben also durch die Wahl des performativen Zugangs die Möglich‐ keit, bestimmte prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzbereiche in verstärk‐ tem Maße zu fördern, ohne die anderen Bereiche dabei unberücksichtigt zu lassen. Die Kombination von Fokussierung bei gleichzeitiger Integration der übrigen Kom‐ petenzbereiche ist im Rahmen von performativen Zugängen gut umsetzbar, sie ist jedoch nicht etwas, das performative Lehr-Lern-Arrangements in spezifischer Weise auszeichnet. Ein Herausstellungsmerkmal lässt sich dagegen in Bezug auf den Einsatz von Medien - neben Sprachgebrauch/ Sprachreflexion ein weiterer Bereich inhaltbezo‐ gener Kompetenzen - ausmachen. Um die Besonderheit nachzuvollziehen, müssen wir genauer verstehen, was der Begriff Medien bedeutet bzw. worauf er sich im Unterricht beziehen kann. Mit dem Begriff Medien werden im Bildungskontext meist elektronische und digitale Medien assoziiert. Ein Medium ist aber zunächst einmal nur ein „vermittelndes Element“ (Fremdwörterduden 2013: 857). Bezogen auf Kommunikation steht der Begriff Medium damit sowohl für dem Menschen inhärente Vermittlungsinstanzen als auch für technische Hilfsmittel zur Übertragung von Botschaften (Pürer 2014: 68, nach Burkart 1998). „Menschliche Kommunikation zeichnet sich durch eine Vielfalt immaterieller wie materieller Vermittlungsformen und -möglichkeiten aus“ (ebd.). Ein Versuch, diese Vielfalt zu klassifizieren, stammt von Pross (1972), der zwischen primären, sekundären und tertiären Medien unterscheidet. 110 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="112"?> Typologie der Medien Primäre Medien sind die Medien des menschlichen Elementarkontaktes. Dazu gehören die Sprache sowie nichtsprachliche Vermittlungsinstanzen wie Mimik, Gestik, Körperhaltung, Blickkontakt etc. Diese originären Medien teilen die Ge‐ meinsamkeit, dass der Körper bzw. die Sinne des Menschen zur Produktion, zum Transport und zur Wahrnehmung der Inhalte ausreichen. Es bedarf keiner zusätzlichen Geräte für das Aussenden oder Empfangen der Botschaften. Sekundäre Medien erfordern auf der Produktionsseite technische Geräte, nicht aber bei den Empfänger: innen zur Aufnahme der Mitteilung. Hierunter fallen schriftliche Mitteilungen (z. B. Schilder in der Öffentlichkeit, Einkaufsliste, Brief), Druckmedien (Zeitung, Buch, Flugblatt, Plakat) und andere Formen materieller Übertragung (Bilder, Grafiken, Fotos). Tertiäre Medien erfordern sowohl auf Seiten der Senderin (zur Produktion und Übermittlung) als auch auf Seiten des Empfängers (zur Rezeption) technische Mittel. Hierzu gehören die Telekommunikation, die elektronischen Massenmedien (TV, Radio) sowie Film, Video, Hörspiel etc. Bei computergestützter Kommunika‐ tion käme zudem noch die Notwendigkeit einer Onlineverbindung hinzu. (in Anlehnung an Pürer 2014: 68-69, nach Pross 1972) Häufig werden heute auch noch viertens die quartären Medien unterschieden, um der Besonderheit der computergestützten Kommunikation, den ‚neuen‘ Medien, durch die Abgrenzung eines eigenen Typs gerecht zu werden. Bei den Quartärme‐ dien (Computer, E-Mail, Chat, Internet, Intranet, Multimedia, Smartphone etc.) kommt Technik auch bei der digitalen Distribution zum Einsatz. Dadurch wird es möglich, Informationen noch sehr viel schneller zu verbreiten und sowohl synchron als auch asynchron zu kommunizieren (vgl. Faulstich 2004, nach Faßler 1997). Generell ist zu beachten, dass auch jegliche Medien, die technische Mittel involvieren, auf der Ebene der Endgeräte von den kommunizierenden Menschen über den Körper bzw. die Sinne bedient und erschlossen werden müssen. Bereits Pross betont die Relevanz der primären Medien, wenn er herausstellt: Alle menschliche Kommunikation beginnt in der primären Gruppe, in der sich die einzelnen von Angesicht zu Angesicht leiblich und unmittelbar befinden, und alle Kommunikation kehrt dorthin zurück. Der Ausdruck des Körpers und der Gliedmaßen, Ausdrucksmöglich‐ keiten von Auge, Stirn, Mund, Nase, der Kopfhaltung und Schulterbewegung, Bewegungen von Ober- und Unterleib, Armen und Händen verwandeln die menschliche Fähigkeit zu differenzierter Bewegung in Mitteilungen für andere. (Pross 1972: 128) Das Besondere performativer Zugänge zu DaZ ist, dass in ihrem Rahmen vordergrün‐ dig (aber nicht ausschließlich) die Medien des menschlichen Elementarkontaktes gezielt eingesetzt werden. Ziel ist es - mit Bezugnahme auf kognitionstheoretische Er‐ 111 4.1 Kompetenzorientierung <?page no="113"?> kenntnisse (siehe Kap. 2) -, Gelegenheiten zu bieten, Sprache mit dem Körper und allen Sinnen zu erwerben und so auch Sprachanfänger: innen zur Kommunikation zu verhel‐ fen. Performative Zugänge setzen sozusagen beim Elementaren an, stärken und nutzen diese Dimension, um den Lernenden zu ermöglichen, u. a. vermittelt durch Mimik und Gestik auf bereits (mit der L1) angelegte Konzepte/ Begriffe zuzugreifen und diese mit dem L2-Ausdruck zu verknüpfen. Sprachliches Lernen wird auf diese Weise auch mit einem ‚primärmedialen‘ Lernen verbunden, wenn DaZ-Schüler: innen im Kontext des Unterrichts ihr originäres (menschliches) Ausdrucksrepertoire selbstwirksam erleben, ggf. ausbauen und individuell zu nutzen lernen. Performative Zugänge zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass im Rahmen der Verstärkung der elementaren Dimension durch den Einsatz verschiedener Darstellungs- und Inszenierungsformen sprachliches Lernen integrativ mit Impulsen für ästhetisches Lernen verknüpft werden kann. Neben den primären Medien und darauf basierender kreativer Gestaltungsformen (z. B. eine sprechende Statue oder eine inszenierte Debatte) spielen bei einigen performativen Zugängen des Lehrbuchs darüber hinaus Objekte und Bilder eine zentrale Rolle - einerseits als ästhetische, zum Austausch anregende Impulsgeber und andererseits zur Unterstützung des Sprachverstehens; mit letztgenannter Funk‐ tion beispielsweise im Handlungsorientierten Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS; siehe Kap. 15). Mit Hilfe von realen Objekten und Handlungsgesten wird hier der Ablauf einer Handlung im Rahmen der Handlungsplanung zunächst mental simuliert, im Anschluss daran mit Hilfe von Bildern in die Schriftsprache überführt, dann sprachbegleitend körperlich ausagiert und abschließend erneut mit Hilfe von Bildern schriftsprachlich reflektiert. In Bezug auf den Kompetenzbereich Medien/ Intermedialität besteht die Herausfor‐ derung für die im Deutscherwerb noch am Anfang stehenden Lernenden generell darin, die Verknüpfungen von Objekten, Gesten, Handlungen mit lautsprachlichen Formen herzustellen und vermittelt durch Bilder auf die Schriftsprache zu übertragen. In Abb. 4.4 ist exemplarisch für die in Kap. 15 vorgestellte HOSS-Beispielstunde dargestellt, welche inhaltsbezogenen und prozessbezogenen Kompetenzen gefördert werden. Es wird auf einen Blick deutlich, dass ausgehend vom Thema, dem Herstellen eines Handlungsprodukts (hier: Gurkenscheiben mit Salz), alle Kompetenzbereiche involviert und dem Sprachentwicklungsstand angemessen beansprucht sind. Nachdem wir in diesem Abschnitt auf allgemeine Aspekte eines kompetenzorientier‐ ten DaZ-Unterrichts eingegangen sind und darüber hinaus (insbesondere die Medien betreffend) Spezifika für performative Zugänge zu DaZ herausgestellt haben, wenden wir uns nun dem Task-based language teaching (TBLT) zu - einem methodischen Ansatz der Fremd-/ Zweitsprachendidaktik. Auch hier folgt der Darstellungsweg der eingeschlagenen Route - vom Allgemeinen zum Performativen, d. h. von allgemeinen Grundsätzen der Methode und der Aufgabenkonzeption hin zur performativen Ausge‐ staltung der Aufgaben. 112 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="114"?> 2 Eigentlich zu übersetzen als ‚Aufgabenorientierung‘. Die Verwendung des Begriffs ‚Task‘ wird auf der nächsten Seite motiviert. Abb. 4.4: Geförderte Kompetenzen in einer HOSS-Doppelstunde zum Thema Herstellen eines Hand‐ lungsprodukts (hier: Gurkenscheiben mit Salz), konzipiert für Schüler: innen einer Vorbereitungsklasse mit geringen Deutschkenntnissen (siehe Kap. 15) 4.2 Taskorientierung 2 Ein mit der gebrauchsgestützten Spracherwerbskonzeption (siehe Kap. 3) kompatibler fremd-/ zweitsprachendidaktischer Ansatz ist das Task-based language teaching (TBLT). Wie Jane Willis - selbst Fremdsprachlehrerin und Mitentwicklerin von TBLT - es formuliert, müssen, um eine Sprache effizient zu lernen, mindestens die folgenden drei Bedingungen erfüllt sein (1996: 11): 1. Exposure to a rich but comprehensible input of real spoken and written language in use 2. Use of the language to do things (i.e. exchange meanings) 3. Motivation to listen and read the language to speak and write it (i.e. to process and use the exposure) 113 4.2 Taskorientierung <?page no="115"?> 3 In der englischsprachigen Fachliteratur findet sich für diese im damaligen Fremdsprachenunterricht typische Vorgehensweise die Abkürzung PPP (Present-Practice-Produce = ‚Präsentieren-Praktizie‐ ren-Produzieren‘) (u. a. van den Branden, Bygate & Norris 2009: 4). Als zusätzlich wünschenswert, fügt sie noch eine vierte Bedingung hinzu, die wir im Rahmen dieses Lehr- und Praxisbuches als ebenfalls notwendig für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb erachten: 4. Instruction in language (i. e. chances to focus on form) Da sich in den in Teil II des Lehr- und Praxisbuches präsentierten performativen Ansätzen und deren Beispielstunden einige der Leitgedanken des TBLT widerspiegeln, soll dieser Ansatz hier kurz vorgestellt werden. Verortung von TBLT in der Fremd-/ Zweitsprachendidaktik TBLT hat sich aus dem kommunikativen Ansatz heraus entwickelt, der sich Mitte der 1970er Jahre als Gegenentwurf zur vorherrschenden strukturorientierten Lehrpraxis präsentierte. Die 1950er und 60er Jahre standen unter dem Einfluss behavioristischer Lerntheorien. Man glaubte, eine Sprache lernen zu können, indem man in einer bestimmten Abfolge ausgewählte Strukturen präsentiert, zu kontextlosen Übungen animiert (Pattern Drill) und dann in konstruierten Dialogen die Anwendung der im Fokus stehenden Struktur einfordert. 3 Da man so nicht zur sprachlichen Handlungsfähigkeit gelangt, wurde die Kritik gegen diese Sprachvermittlung zunehmend lauter. Aufgrund der Unzufriedenheit mit der Methode und zusätzlich vorangetrieben durch wissenschaftstheoretische Umbrü‐ che (in der Linguistik, in der Spracherwerbsforschung und in der Pädagogik) kam es in der Fremd-/ Zweitsprachendidaktik zu einer Wende, die nun das andere Extrem hervorbrachte: eine Hinwendung zur Kommunikation mit (nahezu ausschließlichem) Fokus auf die Bedeutungsseite von Sprache bei gleichzeitiger Abkehr von einer bewussten Auseinandersetzung mit Grammatik, mit sprachlichen Formen. Man ging davon aus, dass sich die implizite Sprachaneignung erstspracherwerbender Kinder im kommunikationsorientierten Klassenraum simulieren ließe und somit auf eine explizite Vermittlung von sprachlichen Formen verzichtet werden könne. Allerdings hatte man damals weder eine Vorstellung von der nötigen Quantität und Qualität des Inputs als Induktionsbasis für implizites Lernen, noch waren die Potenziale von Aufmerksamkeitslenkung oder die Vorteile expliziten Lernens hinreichend bekannt (siehe Kap. 3). 114 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="116"?> 4 In welchem Umfang, in welcher Weise und an welcher Stelle im Lehr-Lern-Prozess sprachliche Formen Berücksichtigung finden, variiert jedoch sehr stark unter den TBLT-Anhänger: innen. Insbesondere in den ersten Dekaden dominierte die Auffassung, man solle sprachliche Formen nur dann thematisieren, wenn sich im Zuge des Bearbeitens einer bedeutungsorientierten Aufgabe bei den Lernenden ein entsprechender Bedarf einstelle (u. a. Long & Crookes 1992). Inzwischen ist es üblich, bereits in der Aufgabenkonzeption bestimmte Zielstrukturen festzulegen und diese im Verlauf des Aufgabenzyklus in den Aufmerksamkeitsfokus der Lernenden zu rücken, an geeigneten Stellen einzufordern und ggf. metasprachlich zu reflektieren und zu üben (u. a. Willis & Willis 2007; Ellis & Shintani 2013). Ob die Formfokussierung primär in der vorbereitenden Phase (Pre-Task) stattfinden sollte (Skehan 1998), ob damit besser bis zur Nachbereitung (Post-Task) gewartet werden sollte (Willis 1996) oder man die Formfokussierung grundsätzlich in allen Phasen zulassen könne (Ellis 2003), wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Mit Niemeier (2017) liegt inzwischen sogar eine didaktische Anleitung vor, TBLT gezielt für die Grammatikvermittlung (ausgearbeitet für die Fremdsprache Englisch) einzusetzen. Dieser Ansatz geht dann also vom grammatischen Phänomen aus und gestaltet dazu eine funktional passende, kommunikative Aufgabe. 5 In der englischsprachigen Fachliteratur gebraucht man für die zwei Extreme die Begriffe focus on forms (FoFs) und focus on meaning (FoM) und für den vermittelnden Weg focus on form (FoF) (Long 1991) (siehe auch Kap. 17). 6 Gemeint ist die Entwicklung der Lerner: innensprache (der Interimssprache, engl. Interlanguage (Selinker 1972)). Skehan & Foster (2001) weisen auf die Gefahr hin, dass es bei fehlender Formfokus‐ sierung zu einer Stagnation der Sprachentwicklung kommen kann. Sie sprechen von „comfortable fossilisation“ (ebd.: 184), wenn Lernende einen Sprachstand erreicht haben, der sie kommunikative Ziele (irgendwie) erreichen lässt. TBLT hat sich im kommunikativen, bedeutungsorientierten Spektrum entwickelt, berücksichtigt aber auch die Formseite der Sprache. 4 Damit hat TBLT einen vermit‐ telnden Kurs zwischen den zwei zuvor skizzierten Extremen eingeschlagen. 5 Task-based language teaching (TBLT) Task-based language teaching aims to develop learners’ communicative competence by engaging them in meaning-focused communication through the performance of tasks. […] It also aims to develop learners’ linguistic competence (i. e. to help them acquire new language) and their interactional competence (i. e. their ability to use the target language to participate in discourse). A key principle of TBLT is that even though learners are primarily concerned with constructing and comprehending messages, they also need to attend to form for learning to take place. (Ellis & Shintani 2014: 135) Der aufgabenorientierte Sprachunterricht zielt darauf ab, die kommunikative Kompetenz der Lernenden zu entwickeln, indem man die Lernenden durch die Ausführung von Aufgaben in eine sinnorientierte Kommunikation einbindet. […] Er zielt auch darauf ab, die sprachliche Kompetenz der Lernenden zu fördern (d. h. ihnen beim Erwerb einer neuen Sprache zu helfen) und ihre interaktionelle Kompetenz (d. h. ihre Fähigkeit, die Zielsprache zur Teilnahme am Diskurs zu verwenden) zu entwickeln. Ein Schlüsselprin‐ zip von TBLT ist, dass die Lernenden, obwohl sie in erster Linie mit der Konstruktion und dem Verstehen von Botschaften/ Informationen beschäftigt sind, auch auf die Form achten müssen, damit Lernen stattfinden kann. 6 (Eigene Übersetzung) 115 4.2 Taskorientierung <?page no="117"?> 7 Wir gebrauchen das englische Wort Task (laut Online-DUDEN die oder der Task, Plural: die Tasks), um auf die Art von Aufgaben Bezug zu nehmen, wie sie im TBLT Verwendung finden. Zum Begriff ‚Task‘ Was ist nun aber unter dem der Methode den Namen gebenden Begriff ‚Task‘ 7 zu verstehen? Im Rahmen von TBLT wird mit ‚Task‘ auf strukturierte Aktivitäten Bezug genommen, bei denen die Lernenden die Zielsprache verwenden, um durch sprachliches Handeln ein bestimmtes (außersprachliches) Ziel zu erreichen. Innerhalb einer Task wird auf ein Ergebnis (Outcome) hingearbeitet. Dies kann der Kauf eines Bahntickets sein, das Verfassen einer Weihnachtskarte für die Gastfamilie, die Erstel‐ lung eines Familienstammbaums, der Vergleich zweier Backrezepte, das Schreiben einer Einkaufsliste, das Einrichten eines Zimmers, die Gestaltung eines Stundenplans, ein Ereignisbericht für diejenigen, die nicht dabei waren, das Lösen eines Kriminalfalls, eine Streitschlichtung, eine Terminfindung zwischen mehreren Personen usw. Task Im TBLT-Ansatz ist eine Task eine in kommunikativer Hinsicht sinnhafte Aufgabe mit lebensweltlichem Bezug, die die Lernenden motivieren soll, sich für das Erreichen des anvisierten Ziels mit den ihnen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten zu engagieren und dabei in der Interaktion (Unterstützungsangebote annehmend) idealerweise sprachlich ein Stück über sich hinauswachsen. Sprachpraxisübungen ohne kreative Gestaltungsoptionen oder isolierte Grammatik‐ übungen fallen somit nicht unter den Begriff Task. Auch Bildbeschreibungsaktivitäten, bei denen die Lernenden Sätze zum Bild überlegen, die sie dann mit der Banknachbarin austauschen sollen (erinnere die Aktivierungsaufgabe zu Beginn von Kap. 4), sind aus pragmatischer Sicht für die Gesprächspartner: innen sinnlos, da sie ja beide das Bild kennen und somit keinen (außersprachlichen) Gewinn aus dem Gespräch ziehen. Aktivitäten ohne Outcome werden im TBLT-Ansatz nicht als Task bezeichnet (Willis 1996: 24). Tasks können - wie die oben aufgelisteten Beispiele bereits erkennen lassen - hinsichtlich der Anzahl der involvierten Teilschritte und in Bezug auf den kognitiven und sprachlichen Anspruch von sehr unterschiedlicher Komplexität sein und sind dem Entwicklungsstand der Lernenden entsprechend zu konzipieren. Idealerweise bauen mehrere Tasks aufeinander auf: z. B. (i) das Organisieren einer Abstimmung über einen zu backenden Muffintyp für die letzte Schulstunde vor den Ferien (Schokomuffins, Apfel-Zimt-Muffins, Blaubeermuffins, …? ), (ii) das Recherchieren nach Rezepten, (iii) der Vergleich von Rezepten der engeren Auswahl, (iv) das Schreiben einer Einkaufsliste, usw. Jede der eben genannten Tasks steht einerseits für sich und sollte vor- und nachbereitet werden (siehe Taskzyklus unten), ist aber auch gleichzeitig Teil einer Tasksequenz. 116 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="118"?> Task: Definitionskriterien Ellis (2003) extrahiert aus den zahlreichen vorliegenden Definitionen folgende vier Kriterien, um eine didaktische Aktivität als Task zu bezeichnen: 1. Der Hauptfokus liegt auf der ‚Bedeutung‘, d. h. die Lernenden sollten haupt‐ sächlich mit dem Kodieren und Dekodieren von Bedeutungsinhalten beschäf‐ tigt sein und nicht in erster Linie mit linguistischen Formen. 2. Es gibt ein außerlinguistisches Ziel, das mit dem Einsatz sprachlicher Mittel erreicht werden soll. 3. Es sollte eine Art ‚Lücke‘ (gap) vorhanden sein, damit für die Lernenden eine Notwendigkeit zum kommunikativen Austausch besteht 4. Die Lernenden sollten die Aktivität weitgehend mit ihren eigenen (sprachli‐ chen und nicht sprachlichen) Ressourcen unter Berücksichtigung von im Input enthaltenen relevanten Informationen bewältigen. (Ellis & Shintani 2014: 135-136) Zu den Kriterien, die eine Aufgabe als Task qualifizieren, gehört auch ein Grund oder die Notwendigkeit zu kommunizieren. Die Lernenden müssen das Bedürfnis bzw. die Gelegenheit haben, im Rahmen der Aktivität eine ‚Lücke‘ (gap) zu schließen. Prabhu (1987) unterscheidet nach dem Typ der Lücke drei Taskkategorien: (i) information-gap activities, (ii) opinion-gap activities, (iii) reasoning-gap activities. In (i) geht es zum einen darum, Informationen zu beschaffen, aber vor allem darum, Informationen zu teilen, wobei verschiedene Settings möglich sind. So kann nur eine Person über bestimmte Informationen verfügen, die es zu kommunizieren gilt, oder mehrere Personen haben unterschiedliche Informationen, die zusammengeführt werden müssen, um die Aufgabe zu lösen. Die Kategorie (ii) umfasst den Austausch von Präferenzen, Gefühlen, Einstellungen, Meinungen in Bezug auf eine bestimmte Situation. In Tasks der Kategorie (iii) sollen die Lernenden auf der Basis gegebener Informationen eigene Schlussfolgerungen ziehen und so zu neuen Erkenntnissen gelangen (Ellis & Shintani 2014: 138). Aus der performativen Perspektive lässt sich den drei Kategorien von Prabhu mindestens noch eine weitere hinzufügen, und zwar die Kategorie (iv) für creativity-gap activities. Denn auch ein miteinander Kreativsein schafft vielfältige Gelegenheiten und Bedürfnisse zur Kommunikation. Man denke z. B. an die Task, einen poetischen/ li‐ terarischen Text oder ein allen Schüler: innen bekanntes Märchenmotiv ästhetisch unterschiedlich zu gestalten und dafür in verschiedenen Gruppen zu arbeiten. Inner‐ halb der künstlerischen Prozesse in den Gruppen bedarf es zur Aushandlung der Gestaltung auch sprachlicher Kommunikation. Stellen sich die Gruppen später ihre kreativen Ideen gegenseitig vor, wird bei den Rezipient: innen auf natürliche Weise Neugier geweckt (Wie haben die anderen den Text gestaltet? ) und sehr wahrscheinlich 117 4.2 Taskorientierung <?page no="119"?> 8 Willis & Willis (2007) führen die folgenden sieben Tasktypen auf: Listing, Ordering and sorting, Matching, Comparing, Problem solving, Sharing personal experience, Projects and creative tasks. auch Motivation, im Anschluss reflektierend ins Gespräch zu kommen - sei es, um Feedback zu erhalten oder Feedback zu geben. Bei der Taskfindung geht man üblicherweise vom Thema aus. Tasks können so auch die Arbeit mit einem Kursbuch ergänzen und den Unterricht auflockern und motivierender gestalten. Zu jedem Thema (z. B. Essen und Trinken, Familie, Wohnung, Jahreszeiten, Feiertage, Einkaufen, Klima und Umwelt, Berufe, Hauptstädte, …) bieten sich immer eine Reihe von Taskoptionen an. Willis & Willis (2007) geben einen hilfreichen Überblick über sieben verschiedene Tasktypen, die wir (mit Blick auf den performativen Fokus des Lehrbuchs) um drei Typen erweitert haben (vgl. Abb. 4.5). Abb. 4.5: Taxonomie von Tasktypen im TBLT-Ansatz (in Anlehnung an Willis & Willis 2007: 108) 8 Die Taxonomie soll nur eine erste Orientierung bieten - weder wird Vollständigkeit beansprucht, noch sind bei der konkreten Realisierung von Tasks Überschneidungen von Tasktypen auszuschließen. Einige der Tasktypen sind weniger komplex (z. B. Auflisten) und lassen sich oft sinnvoll in einer bestimmten Abfolge mit anderen Task‐ typen kombinieren. Beispielsweise kann das Auflisten (das Sammeln) von Elementen dem Ordnen (z. B. sequenzieren, klassifizieren) oder dem Gestalten (z. B. anordnen, zusammenstellen) vorausgehen. Die Tasktypen Auflisten und Ordnen können wie‐ derum dem Typ Probleme lösen zuarbeiten, wenn es z. B. darum geht, Argumente zu sammeln und zu gewichten, um eine Debatte vorzubereiten. Die themenbezogene Arbeit von Tasksequenzen kulminiert möglicherweise in einem Projekt mit einer Aufführung oder einer Veröffentlichung (ebd.: 85). In Teil II des Lehr- und Praxisbuches werden Ihnen für alle Tasktypen performative Ausgestaltungen begegnen. Dabei kann der gleiche zugrundeliegende Typ sehr unter‐ schiedlich in Erscheinung treten und ganz verschiedene Ziele verfolgen. Nehmen wir 118 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="120"?> 9 Willis (1996) bezieht sich (im Unterschied zu anderen TBLT-Vertreter: innen) mit „Task Cycle“ auf die mittlere Phase, die bei ihr dreigeteilt ist (Task, Planning, Report) und neben der eigentlichen Task noch die Planung des Ergebnisberichts sowie das Berichten selbst umfasst. Die Post-Task-Phase ist bei ihr allein der Formfokussierung gewidmet (Analyse und Übung der Zielstrukturen). als erstes Beispiel den Aufgabentyp Zuordnen: Beim HOSS (siehe oben Kap. 4.1 oder Kap. 15) wird das Zuordnen von Wörtern zu Bildern genutzt, um den Wortschatzerwerb zu unterstützen. Hingegen werden im Rahmen des visuell-haptischen Ansatzes zur Sensibilisierung für deutschtypische Wortbildungsmuster (Kap. 11) farblich zu unter‐ scheidende Klemmbausteine bestimmten Wortarten zugeordnet und mehrschichtige Klemmbausteinmodelle komplexen Wortbildungsprodukten. Greifen wir noch einen weiteren Tasktyp heraus, um die ganz unterschiedlichen Realisierungen zu illustrieren, und zwar Probleme lösen: Während in einer drama‐ grammatischen Einheit zu Hans im Glück der innere Konflikt des Protagonisten („Be‐ halte ich das Gold oder nehme ich das Pferd? “) und seine Entscheidungsfindung unter Verwendung einer konditionalen Zielstruktur (wenn-dann) inszeniert wird (Kap. 20), geht es in Kap. 7 darum, sich in einer kontroversen Angelegenheit mit Pro- und Kontra-Argumenten auf eine performative Debatte einzulassen. Taskzyklus Ein Taskzyklus besteht aus einer vorbereitenden Phase (Pre-Task), der Task selbst und einer Anschlussphase (Post-Task): 9 Die Pre-Task-Phase dient der Einführung, Aktivierung und Motivierung. Die Lernenden werden eingestimmt auf die zu bewältigende Aufgabe und sie erhalten alle hierfür notwendigen Informationen. Hierzu gehört auch der (lexikalische und struk‐ turelle) Input, den die Lernenden zur Bearbeitung der Aufgabe benötigen. Einerseits geht es um das Anstoßen von Restrukturierungsprozessen, indem neue Elemente in das Sprachsystem inkorporiert und/ oder bisherige Elemente neu arrangiert werden (Skehan 1996, zitiert Foster & Skehan 1994). Andererseits soll durch die vorbereitenden Angebote der kognitive Verarbeitungsaufwand, den die Bearbeitung der Task erfordert, reduziert werden, damit die Lernenden mehr Aufmerksamkeit auf den Gebrauch ihrer Sprache richten können (Skehan 1996). Der nötige Input kann auf die eine oder andere Weise bereitgestellt werden, auf die Zielstrukturen mehr oder weniger stark aufmerksam machend. Er kann in der Gruppe erarbeitet oder von der Lehrkraft vorgegeben werden. In beiden Fällen wäre es eine Option, die sprachlichen Strukturen bereits im Rahmen einer (der eigentlichen Zieltask) vorausgehenden Aufgabe zu präsentieren (siehe Tasksequenz in Abb. 4.5). Der eigentlichen Task-Phase (also der Task selbst, s. o.) folgt die Post-Task-Phase mit unterschiedlichen Ausgestaltungsoptionen: Die Lernenden 1. erhalten die Möglichkeit, die Task zu wiederholen, 2. präsentieren ihre Ergebnisse einer anderen Gruppe oder vor der Klasse, 119 4.2 Taskorientierung <?page no="121"?> 3. reflektieren die verwendeten sprachlichen Strukturen, 4. wenden die sprachlichen Strukturen in verschiedenen Übungsformen an. Das inhaltliche Thema vertiefend bzw. erweiternd kann dann im Rahmen einer Tasksequenz das lexikalische und grammatische Repertoire weiter ausgebaut werden. Beispiel einer Tasksequenz Nach den Einblicken in die Rahmung und Gestaltungsmöglichkeiten von Tasks sei an dieser Stelle eine Tasksequenz vorgestellt, die im Anschluss mit Blick auf den Fokus dieses Lehr- und Praxisbuches eine performative Erweiterung erfahren soll. Doch zunächst einmal werden die Lesenden gebeten, sich die Tasksequenz in Abb. 4.6 in Ruhe anzuschauen und für sich die vier folgenden Fragen zu beantworten: a. Worin bestehen die Bezüge zur Lebenswelt? b. Welche Funktionen haben die einzelnen Aufgaben? c. Welche Aufgaben lassen sich in dieser Sequenz als Haupttask identifizieren? d. Welche Aufgaben sind vorbereitend, welche nachbereitend? 1. Die Lehrkraft fordert die Lernenden auf, sich das Tablett mit den Objekten genau anzuschauen und stellt dabei sicher, dass die Objekte benannt werden können. 2. Das Tablett wird verdeckt und die Lernenden werden gebeten, eine Liste der Objekte, an die sie sich erinnern, zu erstellen. 3. Die Lernenden kommen paarweise zusammen und tragen ihre erinnerten Objekte zusammen. 4. Die Lehrkraft arbeitet nun mit der gesamten Klasse und listet mit der Unterstützung aller die zuvor gesehenen Objekte auf. Das Tablett wird wieder gezeigt und man überprüft gemeinsam die Vollständigkeit der Liste. 5. Die Lehrkraft schreibt nun einige Sätze an die Tafel. 120 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="122"?> 6. Die Lernenden werden aufgefordert auf der Basis ihrer Erinnerung der Objektanordnun‐ gen zu beurteilen, ob die Sätze wahr sind oder falsch. 7. Die Sätze werden gelöscht und die Lernenden finden sich paarweise zusammen, um in Anlehnung an die zuvor gesehenen und besprochenen Sätze jeweils drei richtige und drei falsche Sätze zu notieren. Das Tablett ist für diese Aufgabe sichtbar. 8. Das Tablett wird wieder verdeckt und die Lernenden lesen abwechselnd ihre Sätze vor und die anderen müssen aus ihrer Erinnerung heraus beantworten, ob diese richtig oder falsch sind. Die Lehrkraft achtet auf Korrektheit der vorgetragenen Sätze und korrigiert ggf. 9. Als Hausaufgabe erhalten die Lernenden zu vervollständigende Sätze. Das ________ liegt auf der _______ . Der ________ liegt links neben dem ________ . Der ________ liegt zwischen dem _________ und der ________ . Die ________ steht rechts neben dem ________ . Abb. 4.6: Tasksequenz zur Lokalisierung von Objekten (in Anlehnung an Willis & Willis 2007: 28-30) Gegenstände zu lokalisieren, ist eine sprachliche Handlung, die auch im wirklichen Leben häufig benötigt wird. Gemeinsam mit einer Partnerin zu überlegen, ob es sich um richtige oder falsche Aussagen handelt, oder mit dem Partner Sätze auszudenken, um diese einem Rätsel gleich anderen zur Richtig-/ Falsch-Bewertung vorzulegen, erzeugt zwischen den Partner: innen ein reales Gesprächsanliegen und ein im Austausch miteinander erzieltes Ergebnis. Die Aufgaben 1 bis 6 bereiten auf das Erinnerungsspiel (Haupttask) vor, das mit den Aufgaben 7 und 8 umgesetzt wird. (Die Aufgaben 1 bis 4 stellen für sich genommen auch eine Task dar.) Die vorbereitenden Aufgaben liefern den lexikalischen und strukturellen Input und etablieren mit dem Richtig-Falsch-Muster die Grundidee des Spiels. Während im Erinnerungsspiel und in den vorbereitenden Aufgaben der Fokus primär auf der Bedeutungsseite der Sprache liegt, lenkt die nachbereitende Aufgabe 9 den Fokus auf die sprachlichen Formen (Post-Task). Die Hausaufgabenbesprechung könnte man für eine gemeinsame Reflexion der beobachteten lexikalischen (liegen vs. stehen) und grammatischen Phänomene (Dativrektion lokaler Präpositionen) nutzen, ein Regelblatt entwerfen und mehr sprachliche Beispiele für die Verbdistinktion und die Genuskategorien zuordnen bzw. finden lassen. Performative Erweiterung der Tasksequenz Lokalisierung ist ein sprachliches Thema, bei dem die lernförderlichen Potenziale von Performativität auf keinen Fall ungenutzt bleiben sollten (siehe Kap. 14). In Abb. 4.7 und 4.8 ist eine performative Task illustriert, die bei einer entsprechenden Vorbereitung (siehe die Aufgabe 5 am Ende des Kapitels) die zuvor skizzierte Tasksequenz erweitern könnte. Das übergeordnete linguistische Ziel der gesamten Tasksequenz wäre dann die Heranführung an den Gebrauch lokaler Wechselpräpositionen, die bei nicht-direk‐ tionaler Lokalisierung den Dativ regieren und bei direktionaler Lokalisierung den Akkusativ (vgl. Kap. 14). 121 4.2 Taskorientierung <?page no="123"?> Abb. 4.7: Positionierung von Objekten nach Ansagen von Teammitgliedern Worum geht es vordergründig in der performativen Task und was ist das außerlingu‐ istische Ziel? Konkretes Ziel ist es, vermittelt durch Sprache, die in körperliche Aktion übersetzt wird, ein Bild zu dublizieren. Das Ergebnis der Task sollte also ein neu entstandenes, der Vorlage gleichendes Bild sein (Abb. 4.8). Wie wird die Notwendigkeit zur Kommunikation, zum interaktiven Austausch motiviert? Die Lernenden arbeiten in Teams und treten in einem kleinen Wettkampf gegeneinander an. In jedem Team gibt es Ansagende und Ausführende. Die Ansagenden sehen ein Stillleben mit verschiedenen Objekten, die Ausführenden sehen dieses Bild nicht. Ihre Aufgabe besteht darin, mit Hilfe möglichst genauer Angaben, das Stillleben entweder zu zeichnen oder mit realen Gegenständen nachzustellen. Je präziser die Lokalisierungsangaben hierbei sind, um so schneller wird es den ausführenden Teammitgliedern gelingen, das Bild entsprechend der Vorlage herzustellen. 122 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="124"?> Abb. 4.8: Positionierung von Objekten, Vergleich mit Vorlage 4.3 Kontext- und Progressionsorientierung Für alle Schüler: innen gilt, und zwar unabhängig von der Herkunftssprache und der Sprachkontaktdauer mit dem Deutschen, dass sie die Sprache, die in der Schule als Medium der Wissensvermittlung und der Wissensüberprüfung vorausgesetzt wird, beherrschen müssen, um schulischen Erfolg zu erfahren. Für dieses formelle Sprachregister, „das vor allem der Übermittlung von hoch verdichteten, kognitiv anspruchsvollen Informationen in kontextarmen Konstellationen dient“ (Gogolin 2008: 26) hat sich in der Literatur der Begriff Bildungssprache etabliert (u. a. Feilke 2012, Gogolin et al. 2013). 123 4.3 Kontext- und Progressionsorientierung <?page no="125"?> Bildungssprache Die durch das schlechte Abschneiden Deutschlands in der ersten PISA-Vergleichs‐ studie ausgelöste Kompetenzdebatte (siehe Kap. 4.1) hat in der Deutschdidaktik u. a. auch eine Diskussion darüber entfacht, welche sprachlichen Kompetenzen fächerübergreifend für einen schulischen Erfolg maßgeblich sind. Dabei wurde zunächst herausgestellt, dass sprachliche Kompetenzen nicht nur ein Lernziel (im Fach Deutsch), sondern quasi in allen Fächern ein zentrales Medium des Lehrens und Lernens darstellen (Schmölzer-Eibinger et al. 2013: 11). Weiterführend hat dies die Forschung um die Bestimmung der Spezifik der involvierten sprachlichen Mittel mobilisiert; in der Bezeichnung des betreffenden Sprachregisters hat sich Bildungssprache durchgesetzt. Zentral für die Bestimmung, was Bildungssprache ist bzw. welche sprachlichen Formen sie definiert, ist die Beobachtung, dass schulische Lehr-Lern-Kontexte in erster Linie der Funktion einer Erkenntniskommunikation, Wissensaneignung und Wissensverbreitung dienen und sich daher durch ein hohes Maß an Textualität auszeichnen, d. h. stark vom Umgang mit Text geprägt sind (Feilke 2012, nach Czicza & Henning 2011; vgl. u. a. auch Portmann-Tselikas & Schmölzer-Eibinger 2008). Das Lesen und Verstehen von Texten ist fast in jedem Fach ein wesentlicher Bestandteil des Unterrichts (siehe auch Kap. 8); zur generell allmählichen Entwick‐ lung von Textkompetenz und Textsortenkompetenz beim eigenen Schreiben im Grundschulalter vgl. auch Augst et al. (2007). Aufgrund ihrer speziellen Funktion ist Bildungssprache aus struktureller bzw. kognitiver Perspektive vergleichsweise ‚schwer‘: Kommunikation, die sich auf Erkenntnis richtet und z. B. generelle Aussagen involviert (vgl. Gallenflüssigkeit wird von der Leber gebildet und in der Gallenblase konzentriert gespeichert.), erfor‐ dert in hohem Maße eine Sprache, die vom unmittelbaren Wahrnehmungsraum abstrahiert und situationsentbunden ist (→ Gallenflüssigkeit wird immer von der Leber gebildet, nicht nur in einer Situation, in der dies konkret wahrzunehmen ist - was im Alltag ohnedies grundsätzlich kaum möglich ist.). Der Anspruch einer situationsungebundenen Rede bedingt eine explizitere und differenziertere, gleichzeitig informationsdichtere Sprache (siehe Beispiele im weiteren Kapitel). Deren Verstehen setzt mit dem Heraustreten aus einem aktualen Wahrnehmungs‐ raum die Etablierung eines Vorstellungsraumes und damit verbunden ein größeres Abstraktionsvermögen voraus. Bildungssprache integriert in der Folge vermehrt sprachliche Mittel und Konstruk‐ tionen, die in alltäglichen Situationen tendenziell seltener Verwendung finden und auch deshalb schwieriger zu erwerben sind: z. B. komplexe Nominalphrasen und Nominalisierungen, Passivkonstruktionen, logische Konnektoren in Hypotaxen, abstrakte Begriffe; vgl. Schmölzer-Eibinger et al. (2013: 13). Nach u. a. Feilke (2013) zeichnet sich Bildungssprache darüber hinaus dadurch aus, dass in Kontexten der Wissensaneignung und Wissensvermittlung bestimmte 124 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="126"?> sprachliche Handlungen eine zentrale Rolle spielen und gehäuft auftreten: z. B. Argumentieren, Erklären, Beschreiben (siehe auch den Erklär-Kasten zu Operato‐ ren in Kap. 1.2). Morek & Heller (2012; 2019) argumentieren weiterführend für den Begriff der bildungssprachlichen Praktiken, um dem kommunikativen Moment und der Inter‐ aktivität des wissensbezogenen (sprachlichen) Handelns Rechnung zu tragen. Bildungssprachliche Kompetenzen, wir könnten auch sagen Kompetenzen der Wissenskommunikation, lassen sich vor diesem Hintergrund auch über den flexiblen und differenzierten, kontextangemessenen Zugriff auf entsprechende Sprachhandlungen inklusive der passenden sprachlichen Komponenten beschrei‐ ben. Morek & Heller (2019: 2) streichen überdies heraus, dass bildungssprachliche Praktiken sowohl medial schriftlich als auch medial mündlich vollzogen werden. Die Sprachförderung muss auf eine bildungssprachliche Kompetenz hinarbeiten, indem zum einen sprachevozierende Kontexte geschaffen werden, die ein bildungs‐ sprachliches Agieren begünstigen bzw. erfordern (Morek & Heller 2019). Zum anderen sollte eine sich am natürlichen Spracherwerb orientierende Progression vom situati‐ ons- und handlungsGEbundenen, umgangssprachlichen hin zu einem situations- und handlungsENTbundenen Sprachgebrauch Berücksichtigung finden. Zur Modellierung eines solchen Vorgehens eignet sich das im deutschen Sprachraum viel rezipierte Nähe-/ Distanz-Modell, das die beiden Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher entwickelt haben, um situationsabhängiges, funktional angemessenes Kommunikati‐ onsverhalten zu beschreiben (1985, 1994, 2007). Beispielsweise sollte ein Bewerbungs‐ brief in einem anderen Duktus verfasst sein als eine E-Mail an den besten Freund und ein vor der Klasse zu haltendes Fachreferat sollte andere sprachliche Merkmale aufweisen als das Pausengespräch auf dem Schulhof. Abb. 4.9: Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Konzeptionelles Kontinuum und mediale Dichotomie (nach Koch & Oesterreicher 2007: 350) Im Zentrum des Modells (Abb. 4.9) steht das Begriffspaar mündlich/ schriftlich, das die Autoren in doppeltem Sinne verwenden: in Bezug auf das Medium (Lautsprache vs. 125 4.3 Kontext- und Progressionsorientierung <?page no="127"?> Schriftsprache) und in Bezug auf Versprachlichungsstrategien, die unter bestimmten Kommunikationsbedingungen der (räumlichen, zeitlichen, emotionalen) Nähe bzw. Distanz Anwendung finden. Während das mediale Kontrastpaar mündlich/ schriftlich auf eine Dichotomie referiert - d. h. ein sprachliches Produkt ist entweder lautsprach‐ lich oder schriftsprachlich -, bezieht sich das konzeptionelle Begriffspaar auf ein Kontinuum. Eine lautliche Äußerung oder ein geschriebener Text lassen sich mehr oder weniger dem Nähebzw. Distanzpol zuordnen. So wäre ein Pausengespräch unter Freunden, ein E-Mail-Austausch oder ein Chat mit eben diesen eher dem Nähepol zuzuordnen und als konzeptionell mündlich zu charakterisieren, während sich im Vergleich dazu ein Bewerbungsgespräch oder ein Bewerbungsschreiben auf dem Kontinuum in Richtung Distanzpol bewegt. Kommunizieren wir unter Bedin‐ gungen der Nähe, dann tun wir dies konzeptionell mündlich - auch wenn wir die mediale Schriftlichkeit nutzen. Zu den typischen Kommunikationsbedingungen, die das nähesprachliche Register konzeptioneller Mündlichkeit aufrufen, gehören Privatheit, Vertrautheit der Kommunikationspartner: innen, raum-zeitliche Nähe u. a. (siehe Abb. 4.10). Kommunizieren wir unter Bedingungen der Distanz, dann tun wir dies konzeptionell schriftlich - auch dann, wenn wir die mediale Mündlichkeit nutzen. Abb. 4.10: Kommunikationsbedingungen für konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit (nach Koch & Oesterreicher 2007) Die sogenannte Bildungssprache - Schlüssel zum Schulerfolg - zeichnet sich durch konzeptionelle Schriftlichkeit aus. Zu den typischen Kommunikationsbedingungen, die das distanzsprachliche Register konzeptioneller Schriftlichkeit evozieren, gehören z. B. Öffentlichkeit, Fremdheit der Kommunikationspartner: innen, raum-zeitliche Distanz u. a. (siehe Abb. 4.10). Würden jeweils alle, den beiden Seiten zugeordneten Kommunikationsbedingungen - Koch & Oesterreicher 2007 sprechen von Parametern - zutreffen, dann würde man die beiden Extrempole auf dem Kontinuum erreichen (ebd.: 351). In der Regel treten die Parameter beider Seiten jedoch in Kombination auf, sodass sich in Abhängigkeit ihrer Zusammensetzung der adäquate Sprachgebrauch dem einen oder anderen Pol annähert. Beispielsweise wird eine vorbereitete (reflektierte), aber Emotionalität zulas‐ 126 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="128"?> 10 Für eine zu diesem Thema ausgearbeitete und mit Viertklässler: innen erprobte Unterrichtseinheit siehe Siegmund (2021). sende Rede (= Monolog) zum runden Geburtstag eines Familienmitgliedes in Privatheit mit vertrauten Kommunikationspartner: innen stattfinden. Beim Vorstellungsgespräch hingegen befindet man sich im Dialog mit fremden Kommunikationspartner: innen in unvertrauter Umgebung einer öffentlichen Institution. Beide Situationen teilen (u. a.) die raum-zeitliche Nähe. Registersensible Sprecher: innen sind in der Lage, sich kontextabhängig aus dem nähebzw. distanzsprachlichen Repertoire (u. a. Koch & Oesterreicher 1985; Agel & Hennig 2007) zu bedienen, und es ist (auch) Aufgabe des Zweit-/ Fremdsprachen‐ unterrichts, die Sprachlernenden an einen situationsangemessenen Sprachgebrauch heranzuführen. Das ‚Nähe-Distanz‘-Modell kann den Lehrkräften hierbei eine hilf‐ reiche Unterstützung sein. Sie können bewusst die Parameter manipulieren, um unterschiedliche sprachliche Anforderungen zu generieren. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und spielen Sie anhand eines Themas Ihrer Wahl für mehrere Parameteroppositionen (z. B. Situations-/ HandlungsEINbindung vs. Situations-/ HandlungsENTbindung, Dialogizität vs. Monologizität) passende Auf‐ gabensettings durch. Als Thema könnten Sie beispielsweise die Beschreibung eines physikalischen Experiments zum Lösen von Stoffen in Wasser wählen. 10 Was würde in diesem Falle ein Aufgabensetting mit SituationsEINbindung vs. SituationsENTbindung bedeuten? Möglich wäre im ersten Fall die unmittelbare Beschreibung, während das Experiment beobachtet wird; im zweiten Fall die Beschreibung dessen, was generell bei dem Experiment geschieht. Eine Aufgabe im Parameter der Dialogizität könnte das Gespräch zweier Schüler: innen über ihre Experimentbeobachtungen betreffen, im Parameter der Monologizität ein medial schriftliches (oder medial mündlich von einer Schülerin der Lehrkraft/ Klasse vorgetragenes) Versuchsprotokoll. Welche konkreten sprachlichen Anforderungen würden mit entsprechenden Aufga‐ ben einhergehen? Formulieren Sie beispielhaft einige der zu erwartenden Äußerungen und versuchen Sie diese auf dem Nähe-Distanz-Kontinuum (vgl. Abb. 4.9) zu verorten. Welche sprachlichen Unterschiede bemerken Sie, wenn Sie Ihre konkreten, sich auf dem Kontinuum an unterschiedlichen Positionen befindenden Formulierungen näher betrachten? Vergleichen Sie nun Ihre eigenen Beobachtungen mit den folgenden Ausführungen zu sprachlichen Merkmalen und Verhaltensweisen, wie sie unter Kom‐ munikationsbedingungen der Nähe und der Distanz zu erwarten sind. Typisch für Äußerungen der Nähe sind syntaktisch einfache Strukturen mit geläu‐ figen Wörtern aus dem Grundwortschatz. In einer spontanen Situation liegen uns hochfrequente Wörter schnell auf der Zunge und eingeschliffene Phrasen und Satz‐ konstruktionen sind sofort abrufbereit; steht Überlegenszeit zur Verfügung, kommen auch weniger frequente Wörter zum Einsatz und seltenere Konstruktionen werden gewagt. Befindet sich der Kommunikationspartner direkt gegenüber, können Mimik, Gestik, typische Zeigewörter (z. B. da, hier) und unspezifische Ausdrucksweisen (das 127 4.3 Kontext- und Progressionsorientierung <?page no="129"?> Ding hier, mach das mal hier so) zum Einsatz kommen. Teilen die Gesprächspartner: in‐ nen hingegen nicht den gleichen Wahrnehmungsraum (z. B. beim Telefonieren), dann muss die Sprache deutlich expliziter sein, um die intendierten Bilder in der Vorstellung der Rezipientin entstehen zu lassen. Die Sprache wird differenzierter, präziser. In Kon‐ texten der Distanz besteht einerseits das Bedürfnis, viele Detailinformationen geben zu wollen, andererseits gibt es aber auch gewisse Ökonomiebestrebungen. Man möchte viele Informationen, viele Inhalte auf möglichst wenig Raum unterbringen. Register konzeptioneller Schriftlichkeit (Bildungssprache, Wissenschaftssprache) komprimie‐ ren Sprache, die Inhalte werden stark verdichtet. Während es im Register konzeptio‐ neller Mündlichkeit typisch ist, Informationen aneinanderzureihen (Hauptsatz neben Hauptsatz = Parataxe), finden im Register konzeptioneller Schriftlichkeit verschiedene Integrationsprozesse statt. Dabei werden Elemente einer syntaktisch höheren Ebene zu Elementen niedriger Ebenen: Aus einem Hauptsatz wird ein Nebensatz, der dann integriert wird. Aus einem Satz wird eine Phrase, die sich integrieren lässt, aus einer Phrase wird ein Wort, das sich integrieren lässt. Durch diese Mechanismen, die anhand dreier einfacher aneinandergereihter Ausgangssätze, vgl. (1), mit (a) bis (c) illustriert werden, kann eine sehr kompakte Sprache entstehen. (1) Ein Flugzeug der Lufthansa ist gestern abgestürzt. Das Triebwerk war ausgefallen. Alle Passagiere überlebten das Unglück. (a) Ein Flugzeug der Lufthansa ist gestern abgestürzt, weil ein Triebwerk ausgefal‐ len war. Alle Passagiere überlebten das Unglück. (b) Ein Flugzeug der Lufthansa ist gestern aufgrund eines Triebwerkausfalls abge‐ stürzt. Alle Passagiere überlebten das Unglück. (c) Beim gestrigen Absturz einer Lufthansamaschine, deren Triebwerk ausgefallen war, überlebten alle Passagiere. Versuchen Sie zu bestimmen, mit welchen sprachlichen Mitteln in (a) bis (c) integriert und verdichtet wurde. Deutschlernende werden recht schnell Inhalte verstehen, wenn sie wie in (1) versprachlicht wurden. Bis sie Satzgefüge wie in (c) - typisch für Zeitungsartikel wie auch für Lehrbuchtexte - verstehen oder produzieren können, ist es ein weiter Weg, der systematisch durch Paraphrasierungen entlang des Kontinuums geebnet werden kann. Ist die Begegnung nicht spontan und steht mehr Zeit zur Planung zur Verfügung - muss vielleicht ein Vortrag oder ein Text erstellt werden -, (spätestens) dann benötigt man unbedingt sprachliche Mittel zum Verknüpfen der Sätze (z. B. bevor, danach, nachdem, trotzdem, dennoch, obwohl) sowie zum Herstellen satzübergreifender refe‐ renzieller Bezüge (z. B. durch Pronomen). Auch an den Gebrauch und das Repertoire dieser sogenannten Kohäsionsmittel müssen die Lernenden in den entsprechenden Situationen herangeführt werden. Damit sind wesentliche Unterschiede für die Kontextoppositionen zusammengetra‐ gen, die sich allesamt den allgemeinen Versprachlichungsstrategien zuordnen lassen, die Koch & Oesterreicher (1994) identifizieren, um den Kommunikationsbedingungen des Nähe- und Distanzpols zu entsprechen (s. Abb. 4.11). 128 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="130"?> 11 Bezieht man systematisch die Sprache der Nähe in den Sprachauf- und ausbau mit ein, die auch für erstspracherwerbende Kinder das sprachliche Fundament darstellt, können auch Zweitsprachler‐ nende von in der Umgangssprache angelegten Elementen profitieren, die im Register konzeptioneller Schriftlichkeit - wenn auch in anderer Funktion - erneut relevant werden. Man denke beispielsweise an die deutschtypische Eigenart, deiktische Elemente (da, hier) mit Präpositionen (u. a. auf, über) zu verknüpfen, um diese Pronominaladverbien in Situationen des geteilten Wahrnehmungsraums deiktisch zu verwenden, ohne das Relatum explizieren zu müssen (Leg das mal da(d)rauf! ). Diese Elemente werden später, wenn es darum geht, kohärente Texte zu erstellen, als Konjunktionalad‐ verbien benötigt, um auf Vorerwähntes Bezug zu nehmen (Bryant 2012: 5 ff.). Ein weiteres Beispiel für umgangssprachliche Konstruktionen mit Steigbügelfunktion, die Kinder mit L1 Deutsch frequent in ihrem Input vorfinden und für den Aufbau des Lokalisierungssystems nutzen: auf dem Tisch drauf, unter der Bank drunter, in der Kiste drin. Mit guten Absichten, Deutschlernende an die schriftnahe Standardsprache heranzuführen, werden ihnen umgangssprachliche, für den Erwerbsprozess jedoch relevante Verwendungsweisen oft vorenthalten (Bryant 2015: 4) - nicht so in der Beispielstunde von Kap. 14. Abb. 4.11: Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien (nach Koch & Oesterreicher 1994; 2007) Das Modell bietet nicht nur in Bezug auf die Kontexte (die Parameter bzw. Kommu‐ nikationsbedingungen) eine sinnvolle Orientierung für Lehrkräfte, sondern auch in Bezug auf die Progression der Aufgabengestaltung. Sprachlernende (insbesondere im ungesteuerten Erwerb) erschließen sich eine Sprache in der Regel über Alltagsthemen in konzeptioneller Mündlichkeit. Die Sprache der Nähe ist daher prädestiniert für den didaktischen Auftakt. Auch um der sprachlichen Heterogenität in den Klassen gerecht zu werden, sollte die Themeneinführung möglichst immer im Register konzeptioneller Mündlichkeit erfolgen. 11 Das inhaltliche Verstehen, der situationsverschränkte inhaltliche Austausch im „Hier und Jetzt“ und die Wissensaktivierung (mit allen Schüler: innen verständlichen non-/ verbalen Mitteln) stehen am Anfang immer im Vordergrund. Dann sollten die Kommunikationsbedingungen sukzessive so verändert werden, dass sich der sprachli‐ che Input und Output auf dem Kontinuum allmählich nach rechts zum Pol der Distanz verlagert. Selbstverständlich müssen die Schüler: innen zu den sprachevozierenden 129 4.3 Kontext- und Progressionsorientierung <?page no="131"?> Kontexten auch hinreichend Input erhalten sowie zusätzliche Unterstützung (siehe Aufgabe 6 zum Scaffolding in Kap. 3), um selbst die angemessenen Konstruktionen produzieren zu können und damit sprachlich über ihren aktuellen Entwicklungsstand hinauszuwachsen. Das ‚Nähe-Distanz‘-Modell lässt sich auch für eine schrittweise Heranführung an bildungssprachliche Handlungen (Morek & Heller 2019) zugrunde legen - gemeint sind die sogenannten Operatoren wie z. B. Argumentieren, Beschrei‐ ben, Interpretieren (erinnere Erklär-Kasten in Kap. 1.2). Die Kapitel 7 und 19 zeigen exemplarisch, wie performative Zugänge auch hierfür genutzt werden können. Aufgaben 1.* Welche Kriterien sollten auf eine Aufgabe zutreffen, um sie im Rahmen von TBLT als Task zu bezeichnen? 2.* Welchem Tasktyp entspricht die in Abb. 4.6 illustrierte Task? Nehmen Sie die Taxonomie der Tasktypen (Abb. 4.4) zur Hilfe. 3.** Setzen Sie ein Thema Ihrer Wahl (z. B. Jahreszeiten, Essen und Trinken, Berufe) in die Mitte von Abb. 4.4 und überlegen Sie sich vier Tasktypen zu Ihrem Thema. Bringen Sie die Tasks in Bezug auf den kognitiven und sprachlichen Anspruch in eine Abfolge - beginnend mit der einfachsten. 4.** Entwickeln Sie für die Post-Taskphase der Haupttask in Abb. 4.5 Materialien, die im Anschluss an die Aufgabe 9 zum Einsatz kommen könnten. 5.** Konzipieren Sie für die performative Task in Abb. 4.6 und 4.7 Aufgaben zur Vorbereitung (Pre-Task) und zur Nachbereitung (Post-Task). 6.** Überlegen Sie sich andere performative Tasks, um für die Wechselpräpositionen des Deutschen zu sensibilisieren und deren Verwendung zu üben. Vergleichen Sie Ihre Ideen mit denen der Beispielstunde von Kap. 14. 7.** Kap. 4.3 hat gezeigt, dass bildungssprachliche Register über die Merkmale situa‐ tionsentbindender Generalisierung, inhaltlicher Verdichtung sowie Komplexität der Strukturiertheit charakterisiert sind. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit Sprache, wie sie typischerweise in poetischen/ literarischen Texten vorkommt? Nach Jakobson (1971) zeichnen sich literarische Texte insbesondere dadurch aus, dass sie überstrukturiert und semantisch überdeterminiert sind, zugleich weist die Zeichenmenge einen hohen Informationsgehalt auf. Feilke (2012: 6) sieht Überschneidungen zwischen Bildungs- und Literatursprache mittelbar über die beidseitigen Schnittmengen mit Schriftsprache. Analysieren Sie zu zweit oder in Kleingruppen (3-4 Personen) das folgende Gedicht von Rainer Maria Rilke dahingehend, welche sprachlichen Formen darin vorkommen. Können Sie an der sprachlichen Gestaltung des Gedichts exemplarisch festmachen, was nach Jakobson unter Überstrukturierung und semantischer Überdeterminiertheit zu verstehen sein könnte? Diskutieren Sie anschließend, inwiefern eine Aus‐ einandersetzung mit literarischen Texten auch förderlich für die Entwicklung 130 4 Sprachdidaktische Grundlagen <?page no="132"?> bildungssprachlicher Kompetenzen sein könnte. (Vgl. Sie anschließend dazu auch Kap. 12.1 und Kap. 9). Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Rainer Maria Rilke (6.11.1902, Paris) Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille - und hört im Herzen auf zu sein. 8.** Performative Zugänge erlauben es in besonderer Weise, mit den Kommunika‐ tionsbedingungen von Distanz und Nähe zu spielen. Bilden Sie Kleingruppen (3-4 Personen) und entwickeln Sie gemeinsam ein Skript (eine Regieanweisung) für ein szenisches Spiel zu einem Bewerbungsgespräch, bei dem entweder die einladende Personalchefin/ der Personalchef oder die Bewerberin/ der Bewerber keine der Kommunikationssituation angemessene Sprache der Distanz verwen‐ det. Präsentieren Sie sich anschließend im Plenum gegenseitig Ihre Skripte. Bilden Sie neue Gruppen und überlegen Sie gemeinsam, wie sich Ihre Skripte (ggf. mit dem Einsatz von szenischem Spiel) für eine Unterrichtsstunde (in der Sekundarstufe mit DaZ-Lernenden) zum Thema Bewerbungsgespräch nutzen ließen. 131 4.3 Kontext- und Progressionsorientierung <?page no="134"?> Teil II: Performative Zugänge <?page no="136"?> Im Fokus: Mediale Mündlichkeit Aktivierung a. Welche Gefühle und welche Gedanken, vielleicht auch Erinnerungen an eigene Erlebnisse kommen in Ihnen auf, wenn Sie das folgende Bild betrachten? Bilden Sie Kleingruppen (3-4 Personen), wählen Sie eine Fremdsprache aus, die alle in der Kleingruppe mehr oder weniger gut beherrschen (z. B. Englisch, Französisch, Spanisch), und tauschen Sie sich in der gewählten Sprache über Ihre Assoziationen zum Bild aus. Überlegen Sie anschließend gemeinsam, wie man Bilder für den Sprachunterricht und die DaZ-Förderung nutzen könnte. b. Kennen Sie die japanische Erzählkunst Kamishibai? Sehen Sie sich dazu über den folgenden Link ein kurzes Video an (https: / / www.youtube.com/ watch? v=v6 URceEr_zc). Kommen Sie erneut in Kleingruppen zusammen und tragen Sie Ihre Erfahrungen zur unterrichtlichen Anregung von mündlichen Erzählfähigkeiten zusammen. Haben Sie selbst bereits mit Kamishibai gearbeitet oder Varianten davon in fremdem Unterricht beobachtet? Wie passen Ihre Erfahrungen zur japanischen Erzählkunst, wie sie im Video skizziert wird? c. Neben dem Erzählen, das vor allem in der Grundschule angeregt und gefördert wird, erhält in der Sekundarstufe der Operator Argumentieren in besonderem Maße Relevanz. Überlegen Sie in Kleingruppen, in welchen Fächern mündliches Argumentieren eine wesentliche Funktion erfüllt und warum. Tauschen Sie sich anschließend dazu aus, warum Argumentationsfähigkeiten in unserer heutigen <?page no="137"?> Gesellschaft besonders wichtig sind. Welche Methoden kennen Sie, um Argumen‐ tationsfähigkeiten im Deutschunterricht oder in einem anderen Fachunterricht zu fördern? d. Bilden Sie Kleingruppen mit jeweils 4 Personen und denken Sie sich gemeinsam ein Thema aus, über das es sich zu streiten lohnt und zu dem man eine Pro- und eine Contra-Position einnehmen kann. Führen Sie dann ein 10-minütiges Streitgespräch, bei dem zwei Personen aus Ihrer Gruppe für die Pro-Position, die anderen zwei für die Contra-Position argumentieren. e. Reflektieren Sie im Anschluss das Streitgespräch: □ Welche Rolle spielten neben dem, was inhaltlich gesagt und an Argumenten vorgetragen wurde, Ihre Körperhaltung, Ihre Gestik, Ihre Mimik und Ihr stimmlicher Einsatz beim Argumentieren? □ Welche sprachlichen Strukturen haben Sie verwendet, um Ihre Argumente vorzutragen und um die Argumente der Gegenseite zu entkräften? f. Versuchen Sie, die im Streitgespräch identifizierten sprachlichen Strukturen nach Schwierigkeit (struktureller Komplexität, lexikalischem Anspruch) zu ordnen. Kommen Sie darüber ins Gespräch, ob Strukturen darunter sind, die auch für Lernende der Sprachniveaustufen A2 oder B1 geeignet wären. **** Wenn wir mündlich miteinander sprechen, sind für den Informationsaustausch und für das wechselseitige Verstehen nicht nur wichtig, was wir inhaltlich (verbal) sagen, sondern auch, wie wir es sagen - wie wir dabei unsere Stimme einsetzen, ob wir laut oder leise, mit hoher oder tiefer Stimme sprechen, wann und wie lange wir eine Pause zwischen Gesprochenem machen. Ebenso relevant wie diese paraverbalen Aspekte ist unser nonverbales Verhalten - welche Körperhaltung wir einnehmen, wohin wir blicken, was wir gestisch und mimisch tun. Besonders augenfällig wird die Bedeutung des Zusammenspiels der verschiedenen Dimensionen, wenn wir anderen eine Geschichte erzählen. Begabte Erzähler: innen fesseln ihre Zuhörer: innen gerade durch ihren gekonnten stimmlichen, gestischen und mimischen Einsatz. Und nicht nur das paraverbale und nonverbale Verhalten der Sprecher: innen ist wesentlich für den In‐ formationsaustausch in mündlicher Kommunikation - wesentlich sind darüber hinaus die Reaktionen der jeweils Zuhörenden, die den Sprechenden durch ihr stimmliches, mimisches und gestisches Feedback Verstehen und Nichtverstehen, Zuspruch oder Abneigung signalisieren, zum Weiterreden animieren oder Sprecher: innen-Wechsel einfordern. Dass das Miteinandersprechen in diesem Sinne mehr als eine körperliche Dimension involviert, gilt nicht nur für das mündliche Erzählen, es kommt bei allen medial mündlich realisierten Sprachhandlungen zum Tragen, so etwa auch beim Erklären oder Argumentieren. Aus ganzheitlicher Perspektive betrachtet, stellen Operatoren wie das mündliche Erzählen oder Argumentieren sogar Kunstformen dar. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, bei der schulischen (zweitsprachlichen) Förderung von 136 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="138"?> Sprechen und Zuhören ganzheitlich zu denken und auch performative Zugänge zu nutzen und Aufmerksamkeit auf die körperlichen Dimensionen zu integrieren. Umgekehrt bieten performative Zugänge auch starke Sprechanlässe: Kapitel 5, das den Auftakt in dieser Rubrik macht, zeigt auf, wie Emotionen und Bilder im DaZ-Unterricht bereits in frühen Erwerbsphasen eingesetzt werden können, um zum Sprechen zu motivieren, und wie das Erzählen zu Bildern sprachliches Lernen anregt. Kapitel 6 führt im Anschluss daran ein in die besondere Erzählkunst des Kamishibai und dessen vielfältige Möglichkeiten, Erzählfähigkeiten zu fördern. Kapitel 7 fokussiert schließlich auf den Operator des Argumentierens und illustriert, welches Spektrum das mündliche Debattieren aufweist und wie mündliche Debatten auch im Fachunterricht inszeniert und geübt werden können. 137 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="139"?> Abb. 5.1: Einzelseite aus Jim ist mies drauf von Suzanne und Max Lang (hier ohne Text) 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe Eveline Einhauser Bilder eignen sich hervorragend für ein sprachbezogenes Arbeiten in heterogenen Lerngruppen. Über ihre emotionale Wirkung lassen sich motivationale und kognitive Prozesse anregen, die die Bereitschaft fördern, sich aktiv auf eine bislang weniger vertraute Sprache einzulassen, und eine stärkere Verankerung neu erworbener Muster und Begriffe bewirken. 5.1 Bilder und ihr (sprach-)didaktisches Potenzial Bilder sprechen zu uns. Wir nehmen sie wahr und sie wirken auf uns. Sie können Spannung erzeugen oder Langeweile auslösen, Glücksgefühle oder Ablehnung evozie‐ ren - in der Regel ist die Wirkung emotionaler Natur und je nachdem, in welcher Form und in welchem Kontext unsere Begegnung mit einem Bild stattfindet, wird dadurch unsere Bereitschaft gefördert, uns näher mit ihm auseinanderzusetzen. Viele Bilder erzählen eine Geschichte. Oder besser gesagt: einen Teil einer Ge‐ schichte (vgl. Abb. 5.1). Haben wir uns erst einmal auf ein Bild eingelassen, kön‐ nen wir uns über das, was zu der abge‐ bildeten Situation geführt hat, und das, was danach noch passieren könnte, Ge‐ danken machen. Dabei können wir un‐ serem spontanen Impuls folgen oder uns das Bild zunächst genauer ansehen und Einzelaspekte, die uns auf den ersten Blick vielleicht gar nicht aufgefallen sind, für die Entwicklung einer Ge‐ schichte mit heranziehen. Dass unsere Eindrücke uns möglicherweise in eine Richtung lenken, die mit der tatsächli‐ chen Erzählung nichts zu tun hat, wie es bei diesem ersten Beispiel relativ wahr‐ scheinlich ist (zur Auflösung vgl. Kap. 5.4, Bsp. 2), macht uns bewusst, wie vielfältig interpretierbar ein Bild ist, wenn wir es isoliert betrachten. Das Besondere an Bildern ist, dass wir sie auch dann ‚lesen‘ und uns auf ihren grundsätzlich kommunikativen Charakter einlassen können, wenn wir uns in einer Umgebung befinden, in der eine verbale Kommunikation nur eingeschränkt möglich ist. Dieser Beitrag soll dazu anregen, sich die Wirkung von Bildern in sprachlichen Lehr-Lern-Kontexten stärker zunutze zu machen. Der Fokus liegt dabei auf der Arbeit 138 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="140"?> mit Kindern und Jugendlichen, die sich in Willkommensklassen befinden (alternative Bezeichnungen: Übergangs-/ Sprachlern-/ Vorbereitungsklassen). Bilder als Ausgangs‐ punkt für sprachliches Lernen erweisen sich hier als besonders gut geeignet, um der Multiheterogenität entsprechender Lerngruppen gerecht zu werden. In großen Teilen sind die Anregungen aber - gegebenenfalls leicht abgewandelt - auch auf andere Lehr-Lern-Kontexte übertragbar. Im Anschluss an einige Anregungen zu kontextfreien Einzelbildern liegt der Fokus auf Bilderbüchern, deren Potenzial auch für die Arbeit mit älteren Lernenden bislang kaum wahrgenommen wird. Dabei werden zwei Bücher etwas genauer beleuchtet, deren Bilder nicht nur affektive Reaktionen auslösen, sondern Emotionen darüber hinaus zum Thema machen. 5.2 Sprachliches Lernen über kontextfreie Einzelbilder Brandstätter (2020: 42) skizziert in ihrem Aufsatz über Staunen und Irritation als Katalysatoren ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Erkenntnis, welche Bedeutung das Staunen und die Irritation für die Initiierung kognitiver Prozesse haben: „Gefühle des Staunens und des Irritiertseins mobilisieren Energien für die kognitive Verarbeitung des Wahrgenommenen“. In Bezug auf die Irritation betont Spinner (2020) allerdings, dass diese als didaktisches Prinzip allein nicht ausreicht, um bei den Lernenden ästhetisches Erleben auszulösen: Erst wenn die Lernenden eine Resonanzerfahrung machen, das heißt, erst wenn sich durch das auslösende Element „eine Verbindung zwischen dem Wahrgenommenen (dem Bild, dem Text, der Landschaft …) und der eigenen Innenwelt ergibt“ (Spinner 2020: 46), wird ein Prozess ästhetischer Erfahrung in Gang gesetzt. Im Unterschied zur Irritation ist mit dem Staunen von vornherein eine Resonanzerfahrung verbunden. Lernende in Staunen zu versetzen, ist allerdings nur schwer planbar, während Momente der Irritation gezielter hervorzurufen sind (vgl. ebd.: 52). Für die Bildauswahl bedeutet dies, dass vor allem zu Beginn solche genutzt werden sollten, die mit relativ großer Wahrscheinlichkeit irritierend wirken und von denen wir annehmen, dass sie die Betrachtenden zudem in irgendeiner Form berühren könnten. Wenn sich zusätzlich Momente des Staunens ergeben - umso besser! Teilweise kann es notwendig sein, die Bildbetrachtung unterstützend zu begleiten, insbesondere dann, wenn die Lernenden wenig Erfahrung darin haben, sich ein Bild oder eine Bildfolge mit ausreichender Muße anzusehen, und dazu neigen, wesentliche Einzelaspekte zu übersehen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Erfahrungen, die die Lernenden mitbringen, ist es außerdem ratsam, ihnen zunächst verschiedene Bilder anzubieten, so dass zu erwarten ist, dass für jeden eins dabei ist, von dem er oder sie sich angesprochen fühlt. Das kann zum Beispiel über einen Galerierundgang geschehen, bei dem eine Vielzahl an Bildern aufgehängt wird, aus der sich die Teilnehmenden jeweils eins aussuchen dürfen (vgl. Abb. 5.2). 139 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe <?page no="141"?> Abb. 5.3: Bilder im Sitzkreis Abb. 5.2: Galerierundgang Alternativ dazu können die Bilder auch auf dem Boden innerhalb eines Sitzkreises ausgelegt werden (vgl. Abb. 5.3). Es sollten immer deutlich mehr angeboten werden, als Schüler: innen beteiligt sind, und gegebenenfalls sogar mehrere Exemplare pro Bild zur Verfügung gestellt werden, um Konflikte bei der Auswahl zu vermeiden. Außerdem empfiehlt es sich, die Lernenden während der ersten Begegnung mit den Bildern um Ruhe zu bitten, damit sich Resonanzerfahrungen überhaupt entfalten können und von den Lernenden auch als solche wahrgenommen werden. Anschließend positionieren sich die Lernenden vor „ihrem“ Bild und erklären den anderen, warum sie sich gerade für dieses entschieden haben. Dabei sind in Abhängigkeit vom jeweiligen Sprach‐ stand sowohl Einwortäußerungen und kurze Sätze (gefährlich / Die Schlange hat Hunger.) als auch komplexere Erläute‐ rungen erwartbar (Ich habe dieses Bild ausgewählt, weil … / Das Bild ist interes‐ sant, weil …). Weiterführende Anschluss‐ gespräche sollten zugelassen werden, wobei ein Klima gegenseitiger Wert‐ schätzung und Akzeptanz vorausgesetzt werden muss, da davon auszugehen ist, dass zum Teil sehr persönliche Reaktionen auf die Bilder verbalisiert werden. In einer weiteren Runde können die Lernenden eine Geschichte zu ihrem Bild präsentieren, nachdem sie zuvor ausreichend Zeit bekommen haben, sich darüber 140 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="142"?> 1 Wie gut sich Bilder generell als Ausgangspunkt für Inszenierungen und darüber zur aktiven Verwendung einer neu zu erlernenden Sprache nutzen lassen, veranschaulicht Unterstab (2020). Auf das hohe Motivations- und Lernpotenzial von Bildern weist auch Schoppe (2020) hin und entwickelt ein fächer- und jahrgangsstufenübergreifendes Modell zur Eröffnung von Bildzugängen. 2 Der Begriff Bilderbücher wird hier weit gefasst, schließt also Comics, Graphic Novels etc. mit ein. 3 Der Begriff textlos hat sich neben textfrei inzwischen allgemein durchgesetzt, obwohl es ja die bei qualitativ hochwertigen Bilderbüchern sehr durchdachte und vielfach eng miteinander verzahnte Kombination aus visuellem und (i. d. R.) verbalem Text ist, die den Gesamttext ausmacht und „zu einer Potenzierung der semiotischen Leistung“ führt (Staiger 2014: 12). Textlos meint also eigentlich: frei von verbalen Elementen (unabhängig von Titel, Klappentext und Impressum). Gedanken zu machen. Lernende, die bislang wenig Kontakt zum Deutschen hatten, dürfen ihre Geschichte bei Bedarf in Bildern oder auch szenisch darstellen. 1 Zur Auswahl der durch die Lehrkraft dargebotenen Bilder ist anzumerken, dass von Fotos, über Einzelbilder aus Zeitschriften und (Bilder-)Büchern bis hin zu abstrakter Kunst im Grunde genommen alles infrage kommt, was geeignet erscheint, um den Betrachtenden in irgendeiner Weise emotionale Zugänge zu ermöglichen. Um die genaue Wahrnehmung bereits im Vorfeld ein wenig zu schulen, können kleine spiele‐ rische Übungen durchgeführt werden, etwa aus dem Bereich der Theaterpädagogik. Ganz nebenbei tragen diese in der Regel auch zu einer entspannten Atmosphäre bei. Ein Beispiel: Die Lernenden stehen oder sitzen sich jeweils zu zweit gegenüber und „spiegeln“ einander. Das heißt, jede Bewegung, jede mimische Veränderung wird vom Gegenüber so genau wie möglich spiegelverkehrt nachgeahmt. 5.3 Sprachliches Lernen mit Bilderbüchern 2 Um zunächst bei Einzelbildern zu bleiben: Alternativ zum Bilderbuch als multimodalem Ganztext (s. u.) bietet es sich bei einigen Bilderbüchern durchaus an, lediglich mit ausgewählten Einzelbildern oder begrenzten Bildfolgen zu arbeiten. Besonders gut ge‐ eignet sind hierfür textarme oder textlose Bücher 3 wie etwa Øyvind Torsetters Das Loch, in dem sich die zentrale Figur mit einem in ihrer neuen Wohnung umherwandernden Loch konfrontiert sieht, das - als echtes Loch einmal mitten durchs Buch gestanzt - an allen möglichen Stellen wieder auftaucht (vgl. Abb. 5.4). Die subtile Absurdität des Buchs regt zusammen mit den minimalistischen, cartoonartigen Zeichnungen gerade auch ältere Lernende dazu an, sich reflektierend mit ihren visuellen Eindrücken auseinanderzusetzen, eigene Ideen zu ergänzen und im Rahmen einer Präsentation zu kommentieren (ein souveräner Umgang der Lehrkraft mit möglicherweise problemati‐ schen Assoziationen vorausgesetzt). Zudem können grammatische Kompetenzen ganz gezielt gefördert werden, etwa indem die Lernenden die jeweilige Position des Lochs benennen und dabei Sicherheit im Gebrauch von Präpositionalphrasen gewinnen (Das Loch ist/ befindet sich neben/ in/ auf … [+ NP im Dativ]; Das Loch ist auf/ an/ in … [+ NP im Akk.] … gewandert). 141 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe <?page no="143"?> 4 Die Verknüpfung sprachlichen und literarischen Lernens unter Berücksichtigung neurobiologischer, entwicklungspsychologischer sowie kognitionslinguistischer Erkenntnisse zur Bedeutung von Emo‐ tionen für ein nachhaltiges (sprachliches) Lernen steht im Zentrum eines Konzepts mit dem Titel EINS - den Einstieg in Sprache erleichtern, das 2016 von einem Team aus der Sprach- und der Literaturdidaktik am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln (Arnold, Einhauser, Frickel, Seidler, Weinrich, Zepter) entwickelt wurde, um Lernende aus Willkommens‐ klassen insbesondere an weiterführenden Schulen beim Erwerb des Deutschen zu unterstützen. Auf die Bedeutung einer emotionenzentrierenden Vorgehensweise, wie sie hier verfolgt wird, gehen Frickel & Zepter (2018) im Zusammenhang mit der Vorstellung eines integrativen Modells sprachlich-literarischen Lernens ein. Die darin enthaltenen Ebenen werden in Verbindung mit der in diesem Beitrag konzipierten Unterrichtsstunde so weit wie möglich berücksichtigt, ohne sie explizit auszuweisen. Abb. 5.4: Szenen aus Das Loch (Øyvind Torseter): Entdeckung - Fahrt zum Labor - Untersuchung im Labor Grundsätzlich gilt es, das Emotionen auslösende Moment ästhetischer Impulse zu nutzen, um bei den Lernenden einen Reflexionsprozess anzustoßen, der einerseits sprachlich gestützt wird und andererseits zu curricular relevanten Sprachhandlungen des Beschreibens, Begründens etc. anregt (vgl. Frickel & Zepter 2018: 165). Über die re‐ flektierende Auseinandersetzung hinaus eignen sich Bilder und Bilderbücher aber eben auch ganz besonders als Impulsgeber für eigene Erzählungen sowie zur Vermittlung ausgewählter sprachlicher Muster. Damit ist das Ziel verbunden, die Lernenden von vornherein nicht nur auf alltagssprachlicher Ebene an das Deutsche heranzuführen, wie dies vielfach in einschlägigen Lehrmaterialien geschieht, sondern ihnen einen frühen Kontakt zu literarischen Texten und auf diese Weise zu Bildungssprache zu ermöglichen und damit bei den Kompetenzen anzusetzen, die sie in Bezug auf ihre Herkunftssprachen zum Teil bereits entwickeln konnten. 4 Gelingt eine reflektierende Auseinandersetzung, die Inhalt (focus on meaning) und Form (focus on form) gleichermaßen in den Blick nimmt, lassen sich implizites und explizites grammatisches Lernen miteinander kombinieren. Bei multimodalen Texten kommt begünstigend hinzu, dass sie an das im Zuge des visual turns zumeist bildgeprägte mediale Umfeld der Lernenden anknüpfen, zugleich aber auch genutzt 142 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="144"?> 5 Vgl. dazu insbesondere die Sammelbände zu den Landauer Bilderbuch-Tagungen, deren letzter 2020 erschienen ist (Scherer, Heintz & Bahn 2020). 6 Einen Gesamtüberblick über die deutschdidaktische Forschung zum Bilderbuch gibt Preußer (2015); vielfältige Anregungen zur Arbeit mit Bilderbüchern in inklusiven Grundschulen finden sich bei Naugk et al. (2016). 7 Ein Einblick in die Vielfalt von Bilderbüchern lässt sich u. a. über Hering (2020) gewinnen; einen stärker theoriegeleiteten Vorschlag zur Kategorisierung findet man bei Abraham & Knopf (2014); eine auch in der Sekundarstufe I notwendige „Wende zum Bild“ wird von Staiger & Arnold (2020) aus literatur- und mediendidaktischer Sicht betont, für die Primarstufe sei auf Kruse (2013) verwiesen. werden können, um ihre Kompetenzen im Bereich der visual literacy bzw. im Umgang mit multimodalen Texten aller Art zu erweitern (zur Unterstützung des Erwerbs „multimodaler Kompetenz“ als genuiner Aufgabe des Deutschunterrichts vgl. Staiger 2020). Hinsichtlich methodischer Vorgehensweisen ist festzuhalten, dass sich einige Ver‐ fahren, die sich im Literaturunterricht bewährt haben, um die Vorstellungsbildung zu unterstützen und die Empathiefähigkeit zu stärken, auch auf das Mitteilungsbedürfnis der Zweitsprachlernenden positiv auswirken. Dies gilt insbesondere für das literarische Unterrichtsgespräch, aber auch für viele Verfahren, die im Rahmen eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts genutzt werden. Sprachdidaktische Ansätze wie das Dialogische Lesen (Ennemoser, Kuhl & Pepouna 2013) und die generative Textproduktion nach Gerlind Belke (2012) knüpfen direkt daran an (zu Letzterer vgl. auch Kap. 9 dieses Bandes). Wie vielfältig vor allem anregungsreiche, sich gegen eine schnelle (und damit oft weitgehend wirkungsfreie) Rezeption sperrende Bilderbücher für den Unterricht genutzt werden können, zeigen zahlreiche literaturdidaktische Forschungen auf die‐ sem Gebiet. 5 Doch auch die Sprachdidaktik hat das Potenzial von Bilderbüchern für sprachliche Lernprozesse entdeckt (vgl. z. B. Becker 2014, Ritter & Ritter 2017, Ritter & Rönicke 2014, Rösch 2015, Wieler 2015) 6 . So stellen Ritter & Rönicke (2014) fest, dass sich über die Arbeit mit Bilderbüchern für die Lernenden die Möglichkeit bietet, … lange vor einem souveränen und routinierten Sprachgebrauch hochkomplexe Strukturen des Schriftlichen auch beim Sprechen zu erproben und entsprechende bildungssprachliche Kompetenzen losgelöst von der Schriftsprache zu entwickeln. (ebd.: 29) Genau dies kann man sich für die Förderung von jungen Menschen, die noch keine Routine in Bezug auf das Deutsche entwickeln konnten, zunutze machen. Während der Fokus in sprachdidaktisch orientierten Veröffentlichungen zum Bilderbuch jedoch fast ausnahmslos auf dem vorschulischen Bereich und der Primarstufe liegt, zeigen praktische Erprobungen im Rahmen verschiedener Projekte, dass sich Bilderbücher darüber hinaus durchaus bis in höhere Klassenstufen der Sekundarstufe hinein für die sprachliche (und zugleich literarische und mediale) Förderung eignen. Die subjektive Relevanz des Themas für die Lernenden, die Art der Gestaltung sowie eine angemes‐ sene Präsentation seitens der Lehrkraft spielen dabei eine wesentliche Rolle. 7 143 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe <?page no="145"?> 8 Zur generellen Eignung von Bilderbüchern für die Entwicklung und Förderung der Fähigkeit zu Perspektivübernahme und Empathie vgl. Nikolajeva (2018). Abb. 5.5: Cover von Heute bin ich (Mies van Hout) Zusammenfassend sei noch einmal betont, dass Bilder in isolierter Form ebenso wie Bilderbücher als multimodale Gesamtkunstwerke optimale Voraussetzungen für einen Unterricht bieten, der mit Frickel & Zepter (2018) als emotionenzentrierend bezeichnet werden kann. Wünschenswert wäre, dass die didaktischen Potenziale gerade auch des multimodalen Mediums Bilderbuch zukünftig für einen sprachfördernden Unterricht an weiterführenden Schulen stärker genutzt werden, als dies bislang geschieht. Damit werden wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen, sich auch auf bildlose literarische Texte in der neu zu erwerbenden Sprache einzulassen. Hier sind es dann unter ande‐ rem Sprachbilder, die ihr Emotionspotenzial entfalten und tiefergehende sprachliche Lernerfahrungen auslösen können. Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um zwei Bilderbücher, die mindestens bis zur sechsten Jahrgangsstufe einsetzbar sind. Beide drehen sich um das Thema Gefühle, sind jedoch von der Anlage her sehr unterschiedlich. Ziel ist es, den Lernenden früh zu ermöglichen, ihre Gefühle in der für sie neuen Sprache zu verbalisieren, sowie ihre Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen, gegebenenfalls zu erweitern und sie somit auch auf emotional-sozialer Ebene zu stärken. 8 5.4 Gefühle thematisieren lernen über Emotionen auslösende Bilderbücher Beispiel 1: Heute bin ich Das Buch von Mies van Hout hat sich seit seinem Erscheinen (2012) einen festen Platz in Kitas und Grundschulen erobert. Darüber hinaus wird es häufig in therapeutischen Kontexten eingesetzt. Da es relativ bekannt ist, sollen ein paar kurze Hinweise genügen, die seine Eignung für einen ersten Zugang zum Thema Gefühle veranschaulichen, an die bei Bedarf mit weiteren thematisch passenden Büchern angeknüpft werden kann. Zum Aufbau des Buchs: Auf einer Doppelseite steht einem Fisch vor schwarzem Hintergrund, über den ein bestimmtes Gefühl dargestellt wird, je‐ weils ein passend gestaltetes Adjektiv vor wechselnd farbigem Hintergrund ge‐ genüber. Die Gesamtgestaltung trägt insbesondere durch den gewissermaßen ins Gegenteil verkehrten Weißraum als Hintergrund für die Fischdarstellungen dazu bei, dass es sich ausgesprochen gut für die Erschließung des Wortfelds Ge‐ fühle auch bei älteren Lernenden eignet. Ein kleiner Einblick in das umfassende 144 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="146"?> Abb. 5.6: Spiel Fische finden Spektrum der didaktisch-methodischen Möglichkeiten, die sich in Verbindung mit die‐ sem Buch ergeben, lässt sich unter anderem über die Publikationen von Einhauser & Zepter (2017), Weinrich & Altinay (2016) sowie Wozilka (2013) gewinnen. Durchweg wird die Eignung des Buchs zur Schaffung von Erzählanlässen betont. Dies kann in direkter Form geschehen oder aber über zwischengeschaltete ästhetische Transforma‐ tionsprozesse (vgl. hierzu Brandstätter 2021; konkrete Beispiele zu Heute bin ich finden sich bei Wozilka 2013). Bewährt hat sich darüber hinaus die Nutzung des vom Verlag herausgegebenen Kartensatzes für ein Stimmungsritual als Einstieg in eine Stunde: Die Lernenden begeben sich in den Sitzkreis und wählen nacheinander jeweils eine Karte aus, die zu ihrem aktuellen Gefühl passt. Die laminierten Karten liegen mit der Bildseite nach oben in der Mitte und das dargestellte Gefühl sollte nach Möglichkeit unter Ver‐ wendung der eingangs eingeführten Struktur (Heute bin ich …) benannt werden, ohne die Karte umzudrehen und das jeweilige Adjektiv zu erlesen. Wer möchte, kann zudem erläutern, welche Gründe es für das bestehende Gefühl oder die vorherrschende Stim‐ mung gibt. Die Karte wird anschließend zurückgelegt, damit sie bei Bedarf auch an‐ deren aus der Runde zur Verfügung steht, und mit der Frage Und wie geht es dir, …? das Rederecht an die nächste Person weitergegeben. Darüber hinaus eignet sich das Kar‐ tenset für diverse eher spielerisch angelegte Aktionen zur Speicherung der Begriffe (vgl. Abb. 5.6: Hier geht es um das schnelle Entdecken des zu einem genannten Ge‐ fühlsadjektiv passenden Fisches). Ist der Zugang zum Gefühlsvokabular über das Buch erst einmal geschaffen, kann das sprachliche Angebot durch ly‐ rische Texte (bspw. Ich von Hans Manz; vgl. Einhauser & Zepter 2017) und/ oder zusätzliche Bilderbücher (vgl. Beispiel 2) erweitert werden, die sich in unter‐ schiedlicher Form mit dem Themenfeld Gefühle - Stimmungen - persönliche Ei‐ genschaften auseinandersetzen. Dadurch wird nicht nur eine thematische Erwei‐ terung eingeleitet, sondern zugleich eine Auseinandersetzung mit sprachlich wie in‐ haltlich unterschiedlich anspruchsvollen Texten ermöglicht, die genutzt werden kön‐ nen, um Muster für das Formulieren eigener mündlicher wie schriftlicher Texte im Sinne der Generativen Textproduktion anzubieten. Beispiel 2: Jim ist mies drauf Bei Jim ist mies drauf - dem ersten Band einer Bilderbuchreihe von Suzanne und Max Lang - handelt es sich um ein erzählendes Bilderbuch, das thematisch perfekt an Heute bin ich anknüpft. Auch für ältere Kinder kann es hilfreich sein, sich der eigenen und der Gefühlswelt anderer über anthropomorphisierte Tiere zu nähern - in diesem Fall über einen Schimpansen. Man kann sich dem miesepetrigen Blick Jims, den er uns auf dem Cover entgegenwirft, kaum entziehen und fühlt sich geradezu ertappt beim 145 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe <?page no="147"?> Abb. 5.7: Cover von Jim ist mies drauf (Suzanne und Max Lang) Abb. 5.8: Jims Wutausbruch Gedanken an eigene Momente grundlos getrübter Stimmung (vgl. Abb. 5.7.). Durch das gelungene Cover lässt sich das Kernthema des Buchs also direkt erschließen, auch ohne Rückgriff auf die verbale Komponente, und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei den Lernenden Resonanzerfahrungen ausgelöst werden, ist hoch. Die weitgehende Symmetrie von Text und Bild, die uns auf dem Cover begeg‐ net, wird im Verlauf des Buchs immer wieder aufgehoben, unter anderem, weil Jim eines Morgens mit einem eigenarti‐ gen Gefühl der Irritation erwacht (er be‐ merkte, „dass etwas nicht stimmte“), der Vermutung seines Gorilla-Freundes Nick, er habe schlechte Laune, sowie et‐ licher weiterer Tiere, die ihn darauf an‐ sprechen, jedoch mit zunehmender Ve‐ hemenz widerspricht: „‚Schlecht gelaunt, ich? Ich habe keine schlechte Laune‘“, und versucht, die von den Freunden beobachteten nonverbalen Anzeichen ins Gegenteil zu verkehren. Auf ihre Aufmunterungsversuche und Ratschläge reagiert er mit wachsendem Unmut, bis er nicht mehr an sich halten kann, seinen Standardsatz laut heraus‐ brüllt und davonstürmt (vgl. Abb. 5.8). Erst nach diesem Wutausbruch - auf einer Baumwurzel sitzend und allein vor sich hin sinnierend - kommt er zu der Einsicht, dass die anderen doch recht ge‐ habt haben könnten. Als er anschließend Nick trifft, dessen Mimik seiner inzwi‐ schen sehr ähnelt, weil ihm ein paar Sta‐ chelschweinborsten im Po stecken, ist am Ende des Tages ein beidseitig ver‐ ständnisvoller Austausch möglich, be‐ gleitet von der Zuversicht, dass es auch wieder bessere Tage geben wird. Der Erzählverlauf ist eher untypisch, werden wir doch direkt mit dem zentra‐ len Problem konfrontiert. Auch gibt es keine äußere Gefahr, etwa in Form von Gegenspieler: innen. Im Gegenteil: Jim ist um‐ geben von Freund: innen, die ihm helfen wollen (dazu gehört auch die Schlange, über 146 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="148"?> die Jim in Abb. 5.1 gestolpert ist, und die ihn nicht fressen will, sondern wie alle anderen nach dem Grund seiner schlechten Laune fragt). Den Kampf, den er ausfechten muss, ist ein Kampf mit sich selbst. Die Chancen für ein hohes Maß an subjektiver Invol‐ viertheit der Lernenden (Spinner 2006) bei der Begegnung mit dem Buch sind groß. Sie kennen indifferente, schwer erklärbare Gefühle, die sich nicht ohne Weiteres auflösen lassen, und lernen, dass es in Ordnung ist, diese zuzulassen. Selbst wenn die Schü‐ ler: innen sich den Inhalt im Rahmen eines dialogischen Leseprozesses auf verbal‐ sprachlicher Ebene noch nicht in allen Einzelheiten erschließen können, werden sie die zentrale Aussage doch erfassen, da die Bilder den verbalen Inhalt überwiegend unterstützen, ohne allerdings für sich genommen eine ausreichende Sinnkonstruktion zuzulassen. Dies wiederum bietet Anlass dafür, sich auf eine genaue Text- und Bild‐ wahrnehmung einzulassen und so in einen Reflexionsprozess einzutreten. Dabei sind bereits die (von Lehrenden leider häufig einfach überblätterten) ersten Seiten wichtig, die auf das Vorsatzpapier folgen (vgl. dazu Material 1: Bild-Text-Analysen; für alle Ma‐ terialien siehe Z-002). Ohne hier ausführlicher auf Erzählkonventionen in Bilderbüchern in Zusammen‐ hang mit äußeren und inneren Bildern eingehen zu wollen (vgl. dazu Staiger 2013), zeigt sich hier doch der berufliche Hintergrund des Zeichners. Wie in den Filmen, die unter seiner Regie entstanden sind (u. a. der Trickfilm zum Grüffelo), gelingt es ihm, die Gefühlslage der Hauptfigur über die verbalen Hinweise hinaus sehr gut nachvollziehbar werden zu lassen. Möchte man das Thema auch mit Lernenden höherer Jahrgänge in Verbindung mit einem Bilderbuch aufgreifen, empfiehlt sich Shaun Tans Der rote Baum, das gänzlich mit der Konvention bricht, innere Bilder vor allem über die verbalsprachliche Ebene darzustellen (vgl. ebd.: 9). Jim ist mies drauf bietet zahlreiche Anlässe für Gespräche und Erzählungen, aber auch Rollenspiele oder szenische Darstellungen eigener vergleichbarer Situationen und des Umgangs damit sind denkbar. Darüber hinaus eignen sich verschiedene Textstellen, um einzelne grammatische Aspekte aufzugreifen und für Unterrichtseinheiten nach dem Konzept der generativen Textproduktion zu nutzen. Mit der hier vorgestellten Unterrichtsstunde (90 Min.), die für eine Gruppe von vier bis sechs neu zugewanderten Lernenden zu Beginn der Sekundarstufe I konzipiert ist (Sprachkontaktzeit: sechs bis achtzehn Monate), jedoch in großen Teilen auf andere Lehr-Lern-Kontexte übertragbar ist, soll ein möglicher Start in eine sich über mehrere Stunden hin erstreckende Reihe rund um Jim ist mies drauf skizziert werden. Ziel der im Folgenden vorgestellten Doppelstunde ist die Festigung und Vertiefung der in Bezug auf Adjektive und Verben bereits erworbenen Fähigkeiten. Damit einhergehend wird eine Erweiterung des Wortschatzes angestrebt. Eine neue Herausforderung auf grammatischer Ebene stellt die Verwendung der Verben im Präteritum dar (zur Bedeutung fiktionaler literarischer Texte für den Erwerb und aktiven Gebrauch des Präteritums in eigenen Erzählungen vgl. Becker & Busche 2019). 147 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe <?page no="149"?> Abb. 5.9: Seite 2 und 3 von Jim ist mies drauf (erste Doppelseite nach Titelblatt) 5.5 Der Stundenverlauf Die Stunde beginnt mit der Begrüßung und einem etablierten Stimmungsritual, das in Verbindung mit Heute bin ich eingeführt wurde (s. o.). Es folgt der Einstieg in das eigentliche Thema. Dazu wird das Buch, das von Anfang an auf einem zusätzlichen Stuhl aufgestellt, jedoch bislang noch durch ein Tuch verdeckt war, mit den Worten präsentiert: „Wir haben heute einen Gast. - Darf ich vorstellen? Das ist Jim.“ Der Titel ist überklebt, so dass das Bild ( Jims Kopf im Großformat, vgl. Abb. 5.7) seine volle Wirkung entfalten kann. Die Lernenden sollen eins der bekannten Gefühlsadjektive, das ihren spontanen Eindruck am besten wiedergibt, auf einem Zettel notieren oder gegebenenfalls eine ihrer Meinung nach passende Fisch-Karte auswählen (betrübt, böse, evtl. auch verwirrt, ein Adjektiv, das im Buch selbst auf S. 4 auch genutzt wird). Auf diese Weise treffen sie vor einem gemeinsamen Gespräch zunächst eigene, nicht von den anderen beeinflusste Entschei‐ dungen (vgl. Frickel & Zepter 2018: 170). Darüber hinaus wird die in Verbindung mit Heute bin ich bereits gewonnene Einsicht noch einmal bestätigt, dass nonverbale Kommunikation nicht immer eindeutig entschlüsselbar ist. Ergänzend werden die Phrasen mies / schlecht / gut drauf sein und schlechte Laune haben eingeführt und die stilistischen Unterschiede bewusst gemacht. Spekulationen darüber, warum Jim sich so fühlt, könnten sich anschließen. Die Hinführung zum Arbeitsauftrag erfolgt über das gemeinsame Betrachten der ersten Seiten, begleitet von einem Austausch über erste Eindrücke und Vermutungen. Der Text auf S. 3 (vgl. Abb. 5.9), auf der Jim lustlos an einem Ast hängend zu sehen ist, ist zunächst überklebt mit einer Gedankenblase (vgl. Material 2: Gesprächsimpuls). Die Lernenden sollen sich dazu äußern, was Jim ihrer Meinung nach durch den Kopf gehen könnte, und verwenden dabei das Präsens. Über die Versprachlichung und ge‐ 148 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="150"?> 9 Das heißt in diesem Fall, dass die Lernenden über eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Bild und ihrer Reaktion darauf zwischen den Emotionen unterscheiden, die das Bild als Objekt bei ihnen auslöst (z. B. Heiterkeit oder Mitleid), und denen, die möglicherweise durch Erinnerungen an vergleichbare eigene Stimmungslagen aktiviert werden, also selbstbezogen sind (z. B. Traurigkeit, Ratlosigkeit, vielleicht auch Sehnsucht nach Unterstützung). 10 Zur genusspezifischen farbigen Markierung von Nomen sowie weiteren Anregungen zur Unterstüt‐ zung sprachlicher Erwerbsprozesse im Rahmen des DemeK-Konzepts vgl. Bezirksregierung Köln (2012) und Kapitel 9 in diesem Band. gebenenfalls zusätzlich nonverbale Unterstreichung der inneren Bilder der Hauptfigur entwickeln die Lernenden ein Bewusstsein für objektbezogene im Unterschied zu selbstbezogenen Emotionen (vgl. Frickel & Zepter 2018: 171) 9 . In der darauffolgenden Phase liest die Lehrkraft den Text auf S. 2 und 3 ausdrucks‐ stark vor: Als Jim Panse an einem wunderschönen Morgen aufwachte, bemerkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. (S. 2) Die Sonne schien zu hell, der Himmel strahlte zu blau und die Bananen schmeckten zu süß. (S. 3) Es findet zunächst ein Austausch über den Inhalt statt, gegebenenfalls initiiert durch eine Äußerung wie: „Also ICH freue mich, wenn die Sonne scheint und der Himmel blau ist! “ Anschließend geht die Lehrkraft mit den Lernenden zur Tafel, an der der „Dreizeiler“ noch einmal mit abweichendem Zeilenumbruch präsentiert wird, um die gleichbleibende Satzstruktur hervorzuheben und die Funktion der Gradpartikel zu zu verdeutlichen (vgl. Material 5: Hinweise zum Arbeitsauftrag zur GT). Darüber hinaus wird der Tempuswechsel thematisiert und damit auf das Präteritum als typisches Erzähltempus aufmerksam gemacht sowie der Unterschied zwischen schwachen und starken Verben verdeutlicht (vgl. Material 3: Vorlage Einführung Erzähltempus Präte‐ ritum, Abb. 5.10). Die Lehrkraft liest den Dreizeiler noch einmal vor und bittet die Lernenden, beim nächsten Mal mitzusprechen. Passende Gesten und Gesichtsausdrücke (Hand über zusammengekniffenen Augen, abschätziger Blick zum Himmel, Schmatzen und Ver‐ ziehen des Mundes) begleiten das chorische Sprechen, das noch einige Male wiederholt wird. Im Anschluss an eine kurze Bewegungspause sollen die Lernenden sich in Zweier‐ teams eigene Dreizeiler überlegen, wobei der dreischrittige Aufbau nach Möglichkeit beibehalten werden sollte, weil so implizit auch eine Heranführung an ein literarisches Muster erfolgt. Dazu werden Wörterlisten mit - ihrem jeweiligen Genus entsprechend farbig markierten - Nomen zur Verfügung gestellt 10 sowie Wörterlisten mit Verben und mit Adjektiven. Thematisch ist das Vokabular im durch das Buch vorgegebe‐ nen Raum, dem Dschungel, angesiedelt (vgl. Material 4: Wörterlisten). Bevor die Lernenden selbständig arbeiten, werden einige Beispiele unter Mithilfe der Lehrkraft 149 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe <?page no="151"?> Abb. 5.10: Material 3: Vorlage Einführung Erzähltempus Präteritum zusammengestellt. Dabei ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten der Differenzierung (vgl. Material 5: Hinweise zum Arbeitsauftrag zur GT). Wenn möglich, wechselt die Gruppe für die Präsentationsphase auf den Schulhof. Im Wechsel übernimmt jeweils eine der Lernenden die Rolle von Jim und hängt sich - sofern vorhanden - an einen Ast, eine Reckstange oder (lediglich andeutungsweise) an ein quer gespanntes Seil (ggf. ist auch die Simulation schlaffen Herumhängens auf einem Stuhl oder im Türrahmen innerhalb des Klassenraums denkbar), während der Teampartner eine Erzählhaltung einnimmt und die im Buch genannten störenden Faktoren durch die im Team formulierten eigenen Ideen ergänzt, die er möglichst lebendig vorträgt. Anschließend werden die Rollen von ‚spielender‘ und erzählender Person getauscht und die anderen Lernenden aufgefordert, den nun bereits bekannten neuen Dreizeiler des präsentierenden Teams mitzusprechen. Die letzten zehn Minuten werden für einen Austausch auf inhaltlicher Ebene genutzt, indem zum Beispiel eigene Erfahrungen mit schlechter Laune thematisiert werden. Aufgaben 1.* Welche Gründe sprechen für einen Einsatz von Bilderbüchern über die Primar‐ stufe hinaus? 2.** Setzen Sie das hier vorgestellte Konzept, Bilder und Bilderbücher zur Anregung sprachlicher Entwicklungsprozesse zu nutzen, in Beziehung zum folgenden Zitat: 150 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="152"?> Es ist also nicht das von einem Lebewesen wahrgenommene Phänomen, sondern die durch diese Wahrnehmung in seinem Inneren ausgelöste Wirkung, die einen entsprechenden Lernprozess in Gang setzt. (Hüther 2016: 44) Inwiefern kann das Konzept als auf dem Fundament neurobiologischer Er‐ kenntnisse basierend angesehen werden, wie sie unter anderem Hüther in seinem Buch Mit Freude lernen - ein Leben lang darstellt, dem das Zitat entnommen ist? 3.** Wählen Sie eines der beiden Fotos (Abb. 5.11 oder Abb. 5.12) aus. (Versuchen Sie Ihre Wahl zu begründen.) Überlegen Sie sich ein Lernsetting, in dem das ausgewählte Bild im Zentrum steht. Abb. 5.11: Hängebrücke Abb. 5.12: Cliff 4. *** Setzen Sie sich vertiefend mit der Förderung von Erzählkompetenzen ausein‐ ander und lesen Sie dazu Becker & Stude (2017). Diskutieren Sie anschließend in Kleingruppen, ob textfreie Bilderbücher in diesem Zusammenhang besser geeignet sind als Bilderbücher mit verbalen Textanteilen (vgl. dazu auch Krichel 2020 und Wieler 2015). Vertiefende Literatur Heinrichs, P. (Hrsg.) (2016). Unterricht für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche in der Sekundarstufe I. Fachliche und fachdidaktische Perspektiven. Köln: Bezirksregierung Köln, Arbeitsstelle Migration. Lösener, H. (2015). Kompetenzen sind nicht alles. Worum es beim literarischen Lernen auch geht. Grundschule Deutsch 48, 44-46. 151 5 Bilder(bücher) und Emotionen als Sprech- und Erzählanlässe <?page no="153"?> Müller, C. & Stark, L. (2015). Sprachdidaktische Anreize in der Kinderliteratur. Ein Typologisie‐ rungsversuch. In U. Eder (Hrsg.), Sprache erleben und lernen mit Kinder- und Jugendliteratur I. Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutsch als Zweitsprachenunterricht (S. 95-117). Wien: Praesens. Bilderbücher Hout, M. van (2012). Heute bin ich. Zürich: Aracari. (niederl. Original 2011) Lang, S. & Lang, M. (2020). Jim ist mies drauf. Bindlach: Loewe. (engl. Original 2018) Tan, S. (2017). Der rote Baum. Hamburg: Aladin. (3. Aufl.) Torseter, Ø. (2015). Das Loch. Hildesheim: Gerstenberg. (2. Aufl.) Bildnachweise Abb. 5.1, 5.8, 5.9: Abbildungen aus Lang, Suzanne & Lang, Max (2020). Jim ist mies drauf. Bindlach: Loewe. Abb. 5.7: Cover der deutschsprachigen Ausgabe von Lang, Suzanne & Lang, Max (2020). Jim ist mies drauf. Bindlach: Loewe. ©Loewe. Abb. 5.2, 5.6, 5.10, 5.11: eigene Aufnahmen Abb. 5.3: Sarah Unger Abb. 5.4: Øyvind Torseter: Das Loch 2014 © Gerstenberg Verlag, Hildesheim Abb. 5.5: Heute bin ich von Mies van Hout; ISBN 978-3-905945-30-0; deutschsprachiges Verlags‐ recht: aracari verlag ag, Zürich; Agentur: élami agency, Amsterdam Abb. 5.12: (https: / / cdn.pixabay.com/ photo/ 2017/ 08/ 31/ 09/ 11/ cliff-2699812_960_720.jpg) [25.09.2021] Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechte zu klären. Berechtigte Ansprüche können beim Verlag geltend gemacht werden. Download: Stundenverlaufsplan 152 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="154"?> 1 Für verschiedene unterrichtspraktische Anregungen aus den Bereichen des Figuren- und Erzähltheaters (einschließlich des Kamishibai-Theaters) siehe Conesa (2020). 2 von Iwao Fukuda (2001), Doshinsha Verlag, Tokyo. 3 Le Jardin, Abk. für Le Jardin Multilinguale Kindereinrichtungen gGmbH, Frankfurt/ Main. 6 Erzählen als performative Kunst 1 : Mehrsprachiges Kamishibai Guylène Colpron, Mechthild Dörfler, Carmen Sorgler (Mehrsprachiges) Erzählen kann die Brücke von der Mündlichkeit zur Schrift‐ lichkeit bilden - in medialer und vor allem in konzeptioneller Hinsicht. Die Entwicklung der Erzählfähigkeiten beginnt in der frühen Kindheit, entfaltet sich im Kindergarten und setzt sich in der Grundschule fort. Während im Kindergar‐ ten Konzepte zur Literacy-Förderung erste schriftstrukturelle Erfahrungen und Praktiken ermöglichen, kommt in der Schule das Lesen und Schreiben hinzu. Aus dem Bereich der frühkindlichen Bildung kommend, setzt der Beitrag an der Nahtstelle zwischen der elementaren und der schulischen Bildung an und stellt das Erzählen mit Kamishibai in den Mittelpunkt. 6.1 Kamishibai: interaktives und bildgestütztes Geschichtenerzählen Abb. 6.1: Kamishibai lebt von der fortlaufenden Bewegung (aus: Wo bleibt Mama 2 , Foto: Le Jardin 3 ) Die japanische Erzählkunst Kamishibai ist eine interaktive und bildgestützte Form des Geschichtenerzählens - eine kraftvolle Kombination aus visuellem Medium und 153 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="155"?> 4 Dank der Internationalen Kamishibai Vereinigung Japans (IKAJA) beginnt diese Erzählform, sich auf der ganzen Welt zu verbreiten. Seit der Gründung von IKAJA im Jahr 2001 zählt die Vereinigung 304 internationale Mitglieder in insgesamt 54 Ländern und Regionen (vgl. www.kamishibai-ikaja.c om/ en, letzter Stand 2020). mündlicher Erzählung. Kamishibai ist vielseitig: Es kann von Erwachsenen wie Kin‐ dern aufgeführt werden und ist für jede Altersgruppe und jedes Publikum anpassbar. Das alles macht Kamishibai zu einem unterhaltsamen Medium und wirkungsvollen pädagogischen Werkzeug, das derzeit in vielen Ländern in Pädagogik, Unterricht und Sozialarbeit entdeckt wird. 4 Kamishibai gibt es in zwei Formen: als Unterhaltungsmedium zum expressiven Erzählen (Gaito) und für den pädagogischen Einsatz (Kyōiku): als Türöffner für die Begegnung, das Gespräch und das Lernen. In unserem Beitrag beziehen wir uns auf Kyōiku, den pädagogischen Einsatz des Kamishibai, mit seinen klassischen Merkmalen. Kamishibai bedeutet übersetzt Papiertheater. Kami ( 紙 ) heißt Papier. Shibai ( 芝居 ) heißt Schauspiel/ Drama. Kamishibai besteht aus einem Holzrahmen, Butai genannt, mit drei Klapptüren. Das Bildkartenset wird seitlich in den Butai eingeschoben. Erzählerin oder Erzähler stehen neben dem Theaterrahmen und ziehen nach und nach die Bildtafeln einzeln heraus und führen sie am Ende des Bilderstapels wieder in den Rahmen zurück. Während das Publikum nur die Bilder sieht, kann der Erzähler den Text zu den Bildtafeln durch die offene Rückwand sehen. Damit der Text jeweils passend zum vorderen Bild zu lesen ist, sind die Texte versetzt gedruckt. Durch ihre Position kann die erzählende Person den Text (vor)lesen und ihren Blick immer wieder dem Publikum zuwenden. Das Herausziehen kann mal langsam, mal schnell oder zunächst nur bis zur Hälfte erfolgen, ganz wie es die Geschichte erfordert. Das Zurückführen der Bilder in den Rahmen bringt wiederum die Geschichte voran und hilft der Erzählung, fließend zur nächsten Szene überzugehen. Durch ihre zugewandte Haltung kann die Erzählerin mit dem Publikum ins Gespräch kommen und es ins Geschehen miteinbeziehen. Wesentlich für Kamishibai ist, dass die Geschichten erst durch die Aufführung lebendig werden (vgl. McGowan 2015). Kombination von Mündlichkeit und Schriftlichkeit In Kindertageseinrichtungen wird Kamishibai eingesetzt, um das mündliche Erzählen zu fördern. Auch wenn bereits Kinder im Kindergarten in die Welt der Schriftlichkeit eingeführt werden sollen, sind die Konzepte zur Literacy-Förderung hier nicht auf den Erwerb der Schriftsprache(n) ausgerichtet. Sie sollen erste schriftstrukturelle Erfahrungen und Praktiken ermöglichen. Die Schriftsprache kommt dann in der Schule hinzu. Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind jedoch nicht voneinander getrennt zu betrachten. Sie bedingen sich wechselseitig. Einen wichtigen Platz nimmt dabei die Fähigkeit zum Erzählen ein (vgl. Hee 2016). 154 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="156"?> 5 Je nach Länge des Textes finden sich manchmal bis zu vier Sprachen auf der Rückseite einer Bildkarte. Manche Verlage bieten Übersetzungen als PDF-Download auf ihrer Internetseite oder auf Nachfrage an: Éditions Callicéphale, Straßburg; Éditions Lirabelle, Frankreich. 6 Familiensprache und Erstsprache nutzen wir synonym. Instrument zum Innehalten, zur Konzentration und Stärkung von Gemeinschaft Erzähldidaktisch bietet das Erzählformat Kamishibai einen ganzheitlichen Zugang, der über das sprachliche Lernen hinaus soziale, emotionale und ästhetische Erfahrungen gleichermaßen miteinbezieht. Ein Kommunikations-Spiel im besten Sinne des Wortes, ein bewusst eingesetztes, analoges slow medium für die direkte Kommunikation und Interaktion von Angesicht zu Angesicht. So eingesetzt ist Kamishibai ein Instrument zur Entschleunigung und zum Innehalten, zur Förderung von Konzentration und Fokussierung sowie zur Stärkung eines Gemeinschaftsgefühls. Gut geeignet für mehrsprachiges Erzählen Kamishibai als bildgestützte Erzählform bietet dabei interessante Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit der Kinder aufzugreifen und wertzuschätzen. So findet man inzwi‐ schen auch immer mehr Kamishibai-Geschichten in verschiedenen Sprachen. 5 Und nicht zuletzt beim eigenen Erfinden von Geschichten haben Kinder die Möglichkeit, neben Deutsch auch ihre Familiensprachen 6 stärker zur Geltung zu bringen, ob schriftlich, mündlich, visuell und/ oder musisch. 6.2 Warum ist Erzählen für Kinder so wichtig? Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich alle Kinder mit Kamishibai für das Erzählen von Geschichten begeistern lassen - und dies über Sprachbarrieren oder Lernhindernisse hinweg. Sich Geschichten zu erzählen ist eine besondere Form der Kommunikation, die zwar aus dem Alltag kommt, zugleich jedoch eine Kunst ist. Denn sobald wir zu erzählen beginnen, verwenden wir eine andere als unsere alltägliche Sprache. Erzählen: Brücke zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Erzählungen folgen dabei eigenen Ordnungsstrukturen (Aufbau, Sprache, Zeitform). Wenn Kinder diese Regeln verstehen, begegnen sie damit in der vertrauten mündlichen Form erstmalig einem Text. Das heißt, sie lernen eine Sprache kennen, die aus dem kom‐ munikativen Kontext herausgelöst und de-kontextualisiert ist - eine entscheidende Voraussetzung für die Lese- und Schreibfähigkeit. Lebendiges mündliches Erzählen bildet in diesem Sinne eine Brücke zwischen der alltäglichen Sprachverwendung und der Ausdrucksweise geschriebener Sprache bzw. konzeptioneller Schriftlichkeit (vgl. Merkel 2007, Cummins 2007). Die Entwicklung dieser Fähigkeiten beginnt in der frühen Kindheit und setzt sich in der Schule fort. 155 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="157"?> Erzählen fördert kognitive, soziale und sprachliche Fähigkeiten. Damit Kinder eine stimmige Geschichte erzählen können, brauchen sie eine Reihe von kognitiven, sozialen und sprachlichen Fähigkeiten: Ein guter Wortschatz und ein altersgemäß entwickeltes Weltwissen sind wichtig; es sollte sich ein roter Faden durch die Geschichte ziehen, der Inhalt zusammenhängend sein (Kohärenz); die gesprochenen Wörter müssen das Erzählte auch formal zusammenhalten (Kohäsion); Zusammenhänge sollten erkannt, logische Schlüsse daraus gezogen, Probleme gelöst und Wesentliches von Unwesentlichem getrennt werden können (vgl. Shelten-Cornish 2001). All das lernen Kinder im wechselseitigen Dialog, wenn ihnen erzählt und vorgelesen wird und wenn ihnen jemand richtig zuhört. Und natürlich auch durch (Bilder-)Bücher. Sie sind eine Fundgrube für komplexe Wörter, für lustige und traurige Geschichten und für spannende Abenteuer und helfen Kindern dabei, einmal selbst eine Geschichte malen und schreiben und schließlich in der Klasse vorführen zu können. 6.3 Woher kommt Kamishibai? Kamishibai in seiner uns heute bekannten Form taucht erstmals 1930 in Tokyo auf und wird in den großen Städten Japans schnell zu einer der beliebtesten Formen der Massenunterhaltung. Die Wurzeln von Kamishibai reichen jedoch weit zurück, bis zu den Bildrollen von buddhistischen Wandermönchen aus dem 11. bis 12. Jahrhundert (etoki und emaki-Rollen) und bis zu anderen, Jahrhunderte alten japanischen Erzähl‐ traditionen für Bildergeschichten. Seinen Aufschwung erlebt Kamishibai in den 1930er- und 1940er-Jahren. Ein typi‐ sches Bild für diese Zeit der wirtschaftlichen Depression und großen Arbeitslosigkeit ist der Süßigkeiten-Verkäufer, der einen transportablen, zusammenklappbaren Holz‐ rahmen mit Bildtafeln auf sein Fahrrad schnallt, durch die Dörfer zieht und mit dieser Miniaturbühne auf den Straßen Geschichten erzählt - als Verkaufsförderung. Mit dem Verkauf von Süßigkeiten verdienen sich die Erzähler ihren notdürftigen Unterhalt. Gleichzeitig werden die pädagogischen Möglichkeiten dieser in den Bann ziehenden Erzählkunst entdeckt. Allerdings wird Kamishibai während des zweiten Weltkriegs auch als Instrument der Kriegspropaganda missbraucht (vgl. Kamishibai-Newsletter 2014. Vol.10). Das Straßen-Kamishibai (Gaito) verliert in den 1950er-Jahren an Bedeutung. Das aufkommende Fernsehen (auch denki kamishibaï, „elektrisches Kamishibai“, genannt) verdrängt die einst so beliebte Erzählkunst (Say 2015: 35). Der pädagogische Anspruch der Vorkriegsjahre jedoch erhält nach den Erlebnissen des zweiten Weltkriegs neuen Aufschwung. Kamishibai wird wieder verstärkt in Kindergärten und Schulen einge‐ setzt. Werte wie Frieden, Respekt und Demokratie, Mut und „Gemeinsam-etwas-schaf‐ 156 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="158"?> 7 Der Verlag Doshinsha, mit Sitz in Tokio, ist einer der wenigen Verlage, die Kamishibai noch in großer Zahl produzieren. 1957 gegründet, ging er aus einer Gruppe hervor, die 10 Jahre zuvor mit dem Ziel gegründet worden war, den Ruf von Kamishibai nach dem Krieg zu rehabilitieren. Die Mission des Verlags ist getragen von Werten wie Respekt, Friedfertigkeit und die Liebe zu Kindern (Kamishibai-Newsletter 2014. Vol.10: 6). 8 Bei Bilderbüchern erfolgt die Bewegung meist in die Richtung, in die umgeblättert wird. Daher eignen sich diese Bilder nicht für Kamishibai, denn wenn die Figuren von rechts aus der Holzbühne herausgezogen werden, verlassen die Figuren rückwärts die Bühne, was irritierend wirken kann. fen“ halten nun Einzug in die Geschichten. 7 In den 1970er-Jahren kommt die Kunst des Erzählens mit Kamishibai nach Europa und ist heute weltweit so lebendig wie nie. 6.4 Was macht Kamishibai so besonders? Kamishibai lebt von der Bewegung. Abb. 6.2: Fumiko und ihr Schlitten (1985), Doshinsha Verlag Kamishibai lebt von der fortlaufenden Bewegung des Kartenziehens. Damit ist es eben kein großes, bebildertes Buch, das in einem Rahmen präsentiert wird. Durch die Bewegung, die beim Herausziehen und Hineinschieben der Bildkarten entsteht, ähnelt es vielmehr einem kleinen Film. Die Handlung setzt sich dabei - vom Publikum aus gesehen - von rechts nach links fort. 8 Die Bilder bleiben nur kurz stehen und kehren nicht mehr zurück. Ein Zurückblättern wie im Buch ist nicht möglich. Jede Karte ist daher so gestaltet, dass sie nur die wichtigsten Charaktere und das Wesentliche einer Handlung zeigt. 157 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="159"?> Reduziert, aber stark im Ausdruck Das kleine Küken (1971), Doshinsha Verlag Zur Essenszeit (2013), Éditions Callicéphale Gib nicht auf, Kamekun (2007), Doshinsha Verlag Mama Quak ruft ihre Kinder (2021), frankfur‐ ter Kamishibai edition Abb. 6.3: Vier Beispiele, die die Besonderheit der Illustration zeigen. Die Figuren sind klar und akzentuiert und die Hauptfigur ist oft zentral platziert. Kräftige Farben und deutliche Umrisse lassen Bilder von der Ferne gut erkennbar sein. Gute Kamishibai-Illustrationen zeichnen sich durch große emotionale Qualität aus. Sie sind bewusst reduziert, aber stark im Ausdruck. So erreicht Kamishibai sofort die Aufmerksamkeit des Publikums, hilft Kindern sich zu fokussieren und fördert die Konzentration. Damit eignen sich gute Kamishibai-Geschichten auch für große und lernheterogene Gruppen. Ausbalanciertes Verhältnis von Text und Bild Eine Kamishibai-Geschichte gehorcht ganz eigenen Gestaltungsregeln. Dazu gehört auch ein ausbalanciertes Verhältnis von Text und Bild. Anders als in Märchen zum Beispiel beschreibt der Text nicht, was geschieht - das ist schließlich auf dem Bild 158 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="160"?> 9 Bedeutsam ist hier v. a. auch der Unterschied in Bezug auf den Tempusgebrauch. Das Perfekt gilt als Erzähltempus der Mündlichkeit, das Präteritum als Erzähltempus der Schriftlichkeit. zu sehen. Er ist meist kurz und prägnant. Dialoge, innere Monologe und Lautmalerei machen die Erzählung lebendig und erleichtern den Kindern die Identifikation mit der Hauptfigur und dem Geschehen. Mündliche Erzählung und bildliche Darstellung ergänzen sich und beziehen sich aufeinander. Der Text wird dem Publikum vorgelesen oder frei erzählt. Da die meisten Geschich‐ ten eine Fundgrube für präzise und komplexe Wörter sind, ist es bei alters- oder sprachheterogenen Gruppen mitunter angebracht, zum besseren Verständnis Erzählen und Vorlesen zu mischen. Beide Formen haben ihre Berechtigung. Beim Erzählen wird die Präsentation lebendiger und leichter verständlich. Das Vorlesen hingegen fördert den Erwerb des schriftsprachlichen Wissens, da Satzbau und Wortschatz differenzierter und reichhaltiger sind. 9 Die besondere Rolle beim Erzählen Während beim Vorlesen eines Buches die Kinder in die fiktive Welt der Geschichte eintauchen, tritt bei einer Kamishibai-Präsentation die Geschichte in die Realität des Publikums ein. Die Erzählerin oder der Erzähler sind das Bindeglied zwischen Bühne, Bild, Text und Publikum. Sie stehen daher am besten neben bzw. leicht versetzt hinter dem Holzrahmen. So können sie sich den Kindern zuwenden und gut Blickkontakt mit ihnen halten. Beim Kamishibai-Erzählen kommt es auch nicht auf möglichst viel Schauspieltalent an. Im Gegenteil: Die erzählende Person soll bei der Vorführung die Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen, sondern eher im Hintergrund bleiben: Im Mittelpunkt steht die Geschichte. Sie wird durch schnelles, langsames und auch nur stückweises Ziehen der Bildkarten inszeniert, ganz wie es die Dramaturgie erfordert. MA: Zeit, Raum und Ruhe für das eigene Empfinden In der kleinen Pause, die beim Bildwechsel durch das Herausziehen und Zurückschie‐ ben der Bildtafeln entsteht, vertieft sich die Aufmerksamkeit des Publikums. Das wird unterstützt, indem dabei (meist) nicht gesprochen wird. In diesen (Sprech-)Pausen findet sich das, was man im Japanischen mit MA beschreibt. Es ist die Zeit, der Raum und die Ruhe für das eigene Empfinden und Denken. Die Stille beim Herausziehen der Bildkarten hilft dem Publikum, dem Verlauf der Geschichte zu folgen. Bei diesem Übergang baut sich Spannung auf, da für einen kurzen Moment beide Karten zu sehen sind: Während das neue Bild bereits in Teilen sichtbar ist, schiebt sich das vorherige Bild langsam hinter die Tür des Rahmens, bevor es ganz im Holzrahmen verschwindet. Erst dann kann sich die Konzentration wieder voll und ganz auf die neue Szene richten, die Spannung auflösen und die Geschichte fortsetzen. Dieses Wechselspiel zwischen Spannungsaufbau und -abbau ist wichtig und bildet den Kern dieser Erzählkunst. Denn damit geht eine starke Konzentration einher - unterstützt von der Klarheit und prägnanten Darstellung der Bilder, der engen 159 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="161"?> Verbindung von Text und Bild und einer erzählenden Person, die mit dem Publikum kommuniziert und mit allem und allen verbunden ist. MA (Kalligraphie: Rie Takeda) Übersetzt bedeutet MA z. B. Zwischenraum, Pause, Leere, Spielraum, Lücke, Nichts oder Zeitfenster. MA ist ein wichtiges Konzept der japanischen Kultur. Es zeigt sich in Sprache und Kommunikation, in Kunst und Architektur, in Philosophie und Religion. MA steht für das Innehalten, die erfüllende Leere oder die verbindende Stille. Ähnlich der Pause in der Musik schafft MA Raum für das eigene Empfinden, das Verstehen und eine kreative Absichtslosigkeit (vgl. Wöss 2017). In dieser besonderen Form der Kommunikation liegt die Stärke von Kamishibai: sie lässt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entstehen, fördert die Konzentration des Publikums. Bei Kamishibai ist niemand mit der eigenen Freude, Überraschung oder Rührung allein. Die anderen in der Gruppe teilen diese Gefühle - und zwar über Sprach-, Bildungs- und Altersgrenzen hinweg. Abb. 6.4: Kyōkan: ‘Gefühl der Zusammengehörigkeit‘, Abbildung nach Wanrooij (2006: 13) Dieses Gefühl des „Sich-Eins-Fühlen“, der wechselseitigen Beziehung und der geteilten Erfahrung mit anderen aus der Gruppe, nennt man in Japan Kyōkan. Kyōkan (Kalligraphie: Rie Takeda) Kyōkan bedeutet frei übersetzt „sich eins fühlen mit“. Kyō bedeutet: zusammen, gemeinsam. Kan steht für: Gefühle teilen. Kyōkan ist das Herz von Kamishibai 160 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="162"?> und bedeutet, Gefühle und Gedanken mit anderen zu teilen, etwas gemeinsam zu empfinden, sich miteinander verbunden zu fühlen. Und es vermittelt die Botschaft: Es ist gut, in Gemeinschaft zu leben (Nozaka 2014, zitiert in: Dörfler & Colpron 2015: 14). 6.5 Wie lässt sich Kamishibai einsetzen? Es ist empfehlenswert, eine Geschichte mehrmals aufzuführen, denn so verstehen Kin‐ der die Sprache und das Thema der Geschichte schrittweise immer besser. Bei der ersten Vorführung ist es wichtig, die Geschichte ohne große Unterbrechungen vorzutragen, um den Strom der Bilder und Vorstellungen in den Köpfen der Zuschauenden nicht zu stören. Die Beiträge der Kinder während dieser ersten Vorführung sollten daher nur kurz kommentiert und auf die Zeit nach der Präsentation verschoben werden. Kennen die Kinder den Handlungsablauf einer Geschichte bereits, dürfen sie die Vorführung mit ihren Fragen, Kommentaren und Reaktionen unterbrechen. So lässt sich auch gut herausfinden, was die Kinder verstehen, was sie über die Geschichte denken und was sie beschäftigt. Wenn die Kinder die Geschichte gut verstanden haben, kann die Lehrkraft mit komplexeren Sinnfragen über den reinen Handlungsverlauf hinausgehen und die Kinder zum Nachdenken anregen. Die Kinder lernen damit ‚zwischen den Zeilen zu lesen‘ und tauchen so tiefer in das Thema der Geschichte ein. Beim ersten Zuhören liegt der Schwerpunkt für die Kinder beim intensiven Zuhören und beim Aufnehmen neuer Wörter. Dabei müssen sie nicht alle Wörter verstehen, denn glücklicherweise können sie auch, dank der Bilder, „mit den Augen hören“. Mit Schlüsselwörtern der Geschichte sollten die Kinder allerdings vertraut gemacht werden: durch langsames Sprechen, Betonen und Zeigen eines Wortes. Die sprachfördernde Strategie SSTaRS Komplexe, präzise Wörter lassen sich nicht zeigen. Um Kinder mit anspruchsvollerem Wortschatz vertraut zu machen, schlagen Weitzman & Greenberg (2010) die Strategie SSTaRS vor. Das Akronym zielt darauf ab, Schlüsselwörter eines Textes wie Sterne am Himmel „erstrahlen“ und damit gut erkennbar werden zu lassen. Denn Kinder, die in der deutschen Sprache noch nicht sicher sind, haben es schwer, aus dem Strom von aneinandergereihten Wörtern einzelne Wörter herauszuhören. Als Unterstützung bieten sich hier vier Schritte an - und die häufige Wiederholung des neuen Wortes. 161 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="163"?> Abb. 6.5: Die Strategie SSTaRS (aus: Dörfler 2015: 155) Abb. 6.6: Beispiel: Wort betonen und dabei zeigen (aus: Kisto der Roboter, 1970, Dos‐ hinsha Verlag, Foto: Le Jardin) Auf der Bildkarte (Abb. 6.6) sind zwei Kinder zu sehen, die gemeinsam überlegen, was sie mit ihren Pappkartons bauen könnten. Takeshi schlägt vor: „Dann lass´ uns einen Roboter wie aus glänzendem Stahl bauen.“ Indem der Pädagoge das Wort „Takeshi“ betont und dabei auf den Jungen zeigt, erkennen die Kinder, dass Takeshi der Name des Jungen ist. Die Bedeutung „glänzender Stahl“ ist vielen Kindern sicher ebenfalls unbekannt. Daher ist es sinnvoll, zunächst kindgerecht zu erklären, was Stahl ist. Dafür kann man z. B. einen Gegenstand aus Stahl mitbringen (Requisiten nutzen) oder den Begriff beschreiben und erklären, was daraus hergestellt wird und den Kindern bereits bekannt sein könnte (Erfahrungen der Kinder aufgreifen). Das Wort glänzend kann man mit der Erfahrung der Kinder verbinden, indem man sie fragt, was glänzt und was nicht glänzt (erklären, was es ist, und was es nicht ist). In unserer praktischen Erfahrung sind wir immer wieder erstaunt, wie gut sich Kinder an neue Wörter erinnern, wenn man die Erklärung mit ihren Erfahrungen verknüpft. Mit SSTaRS bekommen Fachwörter und präzise, komplexe Wörter, wie z. B. „ein streitlustiger Bär streunt durch die Gegend“, eine besondere Aufmerksamkeit und kön‐ nen besser verstanden werden. Doch Vorsicht: Weniger ist mehr! Je Vorführung sollten nicht mehr als drei Wörter ausgewählt werden, um den Lauf der Geschichte nicht zu oft zu unterbrechen. Die Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass die Aufmerksamkeit des Publikums nachlassen kann. Besonders wichtige Wörter können daher auch vor der Vorstellung der Geschichte erklärt werden. 6.6 Mit Kamishibai mehrsprachig erzählen Vom mehrsprachigen Erzählen können alle Kinder profitieren. Bei Kindern, die ein‐ sprachig mit Deutsch aufwachsen, lässt sich das Sprachbewusstsein wecken. Ziel ist dabei nicht das gezielte Erlernen einer fremden Sprache, sondern die Sensibilisierung und Wertschätzung für die vielen Sprachen, die andere Kinder mit in die Schule 162 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="164"?> 10 Quersprachiges Erzählen bedeutet, zwischen den Sprachen zu wechseln. Dabei erlernen die Kinder soziale, emotionale wie kognitive Fähigkeiten (List 2010 zitiert in: Panagiotopoulou 2016: 27). bringen. Kinder wiederum, die mit Deutsch als Zweit- oder Drittsprache aufwachsen, horchen sehr oft auf, wenn sie plötzlich ihre eigene Familiensprache hören, ihr Interesse für die Geschichte wächst. Wenn sie die Geschichte in Deutsch und in ihrer eigenen Sprache hören, erhalten sie - unterstützt überdies durch die klaren Bilder - mehr Möglichkeiten, die jeweiligen Inhalte und Wörter einander zuzuordnen. Dadurch entstehen Synergien, die das Verstehen-Wollen und damit den Spracherwerb unterstützen. Mehrsprachiges Erzählen: kulturelle und sprachliche Ressourcen der Kinder anerkennen In der Praxis führen Sprachbarrieren leicht dazu, Kinder zu unterschätzen. Viele mehrsprachig aufwachsende Kinder machen die frustrierende Erfahrung, sich mit ihrer Intelligenz, ihren Gefühlen, ihrem Humor und ihren Ideen nicht adäquat ausdrücken zu können (Cummins 2007: 4). Sind die Kinder zu einem ausschließlich einsprachigen Handeln verpflichtet (Panagiotopoulou 2016: 25), bleibt ein Teil ihrer Identität unsicht‐ bar. Können sie sich hingegen mit all ihren Sprachen einbringen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie alle Facetten ihrer mehrsprachigen Identität zeigen und sich mit ihren kulturellen und sprachlichen Ressourcen anerkannt fühlen. Kamishibai ermöglicht Kindern diese Erfahrung. Vorausgesetzt, die Geschichten werden mehr- und „quersprachig“ 10 erzählt. Drei Varianten des mehrsprachigen Erzählens möchten wir im Folgenden kurz darstellen. 1. Beliebt in allen Sprachen: Zahlen, Zaubersprüche, Reime In allen Geschichten weltweit finden sich Formeln, Zaubersprüche, Reime oder Zahlen. Sie sind als Einstieg ins mehrsprachige Erzählen besonders gut geeignet. Kinder können beispielsweise danach gefragt werden, wie ein Zauberspruch oder Zahlen in ihrer Sprache klingen. Und jedes Mal, wenn der Zauberspruch gefordert ist oder abgezählt wird, sprechen alle in dieser Sprache nach. Der Vorteil bei dieser Variante ist, dass minimale Kenntnisse in einer Sprache bereits ausreichen, um Kindern mehrsprachig etwas zu erzählen. 2. Eine Geschichte in zwei Sprachen Ähnlich dem mehrsprachigen Vorlesen von Bilderbüchern kann man eine Kamishi‐ bai-Geschichte auch in zwei Sprachen vorlesen: zuerst in einer für die Gruppe neuen Sprache und anschließend auf Deutsch. Diese Form eignet sich gut für den Einsatz in bilingualen Kindergruppen oder in Einrichtungen, in denen eine bestimmte Sprache besonders häufig gesprochen wird. Die klaren Bilder des Kamishibai helfen dabei, den Inhalt einer Geschichte zu erschließen. Beim Erzählen lassen sich wichtige Begriffe durch gleichzeitiges Benennen und Zeigen verständlich machen. Das hilft besonders den Kindern, die der jeweiligen Sprache nicht mächtig sind. Beim zweisprachigen Vorlesen setzen sich vor allem mehrsprachige Kinder mit dem Inhalt in zwei Sprachen 163 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="165"?> 11 Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass sich Kinder, die die Wörter in beiden Sprachen verstanden haben, an das deutsche Wort leichter erinnern. auseinander. 11 Bei einsprachig aufwachsenden Kindern wird das Interesse für andere Sprachen angeregt und die Neugierde geweckt. 3. Zwei Sprachen im Dialog Abb. 6.7: Sprache verständlich machen (aus: Billy, 2017, Doshinsha Verlag, Foto: Le Jardin) Viele Kinder erwerben gleichzeitig zwei oder mehr Sprachen. Ein Wechsel zwischen den Sprachen ist ihnen vertraut und gewissermaßen fester Bestandteil ihres mehrspra‐ chigen Alltags. Beim Erzählen einer Kamishibai-Geschichte lässt sich diese für viele Kinder vertraute Form der Kommunikation aufgreifen. Die einsprachig deutschen Kin‐ der wiederum lernen eine neue Sprache kennen. Bei dieser Form des mehrsprachigen Vorlesens bleibt Deutsch die dominante Sprache, ist aber gespickt mit einer weiteren Sprache, deren Sinn sich aus dem Bild oder der deutschen Wiederholung des Gesagten erschließt. Das mehrsprachige Vorlesen mit zwei Personen ist somit in eine ganz natürliche Gesprächssituation eingewoben. Es ist wichtig, im Vorhinein die Stelle(n) auszuwählen. Bereits kurze Passagen können schöne Effekte erzeugen. 164 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="166"?> Abb. 6.8: Zwei Sprachen im Dialog 6.7 Kinder erfinden ihre eigene Kamishibai-Geschichte Bei der Herstellung einer eigenen Kamishibai-Geschichte können Grundschulkinder viele Fähigkeiten gleichzeitig einbringen: Sie erfinden eine Geschichte, illustrieren Bildkarten, formulieren Texte, erzählen vor einem Publikum und kooperieren mit anderen in einer Gruppe. Allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen bieten sich ihnen viele Möglichkeiten, den eigenen Ideen zu folgen oder ein vorgegebenes Thema zu bearbeiten (vgl. McGowan 2010). Voraussetzung ist jedoch, dass die Kinder Kamishibai gut kennen und es mögen. Das Erfinden eigener Geschichten sollte schrittweise erfolgen: Schritt 1: Kinder ergänzen oder erweitern eine bekannte Geschichte. Schritt 2: Kinder malen eine bekannte Geschichte nach. Schritt 3: Kinder erfinden eine eigene Geschichte. Bei jungen Kindern ist es wesentlich, ihrer ursprünglichen Freude und Kreativität keine Grenzen zu setzen. Einzelne Hinweise darauf, dass die Bilder groß, zentriert und in kräftigen Farben gestaltet sein sollten, genügen schon. Am wichtigsten ist in diesem Alter, dass die jungen Erzähler: innen auf ein offenes Ohr für ihre Ideen stoßen. Als grobe Richtschnur empfiehlt es sich, bei Grundschulkindern mit acht bis maximal zwölf Bildkarten zu arbeiten. Die Länge der Geschichten hängt vom Alter, der Erzähl- und Schreibfähigkeit der Kinder sowie der Aufmerksamkeitsspanne des Publikums ab. Während manche Kinder lieber mit dem Malen beginnen, ziehen andere die Arbeit an der Geschichte vor. Beide Wege sind möglich. Immer gilt: Die Herstellung einer Geschichte ist ein Prozess, der Veränderung und Überarbeitung miteinschließen sollte. 165 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="167"?> Storyboard der Geschichte anlegen Wissen ältere Kinder nicht, wie sie eine Geschichte anfangen sollen, kann ihnen ein vorgeschlagenes Thema oder eine kleine Auswahl an Ideen helfen. Im Gespräch mit den Kindern kann man gemeinsam überlegen, wer die Hauptfigur der Geschichte sein soll und wo die Geschichte spielt. Die Erfahrung zeigt: Haben Kinder ihr erstes Bild gemalt, kommen ihnen leichter Ideen, was in der Geschichte geschehen könnte. Für ältere Kinder sind auch ein grober Handlungsplan der Geschichte und Skizzen von Bildern für den Anfang ausreichend. Mit diesem Storyboard (Szenenbzw. Ablaufplan) bekommt man eine gute Übersicht über die Bildsequenzen und den Inhalt bzw. den Text zur Geschichte. Storyboard Bild 1 Bild 2 Bild 3 ….. Bild 8 Titel/ Autoren Notizen Notizen …… Ende Zwischendurch Feedback geben Zwischendurch sollten ältere Kinder auch die Gelegenheit erhalten, einzelne Bilder zu präsentieren. Stichworte oder eine Kopie des Bildes auf der Rückseite der Karte sind als Erinnerungsstütze beim Erzählen hilfreich. Zeigen die Kinder ihre ersten Entwürfe der Gruppe, üben sie dabei nicht nur das Erzählen, sie können sich auch ein Feedback zum Bild oder zur Präsentation einholen: War die Präsentation klar und laut genug? Sind die Farben kräftig genug? Ist die Geschichte schlüssig? Allerdings sollten die Kinder zuvor mit dem Feedback-Geben vertraut gemacht werden. Abb. 6.9: Übergang von einem Bild zum nächsten Bild (Foto: Le Jardin) 166 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="168"?> TIPP Es ist hilfreich, die Bewegung beim Herausziehen und Hineinschieben, also den Übergang von einem Bild zum andern, zu üben. Es empfiehlt sich, die Kinder zunächst nur eine Sequenz von zwei Karten malen zu lassen. So lernen sie, wie sich Bewegung in einer Bildfolge darstellen lässt, und können diese Technik dann auf die gesamte Geschichte anwenden (vgl. McGowan 2010). Text nicht direkt auf der Rückseite Achtung: Da die Bildkarten hintereinander im Rahmen stehen, muss der Text (oder die Stichworte der Kinder bzw. das Erinnerungsbildchen) zu einer Bildkarte immer jeweils auf der Rückseite der vorherigen Bildkarte stehen. Der Text von Bild 2 steht auf der Rückseite von Bild 1, Text von Bild 3 steht auf der Rückseite von Bild 2 usw. Außer von der ersten Karte. Dieser Text steht auf der letzten Bildkarte der Geschichte. Bild 1 2 3 4 5 6 7 8 Text 2 3 4 5 6 7 8 1 Kinder präsentieren ihre Geschichte Es ist recht anspruchsvoll, wenn Kinder selbst eine Geschichte vorstellen. Als Erzäh‐ lende müssen sie den Mut haben, vor ein Publikum zu treten, müssen laut sprechen, die Wörter klar und deutlich artikulieren und ihre Ideen in Worte fassen. Das Format des Kamishibai erleichtert jedoch öffentliche Auftritte. Da die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf die Bühne gerichtet ist, tritt die erzählende Person in den Hinter‐ grund. Unsere Erfahrungen zeigen, dass daher viele zurückhaltende Kinder gerne Kamishibai-Geschichten vortragen. Sie fühlen sich hinter den drei Türen sicher und das erleichtert es ihnen, in die Erzählrolle zu schlüpfen. Option für mehrsprachige Kinder: eigene Sprache mit einbringen Mehrsprachige Kinder sollten bei Gestaltung, Text und Präsentation die Option erhalten, sich mit ihrer Familiensprache einzubringen. So können sie, während sie miteinander kooperieren und am Lerngegenstand arbeiten, zwischen den Sprachen wechseln, also translingual handeln, dann aber ihr Gruppenergebnis monolingual auf Deutsch präsentieren. Darüber hinaus können Kinder die o. g. Formen mehrsprachigen Erzählens aufgreifen: Zahlen, Zaubersprüche und Reime; eine Geschichte in zwei Sprachen; zwei Sprachen im Dialog. Mit der Vorführung der eigenen Geschichte, der Bilder wie der Erzählung, erfährt der gesamte Prozess der Entwicklung und Gestaltung seine Krönung. 6.8 Beispielstunde konkret: Kinder lernen Kamishibai kennen Das Erzählformat Kamishibai eignet sich sehr gut für Vorklassen, Vorlaufkurse, Lernende im ersten Sprachkontaktjahr und für die ersten Grundschuljahre, je nach 167 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="169"?> Geschichte bis zur 4. Klasse. Eigene Geschichten mit den Kindern zu erfinden, ist dabei die anspruchsvollste Form. Sie lässt sich am besten in einem längeren Arbeits- und Ge‐ staltungsprozess (auch fächerübergreifend) realisieren und braucht eine systematische Planung. Die hier vorgeschlagene Unterrichtseinheit ist als Einstieg in das Arbeiten mit Kamishibai gedacht. Kinder sollen dabei Kamishibai und seine Besonderheiten als eine Erzählkunst aus Japan kennenlernen. Die Beispielstunde eignet sich für Kinder ab der 2. Klasse und gliedert sich in vier Phasen. Phase 1: Die Vorbereitung Grundausstattung Zur Grundausstattung gehören: eine Theaterbühne (jap.: Butai), Kamishibai-Geschich‐ ten, ein dunkles Tuch für den Präsentationstisch (am besten ein erhöhter (Bistro-)Tisch wegen der Sichthöhe für die Kinder) und Klanghölzer o. Ä. für das Anfangsritual. Für die Sitzordnung eignet sich der „Kinositz“, damit alle Kinder gut sehen und konzentriert mit dabei sein können. Schon das zeigt den Kindern, dass gleich etwas Besonderes passiert. Bei der Präsentation sollte das Publikum möglichst nichts ablenken: Ein ruhiger Hintergrund hinter der Theaterbühne, das passende Licht und ein dunkles Tuch über dem Tisch helfen dabei. Wichtig: Vor der Präsentation immer die richtige Reihenfolge der Bildkarten nach den Nummern überprüfen. Auf dem letzten Bild der Geschichte steht der Text für das Titelbild. Auswahl der Geschichten Für das erste Kennenlernen bietet es sich an, eine Geschichte auszuwählen, bei der sich die Kinder beteiligen können. Für die 2. Klasse eignet sich die Mitmach-Geschichte „Groß, größer, noch größer“, da sie kurz ist und Überraschungsmomente enthält. Für die älteren Kinder empfiehlt sich „Der Koch hat schlechte Laune“, eine Geschichte, die ebenfalls unterhaltsam, allerdings ein wenig länger ist. Beide sind im Doshinsha Verlag erschienen. Einstimmung der Kinder Am Vortag der ersten Kamishibai-Präsentation oder zu Beginn der Unterrichtseinheit sollten die Kinder etwas über die lange Tradition dieser Erzählkunst erfahren und dass sie aus Japan kommt. Wichtig ist dabei, die Bedeutung des Wortes Kamishibai zu erklären, die Aussprache mit ihnen zu üben und das Wort sichtbar zu machen (auf der Tafel oder einem Plakat). Auf den Titelbildern der Geschichten können Kinder sogar die japanischen Schriftzeichen erkennen. Bilder aus dem Buch „Der Kamishibai-Mann“ eignen sich gut, um ein wenig in die Tradition des Kamishibai einzuführen. Auch eine Weltkarte kann einbezogen werden. 168 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="170"?> Hilfreich: ein wenig Übung vorab Vor der Präsentation sollte die Lehrkraft die Geschichte erst mehrmals für sich selbst lesen, um das Thema, den Text und den Ablauf zu verinnerlichen. Am besten üben lässt sich das Herausziehen und Hineinschieben der Karten vor einem Spiegel. Dabei kann man die Bilder selbst sehen und ein Gefühl für das Tempo beim Herausziehen der Karten bekommen. (vgl. Matsui 2015) Phase 2: Die Präsentation einer Kamishibai-Geschichte In dieser Phase erleben die Kinder ihre Lehrkraft in der erzählenden Rolle. Sie selbst dürfen in die Rolle des Publikums schlüpfen und „einfach nur“ zuhören und mitmachen. Während der Präsentation nimmt die Lehrkraft immer wieder Blickkontakt zur Klasse auf und erlebt so, wie die Kinder reagieren. Sie kann auch wiederholen oder kommen‐ tieren und so aufgreifen, was sie sagen. Die einzelnen Schritte einer Präsentation 1. Rufen Sie die Kinder mit Klanghölzern, einem Gong oder einer Klangschale. Das zeigt, dass gleich etwas Besonderes passiert, sorgt für Vorfreude und - mit dem letzten Schlag - auch für Ruhe und Konzentration. 2. Stellen oder setzen Sie sich neben den Rahmen mit Blick zum Publikum. 3. Öffnen Sie voll Spannung die Türen des Butai eine nach der anderen. „Der Vorhang hebt sich“, das Titelbild erscheint. 4. Sagen Sie, wer die Geschichte geschrieben und gemalt hat. Damit zeigen Sie den Kindern Ihren Respekt vor den Künstler: innen. Nennen Sie dann den Titel: die Geschichte kann beginnen. 5. Sie können die Geschichte vorlesen oder in eigenen Worten nacherzählen. 6. Beobachten Sie die Reaktionen im Publikum und beziehen Sie die Kinder hin und wieder ins Geschehen mit ein. 7. Wechseln Sie nicht zu schnell. Ziehen Sie ruhig und gleichmäßig eine Karte nach der anderen heraus und schieben sie hinten wieder in den Rahmen zurück. 8. Wenn es spannend wird oder etwas Überraschendes passiert, können Sie eine Karte auch besonders schnell oder langsam oder nur teilweise ziehen. 9. Lassen Sie sich Zeit beim Erzählen. Machen Sie kleine Pausen. Das erhöht die Spannung und die Konzentration und lässt den Kindern Zeit, sich eigene Gedanken zur Geschichte zu machen. 10. Sprechen Sie natürlich - lebendig, aber ohne dramatische Übertreibung. Die Geschichte steht im Mittelpunkt, nicht Ihr schauspielerisches Talent. 11. Die letzte Karte wird nicht mehr gezogen. Sie bleibt stehen, da sonst das Titelbild wieder erscheint und die Geschichte erneut beginnt. 12. Sprechen Sie eine Schlussformel. 169 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="171"?> Z.B.: „Die Geschichte ist nun aus. Wie wär´ es mit Applaus? “ Das holt die Kinder aus der magischen Welt der Geschichte zurück in die Realität. 13. Zum Schluss: Schließen Sie die Türen wieder - eine nach der anderen. Die Vorführung ist zu Ende. Im Anschluss: die zweite Kamishibai-Geschichte Im Anschluss daran präsentiert die Lehrkraft eine zweite Geschichte, die etwas komplexer ist. Empfehlenswert ist die Geschichte „Billy“. Im Unterschied zu den Mitmach-Geschichten enthält diese Geschichte die Kernelemente einer Erzählung und ist nicht zu lang. Im Mittelpunkt steht hier das Zuhören. Kommentare oder kurze Fragen sind natürlich möglich. Für ältere Kinder eignet sich die Geschichte „Woher kommt die Sonne“ des Doshinsha Verlags. Die Geschichte ist zu Ende, doch das Thema der Geschichte und die inneren Bilder und Erfahrungen sind noch präsent. Darüber gibt es viel zu sprechen, was die Lehrkraft im Anschluss an die Präsentation in einem gelenkten Gespräch aufgreifen kann. Phase 3: Die Klasse arbeitet die Eigenschaften des Erzählformats heraus. Die Klasse wird in drei Gruppen eingeteilt, die sich arbeitsteilig und intensiv mit der Erzählkunst auseinandersetzen. Jede Gruppe beschäftigt sich mit einem anderen Thema. Gruppe 1: das Erzählritual Diese Gruppe benötigt hierfür einen Rahmen, die Klanghölzer und eine Geschichte, mit der die vorher erlebten Rituale wiederholt und eingeübt werden können: das Eröffnungssignal, das Öffnen und Schließen der Türen, das Wechseln der Bildkarten, der Abschlusssatz. Beim „Museumsrundgang“ am Ende können die Kinder dann ihr Ergebnis arbeitsteilig präsentieren: Während ein Kind die Klanghölzer bedient, öffnet ein anderes die Türen, wieder ein anderes Kind kann die Bildkarten bewegen und ein weiteres die Abschlussformel aufsagen. Gruppe 2: die Unterschiede zwischen einem Buch und Kamishibai Benötigt werden ein Bilderbuch und Kamishibai-Bildkarten. Auf die Geschichte selbst kommt es nicht an. Ein geöffnetes Bilderbuch und Bildkarten liegen nebeneinander auf einem Tisch. Die Kinder haben die Aufgabe, so viele Unterschiede wie möglich herauszufinden. In der Tabelle sind die Wichtigsten aufgelistet. Buch Kamishibai Seiten sind gebunden Text im Buch ist sichtbar zwei Seiten sind auf einmal sichtbar Vor- und Zurückblättern ist möglich Buch kann alleine angeschaut werden Buchseiten sind kleiner als die Bildkarten Bildkarten unverbunden Text beim Erzählen nicht sichtbar eine Seite sichtbar / Bildwechsel Umblättern nicht möglich Kamishibai braucht ein Publikum Bilder sind auch aus der Ferne gut zu erkennen das Erzählen beginnt mit dem Titelbild 170 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="172"?> Bei der Präsentation vor der Klasse können die Kinder gemeinsam arbeiten. Jedes Kind kann einen Beitrag dazu leisten. Gruppe 3: die Bewegung der Bildkarten Benötigt werden alle Bildkarten einer Geschichte, deren Inhalt die Kinder bereits kennen. Am Ende führt ein Kind aus dieser Gruppe der Klasse die Geschichte vor. Hierfür kann sie den Rahmen der Gruppe 1 benutzen. Vorher kann die Lehrkraft nochmal kurz den Inhalt zusammenfassen. Z.B.: Billy ist krank, seine Familie besucht ihn und bringt ihm etwas mit, damit er schnell wieder gesund wird, leider mag Billy nichts davon. Die Mutter findet eine Lösung für dieses Problem. Dann stoppt die Lehrkraft, denn die Karten zeigen die Lösung des Problems. Phase 4: Reflexion - Wie haben die Kinder Kamishibai erlebt? Haben alle ihre Ergebnisse präsentiert, reflektiert die Klasse noch einmal ihre Erfahrungen dieser Stunde. Was war neu für sie? Was hat ihnen am besten gefallen oder was nicht? Die Lehrkraft notiert in Stichpunkten die Rückmeldungen der Kinder auf ein Plakat/ Whiteboard oder die Tafel. Im besten Fall haben die Kinder Lust auf weitere Geschichten bekommen. Aufgaben 1.* Anhand welcher Unterschiede lassen sich Bilderbücher und Kamishibai-Geschich‐ ten voneinander unterscheiden? Welche Vorteile bietet das bildgestützte Erzählen für die Arbeit mit Kindern, die spät beginnen, die deutsche Sprache zu lernen? 2.** Sie haben in diesem Beitrag die Strategie SSTaRS kennengelernt. Schauen Sie sich daraufhin im Downloadbereich den Text (die deutsche Übersetzung) der Kamishibai-Geschichte „Kisto, der Roboter“ an und wählen Sie drei Schlüs‐ selwörter oder komplexe, präzise Wörter aus, die man nicht zeigen kann. Versuchen Sie (zu zweit oder in einer Gruppe) mithilfe von SSTaRS diese Wörter kindgerecht zu erklären. Überlegen Sie, wie Sie ein oder zwei Wörter auch außerhalb der Erzählsituation aufgreifen und wiederholen können, sodass die Kinder diese Worte erinnern und anwenden können. 3.*** Welche Gründe sprechen für ein mehrsprachiges Vorlesen oder Erzählen im Sinne eines translingualen Konzepts? Lesen Sie hierzu in Argyro Panagiotopou‐ lou (2016) die Seiten 24-31. Der Text liegt im Downloadbereich als pdf-Version bereit. Oder lesen Sie den kurzen Beitrag von Edina Krompàk (2014), den Sie im Netz unter http: / / vpod-bildungspolitik.ch/ ? p=1746 finden. Weitere Informationen Informationen zur Geschichte und Erzählweise von Kamishibai Japanology Plus - Kamishibai: Paper Theater www.youtube.com/ watch? v=lszNg1gh710 (Kurzfassung) 171 6 Erzählen als performative Kunst: Mehrsprachiges Kamishibai <?page no="173"?> Beratung und Qualifikation Forum Kamishibai e. V., Frankfurt am Main Ein interdisziplinäres Netzwerk von Expertinnen aus Beratung, Sprachtherapie, Fort- und Weiterbildung zur Förderung der japanischen Erzählkunst Kamishibai. www.forum-kamish ibai.de. Le Jardin Multilinguale Kindereinrichtungen gGmbH Le Jardin bietet Einführungs- und Aufbau-Seminare zum mehrsprachigen Erzählen mit Kami‐ shibai für pädagogische Fach- und Lehrkräfte an (in Präsenz und als Online-Fortbildung). www.le-jardin.eu. Bezugsquellen von Geschichten und Rahmen im japanischen Format Buchhandlung Takagi Geschichten des Doshinsha Verlags können beispielsweise über die japanische Buchhandlung Takagi in Düsseldorf bezogen werden. Eine autorisierte deutsche Übersetzung wird beigefügt. Reha-Werkstatt des Frankfurter Vereins für soziale Heimstätten Ein Nachbau des Rahmens im japanischen Format ist hier erhältlich. www.rwo-frankfurt.de/ pr odukte. Bildquellen Abb. 6.1: Wo bleibt Mama? (2001). Iwao Fukuda. Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Abb. 6.2: Fumiko und ihr Schlitten (1985). Toshiko Kanzawa (Text), Shunsaku Umeda (Illustra‐ tion). Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Abb. 6.3: Das kleine Küken (1971). Jun’ichi Kobayashi (Text), Eigoro Futamata (Illustration). Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Abb. 6.3: Zur Essenszeit (2013). Florence Jenner-Metz (Text), Marie Dorléans (Illustration), Éditions Callicéphale, Strassburg. Abb. 6.3: Kamekun (2007). Fumie Miyazaki (Text), Mitsunori Yabe (Illustration). Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Abb. 6.3: Mama Quak ruft ihre Kinder (2021). Carmen Sorgler (Text), Eckhard Schneider (Fotos), Max Schröder (Bearbeitung). frankfurter Kamishibai edition. Abb. 6.6: Kisto der Roboter (1970). Taruhi Furuta (Text), Seiichi Tabata (Illustration). Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Abb. 6.7, 6.8: Billy (2017). Rindert Kromhout (Text), Iwao Fukuda (Illustration), Aya Puster Verlag, Ludwigshafen. Geschichten für die erste Unterrichtseinheit Woher kommt die Sonne (1996). Truong Hieu. Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Der Koch hat schlechte Laune (1985). Noriko Matsui. Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Groß, größer, noch größer (1983). Noriko Matsui. Doshinsha Publishing Co., Ltd., Tokyo. Download: Stundenverlaufsplan 172 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="174"?> 1 Von der freieren Diskussion unterscheidet sich die Debatte vor allem durch ihren streng geregelten Handlungsablauf (vgl. Grundler & Vogt 2020: 488). 7 Die Kunst des Debattierens Benjamin Siegmund Mit ihrem strikt geregelten Handlungsablauf ist die Debatte eine strukturierte und motivierende Methode zur Förderung der Argumentationskompetenz in fast allen Fächern. Die Kunst des Debattierens besteht dabei weniger darin, das bessere Argument zu haben, als vielmehr darin, die eigenen Argumente auf der Bühne gut zu formulieren und angemessen auf das Gegenüber einzugehen, und so die Zuschauer performativ von der eigenen Seite bzw. von den eigenen Argumentierfähigkeiten zu überzeugen. 7.1 Debattieren als Mittel der Sprachbildung im (Fach-)Unterricht Wir müssen reden. Miteinander. Darüber, wie wir leben wollen. Jeder und jede einzelne im kleinen Kreis mit den direkten Mitmenschen und in Beziehungen. Aber auch als Gesellschaft: Was wollen wir (nicht)? Was ist gut? Wie können wir uns entwickeln? Diskussion und Debatte 1 sind das kommunikative Herzstück unserer demokratischen Gesellschaft. Argumentierend handeln wir aus, was wir für richtig halten, wie wir handeln wollen, wofür wir uns entscheiden. Das Argumentieren ermöglicht es uns, Entscheidungen und Meinungen zu rechtfertigen und zu begründen oder sie infrage zu stellen und zu ändern. Argumentieren bietet die Möglichkeit, Konflikte friedlich und gewaltfrei zu lösen, indem man überzeugt oder doch zumindest den eigenen Standpunkt nachvollziehbar macht, sodass ein Konsens gesucht oder ein Kompromiss gefunden werden kann. Argumentieren ist damit eine grundlegende Sprachhandlung in demokratischen Gesellschaften, und macht Individuum und Gesellschaft überhaupt erst handlungsfähig (vgl. Budke & Meyer 2015). Zugleich ist Argumentieren aber auch ein Mittel des Denkens und der wissenschaftlichen Erkenntnis und Produktion von Wissen, das auch in der Schule wichtig ist. Nicht nur sollen Schüler: innen u. a. hier zu mündigen Bürger: innen heranwachsen, vielmehr lebt auch der schulische Unterricht selbst von Diskussion und Debatte. Argumentationskompetenz ist deshalb ein zentrales Ziel sprachlicher und kommunikativer Bildung in der Schule und als solches in den Bildungsplänen und Operatorenkatalogen (z. B. erörtern, diskutieren) fast aller Fächer verankert. Fachliches Argumentieren im Unterricht ist dabei fachspezifisch geprägt (z. B. normatives vs. faktisches Argumentieren, vgl. Budke et al. 2015) und fördert neben der Argumentationskompetenz auch fachliche Kompetenzen, Bewertungssowie soziale und affektive Kompetenzen (Budke & Meyer 2015: 14). Aber Argumentieren ist gar nicht so einfach: „Argumentieren kann […] als kom‐ plexe, dialogische sprachliche Handlung verstanden werden, bei der die Problema‐ 173 7 Die Kunst des Debattierens <?page no="175"?> tisierung eines Sachverhalts durch Einwände oder offene Fragestellungen verbale Begründungshandlungen einfordert“ (Grundler & Vogt 2020: 490). Beim Argumentie‐ ren müssen Lernende „Vor- und Nachteile von Sachverhalten und Verhaltensweisen klären, abwägen und erörtern, um zu einer eigenen Position zu gelangen [und] dabei zwischen faktengestützten Aussagen und Annahmen/ Vermutungen unterscheiden“ (Hövelbrinks 2014: 68). Argumentieren ist damit eine konzeptionell schriftliche, bil‐ dungssprachliche Sprachhandlung (vgl. Koch & Oesterreicher 1985; Morek & Heller 2012): Um verstanden zu werden, muss man möglichst präzise das sagen, was man meint - und zwar ohne auf den außersprachlichen Kontext verweisen zu können. Alle Thesen, Argumente, Begründungen und Beispiele müssen sprachlich ausgedrückt und miteinander verbunden bzw. aufeinander bezogen werden, denn eine Diskussion oder Debatte kann nur dann gewinnbringend sein, wenn die Kommunizierenden ihre Position(en), ihr Wissen und ihre Gedankengänge sprachlich offenlegen und damit nachvollziehbar machen. Beim Argumentieren reicht es nicht aus, eine Meinung zu äußern - man muss sie auch begründen, d. h., man muss versprachlichen, aufgrund welcher Vorannahmen (Prämissen) und Fakten (Daten) man zu welcher Schlussfol‐ gerung (Konklusion) kommt. Und natürlich muss man sich beim Diskutieren und Debattieren auch gegenseitig zuhören, muss aufeinander eingehen und dem oder der anderen Raum lassen, um zu sprechen und sich zu erklären. Solche konzeptionell schriftsprachlichen Kompetenzen erwerben viele Schüler: innen nur oder vor allem in der Schule. Insbesondere gilt das für viele Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien sowie für viele Lernende mit Deutsch als Zweitsprache. Man kann als Lehrkraft deshalb nicht davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche diese Fähig‐ keiten bereits ‚mitbringen‘. Vielmehr brauchen viele von ihnen Unterstützung beim Formulieren von Positionen und stützenden Argumenten sowie beim sprachlichen Aufeinander-Eingehen. Letztlich profitiert von solchen Hilfestellungen (Scaffolding, s. u.) aber oft die ganze Klasse. Eine Möglichkeit, Argumentationskompetenz gezielt zu fördern und zugleich span‐ nende und strukturierte Gespräche mit großer Schülerbeteiligung zu erreichen, ist das Debattieren. Anders als in der freieren Diskussion wird in der Debatte eine Kontroverse der Teilnehmenden vorausgesetzt oder künstlich erzeugt, denn Gegenstand einer Debatte ist immer eine Entscheidungsfrage: „Ja oder nein? Sollen wir oder sollen wir nicht? “ (Hielscher et al. 2010: 7). Und auch wenn eigentlich „überall“ debattiert wird und Debatten „ganz von selbst“ entstehen (ebd.), so ist das Debattieren doch auch eine Kunst bzw. eine künstliche Gesprächsform mit großer Nähe zur Rhetorik (Kunst der Rede). Am deutlichsten wird diese Nähe zu Rhetorik und Theater dann, wenn die Debatte beim Wettbewerb Jugend debattiert zur Aufführung kommt: Nach klaren, standardi‐ sierten Regeln erhalten die Debattierenden hier eine Soll-Frage und ihre Position (Pro oder Contra) zugewiesen und treten dann nach einer kurzen inhaltlichen und rhetorischen Vorbereitung gegeneinander an. Im streng formalisierten Wettbewerb geht es darum, das Gegenüber argumentativ zu überzeugen. Vor allem aber wird 174 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="176"?> die Performance der Debattierenden bewertet: ihr Auftreten, ihr freies Sprechen, die Gestaltung, Anordnung und logische Stringenz ihrer Argumente, die Anschaulichkeit ihrer Beispiele, ihr Eingehen auf die Gegenseite usw. Auf den Auftritt im Wettbewerb bereiten sich die Schüler: innen durch ein gemeinsames Training in AGs oder im Unterricht vor - und profitieren von diesem Training auch in anderen Bereichen. Denn wer sich in der Kunst des Debattierens übt, kann lernen, „ausführlicher zu sprechen und sich kurz zu fassen, genau zuzuhören […] und Gründe für die eigene Sicht anzugeben“ sowie „gegensätzliche Meinungen auszuhalten, Perspektivwechsel zu vollziehen und Konflikte sprachlich zu lösen“ (Hielscher et al. 2010: 8). Ein strukturiertes Übungsprogramm für das Debattieren im (Deutsch-)Unterricht, bestehend aus dreißig frei kombinierbaren Bausteinen, stellen Hielscher et al. (2010) zur Verfügung. Dieses wird noch ergänzt durch ein Schüler-Arbeitsheft (Wagner & Kemmann 2015) sowie durch eine Handreichung zum „Debattieren als Mittel der Sprachförderung“ (Frank et al. 2012). Zur Förderung der Argumentationskompetenz sind diese Übungen im Unterricht vielfältig einsetzbar. In erster Linie bieten sie sich natürlich für den Sprachunterricht (in der Erst-, Zweit- oder Fremdsprache) an, dessen Aufgabe es u. a. ist, das dialogische und monologische Sprechen, das verstehende Zuhören sowie das argumentierende Schreiben in der Unterrichtssprache zu fördern (vgl. Bildungsplan Deutsch: 12 ff.). Doch auch in anderen Fächern können Debatten im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden. Debattiert werden kann immer dann, wenn im Unterricht normative Fragestellungen auftauchen, die nicht allein durch Fakten beantwortet werden können, z. B. weil sie ethisch-moralische Normvorstellungen berühren oder von politischen, sozialen, ökologischen oder wirtschaftlichen Interessenskonflikten geprägt sind. Neben den Erörterungsklassikern aus dem Deutsch- und Fremdsprachenunterricht (Schuluniform ja/ nein? Handyverbot in der Schule einführen/ abschaffen? ) finden sich in vielen Fächern der Sekundarstufe Debattierthemen. Diese reichen von Zuwande‐ rungspolitik (Politik/ Gemeinschaftskunde) und Tierschutz (Ethik) über nachhaltigen Konsum (Geographie) und den Einsatz von Gentechnik (Biologie) bis hin zur Ener‐ gieversorgung (Physik). Für eine Debatte eignet sich ein Thema dabei immer dann, wenn es als möglichst konkrete Entscheidungsfrage (ja/ nein) zu einer Maßnahme oder Regelung formuliert ist, die zu einer relevanten Änderung des bestehenden Zustands führen würde (s. Hielscher et al. 2010: 14). Eine solche Frage könnte z. B. lauten: Soll es in unserer Schulmensa ab sofort nur noch vegetarische Gerichte geben? Vor dem Beginn der Debatte können die Lernenden im Unterricht entweder selbst wählen, ob sie für oder gegen diese Maßnahme argumentieren möchten oder sie werden einer Seite (Pro oder Contra) zugeteilt. Dann bekommen sie Zeit (z. B. in einer Partner- oder Gruppenarbeit), um Argumente mit stützenden Belegen und Beispielen zu sammeln, zu sortieren und vorzuformulieren, bevor sie in einer Kleingruppendis‐ kussion oder vor der ganzen Klasse miteinander debattieren. Für gewöhnlich treten für die Pro- und Contra-Seite jeweils zwei Schüler: innen an. Die Debatte selbst verläuft dann streng geregelt wie folgt: Zunächst bekommt jede Rednerin nacheinander in 175 7 Die Kunst des Debattierens <?page no="177"?> der Eröffnungsrunde die Gelegenheit zu einem Statement (z. B. zwei Minuten pro Redner: in, Pro und Contra im Wechsel). Darauf folgt eine freie Aussprache (z. B. insg. acht Minuten), in der die Reihenfolge der Beiträge nicht festgelegt ist; wobei auch hier „der Wechsel von Pro und Contra zu empfehlen“ ist (Hielscher et al. 2010: 79). In der Schlussrunde hat noch einmal jeder Redner in derselben Reihenfolge wie zu Beginn eine Minute Redezeit. Während diese Regeln im Wettbewerb (Jugend debattiert) sehr streng einzuhalten sind, können sie im Unterricht natürlich flexibel dem Thema oder den Bedürfnissen der Klasse angepasst werden; möglich sind so z. B. kurze Mikrodebatten im Kleingrup‐ penformat oder Podiums- und Rollendebatten nach der Fishbowl-Methode. Fishbowl-Methode Bei der Fishbowl-Methode diskutiert oder debattiert eine Teilgruppe von Lernen‐ den vor oder in der Mitte der Gesamtgruppe miteinander. Der Rest der Lerngruppe beobachtet die Debattierenden/ Diskutierenden (je mit Beobachtungsauftrag, meist mit genauer Zuweisung, wer wen beobachtet) und gibt ihnen später Rückmeldung. Fishbowl heißt diese Methode deshalb, weil die Debattierenden wie in einem Gold‐ fischglas unter Beobachtung stehen. Ziel ist v. a. die Förderung eines angemessenen Gesprächsverhaltens; im Fokus können dabei sprachliche, soziale oder inhaltliche Aspekte der Debatte/ Diskussion stehen. Voraussetzung für eine zielführende Schülerdebatte, die fachliche und sprachliche Kompetenzen fördert, ist die inhaltliche Vorbereitung. Ohne eine fachlich fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema (vor der Debatte) sind die wenigsten Schüler: in‐ nen in der Mittelstufe in der Lage, eine sinnvolle Debatte über Zuwanderungspolitik, Energieversorgung, Bioethik oder Nachhaltigkeit zu führen. Wenn sie sich auf die Debatte vorbereiten und Argumente, Belege und Beispiele sammeln, sollten sie deshalb mit zentralen inhaltlichen Aspekten bereits vertraut sein, um überhaupt Kapazitäten für die Anordnung der Argumente und die rhetorische Vorbereitung ihrer Eröffnungsreden zu haben. Haben sich die Lernenden jedoch inhaltlich eingearbeitet (z. B. am Ende einer Unterrichtseinheit) oder betrifft das Thema ihre Lebenswelt unmittelbar, so kann das Debattieren im Unterricht sprachbildend wirken. Denn es bietet ihnen Unterstützung und Entlastung im Sinne sprachförderlichen Scaffoldings, es bringt sie dazu, komplexen zielsprachlichen (bildungs-/ fremdsprachlichen) Output zu produzieren. Es regt konstruktives, kriteriengeleitetes Feedback an und es schafft Raum für Reflexion über Kommunikation und Sprache sowie für das Einüben von Sprachhandlungen. 176 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="178"?> 7.2 Warum ist Debattieren im Unterricht sprachbildend? Debattieren als Scaffolding: Ausgehend von soziokonstruktivistischen Überlegungen und entwicklungspsycho‐ logischen Beobachtungen, beschreibt die Metapher Scaffolding (engl.: Baugerüst) Hilfestellungen, die Eltern oder Lehrkräfte in der Interaktion mit ihren Kindern bzw. Lernenden einsetzen, um sie in ihrer Entwicklung, ihrem Lernen oder ihrem Spracherwerb zu unterstützen. Mithilfe von didaktischem Scaffolding sollen Lernende in die Lage versetzt werden, Dinge zu tun oder zu sagen, die sie allein noch nicht tun oder sagen könnten (Wood et al. 1976). In der Zweitsprachdidaktik hat die australische Sprachdidaktikerin Pauline Gibbons dieses Prinzip für den Fachunterricht in sprachlich heterogenen Klassen adaptiert und zahlreiche Vorschläge gemacht, wie sprachlich-fachliches Lernen im Unterricht unterstützt werden kann (vgl. Gibbons 2002). Auch das Debattieren im Unterricht hat das Potenzial, im Sinne eines solchen sprachdidaktischen Scaffoldings zu wirken, weil es „die komplexe, dialogische sprach‐ liche Handlung“ (Grundler & Vogt 2020: 490) des Argumentierens auf vielfältige Weise entlasten kann: Eine erste Entlastung der Situation stellen der reglementierte Ablauf und die Zuweisung von Redezeiten und Redeanteilen dar. Anders als in einer ‚realen‘ Diskussion kommen alle Teilnehmenden zu Wort. Da Unterbrechungen und Zwischenreden unerwünscht sind und für gewöhnlich unterbunden werden, besteht für jeden die Chance (aber auch die Notwendigkeit, s. u.) zu sprechen und zuzuhören. Entlastet wird die komplexe, konzeptionell schriftliche Kommunikationssituation auch dadurch, dass sich die Debattierenden vorbereiten können: Sie erhalten Zeit, ihre Argumentation inhaltlich zu strukturieren und ihre Rede vorzuformulieren. Hierbei können die Schüler: innen zudem mit Formulierungshilfen und Redemittelkarten, mit Rollenkärtchen oder mit Ideen, Grafiken und Fakten unterstützt werden. Debattieren führt zu Output: Als Output bezeichnet man in der Spracherwerbsforschung sämtliche sprachlichen Äußerungen von Lernenden in der Zielsprache. Dieser Output bietet Lehrenden die Möglichkeit, den Sprachstand der Lernenden zu beobachten bzw. ihren Lernstand zu diagnostizieren. Laut der Output-Hypothese (vgl. Swain 2000) ist es für einen erfolgreichen Zweit-/ Fremdspracherwerb außerdem unerlässlich, dass Sprachlernende selbst zielsprachigen Output produzieren, damit sie eigene Wissenslücken bemerken und die Notwendigkeit erleben, sich präzise, kohärent und angemessen auszudrücken, um verstanden zu werden. Debattieren bietet im Unterricht eine tolle Chance, Lernende in einem geschützten und entlasteten Raum zu ziel- oder bildungssprachlichem Spre‐ chen zu bringen. Debatten sind motivierende Sprechanlässe, in denen die Lehrkraft in den Hintergrund tritt, während die Schüler: innen innerhalb eines vordefinierten Zeitrahmens und unter Rückgriff auf vorbereitete und vorformulierte Argumente zueinander und in der freien Aussprache auch miteinander sprechen. 177 7 Die Kunst des Debattierens <?page no="179"?> Feedback: Die im Wettbewerb angelegte Bewertung der Debattierleistungen bietet eine struktu‐ rierte Möglichkeit, den Debattierenden im Anschluss an die Debatte konstruktives und kriteriengeleitetes Feedback zu geben. Da dieses Feedback meist zeitversetzt zum Output der Lernenden stattfindet, ist es weniger dazu geeignet, grammatikalische Abweichungen in der Lernersprache zu fokussieren. Es kann jedoch sehr hilfreich sein in Bezug auf den Aufbau und die Gestaltung von Argumenten, das Kommunikations‐ verhalten (zuhören und aufeinander eingehen) oder den Einsatz von Gestik und Mimik. Dabei können all jene Lernenden, die nicht selbst debattieren, die Debattierenden beobachten und ihnen - unterstützt durch kurze Kriterienkataloge oder wenige Fragen - konstruktive Rückmeldungen geben, was wiederum zu schülerseitigem bildungs-/ zielsprachlichem Output führt. Reflexion über Kommunikation und Sprache und Sprachübungen: Schließlich ergeben sich vor, während und nach der Debatte vielfältige Gelegenheiten zur Reflexion über Kommunikation und Sprache sowie für gezielte Sprachübungen. Dabei kann z. B. untersucht werden, wie Kommunikation überhaupt gelingen kann oder wie man ein besonders überzeugendes, gutes Argument aufbaut und mit Belegen und Beispielen stützt. Gezielt üben kann man außerdem, wie man Eröffnungs- und Schlussrede formuliert oder wie man sprachlich die Argumente der anderen aufgrei‐ fen bzw. aufeinander eingehen kann. Gut aufbereitete Übungen finden sich z. B. in Hielscher et al. (2010), Frank et al. (2012) und Wagner & Kemmann (2015). Während Sprachreflexion und sprachliche Übungen ihren Platz vorwiegend im Erst-, Zweit- oder Fremdsprachenunterricht haben, sind Scaffolding, konstruktives Feedback und das Fördern bildungssprachlichen Outputs in allen Fächern sinnvoll. Von einem fächerverbindenden Debattieren könnte dabei der Deutschunterricht aus motivationaler Sicht profitieren: Statt immer wieder die Schuluniform zum Thema zu machen, lässt sich hier über Themen debattieren, mit denen die Schüler: innen sich bereits in einem anderen Fach auseinandergesetzt haben. Im Fachunterricht wiederum kann das Debattieren dann besonders gut funktionieren, wenn die Schüler: innen mit dem Format bereits vertraut sind, weil sie es beispielsweise aus dem Deutschunterricht schon kennen. Wie eine Debatte im Fachunterricht inszeniert werden kann, soll im Folgenden am Beispiel einer Doppelstunde aus dem Geographieunterricht für die 7./ 8. Klasse (geeignet für Realschule, Gemeinschaftsschule und/ oder Gymnasium) gezeigt werden. Ab einem GER-Sprachniveau von B1 sollten DaZ-Lernende an dieser Doppel‐ stunde teilnehmen können; sowohl die Formulierungshilfen als auch die fachliche Vorentlastung müssen dann entsprechend angepasst werden (s. u.). 7.3 Soll es in unserer Schulmensa ab sofort nur noch fair gehandelte Schokolade geben? Debattieren im Geographieunterricht Der Bildungswert des Faches Geographie besteht laut baden-württembergischem Bil‐ dungsplan unter anderem darin, dass hier „natur- und gesellschaftswissenschaftliche 178 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="180"?> Phänomene und Prozesse grundsätzlich systemisch analysiert, diskutiert und bewertet werden“ (Bildungsplan Geographie 2016: 5). Deshalb sollen die Schüler: innen im Geographieunterricht „kontroverse Standpunkte und Meinungen mehrperspektivisch darstellen“ (ebd.: 11), kurz: Sie sollen argumentieren. Empirische Untersuchungen lassen jedoch vermuten, dass es vielen Schüler: innen an geographischer Argumenta‐ tionskompetenz mangelt (vgl. Uhlenwinkel 2015) und, „dass Argumentationen im Geographieunterricht äußerst selten stattfinden“ (Kuckuck 2015). Der Einsatz von (sprach- und fachbildenden) Debatten könnte beides ändern. Ein Thema, das sich für das Debattieren im Geographieunterricht in Klasse 7/ 8 anbietet, ist es, die eigene Rolle als Konsument von Schokolade in der globalen Wertschöpfung dieses Produkts zu untersuchen. Dabei lernen die Schüler: innen auch die Möglichkeit kennen, durch den gezielten Konsum fair gehandelter Schokolade eine nachhaltige Produktion von Kakao zu unterstützen. Eingebettet in eine Unterrichtseinheit zu den Tropen (Kakaoproduktion) sollte in der inhaltlich-fachlichen Auseinandersetzung bereits vor der Debatte die eigene Position als Konsument von Kakao zumindest ansatzweise hinterfragt werden. Wichtig ist vor allem, dass die Lernenden sich bereits vor der Debatte mit der Produktion von Kakao und dem Handel mit Kakao/ Schokolade sowie mit dem Konzept des fairen Handels und der nachhaltigen Produktion auseinandersetzen. Dabei erfahren sie, dass fairer Handel eine sozial (und ökologisch) nachhaltigere Produktion fördert und den Kakaobauern mittels garantierter Mindestpreise ein Mindesteinkommen sichert, was wiederum Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Kakaobauern und ihrer Familien hat. Diese Fachinhalte können sich Schüler: innen vor der Debatte z. B. in einem Mystery selbst erarbeiten. Mystery-Methode Das Mystery ist eine spielerisch-motivierende, konstruktivistische Methode der Geo‐ graphiedidaktik: In Kleingruppen lösen die Lernenden eine ‚mysteriöse‘ Rätselfrage mithilfe von ca. 20-30 Lösungskarten, die Informationen in Form von Texten, Bildern, Diagrammen etc. enthalten. Dabei müssen sie Verbindungen und Zusammenhänge zwischen diesen Lösungskarten herstellen, müssen Relevantes von Unwichtigem unter‐ scheiden, inhaltliche Lücken (er-)schließen und Schlussfolgerungen ziehen, um letztlich alle Lösungskarten systemisch vernetzt in einem Wirkungsgefüge anzuordnen. Ziel ist es, komplexe Themen zu erarbeiten und dabei vernetztes Denken sowie den Umgang mit inhaltlicher und ethischer Komplexität zu trainieren. Zugleich regt die Mystery-Methode die Lernenden zum Lesen, Sprechen und Zuhören in Kleingruppen an und aktiviert so die ganze Gruppe. Als Vorbereitung auf die hier vorgestellte Debatte eignet sich zum Beispiel das Mystery „Warum macht billige Schokolade nicht satt? “ (Rendel 2013), das vor der Debatte durch‐ geführt und noch durch Zusatzinformationen (z. B. aus Brameier 2019) ergänzt werden kann. Je nach den Sprachkompetenzen der Lernenden kann oder muss bereits in dieser 179 7 Die Kunst des Debattierens <?page no="181"?> Phase sprachförderlich vorgegangen werden. Insbesondere fachsprachliche Begriffe (z. B. Nachhaltigkeit, fairer Handel, Konsument, Welthandelsgut, Weltmarktpreis) können nicht vorausgesetzt werden. Da zur Lösung des Mysterys auch bildungssprachliche Kompetenzen benötigt werden, kann es sinnvoll sein, sprachlich heterogene Gruppen zu bilden, damit sich die Lernenden beim Verständnis der Mystery-Kärtchen gegenseitig unterstützen können. Möglichkeiten zur fachlich-inhaltlichen Differenzierung finden sich in den Materialien von Rendel (2013): Insbesondere für Sprachlernende (z. B. auf Deutsch-Niveau A2-B1) müssen der Umfang des Mysterys deutlich reduziert und Wortschatzhilfen zur Verfügung gestellt werden. Die Schüler: innen sind dann (weitgehend) mit dem nötigen inhaltlich-fachlichen Vorwissen ausgestattet, um die folgende Frage zu debattieren: Soll es in unserer Schulmensa und in den Snackautomaten ab sofort nur noch fair gehandelte Schokolade geben? In der vorgestellten Doppelstunde sollen Schüler: innen der 7./ 8. Klasse eine Podi‐ umsdebatte zu dieser Frage vorbereiten und durchführen. Als Einstieg in die Stunde wird ein Korb voll Mini-Schokolädchen durch die Klasse gegeben, von denen sich jede Schülerin und jeder Schüler eines aussuchen darf. Pro Kind enthält der Korb jeweils ein bekanntes und beliebtes Schokoprodukt eines großen Herstellers und ein fair gehandeltes Schokoprodukt. Nachdem alle ihre Süßigkeit gewählt haben, wird im Korb nachgesehen, welche Produkte mehrheitlich übrig geblieben sind (wahrscheinlich die meist unbekannteren fairen Schokolädchen). In einem kurzen Think-Pair-Share diskutieren die Lernenden die folgenden Fragen: „Was hast du ausgewählt und warum? Warum bleiben welche Produkte übrig? Hast du das Fairtrade-Siegel bemerkt und wofür steht es? “ Der Einsatz von Think-Pair-Share soll die Lernenden dazu bringen, ihr Vorwissen zum fairen Handel aus der vorhergegangenen Stunde zu aktivieren sowie miteinander zu sprechen und bereits hier zu argumentieren. Mit dem Bild eines Snackautomaten, der faire Produkte enthält, wird dann überge‐ leitet zur (vorgegebenen) Debattierfrage der Stunde - und damit auch zum Ablauf und zu den Regeln der Debatte. Die Debatte findet vor der Klasse statt, für jede Seite (Pro/ Contra) treten je drei Personen an. Daneben gibt es eine Moderatorin und einen Zeitwächter, alle Teilneh‐ menden sitzen an einem Tisch. In der Eröffnungsrunde bekommen die Debattierenden abwechselnd 1: 30 Minuten Zeit; in der Schlussrunde noch einmal je 1: 00 Minute. Die freie Aussprache soll maximal 8: 00 Minuten dauern, weshalb die Redezeit hier auf max. 1: 00 Minute pro Beitrag eingeschränkt wird. Mit einem leisen Glockenschlag signalisiert der Zeitwächter kurz jeder Rednerin 10 Sekunden vorher, dass ihre Redezeit zu Ende geht; und mit einem zweiten Glockenschlag, dass sie zu Ende ist, was bedeutet, dass nur noch der angefangene Gedanke/ Satz zu Ende gebracht werden darf. Die Moderatorin behält die Reihenfolge der Redner: innen im Blick und leitet die Phasen der Debatte ein. Sie erklärt dabei immer kurz, was von den Debattierenden erwartet wird (Redezeiten, aufeinander eingehen, einander zuhören, etc.). Insgesamt sollte die Debatte in diesem Format ca. 20: 00 - 25: 00 Minuten dauern. Die Lehrkraft ist in der gesamten Phase stille Beobachterin, die nur im Notfall eingreift. 180 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="182"?> eröffnung: Wir alle wissen, dass Snacks oft nicht fair hergestellt werden und die hart arbeitenden Bauern oft nicht genug bezahlt werden. Daher die Frage: Sollen wir einen Fair-o-mat in der Schule aufstellen? * Für diesen Vorschlag spricht (Argument 1) * Außerdem (Argument 3) * Ein weiterer Grund, der dafür spricht ist (Ar‐ gument 2) * Dadurch (Argument 4) … Deshalb sind wir dafür, einen Fair-o-mat in der Schule aufzustellen. argumente 1. es hilft den Kakao-Kleinbauern (→ besseres Leben) 2. es macht die Fair-Trade Schokolade bekannter → somit wird mehr dieser Schokolade verkauft 3. fördert das faire Denken der Kinder und lässt sie über solche Dinge nachdenken. 4. Kinder lernen, faire Produkte zu erkennen Abb. 7.1: Eröffnungsrede und Argumentsammlung der Pro-Seite (8. Klasse, Gymnasium; Rolle: Eltern‐ teil. Fragestellung in der Klasse leicht abgewandelt, da an dieser Schule keine Snacks/ Süßigkeiten verkauft werden.) Eröffnungsrede: Hallo, ich bin Martina. Jeder kennt das Problem, dass man für einen langen Schultag Energie braucht. Eigentlich finde ich es gut, dass es an der Schule einen Snackautomaten geben soll, aber bei einem Fair-o-mat soll es keine Snickers, M&Ms etc. geben, weil es nicht Fairtrade ist. Außerdem ist Fairtrade zu teuer. Argumente: * zu teuer * keine Markenprodukte (Snickers, Mars, …) * man kann nicht selbst entscheiden was * für Produkte in den Automaten drinn sind Abb. 7.2: Eröffnungsrede und Argumentsammlung der Contra-Seite (8. Klasse, Gymnasium; Rolle: Schülerin. Fragestellung in der Klasse leicht abgewandelt, da an dieser Schule keine Snacks/ Süßigkei‐ ten verkauft werden.) 181 7 Die Kunst des Debattierens <?page no="183"?> Die Vorbereitung der Debatte findet in Gruppenarbeit statt: Pro Redner: in sowie für das Moderationsteam gibt es eine Gruppe, die gemeinsam Argumente sammelt und sie mit Belegen und Beispielen stützt. Hier wird auch die Eröffnungsrede vorbereitet und vorformuliert; die Debattierenden werden zwar später dazu aufgefordert, möglichst frei zu sprechen, und nicht vorzulesen, dennoch erleichtert ihnen das Planen und Formulieren eines Textes für die Eröffnungsrede später den Einstieg in die Debatte. Auch die Moderatorin bereitet sich in Gruppenarbeit auf ihre Beiträge vor, mit denen sie jeweils die Phasen der Debatte eröffnet und die Debatte abschließt. Zur sprachlichen Unterstützung erhalten die Gruppen Formulierungshilfen für die Eröffnungsdebatte (s. Abb. 7.3). Eine hervorragende Möglichkeit zur sprachlichen Differenzierung bieten die in vier Niveaustufen angelegten Redemittelkarten aus Frank et al. (2012). Dort finden sich auch Formulierungshilfen für die freie Aussprache und die Schlussrede. Vorbereitung der Eröffnungsrede Jeder kennt es: … / Wir alle wissen, dass … / Es ist ein Problem, dass … zum Beispiel … / Man kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn … Daher ist die Frage: Soll …? / Aus diesem Grund frage ich: …? / Deshalb debattieren wir darüber, ob … Für/ gegen diesen Vorschlag spricht … / Wenn … dann … / Dadurch, dass… / Beispielsweise … / Ein weiterer Grund der dafür/ dagegen spricht, …, ist, dass … Deshalb bin ich dafür/ dagegen, dass… Abb. 7.3: Strukturierungs- und Formulierungshilfen für eine Eröffnungsrede Als inhaltliche Hilfestellung kann die Lehrkraft an dieser Stelle weitere Argumente in die Gruppenarbeit einbringen - entweder in Form von kurzen Texten, Fragen oder Grafiken oder in Form von Rollenkärtchen für die Debattierenden. Insbesondere, wenn die Schüler: innen mit dem Debattieren noch wenig vertraut sind, kann es ihnen beim Einnehmen der jeweiligen Pro-/ Contra-Seite und beim Finden und Formulieren von Argumenten helfen, in eine Rolle zu schlüpfen. In der hiesigen Debatte könnten so z. B. neben SMV-Mitgliedern auch Lehrkräfte, Mensa-Betreiber, Eltern oder Aktivistinnen auftreten. Deren Standpunkt und ihre wichtigsten Argumente sollten dann jedoch weitgehend aus den Rollenkärtchen hervorgehen, um die Vorbereitungszeit nicht zu stark in die Länge zu ziehen. Allen Schüler: innen, die nicht aktiv an der Debatte teilnehmen, wird ein Beobach‐ tungsauftrag zugewiesen (ähnlich zur Fishbowl-Methode), sodass auf jede Debattantin ca. drei Beobachter: innen kommen. Dabei bieten die Beobachtungsaufträge vielfäl‐ tige Möglichkeiten zur Differenzierung für DaZ-Lernende: Lernende mit niedrigem Deutschniveau können dadurch eine Argumentation zunächst rezeptiv erleben und im Gehörten bestimmte sprachliche Strukturen und Formulierungsmuster (wieder)er‐ kennen bzw. suchen und notieren. Nach der Debatte geben die Beobachter: innen den Debattierenden konstruktives Feedback. Dabei sollten die Lernenden eine Person be‐ 182 Im Fokus: Mediale Mündlichkeit <?page no="184"?> obachten, deren Argumentation sie vorher nicht vorbereitet haben. Für Sprachlernende kann es jedoch sinnvoll sein, von diesem Prinzip abzuweichen. Folgende Fragen können die Rückmeldungen der Schüler: innen an ‚ihre: n‘ Debattenteilnehmer: in strukturieren: „Wie waren deine Beiträge aufgebaut? Wie hast du deine Position begründet? Was ist mir besonders in Erinnerung geblieben? “ (vgl. Hielscher et al. 2010: 81). Sowohl inhaltliche als auch sprachliche Aspekte können in den Vordergrund gerückt werden. Indem die Lernenden einander mithilfe dieser Fragen gegenseitig Feedback geben, sind nun auch alle nicht an der Debatte beteiligten Schüler: innen aktiv und produzieren Output. Je nach Klasse, Fach oder Schwerpunkt können die Kriterien für die Beobachtung ausdifferenziert werden, z. B. in die vier Kriterien Sachkenntnis, Ausdrucksvermögen, Gesprächsfähigkeit und Überzeugungskraft (vgl. Wagner & Kemmann 2015: 44). Eine kurze gemeinsame Reflexion der Methode rundet die Stunde ab; eingeleitet werden kann eine solche Reflexion durch die Frage: „Was habt ihr heute gelernt? “ Aufgaben 1.* Was zeichnet Themen/ Fragen aus, die sich für Debatten im Unterricht eignen? 2.** Formulieren Sie drei Debattierfragen für ein Unterrichtsfach Ihrer Wahl. 3.*** Debatte oder Diskussion? Debattieren soll u. a. die Argumentationskompeten‐ zen der Schüler: innen fördern. Mit ihren strengen Regeln stößt die Debatte dabei jedoch an Grenzen, sobald es um offenere Fragen oder um ein gemeinsames ‚lautes Denken‘ geht. Lesen Sie vertiefend Grundler & Vogt (2020) und erörtern Sie anschließend folgende Frage: Worin unterscheidet sich die Diskussion von der Debatte und wie kann das Diskutieren im Unterricht gefördert werden? Download: Stundenverlaufsplan 183 7 Die Kunst des Debattierens <?page no="186"?> Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit Aktivierung Aktivierung für Kapitel 8 a. Haben Sie in Ihrer Schulzeit auch das ‚Reihumlesen‘ kennengelernt - ein Ver‐ fahren, bei dem die Lehrkraft Schüler: innen einzeln auffordert, in einem allen vorliegenden (meist unbekannten) Text einen Satz oder einen Absatz laut vorzu‐ lesen, während die anderen still mitlesen? Wie haben Sie sich damals in der Rolle des Lesenden und wie in der Rolle der Zuhörenden gefühlt? b. Welche Schwierigkeiten sind beim ‚Reihumlesen‘ in einer Klasse mit unterschied‐ lich entwickelten Lesefähigkeiten zu erwarten? Warum ist diese Form des Vorle‐ sens als problematisch anzusehen und sollte aus der Lesedidaktik verbannt werden (Rosebrock & Nix 2020: 45)? c. Haben Sie bereits Erfahrungen mit alternativen Lautleseverfahren gemacht? Tauschen Sie sich dazu in Kleingruppen (3-4 Personen) aus und überlegen Sie gemeinsam, welche Aspekte bei der Förderung des Lesens allgemein und im Kontext des Zweitsprachenerwerbs zu beachten sind. d. Was spricht dafür, einen Text laut zu lesen oder ihn gar anderen Personen vorzutragen? Sammeln Sie in Kleingruppen (3-4 Personen) Gründe, die den Prozess des Lesenlernens, jedoch auch das Textverstehen betreffen können. Aktivierung für Kapitel 9 und 10 e. Welche literarischen Texte sollten für eine tiefergehende (ästhetische) Texterfah‐ rung mündlich vorgetragen erlebt werden und warum? Was impliziert dies für den didaktischen Umgang mit diesen Texten? f. Bei der Methode des generativen Schreibens werden eigene, oft poetische/ litera‐ rische Texte auf der Basis einer Textvorlage verfasst, die es kreativ zu verändern gilt. Haben Sie die Methode oder eine andere Form des kreativen Schreibens selbst bereits kennengelernt, in fremdem Unterricht beobachtet oder im eigenen angewendet? Tragen Sie in Kleingruppen (4-5 Personen) Ihre Erfahrungen mit Methoden des kreativen Schreibens zusammen. Diskutieren Sie anschließend, welche didaktischen Ziele mit dem generativen Schreiben verbunden werden könnten. g. Sicherlich kennen auch Sie die Angst vorm weißen Blatt. Was hat Ihnen in dieser Situation geholfen? Wie konnten Sie die Schreibblockade überwinden? h. Finden Sie sich in Kleingruppen zusammen (5-6 Personen), bilden Sie eine kreisförmige Sitzordnung und schreiben Sie gemeinsam einen Text, der mit der Phrase beginnt: Eines schönen Tages im Jahr 2061 … Gehen Sie dabei so vor, dass die erste Person den Satz vollendet, die Nachbarin einen Anschlusssatz formuliert usw. <?page no="187"?> Schreiben Sie in mehreren Runden, bis eine Person einen Schlusssatz findet. Lesen Sie gemeinsam Ihr Textprodukt und diskutieren Sie anschließend miteinander, welche didaktischen Potenziale sich im Rahmen eines solchen Aufgabenarrange‐ ments ergeben. Welche Aspekte müssen bei Deutschlernenden beachtet werden? ***** Gesellschaftliche Teilhabe ist heute kaum möglich, ohne die Fähigkeiten erworben zu haben, die dafür nötig sind, Texte zu lesen, zu verstehen und auch selbst schreiben zu können. Textkompetenz - verstanden i.w.S. als „individuelle Fähigkeit, Texte lesen, schreiben und zum Lernen nutzen zu können“ (Portmann-Tselikas & Schmöl‐ zer-Eibinger 2008: 5) - ist ein Türöffner und dies auch für schulischen Erfolg und Bildungsteilhabe. Denn Wissen wird in der Regel über und mithilfe von Texten vermittelt (Feilke 2013) und Texte werden in fast allen Schulfächern zur Grundlage des unterrichtlichen Lernens gemacht. Lesen und Schreiben sind vor diesem Hintergrund sowohl „technische Fertigkeiten“ als auch „Zielgegenstände des Lernens“ (Roll 2021: 269). Es sind „kommunikative Werkzeuge zur Übermittlung und zum Austausch von Informationen“ ebenso wie „epistemische Lern- und Denkwerkzeuge zur Erschließung und Konstruktion von Wissen im Umgang mit Texten in institutionellen Bildungskon‐ texten“; und nicht zuletzt sind es auch „expressiv-ästhetische Formen in personalen, identitätsrelevanten Kontexten“ (ebd.). So teilhaberelevant Lese-/ Schreibfähigkeiten und Textkompetenz in den aufgeführ‐ ten Bereichen sind - ebenso voraussetzungsreich und komplex ist ihre Aneignung. Dies hängt u. a. auch damit zusammen, dass medial schriftliche Texte in Bildungskontexten in der Regel in bildungs- und fachsprachlichen Registern verfasst sind - die damit verbundene konzeptionelle Schriftlichkeit in medial mündlicher Alltagskommunikation jedoch eher die Ausnahme darstellt. Werden Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag nicht oder zu wenig mit bildungssprachlichen Praktiken (Morek & Heller 2019) konfrontiert, steigen die Herausforderungen. Betroffen sind bei ungünstigen sozialen Voraussetzungen vor allem (aber nicht nur) Schüler: innen zuwanderungsbezogener Herkunft. Nun hat Teil I dieses Lehrbuchs bereits anhand vieler Beispiele dargelegt, dass sprachliches Lernen nicht nur Kognition, sondern auch alle körperlichen Dimensionen involviert. In der Unterrichtspraxis wird insbesondere beim Lesen und beim Schreiben dem Körper jedoch eine untergeordnete Rolle zugewiesen, zumindest Bewegung und der Einsatz der Stimme werden in der Regel auf ein Minimum reduziert. Stellen wir uns eine Lesende vor, dann sitzt oder liegt sie still und bewegungslos über den zu lesenden Text gebeugt. Auch der Schreibende sitzt ebenso lautlos und allein vor einem Computer und benutzt maximal seine Hände zum Tippen oder eine Hand zum Handschreiben. Dass auch die Erweiterung von Lese- und Schreibfähigkeiten sowie von Textkompe‐ tenzen performativ, kooperativ und unter einem intensivierten Einbezug körperlicher Dimensionen zu gestalten ist und dass dies im Besonderen (aber nicht nur) Zugänge für DaZ-Lernende eröffnet, dies zeigen wir in dieser Rubrik. Kapitel 8 fokussiert 186 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="188"?> dabei auf das Lesen und die Förderung von Leseflüssigkeit durch lautes Vorlesen und die Umsetzung eines (Vor-)Lesetheaters. Kapitel 9 widmet sich der Methode des generativen Schreibens, die durch performative Dimensionen und die Inszenierung von Texten als Vorbereitung zum Schreiben angereichert und unterstützt werden kann. Kapitel 10 schließlich legt dar, wie szenisches Schreiben tiefgreifend kreatives Potenzial freizusetzen und im Besonderen das Selbstbewusstsein von (Schreib- und Zweitsprachen-)Lernenden zu stärken vermag. Verbunden sind in dieser Rubrik sowohl Beispiele für eine stärkere Vorstrukturie‐ rung des Sprachangebots und eine moderate Steuerung der Lernprozesse (Kapitel 8, 9) als auch für die Gestaltung von freieren Phasen des Umgangs mit Texten, bei denen der individuelle, identitätsstiftende Ausdruck in den Vordergrund rückt (Kapitel 10). Alle vorgestellten Zugänge integrieren in ihrer Performativität die Anregung von kreativen Prozessen und das Miteinander eines gemeinschaftlichen Lernens. 187 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="189"?> 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit Derya Dinçer Das Vorlesetheater ist eine Unterrichtsmethode, bei der Leseskripts von Schü‐ ler: innen performativ einstudiert und performativ vorgelesen werden. Es schafft einen authentischen Kontext für wiederholtes Lautlesen und fördert damit die Leseflüssigkeit. Besonders für leseschwächere und -ungeübte Leser: innen bietet das Vorlesetheater eine Möglichkeit, basale Lesefertigkeiten einzuüben und dabei Lesemotivation und ein positives lesebezogenes Selbstbild aufzubauen. Lesekompetenz Der Begriff der Lesekompetenz beschreibt in seinem Kern die erfolgreiche Be‐ wältigung des komplexen Lesevorgangs, der verschiedene Prozesse umfasst, die unterschiedliche Fertigkeiten voraussetzen. Dabei lassen sich hierarchieniedrige (basale) Teilprozesse des Lesens von hierarchiehohen Teilprozesses unterscheiden: Das flüssige Lesen von Wörtern und Sätzen sowie das Verstehen auf Satzebene zählen zu den hierarchieniedrigen Prozessen des Lesens, die bei kompetenten Leser: innen automatisiert und gleichsam mühelos ablaufen. Das Verstehen auf Textebene, das Aktivieren und Nutzen von Vorwissen und formalem Textwissen sowie das über den konkreten Text hinausgehende Schlussfolgern hingegen gehö‐ ren zu den hierarchiehohen Prozessen, die höhere mentale Leistungen erfordern und sich erst auf Basis ausreichend entwickelter niederer Lesefertigkeiten entfalten können. 8.1 Lesekompetenz als Herausforderung Lesen stellt in unserer (Wissens-)Gesellschaft die grundlegende Fertigkeit für auto‐ nomes Lernen dar; eine ausreichend ausgebildete Lesekompetenz ist deshalb Voraus‐ setzung für Bildungsteilhabe und schulischen Erfolg. Die Ergebnisse der großen Schulleistungsstudien wie IGLU und PISA weisen jedoch darauf hin, dass in Deutsch‐ land lebende Kinder und Jugendliche im internationalen Vergleich bezüglich ihrer Leseleistungen eher schlecht abschneiden: Für etwa ein Fünftel der Schüler: innen kann angenommen werden, dass ihre Lesefertigkeiten für die erfolgreiche Partizipation am Bildungssystem nicht ausreichen. Dies gilt für Lernende am Ende der Grundschulzeit (vgl. Bos et al. 2017) gleichermaßen wie für 15-jährige Schüler: innen der Sekundarstufe (vgl. PISA 2019). Dabei zeigt sich, dass Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund und besonders jene, deren beide Elternteile im Ausland geboren sind, über eine signifikant niedrigere Lesekompetenz verfügen als ihre Mitschüler: innen ohne Migra‐ tionshintergrund. Auch Jungen und Lernende aus bildungsferneren Familienkontexten haben ein erhöhtes Risiko, zu der Gruppe der schwächeren Leser: innen zu gehören 188 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="190"?> 1 Unter lokaler Kohärenzbildung wird der Aufbau von Sinnzusammenhängen auf Satzebene ver‐ standen, während globale Kohärenzbildung den Aufbau solcher Zusammenhänge auf Textebene beschreibt. (vgl. Goy, Valtin & Hußmann 2017: 147/ 165; Gold et al. 2010: 62). Möglichkeiten der Leseförderung rücken deshalb seit Beginn dieses Jahrhunderts in den Fokus didaktischer Überlegungen (vgl. z. B. Rosebrock et al. 2011). Im Fokus steht meist die Vermittlung von Lesestrategien (vgl. z. B. Rosebrock & Nix 2020: Kap. 5), die sich auf die hierarchiehohen Ebenen des Textverständnisses beziehen. Hierarchieniedrige Teilfertigkeiten werden hierbei vorausgesetzt. Dass Leseschwierigkeiten innerhalb der Schülerschaft Deutschlands auch über 20 Jahre nach dem ersten PISA-Schock trotzdem weiterhin bestehen, zeigt, dass es bei der Förderung von Lesekompetenz vor allem auf eine angemessene Passung von Förderbedarf und Fördermaßnahme ankommt. Für die Gruppe der leseschwächeren Schüler: innen scheint der Einsatz von Lesestrategien zu hoch angesetzt. Bei den Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf müssen zunächst grundlegendere Lesefertigkeiten geübt werden, bevor anspruchsvollere Bereiche des Lesens in Angriff genommen werden können. 8.2 Lesekompetenz aus didaktischer Sicht Im Rahmen der vorgestellten Vergleichsstudien wird Lesekompetenz bisher lediglich als Prozess der Informationsentnahme und -verarbeitung modelliert (vgl. Rosebrock & Nix 2020: 13). Für didaktische Zwecke greift diese Sichtweise jedoch zu kurz. Eine umfassendere, didaktisch ausgerichtete Sichtweise nimmt das in Abb. 8.1 dargestellte Mehrebenenmodell des Lesens nach Rosebrock & Nix (2020) ein. Es begreift Lesen als eine umfassende, komplexe Kompetenz und ermöglicht eine genaue Differenzierung der lesebezogenen Förderbedarfe von Lernenden und dadurch eine systematische Leseförderung. Im Zentrum des Lesekompetenzmodells steht die grundlegende Komponente des Lesens: Auf der Prozessebene wird zunächst die kleinste Einheit des Lesens, die Buch‐ staben-, Wort- und Satzidentifikation fokussiert, welche in weitere kognitive Verarbei‐ tungsprozesse eingebettet ist. Die lokale und globale Kohärenzbildung 1 sowie formale Kenntnisse über textsortenspezifische Charakteristika (Superstrukturen) ermöglichen den Aufbau eines mentalen Modells des Gelesenen und damit das Textverstehen. Diese mentalen Vorgänge der kognitiven Verarbeitung sind ihrerseits eingebunden in die Subjektebene, welche die Lektüre mit der Persönlichkeit des Lesenden verbindet. Das lesebezogene Selbstkonzept wird bestimmt durch die Motivation, das (Welt-)Wissen, innere Beteiligung und die Fähigkeit, Leseerfahrungen zu reflektieren und Bezüge zur eigenen Lebenswelt herzustellen und beeinflusst, ob die lesende Person sich als kompetente Leserin wahrnimmt oder nicht. Die personenbezogene Dimension ist wiederum eingebunden in das soziale Umfeld mit verschiedenen einflussnehmenden Instanzen. Konkrete Handlungszusammenhänge, in die das Lesen eingebunden ist, schaffen Situationen der Anschlusskommunikation. 189 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="191"?> 2 Interessanterweise konnten für DaZ-Kinder innerhalb der Gruppe schwächerer Leser: innen im Vergleich zu ihren einsprachigen Mitschüler: innen eine etwas stärkere Lesemotivation sowie ein etwas ausgeprägteres Leseselbstkonzept festgestellt werden (vgl. Rosebrock 2018: 25 f.). Ihre Lese‐ verstehensleistungen bleiben jedoch trotzdem hinter denen der einsprachigen Lernenden zurück. Abb. 8.1: Didaktisches Mehrebenenmodell des Lesens (vereinfachte Darstellung in Anlehnung an Rosebrock & Nix 2020) Die Leseflüssigkeit ist im Kern des Modells auf Ebene der hierarchieniedrigen men‐ talen Prozesse einzuordnen, also auf Ebene der Wort- und Satzidentifikation. Das Mehrebenenmodell vermag aufzuzeigen, wie diese Teilfertigkeit andere Bereiche der Lesekompetenz beeinflusst und gleichzeitig aber auch von diesen beeinflusst wird. Für Schüler: innen mit Deutsch als Zweitsprache ist die Herausbildung der Lesekom‐ petenz oft mit besonderen Herausforderungen und auch Erschwernissen verbunden. Denn es ergeben sich häufig Nachteile auf allen dargestellten Ebenen: DaZ-Schüler: in‐ nen können auf eine im Vergleich zu ihren erstsprachigen Mitschüler: innen ungünsti‐ ger verlaufende Lesesozialisation zurückblicken ( S OZIAL E E B E N E ) (vgl. Gold et al. 2010), haben durch eine seltenere Verwendung des Deutschen weniger Möglichkeiten zur Automatisierung ihrer Zweitsprache (L2) und verfügen häufig über einen geringeren L2-Wortschatz und geringer ausgeprägte grammatikalische Fähigkeiten (P R OZ E S S E B E N E ) (vgl. Lenhard 2013: 57 f.). Der Lesevorgang wird dadurch zu einem aufwendigen Unterfangen, was wiederum die (intrinsische) Lesemotivation beeinträchtigen und sich in einem negativen lesebezogenen Selbstkonzept niederschlagen kann (S U B J E KT E B E N E ) 2 . 190 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="192"?> 8.3 Leseflüssigkeit als Grundlage für Textverstehen Für die Ausbildung der Lesekompetenz sind automatisiert ablaufende basale Lesepro‐ zesse und die damit einhergehende Leseflüssigkeit entscheidend (vgl. Gold 2018: 67). Flüssiges Lesen gilt als „Brücke zwischen dem Dekodieren und dem Leseverstehen“ (Pikulski & Chard 2005) und damit als Voraussetzung für das Verständnis von Texten (vgl. u. a. Rosebrock et al. 2011; Rosebrock & Gold 2018; Rosebrock & Nix 2020; Gold 2018: Kap. 5). Erst durch ein gewisses Maß an Leseflüssigkeit werden mentale Ressour‐ cen frei, die die eigentlichen Textverstehensleistungen auf hierarchiehöheren Ebenen des Leseprozesses ermöglichen. Entsprechend wirkt sich eine unterdurchschnittlich entwickelte Leseflüssigkeit negativ auf den generellen schulischen Lernerfolg aus (vgl. Bos et al. 2017; Garbe, Holle & von Salisch 2006). Die Lektüre auch altersangemessener Texte gelingt nicht-flüssig Lesenden nur unter großer Anstrengung; viele Wörter können dabei nur mühsam dekodiert werden, Texte können nur langsam, stockend, ohne angemessene Betonung und mit häufig sinnentstellenden Lesefehlern gelesen werden. In einer Längsschnittstudie konnten Klicpera & Gasteiger-Klicpera (1993) nach‐ weisen, dass es in der zweiten und dritten Klasse auffällig nicht flüssig lesenden Schüler: innen auch in den folgenden Schuljahren nicht gelingt, ihren lesetechnischen Rückstand zu Gleichaltrigen ohne spezielle Fördermaßnahmen aufzuholen. Die schwa‐ chen Leseleistungen führen zu zunehmend abfallender Lesemotivation, die sich im Laufe der Schullaufbahn verfestigt und durch schulische (Förder-)Maßnahmen nur noch schwer durchbrochen werden kann (vgl. Rosebrock et al. 2010: 35). Die betroffe‐ nen Kinder und Jugendlichen entwickeln Vermeidungsstrategien, um das Lesen von Texten zu umgehen, wodurch ihnen jedoch die für die Verbesserung der Leseflüssigkeit dringend benötigte Lesepraxis fehlt - Groeben & Schröder (2004) sprechen von einem „Teufelskreis des Nicht-Lesens“. Der Förderung der Leseflüssigkeit kommt aus lesedidaktischer Perspektive deshalb eine besondere Bedeutung zu - für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) sogar mit noch größerem Einflussgewicht (vgl. Gold et al. 2010: 69). Rosebrock et al. (2010) konnten zeigen, dass auch Schüler: innen der Sekundarstufe noch von einer solchen Förderung profitieren und flüssiges Lesen lernen können - und zwar unabhängig davon, ob das Deutsche ihre Erst- oder Zweitsprache ist. Dimensionen der Leseflüssigkeit Um die Leseflüssigkeit betreffende Kompetenzen von Lernenden erfassen und ent‐ sprechend angemessene Fördermaßnahmen ansetzen zu können, gilt es verschiedene Aspekte bzw. Teilfertigkeiten der Leseflüssigkeit zu unterscheiden. Dabei kann beson‐ ders auf Erkenntnisse der angelsächsischen Leseforschung zurückgegriffen werden, die seit Langem Leseflüssigkeit unter dem Begriff reading fluency als eigenständige Komponente der Lesekompetenz beschreibt und sich mit ihren Fördermöglichkeiten auseinandersetzt (vgl. im Überblick Rosebrock & Nix 2006). Rosebrock et al. (2011: 191 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="193"?> 16-19) heben vier zentrale Einzelleistungen hervor, die in ihrer Kombination die Leseflüssigkeit ausmachen und die Verbindung zum Textverstehen verdeutlichen. Die Basis des flüssigen Lesens bildet das genaue Dekodieren: Kompetente Leser: innen können Wörter schnell erkennen, genau lesen und machen dabei nur wenige Lesefeh‐ ler, die im Zweifelsfall sogleich selbstständig bemerkt und korrigiert werden. Schwä‐ cheren Leser: innen hingegen gelingt das sichere fehlerfreie Dekodieren nicht: Sie machen häufiger Lesefehler, die unbemerkt und unkorrigiert bleiben. Als Folge werden ganze Sätze und Satzzusammenhänge sinnentstellt sowie das Textverstehen und die Lektüre im Gesamten erschwert. Als Mindestwert für gelingendes Textverstehen gilt dabei eine Dekodiergenauigkeit von 90 Prozent (vgl. Rasinski 2003, zit. nach Rosebrock & Nix 2020: 38), bei darunter liegenden Werten ist die lokale Kohärenzbildung, also die Rekonstruktion inhaltlicher Zusammenhänge auf Satzebene, behindert und der Text bleibt weitgehend unverständlich. Erst ab einem Wert von mehr als 95 Prozent richtig gelesener Wörter (dazu zählen auch rasch und eigenständig korrigierte Lesefehler) kann ein Text meist ohne Hilfe verstanden werden. Auch die Automatisierung der Dekodiervorgänge, die durch einen raschen und mühelosen Zugang zur Wortbedeutung und -aussprache erreicht wird, trägt zur Leseflüssigkeit bei. Erst durch automatisiertes und dadurch unbewusstes Erkennen von Wörtern und Wortgruppen werden kognitive Ressourcen für die eigentlichen Textver‐ stehensprozesse frei. Durch wiederholte Begegnungen und mehrfaches aufmerksames Wahrnehmen von Wörtern in Texten werden diese im sogenannten Sichtwortschatz gespeichert und stehen dort zum raschen Abruf bereit. Aus dem genauen und automatisierten Dekodieren ergibt sich die Lesegeschwindig‐ keit, die dritte und wohl offensichtlichste Dimension der Leseflüssigkeit. Nur wenn ausreichend schnell gelesen wird, steht bereits Gelesenes noch im Arbeitsgedächtnis zur weiteren Verarbeitung und zur Bedeutungskonstruktion des jeweiligen Satzes bzw. Textes zur Verfügung. Für flüssiges und verstehendes Lesen altersgemäßer Texte mittlerer Schwierigkeit gilt eine Mindestgeschwindigkeit von 100 Wörtern pro Minute (WpM) (vgl. Gold 2018: 68). Die Fähigkeit zu angemessener Segmentierung und Betonung, also zum ausdrucks‐ starken Vorlesen, wird schließlich als vierte Dimension der Leseflüssigkeit angesehen. Sie zeichnet sich aus durch „eine Annäherung des Leseflusses an die Intonation, die auch beim Sprechen zum Tragen kommt“ (Rosebrock & Nix 2020: 39). Das Gelesene wird von flüssig Lesenden bereits während der (ersten) Lektüre sinnhaft gegliedert, indem zusammengehörende Wortgruppen zusammengezogen und dabei eine sinnvolle Betonung und Pausengestaltung sowie ein angemessener Rhythmus realisiert werden. Auf diese Weise wird die lokale Kohärenzbildung unterstützt und das Textverstehen erleichtert. Für Schüler: innen mit Deutsch als Zweitsprache ergeben sich auf allen vier Ebe‐ nen der Leseflüssigkeit häufig spezifische Herausforderungen: Aufgrund eines einge‐ schränkten Wortschatzes kann eine akkurate und automatische Worterkennung und damit eine ausreichende Lesegeschwindigkeit nicht immer erreicht werden (vgl. Garbe 192 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="194"?> 2009: 291). Eine verminderte Sprechflüssigkeit und ein weniger entwickeltes allge‐ meines Sprachverständnis in der Zweitsprache erschweren sinngebendes Lesen und Leseverständnis zusätzlich. Rosebrock & Nix (2020: 39 f.) weisen darauf hin, dass selbst bei ausreichendem Sichtwortschatz die geringe Vertrautheit mit der Schriftsprache des Deutschen das sinnhafte Strukturieren von Sätzen behindert und bezeichnen die Förderung prosodischer Fähigkeiten deshalb als „entscheidende[s] Erfolgskriterium“ bei der Ausbildung der Leseflüssigkeit im Kontext von Mehrsprachigkeit. Besonders Schüler: innen, deren Erstsprache sich bezüglich prosodischer und lautlicher Aspekte (also bezüglich des Sprachrhythmus, des Wortakzents, der Silbenstruktur sowie des Lautsystems, vgl. hierzu Bryant & Rinker 2021: Kap. 1) vom Deutschen unterscheidet, können von einer Förderung der prosodischen Fähigkeiten in ihrer Zweitsprache Deutsch profitieren (vgl. hierzu auch Kap. 13 in diesem Band). Ebenen der Leseflüssigkeit beobachten Die Leseflüssigkeit beschreibt das mühelose, in hohem Maße automatisierte, ausreichend schnelle und weitgehend fehlerfreie Lesen von Texten mit ausdrucks‐ voller Betonung. Um leseschwächere Schüler: innen in der Ausbildung dieser grundlegenden Fähigkeit effektiv unterstützen zu können, ist die genaue Beobach‐ tung bzw. diagnostische Erhebung der leseflüssigkeitsbezogenen Fertigkeiten ein obligatorischer erster Schritt. Tab. 8.1 zeigt jeweils für die Wort- und Satzebene die kritischen Merkmale in den einzelnen Dimensionen der Leseflüssigkeit. Dimension der Lese‐ flüssigkeit Kritische Beobachtungsmerkmale Wortebene Genauigkeit weniger als 95 % korrekt gelesener Wörter; unkorrigierte Fehler Automatisierung Stocken vor Wörtern; mühsames Erlesen von Wörtern Satzebene Lesegeschwindigkeit langsame Lesegeschwindigkeit von weniger als 100 WpM Intonation Wort-für-Wort-Lesen; kleine Wortgruppen; fehlender Zusammenhang zu Syntax und Se‐ mantik des Textes Tab. 8.1: Leseflüssigkeit beobachten (in Anlehnung an Rosebrock & Gold 2018: 11 f.) Für eine gezielte, präzise und systematisierte Beobachtung bieten sich Lautlese‐ protokolle an (vgl. Rosebrock et al. 2011: 83-85). Dabei lesen Schüler: innen einen 193 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="195"?> Text vor, während die Lehrkraft sich auf einer Textkopie notiert, welche Bereiche des flüssigen Lesens noch förderbedürftig sind. Diese Methode bietet nicht nur Lehrenden einen Einblick in Förderbedarfe ihrer Lernenden, sondern eröffnet außerdem auch für Schüler: innen die Möglichkeit, ihre eigenen Fortschritte zu ver‐ folgen, die Leseflüssigkeit als lern- und verbesserbare Kategorie zu begreifen und so ihre Lernbereitschaft zu erhöhen. Einen Überblick über darüberhinausgehende formelle und informelle Verfahren zur Diagnose bzw. Screenings zur Erfassung der Leseflüssigkeit bietet u. a. Lenhard (2013: Kap. 3.4.1 bzw. 3.5.1). Förderung der Leseflüssigkeit Lange galt bezüglich der Förderung der Leseflüssigkeit die naheliegende Devise, flüssiges Lesen könne vor allem durch häufiges Lesen erreicht werden. Wer viel liest, wird den eigenen Sichtwortschatz vergrößern und so zunehmend automatisiert und fehlerfrei Wörter dekodieren können. Schriftsprachliche Satzmuster können eingeschliffen und so die intonatorischen Fertigkeiten geschult werden. Auf diese Weise erhöht sich die Lesegeschwindigkeit sowie die Fähigkeit zum ausdrucksstarken Lesen, die Leseflüssigkeit wird also gewissermaßen nebenbei verbessert - so die theoretischen Grundannahmen. In der Praxis konnte sich dieser Ansatz jedoch nicht bewähren: Empirische Erkenntnisse zeigen, dass durch Vielleseverfahren, die v. a. darauf setzen, im Unterricht freie Lesezeiten und eine ansprechende Leseatmosphäre zu schaffen, bei leseschwächeren Schüler: innen keine nennenswerte Verbesserung der Lesekompetenz im Allgemeinen und der Leseflüssigkeit im Besonderen erreicht werden kann (vgl. Rieckmann 2010; Rosebrock et al. 2010). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Fördermaßnahmen des Viellesens, die ein hohes Maß an (meta-)kogni‐ tiven und besonders lesehandwerklichen Kompetenzen erfordern, für leseschwächere Kinder und Jugendliche zu voraussetzungsreich sind (vgl. Gold 2018: 77). Lautleseverfahren hingegen zielen sehr direkt auf eine Verbesserung der lesetech‐ nischen Fähigkeiten: Durch (halb-)lautes Vorlesen kurzer Texte und Textabschnitte können Lesefertigkeiten im hierarchieniedrigen Bereich, also im Bereich der Leseflüs‐ sigkeit gezielt verbessert werden. Lektüre vollzieht sich nun nicht mehr im Stillen - vielmehr werden technische Aspekte des Lesens sichtbar und für Schüler: innen als erlernbar begriffen. Im Rahmen vorstrukturierter Trainingsabläufe können so alle Einzelebenen der Leseflüssigkeit mit entsprechender Unterstützung durch die Lehrkraft und/ oder kompetentere Mitschüler: innen in Angriff genommen werden. Diese Ansätze haben sich in den USA bereits seit Jahrzehnten bewährt (vgl. für einen Überblick Rosebrock & Nix 2006) und auch in Deutschland konnte die Wirksamkeit von Lautleseverfahren empirisch belegt werden (vgl. Rosebrock et al. 2010; Gold 2018). 194 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="196"?> 3 Vielmehr sind hierzulande Lernende häufig angehalten, reihum Passagen eines Textes vorzulesen, während die übrigen Schüler: innen leise mitlesen sollen. Aus lesedidaktischer Sicht ist diese Praxis des „Reihumlesens“ jedoch als äußerst problematisch einzustufen (vgl. Rosebrock & Nix 2020: 44 f.): Während gute Leser: innen sich langweilen, werden leseschwächere Kinder stigmatisiert und erhalten aufgrund der gering bemessenen Lesezeit und fehlender Wiederholungen keine Möglichkeit, ihre Lesekompetenz zu verbessern. 4 In der deutschsprachigen Lesedidaktik-Forschung hat sich der Begriff Lesetheater für die zu beschrei‐ bende Methode etabliert. Da im Rahmen dieser Methode sowohl während der performativ gestalteten Übungsphasen als auch während der Aufführung das Vorlesen zentral ist, wird für den vorliegenden Beitrag (auch mit Blick auf den performativen Fokus dieses Buches) der Begriff Vorlesetheater gewählt. 5 Mit Nix (2006) liegt eine Ausarbeitung des Lesetheaters für den Einsatz in der Sekundarstufe vor, der in sechsten Hauptschulklassen erfolgreich erprobt wurde. Bauer, Kutzelmann & Moser (2018) bieten praxisnahe Einblicke in die Umsetzung des Lesetheaters in Grundschulklassen, während das Trotzdem finden sie im deutschsprachigen Raum bisher kaum Eingang in die schulische Praxis. 3 Lautleseverfahren zur Förderung der Leseflüssigkeit Bei der Vielzahl von Fördermethoden und -ansätzen, die unter den Begriff der Lautleseverfahren fallen, lassen sich zwei Grundformen unterscheiden, die auch in Kombination auftreten können. Das Wiederholte Lautlesen sieht vor, dass Schüler: innen einen Text so lange wiederholt vorlesen, bis eine vorher festgelegte Lesegeschwindigkeit erreicht und der Text nahezu fehlerfrei gelesen werden kann. Beim Begleiteten (oder auch Begleitenden) Lautlesen hingegen werden kompetente Lesende als Lesevorbild eingesetzt, die den Text gemeinsam mit einzelnen lese‐ schwächeren Schüler: innen laut vorlesen und dabei diese modellierend beim Erlangen einer angemessenen Lesegeschwindigkeit und Intonation unterstützen. Einen detaillierten Überblick über die Verfahren bietet Rosebrock et al. (2011). Im deutschen Sprachraum wurde vor allem die Methode der Lautlese-Tandems ausführlich beschrieben (vgl. ebd.) und erfolgreich auf ihre Wirksamkeit hin überprüft (vgl. Rosebrock et al. 2010). 8.4 Das Vorlesetheater als Methode zur Förderung der Leseflüssigkeit Das Vorlesetheater 4 ist eine Methode aus dem Kontext der Lautleseverfahren, die die Formen des wiederholten und des begleiteten Lesens kombiniert und auf die Verbes‐ serung der Leseflüssigkeit sowie den Aufbau der Lesemotivation zielt. Es geht zurück auf frühe Formen der Leseinszenierung und baut auf dem im angelsächsischen Raum entwickelten Readers‘ Theater auf (vgl. Nix 2006: 23; 26), das diese Inszenierungsformen für den Einsatz in schulischen Kontexten und zu leseförderlichen Zwecken nutzbar macht. Die Methode eignet sich gleichermaßen für den Einsatz in der Elementar- und Sekundarstufe. 5 195 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="197"?> Projekt MELT das Lesetheater schließlich für fremd- und mehrsprachige Kontexte adaptiert hat (vgl. Kutzelmann et al. 2017). Für das Vorlesetheater werden kurze literarische Texte bzw. Ausschnitte aus Werken der Kinder- und Jugendliteratur zu einfachen dramatisierten Vorleseskripts umge‐ schrieben, in denen die Rede der Figuren und Passagen der Erzähler: innen dialogisch und in direkter Rede wiedergeben werden. Abhängig vom Leistungsniveau der Ler‐ nenden werden diese Vorlesetheaterstücke von der Lehrkraft vorbereitet und zur Verfügung gestellt, oder aber von den Schüler: innen unter entsprechender Anleitung selbst ausgearbeitet. Die so entstandenen Sprechrollen erlauben eine differenzierte Zuweisung in Abhängigkeit des Lesekompetenzniveaus der einzelnen Schüler: innen. Bei der Entscheidung für die literarische Vorlage gilt es, einen für die Lernendengruppe interessanten und altersangemessenen Text auszuwählen, der über eine Vielzahl von Dialogen verfügt und die Lesefertigkeiten der Kinder nicht erheblich übersteigt (vgl. Nix 2006: 24). In kooperativen Gruppenarbeitsphasen trainieren die Kinder und Jugendlichen das szenische Vorlesen ihrer ausgewählten Rollen, indem sie die Gefühls- und Gedankenwelt sowie die Charaktereigenschaften ihrer Figur durch angemessenen Sprachausdruck stimmlich darstellen. Mit dem Ziel, sich auf eine Vorlese-Aufführung (im kleinen oder großen Kreis) vorzubereiten, erarbeiten die Schüler: innen gemeinsam und in regem Austausch in der Gruppe die Gesamtbedeutung ihrer Szene und eine ansprechende Inszenierung derselben. Im Gegensatz zu anderen Lautleseverfahren bietet das Vorlesetheater so einen sinnvollen und authentischen Kontext für lautes Lesen, der die Auswirkung und Bedeutung guten Vorlesens unmittelbar erlebbar macht. Die vier Einzeldimensionen der Leseflüssigkeit können in Gruppenarbeit, also in geschütztem Rahmen und in mehreren Arbeitsphasen trainiert werden: Zunächst steht das genaue Dekodieren im Fokus, wenn unbekannte Wörter, Phrasen und Redewendungen entschlüsselt und ihre jeweiligen Bedeutungen erschlossen werden. Während der anschließenden Phasen des mehrfachen (halb-)lauten Lesens finden auch bislang unbekannte Wörter Eingang in den Sichtwortschatz und die Automatisierung der Dekodierprozesse wird angeregt. Darüber hinaus bietet sich an dieser Stelle der Einsatz weiterer Lautleseverfahren zur Förderung der Leseflüssigkeit an, z. B. das Training in Lautlese-Tandems (vgl. hierzu Rosebrock et al. 2011), wobei die Lernenden die Sinnhaftigkeit des Übens mit diesen Verfahren unmittelbar erfahren. Durch die Verbesserung der Dekodiergenauigkeit und die zunehmende Automatisierung kann schließlich die Lesegeschwindigkeit erhöht wer‐ den. Mit der Aufführung vor Augen, die weitestgehend ohne den Einsatz von Requisiten auskommt und damit die Lesefähigkeiten in den Fokus rückt, arbeiten die Schüler: innen außerdem in Zusammenarbeit an sinngestaltendem und ausdrucksstarkem Vorlesen sowie einer verständlichen Aussprache und damit an ihren prosodischen Fertigkeiten. Um einen passenden Vorleseausdruck zu finden, gilt es, die Innenperspektive der 196 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="198"?> 6 Durch den Einsatz des Lautleseverfahrens der Lautlese-Tandems konnte zwar die Leseflüssigkeit und das Textverständnis verbessert, nicht aber die Lesemotivation gesteigert werden (vgl. Rosebrock et al. 2010: 45). Das Vorlesetheater verspricht durch seinen stark motivationsbezogenen Charakter auch in diesem Bereich positive Effekte. Figuren einzunehmen und das Gelesene inhaltlich tiefgehend zu verarbeiten. Dadurch werden auch hierarchiehöhere Textverstehensprozesse angestoßen. Für den Höhepunkt des Vorlesetheaters, den Auftritt vor der (Parallel-)Klasse und/ oder vor Eltern und Lehrkräften, benötigen die Kinder ausschließlich ihr Leseskript, ihre Stimme und ihre trainierten Lesefertigkeiten. Ganz im Gegensatz zu üblichen Theateraufführungen entfällt das Auswendiglernen der Textpassagen und die Schü‐ ler: innen können sich auf das Vorlesen und den Einsatz ihrer Stimme konzentrieren. In diesen sinnhaften Handlungszusammenhängen des Vorlesetheaters werden die Schüler: innen wiederholt zur Anschlusskommunikation angeregt und erfahren, dass sich das Üben auf ihre Leseflüssigkeit und damit indirekt auf ihre Textverstehens- und allgemeine Lesekompetenz auswirkt. Das (Vor-)Lesen steht durch die vorzubereitende Vorleseaufführung in echten und authentischen Lernzusammenhängen und wird zum literarischen Ereignis. Auf diese Weise kann schließlich auch die Lesemotivation erhöht 6 und das individuelle lesebezogene Selbstkonzept positiv beeinflusst werden. Die Methode des Vorlesetheaters wirkt damit nicht nur direkt auf allen Dimensionen der Leseflüssigkeit, also auf den hierarchieniedrigen Leseprozessen, sondern nimmt indirekt auch Einfluss auf alle weiteren Ebenen der Lesekompetenz (vgl. Mehrebenen‐ modell nach Rosebrock & Nix 2020). 8.5 Von Tieren und Pfannkuchen: Ein Beispiel zum Einsatz des Vorlesetheaters Die nun vorzustellende Einheit ist für eine Gruppe von acht Kindern konzipiert, die noch am Anfang ihres Deutscherwerbs stehen, sich aber bereits grundlegende Sprachkenntnisse aneignen konnten. Der zwei Doppelstunden umfassende Unter‐ richtsentwurf bietet sich z. B. für den Einsatz in einer sogenannten Vorbereitungsklasse (VKL) der 4./ 5. Jahrgangsstufe oder in der additiven Sprachförderung an, kann aber mit wenigen Modifizierungen auch an andere Unterrichtskontexte und an eine höhere Schülerzahl angepasst werden. In der ersten Beispieldoppelstunde lernen die Kinder das Vorlesetheater kennen. Die Textgrundlage bildet ein aus dem bekannten Volksmär‐ chen Der dicke fette Pfannkuchen erstelltes Vorleseskript: 197 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="199"?> Vorleseskript: Der dicke fette Pfannkuchen Erzähler: in 1: Es waren einmal drei alte Frauen. Erzähler: in 2: Die wollten einen Pfannkuchen essen. Frau 1: Lasst uns einen Pfannkuchen backen! Frau 2: Ich hole die Eier. Frau 3: Ich hole das Mehl. Frau 1: Und ich hole die Milch. Erzähler: in 1: Die Frauen buken einen dicken fetten Pfannkuchen. Erzähler: in 2: Es duftete herrlich! Aber der Pfannkuchen wollte nicht gegessen werden. Frau 1: Oh Schreck! Der Pfannkuchen rollt weg. Frau 2: Halt! Wir wollen dich essen! Frau 3: Bleib stehen! Erzähler: in 1: Doch der Pfannkuchen rollte kantapper kantapper in den Wald hinein. Erzähler: in 2: Da kam ein Hase angehüpft. Hase: Dicker, fetter Pfannkuchen, bleib stehen. Ich will dich fressen! Pfannkuchen: Nein, ich will nicht gefressen werden! Erzähler: in 2: Und er rollte kantapper kantapper davon. Erzähler: in 1: Da kam ein Wolf angeschlichen. Wolf: Dicker, fetter Pfannkuchen, bleib stehen. Ich will dich fressen! Pfannkuchen: Nein, ich will nicht gefressen werden! Erzähler: in 1: Und er rollte kantapper kantapper davon. Erzähler: in 2: Da kam eine Ziege angerannt. Ziege: Dicker, fetter Pfannkuchen, bleib stehen. Ich will dich fressen! Pfannkuchen: Nein, ich will nicht gefressen werden! Erzähler: in 2: Und er rollte kantapper kantapper davon. Erzähler: in 1: Da kam ein Pferd angaloppiert. Pferd: Dicker, fetter Pfannkuchen, bleib stehen. Ich will dich fressen! Pfannkuchen: Nein, ich will nicht gefressen werden! Erzähler: in 2: Und er rollte kantapper kantapper davon. Erzähler: in 1: Da kam ein Schwein angestampft. Schwein: Dicker, fetter Pfannkuchen, bleib stehen. Ich will dich fressen! Pfannkuchen: Nein, ich will nicht gefressen werden! Erzähler: in 1: Und er rollte kantapper kantapper davon. 198 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="200"?> 7 Zur besseren Übersicht empfiehlt es sich, die Kinder ihre jeweilige(n) Rolle(n) im Skript farblich markieren zu lassen. Erzähler: in 2: Da kamen drei Kinder. Sie hatten keinen Vater und keine Mutter mehr. Kind 1: Lieber Pfannkuchen, bleib stehen. Kind 2: Wir haben den ganzen Tag noch nichts gegessen und sind so hungrig! Erzählerin 1: Da freute sich der Pfannkuchen. Pfannkuchen: Oh ja, von euch will ich gegessen werden! Erzählerin 2: Er sprang den Kindern in den Korb hinein und ließ sich von ihnen essen. Die ausgewählte Geschichte enthält eine Vielzahl zu besetzender Rollen, was sie für den Einsatz im Vorlesetheater besonders geeignet macht, aber auch bedeutet, dass einzelne Schüler: innen mehr als eine Rolle übernehmen können. In Tab. 8.2 sind für das Vorleseskript zwei Aufteilungsmöglichkeiten dargestellt - für eine Gruppe mit 13 oder mit 8 Kindern. 7 In größeren Klassen können von mehreren Gruppen verschiedene Versionen derselben Geschichte erarbeitet oder aber zusätzliche Geschichten eingesetzt werden. 1 Kind = 1 Rolle 1 Kind = 1-2 Rollen Kind 1 Erzähler: in 1 Erzähler: in 1 Kind 2 Erzähler: in 2 Erzähler: in 2 Kind 3 Pfannkuchen Pfannkuchen Kind 4 Frau 1 Frau 1 + Ziege Kind 5 Frau 2 Frau 2 + Pferd Kind 6 Frau 3 Frau 3 + Schwein Kind 7 Hase Hase + Kind 1 Kind 8 Wolf Wolf + Kind 2 Kind 9 Ziege Kind 10 Pferd Kind 11 Schwein Kind 12 Kind 1 Kind 13 Kind 2 Tab. 8.2: Beispielhafte Rollenverteilung für das Vorlesetheater Der dicke fette Pfannkuchen 199 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="201"?> 8 Je nach Vorerfahrungen der Kinder kann bzw. sollte diesem Schritt eine allgemeine Einführung in die Gattung der Märchen vorangehen. Phase I: Einführung in das Vorlesetheater In einem ersten Schritt werden die Schüler: innen in die neue Methode des Vorlese‐ theaters eingeführt. Dafür schreibt die Lehrkraft den Begriff Vorlesetheater an die Tafel und bespricht gemeinsam mit den Schüler: innen seine einzelnen Bestandteile. Durch entsprechende Bildkarten gestützt wird so geklärt, was unter Vorlesen und Theater verstanden werden kann. Wesentliche Begriffe aus dem Umfeld des Theaters, die auch im Rahmen des Vorlesetheaters von Bedeutung sind, können geklärt und ggf. relevante Regeln diskutiert werden: Was ist eine Aufführung, wo findet sie statt (Bühne)? Welche Aufgaben hat das Publikum, was müssen Darsteller: innen beachten? Weiter ist gemeinsam zu erörtern, worin sich das Vorlesen vom (stillen) Lesen unter‐ scheidet und in welchen Kontexten bzw. mit welcher Funktion die beiden Leseformen jeweils Anwendung finden. Schließlich findet eine Verbindung der beiden Teilbegriffe Vorlesen und Theater statt, die es ermöglicht, wesentliche Aspekte des Vorlesetheaters darzustellen. Phase II: Einführung in die Geschichte Nun stellt die Lehrkraft das Märchen 8 vom dicken fetten Pfannkuchen vor, um das es im Folgenden gehen soll. Sie formuliert einen kurzen „Teaser“, der das Interesse der Kinder wecken soll und ggf. durch die Hinzunahme eines Bilderbuchcovers unterstützt wird. Ist die Neugier geweckt, liest die Lehrkraft der Klasse das Leseskript als Lesemodell ansprechend und unter Einsatz geeigneter Gestik, Mimik und Intonation vor. Auf diese Weise erfahren die Lernenden das Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten beim Vorlesen und erleben unmittelbar die Bedeutung des gelungenen gestaltenden Vorle‐ sens für Textverstehensprozesse. Es empfiehlt sich, das Vorlesen vorab einzustudieren, damit für die Schüler: innen eine möglichst attraktive Basis für das eigene Erarbeiten des Vorlesetheaters geschaffen werden kann (vgl. für einen Überblick über Aspekte sinngestaltenden Vorlesens in schulischen Kontexten Kreuz 2016). Um ein erstes grobes Textverstehen vor allem bei weniger kompetenten Sprecher: in‐ nen des Deutschen zu unterstützen, werden parallel zum Vorlesen Bilder eingesetzt. Für das Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen wurden zahlreiche Bilderbuchadaptionen erarbeitet, die sich für diese Zwecke nutzen lassen. Besonders ansprechend ist dieser erste Kontakt mit der Geschichte durch die Hinzunahme eines Kamishibai-Theaters zu realisieren (vgl. Kap. 6). Auch für diese Variante sind entsprechende Bildkarten im Handel erhältlich. Nach dem Vorlesen der Geschichte tauschen sich die Kinder und die Lehrkraft im Rahmen eines informellen Gesprächs über die Geschichte aus. Impulsfragen für die Anregung einer solchen ersten Anschlusskommunikation können sein: Wie gefällt euch die Geschichte? Ist das eine lustige oder eine traurige Geschichte? Welche Figur findet ihr am besten? Zur sprachlichen Unterstützung und 200 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="202"?> 9 Um die Kinder darüber hinaus beim Aufbau zielsprachlicher Strukturen zu unterstützen, können bestimmte Elemente der Beispielsätze auch farblich markiert werden. So ist - je nach Förderbedarf und aktuellem Fokus in der Förderung - beispielsweise eine farbliche Markierung des finiten Verbs am Nebensatzende, aber auch eine visuelle Verbindung zwischen Personalpronomen und Bezugsnomen (die Geschichte - sie) möglich. zur binnendifferenzierenden Gestaltung dieser Sequenz können Beispielsätze wie in Abb. 8.2 und/ oder Strukturkarten mit Lücken wie in Abb. 8.3 vorgegeben werden. Auf diese Weise wird Schüler: innen unterschiedlicher Sprachniveaus ermöglicht, ihre Meinungen und Gedanken (unter Verwendung entsprechender Nebensatzstrukturen) angemessen sprachlich zum Ausdruck zu bringen. 9 Abb. 8.2: Beispielsätze zur Bewertung der Geschichte Abb. 8.3: Strukturkarten zur Bewertung der Geschichte Phase III: Erstmaliges Lesen & Rollenverteilung Jedes Kind erhält eine Kopie des Skripts und darf sich im Klassenraum einen ruhigen Platz auswählen, um dieses zunächst einmal für sich halblaut zu lesen („Murmellesen“). Sind in der Lernendengruppe stärkere und schwächere Leser: innen vertreten, bietet sich daran anschließend die Methode der Lautlese-Tandems an. Die Schüler: innen bilden Paare und lesen den Text wiederholt gemeinsam. Sie unterstreichen unbekannte Begriffe und versuchen, deren Bedeutungen zu erschließen. 201 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="203"?> Lautlese-Tandems Das kooperative Lautlesen in Tandems (nach Rosebrock et al. 2011) ist eine zu den Lautlese‐ verfahren gehörende Methode. Hierfür werden Paare aus schwächeren („Sportler: in“) und stär‐ keren Leser: innen („Trainer: in“) gebildet, die einen Text gemeinsam chorisch halblaut lesen. Trainer: innen unterstützen Sportler: innen da‐ bei im Ausbilden angemessen betonten und mit passenden Emotionen angereicherten Vor‐ lesens, indem sie (unkorrigierte) Lesefehler ver‐ bessern und als Lesevorbild fungieren. Durch den sportlichen Charakter der Rahmenhand‐ lung wird den Schüler: innen vermittelt, dass kompetentes (flüssiges) Lesen erlernt werden kann und lediglich eine Frage der Übung bzw. des „Trainings“ ist. Abb. 8.4: Lautlese-Tandems (© B/ E) Im Anschluss wird das Textverstehen im Klassenverband vertieft und die Bedeutung noch unbekannter Wörter geklärt. Im Rahmen der vorliegenden Geschichte bietet sich beispielsweise eine Besprechung der Tiernamen und der verschiedenen Fortbe‐ wegungsweisen an. Zur Wortschatzsicherung erhalten die Schüler: innen Bildkarten der in der Geschichte vorkommenden Tiere, die sie mit den entsprechenden Tiernamen beschriften und zur Unterstützung weiterer Arbeitsschritte gut sichtbar im Raum aufhängen. Für die Verankerung der Bedeutung der vorkommenden Bewegungsverben ist die dramapädagogische Methode des Raumlaufs geeignet. Dabei dürfen die Kinder nach kurzer Veranschaulichung der einzelnen Fortbewegungsweisen selbst aktiv werden und sich hüpfend, schleichend, rennend, galoppierend und stampfend durch den Raum bewegen bzw. eine rollende Bewegung mit ihren Armen nachahmen. Raumlauf Der Raumlauf ist eine bewegungsreiche Gruppenübung aus dem Bereich der Dramapädagogik. Dabei bewegen sich die Schüler: innen gleichmäßig verteilt in einem (begrenzten) Raum. Die Lehrkraft kann nun gezielte Anweisungen geben, welche die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf unterschiedliche Aspekte lenken. Die Impulse können die Art der Fortbewegung, die Geschwindigkeit, den eigenen Körper oder den Blick betreffen (vgl. für einen ausführlicheren Überblick Kap. 19). 202 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="204"?> 10 Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es den Kindern meist sehr gut gelingt, ihre eigenen Fähigkeiten einzuschätzen und eine passende Rolle auszuwählen. 11 Im Anschluss an diese Übung ist - abhängig vom sprachlichen Niveau der Kinder - eine Sequenz denkbar, in der die Kinder die Möglichkeit erhalten, ihre Sprechrolle(n) individuell zu erweitern, indem sie zusätzliche Sätze in direkter Rede verfassen. Auch eine Klärung der (für Märchen typischen) Präteritumsformen kann an dieser Stelle initiiert werden (insbesondere der im Alltagssprachlichen seltener auftretenden Formen buken, duftete, rollte, sprang und ließ). Nachdem Inhaltliches besprochen und Unbekanntes geklärt wurde, dürfen sich die Schüler: innen eine Rolle bzw. mehrere Rollen aussuchen. Alternativ weist die Lehrkraft unter Berücksichtigung der individuellen Sprachbzw. Leseleistungen die Rollen zu. 10 Im Hinblick auf den Umfang bzw. Schwierigkeitsgrad der einzelnen Rollen ist im Skript sofort erkennbar, dass sich die Erzähler: innenrollen vor allem für vergleichs‐ weise starke Leser: innen eignen, während die Rolle des Pfannkuchens mit einem leseschwächeren Kind besetzt werden kann. Das Skript bietet so die Möglichkeit, binnendifferenziert zu arbeiten und die verschiedenen Leseniveaus der Kinder zu beachten, ohne dabei leistungsschwächere Schüler: innen auszugrenzen: Die Rolle des Pfannkuchens zeichnet sich zwar durch häufige Wiederholung derselben Struktur aus, ist aber die des Hauptprotagonisten, der in jeder Szene zu Wort kommen darf. Phase IV: Performative Szenenund/ oder Rollenarbeit Nach der Rollenverteilung finden sich die Schüler: innen in Gruppen zusammen und erarbeiten gemeinsam für die folgenden zentralen Szenen drei Standbilder. Szene 1: Der Pfannkuchen entkommt den drei alten Frauen; Szene 2: Der Pfannkuchen trifft Tiere, die ihn fressen wollen; Szene 3: Der Pfannkuchen trifft die beiden hungrigen Kinder. Standbild Beim Standbild erhalten die Schüler: innen den Auftrag, eine oder mehrere Schlüs‐ selszenen einer Erzählung oder eines Ereignisses als „eingefrorenen“ Moment darzustellen. Diese Technik unterstützt die Lernenden bei der intensiven Ausein‐ andersetzung mit den Figuren und den Inhalten der Geschichte (vgl. für einen ausführlicheren Überblick Kap. 19). Zusätzlich oder alternativ lässt sich in dieser Phase auch die Methode des heißen Stuhls zur Vorstellung der einzelnen Figuren einsetzen, die eine tiefergehende Beschäftigung mit den Figuren, deren Gefühlen und Handlungsmotivationen anstößt. Je nach Sprach‐ stand der Schüler: innen ist es sinnvoll, Leitfragen, aber auch z. B. Emotionswörter vorzugeben bzw. vorab zu besprechen. 11 203 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="205"?> Heißer Stuhl Für die Methode des heißen Stuhls (auch Hot Seat) nimmt ein Kind auf einem Stuhl Platz. Dort beantwortet es nun - in der Rolle seiner Figur - Fragen seiner Mitschüler: innen, die das Handeln, die Beweggründe sowie Charaktereigenschaf‐ ten und Gefühle der Figur betreffen und so das Eintauchen in die Rolle unterstützen und ein der jeweiligen Figur angemessenes ausdrucksstarkes Vorlesen vorbereiten (vgl. für einen ausführlicheren Überblick Kap. 18). Phase V: Performatives Lesetraining In der anschließenden Phase des intensiven Lesens erhalten die Kinder die Möglichkeit, ihre Rolle(n) in Einzel-, Partner: innen- und Gruppenarbeit mehrfach (halb-)laut zu lesen. Dabei steht zunächst das genaue Dekodieren im Vordergrund, um Sicherheit und eine gewisse Automatisierung auf der Wort- und Satzebene zu erlangen. Das wiederholende Lesen lässt sich in ansprechende Übungsformen integrieren, deren performativer Charakter die Kinder bereits auf das Vorlesetheater einstimmt und ihnen die Möglichkeit gibt, stimmliche und körperliche Ausgestaltungsvarianten zu erproben. Besonders geeignet sind beispielsweise das Bergsteigen (Einzelarbeit) oder das Spiegellesen (Partner: innenarbeit). Im Rahmen der Übungseinheiten erhalten die Kinder (ggf. angeleitetes und durch Strukturkarten (s. u.) unterstütztes) konstruktives Feedback von ihren Mitschüler: in‐ nen und/ oder der Lehrkraft, das sie in weitere Lesevorgänge einarbeiten können. Abb. 8.5: Übungsform Bergsteigen (© Bryant/ Erhard) 204 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="206"?> Bergsteigen Diese Übung bietet Schüler: innen einen lustvollen Rahmen für das mehrfache Lautlesen ihrer Rolle(n), wobei sie mit jedem Lesedurchgang ihre Position verän‐ dern. Bei der ersten Wiederholung sitzen die Kinder auf ihrem Stuhl, bei der zweiten stehen sie darauf, beim dritten Durchgang sitzen sie auf ihrem Tisch und den vierten realisieren sie schließlich auf dem Tisch stehend. Dabei kann mit jeder höheren Stufe die Stimme kraftvoller eingesetzt und die mimisch-gestische Ausgestaltung intensiviert werden (vgl. Bauer, Kutzelmann & Moser 2018: 104). Spiegellesen Bei dieser Übung kann besonders die Intonation und das ausdrucksstarke Le‐ sen trainiert werden. Dafür werden die Kinder in Paare eingeteilt, die sich ge‐ genüberstehen. Ein Kind liest einen Satz in einer bestimmten Art und Weise vor - mit bewusstem Einsatz von Laut‐ stärke, Geschwindigkeit, Emotionalität und Körperhaltung. Das andere Kind hat als „Spiegel“ nun die Aufgabe, die‐ ses Vorlesen möglichst genau zu imitie‐ ren. Anschließend werden die Rollen ge‐ tauscht und eine andere Ausdruckform wird vorgegeben und gespiegelt (vgl. Kutzelmann, Massler & Peter 2017: 153). Abb. 8.6: Übungsform Spiegellesen (© B/ E) Phase VI: Vorlesetheater - Generalprobe Nachdem die einzelnen Leserollen einstudiert und in Gruppenarbeitsprozessen aufein‐ ander abgestimmt wurden, folgt die Durchführung einer Generalprobe. Dabei üben die Kinder einerseits das gelingende Zusammenspiel der Gruppe ein und erhalten an‐ dererseits durch (angeleitetes) Feedback ihrer Mitschüler: innen und/ oder der Lehrkraft die Möglichkeit, Feinheiten besonders im Bereich der Intonation und des Ausdrucks zu optimieren. Bei Lernenden des Deutschen als Zweitsprache bietet es sich an, solche Feedbackrunden durch den Einsatz entsprechender Beispielsätze (Abb. 8.7) bzw. Strukturkarten (Abb. 8.8) zu unterstützen. 205 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="207"?> Abb. 8.7: Beispielsätze für Feedbackrunden Abb. 8.8: Strukturkarten für Feedbackrunden Phase VII: Vorlesetheater - Aufführung Die Aufführung, das Vorlesen der erarbeiteten Szenen auf einer „Bühne“, stellt den Höhepunkt der beiden Doppelstunden dar. Ein mit Klebeband eingegrenztes Rechteck lässt sich in jedem Klassenraum ohne viel Aufwand als „Bühne“ etablieren. Das Vorlesetheater beginnt in dem Moment, in dem die Vorlesenden die Bühne betreten. Da in der hier vorgestellten Stunde alle Kinder zur gleichen Vorlesegruppe gehören, wäre die Lehrkraft die alleinige Zuschauerin. Idealerweise werden zur Aufführung noch weitere Kinder, Eltern oder Lehrkräfte hinzugebeten. Mit dem abschließenden Applaus erfahren die Schüler: innen eine Belohnung für ihre Mühen und eine Aner‐ kennung und Wertschätzung ihrer Fortschritte beim Lesen. Aufgaben 1.* Sie haben in diesem Kapitel das Vorlesetheater als Lautleseverfahren zur Förde‐ rung der Lesekompetenz kennengelernt. a. Beschreiben Sie in eigenen Worten, welche Bereiche der Lesekompetenz dabei besonders Beachtung finden und auf welche Weise sie gefördert werden. b. Sehen Sie sich das vorgestellte Vorleseskript an und beurteilen Sie, welche Rollen für leseschwächere Schüler: innen und welche Rollen für bessere Leser: innen geeignet sind. Begründen Sie Ihre Entscheidung. 2.** a. Vergleichen Sie das Vorleseskript aus der beschriebenen Beispieleinheit mit dem Originalmärchen. Erörtern Sie anhand dieses Vergleichs, welche Aspekte ein solches Skript auszeichnen und bei der Erstellung beachtet werden müssen. b. Modifizieren Sie das vorgegebene Skript für eine sprachlich stärkere Ziel‐ gruppe. c. Suchen Sie eine für das Vorlesetheater geeignete und für Ihre Zielgruppe ansprechende literarische Vorlage. Erstellen Sie nun unter Beachtung der in 2a erarbeiteten Aspekte ein Vorleseskript. 206 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="208"?> 3.*** Machen Sie sich vertraut mit weiteren Verfahren des Lautlesens (hierzu Rose‐ brock et al. 2011) sowie dramapädagogischen Methoden (hierzu z. B. Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung in diesem Band) und gestalten Sie in Einzelarbeit oder in einer Kleingruppe eine mögliche Unterrichtseinheit zu dem von Ihnen erstellten Vorleseskript. Download: Stundenverlaufsplan 207 8 Mit dem Vorlesetheater zu mehr Leseflüssigkeit <?page no="209"?> 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens Alexandra L. Zepter Beim generativen Schreiben verfassen Schüler: innen eigene Texte auf der Basis einer Vorlage, die im Rahmen von kreativ-spielerischen Prozessen mehr oder weniger verändert und erweitert wird. Die Arbeit an der Vorlage ermöglicht in‐ klusive Lerngelegenheiten, die ein implizites Lernen von grammatischen Mustern (z. B. Kasus in der Nominalgruppe, Verbflexion, Satzstruktur) fördert. Durch die Verknüpfung des generativen Schreibens mit performativen Zugängen sowohl zum Ausgangsals auch zum kreativ veränderten Text kann der grammatische Lernprozess zusätzlich unterstützt werden. 9.1 Generatives Schreiben In einem DaZ-Förderunterricht schreiben Schüler: innen der 3./ 4. Jahrgangsstufe, die in ihrem Zweitsprachenerwerb noch am Anfang stehen, kleinere Texte zum Bilderbuch Superwurm - einer Heldengeschichte von Axel Scheffler und Julia Donaldson, in der ein kleiner Wurm andere Tiere aus lebensbedrohlichen Situationen rettet (vgl. Benati et al. 2019): Wenn der Schmetterling in ein Spinnennetz gerät, dann kann nur der Superwurm helfen. Wenn die Schnecke unter einen Fahrradreifen gerät, dann schlängelt sich der Wurm um einen Laternenpfosten und holt die Schnecke weg. Wenn die Eidechse sich in einer Höhle verirrt, dann schlängelt der Wurm seine Schwanzspitze aus, dann findet die Eidechse raus. Abb. 9.1: Generative Schreibprodukte von DaZ-Lernenden, 3./ 4. Jahrgangsstufe; im Transkript nur Orthographie bereinigt; Daten dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Lotte Weinrich 208 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="210"?> 1 Überdies ist es wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Schreiber: innen Vertrauen in sich selbst und Zuversicht zu ihren eigenen kreativen Potenzialen fassen können; siehe dazu auch Kapitel 10 in diesem Band. In den Beispielen in Abbildung 9.1 sind von den Schüler: innen selbst ausgedachte Si‐ tuationen vertextet, die so in der Originalgeschichte nicht vorkommen und stattdessen auf ein kreatives Weiterdenken der Erzählhandlung fußen. Obgleich deutlich wird, dass die Schreibenden auf der orthographischen Ebene noch herausgefordert sind, fällt auf, dass alle die Wenn-Dann-Konstruktion auf grammatischer Ebene bereits gut meistern. Dieser Lernerfolg mag u. a. darauf zurückzuführen sein, dass die Schüler: innen im benannten DaZ-Förderunterricht generativ schreiben - das bedeutet, sie können sich an einem vorgegebenen grammatischen Muster (hier ein ähnlicher Wenn-Dann-Satz) orientieren. Die Methode des generativen Schreibens und noch weiterreichend das Sprachspiel hat allen voran Gerlind Belke für den DaZ-Kontext und den mehrsprachigen Unterricht fruchtbar gemacht (vgl. Belke 2001; 2007; 2012a; b). Im Kern geht es bei ihrem didaktischen Ansatz darum, grammatisches Lernen auf der einen Seite und kreatives Sprachhandeln auf der anderen Seite zu integrieren und möglichst direkt miteinander zu verknüpfen. Ziel ist es, motivierende Lernsituationen zu schaffen, in denen die Lernenden im Zuge einer kreativen Auseinandersetzung mit einem Text grammatisch lernen können. Dabei ist das generative Schreiben nicht notwendig mit der didaktischen Absicht verbunden, einen grammatischen Lernprozess in Gang zu setzen oder zu unterstützen. Ursprünglich ist es zunächst eine methodische Variante des kreativen Schreibens (Bött‐ cher 2010: 23-28), bei der der kreative Prozess durch vorgegebene, meist literarische Muster (z. B. ein bestimmter Gedichtaufbau) angestoßen werden soll. Die literarische Vorlage dient als Impuls dazu, durch eine Veränderung des Inhalts und/ oder durch ein variierendes Spiel mit der Struktur selbst kreativ zu sein und einen eigenen Text zu produzieren. Oft ist es ja gar nicht so einfach, kreativ zu werden - schon gar nicht, wenn man ein weißes Blatt vor sich hat. Das weiße Blatt oder der Aufruf „Jetzt sei mal kreativ! “ kann einschüchternd wirken und den Ideenfluss hemmen, statt ihn zu aktivieren. Leichter wird es für viele, wenn man einen Impuls erhält - etwas Vorgegebenes, mit dem man spielen und das man kreativ verändern kann, das einen vielleicht überhaupt erst auf neue Ideen bringt und das Bekannte, Gebräuchliche in den Hintergrund treten lässt (vgl. auch Spinner 2008: 114, 120; Zepter 2013: 366). 1 Darüber hinaus kann die kreativ-produktive Auseinandersetzung mit einem literarischen Text es auch ermöglichen, diesen intensiver kennenzulernen, genauer wahrzunehmen und tiefergehend zu durchdringen. In diesem Rahmen ist das generative Schreiben dann u. a. eine Methode für den Literaturunterricht, welche mit Spinner (2004: 191) als ein produktives Verfahren der „imitierend variierenden Anverwandlung“ verstanden wird und als solche literarisches Lernen ermöglichen kann. 209 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="211"?> Belkes Ansatz zum generativen Schreiben auf der Basis literarisch-poetischer Text‐ vorlagen zielt gleichfalls auf die Initiierung von kreativen Prozessen, damit verknüpft aber im Besonderen auf die Anregung von grammatischen Lernprozessen. Durch die integrierte Aufgabe, den kreativen Prozess damit zu beginnen, den Ausgangstext an bestimmten (von der Lehrkraft vorab ausgewählten) Stellen zu verändern und einzelne Wörter bzw. Wortgruppen (= Phrasen) und Satzglieder durch andere, grammatisch mögliche zu ersetzen, wird die implizite Aufmerksamkeit der Lernenden auf die mit den Phrasen verbundenen grammatischen Bildungsmuster gelenkt und die kognitive Verankerung der Muster gefördert. Dies sei exemplarisch am Beispiel eines Kinder-Ab‐ zählreims verdeutlicht, das in seiner Einfachheit das Grundprinzip schnell transparent macht. Der erste Schritt ist stets, sich den Originaltext einzuprägen - indem man ihn wiederholt liest, laut vorträgt und memoriert und auf diese Weise die kognitive Ver‐ ankerung der jeweils involvierten sprachlichen Strukturen inklusive des Wortschatzes unterstützt. Im Fall des Abzählreims ist die Reimstruktur hilfreich für die Memorierung (vgl. Kapitel 12 in diesem Band). Wesentlich ist jedoch vor allem die wiederholte Rezeption. Der nächste Abschnitt (Kap. 9.2) wird auf diesen ersten Schritt noch detaillierter eingehen und darlegen, wie performative Zugänge der Inszenierung die Unterstützung der kognitiven Verankerung intensivieren können. Der Schritt sei daher an dieser Stelle zurückgestellt. Stellen Sie sich nun vor, die Aufgabe lautet, das Wort Freund durch eine Alternative zu ersetzen. Wer könnte außer dem Freund noch verschwunden sein? Vielleicht die Freundin? Abb. 9.2: Generatives Schreiben - die Nominalphrase als grammatische Einheit entdecken Ersetzen wir Freund durch Freundin, zieht dies zwangsläufig nach sich, dass noch weitere Wörter bzw. Phrasen im Text auszutauschen sind. Da im Deutschen das Genus 210 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="212"?> des Nomens am Artikel markiert wird, ist bei einem Wechsel von Maskulinum zu Femi‐ ninum die Wortform des Possessivartikels entsprechend anzupassen (mein → meine). Und da die Nominalphrase mein Freund im Maskulinum im weiteren Verlauf des Abzählreims dreimal durch ein Pronomen im Maskulinum anaphorisch aufgegriffen wird, müssen auch diese Anaphern jeweils durch das Pendant im Femininum ersetzt werden. Abb. 9.3: Generatives Schreiben - Kohäsionsmittel entdecken Die Idee, grammatisches Lernen beim Schreiben durch einen Austausch von Textteilen in einem Ausgangstext anzuregen, macht sich das Prinzip zu Nutze, dass zum einen die Zusammengehörigkeit der Bestandteile einer Phrase (hier der Nominalphrasen mein Freund, meine Freundin) im Deutschen u. a. durch grammatische Markierung kenntlich gemacht wird. Zum anderen ist jeder Text eine Zusammenfügung von Sätzen, deren Bedeutungszusammenhang auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass sprachlich Kohäsi‐ onsmittel (im Beispiel des Abzählreims die pronominalen Anaphern) den Lesenden formale Hinweise zur Verknüpfung der Textteile zu einem (sinnhaften) Ganzen geben. Kohäsion und Kohäsionsmittel „Die Beziehungen zwischen den einzelnen Sätzen eines Textes lassen sich in vielen Fällen an sprachlichen Elementen festmachen, die untereinander in einem deutlichen syntaktischen oder auch semantischen Bezug stehen. Wo wir solche sprachlich manifestierten Textbezüge ausmachen können, sprechen wir von Ko‐ häsion; die Mittel, die dazu eingesetzt werden, nennt man Kohäsionsmittel. Je nach Art und Weise des Textbezugs bzw. je nach Auswahl der verwendeten sprachlichen Mittel können wir unterschiedliche Formen von Kohäsion unterscheiden.“ (Linke, Nussbaumer & Portmann 2004: 245) Linke, Nussbaumer & Portmann (2004: 245 ff.) erläutern verschiedene Formen von Kohäsion, darunter Rekurrenz, Substitution und Pro-Formen. Bei allen drei Typen geht es um die Wiederaufnahme eines Textelements (eines Wortes oder einer Wortgruppe/ Phrase) im nachfolgenden Text: Im Falle von Rekurrenz wird eine Phrase, meist eine Nominalphrase, durch eine Phrase mit gleichem lexikalischen Gehalt wiederaufgegriffen, wobei sich beide Phrasen auf dasselbe Referenzobjekt beziehen, z. B.: 211 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="213"?> Gestern bin ich mit der Bahn gefahren und an einer Haltestelle ist ein Mann eingestiegen, der eine komplett verrückte Verkleidung anhatte. Der Mann hatte eine Schürze aus Blechdosen um den Bauch gewickelt und eine große Blechdose auf dem Kopf. Als der Mann sich hinsetzte, hat die Schürze fürchterlich geklappert … Auch bei der Substitution beziehen sich zwei Phrasen auf dasselbe Referenzobjekt, aber der Substitutionsausdruck hat nicht den gleichen lexikalischen Gehalt, z. B.: Gestern bin ich mit der Bahn gefahren und an einer Haltestelle ist ein Mann eingestiegen, der eine komplett verrückte Verkleidung anhatte. Der schräge Typ hatte eine Schürze aus Blechdosen um den Bauch gewickelt und eine große Blechdose auf dem Kopf. Als der Idiot sich hinsetzte, hat die Schürze fürchterlich geklappert … Bei Pro-Formen liegt eine spezielle Form der Substitution vor, denn hier wird die ursprüngliche Phrase durch ein Personalpronomen der dritten Person (er, sie, es …), durch ein Demonstrativpronomen (dieser, der …), durch Possessivartikel/ -pro‐ nomen (sein, ihr …) oder durch ein lokaldeiktisches Adverb (da, dort …) ersetzt, z. B.: Gestern bin ich mit der Bahn gefahren und an einer Haltestelle, da ist ein Mann eingestiegen, der eine komplett verrückte Verkleidung anhatte. Der hatte eine Schürze aus Blechdosen um den Bauch gewickelt und eine große Blechdose auf dem Kopf. Als er sich hinsetzte, hat seine Schürze fürchterlich geklappert … Da bei Rekurrenz, Substitution und Pro-Formen stets auf dasselbe Referenzobjekt verwiesen wird, spricht man auch von Koreferenz bzw. von koreferenten Ausdrü‐ cken. Koreferente Pro-Formen können entweder als Anaphern auftreten (dann folgen sie ihrer Bezugsphrase im Text → Wenn Ernesto anruft, dann will er immer viel reden) oder als Kataphern (dann folgt die Bezugsphrase → Wenn er überhaupt mal anruft, will Ernesto immer viel reden). Insbesondere solche Kohäsionsformen wie Rekurrenz, Substitution und Pro-Formen, bei denen Nominalphrasen im nachfolgenden Text wiederaufgenommen werden, bieten beim generativen Schreiben einen Anlass für grammatische Lernprozesse. Denn der Austausch einer Nominalphrase erfordert bei einem Wechsel von Genus, Person und/ oder Numerus die Anpassung bzw. den Austausch aller koreferenten Ausdrücke. Die generativ Schreibenden müssen darüber nachdenken und erkennen, welche Nominalphrasen und Pro-Formen im Text koreferent sind und bei Austausch die passende grammatische Form wählen. Person- oder Numerus-Wechsel in einer Nominalphrase (oder einer Pro-Form), die das Subjekt des Satzes bildet, können darüber hinaus auch eine Anpassung der Verbflexion erzwingen: 212 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="214"?> 2 Belke (2007: 11, 2012: 57 ff., 68) fokussiert in ihrer Darlegung auf das Potenzial für implizite Lernprozesse. Dies bedeutet jedoch nicht, dass prinzipiell nicht auch Lehr-Lern-Arrangements denkbar sind, in denen eine explizit reflektierte Auseinandersetzung mit den in einer generativen Textproduktion enthaltenen grammatischen Strukturen integriert wird. Abb. 9.4: Generatives Schreiben - Kongruenz von Subjekt und Prädikat entdecken In diesem Sinne regt die Veränderung einer Textstelle implizites oder auch explizites grammatisches Lernen an, da der Text eine Ganzheit bildet und die Veränderung einer Textstelle in der Regel die Anpassung anderer Textteile erforderlich macht. 2 Bei den Austauschprozessen wird der Ausgangstext gleichzeitig zum unterstützen‐ den Gerüst (Scaffold) für den Schreibprozess. Je nach individuellem Lernstand können Schüler: innen mehr oder weniger frei schreiben und kreativ mit der Textvorlage umgehen. Prinzipiell ist es ja auch möglich, die Vorlage komplett zu verlassen (im Falle des Abzählreims z. B. auf der Suche nach weiteren verschwundenen Personen nach der Eingangsfrage ganz neue Zeilen zu erfinden). Das Gerüst gewährt jedoch den (DaZ-)Lernenden, die in ihrer sprachlichen Entwicklung noch eher am Anfang stehen, die (potenziell motivierende) Erfahrung, „eigene“, „sprachlich richtige“ Texte zu produzieren (Belke 2007: 12). Im eingangs erwähnten DaZ-Förderunterricht (Benati et al. 2019) wird das gene‐ rative Schreiben durch die Arbeit mit Austauschwörtern, die über den Originaltext geklebt werden können, von der Lehrkraft im ersten Schritt gemeinsam mit den Schüler: innen angeleitet, im zweiten Schritt von den Schüler: innen selbstständig erprobt und geübt. Siehe die Abbildungen in 9.5 für ein Beispiel, das auf Rekurrenz und den Austausch von Nominalphrasen im Nominativ und im Akkusativ fokussiert. 213 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="215"?> Abb. 9.5: Einführung in das generative Schreiben im DaZ-Förderunterricht zum Superwurm; Bilder zur Verfügung gestellt von Lotte Weinrich In den Abbildungen fällt auf, dass die femininen Artikel rot gefärbt sind, die maskulinen dagegen blau. Hintergrund ist hierbei eine zusätzliche Verknüpfung des generativen Schreibens mit einer Artikelsensibilisierung. Im Deutschen ist das Genus des Nomens nur in Ausnahmefällen am Nomen selbst sichtbar und wird stattdessen durch den Artikel kenntlich gemacht; am Artikel werden darüber hinaus dann auch noch Nu‐ merus und Kasus der gesamten Nominalphrase markiert. Aus diesen Gründen gilt die Aneignung des Artikelsystems bzw. der Deklination in der Nominalphrase als besonders herausfordernd im DaZ-Erwerb (vgl. u. a. Landua, Maier-Lohmann & Reich 2008). Eine Möglichkeit der Unterstützung bietet auf Schriftebene die DemeK-Methode der Artikelsensibilisierung durch Farbvisualisierung, bei der nicht nur zu jedem neu gelernten Nomen der Artikel direkt mitgelernt wird, sondern die verschiedenen Genera auch systematisch durch eine eigene Farbe visualisiert sind: Maskulinum blau, Neutrum grün und Femininum rot. Neu gelernte Nomen bzw. Artikel und 214 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="216"?> 3 Für das Artikelsystem des Deutschen durch Farbvisualisierung zu sensibilisieren, kann auch kontrovers diskutiert werden. So argumentiert z. B. Pagonis (2015: 160-167) explizit gegen den Einsatz von Farben zur Bewusstmachung des Genussystems. Pagonis Kritik richtet sich jedoch primär gegen eine Didakti‐ sierung in Lehrbüchern, bei der Bilder von realen Gegenständen einzeln mit Farbpunkten versehen werden, wobei die Farbpunkte jeweils ihrerseits für die Artikel stehen: blau → der → Maskulinum (M); rot → die → Femininum (F); grün → das → Neutrum (N). Die Nomen selbst werden nicht farblich markiert. Nach Pagonis fungiert die Farbvisualisierung in solchen Ansätzen als isolierter Hinweis für eine willkürliche Genuszuordnung, ohne Einsichten in das Genussystem zu unterstützen. Im Übrigen werde die Memorierungsleistung eher erhöht, statt sie zu entlasten, da nun für jedes Nomen nicht ‚nur‘ ein Artikel, sondern zusätzlich eine Farbe zu lernen und diese wiederum einem Artikel zuzuordnen ist. Dass in einem Artikel und in einem Pronomen mehrere grammatische Funktionen (Numerus, Genus, Kasus) enthalten sind und welche Formen einem Paradigma (M, F oder N) angehören, erschließt sich bei dieser isolierten, vereinfachten Farbzuordnung nicht so ohne Weiteres. Im Kontrast dazu fördern die hier verwendeten Artikelplakate Einsichten in das komplexe Nomi‐ nalsystem, in zu berücksichtigende Kongruenzrelationen (nominalgruppenintern und nominalgrup‐ penextern) mit den entsprechenden grammatischen Merkmalsträgern (Artikel und Pronomen). Ziel ist, eine Aneignungsunterstützung zu bieten, bei der die verschiedenen möglichen Artikel- und Proformen, die zu einem Genus bzw. Nomen gehören, direkt aufeinander bezogen werden können. Auf einem Plakat werden für eine Farbe überdies verschiedene Nomen eines Genus gesammelt und parallel präsent gehalten, um auch auf dieser Ebene Bezüge zu ermöglichen und Genuszuweisungsregeln entdecken zu lassen. Bei einer Nutzung der Farben in Aufgaben/ Texten sollten des Weiteren nicht nur die Artikel, sondern konsequent auch die Nomen farblich markiert werden (vgl. im Folgenden die Beispielstunde in Abschnitt 9.3). ihre verschiedenen Formen, ebenso Pronomina können auf passenden, mit der Zeit erweiterbaren Farbplakaten gesammelt und in der Klasse aufgehängt werden: 3 Abb. 9.6: Beispiel für ein Artikelplakat; DemeK-Methode der Artikelsensibilisierung - linke Spalte blau, in der Mitte grün, rechts rot (nach Hahn et al. 2015: 18) 215 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="217"?> DemeK: Deutsch lernen in mehrsprachigen Klassen Das Sprachförderprogramm DemeK wurde 2006 initiiert und geht auf eine Koope‐ ration der Arbeitsstelle Migration der Bezirksregierung Köln mit der Universität zu Köln (Institut für deutsche Sprache und Literatur II; Mercator Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache) zurück. Das Programm legt im Sinne einer durchgängigen Sprachbildung den Schwerpunkt auf den Erwerb bildungssprachlicher Register und zielt auf eine Verbesserung der Qualität des gesamten Unterrichts ab. Vor diesem Hintergrund wurden integrative Konzepte für den sprachheterogenen, mehrsprachigen Deutschunterricht und weitere Fächer bzw. für interkulturelle Schulen entwickelt. Zentrale methodische Bausteine sind ausdifferenzierte Ansätze des generativen Sprechens (Chunk-Lernen), der Artikel‐ sensibilisierung und des generativen Schreibens (generative Textproduktion), die auch als DemeK-Methoden bezeichnet werden. Im Programm werden Lehrkräfte in kollegiumsinternen Fortbildungen mit an‐ schließender Umsetzungsbegleitung in die DemeK-Methoden eingeführt. Überdies sind im Rahmen der Kooperation zwischen Bezirksregierung und der Universität zu Köln zahlreiche Förderseminare und Ferienschulen umgesetzt worden, in denen auch Lehramtsstudierende erste praktische Erfahrungen in der DaZ-Förderung machen können. Vgl. u. a. Bezirksregierung Köln (2012), Hahn et al. (2015), Ziebell (2016), Benati et al. (2019), Heinrichs (2019). In der DemeK-Umsetzung des generativen Schreibens zeigt sich bereits die Betonung eines ganzheitlichen (Körperlichkeit/ Wahrnehmung stärker miteinbeziehenden) und in diesem Sinne performativen Umgangs mit dem Text: Der Schreibprozess wird durch ein haptisches Arbeiten mit Austauschwörtern eingeleitet, für die integrierte Artikel‐ sensibilisierung mit einer Visualisierung durch Farben gearbeitet (vgl. für weitere performative Elemente Bezirksregierung Köln 2012, Benati et al. 2019, Heinrichs 2019). Wie dieser Ansatz noch zusätzlich durch performative Zugänge zum Ausgangs- und Zieltext bereichert werden kann, thematisiert der folgende Abschnitt 9.2. In Kap. 9.3 schließt sich ein konkretes Unterrichtsbeispiel zum performativ gestützten generati‐ ven Schreiben an, das in der grammatischen Sensibilisierung die deutschtypische Verbzweitstruktur mit Verben im Präsens ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. 9.2 Generatives Schreiben und Performativität: Inszenierung von poetischen Texten Belke selbst hat in ihrer Konzeptualisierung des generativen Schreibens nicht nur für eine Verknüpfung von grammatischem Lernen mit Poesie und kreativ-ästhetischen Prozessen, sondern damit verbunden auch für die Inszenierung und das Vorführen von Texten plädiert (Belke 2007: 14). 216 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="218"?> 4 Vgl. zum Zusammenhang von Memorierung und gereimter, gestisch gestützter Sprache auch Kapitel 12 in diesem Band. 5 Als Chunk (engl.: Brocken, großes Stück, Klumpen, Klotz, Segment) bezeichnet man erwerbstheore‐ tisch eine Ausdruckssequenz, die zusammen mit ihrer Bedeutung/ Funktion im Kontext holistisch, als Ganzes verarbeitet wird (vgl. u. a. Handwerker & Madlener 2009; siehe auch Kap. 3.3). Wenn die poetischen Ausgangstexte und/ oder die selbst geschriebenen Texte münd‐ lich und unter Einsatz des gesamten Körpers (Stimme, Mimik, Gestik, Bewegung) inszeniert, wiederholt geübt und vorgetragen werden, dann - so die Grundannahme - kann dies nicht nur einen ästhetischen Zugang zum Text anregen, sondern auch die Memorierung der sprachlichen Strukturen und derart die kognitive Verankerung der damit verbundenen grammatischen Muster (im Abzählreimbeispiel z. B. die Genus‐ markierung in der Nominalphrase und bei Personalpronomen; im Seilsprung-Vers die Genus- und Kasusmarkierung im Nominativ vs. Akkusativ in der Nominalphrase) unterstützen. 4 Durch die Textmemorierung werden die sprachlichen Einheiten (Phrasen, Sätze), in denen sich bestimmte grammatische Muster zeigen, zunächst als Chunks, also als un‐ analysierte Ganzheiten, gelernt. 5 Der Austausch und die Anpassung von Textelementen im generativen Schreibprozess sensibilisiert anschließend für eine grammatische Analyse dieser Ganzheiten. Grundsätzlich wird auf diese Weise mediale Schriftlichkeit mit medial mündlicher Arbeit am Text verflochten, Textproduktion mit einer körperlich intensivierten Text‐ rezeption verknüpft. Das übergreifende Ziel ist, grammatisches Lernen in konzeptio‐ neller Schriftlichkeit bzw. im bildungssprachlichen Register sowie Textkompetenz - verstanden als „individuelle Fähigkeit, Texte lesen, schreiben und zum Lernen nutzen zu können“ (Portmann-Tselikas & Schmölzer-Eibinger 2008: 5) - integrativ zu fördern; siehe Abbildung 9.7. Der Fokus liegt in den in diesem Kapitel vorgestellten Zugängen auf der Arbeit mit poetischen bzw. literarischen Texten i.w.S. (zum Zusammenhang von poetischer Sprache/ Literatursprache und Bildungssprache vgl. Kapitel 12 in diesem Band). Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich die Verknüpfung von generativem Schreiben mit grammatischem Lernen im Prinzip nicht auf literarische Texte reduzieren muss. Der Grundsatz der Kohäsion bzw. der angepassten grammatischen Markierung von zueinander in Bezug stehenden Textelementen gilt generell für alle Arten von Texten. So sind z. B. im DemeK-Programm Themenhefte zur Förderung der Operatoren/ Sprach‐ handlungen ‚Beschreiben‘ (Hahn et al. 2015) sowie ‚Begründen‘ und ‚Argumentieren‘ (Heinrichs 2016) entstanden, in denen u. a. auch zu Sachtexten generativ geschrieben und grammatisch gelernt wird. 217 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="219"?> Abb. 9.7: Verknüpfung des generativen Schreibens mit performativen Zugängen Blickt man auf die Integration der performativen Elemente in den in Abbildung 9.7 beschriebenen Zyklus, so kann diese über den Aspekt der kognitiven Musterveran‐ kerung hinaus noch zusätzliche Kreativität und überdies mehr kommunikativen, sozialen Austausch mit ins Spiel bringen. Die Schreibenden werden sozusagen aus der im Schreibprozess in der Regel eingenommenen sitzenden Position und der damit verbundenen Stille - aus dem mit dem Text ‚Alleinsein‘ - herausgeholt und miteinander zu einer noch stärker körperlichen Begegnung mit dem Text angeregt. Man vergleiche dazu u. a. auch die Konzepte bzw. Methoden des handlungs- und pro‐ duktionsorientierten Literaturunterrichts (HPLU; Haas 2007, Spinner 2008, Waldmann 2008), des erfahrungsorientierten Lyrikunterrichts (Lösener & Siebauer 2011) oder der TextBewegung (Schindler & Zepter 2017; s. auch Kapitel 12 in diesem Band). 218 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="220"?> Als ein erstes Beispiel für einen möglichen Inszenierungszugang soll im Folgenden der Umgang mit dem poetischen Text „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke dienen. Das Beispiel stammt ebenfalls aus dem DemeK-Programm und ist Teil des oben erwähnten Themenhefts, das auf den Operator des Beschreibens fokussiert (Hahn et al. 2015: 14-16). Gearbeitet wird damit in diesem Kontext in sprachheterogenen Klassen der Sekundarstufe I. Insgesamt werden im Themenheft unterschiedliche Aufgaben vorgestellt, die Chunk-Lernen, generative Textproduktion und Artikelsensibilisierung entweder isoliert anwenden oder miteinander verknüpfen und in diesem Rahmen die Fähigkeit des Beschreibens am Beispiel von Tierbeschreibungen fördern sollen. Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Rainer Maria Rilke (6.11.1902, Paris) Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille - und hört im Herzen auf zu sein. Im Gegensatz zu dem Abzählreim und dem Seilsprung-Vers aus Abschnitt 9.1 illustriert „Der Panther“ einen poetisch sehr viel komplexeren Text, der sich eher für weiter fortgeschrittene DaZ-Lernende eignet. An dieser Stelle soll das Beispiel verdeutlichen, dass die Arbeit mit poetischen Texten auch mit älteren Schüler: innen (Ende der Sekundarstufe I oder II) machbar und lohnenswert sein kann. „Der Panther“ ist überdies ein Beispiel für einen poetischen Text, bei dem man sich vielleicht scheut, einen generativen Schreibprozess einzuleiten, der auf Wort- und Phrasenebene ‚kleinteilig austauschend‘ in das Original eingreift. In entsprechenden Fällen bietet es sich an, an die Phase der Textinszenierung einen freieren kreativen Schreibprozess anzuschließen, in dem sich die Schreibenden stärker vom Ausgangstext entfernen und vielleicht nur das Thema - hier des Gefangenseins in einem Käfig - aufgreifen und poetisch neu umsetzen. Darauf vorbereitend lässt sich eine literaräs‐ thetische Begegnung mit dem Originaltext, dessen Poesie sich u. a. in der Kraft des vorgestellten Bildes eines auf engem Raum kreisenden, gewaltigen Panthers entfaltet, durch den folgenden performativen Zugang anregen. 219 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="221"?> 6 Siehe z. B. https: / / www.youtube.com/ watch? v=cRuWSRjioos für eine Interpretation von Fritz Sta‐ venhagen. Phase I: Lehrkraft und Schüler: innen lesen den Text gemeinsam Der erste Schritt für die Schüler: innen ist stets, den Text mehrfach zu lesen und dabei vor allem auch zu hören. Die Lehrkraft kann den Text entweder selbst vorlesen oder einen Hörtext einspielen. 6 Ggf. werden offene Fragen zum Wortschatz geklärt, am besten durch bildliche Illustration (z. B. indem ein Bild von einem Käfig mit Stäben im Klassenzimmer aufgehängt wird) oder durch Zeigen mit dem eigenen Körper (z. B. ‚Vorhang‘ der Pupille als Metapher für das Augenlid). Anschließend liest die Lehrkraft gemeinsam mit den Schüler: innen im Chor Zeile für Zeile und alle gemeinsam erkunden verschiedene stimmliche Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man das Gedicht (Strophe für Strophe) zuerst sehr laut, dann sehr leise, später sehr schnell und sehr langsam lesen. Anschließend lässt sich (exemplarisch an einer Strophe) der stimmliche Ausdruck verschiedener Emotionen erproben: wütend, fröhlich, traurig, neugierig, hysterisch, ängstlich, gelangweilt etc. Gemeinsam werden erste Reflexionen ausgetauscht: Was passt besser, was weniger gut? Phase II: eine stimmliche Inszenierung erarbeiten Im zweiten Schritt werden Kleingruppen (zu je fünf bis sechs Schüler: innen) gebildet. Jede Kleingruppe erarbeitet, wie sie das Gedicht (oder eine Strophe daraus) laut vorlesen und später präsentieren möchte. Als Ausgangspunkt für die stimmliche Inszenierung dienen die folgenden Leitfragen: a. Soll der stimmliche Ausdruck im gesamten Gedicht (in der gesamten Strophe) gleich gehalten sein oder soll er sich verändern? Welche Zeile soll wie (laut, leise; traurig …) vorgelesen werden? b. Sollen alle gemeinsam den Text vorlesen oder abwechselnd? Oder werden viel‐ leicht manche Textpassagen gemeinsam, andere von Einzelnen gesprochen? Wer übernimmt welche Zeile, welche Phrase, welches Wort? Oder wird das Gedicht im Kanon vorgetragen (wenn ja, in welcher Verteilung)? Jede Gruppe entwickelt eine eigene stimmliche Inszenierung und übt diese für den Vortrag vor den anderen Gruppen. Es folgt die gegenseitige Präsentation. Die zuhö‐ renden Gruppen lauschen und spenden Beifall. Sinnvoll ist eine reflexive Peer-Feed‐ back-Runde, bei der die Zuhörenden eine Rückmeldung dazu geben, was ihnen besonders gut gefallen hat und was die Vortragenden ggf. noch weiterentwickeln könnten. Phase III: eine stimmliche und darstellende Inszenierung erarbeiten In einer zweiten Arbeitsphase erweitert jede Kleingruppe ihre Präsentation durch dar‐ stellende Elemente. Gemeinsam werden dafür verschiedene Möglichkeiten erkundet: 220 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="222"?> a. Soll es für jede Zeile eine oder mehrere Gesten bzw. Bewegungen geben? b. Wie werden die Gesten auf die Gruppe verteilt? Machen alle synchron die gleichen Gesten zur gleichen Zeit? Oder bewegen sich zwar alle, aber mit unterschiedlichen Gesten? Oder bewegt sich erst die eine Person (während die anderen stillstehen), dann eine andere Person usw.? c. Wie könnte man sich im Raum aufstellen? Sollen z. B. alle in einer Reihe neben‐ einander stehen oder hintereinander oder diagonal zum Publikum? Oder bildet man einen Kreis, ein Rechteck (eine Art Käfig)? d. Bewegen sich die Gruppe oder einzelne Personen aus der Gruppe eventuell wäh‐ rend des Vortrags von einem Punkt zu einem anderen? Beschreitet man bestimmte Wege? Und wie werden die Wege auf die verschiedenen Darsteller: innen verteilt? e. Wenn eine Person Text vorträgt, ist es hilfreich, wenn sie ihr Gesicht dem Publikum zuwendet; denn dann hört man sie leichter. Man kann aber auch bewusst wählen, sich während des Sprechens vom Publikum abzuwenden; man muss dann nur noch bewusster darauf achten, dass man laut genug spricht. f. Wesentlich für jede Präsentation ist auch das Blickverhalten der Vortragenden: Wohin blickt jede Person, während sie spricht, während sie sich bewegt oder stillsteht? Wohin blickt die gesamte Gruppe? g. Möchte man einen besonderen Ort für die Präsentation wählen? Z. B. irgendwo draußen auf dem Schulhof hinter einem hohen Zaun mit Stäben o. Ä.? Jede Gruppe entwickelt eine eigene stimmliche und darstellende Inszenierung und übt diese ausgiebig. Es folgt die gegenseitige Präsentation. Die anderen Gruppen schauen zu, lauschen und spenden Beifall. In einer abschließenden Reflexionsrunde können auch Rückmeldungen zum gesamten Entwicklungsprozess der Präsentationen zusammengetragen werden: Was denken die Schüler: innen über das Rilke-Gedicht nach der Erarbeitung einer eigenen Präsentation? Was haben sie im Prozess über das Gedicht herausgefunden? Die Frage nach den individuellen Assoziationen zum Thema des Gefangenseins (in einem Käfig) kann überleiten zum Schreiben eines eigenen poetischen Textes. Alles in allem stellt das Beispiel einen performativen Zugang zu einem poetischen Text dar, welcher prinzipiell auch auf andere Texte, ebenso auf von Schüler: innen selbst verfasste Texte, übertragbar und anwendbar ist. Der nächste Abschnitt 9.3 greift diese Inszenierungstechnik auf und stellt abschließend ein Unterrichtsbeispiel vor, bei dem der gesamte in Abbildung 9.7 dargestellte Zyklus durchlaufen und der generative Schreibprozess im Sinne Belkes mit grammatischem Lernen verknüpft wird. Ein Entwurf des Beispiels findet sich auch in Zepter (2018). 9.3 Generatives Schreiben und grammatisches Lernen performativ gestaltet: Beispielstunde Das folgende Unterrichtsbeispiel umfasst insgesamt zwei Doppelstunden (ca. 180 Min. gesamt), erweiterbar durch eine weitere Doppelstunde, und eignet sich für den Sprach‐ 221 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="223"?> förderunterricht mit DaZ-Lernenden in der 5.-7. Jahrgangsstufe, die sich ungefähr auf dem Sprachniveau A2 und somit noch am Anfang ihres Erwerbs befinden (z. B. in Vorbereitungsklassen o. Ä.). Der Fokus des grammatischen Lernens liegt auf dem Bildungsmuster von Aussa‐ gesätzen mit Verbzweit-Struktur und Verben im Präsens, in denen ein Lokal- oder Temporaladverbial die erste und das finite Verb die zweite Strukturposition im Satz einnimmt, z. B.: Da wohne ich. Dann schließe ich die Tür. Entsprechende Satzstrukturen, in denen durch die Spitzenstellung eines Adverbials oder Objekts das Subjekt dem fini‐ ten Verb nachfolgt - und die deshalb auch Inversionsstrukturen genannt werden - sind typisch für das Deutsche, in vielen anderen Sprachen aber eher die Ausnahme, sodass DaZ-Lernende nicht einfach die Satzstruktur ihrer Erstsprache auf die Zweitsprache übertragen können (zur Aneignung syntaktischer Strukturen in der Zweitsprache vgl. u. a. Grießhaber 2010). Verbzweitstruktur, finite Verben und Satzklammer Anders als viele andere Sprachen ist das Deutsche keine SVO- oder SOV-Sprache, sondern eine Verbzweitsprache. Während in SVO- und SOV-Sprachen Aussage‐ sätze in der Regel eine ‚Subjekt - Verb - Objekt‘bzw. ‚Subjekt - Objekt - Verb‘-Abfolge aufweisen, muss im Deutschen das Subjekt dem Verb nicht notwendig vorausgehen. Syntaktisches Charakteristikum von Aussagesätzen ist stattdessen, dass in der linearen Ordnung ein beliebiges Satzglied am Satzanfang steht und direkt im Anschluss das finite Verb folgt, z. B.: a. [Da] Lokaladverbial wohne ich. b. [Gestern] Temporaladverbial wurde ein neuer Gärtner eingestellt. c. [Dem Gärtner] Dativobjekt sollte man besser nicht vertrauen. d. [Man] Subjekt sollte dem Gärtner besser nicht vertrauen. Das finite Verb ist im Deutschen das Verb, das sich in Person und Numerus an das Subjekt anpasst (= mit dem Subjekt in Person und Numerus kongruiert): vgl. da wohne ich vs. da wohnst du. Das Prädikat kann im Deutschen mehrere Verben umfassen, aber immer nur ein finites Verb: a. Dem Gärtner vertraut finit man besser nicht. b. Dem Gärtner sollte finit man besser nicht vertrauen infinit . c. Dem Gärtner hätte finit man besser nicht vertrauen infinit sollen infinit . Bei komplexen Prädikaten zeigt sich das zweite Charakteristikum der deutschen Syntax: Nur das finite Verb steht in zweiter Strukturposition. Alle infiniten Verb‐ formen, bei Partikelverben ebenso die Partikeln, stehen am Ende des Satzes. Derart entsteht die sogenannte Satzklammer, bei der das finite Verb und die infiniten Verbformen weitere mögliche Satzglieder im Mittelfeld ‚umklammern‘. 222 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="224"?> 7 Zu beachten ist, dass in der Konstruktion In meinem Haus, da wohne ich die Präpositionalphrase in meinem Haus dem Satz vorgelagert ist und daher nicht dem Verbzweitmuster widerspricht. Der eigentliche Satz beginnt mit dem Lokaladverbial da in erster Strukturposition, das die vorgelagerte Phrase anaphorisch wieder aufgreift, direkt gefolgt vom finiten Verb an zweiter Stelle. In der Regelfindung sind keine Schwierigkeiten zu erwarten, da die Präpositionalphrase sowohl prosodisch als auch optisch (durch Komma) separiert ist. (Im erweiterten topologischen Satzmodell, mit dem an einigen Schulen gearbeitet wird, wäre die Präpositionalphrase in meinem Haus als Linksversetzung im sog. Vor-Vorfeld des Satzes zu verorten (Wöllstein 2010: 54-55).) Sensibilisiert wird außerdem für das Dativ-Kasusmuster in lokalen Präpositionalphra‐ sen; z. B. in meinem Haus (vgl. zu den Eigenschaften von lokalen Präpositionen im Deutschen im Detail Kapitel 14 in diesem Band). Grundlage für die beiden genann‐ ten grammatischen Lernbereiche bildet der poetische Text „Hausspruch“ von Gina Ruck-Pauquèt: Abb. 9.8: Vorlage für Hausplakat Der Hausspruch hält noch weitere Strukturen und damit verbundene Bildungsmuster bereit. Diese werden aber ‚beiläufig‘ geübt/ gelernt. Der Fokus der Anleitung zum generativen Schreibprozess liegt auf den benannten (fett gedruckten) Strukturen. 7 Phase I: Aufwärmen, erste Begegnung mit der Zielkonstruktion, Wortschatz In der ersten Doppelstunde steht zunächst der performative Zugang zum Original‐ hausspruch im Mittelpunkt. Den Einstieg bildet eine Aufwärmphase, in der die im Hausspruch vorkommenden Verben pantomimisch umgesetzt werden und die Lehr‐ kraft die Satzkonstruktion In meinem Haus, da F INIT E S V E R BPräsens ich einführt. 223 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="225"?> 8 Bei den Sprechketten ist es generell wichtig, dass die Schüler: innen die vorgegebene Konstruktion (grammatisch richtig) verwenden, denn diese soll geübt und dafür von den Schüler: innen selbst produziert, jedoch insbesondere auch (durch die Kettenbildung) wiederholt rezipiert werden. Weicht eine Schülerin davon ab, greift die Lehrkraft unterstützend ein und rephrasiert den Satz noch einmal mustergemäß. Dafür wird vorab ein großes Foto von einem Haus im Klassenzimmer aufgehängt; z. B. das Hausplakat aus Abbildung 9.8 (s. Z-007). Die Lehrkraft stellt das Haus wie folgt vor: „Das ist mein Haus, da wohne ich. Und was mache ich in meinem Haus? Lasst uns gemeinsam überlegen, was ich in meinem Haus alles gerne mache. Los geht’s. Zuerst - schlafen. In meinem Haus, da schlafe ich.“ Sprechbegleitend zeigt die Lehrkraft bei mein und ich mit einer deiktischen Geste auf sich selbst, bei Haus und da auf das Haus‐ plakat. An der Stelle des Worts schlafe setzt sie das Schlafen pantomimisch um und ermuntert dann die Schüler: innen, den Satz ‚In meinem Haus, da schlafe ich‘ gemeinsam laut und mit begleitenden Gesten zu wiederholen (→ also bei mein und ich deiktische Geste auf sich selbst, bei Haus und da deiktische Geste auf das Hausplakat, bei schlafe die Schlafgeste). Anschließend führt die Lehrkraft ein weiteres Verb ein: „Was mache ich noch? - essen. In meinem Haus, da esse ich.“ Die ‚Satzchoreografie‘ bleibt die gleiche, nur das nun anstelle der Schlafgeste eine pantomimische Geste für essen eingesetzt wird. Auf diese Weise werden nacheinander alle Verben aus dem Hausspruch thematisiert. Man kann, vorgreifend auf die später folgenden generativen Schreibprozesse, auch direkt zusätzliche Handlungsverben für mögliche häusliche Aktivitäten ins Spiel bringen; z. B. tanzen, singen, Musik hören, faulenzen, lesen, malen, telefonieren. Nach der ersten Runde, in der die Lehrkraft spricht und agiert und die gesamte Schüler: innengruppe gemeinsam wiederholend spricht und agiert, folgt eine zweite, in der sich die Schüler: innen gegenseitig in einer Kette aufrufen. Die aufgerufene Person führt die Satzchoreografie vor und wählt dabei nach Belieben eine der verbal bezeichneten Aktivitäten aus: „Cem, was machst du? “ - „In meinem Haus, da esse ich. - Mira, was machst du? “ - In meinem Haus, da lache ich.“ usw. Zum Schluss wird eine Raterunde gespielt. Die Lehrkraft führt eine Verbbedeutung mit der zuvor dafür etablierten Geste nur pantomimisch (ohne begleitende Worte) vor und ruft eine Schülerin auf, die mit dem passenden Satz antworten muss (Schlafgeste → Antwort: „In meinem Haus, da schlafe ich.“). Die Schülerin führt ihrerseits eine Pantomimik vor und ruft einen Schüler auf, der mit dem passenden Satz antworten muss; usw. 8 Phase II: Den Hausspruch lesen und inszenieren Nach der Aufwärmphase wird der Hausspruch, entweder an die Tafel oder auf ein Pla‐ kat geschrieben, vorgestellt. Die Lehrkraft liest den Hausspruch laut vor, nutzt die in der Aufwärmphase etablierte gestische Umsetzung und fügt für die neu hinzukommenden Sätze ebenfalls begleitende, sinngebende Gestik/ Pantomimik hinzu. Die Schüler: innen wiederholen das Vorgemachte und alle üben den Hausspruch auf diese Weise zunächst gemeinsam. 224 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="226"?> 9 Für weitere Inszenierungsformen und -techniken vgl. Kapitel 18 in diesem Band. Anschließend werden mit der Gesamtgruppe verschiedene Inszenierungsmöglich‐ keiten erprobt, bei denen es darum geht, mal gemeinsam, mal abwechselnd zu sprechen bzw. die begleitende Gestik/ Pantomimik auszuführen. Dafür wird die Klasse wie bei einem Chor in drei Gruppen aufgeteilt und die drei Gruppen stellen sich etwas voneinander separiert in der Klasse auf. Die Lehrkraft spielt dann ‚die Dirigentin‘. Wenn sie auf eine Gruppe zeigt, spricht diese Gruppe eine Zeile des Hausspruchs; wenn sie die Arme ausbreitet, sprechen alle drei Gruppen eine Zeile gemeinsam. Abb. 9.9: Inszenierungsmöglichkeiten erkunden über die Technik ‚Chor und Dirigentin‘ 9 Es werden einige Durchgänge mit unterschiedlichem Sprecher: innenwechsel durch‐ gespielt, wobei auch einzelne Schüler: innen zur Dirigentin ernannt werden können. Ebenso ist es möglich, zusätzliche Zeichen einzuführen, mit denen die Dirigentin die Lautstärke und/ oder die Schnelligkeit der jeweils sprechenden Gruppe (sehr laut sprechen/ sehr leise sprechen; schnell/ langsam sprechen) sowie die Größe der Gestik/ Pantomimik (große/ kleine Gesten) ‚regulieren‘ kann. Es folgt ein dritter Schritt, für den Kleingruppen zu je drei Schüler: innen gebildet werden. Jede Kleingruppe entwickelt nun eine eigene kleine Inszenierung nach dem Vorbild der zuvor im Chor geübten Sprecher: innenwechsel und überlegt, wie sie das Sprechen (und die begleitende Gestik/ Pantomimik) unter sich aufteilen und wie sie sich für die Präsentation im Raum aufstellen möchte. Jede Kleingruppe übt ihre Insze‐ nierung. Die Phase abschließend präsentieren alle Kleingruppen, was sie erarbeitet haben; die Zuschauenden spenden Beifall. Den Abschluss der ersten Doppelstunde bildet eine kurze reflexive Sprechrunde zu der Frage, was den Schüler: innen am besten gefallen hat. Dafür wird ebenfalls eine Verbzweit-Konstruktion genutzt. Die Lehrkraft beginnt: „Am liebsten mochte ich das Dirigentinnen-Spiel. Und du, Can, was mochtest du am liebsten? “ - „Am liebsten mochte ich ______. Und du, Svea, was mochtest du am liebsten? “ - usw. 225 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="227"?> Phase III: Vorbereitung des generativen Schreibens: Lieblingsorte erkunden Die zweite Doppelstunde widmet sich dem generativen Schreiben. Ziel ist es, dass jeder Schüler einen eigenen Text nach dem Muster des Hausspruchs verfasst. Dafür wird in einem ersten Schritt die Aufmerksamkeit auf die Eingangsphrase In meinem Haus gerichtet und erkundet, was eigene Lieblingsorte sein könnten, über die es sich zu schreiben lohnt. Die Ausgangsfrage der Stunde lautet derart: „Was ist mein Lieblingsort? Und was mache ich dort alles gerne? “ Impulsgebend zeigt die Lehrkraft verschiedene Fotos/ Bilder von möglichen Lieb‐ lingsorten, z. B. ein Park, ein Baumhaus, ein Hinterhof, eine Schule, ein Zimmer, eine Küche, ein Café, die eigene Heimat, eine Wiese, ein Seeufer o. Ä. Noch sinnstiftender ist es, den Schüler: innen im Vorfeld die Hausaufgabe aufzugeben, eigene Bilder von ihren Lieblingsorten - entweder selbst gemachte Fotos oder Bilder aus einem Buch, einer Zeitschrift - mit in den Unterricht zu bringen. Die verschiedenen Lieblingsorte werden gesammelt und die Lehrkraft benennt zu den Bildern jeweils das passende deutsche Nomen, den Artikel und die Präposition, wenn diese nicht allen Schüler: innen bereits bekannt/ vertraut sind. Zusätzlich werden die Nomen gemeinsam mit Hilfe von Arti‐ kelplakaten nach Genus farbig sortiert und damit verbunden das Dativ-Kasusmuster in der lokalen Präpositionalphrase festgehalten; vgl. Abbildung 9.10. Abb. 9.10: Lieblingsorte für den ‚Hausspruch‘ sammeln und nach Genus sortieren (linke Spalte blau, in der Mitte grün, rechts rot) In einem zweiten Schritt tragen die Schüler: innen noch einmal alle Handlungsverben zusammen, die in der vorherigen Doppelstunde geübt wurden. Unterstützt von der Lehrkraft sammeln sie weitere, für die anschließende Schreibphase verwendbare Verben, nun mit Blick auf das, was die Schüler: innen an den von ihnen thematisierten Lieblingsorten gerne machen. Zur Sicherung und Vertiefung kann die ‚Satzchoreogra‐ fie‘ und das Pantomimik-Spiel aus der ersten Doppelstunde wiederholt werden. Phase IV: Generatives Schreiben In die konkrete Phase des generativen Schreibens führt die Lehrkraft ein, indem sie gemeinsam mit den Schüler: innen für einen der Lieblingsorte ein schriftliches Beispiel an der Tafel entwickelt. Wie in Abschnitt 9.1 erläutert, können dabei Austauschwörter (an der Tafel z. B. mit Magneten) direkt über den Ausgangstext, hier den Hausspruch, geklebt werden. 226 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="228"?> Grundsätzlich geht in diesem Fall der Schreibimpuls von der Idee eines neuen Lieblingsortes aus, der das Haus ersetzt und durch die Veränderung der Schreiber: in‐ nen-Perspektive eventuell eine Veränderung der Beschreibungen der an dem Lieblings‐ ort getätigten Handlungen nach sich zieht. Auf grammatischer Ebene kann der Austausch des Nomens Haus in einigen wenigen Fällen den Austausch der Präposition erfordern (vgl. in → auf, an bei Wiese, Seeufer), vor allem aber einen Wechsel des Genus auslösen. Wird Neutrum zu Femininum (vgl. Haus → Schule, Küche), führt dies zu der Notwendigkeit, die Artikelmarkierung für den Dativ anzupassen und den Possessivartikel meinem gegen meiner auszutauschen (vgl. Abb. 9.10). Im folgenden Beispiel tauscht die Lehrkraft Haus gegen Baumhaus. In diesem Fall gibt es keinen Genuswechsel, das Beispiel ist trotzdem potenziell erkenntnisreich, denn die Konstanz des Genus ist aufgrund des Bildungsprinzips des zweigliedrigen Kompo‐ situms (hier Nomen Baum (Maskulinum) plus Nomen Haus (Neutrum)) systematisch vorhersehbar: Das Genus wird von dem (am weitesten) rechts stehenden Nomen bestimmt; ein Baumhaus ist noch immer ein Haus, nur eben ein besonderes Haus, das sich in einem Baum befindet (vgl. Kap. 11 in diesem Band für einen fokussierten performativen Zugang zur Kompositabildung). Abb. 9.11: Bildimpuls Baumhaus Weiterhin ist gemeinsam zu überlegen, ob der neue Lieblingsort veränderte Aktivitäten nach sich zieht und derart im Gedicht ein oder mehrere Verben auszutauschen sind. Man beachte, dass die Substitution der finiten Verben im Hausspruch nicht mit einer Veränderung der Verbflexion einhergeht, solange Person und Numerus des Subjekts (ich) konstant bleiben. Man könnte mit dem Hausspruch auch einen Schreibimpuls 227 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="229"?> verknüpfen, der die Subjektperspektive variiert (ich → wir, du, er/ sie etc.) und dann eine weitergehende grammatische Anpassung erfordert. Der Fokus dieser Beispielstunde liegt jedoch auf der Sensibilisierung für die syntaktische Struktur, das Verbzweitmuster, welches bei Austausch des finiten Verbs gerade aufrechterhalten bleibt. Dadurch, dass das Verbzweitmuster im Hausspruch mehrfach aufgerufen wird (→ in der Form da/ dann finites Verb Präsens ich), bietet der poetische Text eine besonders niederschwellige Plattform, um innerhalb eines sicheren grammatischen Gerüsts kreativ werden zu können - in diesem Sinne eine kreative Schreibgelegenheit auch für Lernende, die noch am Anfang ihres Deutscherwerbs stehen. Im Übrigen kann der Austausch eines der finiten Verben noch immer weitere Substitutionen bzw. erweiterte Satzgestaltungen erforderlich machen. Man vergleiche im Beispiel beobachte, das ein Objekt benötigt, das nach dem Subjekt ich zu platzieren ist. Oder beim Verb herunterlassen die notwendige Positionierung der Partikel herunter ganz am Ende des Satzes (da im Präsens nur das finite Verb lasse an die zweite Stelle hinter dann gesetzt werden kann). Beim vorausgehenden Austausch von Tür durch Leiter (als passenderes Lexem für den Eingang zu einem Baumhaus), das den Verbwechsel nach sich zieht, bleibt der Artikel konstant. Die Lernenden können bei der Arbeit mit Farbvisualisierungen die Gleichheit des Genus direkt an der Farbe von Leiter erkennen, die (noch immer) zur Farbe des femininen Artikels passt. Ähnlich verhält es sich bei Baumhaus, bei dem die Farbmarkierung das Genusprinzip in Komposita visuell verdeutlicht. Anschließend an das gemeinsam entwickelte Beispiel verfassen die Schüler: innen ihre eigenen, individuellen ‚Haussprüche‘. Je nach ihren sprachlichen und kreativen Möglichkeiten können sie sich dabei unterschiedlich weit vom Original entfernen; vgl. dazu die folgenden Beispiele in Abbildung 9.12, die im Rahmen des DemeK-Programms aus einer DaZ-Ferienschule stammen, durchgeführt in einem Kölner ‚sozialen Brenn‐ punkt‘. Den Abschluss der Doppelstunde bildet die Würdigung der entstandenen Textpro‐ dukte. Dafür werden zunächst Kleingruppen zu je drei Schüler: innen gebildet, die sich ihre Texte gegenseitig vorlesen. Die Zuhörenden geben positives Feedback zum Inhalt (Am liebsten mag ich Zeile __/ Strophe __.). Anschließend überlegen die Schüler: innen zu dritt, ob die Texte auf grammatischer (und orthographischer) Ebene noch zu überarbeiten sind. Unterstützend kann die Lehrkraft zu Rate gezogen werden. Die finalen Textfassungen schreiben die Schüler: innen noch einmal auf ‚Schmuck‐ blätter‘. Die Übertragung ermöglicht abgesehen von einem ‚Ins-Reine-Schreiben‘ weitere kreative Prozesse, so etwa besondere typographische Gestaltungen und/ oder eine Einbindung von (selbst gezeichneten/ gemalten) Bildern oder Fotos (die die Schüler: innen mit in den Unterricht gebracht haben; erinnere oben den Einstieg der Doppelstunde). Die finalen Textprodukte können in einer gemeinsamen ‚Zeremonie‘ in der Klasse aufgehängt oder, wenn alle einverstanden sind, noch öffentlicher präsentiert werden (z. B. für einen Galerierundgang an einer passenden Wand auf einem Schulflur oder eingescannt in einer Schüler: innenzeitung). 228 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="230"?> Abb. 9.12: Schülertexte (Ferienschule, durchgeführt von Lotte Weinrich 2011) Besteht in der Klasse Zugang zu digitalen Medien, lässt sich das Schreibprojekt durch eine zusätzliche Phase (Doppelstunde) erweitern und eine Inszenierung der selbst verfassten Texte (oder einer Auswahl der Texte) in Form von kleinen Videoclips anschließen. Technisch können dafür z. B. Tablets oder auch Smartphones genutzt werden. Die Schüler: innen schließen sich erneut zu Kleingruppen (vier bis fünf Personen) zusammen und verteilen unter sich verschiedene Expert: innen-Rollen: Kameraführung, Sprecher: innen, Darsteller: innen (die Rollen können auch wechseln). Gemeinsam ist zu überlegen, wer welche Textzeilen spricht, wer welche Textzeilen gestisch/ pantomimisch umsetzt, an welchem Ort das Video gedreht werden soll, wie Sprecher: innen und Darsteller: innen ins Bild zu setzen sind usw. Auch hier bildet den Abschluss die Würdigung der entstandenen Videoprodukte durch eine wechselseitige Präsentation in der Klasse oder durch eine ‚Kinovorführung‘ für eine Parallelklasse. Aufgaben 1.* Sie haben in diesem Kapitel die Methode des generativen Schreibens als eine besondere Form des kreativen Schreibens kennengelernt. Warum ist das gene‐ rative Schreiben ein kreatives Schreiben? Warum und in welcher Form eignet sich die Methode insbesondere für den Einsatz in der DaZ-Förderung? 229 9 Performativ-ästhetische Dimensionen des generativen Schreibens <?page no="231"?> 2.** Entwickeln Sie in einer Kleingruppe (4-5 Personen) eine eigene Inszenierung für den poetischen Text „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke. 3.*** Überlegen Sie in Kleingruppen (3-4 Personen), für welchen Bereich grammati‐ schen Lernens sich der folgende Text von Ursula Wölfel aus dem DemeK-Pro‐ gramm einsetzen lässt. Entwickeln Sie dazu eine Unterrichtsstunde, die mit einem performativen Zugang zum Originaltext arbeitet und darauf aufbauend einen generativen Schreibprozess anleitet. Komm, wir kehren die Straße Ursula Wölfel (DemeK-Programm) Komm, wir kehren die Straße mit dem großen Besen. Dann finden wir sieben Sachen: Einen alten Fahrschein, einen krummen Nagel, eine Vogelfeder, eine grüne Münze, ein Bonbonpapier, eine Spiegelscherbe, und vielleicht, und vielleicht einen goldenen Knopf für deine Jacke! 4.*** Neben den im Erklär-Kasten (S. 209-210) aufgeführten Kohäsionsmitteln gibt es noch weitere. Verschaffen Sie sich in Averintseva-Klisch (2013: 7-12) ei‐ nen vollständigen Überblick über mögliche Kohäsionsmittel. Bearbeiten Sie anschließend die folgenden Punkte: a. Finden Sie im Gedicht „Der Panther“ sämtliche Kohäsionsmittel. b. Bestimmen Sie, welcher sprachlichen Ebene (morphologisch, phonologisch, lexikalisch, syntaktisch) die gefundenen Kohäsionsmittel zugehörig sind. c. Wählen Sie einen weiteren der grau hinterlegten Texte dieses Beitrages aus und analysieren Sie in diesem ebenfalls sämtliche Kohäsionsmittel. d. Vergleichen Sie Ihre beiden Analysen. Download: Stundenverlaufsplan 230 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="232"?> 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen Lorenz Hippe Jugendliche aus Einwandererfamilien haben oft gemischte Erfahrungen mit dem eigenen Schreiben. Wer spät oder unzureichend schreiben gelernt hat, oft die Schule wechseln musste, wessen Diktate jahrelang die meisten Fehler aufwiesen, der freut sich nicht gleich, wenn es heißt: „Heute schreiben wir.“ Dennoch bietet gerade das Szenische Schreiben eine gute Möglichkeit für diese Jugendlichen, eine eigene Stimme zu finden, sich auszudrücken, sich anderen mitzuteilen, sich zu zeigen, sichtbar zu werden. Szenisches Schreiben gilt als Oberbegriff für alle Texte, die für eine Darstellung vorgesehen sind, also zum Beispiel Theaterstücke, Drehbücher, Hörspiele oder Textflächen für eine Performance. Anders als etwa ein Prosatext ist der szeni‐ sche Text ein Teil der Darstellung, zu dem weitere Aspekte wie Raum, Körper, Stimme und Inszenierung hinzukommen. Der Einsatz szenischen Schreibens im Unterricht ist daher ein ganzheitlicher, der neben der Arbeit an den Texten Raum, Körper, Stimme und Inszenierung miteinschließt. 10.1 Kreative Erfahrung als Lernkonzept Deutsch als Zweitsprache ist eine Sprache, in der man denkt, lebt, fühlt und arbeitet. Der Einsatz theaterpädagogischer Methoden bietet sich da besonders an, wo es um „erfahrungsbezogenes Lernen“ geht: Hier lässt sich Schellers theaterpädagogisches Konzept anwenden, das die „Phantasien, Erlebnisse und Erfahrungen von Schülern zum Ausgangs- und Bezugspunkt inhaltsbezogener Unterrichtsprozesse machte […]“ (Scheller 1998: 9). Das Schreib- und Theaterlabor Das Schreib- und Theaterlabor bildet innerhalb des Sprachunterrichts eine eigene Einheit und bietet eine reale Situation, in der eigene Texte geschrieben, Szenen improvisiert und Stücke entwickelt oder sogar Präsentationen und Aufführungen realisiert werden. Die verwendeten Methoden sind keine Simulation späterer Realität. Sie schaffen einen Freiraum, innerhalb dessen die Schüler: innen die zweite Sprache leben können, ohne dafür kritisiert zu werden oder sich selbst dafür zu kritisieren. In dem Moment, in dem ein eigener Text entsteht, darf sich jeder so ausdrücken, wie er kann und will. Eine Erfahrung, die dabei hilft, mitgebrachte Blockaden zu überwinden. Das gemeinsame Schreiben und Improvisieren kann zum festen Bestandteil des Sprachunterrichts werden. Auf diese Weise werden die Schüler: innen daran gewöhnt, ohne Umweg über ihre Herkunftssprache in der 231 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="233"?> fremden Sprache ihre eigene Phantasie auszudrücken. „Gruppen, die regelmäßig in der fremden Sprache Geschichten erfinden, entwickeln Kompetenzen der Zusam‐ menarbeit und auch einer zugewandten vertieften Kommunikation untereinander.“ (Hippe & Hippe 2011: 145) Die im Folgenden beschriebenen Methoden sind ab dem Sprachniveau B1 bzw. ab zehn Jahren erprobt. Dass sie bereits ab diesem Level bzw. Alter eingesetzt werden können, liegt vor allem daran, dass nicht festgelegt oder erwartet wird, dass eine bestimmte Methode benutzt wird oder eine bestimmte Qualität von Ergebnissen entstehen soll. Jedes Ergebnis, jeder Text ist willkommen. Zohal (13) ist neu in der Gruppe. Als sie endlich den Raum gefunden hat, haben alle schon angefangen. Der Unterricht sieht komisch aus. Anstatt an Tischen schreiben einige auf dem Boden, andere liegen auf Tischen oder lehnen sich aneinander. Offenbar machen auch alle etwas anderes, einige sprechen miteinander, andere schreiben für sich. Die Leiterin, Sarah, erklärt Zohal die Spielregeln und fragt sie, was sie machen möchte. Zohal sagt: „Ich bin neu.“ Sarah schlägt ihr vor, einen Text zu schreiben, der mit diesem Satz beginnt: „Ich bin neu“. Zohal ist noch unsicher, aber sie sucht sich einen Platz am Fenster und schreibt drei Minuten lang, so wie Sarah es ihr vorgeschlagen hat. Ob das alles so richtig ist? Die Rolle der Lehrkraft im Schreib- und Theaterlabor Bei der künstlerischen Projektarbeit in einem Schreib- und Theaterlabor verändert sich auch die Rolle der Lehrkraft. Die Ergebnisse sind immer wieder neu und nicht vorhersehbar. Erforderlich ist die Haltung einer Mentorin, die den kreativen Prozess begleitet, ohne die Ergebnisse vorher zu kennen oder inhaltlich zu beeinflussen. Mentor: innen schreiben und inszenieren nicht selbst, sie initiieren, sie regen dazu an, sie ermöglichen, stellen die Rahmenbedingungen zur Verfügung. Die Spielregeln sind dabei kein Selbstzweck. Sobald sie den Prozess behindern, werden sie abgeändert oder außer Kraft gesetzt. Das können Sie als Mentor: in tun: a. Gestalten Sie die Arbeitsphasen kurz. b. Geben Sie vorher und zwischendurch an, wie viel Zeit zur Verfügung steht. c. Begleiten Sie Kleingruppen und geben, wenn nötig, noch etwas Zeit hinzu. d. Gestalten Sie eine offene Atmosphäre, indem Sie die Lernenden dazu ermun‐ tern, zu schreiben, ohne darüber nachzudenken, ob die Texte gut sind oder wozu sie taugen. 232 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="234"?> e. Bieten Sie verschiedene Methoden an, die sich in etwa in dem gleichen Zeitrahmen ausführen lassen und die frei gewählt werden können. f. Sichern Sie alle entstandenen Texte oder lassen Sie sie abtippen und speichern, wenn Sie damit weiterarbeiten wollen. g. Definieren Sie Ziele, machen Sie die Abläufe transparent. Suchen Sie nach Möglichkeiten und nicht nach Mängeln. h. Bleiben Sie positiv und zuversichtlich. i. Bleiben Sie im Dialog und reagieren Sie auf Vorschläge der Gruppe. Sarahs Kollegin Marion hat von einer Schülerin mit rumänischer Herkunft einen Text bekommen. Darin beschreibt die Dreizehnjährige einen Besuch in Rumänien und die überraschende Begegnung mit einem gleichaltrigen Jungen in der Däm‐ merung. Die beiden treffen sich immer wieder, ohne dass ihre Mutter davon weiß. Schließlich fragt sie sich: „Kann eine Liebe zwischen Deutschland und Rumänien bestehen? “ Marion ist skeptisch. „Daraus kann man doch kein Theater machen“, sagt sie. In der Fortbildung schreiben Sarah und Marion eine Liste, was aus dem Text entstehen könnte: Ein Lied, ein Tanz, ein Text aus der Perspektive des Jungen, eine Rückblende, Mails und Nachrichten, eine Szene zehn Jahre später. Der Raum Der für das Schreib- und Theaterlabor benötigte Raum unterscheidet sich von einem herkömmlichen Unterrichtsraum. Der Probenraum ist als Freiraum sauber, außer minimaler Grundausstattung (Sitzgelegen‐ heiten, Schränke) möglichst leer und variabel, er eignet sich für Bewegung im Raum und am Boden und ermöglicht eine angenehme und geschützte Atmosphäre. Er bietet den Teilnehmenden eine projektbezogene, selbstbestimmte Gestaltung und Nutzung. (Hippe 2017 b: 4) Da die Ausstattung im Sprachunterricht in der Regel aus frontal ausgerichteten Tischen und Stühlen besteht, räumen wir vorher die Tische an den Rand und bilden mit Stühlen einen Kreis in der Mitte. Auf diese Weise entsteht in der Mitte der gewünschte Frei-Raum, der zur Frei-Fläche werden kann, wenn man auch die Stühle wegräumt. Die Tische am Rand können dennoch zum Schreiben benutzt werden, wenn man die Stühle umdreht. Bei einer Präsentation der szenischen Ergebnisse wird ein Teil des Raumes zur Bühne, der andere zum Zuschauerraum. Der Raum kann so seine Form ändern und für die jeweilige Nutzung angepasst werden. Wie man sich selbst im Weg steht Stelle ich Jugendlichen eine Schreibaufgabe ohne weitere Vorgabe, beobachte ich oft Teilnehmende, die vor einem leeren Blatt sitzen und darüber nachdenken, was sie 233 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="235"?> schreiben sollen. Manchmal kommt es auch vor, dass sie gar nichts schreiben. Dauert der Zeitraum des ‚Nicht-Schreiben-Könnens‘ länger, kann es sein, dass sich bei ihnen ein Gefühl verstärkt, das sie „Schreibblockade“ nennen. Wenn ich sie dann frage, was gerade in ihrem Kopf vorgeht, fallen oft Sätze wie „Mir fällt nichts Richtiges ein“ oder „Ich kann das in der fremden Sprache nicht schreiben.“ Tatsächlich fällt ihnen, während sie vor ihrem Blatt sitzen, eine Menge ein. Und sie fangen auch immer wieder an, formulieren im Kopf Sätze und Halbsätze, kreisen um ein Thema, konzentrieren sich auf bestimmte Worte usw. Frage ich sie, was der erste Satz war, an den sie gedacht haben, können sie meistens sofort den Satz oder mindestens ein Wort nennen, fügen aber hinzu: „Aber das war so banal“ oder „Das gefiel mir nicht.“ Der Grund, warum sie nichts davon aufschreiben, liegt also darin, dass ein innerer Gedanke ihnen das nicht erlaubt. Eine Instanz, die den Einfall mit einer Bewertung verbindet, die dazu führt, nicht zu schreiben. Tolga soll einen ersten Satz aufschreiben. Aber was er denkt, gefällt ihm nicht. „Mir fällt nichts ein“, sagt er. „Was war das Erste, was du gedacht hast,“ fragt ihn Sarah. „Nichts“, sagt Tolga. Dann ist das dein erster Satz: „Nichts.“ Ist das o.k.? Tolga findet es seltsam, aber er nimmt den Rat an und beginnt zu schreiben: „Nichts. Nichts. Katze. Nichts. Nichts. Haus. Mann. Auto. Nichts…“ Das Konzept der „inneren kritischen Stimme“ Im kreativen Labor schaffen wir eine bewertungsfreie Zone, einen Bereich, in dem Grammatik und Rechtschreibung zunächst keine Rolle spielen. Entscheidend ist, dass wir anfangen zu schreiben, ohne uns von Bewertung beeinflussen zu lassen. Angelehnt an das Modell des „Inneren Teams“ von Schulz von Thun (1998), bei dem Anteile der eigenen Persönlichkeit mit einem Team verglichen werden, dessen Entscheidungen durch den Teamleiter, das „Ich“, moderiert werden, sprechen wir bei der Arbeit an Theatertexten von der „Inneren Kritischen Stimme“ (IKS). Die IKS ist ein wichtiger Bestandteil unseres „Inneren Teams“. Sie ist die Instanz, die Dinge bewertet, einordnet und vergleicht. Sie schützt uns vor Reizüberflutung, dient der Orientierung und ist wichtig für den Alltag wie auch für fast jede Art von beruflicher Tätigkeit. Wenn auch eben nicht immer. Wenn es darum geht, etwas Neues zu erfinden, einen neuen Text, eine neue Figur, eine Szene für ein neues Stück, kann sie den Prozess des Schreibens verlangsamen oder sogar zum Stillstand bringen. Was tun? Bei jeder bewertenden Aussage, also immer, wenn wir beim Schreiben einen Satz denken, der so ähnlich klingt wie ein Gedanke des inneren Kritikers, sollten wir uns klar machen, wer da gerade spricht. Und ob wir diesen Kommentar gerade brauchen können, oder ob es nicht sinnvoll wäre, sich später damit zu befassen. Es kann das Spiel der ganzen ‚Mannschaft‘ voranbringen, sich als Teamleiterin des „Inneren Teams“ der IKS zu sagen: „Warte einen Moment. Jetzt nicht. Du hast Pause. Wir sprechen später miteinander.“ 234 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="236"?> Für das Gehirn sind Intuition und Bewertung zwei sehr verschiedene Vorgänge, die nicht gleichzeitig, sondern besser nacheinander ausgeführt werden können. Ob ein Text gut und brauchbar ist, sollte man nicht während des Schreibens herausfinden, sondern erst danach. Im Sprachunterricht gilt das insbesondere auch für Korrekturen von Rechtschreib- und Grammatikfehlern. Die Korrekturphase erfolgt daher später, für den kreativen Prozess spielen ‚Fehler‘ keine Rolle. Schreiben im Fluss - woher stammt die Methode? Dass andere Ergebnisse entstehen, wenn man einfach drauflosschreibt, wurde bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts beschrieben. Der Schriftsteller Novalis notierte seine täglichen Gedanken und nutzte diese „Sämereien“ als Grundlage seiner „Blüthen‐ staub“-Fragmente (Porombka & Kutzmutz 2007: 28 f). Der Journalist und Theaterkritiker Ludwig Börne schlug vor: Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung. Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weiber, von dem Türkenkrieg, von Goethe, (…), von euern Vorgesetzten - und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst. (Börne 1829: 231-235) Berühmt wurde das „Automatische Schreiben“ der Surrealisten, das sich am psycho‐ analytischen Modell des Unterbewussten orientiert und den Autor als Medium der unbewussten Impulse begreift: Wenn die Tiefen unseres Geistes seltsame Kräfte bergen, die imstande sind, die der Oberfläche zu mehren oder gar zu besiegen, so haben wir allen Grund, sie einzufangen, sie zuerst einzufangen und danach, wenn nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen. (Breton 1924: 15 f.) Die amerikanische Autorin Julia Cameron entwickelte mit den „Morgenseiten“ eine sehr beliebte Methode, jeden Tag alles, was einem durch den Kopf geht, auf drei Seiten aufzuschreiben und dann den Tag zu beginnen (Cameron 2003: 125 f.). Aufbau einer Übungseinheit Das Sich-Einlassen auf die eigene Phantasie ist auch im Sprachunterricht für viele Teilnehmende eine neue Erfahrung. Etwas Neues zu beginnen, erfordert den Mut, das unangenehme Gefühl, das die meisten Menschen unbewusst mit einer neuen Erfahrung verbinden, auszuhalten. Diesen Initialwiderstand zu überwinden, kann dann gelingen, wenn jeder und jede den Prozess mitbestimmen und steuern kann und sich so ausreichend geschützt fühlt. Dazu sieht ein Modell der partizipativen Didaktik die Dreiteilung einer Übungseinheit - also einer Unterrichtsstunde oder einem Unterrichtsblock - vor, in der zu Beginn und am Ende einer Einheit Warm-up und Reflexionsphasen stehen, in der Mitte die Arbeit am Thema, eine Produktionsphase, die mindestens so lange sein sollte, wie die beiden anderen Phasen zusammen. Diese 235 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="237"?> Grundstruktur kann sich im ganzen Ablauf, wie auch in seinen Teilen, also zum Beispiel innerhalb eines Tages, aber auch während des gesamten Projektes widerspiegeln. Im Unterschied zu einer üblichen Probeneinheit am professionellen Theater hält die Struktur im ersten und dritten Teil zwei Dialogfenster bereit. Dadurch können Einzelne wie auch die ganze Gruppe Einfluss auf den künstlerisch-didaktischen Prozess nehmen und Zustimmung, Kritik, Vorschläge und Anliegen äußern. Die Teilnehmenden sollen in ihrem Alltag abgeholt und wieder dorthin zurückgebracht werden. Der Dialog mit der Gruppe stärkt auch den Laborcharakter des theaterpädagogischen Prozesses, bei dem sich ein Ergebnis entwickelt, das weder durch die Leitung noch durch die Gruppe allein hätte entstehen können (Hippe 2017a: 56 f). Ein Schreib- und Theaterlabor innerhalb des Sprachunterrichtes braucht: 1. besondere Spielregeln. Der inneren Bewertung eine Pause geben. Erst schrei‐ ben. Dann reflektieren. 2. einen Frei-Raum. Zum Beispiel einen offenen Sitzkreis mit Tischen an der Wand. 3. eine Leitungshaltung, die kreative Prozesse in der Zweitsprache ermöglicht. Die Lehrperson wird zur Mentorin, zur Hebamme, zur Reiseleiterin des kreativen Prozesses. Sie ermutigt die Schüler: innen bei einer Reise, deren Ziel niemand kennt. 4. eine dialogische Dramaturgie. Strukturelle Möglichkeiten für die Teilnehmen‐ den, sich zu beteiligen und den Prozess mitzugestalten. 10.2 Methoden des szenischen Schreibens Im Folgenden werden zwei praxiserprobte Einheiten vorgestellt, die aufeinander aufbauen. Die Beschreibungen der Methoden können auch als Arbeitsblätter für Eigenarbeit eingesetzt werden. Die erste Runde Einstimmung - Warm-up Welche Regeln beim Schreiben hilfreich sind, zeigen folgende Experimente, die man leicht im Sitzkreis durchführen kann. Hände falten (nach Moshe Feldenkrais) Alle falten ihre Hände. Wie fühlt sich das an? Damit wir die Hände falten können, muss ein Daumen über dem anderen liegen. Bei den einen ist das der rechte, bei den anderen der linke Daumen. Jetzt lösen wir die Hände, bis sie flach aufeinander liegen und schieben die Handflächen ein Stück weiter, bis der jeweils andere Daumen oben liegt. Dann werden die Hände wieder gefaltet. Wie fühlt sich das an? Die meisten rufen jetzt: „Komisch, seltsam, fremd, als ob ein Finger fehlt.“ Einige sagen: „Genauso wie 236 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="238"?> vorher“ oder: „Interessanter“. Diese kleine Übung aus der Feldenkrais-Methode zeigt, dass sich für die meisten Menschen das Neue fremd und komisch anfühlt. Das ist ganz normal. Erst wenn wir das Gewohnte mit dem Neuen vergleichen können, kann sich das Gefühl verändern. Für den Unterricht heißt das: Niemand sollte etwas tun, das sich dauerhaft fremd anfühlt. Aber alle sollten das Neue probieren. Nur dann können wir uns weiterentwickeln, können neue Erfahrungen in unseren Erfahrungsschatz integrieren (vgl. Hippe 2011: 24). Abb. 10.1: Hände falten nach Feldenkrais Kreuz und Kreis (nach Augusto Boal) Zuerst malen wir mit dem einen Zeigefinger einen Kreis in die Luft. Dann ruhen wir die Hand aus. Danach schreiben wir mit dem Zeigefinger der anderen Hand ein Kreuz in die Luft. Schließlich versuchen wir, beides gleichzeitig zu tun. Nur Wenige können das. Hand und Fuß: Wir stehen auf einem Bein. Mit dem Fuß schreiben wir den eigenen Vornamen in Schreibschrift auf die Stelle in die Luft. Dann nehmen wir den Zeigefinger der Hand der gleichen Seite dazu und probieren, gleichzeitig einen Kreis in die Luft malen. Das kann keiner. Man kann es auch nicht trainieren. Wozu üben wir etwas, das keiner kann? Viele Gruppen finden verschiedene Antwor‐ ten auf diese Frage: Einüben, etwas nicht zu können. Die eigenen Grenzen entdecken, und trotzdem Spaß haben. Sich daran freuen, dass neue Formen entstehen. Kreuz und Kreis können hier für zwei Vorgänge der Kreativität stehen. Der Kreis symbolisiert den neuen eigenen Text, das Kreuz dessen innere Bewertung. Versucht man beides zugleich, wird die Bewertung den Text beeinflussen. Entweder sorgt sie dafür, dass etwas entsteht, das man schon kennt, weil man selbst oder andere das schon mal gemacht haben. Oder man hört auf zu schreiben, weil man glaubt, den eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Daher gilt die Regel für die kreative Textproduktion: Erst schreiben. Dann reflektieren (vgl. Hippe 2011: 21 ff.). Die Liste der Inneren Kritischen Stimme Die Vorgabe, Erfindung und Reflexion zu trennen, ist schwer umzusetzen, wenn man nicht zugleich mit den inneren Bewertungsinstanzen Kontakt aufnimmt. Um diese zu 237 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="239"?> erkennen, schreibt jede Schülerin zwei bis drei typische Sätze ihres inneren Kritikers auf einen Zettel (alternativ: alle zusammen auf ein großes Blatt). Die Zettel werden eingesammelt, gemischt und wieder verteilt. Dann liest jeder Schüler Sätze aus dem Chor der Inneren Kritischen Stimme, ohne dass eine besondere Reihenfolge festgelegt wird. Nachdem wir alles gehört haben, sprechen wir die Sätze noch einmal gleichzeitig in verschiedener Lautstärke und stellen uns vor, den Chor durch einen imaginären Schalter erst lauter, dann leiser und immer leiser werden zu lassen, bis wir ihn ausstellen und der Chor verstummt. Da wir die Sätze der IKS für die folgende Textproduktion nicht brauchen, werden sie eingesammelt und symbolisch an einem sicheren Ort aufbewahrt. Die entstandene Liste wird später abgetippt und ist unser erster Text. Produktion Nach einer kurzen Pause beginnt mit dem Schreiben von Drei-Minuten-Fragmenten die Textproduktion. Die Schüler: innen können entweder alleine schreiben oder zu zweit. Wer zu zweit eine Dialog-Improvisation erproben möchte, sucht sich eine Partnerin und einen möglichst ruhigen Ort. Wer alleine einen Ich-Text schreiben will, sucht sich einen bequemen Platz dazu, am Tisch, auf dem Stuhl oder auf dem Boden. Ich-Text Die Schüler: innen erhalten folgende Aufgabe (vgl. Hippe 2011: 35): Schreibe drei Minuten lang einen kurzen Ich-Text für eine erfundene Figur. Wähle dafür zunächst einen der folgenden Sätze aus oder schreibe einen eigenen ersten Satz für eine Figur, die Ich sagt, die du aber nicht selbst bist. Auswahl an ersten Sätzen für einen Ich-Text: Ich bin neu hier / Gleich passiert es / Nur noch zehn Sekunden / Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal / Ich rede mit ihr Welchen wählst du? Wenn Dir keiner gefällt, schreibe einen eigenen aus einer erfundenen Ich-Perspektive. Öffne eine leere Word-Datei oder nimm ein Blatt Papier und einen Stift. Schreibe den ersten Satz oben hin, stelle dir den Timer vom Handy auf drei Minuten und schreibe drauflos. Höre nicht auf zu schreiben. Rechtschreibung oder Grammatik spielen keine Rolle. Folge einfach dem ersten Satz: als eine Art Wegweiser in den Text. Streiche nichts durch. Suche nicht nach Anfang oder Ende. Denke nicht darüber nach, ob es sich um eine erfundene Figur handelt oder nicht. Der Text kann in Deutsch sein oder einer anderen Sprache, die du sprichst oder auch in einer Sprache, die du nicht sprichst. Niemand muss das verstehen. Ob du den Text jemand zeigen wirst, kannst du später entscheiden. Höre nicht auf zu schreiben. Schreibe immer weiter, bis die Uhr klingelt. Wenn du willst, schreibe auch danach noch etwas weiter. Sollten sich dabei bewertende Gedanken einstellen, wie z. B.: ‚Das ist doch langweilig‘, 238 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="240"?> ‚Das macht doch keinen Sinn‘ oder ‚Das verrät zu viel über mich‘, sage der inneren kritischen Stimme: ‚Warte bitte. Du hast jetzt Pause. Du kommst gleich wieder dran.‘ Lege nach Ablauf der Zeit (oder ein bisschen später) das Blatt für einen Moment beiseite, um den Text gären zu lassen, wie einen guten Hefeteig. Mache eine kurze Pause! Wenn du digital schreibst: Speichere den Text, so dass du ihn später hochladen kannst, falls du dich dafür entscheidest, ihn freizugeben. Ich-Text einer chinesischen Studentin (unkorrigiert) Ich bin immer Wuten, Morgen, Mittag und Abend. Immer freuer in Mond, ich schreie und schimpfe viele, wenn die leute sachen macht, die ich nicht mag, ich schimpfe zu ihm oder sie einfach. Die ganz erde dreht sich um mich, und alles folgt meine Regeln. Wenn ich Sache machen willst, mache ich einfach ohnen zu anderes Gefuhl zu denken. Schimpfe mit anderes macht mich spasse. Ich genisst die Freiheit die ich ganz Zeit Wuten und Schimpfe konnen, es ist mir demokratie, es ist emancipation, es ist die freiheit, meiner Recht. Dialog-Improvisation Eine Improvisation auf Papier (vgl. Hippe 2011: 62): Zwei (alternativ: drei) Schüler: in‐ nen suchen sich einen Platz, an dem sie sich unterhalten können und schreiben einen Dialog aus der Begegnung erfundener Figuren. Jede Person spricht als eine Figur. Alles, was die Personen sagen, gehört zum Dialog und wird von beiden aufgeschrieben. Unterbrechungen werden durch ein Handzeichen („Time Out“) angezeigt. Mit dieser Methode wird es jedem Paar gelingen, einen fiktiven Dialog zu schreiben. Wie bei einer Improvisation üblich, entstehen durch die Impulse des Partners überraschende Situationen, die verhindern, dass eine Person allein Inhalt und Form des Textes kontrolliert. Dialog-Improvisation von Schülern einer 9. Klasse (korrigiert und bearbeitet) ALI Oh, Mustafa! MUSTAFA Ali! ALI Wie geht’s? MUSTAFA Und dir? ALI Hast du schon von Selin und Rami gehört? MUSTAFA Nein. ALI Du weißt, was. MUSTAFA Nein, ich weiß es nicht. ALI Na, sie ist schwanger. MUSTAFA Oha. Jeder weiß es und ich hab es nicht mitgekriegt. ALI Na, jetzt weißt du es von mir. Oh mein Gott. Sollen wir es Rami sagen? 239 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="241"?> MUSTAFA Ja, ich weiß nicht. Rami geht zu seinen Freunden. RAMI Hey, Mustafa. Hey Ali. Was ist los, lan, sag doch. Was ist los, lan, lass mich mal. ALI Ist deine Freundin schwanger? RAMI Was labert ihr da für einen Scheiß. MUSTAFA Wenn du uns nicht glaubst, dann frag doch deine Freundin. ALI Sadkena isala la lasahbitik (glaub mir, frag doch selber deine Freundin) Ich schwöre, ja. RAMI Kufllchara (Friss Kacke). Die Freunde ab. Rami allein Habe ich sie wirklich geschwängert? Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Ist sie überhaupt von mir schwanger? Party. Ich war betrunken. Mit Selin. Und als ich morgens aufgestanden bin, sah ich sie mit mir im Bett. Ich glaub, das könnte es sein. Reflexionsrunden Nach dem Ende der drei Minuten lassen wir den Text zunächst ruhen, kommen in der ganzen Gruppe zusammen und tauschen uns über die gemachte Erfahrung aus. Dafür verwenden wir die Reflexionsmethode „Plus-Minus-Und außerdem“ (vgl. Hippe 2011: 127): Jede Person, die etwas teilen möchte, kann dies tun, ohne dass es kommentiert oder diskutiert wird. Verständnisfragen sind erlaubt. Damit alle wissen, wer das Wort hat, gibt man einen besonderen Gegenstand weiter („Talking Stick“). In der ersten Runde (Plus) kann jede Schülerin sagen, was angenehm, positiv, interessant, bereichernd war. In der zweiten Runde (Minus) geht es um Kritik: „Was war für dich unangenehm, uninteressant, langweilig, unverständlich…? “ In der dritten Runde (Und außerdem … das sind meine Fragen) können Fragen gestellt werden und die Runde so in eine offene Diskussion übergehen. Die Spielregel sorgt dafür, dass alle zu Wort kommen können und jeder seinen Eindruck behalten kann, ohne sich anzugleichen. Damit das Positive nicht vergessen wird, steht die Plus-Runde am Anfang. Privat oder persönlich Anschließend lesen alle ihren Text leise durch und entscheiden, ob sie ihn in der Gruppe vorlesen möchten (vgl. Hippe 2011: 42): Dabei sollen die Schüler: innen bewerten, ob der Text privat oder persönlich ist. Die Unterscheidung dient dem Schutz der Teilnehmenden. Nur wenn man sicher sein kann, dass der eigene Text nicht von 240 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="242"?> anderen gelesen, bewertet oder kommentiert wird, wenn man selbst das nicht will, kann man es sich leisten, die IKS kurzzeitig auf die Ersatzbank zu setzen. Ein persönlicher Text enthält eigene Gefühle und Gedanken, kann aber mit anderen geteilt werden. Ein privater Text enthält Gefühle und Gedanken, die niemanden etwas angehen, vergleichbar einem Tagebucheintrag. Es ist auch möglich, einzelne Sätze als privat zu sperren und den restlichen Text zu teilen. Wichtig: Die Entscheidung sollte sich nicht darauf beziehen, ob man den Text für interessant oder sprachlich korrekt hält. Man sollte ihn auch teilen, wenn er unverständlich wirkt oder er voller sprachlicher Fehler ist. Dafür braucht es eine respektvolle Atmosphäre, die zulässt, dass sich die Teilnehmenden öffnen. Die Lesung Für die Präsentation der Texte suchen wir zwei besondere Stühle aus, die Lesestühle. Alle Schüler: innen, die ihren Text als persönlich bezeichnen, lesen ihn dort vor. Wenn eine Person aus einer Dialog-Improvisation aufsteht, muss die andere folgen. Wer seinen Text freigibt, aber nicht selbst lesen will, gibt ihn an jemand anderes aus der Gruppe oder an die Lehrperson. Alle, die ihren Text als privat bezeichnen, bleiben einfach sitzen. Zu Beginn einer Lesung geben wir ein Startzeichen. Zum Beispiel zählen alle gemeinsam die fünf Finger einer Hand herunter (5-4-3-2-1-los) oder trommeln auf die Oberschenkel und klatschen dreimal gemeinsam: „Vor-hang-auf! “. Am Ende einer Lesung applaudieren alle - als Dank dafür, dass jemand einen unkorrigierten Text mit der Gruppe geteilt hat. Die Lesung hält so lange an, bis alle freigegebenen Texte gehört wurden. Zum Abschluss (alternativ: nach jeder Lesung) sammeln wir Themen, die in den Texten vorkommen in einer Themenliste. Dazu braucht es keinen Konsens: Jedes genannte Thema wird notiert. Im Gruppengespräch werten wir anschließend die Eindrücke über die Ergebnisse der Drei-Minuten-Fragmente aus und verabreden uns für die zweite Runde. Abb. 10.2: Lesestühle 241 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="243"?> Die zweite Runde - mit Texten und Themen weiterarbeiten Einstimmung - Warm-up Theaterton Die ganze Gruppe im Sitzkreis. Bearbeiten heißt: Annehmen und Verändern. Dieses Spiel bereitet auf die aktive Veränderung vor, indem es übt, zunächst das Vorhandene anzunehmen (vgl. Hippe 2014). Die Lehrkraft erklärt der Gruppe, dass man sich beim Theater und auch in der Literatur Dinge, Personen und Situationen vorstellt. Durch die innere Vorstellung wirken sie. So ist das auch beim Theaterton, einer unsichtbaren Masse, die die Lehrperson heute mitgebracht hat. Sie zeigt der Gruppe, wie man damit umgeht, formt daraus einen (unsichtbaren) Gegenstand und benutzt ihn, z. B. eine Mütze. Die anderen raten, was es ist. Dann nimmt die Anleiterin vorsichtig den Gegenstand und gibt ihn an eine Schülerin weiter, mit der Aufforderung: „Kannst du ihn bitte annehmen? Schau ihn dir an. Vielleicht willst du ihn benutzen? Jetzt kannst du daraus etwas Neues formen.“ Der Theaterton macht die Runde, jeder formt einen imaginären Gegenstand (alter‐ nativ: ein Lebewesen, eine abstrakte Skulptur, einen Begriff) und reicht ihn weiter, bis jede einmal geformt hat. Der Theaterton lässt sich auch so dehnen, dass alle mitformen können. Die Lehrperson macht den Anfang, zieht das unsichtbare Material auseinander und lässt die anderen mitmachen. So formen wir z. B. gemeinsam ein großes Haus, betreten es, richten es ein, bewohnen es, lassen es schließlich leicht werden und aufsteigen und schauen ihm nach, wie es durch das geöffnete Fenster im Himmel verschwindet. Produktion Freie Methodenwahl Die Mitglieder einer Lerngruppe unterscheiden sich durch Herkunft, Interessen und Vorerfahrung. Für die Vielfalt der Ergebnisse des Schreib- und Theaterlabors ist es von Vorteil, wenn das Team aus möglichst unterschiedlichen Teilnehmenden besteht (Sonnenburg 2007: 59). Bei der zweiten Runde geht es darum, wie man mit den Texten der ersten Runde als Impuls für ein neues Fragment weiterarbeiten kann. Damit das möglich ist, sollten alle freigegebenen Texte mindestens einmal vorliegen. Wenn Zeit bleibt, kann dazwischen eine Korrekturphase liegen, bei der die Texte abgetippt und ggf. Rechtschreibfehler und grammatische Fehler (gegenseitig) korrigiert werden. Die Schüler: innen können dann ihre Version mit der Korrektur vergleichen. Bei der Wahl der zweiten Runde werden die angebotenen Methoden kurz vorgestellt, mit einem Titel versehen und im Raum verteilt. Bei der Auswahlphase stellt sich jede zu einem Titel. Nach maximal drei Minuten sollte die Entscheidung abgeschlossen sein. Wichtig: Alle entscheiden für sich. Durch die Wahl entstehen Paare und Kleingruppen. Wer alleine bei einem Zettel steht, kann versuchen, andere abzuwerben, sich einer anderen Gruppe anschließen oder eben alleine arbeiten. Wird eine Methode nicht gewählt, fällt sie für dieses Mal weg. Diese 242 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="244"?> Art der Beteiligung erfordert etwa gleich lange Arbeitsphasen für jede angebotene Methode. Dennoch werden nicht alle die gleiche Zeit brauchen. Die Lehrperson berät und versorgt die Gruppen mit weiteren Aufgaben oder zusätzlicher Zeit. Da es sich bei den Ergebnissen dieser Runde immer um Fragmente handelt, ist es nicht entscheidend, „fertig“ zu werden (Hippe 2011: 208). Die folgenden Methoden bieten verschiedene Möglichkeiten, Texte schriftlich weiter‐ zuentwickeln, beziehen aber auch Musik, Tanz und bildende Kunst mit ein. Moment davor - Moment danach Die Schüler: innen erhalten folgende Aufgabe: Wähle (oder lose) einen der Texte aus der Auswahl der ersten Runde. Nehmen wir an, der vorliegende Text wäre Teil eines Stückes oder einer längeren Geschichte. Welcher Moment käme vor dieser Szene? Welcher Moment danach? Schreibe ein neues Drei-Minuten-Frag‐ ment als Moment davor. Der Moment kann zeitlich unmittelbar davor sein oder auch länger zurückliegen. Denke nicht darüber nach, ob die Szene logisch oder nachvollziehbar ist. Lese dir den neu entstandenen Text (oder den Text einer Partnerin, mit der du tauschst) durch und schreibe dann in einem neuen Drei-Minuten-Fragment, ohne abzusetzen und möglichst ohne Innere Kritische Stimme den Moment danach. Der Vorgang lässt sich öfter wiederholen. So entstehen Textketten, die ihr dann in der zeitlich passenden Reihenfolge präsentieren könnt. (ebd.: 151) Drei-Minuten-Fragment eines Luxemburger Schülers (korrigiert, teilweise übersetzt) Rauche, bevor das Leben dich raucht. Sonst stirbst du. Pass auf dich auf. Kümmere dich um deinen Kram. Ich komme aus einem Viertel, wo Respekt die Basis ist. Lasse dich nicht vom roten Stängel um die Finger wickeln. Sonst kommst du da nicht mehr raus. Moment danach Warum dieser Hass? Warum hast du das gemacht? Warum die Taten, die sagen nicht die Wahrheit und wolltest mich lieber verarschen? Es gibt vieles zu machen, aber die Liebe ist nur eine Attrappe. Wie lebe ich jetzt? Im Hass einer neuen Eigenschaft. Du hast es geschafft. Es gibt mich nicht mehr. Kein Leben, kein ich. Ohne dich bin ich nichts. 243 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="245"?> In das Gegenteil umschreiben Jede Handlung und jede Figur enthält Möglichkeiten, die einem erst einfallen, wenn man nicht nach ihnen sucht. Durch die Frage nach dem Gegenteil kann ein Teil dieser Schattenseiten freigelegt werden. Die Schüler: innen erhalten dazu folgende Aufgabe: Wähle (oder lose) einen der Texte und schreibe ihn in das Gegenteil um. Du allein bestimmst, was das Gegenteil ist. Wenn im Stück ein Mann telefoniert, eine Frau vor Freude weint, ein Kind einen Lutscher geschenkt bekommt, was ist dann das Gegenteil? Gehe Satz für Satz vor, nach Abschnitten, Wort für Wort oder atmosphärisch, so wie es dir am leichtesten fällt. Ein Gegenteil ist keine Verneinung, sondern ein neuer Begriff. Auf diese Weise entsteht ein neuer Text. Wiederhole dann die Methode und schreibe zu dem entstandenen Text das Gegenteil vom Gegenteil. Wenn ihr zu mehreren in der Gruppe seid, bearbeitet zunächst jeder einen anderen Text, tauscht dann die neuen Texte nach einer verabredeten Zeit im Kreis und schreibt zu dem neuen Ergebnis ein weiteres Gegenteil. Bei der Präsentation werden anschließend die Ketten vorgelesen: Erst das Original, dann die jeweils weiteren Bearbeitungen, Gegenteil 1, Gegenteil 2 usw. (vgl. Hippe 2011: 259). Biografisches Fragment anhand eines Themas Hier lautet die Aufgabe: „Suche aus der entstandenen Themenliste ein für dich interessantes Thema aus und schreibe eine kurze persönliche Erinnerung aus deinem Leben zu dem Stichwort auf. Die Erzählung muss nicht vollständig sein. Du darfst auch lügen. So entsteht ein neues Fragment eines Ich-Textes. Das kannst du mehrmals zu unterschiedlichen Themen wiederholen. Entscheide, ob der Text privat oder persönlich ist und lese ihn vor, wenn du ihn als persönlich freigibst“ (vgl. ebd.: 70). Tanz Zu zweit oder in der Kleingruppe: Jede erstellt aus einem gemeinsam gewählten oder gelosten Fragment kurze wiederholbare Bewegungsfolgen, die sich aus einzelnen Sätzen des Textes ergeben. Sie müssen nicht narrativ oder erkennbar sein. Dann bringt jeder seine Bewegungen den anderen in der Kleingruppe bei und alle entwickeln gemeinsam eine Abfolge, eine Choreografie. Wenn noch Zeit bleibt, sucht man eine Musik dazu aus und tanzt das Ergebnis. Gemeinsame Zeichnung mit einem Stift Zu zweit (alternativ: zu dritt) auf dem Boden oder am Tisch. Zwei zeichnen mit einem dicken Filzstift auf einem großen Blatt ein gemeinsames Bild zu einem der Texte aus der ersten Runde (alternativ: Drei geben gleichzeitig zwei Stifte in verschiedenen Farben weiter). Man sollte möglichst nicht lange überlegen beim Malen. Die Zeichnung muss nicht gegenständlich sein, es geht um Gefühl und Ausdruck. Jede führt ohne abzusetzen einen Strich oder Punkt aus und gibt dann den Stift feierlich weiter an den Partner, der ohne abzusetzen dieses Motiv ergänzt oder an einer anderen Stelle malt. Beim Malen sollte möglichst nicht gesprochen werden. Wenn sich beide durch Blicke verständigt 244 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="246"?> haben, dass das Bild fertig ist, beginnt einer mit dem Schreiben des Stücktitels, indem er den ersten Buchstaben schreibt und den Stift der anderen weiterreicht, die den zweiten Buchstaben schreibt, usw. Ist eine Schülerin der Meinung, dass ein Wort beendet ist, aber der Titel weitergeht, springt sie ein Leerzeichen weiter und beginnt mit dem ersten Buchstaben des neuen Wortes. Ist eine der beiden der Meinung, der Titel ist vollendet, schreibt sie ein Ausrufe- oder Fragezeichen oder legt den Stift weg. Anschließend sprechen sie über ihr Bild und den Titel. Aus dieser Zeichnung kann der Entwurf für eine Geschichte entstehen. Beide betrachten das Bild und stellen sich vor, es wäre das Plakat eines neuen Stückes. Aber wovon handelt es? Das kann man durch die Ja-genau -Technik herausfinden. Dabei beschreiben beide das neue Stück, indem sie auf einzelne Teile des Bildes zeigen und über die Aufführung sprechen. Der jeweils andere unterstützt die Partnerin mit: „Ja, genau …“ und führt die improvisierte Beschreibung weiter aus, bis ihn die erste wieder unterbricht (vgl. Hippe 2011: 74). Abb. 10.3: Gemeinsame Zeichnung von Elfjährigen aus Linz Klangbild / Soundtrack Zunächst arbeitet jede Schülerin aus der Kleingruppe für sich mit zur Verfügung stehenden Instrumenten und Objekten, der eigenen Stimme sowie Händen und Füßen an zwei bis drei wiederholbaren Klängen zu einem gemeinsam gewählten (oder gelosten) Text. Anschließend improvisieren alle gemeinsam ihre Klänge und legen eine wiederholbare Reihenfolge und Entwicklung fest. Das Klangbild kann von den im Text beschriebenen Geräuschen und Klängen ausgehen, muss sich aber nicht darauf 245 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="247"?> beschränken. Es geht auch um musikalische Ideen, zu denen die Geschichte anregt, wie bei einer Filmmusik (ebd.: 172). Präsentation der zweiten Runde Die entstandenen Ergebnisse werden gelesen oder szenisch gelesen (angespielt mit Blatt in der Hand). Nach der Präsentation gibt es eine Rückmeldung des Publikums („Plus-Minus-Und außerdem“) und eine Verabredung für die nächste Runde. In den nächsten Runden können die Schüler: innen weitere Methoden der Transfor‐ mation ausprobieren, Methoden des Verdichtens oder Verknüpfens anwenden und so schließlich einen eigenen Stückentwurf entwickeln. Korrekturphasen zur Sprachver‐ mittlung anhand des entstandenen Materials können jeweils zwischendurch erfolgen. So entsteht, Runde für Runde, ein gemeinsames Theaterstück oder auch mehrere kurze Szenenfolgen, die aufgeführt oder in einer anderen Form präsentiert werden können, zum Beispiel als Lesung, Buch oder Ausstellung. Die Präsentation der Gruppe ist an einem Dienstag. Trotzdem sind einige Freunde und Verwandte gekommen, auch Zohals Mutter, die kaum Deutsch spricht, sich aber für einen Kurs anmelden will. Sarah und Cansu begrüßen das Publikum. Dann beginnt die Vorstellung mit dem Chor der Inneren Kritischen Stimmen: „Ich kann das nicht. Ich mache so viele Fehler. Was denken die anderen…“ Die Gruppe tritt auf und bekämpft die Stimmen, schaltet sie leise und schließlich ab. Es folgen verschiedene Geschichten und Szenen, auch Zohal mit ihrem Text „Ich bin neu.“ Tolga zeichnet live mit einem Edding auf einer Flipchart, während der Chor seinen Text spricht: „Nichts. Nichts. Katze. Nichts. Nichts. Haus.“ Zum Abschluss steht Fadia auf einem Tisch und fliegt. Drei Affen mit Masken schauen zu ihr hoch, während Cansu über Mikrofon ihr Akrostichon liest und die anderen hinter der Bühne mit Flaschen, Töpfen und einem Triangel ein Klangbild entstehen lassen. Applaus. Verbeugung. Im Nachgespräch sagt Cansu: „Ich war so beschäftigt, ich habe Angst vergessen.“ Und Fadia ergänzt: „Und der Stift ist mein Freund.“ Aufgaben Die hier gestellten Aufgaben zum szenischen Schreiben sind praktischer Natur. Wählen Sie mindestens eine davon aus. Erproben Sie die Aufgabe(n) zunächst selbst und dann mit einer Gruppe. Lassen Sie sich von der Gruppe eine Rückmeldung zur Anleitung geben. 1.** Kleines Akrostichon Schreibspiel, ganze Gruppe, Tische und Stühle, lose DIN-A4-Blätter und Stifte. Ein Akrostichon ist ein Gedicht, bei dem die Anfangsbuchstaben der Strophen oder Verszeilen ein Wort bzw. einen Satz ergeben (griech. akros = spitz, stichos = Zeile, Vers; vgl. Kap. 12.2). Das Kreative Schreiben zielt darauf, von literarischen 246 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="248"?> Strickmustern abzulenken und so Schreibblockaden zu vermeiden. Das Weiter‐ geben von Texten und der niedrigschwellige Einstieg über eine Wortsammlung sind typische Methoden dieses spielerischen Ansatzes. Jeder schreibt seinen Vor‐ namen senkrecht auf ein Blatt und gibt das Blatt weiter. Die Nächste schreibt ohne nachzudenken jeweils ein Wort mit dem jeweiligen Anfangsbuchstaben auf das Blatt und reicht die entstandene Wortsammlung an den rechten Nachbarn weiter. Dieser schreibt in drei Minuten eine kurze Geschichte aus den vorgegebenen Wörtern (nicht zwingend in der vorgegebenen Reihenfolge) und reicht das Blatt an die Nächste weiter, die die Geschichte in der Runde vorliest. Die Texte werden gesammelt, abgetippt und für die Weiterarbeit zur Verfügung gestellt. Kleines Akrostichon von Cansu, Schülerin, 10. Klasse Fliegen, Angst, Drei, Insel, Affe Ich sah drei Affen auf der Insel. Beim Fliegen hatte ich große Angst. Wenn Sie mit einer Gruppe arbeiten, dann bestärken Sie die Teilnehmenden darin, die Texte schnell und ohne Innere Kritische Stimme aufzuschreiben. Die Geschichten müssen nicht besonders lang oder originell sein. Wichtig ist, dass überhaupt etwas entsteht. Halten Sie sich bei der Präsentation der Geschichte mit Bewertung zurück oder verzichten Sie ganz darauf. Wichtig ist, dass Ihre Gruppe Spaß beim Schreiben bekommt und sich wohlfühlt (Hippe 2011: 31). 2.** Geschichten erfinden zu zweit Hier entstehen die Geschichten zunächst mündlich durch Bewegung im Raum. Jede sucht sich einen Partner. Bei dieser Methode haken sich beide ein, bewegen sich durch den Raum und erfinden eine kurze Szene. Jede sagt abwechselnd ein Wort. Was eine Person erzählt, spielen beide. Sagt also eine Person „Ich“, der andere „gehe“, die erste „in“, der zweite „den“, die erste „Wald“, dann spielen beide, dass sie in den Wald gehen und erfinden die Geschichte weiter. Wichtig ist es, die Geschichte schnell zu erfinden und nicht lange über das nächste Wort nachzudenken. Die Spielregel verhindert, dass eine Person allein die Geschichte kontrolliert und sorgt dadurch für überraschende Momente. Will man die Ergebnisse präsentieren, erzählt eine aus dem Paar die entstandene Geschichte oder beide spielen die Szene mit verteilten Rollen (ebd.: 84). 3.** Sätze aufschnappen Dieser Schreibprozess beginnt mit der Sammlung von gesprochenen Sätzen in der Öffentlichkeit. Wir gehen alleine oder zu zweit durch Menschenansammlungen und sammeln Sätze und Satzteile, indem wir Menschen beim Gespräch oder beim Telefonieren kurz, unauffällig und höflich belauschen. Die Sätze oder Wörter notieren wir wörtlich und bringen sie als Fundstücke zurück in die Gruppe. 247 10 „Und der Stift ist mein Freund“ - Szenisches Schreiben mit Jugendlichen <?page no="249"?> Alle gesammelten Sätze werden auf einem Plakat auf eine Liste geschrieben und stehen allen als Material zur Verfügung. Anschließend arbeiten die Teilnehmenden alleine oder zu zweit zu folgender Aufgabe: „Wähle mindestens drei, höchstens zehn Sätze, bringe sie in eine Reihenfolge und schreibe daraus einen Dialog, indem du eigene Wörter und Sätze hinzufügst, die Reihenfolge umstellst, Wörter oder Sätze wiederholst oder ein‐ zelne Wörter austauschst.“ Das Ergebnis wird dann als Dialog (szenisch) gelesen. Will man die Teilnehmenden nicht während des Unterrichts nach draußen gehen lassen oder bietet sich das Umfeld nicht an, lässt sich Sätze aufschnappen auch als Hausaufgabe geben oder alternativ im Internet durchgeführt werden. Untersucht man die Art der gefundenen Sätze, kann man schnell feststellen, dass sie sich von Sätzen geschriebener Sprache stark unterscheiden. Das so gesammelte Material eignet sich sehr gut für szenische Texte, wie auch für wörtliche Rede innerhalb von Erzählungen (ebd.: 98). Weiterführende Literaturhinweise Dörrie, D., (2019). Lesen, Schreiben. Atmen. Zürich: Diogenes Verlag. Johnstone, K. (1993). Improvisation und Theater. Berlin: Alexander Verlag. Nunn, D. (1999). Show ab! Workshop für Improvisationstheater und szenisches Schreiben mit Teens. Berlin: Buschfunk / Impuls-Theater-Verlag. Richardt, T. (Hrsg.). (2016). Praxismaterial: Szenisches Schreiben im Unterricht. Minidramen: Texte zum Nachspielen, Übungen und Methoden. Hannover: Klett/ Kallmeyer-Friedrich. Rodari, G. (1973/ 1992). Grammatik der Phantasie, Die Kunst, Geschichten zu erfinden. Leipzig: Reclam Verlag. Download: Stundenverlaufsplan 248 Im Fokus: Mediale Schriftlichkeit <?page no="250"?> Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik Aktivierung Aktivierung für Kapitel 11 und 12 a. Welche Wortbildungsprozesse, die im Deutschen besonders produktiv sind, sind Ihnen vertraut? Finden Sie eine Arbeitspartnerin und klären Sie gemeinsam den Unterschied zwischen Komposition und Derivation. Sammeln Sie zu beiden Prozessen verschiedene Beispiele; diese können aus dem Deutschen oder einer anderen Sprache stammen. b. Setzen Sie sich in einem weiteren Schritt mit dem folgenden Zusammenhang auseinander: In den 1990er Jahren benutzte ein bekanntes Getränke-Unternehmen in seinen Werbeslogans für die Einführung der ersten PET-Mehrwegflasche das Adjektiv ‚unkaputtbar‘. Ziel war es, besondere Aufmerksamkeit auf die Werbung zu lenken, indem eine eigentlich ungrammatische Wortbildung Verwendung fand. Rekapitulieren Sie gemeinsam mit Ihrem Arbeitspartner, warum sich aus ‚kaputt‘ nicht ‚unkaputtbar‘ bilden lässt. Welches Bildungsmuster wird hier verletzt? Fallen Ihnen weitere Beispiele aus der Werbung für entsprechend ‚unzulässige‘ Wortbildungen ein? c. Welche Formen der poetischen Rhythmisierung und Strukturierung bzw. des Reimens von Sprache kennen Sie? Bilden Sie Kleingruppen (3-4 Personen) und sammeln Sie gemeinsam, was Ihnen zu den Stichworten ‚gereimte Sprache‘ und ‚rhythmisierte Sprache‘ einfällt, und erstellen Sie dazu eine Mindmap. Vergleichen Sie anschließend im Plenum alle entstandenen Mindmaps. d. Überlegen Sie, wie und warum gereimte Sprache für (zweit-)sprachliches Lernen von Bedeutung sein kann. Welche Erfahrungen haben Sie selbst - als Schüler: in, Hospitant: in oder Lehrkraft - mit dem Einsatz im Sprachund/ oder Deutschun‐ terricht gemacht? Tauschen Sie sich dazu in Ihrer Kleingruppe aus. Aktivierung für Kapitel 13 e. Wenn man in der Sprachwissenschaft vom Wortakzent spricht, dann bezieht sich dies auf die Silbe, die im Wort betont wird: bei laufen liegt der Akzent z. B. auf der ersten Silbe, bei gelaufen auf der zweiten Silbe. Wenn eine Person eine Fremd‐ sprache lernt, hört man in alltagssprachlichen Situationen häufig Äußerungen wie: „Oh, sie spricht Deutsch mit einem recht starken Akzent.“ Überlegen Sie in Kleingruppen, was dieses Phänomen mit Betonung und Sprachrhythmus zu tun haben könnte. (Für eine Hilfestellung lesen Sie die kontrastiven Ausführungen zu Sprachrhythmus und Wortakzent in Bryant & Rinker 2021: 27-31.) f. In der Tabelle (Hirschfeld & Reinke 2018: 96) sind alle 16 Vokale des Deutschen enthalten. Notieren Sie für jeden Vokal ein oder zwei Wörter, die diesen enthalten <?page no="251"?> und reflektieren Sie Aussprache und Schreibung der paarweise angeordneten Vokale. g. Wenn es um den Einsatz von Musik im DaZ-Unterricht geht, können musikalische Grundkenntnisse sehr hilfreich sein. An was erinnern Sie sich selbst noch aus Ih‐ rem Musikunterricht? Suchen Sie (in Ihren Arbeitsgruppen) nach „Expert: innen“, die entweder ein Musikinstrument spielen (oder gespielt haben), die aktiv singen oder als zweites Fach Musik studieren/ studiert haben. Finden Sie gemeinsam erste Antworten auf die folgenden Fragen: Was ist ein Viervierteltakt? Was ist ein musikalisches Metrum? Was ist eine musikalische Notation bzw. was wird dabei von einem Musikstück in der Regel notiert? **** Laut- und Silbenstruktur sowie Betonungsmuster einer Sprache erfassen und produ‐ zieren zu können, klar zu artikulieren, genau hinzuhören, phonologische Bewusstheit zu entwickeln - all diese Fähigkeiten sind für den DaZ-Erwerb ebenso wie für jegliche Literalisierungsprozesse in Erst- und Zweitsprache von zentraler Bedeutung. Selbiges gilt im Rahmen des Wortschatzaufbaus für das Durchdringen von Wortgestalten und Wortbildungsmustern mit verschiedenen Typen von Wortbausteinen (= Morphemtypen). Gerade im Deutschen sind die Verknüpfungsmöglichkeiten zur Bildung neuer Wörter zahlreich und komplex, zeigen aber doch auch viel Systematik. In dieser Rubrik stehen performative Zugänge zu phonologischen, prosodischen und morphologischen Strukturebenen im Fokus, bei deren Erschließung der Körper und die Sinne mobilisiert werden. Im Beitrag „Wörter bauen“ (Kapitel 11) steht ein haptisch-visueller Zugang zum Wortaufbau im Mittelpunkt: Wortbausteine und deren Verkettungsmuster werden im reflektierten Spiel mit Legosteinen über den Weg des Greifens und Visualisierens erschlossen. Der Beitrag zur „Kunst des Reimens“ (Kapitel 12) spricht insbesondere den auditiven Sinn an. Die Gegenüberstellung der verschiedenen sinnlichen Zugänge verdeutlicht deren Relevanz auch für die (theoretische) Beschreibung der sprachlichen Phänomene: Das Element, das in Wortbildungen die Wortart bestimmt (vgl. weinrot vs. Rotwein, rad‐ fahrvs. Fahrrad), wird aus visueller Perspektive als die am weitesten rechtsstehende Einheit begriffen. Aus auditiver Perspektive erfährt man den wortartbestimmenden Teil dagegen als die Einheit, die am Ende eines Worts/ einer sprachlichen Sequenz kommt (und deshalb eine Rolle beim Reimen von Wörtern spielen kann). 250 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="252"?> Während die Kapitel 12 und 13 sich auf performativ ganz unterschiedliche Weise dem Durchdringen von Wortbildungsstrukturen widmen, rücken in Kapitel 13 („Sprachli‐ ches Lernen mit Liedern und Rhythmicals“), das die Potenziale von Musik für das sprachliche Lernen herausarbeitet, Betonungsmuster und Ausspracheübungen in den Blick. 251 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="253"?> 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung Helga Gese Das Erstellen und Vergleichen von Wortmodellen aus Klemmbausteinen eröffnet Schüler: innen einen visuell-haptischen Zugang zu den Wortbildungsmustern des Deutschen. Das didaktische Konzept zielt auf morphologische Bewusstheit als Schlüssel zum Verstehen und Produzieren komplexer Wörter. Schüler: innen mit Deutsch als Zweitsprache ziehen dabei ihre Herkunftssprachen als Vergleichsba‐ sis heran. Beim Bauen komplexer Wörter visualisieren und ‚be-greifen‘ sie das Deutsche als eine besonders kompositionsfreudige Sprache und erweitern ihren Wortschatz. Sie werden Wortbaumeister: innen. Morphologie Die Morphologie ist ein Teilgebiet der Linguistik, das sich mit der Struktur von Wörtern befasst. Sie analysiert den Aufbau von Wörtern ausgehend von den kleinsten bedeutungstragenden Elementen einer Sprache, den Morphemen. Morphologische Bewusstheit Die morphologische Bewusstheit ist eine Form der Sprachbewusstheit. Sie umfasst die Fähigkeit, die Struktur von Wörtern zum Gegenstand der Betrachtung machen zu können. 11.1 Die Bauprinzipien wortbildungsmorphologisch komplexer Wörter des Deutschen Das Deutsche zeichnet sich durch ein besonders reichhaltiges Wortbildungsrepertoire aus, das Sprecher: innen zur Wortschatzerweiterung zur Verfügung steht. Ungefähr 10.000 morphologisch selbstständige einfache Wörter können miteinander oder mit einem der etwa 100 Wortbildungsaffixe kombiniert werden (vgl. Eisenberg 2013b: 32), um neue Entitäten oder Ereignisse zu bezeichnen: Bei der Komposition werden zwei oder mehr selbstständige Wörter zusammengefügt (Kaffee+tasse, gras+grün, Hotel+fach+kraft). Im Fall der Derivation wird einem Wort‐ stamm ein Präfix vorangestellt (un+gut, ver+schließ-, ent+nehm-), ein Suffix angehängt (glück+lich, hör+bar, Mög+lich+keit, Schrei+erei) oder ein den Stamm umschließendes Zirkumfix hinzugefügt (Ge+red+e, ge+füg+ig, be+sänft+igen). Anders als diese beiden auf der Kombination freier oder gebundener Elemente beruhenden Wortbildungstypen stellt die Konversion (der Treff, das Essen) eine Möglichkeit dar, einen Wortstamm ohne Hinzunahme weiterer Wortbildungsmittel in eine andere Wortart zu überführen. Besonders augenfällig ist das enorme Wortschatzerweiterungspotenzial im Bereich der Komposition: Im Deutschen ist es nahezu unbegrenzt möglich, durch Kombina‐ tion von Wortstämmen neue Wörter zu bilden. Insbesondere im Bereich der Nomina ist 252 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="254"?> Komposition extrem produktiv und kaum beschränkt - weder in Bezug auf die Kom‐ binationsmöglichkeiten unterschiedlicher Wortarten, s. die Beispiele in (1), noch auf die Länge der so gebildeten Nominalkomposita, s. (2). Auch die Verwendungskontexte sind vielfältig, wie die Alltagsbegriffe in (1), die literarische Verwendung in (2) und der physikalische Fachbegriff in (3) zeigen. (1) Bahnhof (N+N), Blauwal (A+N), Esszimmer (V+N), Beiboot (Präp+N), Jetztzeit (Adv+N) (2) Knabenmorgenblütenträume (3) Energieerhaltungssatz Bildungsprinzipien für deutsche Komposita sind zum einen die Binarität, d. h. die Wörter sind strukturell zweigliedrig aufgebaut: Ein Klein+kind+auto+sitz ist ein Auto‐ sitz für ein kleines Kind. Ein Autositz wiederum ist ein Sitz, der für die Verwendung in einem Auto bestimmt ist. Das Beispiel zeigt, dass die beiden Elemente des binär aufgebauten Kompositums selbst auch wieder strukturell komplex sein können und dass dann auch die Teilelemente eine zweigliedrige Struktur aufweisen, s. Abb. 11.1. N N N A N N N Klein kind auto sitz Abb. 11.1: Die zweigliedrige Struktur deutscher Komposita Das zweite Bildungsprinzip ist das der Rechtsköpfigkeit. Dieses besagt, dass das Ele‐ ment, das die grammatischen Eigenschaften des Kompositums bestimmt, im Deutschen immer ganz rechts steht: So ist z. B. Biene+n+honig ein maskulines Nomen, da Honig, der rechtsstehende Kopf der Bildung, ein maskulines Nomen ist. Der Ausdruck Honig+biene dagegen erbt vom Kopf Biene die grammatische Eigenschaft, ein feminines Nomen zu sein. Genauso ist das Kompositum biene+n+fleiß+ig entsprechend der Eigenschaften des rechtsstehenden Kopfes kein Nomen, sondern ein Adjektiv. Für DaZ-Lernende bedeutet eine Einsicht in das Prinzip der Rechtsköpfigkeit daher eine ganz konkrete Hilfestellung bei der Wahl des korrekten Artikels und der Flexionseigenschaften eines Wortes. Das letztgenannte Beispiel verdeutlicht eine Eigenheit deutscher Komposita, welche gerade für DaZ-Lernende eine große Herausforderung darstellt: die Verwendung oder Nicht-Verwendung von Fugenelementen, die die einzelnen Wortelemente auf lautlicher Ebene verbinden, nicht aber auf semantischer oder grammatischer Ebene. Die durch das 253 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung <?page no="255"?> Kompositum Biene+n+honig bezeichnete Leckerei kann auch nur von einer einzigen Biene produziert sein; das -nist also kein Pluralmarker. Aufgrund vielschichtiger Sprachwandelprozesse lässt sich das Auftreten der unterschiedlichen Fugenelemente (s, n, ns, e, er, en, es, ens) kaum in einer Gesamtsystematisierung erfassen (Eisenberg 2013: 226). Auch wenn das Auftreten und die Art daher nur begrenzt durch Regeln erschlossen werden kann (s. Gärtner 2012: 503 f.), so beugt die Einsicht in die rein lautliche Funktion der Fuge doch Fehlinterpretationen vor. Deutschlernende verstehen dann zum Beispiel, dass das Kompositum Kind+er+wagen in der Regel keinen Wagen bezeichnet, in dem mehrere Kinder transportiert werden. Ein weiteres Problemfeld deutscher Komposita besteht in deren semantischer Un‐ terbestimmtheit. Nicht nur DaZ-Lernenden fällt es schwer, die sprachliche Beziehung zwischen Kopfelement und Bestimmungselement, wie sie in den Bedeutungsparaphra‐ sen in (4) bis (8) zum Ausdruck kommt, durch Kontext und Weltwissen zu erschließen (vgl. Fandrych & Thurmair 1994). (4) Handschuhe ‚Schuhe für die Hand‘ (5) Lederschuhe ‚Schuhe aus Leder‘ (6) Kinderschuhe ‚Schuhe für ein Kind‘ (7) Sonntagsschuhe ‚Schuhe, die sonntags getragen werden‘ (8) Spitzenschuhe ‚(Ballett-)Schuhe mit einer Spitze‘ oder ‚Schuhe, die spitze sind‘ Auch beim zweiten Wortbildungstyp, der Derivation, bei der Wörter durch die Hinzunahme von Prä- oder Suffixen abgeleitet werden, gelten im Allgemeinen die oben genannten Prinzipien der Binarität und Rechtsköpfigkeit. Eine Ausnahme vom Binaritätsprinzip stellen nur Zirkumfixbildungen wie in (10) dar, bei denen eine zweiteilige Struktur nicht widerspruchsfrei angenommen werden kann (da weder *beschön noch *schönigen als selbstständige Wörter existieren). (9) schön (Adj.) - Schön+heit (Nomen) (10) schön (Adj.) - be+schön+ig- (Verb) (11) schön (Adj.) - un+schön (Adj.) (12) frei (Adj.) - be+frei- (Verb) Das Kopf-rechts-Prinzip erklärt, warum Suffigierungen wie in (9) und Zirkumfixe wie in (10) einen Wortartwechsel bewirken, während dies bei Präfigierung wie in (11) nicht der Fall ist: Das Wortbildungssuffix -heit steht in der Verbindung in (9) rechts außen und bildet daher den Kopf. Das Präfix unin (11) steht dagegen links vom Stamm; das Adjektiv schön bleibt der Kopf der Verknüpfung. Vom Kopf-rechts-Prinzip abweichend verhalten sich nur wenige verbale Derivative wie in (12), bei denen das Präfix einen Wortartwechsel bewirkt. Im Bereich der Konversion, dem dritten Wortbildungsverfahren im Deutschen, der Wortartüberführung ohne morphologische Veränderung, ist die Nominalisierung von Verben besonders produktiv. Hierbei ist zwischen morphologischer Konversion in (13) und syntaktischer Konversion in (14) zu unterscheiden. 254 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="256"?> (13) ruf- (V) - Ruf (N) (14) rufen (V) - Rufen (N) Während das Wortbildungsprodukt im ersten Fall nur aus dem Stamm besteht, wird im zweiten Fall ein Flexionselement des zugrundeliegenden Wortes, die Infinitivendung -en, in den Wortbildungsprozess einbezogen. Syntaktische Konversion von Verben im Infinitiv, s. (14), ist im Deutschen unbe‐ grenzt möglich. Die durch syntaktische Konversion entstandenen Nomen sind meist nicht pluralfähig (*die Rufen). 11.2 Morphologische Bewusstheit als Schlüssel zur Wortschatzerweiterung Morphologisch komplexe Wörter stellen für viele Deutschlernende einen Stolperstein dar. Dies beklagt bereits Mark Twain in seinem satirischen Essay „Die schreckliche deutsche Sprache“: Der strukturelle Aufbau komplexer Wörter bereitet […] dem Anfänger großen Verdruss, versperrt [er] ihm doch den Weg; er kann nicht darunter durchkriechen oder darüber hinwegklettern oder sich mit einem Tunnel hindurchgraben. Daher wendet er sich hilfesuchend an das Wörterbuch; aber dort gibt es keine Abhilfe. Das Wörterbuch muss irgendwo eine Grenze ziehen - daher lässt es diese Sorte von Wörtern aus, […]. Die verschiedenen Wörter, die man benutzt, um sie zusammenzubauen, stehen zwar im Wörterbuch, aber sehr verstreut: daher kann man das entsprechende Material, eins nach dem anderen, aufstöbern und letzten Endes die Bedeutung herausfinden, aber das ist ein ermüdendes und aufreibendes Unterfangen. (Twain 2008: 45) Aber nicht nur DaZ-Lernende haben Probleme, wortbildungsmorphologisch komplexe Wörter zu verstehen und zu bilden: Viele Leser: innen, die noch am Anfang ihres Leseerwerbs stehen, tun sich beim Erschließen der Bedeutung von Komposita schwer, vgl. die transkribierten Interviews in Bangel 2018. Anstatt die komplexen Wörter strukturell zu zergliedern und die Bedeutung aus den Elementen und der Art ihrer Zusammensetzung zu erschließen, raten sie. Ein Beispiel hierfür ist Dilarla, die auf die Frage, wie sie sich die Bedeutung des komplexen Worts gehüllt erschlossen hat, antwortet: „also ich weiß nicht, bei manchen Wörtern, die ich mir so vorlese […] fallen mir die Wörter einfach plötzlich ein […] was das bedeutet. Manchmal ist es falsch, manchmal ist es richtig“ (ebd.: 277). Auch das Verb ertönen führt sie nicht bewusst auf die morphologischen Bestandteile zurück, sondern gibt an: „Hab ich mir auch vorgestellt. […] ich rate“ (ebd.: 281). Erfahrene Leser: innen verfügen dagegen über eine ganz andere Strategie zur Bedeutungserschließung, wie die folgende Antwort Leons (L) auf die Frage der Interviewerin (I) zeigt: „I: Wenn du das […] Wort jetzt nicht gekannt hättest, hättest du die Bedeutung trotzdem herausbekommen können? […] L: (-) Ja. […] I: (-) Wie hättest du das hier gemacht? L: (--) Ich hätte lebens und bedrohlich aufgetrennt und dann hätte ich nachgedacht“ (ebd.: 247). Die Beispiele zeigen, welch große Relevanz morphologische Kompetenz für das Sprachverstehen hat. In zahlreichen Studien (z. B. Bangel & Müller 2014, 2016; Bangel 255 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung <?page no="257"?> et al. 2015; Bangel 2018) konnte ein solcher Zusammenhang zwischen Wortbildungs- und Lesekompetenz nachgewiesen werden. Morphologische Bewusstheit kann somit in Analogie zur phonologischen Bewusstheit beim Schriftspracherwerb als die entschei‐ dende Kompetenz beim Lesen bezeichnet werden (Ulrich 2016: 7). Aber auch für das Sprechen und Schreiben ist morphologische Bewusstheit von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Das fängt bei der Wahl des korrekten Genus an (vgl. die Honigbiene vs. der Bienenhonig) und endet bei der Verwendung abstrakter, komplexer Begriffe wie Bruttoinlandsprodukt oder Schönheitswahn. Die Fähigkeit, den eigenen - ggf. noch geringen - Wortschatz durch das Verwenden von Wortbildungsver‐ fahren wie der Komposition zu erweitern, um treffende Bezeichnungen für Entitäten, Beobachtungen und Zusammenhänge zu finden, ist für das Sprechen genauso wichtig wie für eine gelungene Textproduktion. Man denke nur an den bei Lehrkräften und Lehrwerken gleichermaßen beliebten Tipp zur sprachlichen Gestaltung von Aufsätzen: „Verwende treffende Ausdrücke! “ (z. B. Füllemann 2015: 17). Auch der in Lehrbüchern ebenso oft zu findende Hinweis, „abwechslungsreich“ zu schreiben und Wiederholungen zu vermeiden (z. B. Haase 2018: 75), weist auf das Potenzial von Komposita für eine variationsreichere kohärente Textproduktion hin (Bryant 2020b: 110-114). Zum Herstellen referenzieller Bezüge können Komposita im Sinne sprachlicher Variation wie in (15) verwendet werden. Bei wiederholter Bezugnahme auf den gleichen Referenten steht typischerweise der präzisere Ausdruck (hier: das Kompositum Haustür) vor dem einfachen Nomen (Tür). (15) Er schloss die Haustür auf und ging hinein. Unglücklicherweise vergaß er, die Tür wieder zu schließen … (Averintseva-Klisch, Bryant & Peschel 2019: 55). Nicht zuletzt erweist sich morphologische Bewusstheit auch für die Orthografie als hilfreich. Genannt seien z. B. die Groß- und Kleinschreibung (insb. bei Nominalisierun‐ gen und Suffixen, s. (16)) oder das sowohl im Bereich der Wortbildung wie auch der Flexion für die Rechtschreibung geltende Prinzip der Morphemkonstanz, das in (17) und (18) die Schreibung mit Umlaut erklärt. (16) möglich - Möglichkeit (17) Hand - Hände (18) tragen - erträglich Morphemkonstanz Das Prinzip der Morphemkonstanz, auch bekannt als Stammkonstanz, bezeichnet den Umstand, dass die morphologische Verwandtschaft von Wörtern in der Orthografie sichtbar wird: Morpheme werden (möglichst) gleich geschrieben, auch wenn sie lautlich unterschiedlich realisiert werden, Bsp. kalt - sich erkälten. Gerade für Deutschlernende, die noch über einen eher geringen Wortschatz verfügen, erscheint Wortbildungskompetenz als der Schlüssel zur Wortschatzerweiterung und 256 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="258"?> als Zugang zum bildungssprachlichen Repertoire. Hierbei spielen Komposita in ihrer Funktion als „begriffsförmige Verdichtung von Aussagen“ (Feilke 2012: 10) eine her‐ ausragende Rolle, da sie „gerade auch in fachtextlichen Zusammenhängen oft schwierig zu verstehen [sind]“ (ebd.: 11). Die erfolgreiche Bearbeitung von Aufgabenstellungen wie Interpretieren Sie den Graphen der Integralfunktion als Zeit-Weg-Diagramm oder Interpretieren Sie die Statistik in Hinblick auf die Einkommenssituation der Dorfbevöl‐ kerung im Jahre 1891 (ebd.: 12) hängt von der Fähigkeit ab, die oftmals abstrakten, fachsprachlichen Komposita korrekt zu zergliedern und damit erschließen zu können. Man nehme als weiteres Beispiel das Kompositum Sprungarten im Arbeitsauftrag Analysieren Sie die Sprungarten in Hinblick auf die verwendeten Techniken. Handelt es sich hierbei um eine Aufgabe aus dem Fachbereich Sport oder sollen die Lernenden etwas über Gärtnerei herausfinden? Wer über morphologische Bewusstheit verfügt und das Kompositum korrekt segmentieren kann, weiß es - wer wie Dilarla rät, liegt dagegen oft falsch. 11.3 Wörter bauen und die Wortbauprinzipien „be-greifen“ So dynamisch und produktiv Wortbildung im Deutschen ist, so wichtig ist es, dieses grammatische Thema im Deutschunterricht kreativ-spielerisch und handlungsorien‐ tiert zu erarbeiten. Das hier vorgeschlagene Modell setzt auf einen performativen, visuell-haptischen Zugang zu Wortbildung (erweitert um eine sprachvergleichende Komponente). Dabei entdecken Schüler: innen die Wortbildungsmuster des Deutschen durch das Anfertigen von Wortmodellen aus Klemmbausteinen sowie durch das Vergleichen und Bewerten von Bausteinmodellen. Im Gegensatz zu Unterrichtsvorschlägen zur Wortbildung, die auf einzelne unzusam‐ menhängende Wortbildungsspiele wie Varianten von Stadt-Land-Fluss oder Scrabble setzen (s. Praxis Deutsch 271/ 2018), verfolgt der vorgestellte Ansatz des Wörterbauens eine durchgehende Zugangsweise zum Thema. Ziel des Ansatzes ist es, dass Schüler: in‐ nen ab dem Sprachniveau A2 in die Lage versetzt werden, Lücken in ihrem passiven oder aktiven Wortschatz durch die Analyse der Wortstruktur bzw. die Verwendung von Wortbildungsverfahren zu füllen. Das Wörterbauen fokussiert dabei insbesondere die Komposita. Zum einen, da ungefähr 68 % der wortbildungsmorphologisch komplexen Wörter des Deutschen Komposita sind (Römer 2015: 8); zum anderen, da Komposition als einfaches und transparentes Wortbildungsverfahren (Clark 1999: 176) sowohl im Erstals auch im Zweitspracherwerb schon früh zur Wortschatzerweiterung gewählt wird (vgl. Elsen und Schlipphak 2016 zum Erstspracherwerb; Stern 2015 zum Zweit‐ spracherwerb). Der Einsatz von Klemmbausteinen zu didaktischen Zwecken ist bisher eher im MINT-Bereich bekannt und erprobt (z. B. mit dem LEGO® Education System); aber 257 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung <?page no="259"?> 1 Siehe Weth (2017) für einen systematischen Ansatz, Bausteine im Satzglied- und Wortartenunterricht einzusetzen. Allerdings setzt Weth Klemmbausteine nicht wirklich zum Bauen ein, sondern zum li‐ nearen Legen von Satzstrukturen. Im Gegensatz dazu werden Klemmbausteine im hier präsentierten Zugang zur Wortbildung nicht zum Strukturlegen, sondern zum Wörterbauen - in die Höhe und in die Breite - verwendet. 2 Das Klemmbausteinmodell entspricht in seinem Aufbau einem umgekehrt angeordneten morpho‐ logischen Strukturbaum. auch im Grammatikunterricht ermöglichen Klemmbausteine eine spielerische Erarbei‐ tung komplexer Sachverhalte. 1 Das Wörterbauen kann im muttersprachlichen Grammatikunterricht genauso ge‐ winnbringend eingesetzt werden wie im Zweitsprachenunterricht. Die didaktische Legitimation des performativen Zugangs ist aber teilweise eine andere: Im mutter‐ sprachlichen Grammatikunterricht können Klemmbausteinmodelle als Möglichkeit der Distanzierung, Deautomatisierung und Dekontextualisierung von Sprache (im Sinne von Bredel 2007: 24) genutzt werden. Sie ermöglichen es Schüler: innen, die eigene Sprache, die sie bereits beherrschen (vgl. z. B. Funke 2011), distanziert zu betrachten und bewusst zu reflektieren. Im Zweitspracherwerb ist diese Distanzierung weniger nötig, da die zu reflektierende Zielsprache noch nicht beherrscht wird. Das durch die Analyse der Klemmbausteinmodelle erzielte explizite Strukturwissen steht hier - klarer als im muttersprachlichen Grammatikunterricht - im Dienste des Wortschatzerwerbs. Sowohl im muttersprachlichen Unterricht als auch im Zweitspracherwerb ermög‐ lichen die Wortbauwerke einen analytischen Blick auf Sprache und ein Be-greifen morphologischer Strukturen. Schüler: innen erstellen dreidimensionale Wortbauwerke und transformieren dabei die in der Linguistik gebräuchlichen morphologischen Strukturbäume, die in didakti‐ schen Kontexten bisher kaum Verwendung finden, in konkret greifbare Strukturmo‐ delle komplexer Wörter, s. Abb. 11.2 2 . Abb. 11.2: Ein morphologischer Strukturbaum und das entsprechende Klemmbausteinmodell 258 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="260"?> 3 Im Laufe der Unterrichtseinheit können die Bauregeln noch erweitert werden. Es können anhand von Beispielen wie Jetztzeit oder Linksverkehr noch Adverbien hinzugenommen und einer Farbe (z. B. orange) zugeordnet werden. Anhand von Beispielen wie Geburtsort oder Arbeitsplatz können Fugenelemente eingeführt werden und eine Farbe (z. B. grau) zugewiesen bekommen. Dies sollte aber erst dann erfolgen, wenn die Grundprinzipien der Komposition erarbeitet sind. Wird im weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit neben der Komposition auch noch die Derivation behandelt, so können auch Präfixe und Suffixe durch Bausteine repräsentiert werden. Hierbei sollte eine eigene Farbe, z. B. weiß, für Präfixe reserviert werden, während bei Suffixbausteinen die Farbe entsprechend der Wortart gewählt wird, bspw. -heit, -nis, -keit wären rote Suffixbausteine, da sie Nomen bilden, -lich, -ig grün (Adjektivsuffixe) und -weise orange (Adverbsuffix). Der Erkenntnisweg beim Wörterbauen ist sowohl ein haptischer als auch ein visueller: Das gebaute Wortmodell kann - im wörtlichen Sinne - von außen und von allen Seiten be-griffen werden. Unterschiedliche Wortarten werden durch Bausteine in verschiedenen Farben symbolisiert und sind somit visuell erfahrbar: Nomen rot, Verben blau, Adjektive grün, Präpositionen gelb. Im Sinne eines mehrkanaligen Lernansatzes dienen die Klemmbausteine als visuell-haptische Elemente der Erweiterung des ange‐ sprochenen Sinnesbereichs. Das kreativ-spielerische Gestalten, das Fühlen wie Sehen einbezieht, begünstigt eine hohe kognitive Aktivierung von Schüler: innen; und das Analysieren und Diskutieren der Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Baumodelle fördert den Erwerb einer Metasprache zur Beschreibung grammatischer Strukturen und zielt dadurch auf Sprachbewusstheit (vgl. Thißen 2017). Nicht zuletzt gibt es auch klare motivationale Vorteile der gewählten Methodik. Wenn die Schüler: innen im Unterricht unter Einbezug vieler Sinne spielerisch tätig sind, indem sie mit Klemmbausteinen Wortbauwerke als konkret greifbare Produkte ihres Lernprozesses erstellen, erfahren sie sich als selbstwirksam. Für den Lernprozess ist es entscheidend, dass den Schüler: innen die Bauprinzipien nicht als Regeln vorgegeben werden, sondern dass sie die Prinzipien - ausgehend von einigen Modellbauwerken (s. Abb. 11.3) - selbstentdeckend erkunden, formulieren und anschließend bei eigenen Bauversuchen erproben. Ein kleinschrittiges Vorgehen strukturiert den induktiven Erkenntnisprozess und sorgt dafür, dass das Wörterbauen nicht zu einer reinen Spielerei ohne wirklichen Nutzen gerät, sondern dass effektive Lernprozesse angestoßen werden: Durch die Zuordnung von Baumodellen zu Wörtern entdecken die Schüler: innen zunächst den Unterschied zwischen morphologisch einfachen Wörtern (ein Klemmbaustein) und morphologisch komplexen (mehrere Klemmbausteine). Sie realisieren, dass den Farben unterschiedliche Wortarten entsprechen: Rot für Nomen, blau für Verben, grün für Adjektive, gelb für Präpositionen. 3 259 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung <?page no="261"?> 4 Die bereits gefüllten Felder sind so gewählt, dass die Schüler: innen davon ausgehend durch logisches Denken die Zuordnungen zu den noch freien Feldern herausfinden können. Zur Binnendifferen‐ zierung kann die Lehrkraft bei Bedarf weitere Lösungen als Hilfestellungen herausgeben: A: Zimmer, Teppich, Museum, Stelle; B: groß; C: bau(en), mach(en), wohn(en); D: mit; E: Wohnzimmer; F: Wohnzimmerteppich; G: Großbaustelle; H: Mitmachmuseum Die hier vorgestellten Arbeitsblätter können Sie unter Z-010 einsehen. Abb. 11.3: Arbeitsblatt zum induktiven Erkunden der Wortbauregeln 4 260 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="262"?> Durch den Vergleich der Bauwerke und der Wörter erschließen die Lernenden sich die Struktur der Wortbauwerke und die beiden grundlegenden Strukturprinzipien, die sie im anschließenden Wörterbauen direkt umsetzen können und abschließend als Bauregeln verschriftlichen. Spielerisches Handeln (das Bauen als solches) und reflektierendes Entdecken (Strukturentscheidungen, Vergleiche, Beobachtungen) sind somit stets verschränkt: Das Wörterbauen ist nicht möglich, ohne zugleich die ent‐ sprechenden Analyseschritte vorzunehmen: Das Binaritätsprinzip kommt zum Beispiel beim Bauen ‚in die Höhe‘ zum Tragen. Hierbei werden Zwischenebenen eingezogen, die als Verbindung von jeweils zwei Wortsteinen dienen. Auch der lange Baustein, der als Fundament für das Wortbauwerk dient, verbindet stets zwei Wortbausteine. Die Zwischenebenen und das Fundament erweisen sich im Bauprozess als genauso fundamental wie das Binaritätsprinzip in der Wortbildung: Ohne sie verlieren die gebauten Wörter ihre Stabilität. Das Kopf-rechts-Prinzip wiederum wird für die Schüler: innen visuell erfahrbar: die Farbe der Zwischenebenen und des Fundaments entspricht stets dem Baustein, der darauf jeweils ganz rechts platziert ist. 11.4 Wortbauwerke hier und anderswo: Konkretisierung einer Unterrichtsstunde Im Folgenden wird eine beispielhafte Umsetzung des Ansatzes in einer Doppelstunde vorgestellt, anhand der das selbstentdeckende Erkunden der Wortbildungsmuster mit Klemmbausteinen verdeutlicht wird. Die Unterrichtsstunde zeigt exemplarisch auf, wie in einer sprachlich heterogenen Gymnasialklasse Schüler: innen mit unter‐ schiedlichen Herkunftssprachen in die vertiefende, visuell-haptische Erkundung der Wortbildungsmuster einbezogen werden können und wie dieser Einbezug einer sprachvergleichenden Komponente den induktiven Erkenntnisprozess unterstützt. Zur Veranschaulichung werden Beispiele aus dem Italienischen, dem Griechischen, dem Russischen und dem Türkischen herangezogen. Die konkrete Ausgestaltung muss dementsprechend auf die in der Klasse tatsächlich vertretenen Herkunftssprachen der Schüler: innen angepasst werden. Die exemplarische Unterrichtsstunde ist für eine sprachlich heterogene 6.-8. Klasse eines Gymnasiums ausgelegt. Sie setzt die Kenntnis der Wortarten (zumindest Nomen, Verb, Adjektiv und Präposition) sowie ein vorhergehendes Erarbeiten der grundlegenden Bauprinzipien deutscher Komposita, z. B. anhand des Arbeitsblattes in Abb. 11.3, voraus. DaZ-Lernende können die Aufga‐ ben mit Hilfestellung durch ihre muttersprachlichen Klassenkamerad: innen ab dem Sprachniveau A2 bewältigen. Die Doppelstunde leistet einen Beitrag zum Erwerb morphologischer Bewusstheit: Die Schüler: innen lernen, die morphologische Struktur deutscher Komposita in Bau‐ steinmodellen nachzubilden und stellen dabei Vergleiche zu Wortbildungsprinzipien in anderen Sprachen her. Durch den Einbezug ihrer Herkunftssprachen können die Schüler: innen ihre eigene sprachliche Identität reflektieren und erfahren eine Wertschätzung derselben. Abgerundet wird die Doppelstunde durch einen Blick auf 261 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung <?page no="263"?> die Wortbedeutungen von Komposita und durch eine sprachpraktische Übung, einen abschließenden Wortbauwettkampf, bei dem die Schüler: innen Komposita bauen und bilden. Einstieg: Der Einstieg in das sprachvergleichende Bauen deutscher Komposita erfolgt über die Betrachtung unterschiedlicher realer Bauwerke, die die Lehrkraft am elektronischen Whiteboard oder am Overheadprojektor präsentiert. Um den spielerischen Charakter der Lerneinheit bereits im Einstieg einzuführen, kann dieser als Ratespiel gestaltet werden: Den Schüler: innen werden bekannte oder landestypische Bauwerke präsen‐ tiert und sie erraten das Land (oder den Kontinent), in dem diese Bauwerke stehen. Schüler: innen mit Migrationshintergrund können Bilder entsprechender Bauwerke aus ihrem Herkunftsland mitbringen. Die Lehrkraft leitet anschließend zum Thema der Stunde über, indem sie die Frage aufwirft, ob sich Wörter unterschiedlicher Sprachen so wie Bauwerke unterschiedlicher Länder durch ihre Bauprinzipien identifizieren und unterscheiden lassen. Dies wird in der anschließenden Erarbeitungsphase von den Schüler: innen selbstständig überprüft. Erste Erarbeitungsphase: Die Lernenden bilden Kleingruppen, in denen sie die Struktur von deutschen sowie anderssprachigen Komposita als Klemmbausteinmodelle nachbauen und die resultie‐ renden Wortbauwerke vergleichen. Jeder Gruppe sollte in der Erarbeitungsphase eine Kiste mit Klemmbausteinen sowie Etiketten und Stifte zum Beschriften der einzelnen Wortsteine zur Verfügung stehen. Um genügend Platz für die Beschriftung zur Verfügung zu haben und auch um die abschließende Ergebnissicherung im Plenum zu vereinfachen, empfiehlt es sich, auf möglichst großformatige (für Kleinkinder bestimmte) Klemmbausteine zurückzugreifen. In dieser ersten Erarbeitungsphase, die den Einstieg in die sprachvergleichende Arbeit mit den Klemmbausteinen darstellt, sollten zunächst nur zweigliedrige, leicht zu analysierende Komposita verwendet werden, wobei darauf zu achten ist, dass diese aus unterschiedlichen Wortarten zusammengesetzt sind (Bsp. Kaffeetasse, grasgrün). Zunächst sollte auf Komposita mit Fugenelementen verzichtet werden. Werden diese in einem zweiten Schritt für weiter fortgeschrittene Lerngruppen hinzugezogen, so ist zunächst auf Wörter zurückzugreifen, bei denen das Fugenelement nicht der Pluralendung des betreffenden Wortes entspricht (Bsp. Geburtsort), um einer Fehlklas‐ sifizierung durch die Schüler: innen vorzubeugen. Beim Anfertigen der Baumodelle der deutschen Komposita sowie der entsprechenden Wörter in den Herkunftssprachen wird schnell auffallen, dass die deutschen Komposita in anderen Sprachen strukturell unterschiedlich realisiert werden, z. B. durch Ableitungen mit Prä- oder Suffixen, durch Wortgruppen oder aber durch ein wortbildungsmorphologisch einfaches Wort. Zur Beförderung des Analyse- und Vergleichsprozesses werden die Lernenden in dieser Phase angehalten, möglichst sparsam mit den Steinen umzugehen, und jeweils zu prüfen, ob für jede Sprache ein eigenes Bauwerk angefertigt werden muss oder ob ein 262 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="264"?> Modell ggf. für mehrere Sprachen passt. Bei der anschließenden Ergebnispräsentation im Plenum können Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den betrachteten Sprachen genutzt werden, um die beiden grundlegenden Wortprinzipien des Deutschen zu formulieren. So kann z. B. anhand dreigliedriger Strukturen wie im Italienischen (tazzina da caffè ‚Tasse von Kaffee‘) oder Griechischen (φλιτζάνι του καφέ ‚Tasse des Kaffees‘) das Binaritätsprinzip deutscher Komposita thematisiert werden, vgl. dazu Abb. 11.4. Abb. 11.4: Diskussion des Binaritätsprinzips anhand von dreigliedrigen Strukturen wie ital. tazzina da caffè ‚Tasse von Kaffee‘ Andere Herkunftssprachen bieten wiederum andere Vergleichsmöglichkeiten. Rus‐ sischsprachige Schüler: innen werden zum Beispiel feststellen, dass ihre Sprache zwei Möglichkeiten bietet: eine Adjektivkonstruktion (kofejnaja čaška ‚kaffeige Tasse‘) oder eine Modifikation durch eine Präpositionalphrase (čaška dlja kofe ‚Tasse für Kaffee‘). Im Türkischen erfolgt die Bildung kahve fincanı (‚Kaffee Tasse-SUFFIX‘) durch Hinzunahme des Suffixes -ı, das die Verbindung der beiden Nomen markiert. Abb. 11.5: Bauwerke für das Wort grasgrün in unterschiedlichen Sprachen (von links: Deutsch, Italie‐ nisch, Russisch, Griechisch, Türkisch) Das Kopf-rechts-Prinzip der deutschen Wortbildung wird beim Betrachten der Wort‐ baumodelle durch die verwendeten Farben sichtbar: Italienischsprachige Schüler: innen könnten dabei feststellen, dass in ihrer Sprache das linke Bauteil die Farbe des Fundaments darunter (= die Wortart) bestimmt, während im Deutschen das rechte Bauteil wortartbestimmend ist. Die Anweisung, möglichst sparsam zu bauen, begüns‐ tigt hierbei das Entdecken des Kopf-rechts-Prinzips: Die Schüler: innen stellen im Bauprozess fest, dass sie das Modell für das deutsche Kompositum grasgrün einfach umdrehen können und dadurch das entsprechende italienische Wort verde prato erhalten. Kopf-rechts-Prinzip im Deutschen vs. Kopf-links-Prinzip im Italienischen werden durch den Umdrehprozess erfahrbar, s. die beiden linksstehenden Modelle in Abb. 11.5. Türkischsprachige Deutschlernende werden dagegen feststellen, dass die Bildung zwar genauso rechtsköpfig ist wie im Deutschen, dass aber zusätzlich 263 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung <?page no="265"?> ein Wortbildungsmorphem hinzutritt (çim yeşili, Gras grün-SUFFIX‘). Im Russischen wird, noch einmal anders, eine Adjektivkonstruktion verwendet (travjan+sito-zelenyj ‚grasartiges grün‘). Im Griechischen schließlich gibt es kein Kompositum, das die Bedeutung von grasgrün hat - stattdessen gibt es ein morphologisch einfaches Adjektiv (πράσινο). Beim Bauprozess unterstützen die Baustein-Farben das Erkunden weiterer morpho‐ logischer Unterschiede. Die Schüler: innen werden durch einen Blick auf die Farben der Wortbauwerke zum Beispiel feststellen, dass das Deutsche häufig komplett rote N+N-Komposita bildet, während Wortbauwerke im Russischen oftmals mehrfarbig sind: Die präferierte Struktur ist hier Adj+N, wobei das Adjektiv selbst durch Ver‐ wendung eines Adjektiv-Suffixes aus einem Nomen abgeleitet ist: kofej+naja čaška (N+Adj-SUFFIX+N) ‚kaffeige Tasse‘etc. Auch das Türkische verwendet meist spezifi‐ sche Suffixe, wie im Beispiel ganz rechts in Abb. 11.5 das Possessivsuffix -i. Die Ergebnisse der ersten Erarbeitungsphase sollten ausgehend von den Beobach‐ tungen der Lernenden in einem Heftaufschrieb verschriftlicht werden, in dem anhand von Schülerbeispielen festgehalten wird, dass die im Deutschen bestehenden Wortbil‐ dungsprinzipien (Binaritäts- und Kopf-rechts-Prinzip) in anderen Sprachen zum Teil nicht gelten. Zweite Erarbeitungsphase: In einer zweiten Erarbeitungsphase widmen sich die Lernenden einer spielerischen Erkundung der Semantik deutscher Komposita. Dies ist gerade deshalb wichtig, weil es DaZ-Lernenden oftmals schwerfällt, die Bedeutung eines Kompositums aus seinen Bestandteilen zu ermitteln (s. Abschnitt 11.2 oben), d. h. die morphologische Analyse als Schlüssel zum Wortverstehen zu nutzen. Das Verständnis deutscher Komposita wird durch deren semantische Unterbestimmtheit zusätzlich erschwert (erinnere die unterschiedliche Bedeutungskomposition der -schuhe-Komposita in Abschnitt 11.1). Die an der Oberfläche formal nicht gekennzeichneten semantischen Relationen müssen von den Lernenden erschlossen werden. Diese Herausforderung wird in der zweiten Erarbeitungsphase durch das paraphrasierende Beschreiben deutscher Wortbauwerke angegangen. Hierfür erklären die Schüler: innen zunächst die Bedeutung der deutschen Kompo‐ sita Holzhaus, Baumhaus, Vogelhaus, Landhaus, Strandhaus im Vergleich zu deren Übersetzungen in ihren Herkunftssprachen. Dabei stellen sie zum Beispiel fest, dass in ihren Herkunftssprachen die Bedeutung jeweils durch unterschiedliche Strukturen ausgedrückt wird. So werden z. B. im Italienischen Präpositionen verwendet, die die Beziehung zwischen den beiden Teilelementen näher spezifizieren, s. Abb. 11.6. 264 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="266"?> Was Komposita bedeuten können Viele Komposita haben dieselbe Struktur (z. B. Nomen+Nomen). Ist die Bedeutung dann auch immer gleich aus den Teilen zusammengesetzt? Fülle die Tabelle aus und finde es heraus! Deutsches Wort Baumodell (Skizze) Übersetzung Übersetzung der Übersetzung Umschreibung Beobachtung zur Bedeutung Holzhaus casa di legno Haus von Holz Haus aus Holz Im Deutschen setzt sich die Bedeutung unterschiedlich aus den Teilen zusammen. Im Italienischen wird die unterschiedliche Bedeutungszusammensetzung in der Struktur sichtbar: Es werden unterschiedliche Präpositionen verwendet. Baumhaus casa sull’albero Haus an Baum Haus im Baum Vogelhaus casetta per uccelli Haus für Vögel Haus für Vögel Landhaus residenza di campagna Haus vom Land Haus auf dem Land Strandhaus residenza marittima maritimes Haus Haus am Strand Abb. 11.6: Arbeitsblatt (mit möglicher Schülerlösung): Die Bedeutung von Komposita einer Bauart sprachvergleichend erschließen Dagegen werden türkischsprachige Schüler: innen evtl. bemerken, dass in ihrer Sprache oftmals einfach ein Possessivsuffix verwendet wird; dass die Art der Possessivbeziehung dann aber auch im Kontext erschlossen werden muss. Die Lernenden stellen so sprach‐ vergleichend fest, dass die Bedeutungsbeziehung zwischen den beiden Elementen eines Kompositums im Deutschen nicht grammatisch festgelegt ist, sondern dass sie durch den Kontext und das Weltwissen bestimmt wird: Obwohl Holzhaus, Baumhaus, Ferienhaus, Vogelhaus, Sommerhaus und Landhaus durch das gleiche Bausteinmodell abgebildet werden, ist die Bedeutungsbeziehung zwischen den beiden Bauelementen jeweils unter‐ schiedlich. Die Schüler: innen stellen im Vergleich zu ihren Herkunftssprachen fest, dass dies eine Besonderheit des Deutschen ist und lernen, die Bedeutung in Paraphrasen durch Präpositionalphrasen oder Relativsätze eindeutig anzugeben (z. B. ‚Haus aus Holz‘, ‚Haus, das aus Holz gebaut ist‘), s. die beispielhafte Schülerlösung in Abb. 11.6. Abschluss - Bauwettkampf: Um die sprachreflexiv ausgelegte Unterrichtsstunde um eine sprachproduktive Kom‐ ponente zu erweitern, wird ein abschließender Wortbauwettkampf in zwei Gruppen im Plenum durchgeführt. Hierbei werden die Lernenden Wortbaumeister: innen - sie 265 11 Wörter bauen: Ein visuell-haptischer Zugang zur Wortbildung <?page no="267"?> bilden und bauen komplexe Wörter nach vorgegebenen Gewinnbedingungen. Der Ablauf kann wie folgt gestaltet werden: Die Gruppenmitglieder geben reihum eine Bausteinkiste herum. Der/ die Erste beginnt mit einem morphologisch einfachen Wort, z. B. Arzt, das laut ausgesprochen wird und für das ein Baustein der Kiste entnommen wird. Dieses Wort wird dann sukzessive erweitert: Es muss jeweils mindestens ein neuer Baustein hinzukommen (sowie mindestens ein zusätzliches Stockwerk eingezogen werden): z. B. Tierarzt - Kleintierarzt - Kleintierarztpraxis, s. Abb. 11.7. Wenn jemand keine Erweiterung mehr nennen kann, darf er ein neues einfaches Wort nennen, den Baustein in der Farbe der Wortart wählen, und der Bauprozess startet erneut. Je nach verbleibender Zeit endet der Bauwettkampf nach fünf oder mehr Minuten und es wird ausgewertet: Für jeden korrekt verwendeten Baustein bekommt die Gruppe einen Punkt. Um den Ehrgeiz zu erhöhen, möglichst lange Komposita zu bilden, werden zusätzliche fünf Punkte für jedes Wort mit mindestens zwei Elementen vergeben, zehn Punkte für jedes dreigliedrige Kompositum, fünfzig Punkte für jedes viergliedrige usw. In weiteren Runden können alternative Gewinnkategorien formuliert werden, z. B.: Wer baut das höchste Haus in nur einer Farbe (= Wortart)? Wer baut das bunteste Haus (= Kompositum mit Bestandteilen unterschiedlicher Wortarten)? Abb. 11.7: Ein Wort wächst: Modelle für Tier, Kleintier, Kleintierarzt, Kleintierarztpraxis Aufgaben 1.* Fassen Sie die Herausforderungen zusammen, die sich für DaZ-Lernende im Bereich der Wortbildung ergeben. Nennen Sie konkrete Beispiele, wofür mor‐ phologische Kompetenz benötigt wird. 2.** Überlegen Sie sich für die beiden Erarbeitungsphasen jeweils eine Binnendiffe‐ renzierung für schnellere Gruppen: Schlagen Sie weitere Komposita für die Erarbeitung vor und skizzieren Sie entsprechende Klemmbausteinmodelle. 3.*** Lesen Sie die von Bangel (2018: 241-301) durchgeführten Interviews mit Schüler: innen und die Schlussfolgerungen zum Zusammenhang zwischen mor‐ phologischer Bewusstheit und sprachrezeptiven Fähigkeiten. Sammeln Sie Ar‐ gumente dafür, einen ähnlichen Zusammenhang auch für sprachproduktive Fähigkeiten anzunehmen. Wie könnte der Nutzen morphologischer Bewusstheit für sprachproduktive Fähigkeiten erhoben werden? Download: Stundenverlaufsplan 266 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="268"?> 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen Alexandra L. Zepter Reimen und poetische Formen der Strukturierung und Rhythmisierung von Spra‐ che bieten die Möglichkeit, für Sprachstrukturen sowohl auf lautlicher als auch auf morphologischer und syntaktischer Ebene zu sensibilisieren. Die kognitive Verankerung wird hierbei auf kreativ-spielerische Weise gefördert. 12.1 Gereimte Sprache und (zweit-)sprachliches Lernen Wenn gesprochene Wörter sich reimen, kann man die Wörter und auch die Wort‐ gruppen und Sätze, die sie enthalten, besser im Gedächtnis behalten. Bereits in den Anfängen der Herausbildung von Kulturgemeinschaften in der Menschheitsgeschichte - vor der Verbreitung von Schrift - haben sich Geschichtenerzähler: innen diesen Zusammenhang zunutze gemacht: Geschichten, die mündlich in gereimter Sprache und/ oder durch den Einsatz von weiteren Formen der Strukturierung und Rhythmisierung präsentiert wurden, konnten von den Erzählenden selbst und ebenso von den Zuhörenden leichter erinnert werden. Die Geschichten waren zugänglicher, wurden nachhaltiger als Kulturgut tradiert und von einer Generation zur nächsten überliefert. Angesichts der Flüchtigkeit gesproche‐ ner Sprache, bei der ein Text nicht in der gleichen Weise wie bei Schrift auf Papier fixiert werden kann, liegt es nahe, dass mündliche Gedächtniskulturen Wissen sprachlich nur durch die Entwicklung entsprechender Techniken weitergeben und konservieren konnten und können (vgl. u. a. Assmann & Assmann 1993, Becker-Mrotzek 2003): Probieren Sie es selbst aus: Wenn Sie mit einem Gegenüber sprechen und sie oder er z. B. das Gesagte mehrfach wiederholt (Stilmittel der Redundanz), aufeinanderfolgende Wörter mit gleichem Anlaut beginnen (Alliteration: der Fischer fischt frische Fische) oder Sätze bzw. Wortgruppen mit gereimten Silben enden (Geh nicht da rein, schon gar nicht allein), so wird das Gesagte für Sie leichter zu rezipieren und einprägsamer sein. Silbe und Reim Die über den Einzellaut hinausgehende Grundeinheit von Lautsprachen ist die Silbe. Wörter bestehen aus (mindestens) einer oder mehreren Silben. Eine Silbe umfasst minimal einen Nukleus (Kern), der aus einem, manchmal auch zwei Vokalen (= einem Diphthong) besteht. Vor dem Nukleus kann ein Onset (Anfangsrand) aus einem oder mehreren Konsonanten die Silbe eröffnen; z. B. [ba], [bla], [štra]. Nach dem Nukleus können ebenfalls ein Konsonant oder mehrere Konsonanten folgen; in diesem Fall ist die Silbe geschlossen und hat eine Koda (einen Endrand); vgl. z. B. die gesprochene erste Silbe [man] in Mantel [man.təl] 267 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="269"?> oder das Wort Schlacht, das nur aus einer Silbe besteht: [šlaxt]. Ist die Koda unbesetzt, spricht man von einer offenen Silbe; z. B. [ze: ] in sehen [ze: .ən]. Sprachen unterscheiden sich darin, welche Art von Silbenaufbau sie er‐ lauben. Nicht in allen Sprachen gibt es z. B. Silben mit Endrand oder Sil‐ ben mit mehreren Konsonanten (= Konsonantencluster) in Onset oder Koda. Im Deutschen ist das Spek‐ trum recht breit; man findet alle Kombinationsmöglichkeiten und auch Konsonan‐ tencluster treten häufig auf. Linguistisch analysiert bezeichnet man Nukleus und Koda zusammen als Reim. Wenn zwei Wörter sich reimen, dann müssen minimal in den letzten beiden Silben Nukleus und (wenn vorhanden) Koda - also der linguistische Reim - gleich lauten; vgl. gesprochen fra-gen und neh-men oder auch die Einsilber Haus und Maus, bei denen sich nur der Onset lautlich unterscheidet. Aus poetischer Perspektive kann sich das Reimen aber auch auf mehr‐ silbige Wörter beziehen; wesentlich ist hier für einen reinen Reim der Gleichklang des betonten Vokals und aller folgenden Laute bzw. Sil‐ ben, während der Onset vor dem betonten Vokal variiert: fragen reimt sich auf sagen, Liebe auf Hiebe‚ hässliche auf grässliche etc. Wenn auch die Anfangsränder vor dem betonten Vokal gleich lauten, spricht man auch von einem rührenden Reim (belogen - gelogen); oder, wenn ganze Wörter sich wiederholen, von einem identischen Reim. Die erhöhte Einprägsamkeit gilt auch für die Verbindung von Sprechen mit einem besonderen Rhythmus oder einer Melodie (vgl. Kap. 13); noch zugänglicher wird das Gesprochene, wenn weitere performative Elemente der Korporalität (erinnere Kap. 1.3) bewusst und verstärkt zum Einsatz kommen, also z. B. die passende Gestik und Mimik das Vorgetragene unterstützen. Das Zusammenspiel dieser Komponenten wirkt quasi der Flüchtigkeit des Sprechens entgegen und erleichtert sowohl die Rezeption als auch die Produktion. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass auch beim sprachlichen Lernen der Reim und die bewusste Rhythmisierung und Strukturierung sprachlicher Einheiten förderliche Funktionen erfüllen können. In der frühkindlichen, vorschulischen Phase und im schulischen Anfangsunterricht kommt dabei noch ein weiterer wesentlicher Funktionsbereich hinzu: der Brückenschlag von der Mündlichkeit zum Schriftsprach‐ 268 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="270"?> erwerb. In diesem Rahmen ist nicht nur der Aspekt der Einprägung von sprachlichem Inhalt, sondern im Besonderen auch von sprachlicher Form und Struktur von Belang; und mehr noch, der Aspekt der Bewusstwerdung von sprachlicher Form, Struktur und Medium (gesprochene vs. geschriebene Sprache) spielt ebenfalls eine wesentliche Rolle. Dies sei kurz erklärt: Sprachen unterscheiden sich in Bezug auf ihre Satz-, Wort- und Silbenstrukturen und zeigen unterschiedliche Sprachrhythmen bzw. Betonungs‐ muster in der Gliederung von lautsprachlichen Äußerungen. Aber es lassen sich stets grundlegende Muster auf den verschiedenen Strukturebenen und ebenso bestimmte Rhythmustypen analysieren (vgl. zum Rhythmustyp des Deutschen Kapitel 13, im Sprachenvergleich Bryant & Rinker 2021: 27-31). In kindlichen Abzählreimen, Sprach‐ spielen und Liedern findet sich darüber hinaus eine gezielt angelegte Rhythmisierung und Strukturierung, die quasi zu einer Überstrukturierung und Betonung der grund‐ sätzlich vorhandenen Strukturen und Rhythmen führt - eine Überstrukturierung, die generell poetische Sprache und auch Literatursprache auszeichnet ( Jakobson 1971). Diese Überstrukturierung begünstigt zum einen die lernförderliche kognitive Verankerung der betonten Sprachstrukturen, zum anderen, dass die Struktur an sich in den Fokus der Wahrnehmung gerät. Wir können in diesem Sinne zwei Ebenen unterscheiden, die mit verantwortlich dafür sind, dass man heute nicht nur Vorlesen, sondern auch (mündliches) Erzählen, Liedersingen, Abzählreime und Sprachspiele als Teil des primären Spracherwerbs und als Präliteralisierung bzw. als Grundlage für den Schriftspracherwerb erachtet: Erstens vermitteln Kinderreime rhythmische Strukturen, insofern in betonten Silben zur Markierung von Takten und Verszeilen lautlich Gleiches hervorgehoben und von lautlich Verschiedenem getrennt wird (Kohler 2015: 348). Davon profitieren Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, das geprägt ist durch das Erlernen von Kinderreimen und Gedichten, Vorlesen von Geschichten, von aktiver Kommunikation in der Familie und durch Sprachspiele unter Gleichaltrigen, bei denen es darum geht, Reime zu erkennen und selbst zu produzieren. Kinder, die viele derartige Impulse erhalten, entwickeln ein starkes Bewusstsein für die spezifische lautliche Segmentierung der artikulatorischen Bewegungsabläufe in der betreffenden Lautsprache (Kohler 2015: 349). Dies wiederum kann die Ausbildung von phonologischer Bewusstheit (also die Bewusstheit über Laut- und Silbenstruktur; siehe z. B. Schnitzler 2008) begünstigen. Im Schriftspracherwerb erfüllt die phonologische Bewusstheit eine relevante Funktion, um die Form (die Silben- und Phonemstruktur) von gesprochenen Wörtern einerseits und die Form (die Graphemstruktur) von geschriebenen Wörtern und Buchstabenket‐ ten andererseits voneinander zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. Zur Relevanz der benannten Präliteralisierungsprozesse (ebenso wie von ersten Erfahrun‐ gen und Experimenten mit Schriftsprache) für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb vgl. auch Scheerer-Neumann (2018). Zweitens gilt für (kindliche) Reime und Sprachspiele das Gleiche wie für poetische Sprache und Literatursprache allgemein: Durch ihre Überstrukturierung entsteht eine doppelte Referenz der Texte (vgl. Jakobson 1971). Die Texte verweisen nicht nur auf 269 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="271"?> 1 Vielen Dank an Lotte Weinrich für dieses Beispiel. die Texthandlungen (den Inhalt, die Bedeutung), sondern auch auf deren sprachliche Materialität und Form; das bedeutet, sie verweisen darauf, wie der Inhalt sprachlich ‚gemacht‘ ist und damit auf die Sprache selbst. Für Lernende, die noch am Anfang ihrer Entwicklung in einer Sprache stehen, z. B. indem sie das Deutsche bisher nur oder vorwiegend in mündlichen, alltagssprachlichen Kontexten kennengelernt haben, bietet sich so die Chance für erste Differenzerfahrun‐ gen. Damit ist gemeint: Die Erfahrung anderer Formen von Sprache - einer Sprache, die auf sich selbst verweist und sich klar von alltagssprachlicher Kommunikation unterscheidet - kann auch die Sensibilität für verschiedene Register des Deutschen (Alltagssprache, Literatursprache, Bildungssprache) befördern. Nicht nur für den schulischen Erwerb von Schriftsprache, sondern generell für den Erwerb schulisch relevanter Register (Bildungssprache, Fachsprache) bereitet dies einen möglichen Einstiegsweg. Nicht zuletzt ist der folgende Punkt herauszustellen: Wenn Lernende mit Reimen und Gedichtformen spielerisch und kreativ umgehen, indem sie kleine Formen auch selbst produzieren, wird Entwicklung in der Regel so angeregt, dass sie auch die Freude an Sprache und sprachlicher Varianz hervorrufen und stützen kann. Beobachten Sie dazu Kinder im Vorschulalter: Oft zeigen sie eine scheinbar ‚natürliche‘ Lust zu reimen und mit Sprache zu spielen (Belke 2012b). Im Grundschul- und Jugendalter ist es möglich, an diese Lust anzuknüpfen und sie für die Unterstützung des Lernprozesses zu nutzen. Ein Schüler, der Deutsch als Zweitsprache erwirbt, kommentiert seine Freude während eines DaZ-Förderprojekts im Kölner Raum (NRW) geradezu poetisch: „Ich verkleide mich so gerne in der Sprache.“ 1 Insgesamt lässt sich festhalten: Kognitives Einprägen von sprachlichen Inhalten und sprachlichen Formen/ Strukturen, Sensibilisierung für Sprachstil und Register, Freude daran, poetische Sprache als Ausdrucksmittel für sich selbst zu entdecken - all diese Aspekte sprechen dafür, das kreative Spiel mit Reim und Gedicht auch für die DaZ-Förderung zu nutzen. Insbesondere in den Arbeiten von Gerlind Belke finden sich dazu zahlreiche Anregungen (vgl. u. a. Belke 2001, 2007, 2012a/ b; Kauffeldt et al. 2014). Für einen explizit performativen Zugang lassen sich überdies viele Impulse aus Schindler & Zepter (2017) aufgreifen, die im Rahmen des didaktischen Konzepts TextBewegung entstanden sind. 270 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="272"?> TextBewegung (nach Schindler & Zepter 2017) TextBewegung ist ein Unterrichtsprojektkonzept, das ursprünglich für den Deutschunterricht mit (sprachlich) heterogenen Gruppen allgemein und die ent‐ sprechende Lehramtsausbildung (also nicht explizit für die DaZ-Förderung) entwi‐ ckelt wurde (vgl. Schindler/ Zepter 2009b, 2011b, 2017: 15 ff.). Der Ansatz entstand mit der Motivation, die Lernbereiche Schreiben und Literacy (Schriftlichkeit) innerhalb eines ästhetisch-kreativen, performativen Settings mit den Lernberei‐ chen Mündlichkeit, Bewegung und Darstellung zusammenzuführen. Durch die inhaltliche und/ oder strukturelle Verzahnung von (a) Schreiben, (b) Sprechen und (c) Bewegen und Darstellen soll es den Mitwirkenden ermöglicht werden, sich in ihren kognitiven und körperlichen Ressourcen in balancierter Weise ansprechen zu lassen. Das bedeutet: TextBewegungs-Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Spracharbeit in verschiedenen Medien und Bewegungsarbeit systematisch aufein‐ ander bezogen werden und sich so sprachliche Kompetenzen im Zusammenspiel mit anderen Fähigkeiten entfalten können. Dafür werden in einem Projekt vielfäl‐ tige ästhetisch-kreative Schreib-, Sprech- und Darstellungserfahrungen angebahnt und miteinander gekoppelt. Alle Teilnehmenden verfassen - angeregt durch unterschiedliche Impulse/ Stimuli bzw. Aufgaben - eigene Texte und Bewegungsse‐ quenzen (Choreografien). Für diese Texte und Bewegungssequenzen entwickeln und überarbeiten sie Inszenierungen, durch die sie die Texte allein und mit anderen unter Einsatz von Stimme und Körper darstellen (für Inszenierungstechniken siehe auch Kap. 9; 18 in diesem Band). Ausgangspunkt ist stets die Erfahrungswelt der Teilnehmenden zu einem Rahmen‐ thema (z. B. Sommer, Freundschaft/ Liebe, Fremdheit, Zwischen den Kulturen), die über unterschiedliche Medien, Impulse und Sozialformen Ausdruck erhält. Final werden ausgewählte Texte und Bewegungssequenzen zu einem Gesamtstück col‐ lagenartig zusammengeführt und die Vielfalt der Stimmen in einer gemeinsamen Performance vor Publikum auf die Bühne gebracht. In diesem Sinne fokussiert das didaktische Konzept im Original auf Projekte, die in der Schule im Rahmen einer Projektwoche, einer Ferienschule oder einer Nach‐ mittags-AG, in der Hochschule in einem Kompaktseminar o. Ä. umzusetzen sind. Aber es sind auch kleinere, niederschwellige Formen möglich. So stellen Schindler & Zepter (2017) zahlreiche Beispiele vor, die in den Regelunterricht integriert und nach einem Baukastenprinzip miteinander kombiniert werden können. ‚Auf die Bühne bringen‘ kann dann auch bedeuten, dass sich Schüler: innen gegenseitig in der Klasse oder Parallelklasse ihre Ergebnisse vorführen; entscheidend ist die Präsentation vor anderen und die damit verbundene Würdigung. Lehrmethodisch (performativ) verknüpft TextBewegung vorrangig Verfahren des kreativen Schreibens und des Tanztheaters nach Pina Bausch (vgl. ebd.: Kap. 1.3) und fügt diese zusammengefasst in drei Phasen (ebd.: 16 ff.): 271 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="273"?> 1. Improvisation: In der ersten Phase wird zu vorgegebenen Impulsen (allein, zu zweit, in der Gruppe) kreativ geschrieben und tanztheatral improvisiert; Letzteres bezieht Mündlichkeit mit ein. So entstehen erste Texte und Bewe‐ gungssequenzen, die stets von den Teilnehmenden selbst gestaltet sind. 2. Überarbeitung und Weiterentwicklung: In der zweiten Phase werden die schriftlichen und mündlichen Text- und Bewegungsprodukte überarbeitet und mit Blick auf alternative Inszenierungsmöglichkeiten weiterentwickelt. 3. Performance: In der dritten Phase wird das geschöpfte Material zu einer Performance zusammengestellt und auf die Bühne gebracht. Der folgende Abschnitt stellt exemplarisch drei kleine Formen der poetischen Struk‐ turierung und Rhythmisierung vor, die sich in der Umsetzung mit TextBewegung bewährt haben und die auch in Unterrichtskontexten mit einem performativen Zugang zu Deutsch als Zweitsprache zum Einsatz kommen können. Kleine poetische Formen wie das Akrostichon oder das Haiku arbeiten mit wenig Text und erlauben bereits bei einem basalen Wortschatz- und Strukturumfang eine kreative Auseinandersetzung. Allgemein kann mit Gedichten und Reimen auf allen Sprachniveaus und Altersstufen gearbeitet werden. Man kann die Produktion einbauen in größere Theaterprojekte (z. B. die Kreation von Zaubersprüchen in Märchen/ phantastischen Geschichten) oder mit jugendlichen Lernenden Poetry Slams veranstalten und analysieren (vgl. Anders 2021). Im DaZ-Kontext ist es möglich, poetische Formen im Rahmen eines freieren Zugangs zur Sprache einzubringen, bei dem die Entdeckung der eigenen Ausdrucksmöglich‐ keiten in der Zweitsprache und die Stärkung des Selbstvertrauens im Vordergrund stehen. Wenn Phasen eines stärker gesteuerten Unterrichts und eine Sensibilisie‐ rung für Sprachstrukturen relevant sind, lassen sich neben eher bedeutungs- und wortschatzbezogenen Zugängen unterschiedliche sprachliche Strukturebenen in den Fokus nehmen: die Produktion von syntaktischen Strukturen nach einem bestimmten sprachspezifischen grammatischen Muster (siehe Kap. 9); der lautliche und silbische Aufbau von Lautstrukturen sowie deren rhythmische Betonungsmuster (Prosodie) und die Artikulation von Wörtern; oder morphologische Strukturen, also Wortbausteine (Morpheme) und deren Kombinationsmöglichkeiten (siehe Kap. 11 und 12.3). 12.2 Kleine Formen der poetischen Strukturierung und Rhythmisierung von Sprache Das Akrostichon ist eine poetische Versform, bei der die Anfangslaute oder Anfangs‐ buchstaben jeder Zeile zusammen ein eigenes Wort oder, wie in dem folgenden Beispiel, einen Namen ergeben: 272 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="274"?> Für den Unterricht mit DaZ-Lernenden bietet sich das Akrostichon an, weil es sowohl mit sehr wenig Text und nur einzelnen Wörtern für jede Zeile als auch mit längeren, komplexeren Sätzen gefüllt werden kann. Derart hält es für jedes Sprachniveau und jede Altersstufe Möglichkeiten der kreativen Elaboration bereit (für einen Eigen‐ versuch siehe Kap. 10, Aufgaben). Überdies lässt sich im schriftlichen Medium mit der graphischen Gestaltung experimentieren, in der medialen Mündlichkeit mit der Inszenierung der Präsentation (zu didaktischen Vorschlägen zur Inszenierung von poetischen Texten siehe Kap. 9). Mit Lernenden, die noch am Anfang ihres DaZ-Erwerbs stehen, und/ oder wenn eine Gruppe noch nicht lange miteinander arbeitet und der Wunsch besteht, sich besser kennenzulernen, kann man z. B. Akrostichons zum eigenen Vornamen mit Adjektiven, die die eigene Person beschreiben, verfassen (in der einfachsten Form fasst jede Zeile ein Adjektiv). Gut kombinierbar ist dies mit einem Raumlauf (vgl. Kap. 19.3.), der sich an die Akrostichon-Produktion anschließt: Die Schüler: innen bewegen sich zu Musik durch den Raum. Wenn die Musik stoppt, sucht jede in der unmittelbaren Nähe einen Partner und beide Gegenüber tragen sich wechselseitig ihr Akrostichon vor. Dabei sind zwei Varianten möglich, die zweite fügt eine Herausforderung auf der Ebene der Rezeption hinzu: In der ersten, einfacheren Variante nennt die Vortragende am Anfang oder am Schluss den eigenen Vornamen, der dem Akrostichon zugrunde liegt. In der Zweiten muss die Zuhörende den Namen aus dem Vortrag erschließen, also die Anlaute der gehörten Adjektive zu einem Vornamen zusammensetzen. Variieren lässt sich die Aufgabe dadurch, dass man für eine andere Person ein entsprechendes Akrostichon verfasst. In diesem Fall dient der Raumlauf als Ausgangs‐ punkt: Treffen zwei Schüler: innen aufeinander, tauschen sie sich zunächst miteinander aus. Beide versuchen, sich selbst ihrem jeweiligen Gegenüber mit kurzen Worten zu beschreiben. Es gibt mehrere Raumlauf-Durchgänge, bis alle sich untereinander 273 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="275"?> 2 In der ursprünglichen japanischen Form werden für das Haiku nicht Silben, sondern Moren oder einmorige Silben gezählt, da das Japanische fast nur einmorige Silben aufweist. Eine More (oder Mora) ist eine offene Silbe, bei der der Nukleus nur aus einem kurzen Vokal besteht, oder eine geschlossene Silbe mit kurzem Vokal im Nukleus und höchstens einem Konsonanten in der Koda (vgl. Bußmann 2002: 448). getroffen haben. Anschließend erhält man wie beim Wichteln eine Person (entweder durch Losen oder die Lehrkraft bereitet im Vorfeld die Verteilung vor) und für diese Person kreiert man als ‚Geschenk‘ ein freundschaftliches Namen-Akrostichon (zu dem Thema, was man an ihr besonders toll und bewundernswert findet). In ähnlichen Settings kann man das Akrostichon nicht nur für poetische Kurztexte, sondern ebenso für einen eher sachlich/ fachlich orientierten Zugang nutzen. So lassen sich z. B. mit dem gleichen Strukturierungsmuster im sprachsensiblen Biologie‐ unterricht Tiere oder Pflanzen in ihren wesentlichen Merkmalen beschreiben. Die Anfangslaute der Zeilen bilden dann den Namen/ Fachterminus des Tiers oder der Pflanze. Auch hier kann ein Raumlauf mit wechselnden Paartreffen dazu dienen, dass sich die Schüler: innen ihre Kurzbeschreibungen verschiedener Tiere/ Pflanzen (einer Tiergattung, Pflanzengruppe) gegenseitig vorstellen. Letztlich kann man Akrostichons für diverse Themen, Begriffsbeschreibungen oder auch Merksätze weiterdenken. Eine in der Konzeption komplexe, in der Gestalt aber sehr kurze Form ist das (ursprünglich aus Japan stammende) Haiku. Das Muster fasst genau drei Zeilen, die erste Zeile besteht insgesamt aus fünf Silben, die zweite aus sieben Silben, die dritte wieder aus fünf Silben: 2 Bei der Produktion von Haikus kommt es also darauf an, Silben zu zählen und ein Gespür für die silbische Segmentierung in einer Sprache zu entwickeln. Beim kreativen Ausprobieren und Finden von passendem Wortmaterial geht das am besten, wenn man sich die Zeilen laut vorspricht und sie in diesem Sinne als ‚sinnliches‘ Gebilde erfährt und auslotet. DaZ-Lernende müssen schon etwas weiter fortgeschritten sein und über ein gewisses Wortrepertoire verfügen, um hier kreativ(er) werden zu können. 274 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="276"?> Allerdings zeigt das dritte Beispiel der Haikus zum Thema Zeit, dass auch mit einfachem Wortmaterial viel möglich ist. Darüber hinaus bieten sich Haikus in ihrer Kürze an, um das Vortragen und laute, deutliche Sprechen an sich zu üben. Dafür können auch nicht-selbst-verfasste Haikus verwendet werden. Gerade wenn Sie bemerken, dass Ihre (DaZ-)Schüler: innen z. B. in Morgenkreisen oder anderen Kontexten, in denen es gilt, vor der Klasse/ zu einer größeren Gruppe zu sprechen, sich eher schüchtern verhalten, leise sprechen, nuscheln o. Ä. und akustisch schwer zu verstehen sind, stellt das Haiku eine kleine, kompakte Einheit bereit, mit der sich üben lässt, beim Sprechen mutiger zu sein und sich Gehör zu verschaffen. Am besten spricht man zunächst gemeinsam darüber, was beim Vortragen wichtig ist, und sammelt relevante Aspekte: (die einzelnen Worte) laut genug und deutlich sprechen (allerdings auch nicht zu laut), den Körper aufrichten und zu den Zuhörenden sprechen, die Zuhörenden anschauen etc. (vgl. Kap. 9). Beim anschließenden Üben vergrößert man die Zuhörerschaft dann schrittweise: Man übt den Vortrag erst zu zweit, dann zu dritt oder zu viert, dann in einer größeren Gruppe. Die jeweils Zuhörenden geben konstruktives Feedback, an welcher Stelle und wie sich das Vortragen noch verbessern lässt. Im Rahmen der Sprachreflexion offeriert das Haiku nicht zuletzt eine interessante sprachliche Einheit, um über die Unterschiedlichkeit verschiedener Sprachen und die Herausforderungen beim Übersetzen von einer Sprache in die andere nachzudenken. Versucht man z. B. das obige Beispiel des spanischen Haikus zum Thema Zeit ins Deutsche zu übertragen, wird man schnell feststellen, dass die Schwierigkeiten bzw. sprachlichen Differenzen sowohl auf inhaltlicher (semantischer) als auch auf struktu‐ reller (silbischer) Ebene liegen. In Gruppen mit älteren DaZ-Lernenden (SEK I/ II) kann man nach Haikus in den verschiedenen Erstsprachen recherchieren und diese zum Ausgangspunkt sprachenübergreifender Vergleiche machen. Das dritte und letzte Beispiel, auf das dieser Abschnitt eingeht, ist der Zungenbrecher (übernommen aus Schindler & Zepter 2017: 92 ff.): 275 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="277"?> Zungenbrecher sind Wortfolgen (oft Sätze), die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre Aussprache - insbesondere, wenn die Schnelligkeit erhöht wird - schwierig ist und häufig misslingt (auch in der Erstsprache). Die Laute (Phoneme) und Silben in den Wortfolgen sind so kombiniert, dass sie sich zum Teil überproportional oft wiederholen und zum anderen Teil, wo sie sich de facto unterscheiden, nichtsdestotrotz sehr stark ähneln, also entweder auf ähnliche Weise oder an ähnlichen Stellen im Mundraum pro‐ duziert werden. Um es noch schwerer zu machen, kann die Reihenfolge leicht variieren. So ist die übergeordnete Textstruktur meist dadurch gekennzeichnet, dass entweder ein (längerer) Satz oder zwei Sätze produziert werden, die spiegelbildlich aufgebaut sind. Durch die Dichte von Wiederholung und Variation bieten Zungenbrecher viele Anknüpfungspunkte für die Sprachförderung sowohl im Bereich der artikulatorischen Phonetik als auch der Orthografie: Bei dem im deutschen Raum vielleicht bekanntesten Zungenbrecher „Fischers Fritz fischt frische Fische. Frische Fische fischt Fischers Fritz“ wechseln sich z. B. mit minimaler Variation die Folge Frikativ [f] plus Vibrant [r] und einfacher Frikativ [f] ab. Gerade Zungenbrecher mit Konsonantencluster (hier [fr], [ts], [št]) sind eine gute und lustige artikulatorische Übung für Lernende, deren Herkunftssprache keine Konsonantencluster aufweist. Generell basieren Zungenbrecher gerne auf Alliterationen; die Worte beginnen also jeweils mit demselben Laut und variieren im Anschluss, wie z. B. in: „Am Zehnten Zehnten um zehn Uhr zehn zogen zehn zahme Ziegen zehn Zentner Zucker zum Zoo“. Der Ziegen-Zungenbrecher ist auch deshalb interessant, weil er zeigt, dass die Affrikate [ts] in der deutschen Schrift in der Regel mit dem Graphem <z> korrespondiert. Beliebt ist überdies die syntaktische Reihung von verschiedenen, (fast) gleichlautenden Wort‐ arten. Bei kompletter Gleichlautung zeigt sich die Differenz u. U. im Geschriebenen, ist aber im Gesprochenen nicht erkennbar; so etwa in dem Fliegen-Zungenbrecher, der gleichlautende Nomen und Verben so kombiniert, dass man leicht die Übersicht über die Wortfolge verliert: „Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen, dann fliegen Fliegen Fliegen hinterher“. In der geschriebenen Form kann er auch im Rahmen einer Sensibilisierung für die satzinterne Großschreibung genutzt werden. Zungenbrecher schnell zu sprechen macht Spaß und kann zu einem Sprach-Wett‐ bewerb werden. Selbst für professionelle Sprecher: innen gelten sie als sinnvolle Artikulationsübung. Da die produzierten Sätze oftmals inhaltlich nicht besonders komplex oder sinnvoll sind, eignet sich das Format insbesondere für die kreative Gestaltung, und dies ebenso für DaZ-Schüler: innen jeder Altersstufe. Man kann damit beginnen, zunächst einige bekannte Zungenbecher im Deutschen vorzustellen und einzuüben. DaZ-Lernende können Zungenbrecher aus ihren jeweili‐ gen Erstsprachen einbringen und sich probeweise gegenseitig beibringen. Sinnvoll ist es überdies, nicht nur Wortmaterial aus bekannten Zungenbrechern zur Verfügung zu stellen, sondern darüber hinaus gemeinsam Wörter des Deutschen zu sammeln, die für die Schüler: innen jeweils individuell schwierig auszusprechen sind. Damit verbinden lässt sich die Reflexion darüber, was Zungenbrecher allgemein ‚schwer‘ macht. Darauf 276 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="278"?> aufbauend folgt der improvisierende, kreative Prozess, bei dem mehrere (zwei bis vier) Schüler: innen gemeinsam einen eigenen Zungenbrecher entwickeln. Neben den zuvor gesammelten schwer artikulierbaren Wörtern, kann ein Wandplakat wie in Abb. 12.1 die Produktion unterstützen: Abb. 12.1: Wandplakat ‚Was ist ein Zungenbrecher? ‘ (Schindler & Zepter 2017: 95) Den Abschluss bildet nach ausreichend Einübung der Zungenbrecher-Kreationen die gegenseitige Präsentation, verknüpft mit der Erprobung durch die anderen Gruppen und ggf. einem Wettbewerb um den besten (‚schwersten‘) Zungenbrecher und den gelungensten Vortrag. Grundsätzlich ist zu betonen, dass Zungenbrecher allgemein nur verständlich sind, wenn möglichst klar artikuliert wird. Gerade das macht sie interessant für die DaZ-Förderung, wenn Artikulation mit im Fokus stehen soll. Es bedeutet jedoch auch, dass genügend Zeit für das Üben einzuplanen ist. 12.3 Reimen und Wortbildung, Derivation mit -bar: Beispielstunde Dieser Abschnitt stellt abschließend zwei aufeinander aufbauende Doppelstunden (ca. 180 Min. gesamt) vor, bei der keine klassische poetische (Klein-)Form zum Einsatz kommt, sondern im Rahmen eines gesteuerten Zugangs auf das Reimen mit dem Suffix -bar fokussiert wird. Das bedeutet, sprachsystematisch stehen Adjektive (wie greifbar, dehnbar etc.) im Mittelpunkt, die über den Wortbildungsprozess der Derivation (Suffigierung) zu bilden und als Adjektive über den am Ende des Wortes stehenden Wortbaustein (das Suffix -bar) zu erkennen sind. Exemplarisch fällt die Wahl auf bar-Adjektive, da sie sich im Besonderen für eine erste Sensibilisierung in Bezug auf Derivation anbieten. Das Suffix -bar ist auch im heu‐ tigen Standarddeutsch noch produktiv und das Wortbildungsmuster vergleichsweise einfach. Als Basis für den Stamm sind nur Verben und vorrangig transitive Verben möglich: Mit dem Verbstamm greiflässt sich das Adjektiv greifbar bilden. Semantisch entspricht das Bildungsmuster einer Konstruktion mit dem Modalverb können: Was kann man greifen? = Was ist greifbar? → X kann man greifen. = X ist greifbar (vgl. Bryant & Rinker 2021: 50); ebenso: Was kann man nicht erreichen? = Was ist nicht erreichbar? → X kann man nicht erreichen. = X ist nicht erreichbar. Zudem gibt es viele bar-Adjektive sowohl mit konkreter als auch mit abstrakter Bedeutung (Das Buch ist in greifbarer Nähe. vs. Die Lösung ist greifbar.). Für den Gebrauch 277 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="279"?> von bildungs- und fachsprachlichen Registern sind die Differenzierungsfähigkeit und das Verstehen von abstrakter Bedeutung und von Generalisierungen zentral (vgl. Kap. 4.3). Letzteres ist der Wortbildung mit dem Suffix -bar grundsätzlich inhärent, da, was greifbar etc. ist, generell/ für alle greifbar ist (→ X kann man greifen.). Neutralisierbar ist die Generalisierung nur durch den Zusatz von für mich o. Ä. (→ X ist für mich greifbar.). Die folgenden zwei Doppelstunden zeigen einen performativen Zugang zur Deriva‐ tion mit dem Suffix -bar, der insgesamt sechs Unterrichtsphasen umfasst; für jede Phase sind ungefähr 30 Minuten einzuplanen. Die Lernenden (5./ 6. Jahrgangsstufe; oder auch älter) sollten sich mindestens auf dem Sprachniveau B1 befinden. Aus der performativen Perspektive ist es sinnvoll, stets beim Konkreten zu beginnen und Bedeutungen durch den körperlich-sinnlichen Zugang erfahrbar zu machen und zu erschließen. In der ersten Doppelstunde steht daher im Mittelpunkt, was mit dem eigenen Körper machbar und nicht machbar ist. Phase I: Einstieg: das Bildungsmuster am Beispiel des Verbs erreichen nachvollziehen Es wird ein Spiel gespielt: Alle stehen im Kreis. Jeder hat ausreichend Platz um sich herum, um die Arme auszustrecken. Die Lehrkraft (LK) erklärt zunächst die Regeln des Spiels: Jeder stellt sich vor, dass die Fußsohlen am Boden festgeklebt sind. Die Füße dürfen also während des Spiels nicht gehoben werden und man darf sich nicht vom Platz wegbewegen. Alle anderen Bewegungen sind möglich; man darf sich auch auf den Boden legen, solange zumindest die Fußballen am Platz bleiben. Im ersten Schritt spricht die LK und führt die Bewegung gleichzeitig aus. Die Schüler: innen (SuS) wiederholen die Bewegung und sprechen im Chor nach: „Was kann man jetzt noch mit der rechten Hand erreichen? - Den eigenen Kopf kann man erreichen. Der eigene Kopf ist erreichbar. - Die rechte Schulter kann man erreichen. Die rechte Schulter ist erreichbar. - Das linke Knie kann man erreichen. Das linke Knie ist erreichbar. - Die Zehen kann man erreichen. Die Zehen sind erreichbar. - …“ Die LK spielt dies mit verschiedenen Körperteilen durch. Man kann auch statt der rechten Hand die linke einsetzen oder ausprobieren, was mit dem Ellbogen, der Nase, dem Ohr etc. erreichbar ist. Im zweiten Schritt wird der Radius erweitert und man nimmt Punkte im Raum hinzu, die nicht erreichbar sind. Hier wird der Versuch gemacht, der aber nicht gelingt: „Oh, aber die Mitte des Kreises kann man nicht erreichen (auch wenn man sich auf den Boden legt). Die Mitte des Kreises ist nicht erreichbar. - Die Decke kann man nicht erreichen (auch wenn man sich ganz lang nach oben streckt). Die Decke ist nicht erreichbar. - …“ Auch dies wird mit verschiedenen Punkten im Raum (die Wand auf der rechten Seite, der übernächste Nachbar etc.) und mit verschiedenen Körperteilen durchgespielt. Zur weiteren Sicherung kann eine Frage-Antwort-Runde gespielt werden. Dafür richtet die LK die Frage an eine Schülerin, diese führt die Bewegung aus bzw. versucht, sie auszuführen, beantwortet die Frage und stellt dann ihrerseits eine neue Frage nach dem gleichen Muster an einen anderen Schüler usw. (jede Schülerin sollte mindestens einbis zweimal Sprechgelegenheit erhalten): „Malia, kann man mit der rechten Hand das linke Knie erreichen? - Ja, das linke Knie ist erreichbar. - Roman, kann man mit der 278 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="280"?> 3 Die Bestimmung der Reimform muss die LK im Unterricht nicht explizit machen; sie sollte sie jedoch im Hintergrund beachten: Auf der Ebene der phonetischen Struktur ist der Wortbaustein (= das Morphem) -bar mit einer Silbe deckungsgleich (was nicht immer der Fall sein muss; vgl. das Präfix unterin unterschreiben, das aus zwei Silben besteht). Überdies wird der Vokal [a] in -bar betont. Bei den Reimwörtern (dehnbar, erreichbar etc.) handelt es sich derart nicht um einen reinen, sondern nur um einen rührenden Reim, da der Onset vor dem Vokal nicht lautlich variiert und stattdessen die komplette Silbe wiederholt wird (vgl. Abschnitt 12.1. oben). Fokus der Stunde ist jedoch auch nicht die Förderung prosodischer Kompetenz. Vielmehr wird über den auditiven Sinn und mit Unterstützung von Bewegung durch die Morphemrekurrenz (= Wieder‐ holung des Morphems -bar an jedem Zeilenende) für die morphologische Struktur sensibilisiert, also morphologische Kompetenz aufgebaut. rechten Hand die Mitte des Kreises erreichen? - Nein, die Mitte des Kreises ist nicht erreichbar. - …“ Weichen die Schüler: innen vom sprachlichen Muster ab, greift die LK unterstützend ein. Auf Bewegungsebene geht es aber durchaus darum, möglichst kreativ zu werden und sich auch ungewöhnliche Bewegungsbezüge auszudenken. Phase II: Verschiedene bar-Adjektive durch einen vorgegebenen Reimtext kennenlernen und die morphologische Struktur über den Reim auditiv-motorisch nachvollziehen Die LK stellt den Reimtext in Abb. 12.2 vor. Zunächst werden über passende Bewegun‐ gen gemeinsam die Bedeutungen nachvollzogen. Im zweiten Schritt ist die Aufgabe, Bewegung auch dafür einzusetzen, die Struktur der bar-Adjektive zu analysieren. Vorbereitend wird gemeinsam besprochen, was im Text am Ende jeder Zeile gleich klingt, was sich also reimt: dehnbar reimt sich auf erreichbar etc. 3 Dann werden Kleingruppen (pro Gruppe vier bis fünf Schüler: innen; bei 24-30 Schü‐ ler: innen sechs Gruppen) gebildet. Jede Gruppe entwickelt eine eigene Choreografie für den Reimtext. Die Aufgabe: „Erfindet für die Adjektive, die sich reimen, eigene Bewegungen. Dafür müsst ihr die Adjektive zuerst in ihre Wortbausteine zerlegen. Die Wortbausteine, die unterschiedlich klingen, erhalten auch eine unterschiedliche Bewegung. Für das, was gleich klingt, - den Wortbaustein am Ende - soll es nur eine Bewegung geben. Übt dann, den Reimtext gemeinsam laut zu sprechen und bei den Adjektiven gleichzeitig eure Bewegungen auszuführen.“ Abb. 12.2: Reimtext mit bar-Adjektiven in konkreter Bedeutung 279 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="281"?> Phase III: Präsentation und Reflexion (Ergebnissicherung) Den Schluss der ersten Doppelstunde bilden die gegenseitige Präsentation der Cho‐ reografien und deren Würdigung im Plenum. Gemeinsam wird verglichen, wie die verschiedenen Gruppen die Aufgabe gelöst haben. Ziel ist es, das Bildungsmuster der bar-Adjektive insgesamt zu reflektieren (dabei kann das ‚Erreichen‘-Spiel zu Beginn der Doppelstunde mit in die Reflexion einbezogen werden). So könnte man z. B. gemeinsam zu den folgenden Ergebnissen kommen: „Die Wortbausteine, die unterschiedlich klingen und für die unterschiedliche Bewegungen gefunden wurden, gehen alle auf Verben zurück (die ein Objekt haben): (Die Zehen) erreichen, dehnen, kneten etc. Durch die Verbindung mit -bar wird daraus ein Adjektiv. Der Wortbaustein -bar steht immer am Ende des Wortes. Und was bedeutet das Ganze? Es geht darum, dass man etwas machen kann. Wenn alle es machen können, kann man sagen: Es ist machbar. Beim Verb erreichen haben wir auch das Gegenteil kennengelernt. Wenn niemand einen bestimmten Punkt im Raum erreichen kann, dann kann man sagen: Dieser Punkt ist nicht erreichbar.“ (Das Reflexionsergebnis kann auf Plakaten gesichert werden.) Phase IV: Eigene Reimtexte verfassen In der zweiten Doppelstunde steht die Reichweite des Bildungsmusters im Fokus sowie das Erkennen, dass bar-Adjektive nicht nur konkrete, sondern auch abstrakte Bedeu‐ tungen haben können. Dafür sollen die Schüler: innen zunächst auf Bewegungsebene und auf sprachlicher Ebene kreativ werden und ihre eigenen Reim-Texte verfassen und inszenieren. Die LK teilt die Klasse in zwei Hälften: Die eine Hälfte entwickelt eigene Texte zum Thema ‚Heute ist ein guter Tag‘, die andere Hälfte zum Thema ‚Heute ist ein schlechter Tag‘. Innerhalb der Hälften werden Kleingruppen gebildet. Jeweils zwei bis drei Schüler: innen arbeiten zusammen. Die Aufgabe: „In der letzten Stunde habt ihr einen Reim-Text kennengelernt und euch dafür eure eigene Choreografie ausgedacht. Schreibt nun für euer Thema einen eigenen Reim-Text nach dem gleichen Muster. Dafür könnt ihr auch das Wortmaterial aus der Wortschatzkiste benutzen. Wenn ihr das tut, überlegt, welche gelben und grünen Karten zusammenpassen. Aber ihr könnt euch auch komische Sätze/ Quatschsätze ausdenken und natürlich auch ganz neues Wortmaterial verwenden.“ Erläuternd stellt die LK eine Wortschatzkiste vor, die grüne Karten mit Nominal‐ gruppen (z. B. alle Zahlen, die Probleme) und gelbe Karten mit bar-Adjektiven (z. B. essbar, lösbar, teilbar) enthält (siehe Beispiel-Vorlagen unter Z-012). Damit während der folgenden kreativen Phase alle auf das Wortmaterial zugreifen können, werden die 280 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="282"?> 4 Der Schwierigkeitsgrad kann erhöht werden, indem die Wortschatzkiste statt bar-Adjektiven nur (transitive) Verben enthält, aus denen die Adjektive noch zu bilden sind. Steht im Idealfall noch mehr Zeit zur Verfügung, stellen die Schüler: innen ihre eigenen Wortschatzkisten/ Lexika mit bar-Adjektiven her (vgl. Kap. 19.3); z. B. in Form von Karten, die auf der einen Seite ein Verb benennen, auf der anderen Seite das daraus gebildete bar-Adjektiv. Die LK präsentiert dafür im Vorfeld Verben, die für das Muster bildungsfähig sind. 5 Bei den negierten Sätzen ist in den meisten Fällen anstelle von nicht die Wortbildung mit dem Präfix unmöglich, oft ist diese Variante sogar gängiger (vgl. unverwundbar). Sie wird hier dennoch noch nicht genutzt, um nicht zwei Bildungsmuster gleichzeitig zu fokussieren. Die Thematisierung kann sich jedoch im nächsten Schritt anschließen; siehe dazu den Hinweis am Ende des Abschnitts 12.3. Karten (oder eine Auswahl der Karten) an die Wand geklebt (oder, wenn digitale Medien zur Verfügung stehen, über Beamer an die Wand projiziert). 4 Illustrierend zeigt Abb. 12.3. zwei Beispiele, die bei dieser Aufgabe entstehen können: 5 Abb. 12.3: Beispiele für Reim-Texte mit bar-Adjektiven zum Thema ‚Heute ist ein guter/ schlechter Tag‘ Phase V: Überarbeitung und Weiterentwicklung eigener Reim-Text-Choreografien Gruppen, die ihren eigenen Reim-Text geschrieben haben, schließen sich mit einer ‚Gegenteil‘-Reim-Text-Gruppe zusammen, sodass erneut Kleingruppen von 4-5 Schü‐ ler: innen entstehen. Die Aufgabe: „Vergleicht eure Reim-Texte und gebt euch gegen‐ seitig Feedback: Was findet ihr an den Reim-Texten besonders schön oder lustig? Wollt ihr vielleicht noch etwas verändern? Helft euch dabei gegenseitig. Erfindet dann Bewegungen für alle Adjektive, die sich reimen, so wie ihr das bereits in der letzten Stunde gemacht habt. Überlegt euch auch, wie ihr eure zwei Reim-Texte mit den Bewegungen präsentieren möchtet: Welcher Reim-Text soll zuerst kommen? Und wie wollt ihr euch im Raum verteilen? Übt eure Choreografie am Schluss so oft, bis ihr sie euch alle gut merken könnt.“ Phase VI: Präsentation und Reflexion Auch die zweite Doppelstunde endet mit einer Präsentation, Würdigung und Reflexion der entstandenen Choreografien und Reim-Texte im Plenum. Ziel der Reflexion ist 281 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="283"?> es, gemeinsam darüber nachzudenken, welche Nominalgruppen und bar-Adjektive, wenn wir im Alltag oder in der Schule sprechen oder schreiben, zusammenpassen oder nicht zusammenpassen. Haben die Schüler: innen in ihren Texten semantisch ‚unsinnige‘ Verknüpfungen bzw. Quatschsätze erfunden, kann gerade dies für die Reflexion hilfreich sein, da entsprechende Beispiele Anlässe zum Nachdenken über die genaue Wortbedeutung und deren kontextangemessene Verwendung bieten. Abschließend überlegt man gemeinsam, ob alle Adjektive immer die gleiche Bedeu‐ tung haben, egal, in welchem Satz sie auftauchen. Gibt es z. B. einen Unterschied zwischen greifbar in dem Satz ‚Der Arm des Nachbarn ist greifbar‘ und ‚Die Lösung ist greifbar‘? Ein Reflexionsergebnis könnte hier sein: „Im ersten Satz geht es darum, dass man etwas (den Arm der Nachbarin) mit den eigenen Händen wirklich greifen kann - also um ein konkretes Greifen. Wenn wir aber sagen ‚Die Lösung ist greifbar‘, dann meinen wir ein Greifen, dass nur in unserer Vorstellung, unseren Gedanken geschehen kann; z. B., wenn wir das Gefühl haben, dass es nicht mehr lange dauert, bis die Lösung in unseren Gedanken auftaucht. Das Greifen ist dann ein abstraktes Greifen.“ Haben bar-Adjektive (auch) abstrakte Bedeutung, verändert bzw. erweitert sich natürlich ihr mögliches Gebrauchsspektrum und ihre Verknüpfbarkeit mit Nominal‐ gruppen. In dem Satz ‚Der Tag ist nicht tragbar‘ lässt sich nicht tragbar z. B. durch die Möglichkeit eines abstrakten Tragens mit der Tag verbinden. ‚Der Tag ist nicht essbar‘ ist dagegen ein Quatschsatz, da die Bedeutung eines abstrakten Essens bei essbar nicht verfügbar ist. Möchte man über die zwei vorgestellten Doppelstunden hinaus mit dem Derivations‐ thema weiterarbeiten, so bietet es sich an, als Nächstes für Wortbildungen mit dem Negationspräfix unzu sensibilisieren, da viele bar-Adjektive diese Derivation erlauben (vgl. ‚unbesiegbar‘, ‚untragbar‘, ‚unschlagbar‘, ‚unverwundbar‘). Manchmal treten sie sogar häufiger auf als die positive, nicht negierte Variante. Zu beachten ist dabei, dass die Bildung eventuell blockiert wird von einem anderen Adjektiv und dann nicht möglich ist (vgl. z. B. *unessbar, wahrscheinlich weil stattdessen nur ‚ungenießbar‘ gebräuchlich ist). Aufgaben 1.* Sie haben in diesem Kapitel drei kleine Formen der poetischen Strukturierung und Rhythmisierung von Sprache kennengelernt. Verfassen Sie selbst ein Ak‐ rostichon und ein Haiku, jeweils zu einem Thema Ihrer Wahl, und erfinden Sie einen eigenen Zungenbrecher. 2.** In Kapitel 9 haben Sie performative Zugänge zur Inszenierung von (eigenen oder fremden) poetischen Texten kennengelernt. Schließen Sie sich in Kleingruppen zusammen und vergleichen Sie Ihre Akrostichons und Haikus, die Sie in Auf‐ gabe (1.) erarbeitet haben. Entscheiden Sie sich für eine Auswahl von mindestens drei Texten und entwickeln Sie dafür gemeinsam eine Inszenierung. 282 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="284"?> 3.*** a. Analysieren Sie in dem folgenden Reim-Text das Bildungsmuster mit lich-Adjektiven. Wie unterscheidet es sich von dem Bildungsmuster der bar-Adjektive? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der beiden? Lesen Sie dazu als Hilfestellung Eisenberg (2004: 279-282). b. Im Gegensatz zum Suffix -bar ist -lich heute im Deutschen nicht mehr produktiv. Lesen Sie dazu vertiefend Fuhrhop & Werner (2016). c. Entwickeln Sie anschließend in Kleingruppen eine mögliche Unterrichts‐ stunde zu einem Suffix Ihrer Wahl mit einem performativen Zugang. Orientieren Sie sich bei Ihrer Auswahl an den in Fuhrhop & Werner besprochenen Suffixen und Suffixoiden (Halbsuffixe). Vertiefende Literatur Grundschule Deutsch 46/ 2015: Gedichte gefühlt - gedacht. Hrsg. von Rathmann, C., Wildemann, A. & Vos, K. Deutsch 5−10 69/ 2021: Lyrik. Hrsg. von Fricke, G. & Heiser, I. Download: Stundenverlaufsplan 283 12 Die Kunst des Reimens und auditiv-motorische Zugänge zu Sprachstrukturen <?page no="285"?> 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals Birgit Gunsenheimer Positive Emotionen beim Lernprozess unterstützen kognitive Prozesse. Musik im DaZ-Unterricht bietet besondere Anlässe, solche Emotionen hervorzurufen und dadurch Motivation, Aufmerksamkeit und mehrkanaliges Lernen zu fördern. Sin‐ gen und rhythmisches Sprechen ermöglichen gezieltes Üben an artikulatorischen Vorgängen. 13.1 Die enge Verbindung zwischen Musik und Sprache Musik hat im DaZ-Unterricht ihren festen Platz. Sie dient der Abwechslung, soll motivieren und kann in vielfacher Hinsicht interkulturelle Aufgaben erfüllen. Es ist aber nicht nur gute Tradition, musikalische Elemente in den Sprachenunter‐ richt einzubauen. Die Auswirkungen von Musik auf sprachliches Lernen beschäftigen zunehmend die Forschung. Sowohl in der Fremd- und Zweitsprachendidaktik als auch in den Neurowissenschaften besteht lebhaftes Interesse an den Zusammenhängen zwischen Sprache und Musik. Parallelen bestehen hinsichtlich der Verortung und Ver‐ arbeitungsweise im Gehirn (Patel 2007: 4, Sallat 2011: 5-9). Musik und Sprache zeigen Überschneidungen bezüglich verschiedener Parameter, so etwa Tonhöhe, Rhythmus, syntaktischer Strukturen und Emotionen (Patel 2007: 3 f). Aus einem begrenzten Re‐ pertoire kleinerer Elemente (in der Musik Töne, in der Sprache Laute) werden potenziell unendlich viele neue Strukturen gebildet: in der Musik zum Beispiel Melodien, in der Sprache Wörter und Sätze. Die Prosodie wird als wesentlich angenommen, um das Gehörte zu strukturieren und zu verarbeiten ( Jentschke & Koelsch 2011: 28). Solche Konturen sind sowohl in der Musik als auch in der Sprache zu finden. Prosodie Unter Prosodie versteht man in der Phonologie die durch unterschiedliche stimm‐ liche Mittel hervorgerufene Gestaltung (= Phrasierung) von Äußerungen. Zu den prosodischen (man spricht auch von suprasegmentalen) Merkmalen gehören: Melodie/ Tonhöhenverlauf (= Intonation im engeren Sinne), Lautstärke, Dauer, Sprechtempo, Sprechspannung, Stimmqualität u. a. Die prosodischen Merkmale treten meist in Kombination auf, um bestimmte Effekte zu erzielen. So entstehen Betonungen, Rhythmus und Gliederung einer Äußerung. Dass Prosodie wörtlich das Hinzugesungene heißt, darf nicht darüber hinwegtäu‐ schen, dass prosodische Merkmale kommunikativ wichtige Funktionen ausüben. Sie tragen zur syntaktischen Einordnung, zur Bedeutung und zum kommuni‐ kativen Gelingen bei. Ein Beispiel ist die fallende Intonation am Ende einer feststellenden Äußerung und die steigende am Ende einer Frage. Unterschiedliche 284 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="286"?> Betonungen von Silben können zur Bedeutungsunterscheidung führen, etwa beim Verb umfahren: Ich kann das Hindernis umfahren. (Das Hindernis wird von mir getroffen.) vs. Ich kann das Hindernis umfahren. (Ich fahre am Hindernis vorbei.) Kognitionsforschung und Neurowissenschaften untersuchen die engen Verbindungen von Sprache und Musik im Gehirn. Dabei geht es sowohl um die beteiligten Hirnre‐ gionen als auch um die Verarbeitungsprozesse. So weiß man heute, dass musikalisches Lernen sprachliches Lernen positiv beein‐ flussen kann. Das legen zahlreiche Studien nahe ( Jentschke & Koelsch 2011, zusam‐ menfassend Jäncke 2008). Was aus dem sog. „Mozart-Effekt“ abgeleitet worden ist, beruht jedoch auf einem Missverständnis. Dass man Lernende mit klassischer Musik beschallen und dadurch die Leistungen oder gar die Intelligenz steigern kann, gehört ins Reich der Mythen ( Jäncke 2008: 57). Zu bedenken ist eher, dass das Hören von Musik - auch im Hintergrund - Aufmerksamkeit erfordert, die der gleichzeitigen Konzentration auf andere Aufgaben abträglich ist (Sambanis 2013: 83). Eine schnelle Verbesserung kognitiver Fähigkeiten, die sich durch den Einsatz von Musik im Unterricht ad hoc nutzen ließe, wurde durch Studien nicht nachgewiesen. Dennoch werden aus der ähnlichen Verarbeitung von Musik und Sprache im Gehirn positive Wechselwirkungen abgeleitet (Blell 2017: 259; Jäncke 2008: 388 f). Bei Sambanis (2013: 82) findet sich eine Zusammenfassung der Forschungslage. Demnach überschneiden sich Netzwerke von Sprache und Musik einerseits und von Musik und Emotion andererseits. Auf lernpsychologischer Ebene wirkt Musik sowohl entspannend als auch aufmerksamkeitsfördernd. Positive Emotionen werden geweckt, mit dem Lernangebot verknüpft und somit Motivation und Intensivierung der Beschäftigung mit dem Gegenstand ermöglicht. Hier lassen sich sehr wohl kurzfristige Effekte auf Leistungsbereitschaft und somit kognitive Aktivierung feststellen. Dazu kommt das Wecken von Kreativität und das individuelle sowie das gemeinsame musikalische Erleben mit entsprechend positiven Auswirkungen (Badstübner-Kizik 2010: 1598): gestärkte Identität und „Wir-Gefühl“. Darüber hinaus wirken sich die Vorgänge der Wiederholung und der fokussierten Aufmerksamkeit sowie die Präzision, die beim Musizieren erforderlich ist, auf damit verbundene sprachliche Handlungen aus (Sambanis 2013: 82). Diese Faktoren, Wiederholung und fokussierte Aufmerksam‐ keit auf eine genaue Sprachproduktion, kommen in der im Folgenden vorgestellten Unterrichtseinheit besonders zum Tragen. Dass Musik (meistens! ) Spaß macht und dass mit Freude an der Lernsituation besser gelernt wird, ist bekannt. Aber worin genau bestehen die Ursachen? Neuro‐ wissenschaftlich sind diese Vorgänge damit zu erklären, dass im Gehirn Botenstoffe freigesetzt werden, die zum körpereigenen Belohnungssystem gehören. Ein wichtiger Neurotransmitter ist Dopamin. 285 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="287"?> Dopamin Dopamin ist als eines der Glückshormone bekannt. Je nachdem, welche Erfahrungen wir mit einer Situation gemacht haben, versuchen wir, sie zu wiederholen oder zu vermeiden. Lernen unter Bedrohung oder Druck wird als negative Erfahrung erlebt, kann einen Freeze- oder Fluchtreflex auslösen und ist demnach vergleichs‐ weise ineffektiv. Wird Lernen mit positiven Erfahrungen verknüpft, sorgt der Botenstoff (Neurotransmitter) Dopamin für eine körpereigene Belohnung - für Glücksgefühle. Während einer Lernsituation können sie dadurch entstehen, dass eine Aufgabe bewältigt wurde. Die Entstehung von Glücksgefühlen kann aber auch durch externe Faktoren begünstigt werden, zum Beispiel durch die Lieblingsmusik (Böttger & Sambanis 2017: 43). Bestimmte Drogen haben eine ähnliche Auswir‐ kung. Positive Lernerfahrungen machen gewissermaßen ‚süchtig‘. Wenn Musizieren in der Unterrichtssituation positiv besetzt ist, wird es Teil des Belohnungssystems. Die Motivation, diese oder eine ähnliche Lernsituation noch einmal zu erleben, entsteht aus dem Wunsch, das Belohnungserlebnis zu wiederholen. Im DaZ-Unterricht kann Musik produktiv oder rezeptiv eingesetzt werden. Im weiteren Verlauf fokussiert dieser Beitrag auf aktives Musizieren im DaZ-Unterricht, besonders auf den Gebrauch der Stimme und auf rhythmische Elemente. 13.2 Lieder und Rhythmicals in der DaZ-Förderung Aktives Musizieren im Unterricht trägt in besonderer Weise zu den oben genannten positiven Effekten bei. Dazu gehören neben dem angstfreien Umgang mit dem Lern‐ gegenstand und der Motivationssteigerung bei Liedern auch die kognitive Auseinan‐ dersetzung mit dem Text, durch den emotionalen Zugang gewecktes Hörinteresse und Verstehenwollen sowie die Anregung kreativer Sprachproduktion (Grünewald 2017: 241). Darüber hinaus bedeutet musikalische Aktivität, ob Singen, instrumentales Musi‐ zieren oder das Erzeugen von Rhythmen mit körpereigenen Instrumenten, immer Bewegung mit dem ganzen Körper. Positive Auswirkungen von Bewegung auf Lernprozesse werden seit Jahrhunderten in der Pädagogik thematisiert (Sambanis 2013: 90 f.). Da Musikmachen per se Bewegung ist, liegen die Möglichkeiten, die im Fremdsprachenunterricht zum Tragen kommen, auf der Hand. Die bei Grünewald (2017) aufgezählten Aspekte erfassen den ganzen Menschen und können somit als Grundlage für performative Zugänge über Musik zur Fremdsprache gesehen werden, als in wörtlichem Sinn Lernen „mit Kopf, Herz, Hand und Fuß“ (Schewe 1993: 8, siehe auch Kap. 17 in diesem Band). In anderen Kontexten wird von mehrkanaligem Lernen gesprochen. 286 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="288"?> 1 Eine andere Position als Wild (2014) nimmt Sommer (2016) ein. Die positiven Erfahrungen, die von vielen Lehrkräften geteilt werden, seien bislang nicht durch Daten belegt. Empirisch sei in den Neurowissenschaften noch nicht erwiesen, dass sich der Einsatz von Musik im DaF/ DaZ-Unterricht auf die Lernvorgänge unmittelbar auswirke. In Abschnitt 13.1 wurden bereits einige Berührungspunkte zwischen Sprache und Musik genannt. Der Einsatz von Liedern und Rhythmicals im DaZ-Unterricht knüpft an mehrere gemeinsame Zugänge an: Schulung des Gehörs, Verbinden von musikalischen und sprachbezogenen Rhythmen sowie von Melodieverläufen bzw. Prosodie. Dabei werden rezeptive wie produktive Fähigkeiten gefördert und gefordert. In welcher Weise ist Singen und rhythmisches Sprechen nun besonders effektiv? Sambanis (2013: 23) plädiert für das produktive Nutzen mehrfacher Wechselwirkungen im Gehirn: „Lernen braucht Intensität, Vielfalt und Wiederholung“. Dazu kommt eine „Entschleunigung der Wahrnehmung“ (Badstübner-Kizik 2014: 298) beim ästhetischen Lernen. Bezogen auf Singen im Unterricht bedeutet das: Der Flüchtigkeit der mündli‐ chen Sprache kann begegnet werden, indem bewusstes Hinhören, aber auch bewusstes produktives Gestalten der Liedtexte gefördert wird. Lieder gehören seit vielen Jahrzehnten auch zur Praxis des DaF-Unterrichts. Die vielfältigen Verbindungen zwischen Musik und Sprache legen nahe, dass Singen den Zugang zur Zweitsprache erleichtert. Obgleich einige Studien die Potenziale von Liedern für die „Übung von Aussprache, Wortschatz und Grammatik, Hörverstehen sowie für Kultur- und Landeskunde“ (Wild 2014: 338) erkennen lassen, besteht noch immer ein Forschungsdesiderat nach mehr Evidenz für die positive Auswirkung von Musik und Rhythmus auf das Fremdsprachenlernen (ebd.: 339). 1 Ein gemeinsames Strukturmerkmal von Musik und Sprache ist der Rhythmus. Durch diese Gemeinsamkeit und wegen der lernfördernden Faktoren „Intensität“ und „Wiederholung“ kommt dem Rhythmus eine besondere Bedeutung zu. Rhythmus Rhythmus in der Sprache hat mit der Verteilung betonter und unbetonter Silben zu tun und lässt sich für die Wort-, Wortgruppen- und Satzebene beschreiben. So führt beispielsweise der Wechsel von betonter und unbetonter Silbe in einem Wort zu einer bestimmten Rhythmisierung des Wortes; vgl. das Wort lau-fen [la͜ʊ.fən], bei dem die erste Silbe betont, die zweite unbetont ist. Ein zweisilbiges Wort mit diesem Betonungsmuster nennt man Trochäus. Im Deutschen kommt der Trochäus sehr häufig vor; vgl. sa-gen, hel-fen, Blu-me, Man-tel, Kin-der, Va-ter, teu-er usw. Der Rhythmus in der deutschen Sprache lässt sich insgesamt als tendenziell akzent‐ zählend (≈ die Betonung zählend) klassifizieren (zu den möglichen Rhythmustypen in verschiedenen Sprachen vgl. ausführlich Bryant & Rinker 2021: 27-29). Ein zentrales Merkmal für diesen Rhythmustyp ist die Tendenz, dass unbetonte Silben kürzer sind als betonte und dass sie von Reduktion und sogar Tilgung betroffen sind. Wenn wir z. B. das Wort lau-fen in alltagsprachlichen Situationen 287 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="289"?> schnell sprechen, dann wird in der zweiten, unbetonten Silbe der Vokal - der so genannte Schwa-Laut [ə] - oftmals gar nicht realisiert: Wir sprechen [la͜ʊfn̩] statt [la͜ʊ.fən]. In Trochäen wie Kin-der, Va-ter, die mit -er am Ende geschrieben werden, realisieren wir in der zweiten, unbetonten Silbe nur einen sogenannten vokalisierten R-Laut [ɐ]: [fɑ: .tɐ]. Man bezeichnet den Schwa-Laut [ə] und den vokalisierten R-Laut auch als Reduktionsvokale und die betroffenen Silben als Reduktionssilben. Im Kontrast zu sogenannten silbenzählenden Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch, Türkisch), deren Silben tendenziell gleich lang sind, gibt es in akzentzählenden Sprachen deutliche Längenunterschiede zwischen betonten und unbetonten Silben: Je mehr unbetonte Silben - in einem Wort oder bei mehreren Wörtern hintereinander in einem Satz - zwischen zwei betonten Silben vorkommen, desto reduzierter sind die unbetonten. So entstehen ungefähr gleich lange Abstände zwischen den betonten Silben. Dieser Effekt ist jedoch nur annäherungsweise mit dem Metrum in der Musik gleichzusetzen. Wir sprechen nicht im Viervierteltakt oder in Vierteln, Achteln und Sechzehnteln. In Notenwerten ist sprachlicher Rhythmus nicht festzuhalten. Dennoch empfiehlt sich gezieltes rhythmisches Sprechen, um die Reduktion und das schnellere Sprechen von unbetonten Silben beim Erwerb der Zweitsprache mitzulernen. Als Grundlage der im Folgenden vorgestellten Unterrichtseinheit wird angenommen, dass Rhythmus das gezielte Üben prosodischer Verläufe unterstützt. Diese wirken sich wiederum auf eine Verbesserung der Aussprache in einzelnen Segmenten (Lauten) aus. Schon Dieling & Hirschfeld (2000: 32) machen „Intonation vor Artikulation“ zu einem ihrer Grundprinzipien für Phonetik im DaF-Unterricht. Dahmen (2013: 55; 197 ff.) zeigt überdies empirisch, dass sich prosodische Elemente zum einen trainieren lassen und dass sie zum anderen deutliche Effekte auf die Verbesserung der Aussprache insgesamt haben. In einer Erhebung zum Einfluss musikalischer Vorbildung und rhythmischer Übungen auf Bewusstwerdungsprozesse im Bereich Wortakzent stellt Wild (2014: 345) tendenziell einen positiven Einfluss beider Faktoren fest, formuliert aber auch die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen. Als einige der vielen Möglichkeiten, Rhythmus einzusetzen, nennt Sambanis (2013: 91, 97) Bewegungslieder, rhythmisches Sprechen oder bewegungsbegleitetes rhythmi‐ sches Chorsprechen. Perner (2014: 320) sieht das Potenzial der engen Verbindung von Musik und Sprache ebenfalls nicht nur im Liedersingen. Er geht davon aus, dass es gerade für Jugendliche motivierend sein kann, wenn Mischformen im Unterricht eingesetzt werden, etwa Rap. Dazu gibt es viele Unterrichtsvorschläge, unter anderem einen im Anhang von Perners Beitrag (ebd.: 331-333). Gleichzeitig ist zu bedenken, dass beim Einbinden von Musikformen aus der Jugendkultur einerseits die Authentizität und positive Haltung der Lehrperson gegeben sein muss und es andererseits kontra‐ 288 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="290"?> produktiv sein kann, die Lebenswelt der Heranwachsenden zu „didaktisieren“ (Böttger & Sambanis 2017: 143). Die Rhythmicals der im nächsten Abschnitt vorgestellten Unterrichtseinheit stellen eine weitere Mischform zwischen Musik und Sprache dar. Rhythmicals Rhythmicals sind mehrstimmig angelegte Sprechverse, die am Rhythmus der gesprochenen Sprache ansetzen. Musikdidaktisch können sie eingesetzt werden, um musikalische rhythmische Strukturen zu erlernen, sind aber nicht darauf beschränkt. Sie werden in Gruppen gesprochen, wobei jede Gruppe eine Zeile übernimmt, und gestisch oder auch durch Bodypercussion angereichert. Durch die unterschiedliche rhythmische Gestaltung jedes Textstücks kommt es zu polyrhythmischen Strukturen, die unterschiedlich komplex sein können. Die Ganz‐ körperbeteiligung realisiert die akustische Überlagerung zusätzlich kinästhetisch (zum kinästhetischen Sinn s. Kapitel 14 in diesem Band). Studer (2010: 3) betont die Ganzheitlichkeit und Individualität der Erfahrung über Sprache, Gestik, Bewegung und Körperinstrumente und benennt somit wesentliche Elemente performativer Zugänge. 13.3 Die Stimme rhythmisch einsetzen. Eine Unterrichtseinheit mit Rhythmicals Zielgruppe Lernende im Kita- und Grundschulalter reagieren mit Freude auf Lieder und singen sie gerne mit. Etwa um die Zeit des Übergangs zur weiterführenden Schule ändert sich zumindest bei einigen Heranwachsenden die Haltung dazu. Das betrifft den Inhalt oder auch die Musikrichtung: Was die einen begeistert, fällt bei anderen schon unter ‚kindisch‘. Mit dem Eintreten der Pubertät kommt der stimmliche Umbau dazu. Sing- und Sprechstimme verändern sich. Nicht nur Jungen kommen in den Stimmbruch, bei Mädchen ist der Wandel allerdings weniger auffällig, da die Stimmlage ungefähr im gleichen Tonhöhenbereich bleibt. Sprechen und vor allem Singen vor anderen kann in dieser Zeit mit Hemmungen verbunden sein. Rhythmicals lassen sich dennoch potenziell mit jeder Altersstufe durchführen, wobei die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Sprechverse je nach musikalischer Vorbildung schätzungsweise erst ab dem dritten Schuljahr möglich ist. Die hier vorgeschlagenen Themen und Texte (Ausverkauf; Nein sagen) bieten Anknüpfungspunkte für jugendli‐ che Lernende, können aber auch schon in den oberen Grundschuljahren eingesetzt werden. Die Einheit richtet sich an Lernende, die sich nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) ungefähr auf der Kompetenzstufe A2 bis B1 befinden. Eine homogene Zusammensetzung wird es schon schulorganisatorisch 289 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="291"?> bedingt kaum geben. Die Kompetenzstufen sind auch aus anderen Gründen als durch‐ lässig zu betrachten. Der Schwerpunkt liegt auf segmentalen und suprasegmentalen Elementen der Aussprache. Diese ist zwar im GeR für die jeweiligen Kompetenzstufen spezifiziert. Dahmen & Hirschfeld (2016: 41) merken jedoch zu Recht kritisch an, dass eine zielsprachennahe, stark akzentgeprägte oder gar unverständliche Aussprache weitgehend unabhängig vom Erreichen höherer Stufen in anderen Fertigkeiten und Kompetenzen ist. Auswahl der Lerninhalte Didaktische Entscheidungen befassen sich damit, was gelernt wird bzw. welche Kom‐ petenzen erworben werden sollen. Performative Ansätze haben den ganzen Menschen im Blick und sind prozessorientiert. Sie berücksichtigen, dass Lernprozesse in Gang gesetzt werden, die sich erst später im Ergebnis zeigen und möglicherweise nicht bzw. nicht sofort überprüft werden können (Miladinović 2019: 9). Die vorliegende Unterrichtseinheit macht Lernangebote, bei denen gezielt Prozesse in Gang gesetzt werden, deren Überprüfbarkeit nur teilweise unmittelbar gegeben ist. Rhythmische Einheiten und Lieder, das zeigt die Unterrichtswie auch die eigene Lernerfahrung, bleiben im Prozess des lebenslangen Lernens jedoch lange abrufbar. Dennoch bleibt es nicht bei impliziten Vorgängen. Reflexionsphasen, in denen das Ge‐ lernte explizit gemacht wird, unterstützen die Lernprozesse durch Bewusstmachung. In der vorgestellten Einheit liegt der Schwerpunkt auf der Schulung der Aussprache, in der DaZ/ DaF-Terminologie üblicherweise als „Phonetik“ bezeichnet (Hirschfeld & Reinke 2018: 57). Im GeR fällt die sog. phonologische Kompetenz im Vergleich mit den Spezifizierungen zu den anderen Kompetenzen (lexikalisch, grammatisch, semantisch) auffallend knapp aus (GeR 2001: Kap. 5.2.1, 117). Jedoch unterstreichen Dahmen & Hirschfeld (2013: 4) die kommunikative Bedeutung einer guten Aussprache nicht nur auf segmentaler, sondern auch auf suprasegmentaler Ebene. Zudem zeigen Untersuchungen, dass Sprecher: innen in ihrer sprachlichen Kompetenz, aber auch bezüglich Intelligenzgrad, sozialem Status und als Gesamtperson positiver eingeschätzt werden, je dichter die Aussprache am zielsprachlichen Standard ist (Bose et al. 2016: 73; Hirschfeld & Reinke 2018: 28 f; Dahmen 2017: 126). In der Literatur zu Artikulationsübungen im DaF/ DaZ-Unterricht werden die Übungen meist nach einzelnen Phänomenen angeordnet, jedoch werden dabei keine Kompetenzstufen durchlaufen. Je nach Lernausgangslage, zuvor erworbenen oder gelernten Sprachen, Einstellungen, geschultem Gehör usw. sind die Lernverläufe und das erreichbare Niveau sehr unterschiedlich. Einerseits spricht vieles für das Üben von Einzelerscheinungen. Denn das auditive Erfassen lautlicher Besonderheiten wird mit zunehmendem Alter in der Regel schwie‐ riger. Können Kinder im Schuleingangsalter Klänge und Laute noch leichter erfassen und imitieren, beeinflusst später das Lautsystem der Erstsprache die Wahrnehmung der Zielsprache. Was man nicht hört, kann man auch nicht wiedergeben. Andererseits besteht die Gefahr, dass das Isolieren von Ausspracheübungen wenig Motivation her‐ vorruft. In aktuellen Beiträgen zur Didaktik von Deutsch als Zweitsprache wird zudem 290 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="292"?> ein kompetenzübergreifender Unterricht in DaZ/ DaF als lernwirksam hervorgehoben (Hirschfeld & Reinke 2018: 137 ff). Daher wird in dieser Einheit angestrebt, den Fokus auf die Artikulation mit anderen Kompetenzen zu verbinden. Fächerübergreifend wird Bewährtes aus der Musikdidaktik genutzt. Musik und Rhythmus bieten darüber hinaus eine entspannte Atmosphäre, die für das Wahrnehmen und Erlernen der L2-Artikulation besonders wichtig sind. Die Einstellung gegenüber der Zielsprache hat unter anderem mit Identifikation zu tun. Im musikalischen und spielerischen Tun ist es möglich, über die persönlichen Grenzen im Alltag hinauszugehen und etwas Neues - auch: neue Klänge - auszuprobieren. In der folgenden Unterrichtseinheit rücken bestimmte Aussprachebesonderheiten in den Fokus, sind aber nicht ausschließlich bestimmend. Einzelne Rhythmicals folgen einem bestimmten Rahmenthema. Dabei treten - wie in der Alltagssprache - verschiedenste phonetische und phonologische Erscheinungen auf, die nicht alle in einer Unterrichtsstunde oder -reihe thematisiert werden können. Dennoch wird durch die Verknüpfung von Sprache, Musik, Emotionen und Bewegung mehr geübt, als hier explizit gemacht wird. Grundlage der Einheit ist demnach: Rhythmisches Sprechen kann gezielt zur Ver‐ besserung der Aussprache eingesetzt werden. Hauptziel ist, bewusste prosodische Gestaltung von Äußerungen anzuregen. Ein performatives Vorgehen kann besonders dabei unterstützen, die gesteuerte prosodische Gestaltung von Äußerungen zu erlernen. Die im Erklär-Kasten Prosodie eingangs genannten Faktoren werden in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedlich verwendet, und es kann schwierig sein, sich aus diesen Gewohnheiten zu lösen. Zudem liegt ein mögliches Hemmnis darin, dass diese Mittel auch zum Ausdruck von Emotionen gebraucht werden. Der spielerische Kontext und das bewusste Übertreiben nehmen den Lernenden den Druck und ermutigen sie, sich auch in ungewohnten Klanggestaltungen zu bewegen. Dauer als ein prosodisches Merkmal ist eng mit der Vokallänge verbunden. Darum werden als weiteres Ziel innerhalb der vorgestellten Einheit auch segmentale (= den Einzellaut betreffende) Merkmale geübt. Im Fokus stehen insbesondere Vokallänge bzw. -qualität. Vokalquantität und -qualität Das Deutsche hat 16 Vokale, aber nur 9 Vokalgrapheme stehen für diese zur Verfügung. Einige Vokale teilen sich ein graphematisches Zeichen (siehe Akti‐ vierungsaufgabe): [o] und [ɔ] in Ofen und offen werden z. B. beide mit <o> geschrieben. Oft werden sie als lang und kurz bezeichnet; das [o] in Ofen ist lang, das [ɔ] in offen kurz. Das Lernen von Vokallänge, also von Vokalquantität, allein führt jedoch noch nicht zur richtigen Aussprache, da die sogenannten Lang- und Kurzvokale sich vor allem auch in ihrer Qualität unterscheiden. In der Satzprosodie des Deutschen können selbst lange Vokale stark gekürzt auftreten und sind dennoch in ihrer Qualität 291 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="293"?> 2 Ein Beispiel ist das Wort Glück. Der Vokal wird beim Sprechen durch das [k] abgeschnitten und kann nicht beliebig verlängert werden. Wie ist es aber beim Musizieren? Versuchen Sie, das Wort auf einen längeren Ton zu singen oder zu sprechen und es trotzdem authentisch klingen zu lassen. Sie werden an der Tonqualität irgendetwas verändern, um den Eindruck der „Kürze“ zu simulieren. Wenn Sie den Laut dagegen probehalber so aussprechen wie in Glühwein, werden Sie den Unterschied bemerken. In manchen älteren Schlagern wird das ungespannte [ʏ] in Glück fälschlicherweise gespannt ausgesprochen. erkennbar. Zum Beispiel wird ein stark verkürztes, da unbetontes Beet in dem Satz Ich habe das Beet erst GEStern umgegraben nicht auf einmal als Bett wahrgenommen. Man kann davon ausgehen, dass nicht Länge, sondern Vokalqualität im Deutschen distinktiv (= bedeutungsunterscheidend) ist. Es herrscht allerdings Uneinigkeit über die Benennung dieser Qualität. Der Ein‐ fachheit halber wird hier das Begriffspaar gespannt - ungespannt verwendet: Das [o] in Ofen ist lang und gespannt, das [ɔ] in offen kurz und ungespannt (Hirschfeld & Reinke 2018: 68). Langvokale sind im Deutschen generell gespannt, Kurzvokale ungespannt. Im DaZ-Unterricht ist jedoch zu beobachten, dass das Erlernen der Vokalqualität Schwierigkeiten bereitet, selbst wenn Längenunterschiede realisiert werden. Das Potenzial des Singens oder rhythmischen Sprechens besteht darin, die Parameter „Länge“ und „Gespanntheit“ zu entkoppeln. Denn in der Musik werden unbetonte Silben nicht so stark reduziert wie in der gesprochenen Sprache, selbst wenn der Notenwert kurz ist (z. B. als Achtel). Im Gesang ist es möglich, auch ungespannte Vokale lang auszuhalten, ohne perzeptiv oder produktiv einen gespannten Vokal herzustellen. Das abrupte Ende des Vokals in der scharf geschnittenen Silbe 2 kann auch beim Singen oder rhythmischen Sprechen simuliert werden, hier zum Beispiel durch Druckabfall und Zurücknahme der Laut‐ stärke. An vielen Stellen der Sprechzeilen des Rhythmicals „Ausverkauf “ bestehen rhyth‐ mische Entsprechungen zum eben Gesagten. Auch kurze betonte Silben können im Vergleich mit unbetonten Silben mehr Raum erhalten, z. B. das Wort toll im Rhythmical. Da die Dehnung bezüglich der Dauer dabei jedoch begrenzt ist, müssen andere Mittel eingesetzt werden, um diese Silbe prominenter erscheinen zu lassen, etwa Tonhöhe und Schalldruck. Rhythmisches Sprechen bietet zudem die Chance einer Hyperartikulation, die im alltäglichen Sprechen übertrieben wirken würde. Zusammen mit dem kreativen Ausprobieren von expressiven Mitteln (Begeisterung, Ungläubigkeit, Genervtheit) lässt sich diese Überartikulierung noch steigern und es lassen sich Unterschiede in der Vokalqualität deutlicher herausarbeiten. Kompetenzübergreifend ergeben sich durch Wortschatzarbeit und Variieren von Sätzen Lernmöglichkeiten auf lexikalischer und auf syntaktischer Ebene. 292 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="294"?> 3 Es gibt ein Rhythmical „Schlussverkauf “ von Christoph Studer, das sich als Hinführung auf diese Form sehr gut eignet. Der Wortschatz ist überschaubar und bietet trotzdem Neues („günstig“). Die Variationsmöglichkeiten für die spätere kreative Phase sind jedoch mit den hier vorgestellten Zeilen besser umsetzbar. Methodische Überlegungen Im Sinne des performativen Vorgehens werden die Teilnehmer: innen ganzheitlich (kognitiv, emotional und kinästhetisch) angesprochen. Wie oben ausgeführt, kann das musikalische Einsetzen der eigenen Stimme proble‐ matisch sein. Für den Unterricht mit Jugendlichen und Heranwachsenden wird daher in einer ersten Einheit ein niederschwelliges Angebot gemacht. Gleichzeitig sollen die Unterrichtseinheiten die Möglichkeit einer kreativen Weiterentwicklung des Materials bieten. Rhythmicals setzen die Stimme ein und können wie Lieder konzipiert sein, nur eben ohne definierte Tonhöhe und daher auch ohne Singen. Damit besteht eine Nähe zum Rap. Rhythmicals besitzen jedoch eine weniger große Textdichte, orientieren sich an der Prosodie des ‚natürlich‘ gesprochenen Texts und sind dadurch besser verständlich. Sie gehören didaktisch in den Musikunterricht oder in die Chorarbeit, während Raps zwar im Unterricht eingesetzt werden können, jedoch nicht in erster Linie für diesen Kontext gedacht sind. Texte und Rhythmen der Unterrichtseinheit wurden selbst gestaltet. Rhythmicals mit vergleichbarer Gestaltung und Alltagsthematiken finden sich bei Studer (2010). Seine Sammlung ist für den Unterrichtsalltag und vor allem für den Einstieg sehr geeignet, da sie mit einfachen Rhythmen beginnt und den Schwierigkeitsgrad steigert. 3 Das Rhythmical baut auf einem Dialog zwischen zwei Personen auf, der durch die Ankündigung „Ausverkauf! …“ einer weiteren Person eingeleitet wird. TN1 Ausverkauf! Ausverkauf! Lauter schicke Sachen. TN2 Ein Hemd! Mit Blümchen! / Eine Tasse! Mit Herzchen! TN3 Na toll. Und brauchst du das? TN2 Na klar. Das fehlt mir noch. / Nein, nein. Das hab ich schon. TN3 Wozu? Wofür? TN2 Hm… eigentlich… Ja! / Hm… eigentlich… Nein! Rechts stehen die Varianten, die in der Gruppenarbeit als Basismaterial verwendet werden. Der rhythmischen Verteilung liegt ein Viervierteltakt zugrunde, teils mit Auftakten. Unter Z-014 kann eine Audiospur des Rhythmicals heruntergeladen werden. 293 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="295"?> Aus-ver-kauf! Aus-ver-kauf! Lau-ter schicke Sachen. Ei-ne Tasse! Mit Herz-chen! Ei-ne Tasse! Mit Herz-chen! Na toll. Und brauchst du das? Na toll. Und brauchst du das? Na klar. Das fehlt mir noch. Na klar. Das fehlt mir noch. Wozu? Wofür? Hm… eigentlich… Ja! Abb. 13.1: Rhythmical „Ausverkauf! “ Der Rhythmus gesprochener Sprache ist auch bei akzentzählenden Sprachen nicht Eins zu Eins in einen metrisch festgelegten musikalischen Rhythmus zu übertragen. Daher erhält in den vorliegenden Sprechzeilen nicht strikt jede lange betonte Silbe einen längeren Notenwert, wenn auch die Tendenz dahin geht. Es lässt sich feststellen, dass auch bei gleicher Verteilung von Werten (Beispiel: „Ausverkauf! “) innerhalb der betonten Silbe Tonhöhenverlauf und Druck prominenter gestaltet werden können als in den unbetonteren Silben. Im Wort „Ausverkauf “ kommt derselbe Diphthong (= Doppelvokal) [a͜ʊ] zweimal vor, einmal stärker und einmal weniger stark betont. Das entspricht dem musikalischen Metrum: Die erste Silbe liegt auf der traditionell stärkeren Zählzeit Eins, die dritte auf der schwächeren Zwei. 294 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="296"?> Die Reduktionssilben und andere unbetonte Silben werden in den Sprechversen unbetont gesprochen, aber nicht nahezu oder vollständig getilgt, wie es in der Um‐ gangssprache häufig vorkommt. So können die unterschiedlichen Qualitäten durch bewusste Artikulation geübt werden. Bei Rhythmicals werden die einzelnen Textchunks durch Gesten unterstützt. Diese können im Unterricht variabel gestaltet werden. In dieser Einheit werden zur Un‐ terstützung von Vokalquantität und -qualität und zur Silbenbetonung ausholende Bewegungen einerseits und schnelle, energische Bewegungen andererseits verwendet. Dies spiegelt die komplexen Vorgänge bezüglich Tonhöhe und Druckverlauf innerhalb einer Silbe wider. Hinweise zum Verlauf Die vorgestellte Stunde ist Teil einer Unterrichtsreihe, die im weiteren Verlauf auch die Singstimme einsetzen kann. In vielen Gruppen wird es möglich sein zu singen, abhängig von der Altersgruppe, der Zusammensetzung und nicht zuletzt davon, was sich die Lehrkraft selbst zutraut. Welche Angebote am besten eingesetzt werden, kann individuell entschieden werden. Um das Singen anzubahnen, kann dem Parameter Rhythmus der Parameter Tonhöhe hinzugefügt werden, indem man an den meisten Schulen vorhandenes Instrumenta‐ rium zur Hilfe nimmt. Xylophone und Metallophone eignen sich gut, um Ostinati (d. h. sich wiederholende musikalische Figuren) herzustellen oder auch Singmelodien zu er‐ finden. Boomwhacker (Musikinstrument aus unterschiedlich langen Kunststoffröhren) geben pro Röhre nur einen Ton, haben aber hohen Aufforderungscharakter und sind in jeder Altersgruppe gut einsetzbar. Die vorgestellte Doppelstunde beschäftigt sich mit dem Thema „Ausverkauf “. In ei‐ ner weiteren Doppelstunde wird das Arbeiten an bewusst gestalteten Intonationsver‐ läufen vertieft. Das Thema ist Sich Abgrenzen / Nein sagen. (Für weitere Materialien siehe Z-015.) Im Folgenden werden die einzelnen Phasen erläutert: Aufwärmphase Ein Warm-up ist bei allen performativen Aktivitäten wichtig und darf Zeit in Anspruch nehmen. Vor allem dann, wenn die Medien Stimme oder Körperinstrumente noch nicht zum Einsatz kamen, kann es sein, dass die Teilnehmenden nicht gleich aus sich herausgehen. Die Aufwärmphase kann auch ohne stimmliche Beteiligung geschehen. Für das rhythmische Tun kann je nach Vorerfahrungen der Lerngruppe mit einfachen Rhyth‐ musspielen begonnen werden oder mit komplexeren Einheiten, die auf die Strukturen der Rhythmicals hinarbeiten. „Stomp“-Experimente sind bereits vielfach Gegenstand des Musikunterrichts an weiterführenden Schulen. Die Inszenierungen der Gruppe „Stomp“ basieren auf rhythmischen Klängen und Geräuschen mit Alltagsgegenstän‐ den, bei denen sich oft aus einem gemeinsamen Rhythmus vielfältige Varianten entwickeln und in der Gleichzeitigkeit ein dichtes Ganzes bilden. 295 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="297"?> Die Aufwärmphase kann aber auch die Artikulationswerkzeuge bewusst einbezie‐ hen. Bei den fokussierten Lerninhalten ist das besonders sinnvoll. Hier sind Locke‐ rungs-, Beweglichkeits- und Resonanzübungen zielführend, wie sie in der Chorpäda‐ gogik oder in der Logopädie gängig sind. Übungen, wie etwa den Kiefer fallen zu lassen, sind im Gesangunterricht und in der Aufwärmphase von Chören den Teilnehmenden bekannt; in einer Unterrichtssituation vor allem mit Jugendlichen könnten solche Angebote jedoch nicht so leicht angenom‐ men werden. Die Hemmschwelle, ungewohnte Laute von sich zu geben oder ‚blöd‘ auszusehen, kann aber überwunden werden, indem in der Aufwärmphase schon per‐ formativ gearbeitet wird, also Rollen angenommen werden oder kompetitiv gespielt wird. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel anzuregen, wer mit herunterfallendem Unter‐ kiefer das dümmste Gesicht machen kann. Das kann auch in Partnerarbeit geschehen, indem die Bewegung und Gestik des anderen als Spiegelbild imitiert oder verstärkt wird. Resonanz und Beweglichkeit fördern funktioniert auch mit Silbenfolgen, die ei‐ nen Sinn ergeben und als Vorläufer der späteren Sprechverse dienen. Zusätzlich zum Sprechen einzelner Silben kann ein Ball geprellt oder langsam weitergegeben werden, je nach Länge der Sprechsilbe (für weitere Vorschläge siehe auch Z-016). Einstieg in das Thema Als Einstieg in das Thema zeigt die Lehrperson einige Gegenstände (eventuell als Bild), deren Attraktivität diskutabel ist. Zunächst werden die Gegenstände benannt und beschrieben. Im notierten Beispiel sind dies ein Hemd mit Blümchen und eine Tasse mit Herzen, ergänzt durch weitere Objekte. Die Frage „Wie gefällt dir das? “ wird eingebracht und Raum für Kommentare gegeben. Ein weiterer Impuls ist: „Das Geschäft hat Ausverkauf. Das Hemd kostet nur …“ Hier können die Teilnehmenden Schätzungen abgeben. Das Wort Ausverkauf wird geklärt. Dann beginnt die Lehrkraft rhythmisch zu sprechen und auf die aufgereihten Dinge zu zeigen. Dies bildet den Übergang zur nächsten Phase. Die Sprechzeilen des Rhythmicals werden zunächst einzeln gelernt. Voraussetzung ist, dass der Vierertakt wahrgenommen wird. Dabei kann eine Rhythmusgruppe helfen: Ein bis drei Teilnehmende werden als Band bzw. Bandleader eingesetzt. Das typische „Tick tick tick tick“, mit dem ein Schlagzeuger den Beginn eines Stücks einleitet, kann mit Klanghölzern oder ähnlichen an der Schule üblicherweise vorhandenen Instrumenten erzeugt werden. Ein anderes Instrument, z. B. eine Trommel, markiert die „Eins“ jedes Taktes. Die instrumentale Unterstützung kann beim Üben der einzelnen Sprechzeilen noch weggelassen werden, ist aber spätestens dann hilfreich, wenn einzelne Elemente des Rhythmicals gleichzeitig realisiert werden. Dialog in Kleingruppen üben und präsentieren Anschließend üben Kleingruppen einen Dialog ein, den sie sich aus den Angeboten zusammenstellen. Dabei werden die Zeilen zugleich rhythmisch gesichert. Sollte es auf segmentaler Ebene auffallende Ausspracheabweichungen geben, greift die Lehrkraft individuell korrigierend ein. 296 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="298"?> Ein Dialogverlauf kann zum Beispiel sein: TN1 Ausverkauf! Ausverkauf! Lauter schicke Sachen. TN2 Ein Hemd! Mit Blümchen! Ein Hemd! Mit Blümchen! TN3 Na toll. Und brauchst du das? TN2 Na klar. Das fehlt mir noch. TN3 Wozu? Wofür? TN2 Hm… eigentlich…. Ja! Wegen der Dynamik des Gesprächsverlaufs werden im Gegensatz zur Komposition in dieser Übe-Phase die Zeilen bis auf eine, in der eine intonatorische Steigerung möglich ist (Ein Hemd! Mit Blümchen! ), nicht wiederholt. Während der Erarbeitung geht die Lehrperson durch die Gruppen und gibt Anre‐ gungen, etwa: „Wie kannst du begeistert klingen? “ Sie kann auch etwas vormachen, zum Beispiel „Na toll! “ mit stark abfallendem Tonverlauf. Der Dialog wird nun weiter ausgestaltet, indem zum mutigeren Einsatz stimmlicher Mittel angeregt wird. Verstärkt wird durch Gesten, die ebenfalls eingeübt werden. Die erste Vorführphase wird mit Reflexion kombiniert, in der weitere stimmliche Möglichkeiten und ihre Wirkung erprobt werden. Das betrifft vor allem kurze Äußerungen wie „ja“ oder „nein“. Perner (2014: 317 f.) führt durch Übertragung in musikalische Notation sehr ein‐ drücklich vor, auf welche unterschiedliche Weise je nach semantischem Gehalt allein die Antwort hm-hmm auszusprechen ist und stellt die Frage, wie Deutschlernende diese Intonationsverläufe erlernen. Diese Einheit bietet Möglichkeiten des Erprobens und auch der Rückmeldung bezüglich der Wirkung. Rhythmicals erarbeiten und präsentieren Für die Erarbeitung der Rhythmicals werden erneut Gruppen gebildet. Dabei kann das gleichzeitige Sprechen der Textzeilen sukzessiv aufgebaut und durch eine Rhyth‐ musgruppe unterstützt werden. Es empfiehlt sich, ein Schlusssignal zu vereinbaren. In einer optionalen Phase kann gemeinsam eine Unisono-Zeile entwickelt werden, die z. B. inhaltlich den Kaufrausch und damit das Stück beendet. Nach lebhafter Aktivität erfolgt ein kreatives Erweitern und Umgestalten der Texte. Dabei kann dem vorgestellten Muster gefolgt werden: Es werden Dinge gesammelt, die man eigentlich nicht braucht, und mit Attributen versehen. Verbunden damit setzt die Wortschatzarbeit an, aber auch syntaktische Veränderungen sind möglich: „Ein Hemd! In Rosa! “ Ergänzend wird erprobt, wie die gefundenen Chunks rhythmisch passend gemacht werden. Dies dient der Vertiefung des Verständnisses für die Akzentverteilung im Deutschen. Reflexionsphasen Reflexionsphasen finden oft am Schluss einer Einheit statt, werden aber hier an mehreren Stellen eingebaut. Eine erstsprachnahe Artikulation wird von Jugendlichen und Erwachsenen in den meisten Fällen nicht intuitiv erworben. Aussprachetraining im Unterricht schließt das Explizitmachen von Position und Bewegung der Sprechwerk‐ 297 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="299"?> zeuge ein (Dahmen & Hirschfeld 2016: 5). Hirschfeld & Reinke (2018: 29) schlagen vor, auch die Wirkung von akzentbedingten Abweichungen zu thematisieren. In Reflexionsphasen über die erlernten Rhythmicals können je nach Bedarf einzelne Segmente in den Fokus rücken. Vorschläge zur Bewusstmachung des Aussprachefeh‐ lers und Verbesserungsmöglichkeiten finden sich bei Hirschfeld & Reinke (2018: 158). In der vorgestellten Einheit bietet es sich an, auch suprasegmentale Elemente zu thematisieren. Generell ist es die Aufgabe der Lehrkraft, für die Wichtigkeit und Wirkung prosodi‐ scher Mittel in der Kommunikation zu sensibilisieren. Die Teilnehmenden können sich zur Wirkung ihrer klanglichen Gestaltung mittels Tonhöhe und Betonung austauschen. Was für den einen übertrieben klingt, wirkt auf die andere gegebenenfalls überzeugend, auch abhängig von Persönlichkeit und Ausgangssprache. Dieser Austausch der Teil‐ nehmenden entspricht den Prinzipien performativen Unterrichts und ermöglicht die Beteiligung aller auf rezeptiver und produktiver Ebene: „Bei Lernenden, die […] eher zögerlich aktiv […] teilnehmen, kann das rezeptive Wahrnehmen und Reflektieren und Rezipieren eine erste Annäherung an später aktivere Partizipation darstellen“ (Miladinović 2019: 19). Das Potenzial der Rhythmicals liegt alles in allem darin, dass sie hinsichtlich des musikalischen Parameters Rhythmus beliebig zu gestalten sind. Sie können somit z. B. prosodische Eigenschaften des Deutschen hervorheben und Silbenlängen verdeut‐ lichen. Wiederkehrende Rhythmen lassen sich als Muster anlegen, mit deren Hilfe bestimmte Phänomene wiederholt und geübt werden. Durch kreative Umgestaltung der Texte können Transferleistungen stattfinden und Möglichkeiten der Überprüfung bieten: Die Lehrperson kann feststellen, ob die neuen Texte rhythmisch zur Prosodie des Deutschen passen bzw. ob die Silbenqualitäten berücksichtigt worden sind. Je nach prosodischer Kompetenz können die Lernenden einbezogen werden: Wie hört sich das an? Auf diese Weise lassen sich weitere Einheiten zur prosodischen Gestaltung anschließen, mit denen die Lernenden langfristig für prosodische Phänomene sensibi‐ lisiert und sicherer in ihrer Verwendung werden. Aufgaben 1.* Rekapitulieren Sie die Ausführungen in den ersten beiden Abschnitten des Kapitels: Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede lassen sich beim Vergleich der Phänomene Sprache und Musik benennen? 2.** Welche weiteren Kompetenzen lassen sich mit dem Rhythmical fördern, zum Beispiel durch textliche Veränderungen? Entwickeln Sie Lernmöglichkeiten auf lexikalischer und auf syntaktischer Ebene. Welcher neue Wortschatz bietet sich an? Können Wortbildungen einbezogen werden, zum Beispiel Komposita (Kaffeetasse)? Sind die Sätze komplexer zu gestalten? 3.*** In mehreren der im Text zitierten Artikel wird die Frage der Wirksamkeitsevi‐ denz von musikalischen Elementen im DaZ-Unterricht thematisiert. Sommer 298 Im Fokus: Wortgestalt, Rhythmus und Musik <?page no="300"?> (2016) kommt zu dem Fazit, dass viele der positiven Effekte, die das Singen im DaZ-Unterricht mit sich bringt, bislang nicht konkret nachgewiesen werden können und verweist daher Erfahrungen von Lehrenden in den Bereich des Anekdotischen. In anderen Artikeln werden aus Studien und Experimenten vorsichtig positive Schlüsse gezogen. Befassen Sie sich dazu genauer mit den Artikeln von Perner (2014), Sommer (2016) und Wild (2014). Inwieweit kann methodisches Vorgehen, das Musik und Sprache verbindet, erst dann als wirk‐ sam gelten, wenn diese Effektivität empirisch nachzuweisen ist? Vertiefende Literatur Barth, D. (Hrsg.) (2018): Musik - Sprache - Identität. Musikunterricht mit geflüchteten Jugendli‐ chen. Innsbruck u. a.: Helbling. Filz, R. (2008). Rhyth: MIX 1. Bodygrooves, Rhythmicals und Raps für rhythmisches Klassenmusi‐ zieren. Incl. CD. Innsbruck u. a.: Helbling. Hirschfeld, U. (o. J.). Bewegte Phonetik. Ausspracheübungen mit französischen Schülern im Deutsch- und Englischunterricht. Paris: Goethe-Institut. Online unter: https: / / www.goethe.de / ins/ fr/ lp/ prj/ clb/ mmo/ priv/ 11670787-STANDARD.pdf (letzter Zugriff 02.09.2021) Download: Stundenverlaufsplan 299 13 Sprachliches Lernen mit Liedern und Rhythmicals <?page no="302"?> Im Fokus: Bewegen und Handeln Aktivierung a. Rekapitulieren Sie Ihren eigenen Sprachunterricht oder fremden Sprachunterricht, bei dem Sie hospitiert haben: Kam bzw. kommt darin körperliche Bewegung vor und wenn ja, in welcher Weise? Tauschen Sie sich über Ihre diesbezüglichen Erfahrungen in Kleingruppen (3-4 Personen) aus. Betrachten Sie dann gemeinsam die folgenden drei Beispiele: (1) Die Bewegungspause: In der Mitte der Stunde wird eine kurze Bewegungspause eingeschoben, in der die Schüler: innen alle aufstehen und Lockerungsübungen machen. Anschließend wird weitergelernt. (2) Ein Laufdiktat: Der Diktattext klebt an der Tafel. Die Schüler: innen lesen einen Teil des Textes, memorieren ihn laufend auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, schreiben dort so viel wie möglich nieder und bewegen sich zurück zur Tafel usw. (3) Wortschatz durch Bewegung lernen: Die Schüler: innen lernen das Verb schleichen, während sie durch den Raum schleichen und dabei das Verb laut benennen: „Ich schleiche durch den Raum.“ Wie unterscheiden sich die drei Beispiele? Überlegen Sie gemeinsam, wie in den drei Beispielen Bewegung und (sprachliches) Lernen jeweils methodisch verknüpft werden. b. Sind Sie bereits mit handlungsorientiertem Fremd-/ Zweitsprachenunterricht in Berührung gekommen? Überlegen Sie zu zweit, welche Kriterien ein Fremd-/ Zweitsprachenunterricht erfüllen muss, um als handlungsorientiert gelten zu können. Notieren Sie Ihre Kriterien und vergleichen Sie sie mit den Kriterien, die ein anderes Zweierteam aufgestellt hat. c. Recherchieren Sie, was sich hinter dem Ansatz Total Physical Response (TPR) verbirgt. Wenn Sie Ihre in Aufgabe (b) gesammelten Kriterien zugrunde legen, inwiefern ist dann der TPR-Ansatz handlungsorientiert (oder nicht)? d. In der Berufsschule/ im Berufskolleg wird in der Regel handlungsorientiert gelehrt und gelernt, denn die Lerngegenstände sind vorrangig Handlungen, die in den späteren (technischen, kaufmännischen etc.) Berufen auszuführen sind (z. B. Rohre schweißen, Haarschnitttechnik üben, ein Kundengespräch führen). Überlegen Sie in Kleingruppen (3-4 Personen), wie sich die Handlungsorientierung methodisch nutzen ließe, wenn die Schüler: innen des Berufskollegs Deutsch als Zweitsprache erwerben und in ihrem Erwerb noch ganz am Anfang stehen. ***** In Teil I des Lehr-/ Praxisbuches haben wir definiert, dass zweitsprachendidaktische Konzepte und Methoden performativ sind, wenn in ihnen der sich bewegende Körper, das eigene ästhetische Wahrnehmen, Fühlen, Handeln und Erleben zentrale Bedeutung <?page no="303"?> erhalten. Sowohl körperliches Bewegen als auch Handeln können in diesem Sinne Merkmale einer performativen DaZ-Didaktik sein. Zwar ziehen sich die beiden Kom‐ ponenten (Bewegung, Handlung) in Teil II wie ein roter Faden durch die Kapitel aller Rubriken des Buches, andere Aspekte stehen dort jedoch im Vordergrund. In dieser Rubrik werden nun Bewegen und Handeln gezielt in den Blick genommen: Kapitel 14 unterscheidet zunächst auf methodischer Ebene unterschiedliche Typen, wie Bewegung beim (sprachlichen) Lernen generell zum Einsatz kommen kann, und zwar: Sprachliches Lernen in Bewegung, Sprachliches Lernen mit Bewegung und Sprach‐ liches Lernen durch Bewegung. Für den letztgenannten Typ wird anschließend exem‐ plarisch ein Unterrichtsvorschlag entwickelt, der auf Wechselpräpositionen fokussiert und bei dem die formbezogenen, grammatischen Besonderheiten des Gebrauchs und der damit verbundene Kasuswechsel (Ich springe auf den Tisch - ich tanze auf dem Tisch) primär durch sportliche Bewegung erschlossen werden. Kapitel 15 stellt komplementierend das Handeln in den Mittelpunkt und zeigt im ersten Schritt auf, wie sich handlungsorientierte Ansätze des Fremd-/ Zweitsprachen‐ unterrichts klassifizieren lassen. Der Fokus richtet sich dann auf die HOSS-Methode (Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch), bei der sprachliches Lernen mit der Herstellung eines konkreten Produkts inklusive Planung, Durchführung und Reflexion verknüpft wird. Das konkrete Unterrichtsbeispiel macht deutlich, wie die HOSS-Methode gerade auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geeignet ist, die noch ganz am Anfang ihres Deutscherwerbs stehen. Kapitel 16 vertieft eine weitere Facette möglichen Handelns im performativen Zweitsprachenunterricht: Hier stehen Berufsvorbereitungs- und Berufsorientierungs‐ klassen für zugewanderte Jugendliche und junge Erwachsene im Zentrum. Das Kapitel illustriert, wie sich typische Berufsalltagssituationen inszenieren lassen, um fachliches, sprachliches und kommunikatives Lernen zu verknüpfen und den Lernenden zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf zu verhelfen. Wesentlich für alle in dieser Rubrik vorgestellten Zugänge ist, dass Bewegen und Handeln von den Lernenden wirklich körperlich vollzogen und nicht ausschließlich gedanklich simuliert werden. Ebendies macht bewegungs- und handlungsorientierte Zugänge zu performativen Zugängen. 302 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="304"?> 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung Alexandra L. Zepter Wenn wir sprachlich durch Bewegung lernen, dann erschließen wir den sprach‐ lichen Lerngegenstand und gewinnen ein Verständnis des Gegenstands, indem wir bestimmte Bewegungen ausführen. Bewegung ist in dieser Lernform also für den Zugang zum Lerngegenstand wesentlich, ist im wörtlichen Sinne Mittel zum Zweck. Gerade wenn es darum geht, räumliche Beziehungen sprachlich zu benennen und zu beschreiben und in diesem Rahmen Präpositionen grammatisch richtig zu verwenden, bietet sich der Zugang Lernen durch Bewegung in besonderem Maße an. Denn wir erfassen in unserer unmittelbaren Lebenswelt räumliche Beziehungen nicht nur visuell, sondern auch motorisch, also über Bewegung. 14.1 Lernen und Bewegung Schon drei Stunden vor dem Rechner. Eine Hausarbeit schreiben. Hochkonzentriert. Plötzlich kommen die folgenden Gedanken: „Oh nein, mir fällt nichts mehr ein, ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Pause. Ich muss mich unbedingt bewegen. Am besten raus, einen Spaziergang machen oder joggen. Danach kann ich bestimmt wieder besser weiterarbeiten.“ Kennen Sie das und haben Ähnliches auch bereits öfter erlebt? Wir bewegen uns, um uns kognitiv zu entlasten. Auch im schulischen Alltag hat Bewegung allgemeinhin diese Funktion. Es gibt regelmäßige Pausen, die den täglichen Stundenverlauf in jeder Schulform und jeder Schulstufe systematisch durchbrechen und die man (idealerweise) bewegend auf dem Schulhof verbringt - oder in denen man zumindest aufsteht und den Klassenraum verlässt. Aber Bewegung kann auch anderen Zwecken dienen, die direkter etwas mit dem Lernen an sich zu tun haben. So basieren zahlreiche bewegungsorientierte didaktische Konzepte auf der Annahme, dass Bewegung eine Ressource, ja einen „Motor für die körperliche und geistige Entwicklung“ darstellt (Weiß, Vogelsinger & Stuppacher 2016: 9). Denn wenn wir uns im Raum bewegen, so kann dies den Zugang zu Informationen erweitern oder auch die Verarbeitung von Informationen verbessern (Müller & Obier 2004: 102). Überdies entstehen im Rahmen der Eigenwahrnehmung von Bewegung vielfältige Lernsituationen und Lernerfahrungen (Müller & Kschamer 2016: 5; vgl. auch Müller & Dinter 2020). Propriozeption Eine weniger bekannte Sinnesdimension des menschlichen Körpers ist die prop‐ riozeptive Wahrnehmung (= Eigenwahrnehmung). Propriozeption umfasst alle 303 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="305"?> inneren, auf den eigenen Körper gerichteten Wahrnehmungen - also z. B. die Wahrnehmung der eigenen Körperhaltung, der Lage und Stellung des Körpers im Raum oder der Bewegungen des eigenen Körpers. Im letztgenannten Fall, wenn es um das Wahrnehmen der eigenen Bewegungen geht, spricht man manchmal auch von Bewegungssinn oder kinästhetischem Sinn. Viele Arbeiten zur Relevanz von Bewegung für frühkindliche, vorschulische und schulische Lernprozesse stammen aus der Psychomotorik - einer Fachdisziplin, die die generellen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen motorischen und psychischen Prozessen erforscht (vgl. u. a. Zimmer & Vahle 2005, Zimmer 2006, Hunger & Zimmer 2007). In der Regel geht die Psychomotorik von einem ganzheitlichen Verständnis des Zusammenspiels von Bewegen, Denken, Handeln und Erleben aus und weist folglich viele Schnittstellen mit Embodiment-Theorien auf (siehe Kap. 2.1 in die‐ sem Band). Zimmer (2009) geht dabei auch spezifisch auf die Nutzungsmöglichkeiten von Bewegung beim sprachlichen Lernen ein. Im Kontext der Psychomotorik hat sich eine Klassifizierung etabliert, die verschie‐ dene Verknüpfungsmöglichkeiten von Bewegung und Lernen differenziert: Lernen mit Bewegung, Lernen in Bewegung und Lernen durch Bewegung (vgl. Beckmann, Janßen & Probst 2012, Müller & Kschamer 2016). Bei den beiden ersten Formen werden Bewegen und Lernen ‚nur‘ zeitlich verbunden - entweder indem Bewegen und Lernen sich systematisch abwechseln oder indem sich während des Lernens auch bewegt wird. Bei Lernen durch Bewegung findet dagegen eine zeitliche und inhaltliche Verzahnung statt: Lernen mit Bewegung bedeutet, dass das Lernen durch eingeschobene Bewegungs‐ einheiten strukturiert und entlastet wird. So werden z. B. regelmäßig Bewegungspau‐ sen oder auch Meditationspausen eingeplant. Oder man lernt mit Stationenarbeit, bei der die Schüler: innen eine Lernaufgabe an einer Station lösen müssen und sich dann zur nächsten Station bewegen, um dort eine weitere Aufgabe zu lösen usw. Auch der Einsatz von bewegtem Mobiliar im Klassenraum kann dazugehören. Stehen z. B. rollbare Sitzpulte, aus denen man auch Stehpulte machen kann, und zusätzlich noch Wackelhocker oder Medizinbälle zum Sitzen zur Verfügung, kann immer wieder zwischen verschiedenen Stellungen beim Lernen gewechselt werden. Ziel des Lernens mit Bewegung ist es, eine Entlastung der kognitiven Prozesse zu ermöglichen und das Lernen auszubalancieren, indem ein angemessener Wechsel zwischen kognitiver und motorischer Anspannung und Entspannung herbeigeführt wird. Inhaltlich besteht kein Zusammenhang zwischen dem Lernen und dem Bewegen. Auch beim Lernen in Bewegung gibt es keinen inhaltlichen, sondern nur einen zeitlichen Zusammenhang. Aber Lernen und Bewegen rücken hier zeitlich noch näher zusammen, da sie auch methodisch verknüpft werden und das Bewegen den Lernprozess quasi unmittelbar begleitet. Ein Beispiel sind Lauf- oder Schleichdiktate, bei denen das Lesen eines Diktattextes und das Schreiben an zwei verschiedenen Orten 304 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="306"?> im Raum stattfinden. Der Diktattext klebt z. B. an der Tafel. Die Schüler: innen lesen einen Teil des Textes, memorieren ihn schleichend oder laufend auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, schreiben dort so viel wie möglich nieder und bewegen sich zurück zur Tafel usw. Eine interessante Übung ist es auch, über die Flure oder den Schulhof ‚spazieren‘ zu gehen, während man einen Text schreibt; oder ein Unterrichtsgespräch zu führen, während alle beteiligten Schüler: innen im Klassenraum umherwandern. Lernen durch Bewegung verknüpft schließlich Lernen und Bewegen sowohl auf zeitlicher als auch auf inhaltlicher Ebene. Das Sich-Bewegen wird in diesem Fall eingesetzt, um dadurch einen (weiteren) Zugang zum Lerngegenstand zu schaffen. Der Lerngegenstand wird dann durch eine vom Lernenden selbst ausgeführte Bewe‐ gungshandlung - ein Handeln in Bewegung - und mithilfe der auf die Bewegung gerichtete Eigenwahrnehmung bzw. des kinästhetischen Sinns oder über die eigene Körpererfahrung propriozeptiv erschlossen. Tab. 14.1: Drei verschiedene Formen der systematischen Verknüpfung von Lernen und Bewegung 305 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="307"?> In Teil II dieses Buches finden sich zahlreiche Beispiele für sprachliches Lernen durch Bewegung - wenn etwa Wort- und Satzbedeutungen durch ein Ausagieren bzw. durch körperlich ausgeführte Handlungen erschlossen werden oder für grammatische Muster (Wortbildungsmuster, Kasusmuster etc.) mithilfe von Bewegung sensibilisiert wird. Letztlich sind performative Zugänge zu DaZ immer auch Spielarten von Lernen in oder durch Bewegung, sobald Bewegung dabei zum Einsatz kommt. Abschnitt 14.3 entwickelt im Folgenden einen weiteren Unterrichtsvorschlag, bei dem Wechselpräpo‐ sitionen und die damit verbundenen Kasusmuster im Lernfokus stehen. Die Bewegung ist vorrangig sportlich. Generell bietet sich die Verknüpfung Lernen durch Bewegung bei lokalen Präposi‐ tionen in besonderem Maße an, weil es inhaltlich um räumliche Bezüge geht und wir uns unser Wissen über räumliche Beziehungen grundsätzlich nicht nur visuell, sondern auch motorisch aneignen. Bevor Abschnitt 14.3 den Unterrichtsvorschlag konkretisiert, wirft der folgende Abschnitt 14.2 zunächst einen erläuternden Blick auf einige in diesem Zusammenhang relevante Eigenschaften von Präpositionen im Deutschen. Zum Gegenstand der Präpositionen insgesamt und im Detail siehe Zifonun et al. (1997: 2074 ff.). Für eine ausführliche Behandlung lokaler Präpositionen als Lerngegenstand in der Erst- und Zweitsprache Deutsch siehe Bryant (2012). 14.2 Präpositionen und Kasus Präpositionen sind im Deutschen ein komplexer Lerngegenstand und dies liegt nicht nur daran, dass es viele Präpositionen gibt und mit ihnen zahlreiche (räumliche, zeitliche, kausale, modale) Relationen ausgedrückt werden können. Präpositionen bestimmen im Deutschen auch den Kasus der ihnen folgenden Nominalgruppe; fachsprachlich: sie regieren den Kasus der folgenden Nominalgruppe. Der angemessene Gebrauch von Präpositionen schließt somit immer den Gebrauch von Kasus und das Wissen um die grammatisch richtige Kasusmarkierung der jeweils verknüpften Nominalgruppe mit ein. Die Präposition von fordert z. B. den Dativ, vgl. von meiner Mutter mit der Nominal‐ gruppe meiner Mutter im Dativ. Dass der Kasus tatsächlich von der Präposition abhängt, lässt sich leicht daran feststellen, dass ein Austausch ggf. zu einem Kasuswechsel führt. Anders als von regiert für z. B. den Akkusativ und wegen den Genitiv: Präpositionen regieren den Kasus der folgenden Nominalgruppe → 1. P + Dativ: - von meiner Mutter - von meinem Vater - von meinem Kind 2. P + Akkusativ: - für meine Mutter - für meinen Vater - für mein Kind 306 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="308"?> 3. P + Genitiv: - wegen meiner Mutter - wegen meines Vaters - wegen meines Kindes Von, für und wegen sind Beispiele für Präpositionen, die nur einen Kasus fordern können und bei denen weder an ihrer Gestalt (morphologisch) ersichtlich noch aus ihrer Bedeutung zu erschließen ist, warum ausgerechnet dieser Kasus und kein anderer regiert wird. Die Zuordnung ist arbiträr und (im DaZ-Erwerb) für jede Präposition einzeln zu lernen. Im Gegensatz dazu gibt es bei einer großen Anzahl von lokalen Präpositionen - den sogenannten Wechselpräpositionen - zwei Optionen: Entweder sie verknüpfen sich mit einer Nominalgruppe im Akkusativ oder im Dativ. Die spezifische Relations‐ bedeutung ergibt sich in diesen Fällen systematisch aus der Kombination von lokaler Präposition und Kasusmarkierung: Wechselpräpositionen können Akkusativ oder Dativ regieren → 1. Ich springe in den Kreis (rein). 2. Ich springe im Kreis hoch. 3. Ich werfe mich auf das Bett. 4. Ich wälze mich auf dem Bett hin und her. 5. Ich stelle mich neben den Stuhl. 6. Ich stehe neben dem Stuhl. 7. Ich gehe vor den Tisch. 8. Ich stampfe vor dem Tisch mit den Füßen. 9. Ich krieche unter den Tisch. 10. Ich sitze unter dem Tisch. Eine Wechselpräposition regiert den Akkusativ genau dann, wenn eine direktive Lesart ausgedrückt werden soll. Das bedeutet, das Kasusmuster Akkusativ markiert ein entstehendes Lokalisierungsverhältnis, eine Richtung (Zifonun et al. 1997: 2105 ff.). Wenn ich mich auf das Bett werfe, dann bewege ich mich in die Richtung der räumlichen Beziehung ‚Ich AUF Bett‘, die Lokalisierung entsteht aber erst und dieser Entstehungsprozess wird benannt. Ist dagegen eine lokale Lesart beabsichtigt, muss der gleichen lokalen Präposition der Dativ folgen. Dativ markiert ein bestehendes Lokalisierungsverhältnis, d. h. die Verortung an einem Ort, an einer Stelle im Raum (Zifonun et al. ebd.). Mich auf dem Bett wälzen kann ich nur, wenn die Lokalisierung ‚Ich AUF Bett‘ bereits gegeben ist. 307 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="309"?> Man könnte annehmen, dass die Systematik der Wechselpräpositionen sich erleich‐ ternd auf den zweitsprachlichen Aneignungsprozess auswirkt. Jedoch ist offenbar das Gegenteil der Fall: Nach einer Studie von Diehl et al. (2000: 322) sind im Nominalbereich insbesondere die Präpositionalgruppen (Präposition + Nominalgruppe) „ein äußerst komplexer und schwieriger Lerngegenstand“ im DaZ-Erwerb und gerade bei den Wechselpräpositionen bleibt auch bei einer fortschreitenden Sprachaneignung in anderen grammatischen Bereichen die Fehlerquote vergleichsweise resistent hoch, noch höher als bei Präpositionen, die einen festen Kasus regieren. Um Zweitsprachenlernenden zu helfen, den Weg ins deutsche Lokalisierungssystem zu finden, erscheint es sinnvoll, sich anzuschauen, wie Erstsprachenerwerbende hier vorgehen, wie sie sprachspezifische Zusammenhänge entdecken und ausnutzen, um sich sukzessive das hochkomplexe Lokalisierungssystem zu erarbeiten (Bryant 2015: 4). Zweitsprachenlernende erschließen sich die Systemzusammenhänge nicht so ohne Weiteres. Zum einen beeinflusst die Erstsprache den Erwerbsprozess und zum anderen ist in Sprachförder- und Sprachunterrichtskontexten der Input häufig (konzeptionell) schriftsprachlich geprägt. Die Relevanz der Umgangssprache für die Anbahnung und Automatisierung bestimmter sprachspezifischer Muster, auf deren Fundament sich das höhere Sprachregister erst in zielsprachlicher Weise entfalten kann, wird nur allzu oft unterschätzt (ebd.: 4). Lokale Präpositionen sind bei Kindern mit Deutsch als Erstsprache keineswegs die ersten Lokalisierungsausdrücke. Stattdessen gebrauchen sie zunächst lokale Partikeln und Adverbien - oft in Kombination mit Bewegungsverben (Bryant 2012a: 176 f.): z. B. reingehen, reinstecken, reinlegen; raufklettern, draufstellen, draufsetzen etc. Lokale Partikeln und Adverbien sind im kindlichen Input reichlich enthalten und zudem durch ihre Betonung und ihre Position (oft am Satzende) für die Kinder besonders gut wahrnehmbar. Daher werden diese Lokalisierungsausdrücke früher entdeckt und produktiv verwendet als Präpositionen, die in der Regel unbetont sind (ebd.: 158 f.). Deutschsprachige Eltern helfen ihren Kindern beim Erwerb des Lokalisierungssystems, indem sie redundante Konstruktionen vom Typ ‚setz ich mich in 'nen Kreis rein; immer auf 'n Tisch die Schalen draufwerfen; jetzt halte mal das Sieb über den Teig drüber‘ häufig gebrauchen. Sie bieten den Kindern damit eine Struktur an, in der sich einerseits die für den Systemeinstieg relevanten betonten lokalen Informationsträger in salienter Position befinden und andererseits die im weiteren Erwerbsverlauf zu detektierenden unbetonten Präpositionen enthalten sind (ebd.: 182 ff.). Der erste Lokalisierungsausdruck, der im Erstspracherwerb auftaucht, ist die Parti‐ kel rein, die ein entstehendes Lokalisierungsverhältnis, also eine Richtung, markiert (ebd.: 185). Das Entscheidende: Für Lernende etabliert rein den wesentlichen Ausgangs‐ punkt für die Aneignung aller weiteren Lokalisierungsausdrücke - einer Aneignung, bei der sich neue Ausdrücke vorrangig „im Kontrast zu einer bereits etablierten Kategorie [eines bereits etablierten Lokalisierungsausdrucks] herausbilden“ (ebd.: 183). Dies sei im Folgenden kurz am Beispiel von rein skizziert: Den ersten Kontrast zu rein baut das lokale Adverb drin auf, das ein bestehendes Lokalisierungsverhältnis markiert: 308 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="310"?> vgl. steck das da rein vs. das ist da drin. Ziel ist die Lokalisierung in einem Behältnis. Bei steck das da rein wird eine direktive Beziehung ausgedrückt, bei der es darum geht, dass eine Lokalisierung IN dem Behälter entsteht. Bei das ist da drin besteht diese Lokalisierung bereits und dies wird benannt: Etwas ist IN dem Behälter. Die Opposition von rein und drin bildet wiederum die Basis für die spätere Aneignung der Wechselprä‐ positionen, bei denen entstehendes und bestehendes Lokalisierungsverhältnis über die Kasusmarkierung (Akkusativ: in den Behälter vs. Dativ: in dem Behälter) differenziert wird. Bei all dem ist hervorzuheben, dass Kinder sich in ihrem Spracherwerb nur die Formen aneignen können, zu denen sie in ausreichendem Maße von ihren Bezugsper‐ sonen einen sprachlichen Input erhalten. In der Entwicklung vom ausschließlichen Gebrauch lokaler Partikeln und Adverbien hin zum Verstehen und Nutzen von lokalen Präpositionen kommen - wie oben bereits angeklungen - dem sprachlichen Angebot und Vorbild durch die Bezugspersonen zentrale Bedeutung zu. So werden Lokalisie‐ rungsausdrücke von Eltern in der Kommunikation mit dem Kind häufig wiederholt und dann variiert und neben der einfachen Verwendung tauchen vermehrt Konstruktionen auf, die die Partikeln/ Adverbien mit lokalen Präpositionen kombinieren: Doppelkonstruktionen aus lokalen Partikeln/ Adverbien und Präpositionen → (Bryant 2012a: 188, 196; eigene Hervorhebungen) 1. a) Gleich schieben wir den Kuchen in den warmen Ofen rein. b) Du schiebst deinen rein. 2. a) Was is’n noch im Schiff drinne? b) Wie viel kleine sind drin? 3. a) Spring mal rein. b) Spring mal da-rein. c) Spring mal in den Kreis rein. d) Spring mal rein. Bryant (2012a: 196) zufolge liegt es nahe, das „Erfolgsrezept“ des Erstspracherwerbs für die DaZ-Förderung zu übernehmen und das gesamte strukturelle Spektrum (rein/ drin; da-rein/ da-(d)rin; in+rein und in+drin) situationsgebunden und in hoher Frequenz zu gebrauchen. Das bedeutet auch, nicht der Versuchung zu erliegen, den Prozess abkür‐ zen und das Ziel der Aneignung bildungssprachlicher Formen (Wechselpräpositionen mit korrekter Kasusdifferenzierung) ohne die Brücke bzw. Basis der alltagssprachlichen Partikel-/ Adverb-Konstruktionen verfolgen zu wollen. Der folgende Unterrichtsvorschlag zur Sensibilisierung der Lokalisierungsverhält‐ nisse und Kasusmuster bei Wechselpräpositionen orientiert sich an dieser Brücke. Zudem stellt er ein Beispiel für sprachliches Lernen durch Bewegung dar und sucht den Zugang zur Unterscheidung der zwei Lokalisierungsverhältnisse zunächst über die Bewegung und die damit verbundene Eigenwahrnehmung. 309 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="311"?> Didaktische Implikationen für Deutschlernende Konstruktionen lokaler Dopplung mit rein und drin zur Unterstützung des Kasuserwerbs Kasus muss im Deutschen am Artikel markiert werden. Daneben hat der Artikel aber noch weitere grammatische Funktionen (In-/ Definitheit, Genus, Numerus) zu kodieren. Da nur wenige Artikelformen (die, der, das, den, dem, des) zur Markierung dieser Funktionskomplexe zur Verfügung stehen, ist das Artikelsystem für die Lernenden nicht leicht zu durchschauen. Lernende suchen nach Form-/ Funktionszusammenhängen. Ein transparentes Sys‐ tem würde eine Form für eine grammatische Funktion / eine grammatische Bedeu‐ tung vorsehen (Bryant 2021: 132 f.). Die deutsche Nominalflexion ist von diesem erwerbsbegünstigenden Ideal jedoch weit entfernt. Die sogenannte Polyfunktio‐ nalität deutscher Artikel erschwert es den Deutschlernenden, Kasusunterschiede zu erkennen, was sich dann auch in der Unsicherheit und Fehleranfälligkeit beim Gebrauch der Wechselpräpositionen und ihrer Kasusrektion zeigt (ebd.: 144). Konstruktionen lokaler Dopplung (rein + in Akk und drin + in Dat ) können dazu beitragen, die Kasus-Sensitivität zu erhöhen, da vermittelt durch die sich in ihrer Form unterscheidenden Elemente rein und drin die Lernenden auf Bedeutungsun‐ terschiede aufmerksam werden (Bryant 2012a: 189). Dabei wird den Lernenden auch der Bedeutungsbeitrag der im polyfunktionalen Artikel „versteckten“ Kasus‐ information präsenter (ebd.: 189), vgl.: in die Kiste rein vs. in der Kiste drin; in den Kreis rein vs. in dem Kreis drin; in das Zimmer rein vs. in dem Zimmer drin. 14.3 Sprachliches Lernen durch Bewegung zu Wechselpräpositionen Das Beispiel umfasst insgesamt ca. zwei Doppelstunden und eignet sich am besten für die Sekundarstufe I (5./ 6. Klasse) bzw. für DaZ-Lernende, die das Niveau B1 bereits erreicht haben. Bis auf den Einstieg wurden die Aufgaben und das Material bereits in Zepter (2020) vorgestellt; zur theoretischen Fundierung siehe auch Zepter (2019). Die erste Doppelstunde zielt auf die Sensibilisierung der Differenzierung zwischen ent‐ stehendem und bestehendem Lokalisierungsverhältnis ab. Die Muster Direktion/ Rich‐ tung und Lokalität/ Ort werden zusammen mit den damit verbundenen Kasusmustern durch Bewegung (Handlung) in propriozeptiver Erfahrung (Eigenwahrnehmung) und entsprechender visueller Fremdbeobachtung zugänglich gemacht. Dafür ist es dienlich, das Klassenzimmer zu verlassen und in der Turnhalle (oder auf dem Schulhof) zu arbeiten. In der ersten Stunde werden (Doppel-)Konstruktionen mit den lokalen Partikeln/ Adverbien rein, drin, rauf und drauf geübt. Die zweite Stunde fokussiert auf die Wechselpräposition in. 310 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="312"?> Erste Unterrichtsstunde - Warm-up: Bewegungsverben Die Stunde beginnt mit einer Aufwärmphase. Alle Schüler: innen verteilen sich im Raum und nutzen die gesamte Fläche der Turnhalle. Die Lehrkraft (LK) führt verschie‐ dene Gangarten bzw. Fortbewegungsmöglichkeiten vor und benennt dazu das passende Bewegungsverb: „Zuerst gehen wir alle ganz normal durch den Raum. Bitte sprecht mit mir mit: Wir gehen durch den Raum. Sehr gut - und jetzt schaut, was ich mache: Ich schleiche durch den Raum. Lasst uns das alle zusammen probieren: Wir schleichen durch den Raum.“ Auf diese Weise werden verschiedene Bewegungsverben gesammelt; Sprechen und Bewegen werden immer zeitgleich ausgeführt, z. B.: schleichen → ich schleiche, wir schleichen, ihr schleicht … springen → ich springe, wir springen, ihr springt … hüpfen → ich hüpfe, Malina und Ahmet hüpfen … schlendern → … kriechen → … stampfen → … humpeln → … Erste Unterrichtsstunde - Parcours mit Sackhüpfen und Springkasten Im Mittelpunkt der Stunde steht ein Parcoursspiel. Dafür bilden die Schüler: innen 4er-Gruppen, bei 24 Schüler: innen ergeben sich z. B. sechs Gruppen. Als Hilfsmittel benötigt werden zwölf längere Schnürsenkel (oder Bänder), sechs große Säcke, z. B. Schlafsäcke oder 120-L-Mülltüten, und drei Turnkästen. Der Parcours ist die Strecke von der einen Breitseite der Turnhalle zur anderen. Die Säcke werden auf halber Strecke in die Mitte der Turnhalle gelegt, die drei Turnkästen ans Ende der Strecke an der Wand platziert. Jedes 4er-Team wird noch einmal in zwei Paare aufgeteilt, die sich jeweils zusam‐ men durch den Raum bewegen müssen. Dafür wird jeweils der rechte Knöchel der einen Schüler: in mit dem linken Knöchel der anderen Schüler: in mit einem Schnürsenkel/ Band zusammengebunden. Alle 4er-Teams spielen gegeneinander und positionieren sich dafür an der Breitseite der Turnhalle, die der Wand mit den Turnkästen gegenüberliegt und die die Startlinie bildet. Die LK erklärt die Regeln des Spiels: „Wir machen eine Art Staffellauf. Jedes Team besteht aus zwei Ko-Teams: Ko-Team I und Ko-Team II. In der ersten Runde müsst ihr alle schleichen. Auf mein Startsignal schleicht Ko-Team I aus jedem Team zur Mitte des Raums und steigt gemeinsam in einen Sack rein. Ko-Team I, ihr müsst dann laut eurem Ko-Team II zurufen: Wir steigen jetzt in den Sack rein. Wenn ihr in dem Sack drin seid, ruft ihr: Wir sind jetzt in dem Sack drin. Erst dann darf Ko-Team II loslegen. 311 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="313"?> Ko-Team II schleicht durch die ganze Halle und steigt auf einen der Turnkästen rauf. Ko-Team II, ihr müsst dann eurem Ko-Team I zurufen: Wir steigen jetzt auf den Turnkasten rauf. Wenn ihr oben auf dem Turnkasten drauf seid, ruft ihr: Wir sind jetzt auf dem Turnkasten drauf. Erst dann darf Ko-Team I wieder loslegen und im Sack zum Turnkasten hüpfen. Wenn ihr da seid, lasst ihr den Sack fallen und steigt auch auf den Turnkasten rauf. Das 4er-Team, das zuerst gemeinsam rufen kann Wir sind jetzt ALLE auf dem Turnkasten drauf, hat gewonnen.“ Am besten macht man einen Probedurchgang und demonstriert den Ablauf noch einmal mit einem 4er-Team. Anschließend können mehrere Runden mit jeweils unter‐ schiedlichen Gangarten (schleichen, hüpfen, schlendern, humpeln etc.) gespielt werden. Die Ko-Teams können auch untereinander ihre Rollen (Ko-Team I, II) wechseln. Wichtig ist, dass das Ausrufen der rein-/ drin-/ rauf-/ drauf-Bewegungen nicht ausge‐ lassen wird. Wahlweise kann man diesbezüglich die Regeln verschärfen, so dass ein Team, das das Zurufen vergisst oder nicht komplett umsetzt, ausscheidet oder von vorn beginnen muss. Schüler: innen, für die eine Teilnahme am Spiel nicht möglich ist, können alternativ auch die Rolle von Sportkommentator: innen übernehmen. Die Kommentator: innen beobachten das Spiel und berichten live einem imaginären Publikum (wahlweise mit Aufnahme auf einem Smartphone o. Ä.): „Das grüne Ko-Team I bewegt sich jetzt auf den Sack zu … und es steigt in den Sack rein … Jetzt ist Ko-Team I grün in dem Sack drin … aber da nähert sich bereits das blaue Ko-Team I …“ Die Stunde schließt mit einer kurzen Reflexionsphase. Dafür wird die Aufmerksam‐ keit der Schüler: innen auf die sprachliche Beschreibung der Bewegungen gelenkt. Die LK könnte die Reflexionsphase z. B. wie folgt einleiten: „Bei dem Staffellauf musstet ihr an bestimmten Stellen laut beschreiben, was ihr gerade macht. Wir steigen jetzt in den Sack rein. Wir sind jetzt in dem Sack drin. Wenn wir uns die sprachlichen Formen der beiden Sätze anschauen: Was fällt euch dazu auf, welche Form von der Sack ihr bei rein und welche ihr bei drin verwendet habt? “ Die Schüler: innen können hier entweder die verschiedenen Nominalgruppen der jeweiligen Partikeln/ dem jeweiligen Adverb zuordnen oder darüber hinaus auch begrifflich benennen, um welchen Kasus es sich jeweils handelt. Wesentlich ist, dass an dieser Stelle explizit wird, was in der Stunde bei den sprachlichen Beschreibungen formbezogen im Vordergrund stand: den Sack/ den Turnkasten mit rein/ rauf - dem Sack/ dem Turnkasten mit drin/ drauf. Zweite Unterrichtstunde - Lokale Präpositionen: in den Kreis und in dem Kreis Die zweite Stunde wird ebenfalls in der Turnhalle oder alternativ auf dem Schulhof durchgeführt. In der Turnhalle benötigt man große, verschiedenfarbige Hula-Hoop-Reifen, die in der gesamten Halle auf dem Boden zu verteilen sind. Auf dem Schulhof können mit farbiger Kreide große Kreise auf den Boden gezeichnet oder mit verschiedenfarbigen Seilen große Kreise ausgelegt werden. In den Fokus rücken nun der Gebrauch der Wechselpräpositionen und eine noch gezieltere Sensibilisierung für die damit verbundenen Kasusmuster. Die Stunde kon‐ zentriert sich auf zunächst nur eine Präposition: in. 312 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="314"?> Die Kreise kommen wie folgt zum Einsatz. Erneut demonstriert, spricht und bewegt sich die LK gleichzeitig und arbeitet z. B. mit den Chunks: „Ich springe in den Kreis.“ - „Ich springe in dem Kreis hin und her.“ Das bedeutet, bei Aufruf der direktiven Lesart (→ Richtung; entstehendes Lokalisierungsverhältnis) bewegt sich die LK in den Kreis hinein und überquert dessen äußeren Rand; bei der lokalen Lesart (• Ort; bestehendes Lokalisierungsverhältnis) befindet und bewegt sie sich im Kreis und verlässt diesen nicht. Darauf aufbauend folgt eine Phase, in der alle zusammen sprechen und sich bewegen, wobei die LK unterschiedliche Variationen mit den in der vorherigen Stunde etablierten Bewegungsverben ansagen bzw. erfragen kann; z. B.: „Wir schlendern in den Kreis. Wir schlendern in dem Kreis hin und her.“ - „Wir humpeln in den Kreis. Wir humpeln in dem Kreis hin und her.“ etc. Eine weitere Phase kann eine Sprachrunde darstellen, bei der reihum die Lernen‐ den alleine formulieren und sprechen, dabei aber gleichzeitig immer das Gesagte zusätzlich in Bewegung umsetzen und also während des Sprechens die Grenze eines Kreises entweder überqueren oder innerhalb eines Kreises agieren. Durch die farbliche Differenzierung der Kreise können wahlweise Farbadjektive die Nominalgruppen erweitern: a. „Ich schlendere in den gelben Kreis. Romy, was machst du? “ - b. „Ich schlendere in dem blauen Kreis hin und her. Malina, was machst du? “ - c. „Ich schlendere in dem grünen Kreis hin und her. Ahmet, was machst du? “ - usw. Abb. 14.1: Direktive Lesart - In den roten Kreis schlendern Abb. 14.2: Lokale Lesart - Im Kreis hüpfen Je nach Lerngruppe sind darüber hinaus weitere Variationen denkbar; so kann z. B. eine Person sich nur pantomimisch bewegen und die anderen erraten die Handlung. Weiterführend können die Schüler: innen selbst kreativ werden, sich in Kleingruppen 313 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="315"?> eigene Aufgaben ausdenken und anschließend miteinander teilen. Bei besonders bewe‐ gungstalentierten Lernenden ist auch eine Kombination mit Bewegungskunststücken möglich (z. B. „Ich schlage ein Rad in den schwarzen Kreis.“ - „Ich mache einen Handstand in dem roten Kreis.“ „Ich mache eine Break-Dance-Figur in dem grünen Kreis.“ o. Ä.). Auch die zweite Stunde schließt mit einer Reflexion über die verschiedenen sprach‐ lichen Formen, die im Mittelpunkt standen. Gemeinsam mit der LK tauschen sich die Schüler: innen darüber aus, wann in den Kreis gebraucht wurde und wann in dem Kreis. Ziel ist es, zu einer Gegenüberstellung zu gelangen: „In dem Kreis haben wir nur dann verwendet, wenn wir mit dem gesamten Körper im Kreis waren. Man kann sich dort bewegen, aber man ist an einem bestimmten Ort (im Kreis). In den Kreis taucht dagegen immer dann auf, wenn wir eine Bewegung in den Kreis rein machen, wenn wir also eine Richtung ausdrücken.“ Wahlweise kann die LK an dieser Stelle auch thematisieren, dass bei den Kreis die Nominalgruppe im Akkusativkasus auftritt, bei dem Kreis dagegen im Dativ; ggf. (je nach grammatischer Vorerfahrung) tun dies die Schüler: innen selbst. Noch hilfreicher wird es sein, wenn die Reflexion auch in Bezug zur vorherigen Stunde gesetzt wird und entsprechend vergleichende Entdeckungen zugelassen werden. Man kann auch gemeinsam Überlegungen dazu anstellen, in welchen Situationen/ Kontexten eher die Varianten mit rein/ drin etc. verwendet werden und wann es angemessener ist, die Partikeln/ Adverbien wegzulassen. Dritte Unterrichtsstunde - Visualisierung der Lokalisierungsverhältnisse In der dritten Stunde wechselt man zurück ins Klassenzimmer und unterstützt die Sensibilisierung für die Muster Direktion/ Richtung/ Akkusativ und Lokalität/ Ort/ Dativ über eine Visualisierung mithilfe von Bildzeichen und Aufgaben, die noch etwas stärker reflexiv angelegt sind. Dafür basteln die Schüler: innen in Kleingruppen (zu je vier Schüler: innen) zur direktiven und lokalen Lesart Lernplakate mit passenden Bildzeichen, die anschließend im Klassenzimmer aufgehängt und präsent gehalten werden: 314 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="316"?> Abb. 14.3.: Vorlage für Lernplakat: Bildzeichen für Wechselpräpositionen mit jeweils drei Beispielen Benötigt werden Pappe in drei Farben (weiß für das Plakat, schwarz und orange für die Bildzeichen), ein Zirkel für das Vorzeichnen der Kreise, Schere, Klebstoff und ein dicker schwarzer Filzstift zum Schreiben. Wichtig ist es, die Bildzeichen stets mit sprachlichen Beispielen (und dies in beiden Kasus mit verschiedenen Genera) zu verknüpfen, wobei die Kleingruppen jeweils eigene Beispiele, auch mit anderen Nominalgruppen, erarbeiten können. Dazu erhalten die Schüler: innen folgende Aufgabe (1): „Bildet zu viert ein Team und bastelt nach der Vorlage ein Plakat, mit dem ihr zwei Arten von Bedeutungen unterscheiden könnt: Das Bildzeichen mit dem Punkt in der Mitte des Kreises steht für Sätze, mit denen ihr ausdrücken möchtet, dass etwas an einem Ort passiert (Ich springe in dem Kreis hin und her). Das Bildzeichen mit dem Pfeil steht für Sätze, in denen eine Richtung ausgedrückt wird und/ oder sich etwas zu einem Ort hinbewegt (Ich springe in den Kreis). Ordnet anschließend gemeinsam die Sätze aus Kasten 1 dem jeweils richtigen Bildzeichen zu und schreibt sie auf eurem Plakat unter das richtige Bildzeichen. Stellt euch dabei die in den Sätzen jeweils ausgedrückte Handlung vor: Wie sieht die passende Bewegung aus? Passiert etwas in einer Richtung (→ Richtung) oder an einem Ort (• Ort)? Wenn ihr ganz schnell seid, könnt ihr euch weitere eigene Beispiele ausdenken.“ 315 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="317"?> Während die vorherige Unterrichtsstunde absichtlich nur auf eine Wechselpräposition (in) fokussierte, ist in einem zweiten Schritt überdies der Einbezug weiterer Wechsel‐ präpositionen sinnvoll, die genau dem gleichen Muster folgen. Die Schüler: innen bearbeiten dazu eine weitere Aufgabe (2): „Auch für die zweite Aufgabe könnt ihr in euren Teams zusammenarbeiten. Die Sätze in Kasten 2 drücken genau wie die in Kasten 1 eine Handlung mit einer Richtung oder eine Handlung an einem Ort aus. Stellt euch erneut die Handlungen und die dabei ablaufenden Bewegungen vor und ordnet die Sätze dem richtigen Bildzeichen zu. Wenn ihr ganz schnell seid, könnt ihr euch weitere eigene Beispiele ausdenken.“ 316 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="318"?> Das besondere Potenzial der Lernplakate liegt darin, dass sie mit der Erweiterung von konkreten Beispielen, die auch aus anderen Unterrichtskontexten stammen können, über die Zeit individuell wachsen. Man vergleiche dazu auch den Ansatz im DemeK-Sprachförderprogramm („Deutsch lernen in mehrsprachigen Klassen“, Bezirksregierung Köln 2012), in dem entspre‐ chende Lernplakate für die Differenzierung der drei Genera umgesetzt werden (siehe Kap. 9). Auch für die lokale und die direktive Lesart lassen sich im Prinzip passende Beispiele noch einmal nach den drei Genera sortieren. Abb. 14.4 und 14.5 zeigen dafür zwei Beispielplakate, nach deren Muster die LK und alle Schüler: innen gemeinsam die Sätze aus Aufgabe 1 und 2 und weitere (in den Kleingruppen neu ausgedachte) Sätze zusammentragen und ordnen können. Eine solche Sammel- und Ordnungsphase kann auch für die Reflexion genutzt werden und dazu dienen, mögliche Überlegungen, Einfälle und Fragen der Schüler: innen zu den Mustern Direktion/ Akkusativ und Lokalität/ Dativ zu thematisieren und zu besprechen. Abb. 14.4: Vorlage für Lernplakat ‚Wechselpräposition - direktive Lesart‘ Abb. 14.5: Vorlage für Lernplakat ‚Wechselpräposition - lokale Lesart‘ 317 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="319"?> Vierte Unterrichtsstunde - Brettspiel mit Bewegung: „Kannst du mir sagen, was ich ma‐ che? “ In der vierten, abschließenden Stunde spielen die Schüler: innen in Gruppen ein Wech‐ selpräpositionen-Brettspiel. Dabei werden die Inhalte aus den vorherigen Stunden auf‐ gegriffen, neuerlich erweitert und spielerisch gefestigt. Während sich die Schüler: innen in der dritten Stunde Handlung und Bewegung ‚nur‘ vorstellen sollten, integriert das Spiel erneut konkrete physische Bewegung. Im Prinzip kann es mit einer unterschied‐ lichen Anzahl von Mitspieler: innen gespielt werden; generell bilden jedoch immer zwei Personen ein Team. Da die eine Person ausschließlich Sätze lesen, rezeptiv verstehen und in die richtige Handlung umsetzen, die andere dagegen Sätze produktiv bilden und dem passenden Bildzeichen zuordnen muss, ist im Rahmen der Teambildung eine Dif‐ ferenzierung in Abstimmung auf die entsprechende Lernprogression möglich. Ähnlich wie die Lernplakate kann das Brettspiel über die Zeit wachsen, wenn neuer Wortschatz gelernt wird und man gemeinsam mit der Klasse weitere Spielkarten selbst bastelt. Um loszulegen, benötigt jede Gruppe: das ausgeschnittene Spielbrett (eventuell zur Verstärkung auf Pappe geklebt, s. Abb. 14.6); für jedes Team, das mitspielt, eine Spielfigur (z. B. einen Holzspielkegel); einen Würfel; die ausgeschnittenen Spielkarten (s. exemplarisch Abb. 14.7 und unter Z-018); mehrere Requisiten (s. Spielregeln). Je nachdem, wie groß/ klein der Klassenraum ist, kann es sinnvoll sein, dass sich jede Gruppe einen eigenen Spielplatz (ggf. auch außerhalb des Klassenzimmers) sucht. Die Spielregeln lauten wie folgt: „Ihr spielt immer zu zweit zusammen und bildet ein Team. Um zu spielen, braucht ihr mindestens zwei Teams, aber mehr Teams sind auch möglich. In jedem Team entscheidet ihr vor Spielbeginn, wer vormacht (die Schauspielerin, der Schauspieler) und wer rät (die Rateheldin, der Rateheld). Im Laufe des Spiels könnt ihr eure Rollen auch wechseln, wenn ihr möchtet. Ihr benötigt etwas Platz: (1) für euer Spielbrett; (2) in der Mitte des Raums liegen auf dem Boden verteilt ein großer Regenschirm, ein alter Hut, eine blaue Decke, eine große Tüte, ein blaues Tuch, ein großes Kissen. Neben dem Spielbrett liegt darüber hinaus ein Stapel mit Spielkarten. Jede Spielkarte hat zwei Seiten. Auf der für alle Teams sichtbaren Seite stehen drei sprachliche Einheiten in der Grundform: 1. eine Wechselpräposition (z. B. in) 2. eine Nominalgruppe (z. B. der alte Hut) 3. ein Verb (z. B. stecken) Auf der verdeckten Seite steht ein Satz, der immer mit Du anfängt und in dem die drei Einheiten vorkommen, z. B.: Du steckst die Hand in den alten Hut. Bei Start geht es los: Das Team, das beginnt, würfelt und rückt entsprechend der gewürfelten Zahl auf dem Spielbrett vor. Wenn ein Team auf ein blaues Spielfeld kommt, muss der Schauspieler eine Spielkarte ziehen, die Rateheldin darf die verdeckte Seite nicht sehen. Der Schauspieler liest still den Satz auf der verdeckten Seite, geht zum passenden Requisit, das auf dem Boden liegt, und bereitet sich vor. Dann fragt er 318 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="320"?> Abb. 14.6: Vorlage für Spielbrett zum Spiel „Kannst du mir sagen, was ich mache? “ Abb. 14.7: Spielkarten zum Ausschneiden und Zusammenkleben die Rateheldin: Kannst du mir sagen, was ich mache? und spielt den Satz vor (natürlich ohne zu sprechen). Die Rateheldin muss den Satz erraten und ihn laut aussprechen: Du steckst die Hand in den alten Hut. Hat der Schauspieler den Satz richtig vorgespielt und die Rateheldin den korrekten Satz formuliert, darf das Team auf dem blauen Spielfeld stehen bleiben; wenn nicht, muss es erneut würfeln und entsprechend der gewürfelten 319 14 Sprachliches Lernen durch Bewegung <?page no="321"?> Zahl auf dem Spielbrett zurückgehen. Dann ist das nächste Team an der Reihe usw. Das Team, das zuerst das Ziel erreicht hat, gewinnt. Ist es nicht möglich, in einer Unterrichtsstunde verschiedene Gruppen gleichzeitig das Spiel spielen zu lassen, kann man es auch für besondere Lernzeiten vorhalten, bei denen nur eine Gruppe das Wechselpräpositionen-Brettspiel spielt, während andere Gruppen etwas anderes machen. Attraktiv an dem Spiel ist, dass man es als Übungs‐ möglichkeit wiederholt aufgreifen kann, insbesondere dann wenn es mit der Zeit erweitert wird und die Schüler: innen selbst immer wieder neue Spielkarten hinzufügen (und eventuell alte aussortieren). Aufgaben 1.* Rekapitulieren Sie noch einmal die drei verschiedenen Formen der systemati‐ schen Verknüpfung von (sprachlichem) Lernen und Bewegung. 2.** Schauen Sie sich alle in diesem Lehr-/ Praxisbuch präsentierten Unterrichts‐ vorschläge an. Analysieren Sie die Unterrichtsvorschläge hinsichtlich ihrer jeweiligen Art der Bewegungsorientierung: Wo findet sich Lernen mit, in oder durch Bewegung? 3.** Denken Sie sich weitere Karten für das Wechselpräpositionen-Brettspiel aus oder entwickeln Sie ein eigenes Spiel. 4.*** Lesen Sie vertiefend Bryant (2015), Kapitel 4. Fassen Sie für sich zusammen, was unter typologischem Bootstrapping zu verstehen ist, und entwickeln Sie einen eigenen Unterrichtsvorschlag im Rahmen der DaZ-Förderung, der sich das Bootstrapping-Prinzip zunutze macht. 5.*** In diesem Kapitel haben Sie drei verschiedene Formen der systematischen Ver‐ knüpfung von (sprachlichem) Lernen und Bewegung kennengelernt. In dem nun folgenden Kapitel 15 werden unterschiedliche Formen der Handlungsorientie‐ rung differenziert. Vergleichen Sie die Klassifizierungen und rekapitulieren Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Inwiefern kann ein bewegungsorientierter Unterricht auch handlungsorientiert sein und umgekehrt? Download: Stundenverlaufsplan 320 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="322"?> 1 Zur Abgrenzung von handeln und tun siehe auch Kapitel 1. 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) Heike Bischoff & Doreen Bryant Der Handlungsorientierte Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) ist eine für Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Herkunftssprache und geringen Deutsch‐ kenntnissen entwickelte Methode, die das Herstellen eines konkreten Produkts mit Planung, Durchführung und Reflexion als Anlass nimmt, um körperliches und sprachliches Agieren zu verknüpfen und in einem gesteuerten, semantisch entlasteten Rahmen durch gezielte Inputstrukturierung und Outputgenerierung im Mündlichen wie im Schriftlichen Wortschatz und Grammatik aufzubauen und zu festigen. 15.1 Handlungsorientierung: Begriff und Verortung im Verwendungsspektrum Bevor die HOSS-Methode im Detail vorgestellt wird, sei sie zunächst im Spektrum der Verwendung von ‚Handlungsorientierung‘ verortet. Wie Gudjons (2014) anmerkt, ist der Begriff „eine Art Sammelname für recht unterschiedliche methodische Praktiken […], (deren) gemeinsamer Kern […] die eigentätige, viele Sinne umfassende Auseinan‐ dersetzung und aktive Aneignung eines Lerngegenstandes“ ist (ebd.: 8). Ein handlungs‐ orientierter Unterricht ist damit jedoch nicht abgrenzbar von verwandten Ansätzen wie z. B. Stationenlernen, Freiarbeit, offener Unterricht, entdeckender Unterricht, erfahrungsorientierter Unterricht (ebd.: 8). Dies kann nur gelingen, indem man sich darüber verständigt, was unter einer „Handlung“ zu verstehen ist. Wodurch zeichnet sich eine Handlung aus? Was grenzt sie von anderen Tätigkeiten ab? Nach Aebli (2006: 182) ist eine Handlung eine Verhaltensweise, die bewusst eingesetzt wird, um ein Ziel zu erreichen. Durch diese Zielgerichtetheit lässt sich eine Handlung von einer nicht ergebnisorientierten Tätigkeit unterscheiden. 1 Darüber hinaus tauchen in der handlungstheoretischen Literatur wiederkehrend drei eine Handlung konstituierende Elemente auf: Planung, Durchführung und Kontrolle (vgl. Gudjons 2014: 47-50): In der Planung geht es in erster Linie darum, dass die Schüler: innen gemeinsam ein Ziel aushandeln und die für das Erreichen des gesteckten Ziels notwendigen Teilschritte festlegen. Die Durchführung der Handlung erfolgt nach dem ausgearbeiteten Plan, wobei möglicherweise Anpassungen bzw. Korrekturen des Plans erforderlich sind. Körperliches und geistiges Handeln (Denken als Probehandeln) sind dabei verknüpft. Mechanismen der Kontrolle stellen einen wesentlichen Teil des Lernens dar. Durch Selbstüberprüfung können die Schüler: innen Fehler erkennen und korrigieren und so den Lernprozess positiv beeinflussen. Die Handlungskontrolle bezieht sich nicht nur auf das Abgleichen von (Teil-)Ziel(en) und (Teil-)Ergebnis(sen) während und nach der 321 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="323"?> Durchführung, sie beginnt bereits in der Planungsphase mit der Einschätzung von Angemessenheit und Realisierbarkeit einzelner Aspekte (ebd.: 49). Ausgehend von den Berufsschulen, wo der Handlungsorientierung eine „quasi naturgegebene Berech‐ tigung“ (Herkner & Pahl 2020: 190) zugestanden wird, sind Lernformen, in denen eine Verknüpfung von Denken und Handeln stattfindet, inzwischen in allen Schulformen verbreitet und auch längst an Gymnasien angekommen (vgl. Gudjons 2014: 7). Bei der Handlungsorientierung in der Berufsschule stellt das körperliche Handeln den Lern‐ gegenstand dar (z. B. Blutdruck messen, Haarschnitttechnik üben, Rohre schweißen, …). Wie verhält es sich mit methodischen Ansätzen der Fremd-/ Zweitsprachendidaktik, die als „handlungsorientiert“ gelten? Es sei hier nur auf zwei prominente Ansätze eingegangen. Während der für Sprachanfänger: innen geeignete Ansatz Total Physical Response (TPR) (siehe Kasten) zwar das körperliche Ausführen von sprachlichen Anweisungen verlangt, fehlt diesem Ansatz allerdings die handlungskonstituierende Trias von Planung, Durchführung, Kontrolle. Diese wird in Lernszenarien (siehe Kasten) bei mittleren und fortgeschrittenen Sprachniveaus in der Regel berücksichtigt, jedoch ist die körperliche Involviertheit hier keine Bedingung. In Lernszenarien steht typischerweise die Sprachhandlung im Fokus. Im Kontrast zum TPR-Ansatz sind die Aufgaben komplex und vielschichtig. Bei deren Bewältigung werden Eigenständigkeit und Partizipation an sprachlich auszuhandelnden Entscheidungsprozessen erwartet. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen schlagen wir die folgenden drei Kriterien vor, um methodische Ansätze der Fremd-/ Zweitsprachendidaktik im Spektrum der Handlungsorientierung zu verorten: Körperliche Ausführung, Vollstän‐ digkeit, Eigenständigkeit. Der Handlungsorientierte Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) ist eine Methode für Lernende mit geringen Deutschkenntnissen, die auf einer vollständigen Handlung (Planung, Durchführung, Kontrolle) basiert und eine körperliche Ausführung vorsieht, aber aufgrund der noch geringen Deutschkennt‐ nisse keine Eigenständigkeit in der Handlungskonzeption und im sprachlichen Aus‐ tausch anstrebt. Das übergeordnete Thema im HOSS, nämlich die Herstellung eines bestimmten Handlungsprodukts, liefert nicht etwa eine eigenständig zu planende und auszuführende Aufgabe, sondern stellt durch die enge Vorstrukturierung ein Sicherheit gebendes Stützsystem (Scaffold) dar. Aufgrund der mit Sprache verknüpften multisensorischen und motorischen Erfahrungen sind die kommunizierten Inhalte für die Schüler: innen vollkommen transparent, sodass im Rahmen der gemeinsamen Aktivitäten des Planens, Durchführens und Reflektierens ohne Überforderung alle Teilfertigkeiten angesprochen und in ihrer Entwicklung unterstützt werden können (Bischoff & Bryant 2020: 304). Tab. 15.1 verortet den HOSS anhand der drei genannten handlungsbezogenen Kriterien zwischen TRP und Lernszenarien. 322 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="324"?> Körperliche Ausführung Vollständigkeit Eigenständigkeit TRP ✓ HOSS ✓ ✓ Lernszenarien ( ✓ ) ✓ ✓ Tab. 15.1: Zuweisung handlungsbezogener Kriterien zu drei handlungsorientierten Methoden Total Physical Response (Asher 1977) Die Methode Total Physical Response (TPR), die in den 1960/ 70er Jahren von dem amerikanischen Psychologen James Asher für den Anfangsunterricht einer Fremdsprache entwickelt wurde, operiert primär auf der perzeptiven Ebene und verknüpft sprachlichen Input mit physischer Reaktion. Die Methode basiert auf der behavioristischen Annahme, dass eine Sprache über wiederkehrende Reiz-Reakti‐ ons-Muster (Stimulus-Response) erlernbar sei. Asher orientiert sich am L1-Erwerb (konkret an dem hohen Anteil direktiver Sprechakte in der kindgerichteten Sprache und an der Verknüpfung von sprachlicher Äußerung und körperlicher Aktion) und simuliert entsprechende Lernkontexte für den L2-Einstieg (Ortner 1998: 61). Ziel: Die Methode soll Kindern und Erwachsenen einen sanften Einstieg in die Fremdsprache ermöglichen und durch den Fokus auf nur eine sprachliche Fertigkeit Überforderung vermeiden. Die Methode ist auf die mündliche Sprachkompetenz, und zwar insbesondere auf das Hörverstehen ausgerichtet. Konzeption: Die Lernenden sind angehalten, einzeln oder in Gruppen Anweisun‐ gen (wie etwa Steht auf! Geht zur Tür! ) auszuführen. In den ersten Durchgängen führt die Lehrkraft selbst die Aktion simultan zum sprachlichen Stimulus aus und die Lernenden imitieren die Bewegung. Durch die Synchronisierung von sprachlicher Äußerung und körperlichem Ausagieren wird sichergestellt, dass die Bedeutung der Chunks von den Lernenden erfasst werden kann und so eine stressfreie, erwerbsbegünstigende Lernatmosphäre entsteht. In den folgenden Durchgängen reagiert die Lehrkraft etwas zeitverzögert auf den sprachlichen Stimulus und gibt den Lernenden damit die Möglichkeit, ohne Bewegungsvorbild den Befehl auszuführen (ebd.: 59). Mit zunehmendem Verstehen verzichtet die Lehrkraft auf das Vormachen und die Anweisungen werden von den Lernenden selbständig ausagiert. Die Befehle werden in ihrer Struktur zunehmend komplexer und zu längeren Abfolgen koordiniert: Hol dein Buch aus der Tasche, leg deinen Stift neben das Buch, schlag das Buch auf, … oder temporal bzw. konditional verknüpft: Wenn x zur Tafel geht, dann öffne das Fenster (ebd.: 61). Während die Imperative in den ersten Phasen nur klassenraumbezogene Lexik enthalten, werden mit Hilfe von Bildmaterialien später auch typische Alltagsszenen simuliert, um eingebettet 323 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="325"?> 2 Die gegen die Methode vorgebrachten Kritikpunkte, dass der Input zu reduziert und unauthentisch sei, sind insofern zu entkräften, als dass Asher selbst für TRP keinen Ausschließlichkeitsanspruch erhebt, sondern zu einer Kombination mit anderen Methoden rät. Zwar gilt die zugrundliegende behavioristische Spracherwerbskonzeption heute als überholt, das zentrale Merkmal der Methode jedoch, nämlich die Verknüpfung von Sprache und körperlicher Aktion zur Beförderung von Verste‐ hens- und Memorierungsprozessen, findet heute im kognitionspsychologischen Theorienspektrum von Embodiment (siehe Kapitel 2) Legitimation und spielt daher auch in jüngeren Methoden (z. B. beim HOSS) weiterhin eine zentrale Rolle. 3 In berufsorientierten Sprachkursen wird die Methode (dort meist als Szenario-Methode bezeichnet) häufig eingesetzt, um realitätsnahe Situationen aus dem Berufsfeld zu simulieren und hierfür benötigte Sprachhandlungen einzuüben (siehe Sass, Kapitel 16 in diesem Buch). in Befehle den Wortschatz zu erweitern: Nimm die Butter aus dem Regal und leg sie in deinen Einkaufswagen (ebd.: 65). 2 Lernszenarien Lernszenarien stellen eine ursprünglich für den Englischunterricht entwickelte Lernform dar (Piepho 2003), die sich inzwischen auch in anderen Fächern und im DaZ-Kontext (ISB 2016) etabliert hat. 3 Ziel: Durch die Gestaltung ansprechender Situationen und kooperativ zu bewäl‐ tigender Aufgaben sollen motivierende Sprachanlässe geschaffen werden, die einerseits zu mehr Sprechen, Schreiben, Lesen und Hören anregen und idealerweise zu einer Verbesserung des Sprachstands beitragen und die andererseits aber auch erkennen lassen, wo spezifische Lern- und Unterstützungsbedarfe bestehen (vgl. Piepho 2003: 93). Konzeption: Der Aufbau von Lernszenarien, so unterschiedlich sie auch sein können, ist stets gleich: Zu einem bestimmten Thema werden von der Lehrkraft die Interessen berücksichtigende Materialien angeboten und nach Leistungsstand differenzierende Aufgaben gestellt, die sich die Lernenden aussuchen und in der von ihnen bevorzugten Arbeitsform bearbeiten dürfen. Unter- oder Überfor‐ derung kann so verhindert werden. Jede Aufgabenbearbeitung mündet in eine Präsentation, deren Form ebenfalls von den Lernenden bestimmt wird. Durch die Präsentationen aller Schüler: innen hat sich die Klasse als ganze einem Thema von unterschiedlichen Seiten angenähert, Informationen darüber gesammelt, nach bestimmten Kriterien aufbereitet und zusammengeführt. Die Lehrkraft hält sich zurück und lässt die Schüler: innen weitgehend selbstständig arbeiten; die Lehrform weicht also deutlich vom traditionellen Frontalunterricht ab. 324 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="326"?> 4 Es handelt sich im Folgenden um gekürzte und leicht modifizierte Auszüge aus Bischoff & Bryant (2020). 5 Die methodische Grundlage des HOSS bildet der Handlungsorientierte Therapieansatz (HOT) von Weigl und Reddemann-Tschaikner (2009), der speziell für die Einzeltherapie von Vorschulkindern mit Sprachentwicklungsstörungen entwickelt wurde. Für den Einsatz in Vorbereitungsklassen haben wir zahlreiche Veränderungen vorgenommen, um die Methode dem Alter und dem kognitiven Entwick‐ lungsstand, dem Zweitspracherwerbskontext, dem Alphabetisierungsstand sowie der Gruppengröße anzupassen. Eine wesentliche Veränderung besteht in der Einbeziehung der schriftbezogenen Teilfertigkeiten, was auch in der Namensgebung Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) zum Ausdruck kommt. 6 HOSS-Downloads unter: uni-tuebingen.de/ de/ 213562 [31.08.2021]. 15.2 Empfehlungen für den Einsatz des HOSS 4 15.2.1 Zielgruppen, Gruppengröße, Dauer, Häufigkeit und Materialien Der HOSS richtet sich in erster Linie an Schüler: innen, die erst im Schulalter mit der deutschen Sprache in Kontakt gekommen sind und die in Vorbereitungsklassen oder im Rahmen additiver Sprachförderung auf die sprachlichen Anforderungen des Regel‐ unterrichts vorbereitet werden sollen. 5 Bei Schüler: innen, die im Herkunftsland eine Schulsozialisation erfahren haben und alphabetisiert wurden, kann der HOSS bereits nach zwei bis drei Sprachkontaktmonaten Anwendung finden. Als Einstiegsalter für den HOSS empfehlen wir ca. 9 Jahre, nach oben hin besteht keine Altersgrenze. Da der HOSS viel sprachliche Interaktion zwischen Lehrkraft und Schülerschaft erfordert und ein gewisses Maß an logistischem Aufwand verlangt, eignet er sich besonders gut für kleine und mittlere Gruppen von 4 bis 10 Schüler: innen. Bei größeren Gruppen sollte zumindest für die ersten beiden HOSS-Durchläufe eine zweite Lehrkraft unterstützend mitwirken. Danach hat sich der Ablauf mit seinen vier Phasen eingespielt und jeder weiß beim nächsten HOSS, was wann zu tun ist, sodass auch bei einer größeren Anzahl von Lernenden betreut von nur einer Lehrkraft eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre erreicht werden kann. In Abhängigkeit der Anzahl der Handlungsschritte dauert eine HOSS-Sitzung ca. 60 bis 90 Minuten. Der Abstand zwischen den HOSS-Einheiten sollte nicht allzu groß sein. Wir empfehlen alle zwei Wochen einen HOSS durchzuführen - jeweils mit Rekapitulation an einem der darauffolgenden Tage. Um den Vorbereitungsaufwand für die Lehrkräfte zu minimieren, haben wir umfangreiche Materialienpakete erstellt, die wir kostenlos als Download zur Verfügung stellen. 6 Jedes dieser HOSS-Pakete besteht aus mindestens vier Arbeitsblättern und einem mehrseitigen Skript, das neben den notwendigen Informationen zum Handlungsprodukt und den einzelnen Handlungsschritten auch detailreiche Vorschläge zur sprachlichen Interaktion gibt. 15.2.2 Raumgestaltung Jede HOSS-Einheit beginnt am Präsentationstisch, um den sich zunächst alle gruppie‐ ren, vgl. Abb. 15.1 (a). Es bietet sich an, diesen in der Mitte des Raumes zu platzieren. 325 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="327"?> Zudem wird für jede Schülerin / jeden Schüler ein Platz an einem Werktisch und an einem Schreibtisch benötigt. In Abb.15.1 (a) sind dementsprechend zwei Schulbänke zusammengestellt, eine fungiert als Schreibtisch (blau), die andere als Werktisch (grau). Dieses Arrangement ist für zwei bis vier Personen zweckmäßig, vgl. (b'). Alternativ lässt sich eine Schulbank in zwei Hälften unterteilen, vgl. (b''), wobei der einen Hälfte die Funktion des Schreibtisches und der anderen die des Werktisches zukommt. Diese Aufteilung ist maximal für zwei Personen geeignet. a) b') b'') Abb. 15.1: Empfehlungen zur Raumgestaltung für den HOSS (ST = Schreibtisch, WT = Werktisch) (Bischoff & Bryant 2020: 306) 15.2.3 Handlungsprodukte Die Wahl des jeweiligen Handlungsprodukts ist abhängig von verschiedenen Aspekten. Vom aktuellen Sprachstand und auch von den bereits vorliegenden HOSS-Erfahrungen hängt es ab, ob man ein Handlungsprodukt mit weniger oder mehr Handlungsschrit‐ ten auswählt. Für Fortgeschrittene bzw. HOSS-Erfahrene dürfen es mehr Handlungs‐ schritte sein als für Anfänger, denn schließlich müssen alle Schritte sprachlich geplant 326 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="328"?> und nach der Ausführung sprachlich reflektiert werden. Die von uns konzipierten HOSS-Einheiten enthalten mindestens drei und maximal sechs Handlungsschritte. Neben der Anzahl der Handlungsschritte beeinflussen natürlich saisonale Themen die Entscheidung für ein bestimmtes Handlungsprodukt (z. B. Osterei, Windlicht). Darüber hinaus empfehlen wir ab dem dritten HOSS hin und wieder auch Handlungsprodukte auszuwählen, die sich im Anschluss sinnvoll in den Sprachunterricht integrieren lassen (z. B. ein Memory zum Erlernen von Genuszuweisungsregeln). Auch die Unterrichts‐ fächer können und sollten als Inspirationsquelle für Handlungsprodukte herangezogen werden. Beispielsweise ließe sich für das Fach Biologie ein Herbarium herstellen, für das Fach Geschichte ein Zeitstrahl und für das Fach Technik würde sich der Bau eines einfachen Stromkreises für einen HOSS eignen, mit dem sich dann auch fachspezifische Lexik (z. B. Plus- und Minuspol, elektrischer Widerstand, Leuchtdiode) vermitteln ließe. Gerade im letztgenannten Beispiel zeigen sich die Potenziale des HOSS für das Vorbereitungsjahr an der Berufsschule. 15.2.4 Geeignete grammatische Strukturen Folgende Strukturen lassen sich besonders leicht und funktional angemessen integrie‐ ren und finden daher auch in (fast) jedem HOSS Berücksichtigung. Wortstellung ■ Verbklammer mit Modalverb und Infinitiv Ich muss _____________________ schälen. aufkleben. ausschneiden. ■ Verbklammer mit getrennten Partikelverben (im Präsens) Ich klebe schneide _____________________ auf. aus. ■ Verbklammer mit Perfektformen Ich habe _____________________ geschält. aufgeklebt. ausgeschnitten. 327 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="329"?> ■ V2-Stellung - verdeutlicht durch variables Vorfeld und Subjekt-Verb-Inversion Ich Danach Mit der Schere Zum Schluss habe zuerst ich ich ich ____________________ ____________________ ____________________ ____________________ __________ __________ __________ __________ Um die Lernenden von Anfang an für die deutschtypischen Wortstellungsregularitäten zu sensibilisieren (ohne sie jedoch im Rahmen des HOSS zu explizieren), sind auf den HOSS-Arbeitsblättern die beiden Klammerpositionen immer farblich unterlegt. Verbflexion Im Schriftlichen liegt der Fokus auf der 1. Person Singular (Ich muss die Gurke schälen./ Ich habe die Gurke geschält.), im Mündlichen wird zudem die 1. Person Plural (Was müssen wir zuerst tun? / Womit schälen wir die Gurke? ) und 2. Person Singular (Was machst du als nächstes? / Womit schneidest du die Figur aus? ) von der Lehrkraft häufig gebraucht. Als Zeitformen werden Präsens und Perfekt verwendet. Da bekanntermaßen die Partizipbildung der starken und unregelmäßigen Verben den Lernenden besondere Schwierigkeiten bereitet, sind die auf dem jeweiligen Arbeitsblatt vorkommenden Partizipien noch einmal separat in einem dezenten Merkkasten nach regelmäßiger und unregelmäßiger Bildung gelistet. Nominalflexion Im Bereich der Nominalflexion liegt der Schwerpunkt auf der Kasusmarkierung am indefiniten und definiten Artikel, wobei aufgrund der Polyfunktionalität der Artikel auch die Genuskategorie im Blick behalten werden muss. Einerseits geht es um den verbregierten Akkusativ (eine Linie zeichnen, den Apfel schälen) und andererseits um präpositionale Rektionen. Im Fokus stehen insbesondere die instrumentale Präposition mit, die den Dativ verlangt (mit einer Schere, mit einem Lineal), sowie die lokalen Wechselpräpositionen, die je nach Kontext den Dativ (auf dem Brett schneiden) oder aber Akkusativ (auf das Brett legen) fordern. Wo es sich im HOSS anbietet, werden Nomen verschiedener Genera einbezogen, sodass durch den kontrastiven Input (einen Kreis vs. eine Linie zeichnen) implizit die Polyfunktionalität der Artikel erfahrbar wird. Wortbildung Fast jeder HOSS eignet sich, um die Lernenden implizit mit der Produktivität deutscher Nominalkomposita vertraut zu machen: z. B. Hut, Zauberhut, Hutform. Auch den Zusammenhang von stammgleichen Nomen und Verben (schälen - Schäler, kleben - Kleber, lochen - Locher) mit dem zugrundeliegenden Derivationsprozess der Nomi‐ nalisierung mit -er erschließen sich die meisten Lernenden aufgrund der im HOSS 328 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="330"?> eingesetzten spezifischen Inputstrukturierung (vgl. Bischoff & Bryant 2020: 295 f.) ganz nebenbei ohne explizite Unterweisung. 15.2.5 Strukturelle Komplexitätssteigerung: Arbeitsblätter in vier Versionen Zu jeder HOSS-Einheit gibt es mehrere Arbeitsblätter. Die Arbeitsblätter für die Handlungsschritte sind pro HOSS-Einheit immer in zwei Versionen erhältlich - in einer einfachen und einer etwas anspruchsvolleren. Insgesamt gibt es vier Versionen, wobei A die leichteste und D die schwierigste ist. Die Arbeitsblätter der Version A weisen einfache kanonische Hauptsätze auf mit nur obligatorischen, im Valenzrahmen des Verbs vorgesehenen Satzgliedern (Subjekt, Objekt, Adverbialergänzung) und dem Subjekt am Satzanfang. Für die Version B kommen (freie) adverbiale Präpositional‐ phrasen hinzu, wodurch die Äußerungen elaborierter und präziser werden und sich dem bildungssprachlichen Register nähern. In der Version C steht nicht mehr nur das Subjekt an erster Stelle sondern alternativ ein Temporaladverb, eine präpositionale Adverbialphrase oder das Objekt. Es geht also um die Visualisierung verschiedener Vorfeldbesetzungen mit einhergehender Subjekt-Verb-Inversion. Außerdem lösen in späteren C-Versionen Vollverben im futurischen Präsens die bis dahin verwendeten Modalverbkonstruktionen ab. Partikel und Basisverb sind nun voneinander getrennt. Die Arbeitsblätter der Version D bauen das bildungssprachliche Register weiter aus. So wird im PLAN das Pronomen ich durch das unpersönliche Pronomen man ersetzt, wodurch die Aussagen einen verallgemeinernden Charakter erhalten. Zudem wird in dieser Version das zur Präzision beitragende Modifikatorenrepertoire um Attribute erweitert. Tab. 15.2 zeigt überblicksartig mit jeweils einem Beispielsatz zu den Arbeitsblättern PLAN und BERICHT, worin sich die einzelnen Arbeitsblattversionen unterscheiden. Jede dieser Versionen ist zusätzlich in einer anspruchsvolleren Ausführung (A+/ B+/ C+/ D+) erhältlich, die im Vergleich mehr Lücken zum Ausfüllen für die Schüler: innen aufweist. Im Downloadbereich befinden sich HOSS-Einheiten mit Ar‐ beitsblättern in den Versionen A/ B, B/ C oder C/ D mit den jeweiligen +-Varianten. Für die im folgenden Kapitel dargestellte Beispieleinheit liegen Arbeitsblätter in B/ C vor. 329 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="331"?> A Subjekt am Satzanfang, nur obligatorische Satzglieder, Modalverb + Infinitiv (PLAN), Perfektkonstruktion (BERICHT) PLAN: Ich muss das Dreieck ausschneiden. BERICHT: Ich habe das Dreieck ausgeschnit‐ ten. B Subjekt am Satzanfang, adverbiale Präpositionalphrasen, Modalverb + Infinitiv (PLAN), Perfektkonstruktion (BERICHT) PLAN: Ich muss das Dreieck mit einer Schere ausschneiden. BERICHT: Ich habe das Dreieck mit einer Schere ausgeschnitten. C Variables Vorfeld, S-V-Inversion, adverbiale Präpositionalphrasen, Modalverb + Infinitiv / Vollverb im futuri‐ schen Präsens > Trennung von Partikel‐ verb (PLAN), Perfektkonstruktion (BERICHT) PLAN: Danach muss ich das Dreieck mit einer Schere ausschneiden. PLAN: Danach schneide ich das Dreieck mit einer Schere aus. BERICHT: Danach habe ich das Dreieck mit einer Schere ausgeschnitten. D Variables Vorfeld, S-V-Inversion, adverbiale Präpositionalphrasen, Attri‐ bute, Pronomen man (PLAN), Trennung von Partikelverb (PLAN), Perfektkonstruktion (BERICHT) PLAN: Danach schneidet man das kleinere / das farbige / das schraffierte / das markierte Dreieck mit einer Schere aus. BERICHT: Danach habe ich das kleinere / das farbige / das schraffierte / das markierte Dreieck mit einer Schere ausgeschnitten. Tab. 15.2: Die vier Arbeitsblattversionen mit ihren Merkmalen und illustrierenden Beispielen 15.3 Die vier Phasen des HOSS mit Konkretisierung Die Durchführung des HOSS erfolgt in vier Phasen, deren Ablauf von den Schüler: in‐ nen erfahrungsgemäß schnell (nach 2-3 Unterrichtseinheiten) verinnerlicht ist: Phase 1: Mündliche Handlungsplanung Phase 2: Schriftliche Rekapitulation der Handlungsplanung Phase 3: Durchführung der Handlung Phase 4: Schriftliche Rekapitulation der Handlungsdurchführung Konkretisiert am Beispiel des Handlungsprodukts Gurkenscheiben mit Salz, ein HOSS der in den Versionen B und C vorliegt, werden im Folgenden die einzelnen Phasen ausführlich beschrieben. Alle benötigten Arbeitsblätter stehen unter Z-020 zur Verfü‐ gung. 330 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="332"?> Phase 1: Mündliche Handlungsplanung Inhalt: a. Präsentation des Handlungsprodukts b. gemeinsames mündliches Erarbeiten der benötigten Zutaten/ Materialien und Arbeitsgeräte mit intensiver Wortschatzarbeit (chorisches Sprechen, Gesten, Be‐ wegungen (z. B. schneiden), Paraphrasierungen, etc.) c. gemeinsames mündliches Erarbeiten der notwendigen Handlungsschritte Sprachliche Teilfertigkeiten: Hörverstehen (gestützt durch Mimik, Gestik, Objekte) und chorisches Nachsprechen Setting: Die Schüler: innen stehen mit der Lehrkraft um den Präsentationstisch (Leh‐ rerpult) herum. Auf dem Tisch liegen - zunächst mit einem Tuch verdeckt - die für die Herstellung des Handlungsprodukts benötigten Zutaten und Arbeitsgeräte. Material: Gurke, Salz, Schäler, Messer, (Schneide-)Brett, Teller, Schüssel, Gabel Den Schüler: innen wird zunächst das Handlungsprodukt (hier: Gurkenscheiben mit Salz) auf einem Foto gezeigt, um ihnen zu verdeutlichen, was das Ziel der HOSS-Sitzung sein wird. Die intensive Wortschatzarbeit beginnt mit der Aktivierung von Vorwissen, seien es Konzepte und Wortformen der muttersprachlichen Lexikoneinträge oder bereits Wortformen des Deutschen. Den Schüler: innen wird etwas Zeit zum Überlegen gegeben, welche Zutaten und Arbeitsgeräte für die Herstellung des Handlungsprodukts erforderlich sind. Nacheinander werden dann die einzelnen Objekte parallel zur Versprachlichung durch die Schüler: innen oder die Lehrkraft unter dem Tuch hervorgeholt (siehe Abb. 15.2). So erfolgt bereits eine informelle „Wortschatzdiagnostik“, da die Lernenden zeigen können, welche Wörter sie bereits beherrschen. Der Wortschatz wird in hoher Frequenz angeboten und anschließend elizitiert, wobei auf die Äußerungen der Lernenden mit geeigneten Modellierungstechniken (vgl. Bischoff & Bryant 2020: 326 f.) reagiert wird. Zusätzlich werden Zeigegesten, pantomimische Handlungsdarstellungen (z. B. schä‐ len) und chorisches Sprechen eingesetzt. Wie die Wortschatzarbeit konkret aussehen kann, verdeutlicht der Auszug des Skripts in Tab. 15.3. Die in diesem HOSS zu vermit‐ telnden bzw. zu festigenden Wörter sind im Skript fett gedruckt, die Objektbegriffe schwarz, die Handlungsbezeichnungen grau. Die „nachgesprochenen“ Wörter sind jeweils in Anführungszeichen („“) markiert. 331 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="333"?> Abb. 15.2: Erarbeiten der benötigten Objekte in Phase 1 Vorschläge für die sprachliche Interaktion Handlungsanweisung Was ist das hier? […] Ja genau, das ist eine Gurke. Und jetzt alle: Das ist eine „Gurke“. LK zeigt Objekt Zum chorischen Sprechen animieren Und was müssen wir mit der Gurke machen? (S: Das hier weg.) Genau, wir müssen die Schale wegmachen. Wir müssen die Gurke schälen. Und dafür brauchen wir einen Schäler. Mit dem Schäler müssen wir die Gurke schälen. Pantomimische Schälhandlung an Gurke Hervorholen des Schälers Handlungssi‐ mulation mit Schäler und Gurke Tab. 15.3: Skriptauszug Phase 1 - Wortschatzarbeit Nach der Wortschatzarbeit erfolgt der Übergang zur Handlungsplanung, in deren Fokus die Versprachlichung der einzelnen Handlungsschritte steht. Alle benötigten Dinge liegen in einer sinnvollen Abfolge (Gurke, Schäler, …) ausgebreitet auf dem Prä‐ sentationstisch. Initiiert durch die Lehrkraft werden nun nacheinander die einzelnen Handlungsschritte besprochen, wobei die in der vorherigen Phase verwendeten Wörter und Phrasen wieder aufgegriffen werden. Auf die Äußerungen der Lernenden wird wie gehabt wiederholend, modellierend und dabei - wenn nötig - korrigierend reagiert. Auch in dieser Teilphase werden die Lernenden zum Nachsprechen angeregt. Während zuvor nur einzelne Wörter nachgesprochen wurden, geht es nun um das Nachsprechen von kurzen Phrasen, um diese als Chunks zu memorieren (siehe Tab. 15.4). Die relevanten Einheiten sind fett gedruckt. 332 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="334"?> Vorschläge für die sprachliche Interaktion Handlungsanweisung Alle diese Dinge brauchen wir. Jetzt lasst uns zu‐ sammen überlegen, was wir mit diesen Dingen tun müssen. Auf die auf dem Präsentationstisch aus‐ gebreiteten Objekte zeigen Was müssen wir als Erstes machen? mit den Händen zählen Zuerst müssen wir […] (S: schäle) Genau, zuerst müssen wir die Gurke schälen. Pantomimische Schälbewegung an Gurke Lasst uns nun zusammen die Bewegung machen und dazu sprechen. Was müssen wir als Erstes machen? Zuerst müssen wir: „die Gurke schälen“. Zum chorischen Sprechen und gleichzei‐ tigen Ausführen der Bewegung animie‐ ren Und womit schälen wir die Gurke? Mit was schälen wir sie? […] Wir schälen die Gurke mit dem Schä‐ ler, genau. Wir schälen „mit dem Schäler“. Zum chorischen Sprechen animieren Tab. 15.4: Skriptauszug Phase 1 - Handlungsplanung Phase 2: Schriftliche Rekapitulation der Handlungsplanung Inhalt: a. Bildgestützte Übertragung der Objektbegriffe in die Schriftsprache b. Bildgestützte Übertragung der Handlungsschritte in die Schriftsprache (im Felder‐ modell) Sprachliche Teilfertigkeiten: Sprechen, Mitlesen, Abschreiben/ Schreiben Setting: Die Schüler: innen sitzen am Schreibtisch. Material: Arbeitsblätter WÖRTER und PLAN; Bleistift, Radiergummi, Spitzer Mit einer Schreibgeste leitet die Lehrkraft die Phase 2 ein. Die Schüler: innen begeben sich zu ihren Schreibtischplätzen. Zunächst steht wieder der Wortschatz im Fokus. Die zuvor eingeführten Begriffe sollen durch die multimodale Verknüpfung von Laut‐ form, Schriftbild, motorischer Schreibhandlung und bildhaft dargestelltem Gegenstand gefestigt werden. Auf dem grünen Arbeitsblatt WÖRTER (siehe Abb. 15.3) sind die Items bildlich dargestellt und bereits schriftlich (mit Artikel) vorgegeben. Hier kann je nach Sprach‐ stand binnendifferenzierend gearbeitet werden, indem stärkere Kinder die Wörter aufmerksam lesen, sich einprägen, abdecken, aus dem Gedächtnis aufschreiben und anschließend das Geschriebene mit der Vorlage überprüfen. So werden gleichzeitig wichtige Selbstkorrekturfähigkeiten trainiert. Andere Schüler: innen werden mit dem bloßen Abschreiben der Wörter bereits hinreichend gefordert sein. In den ,+‘-Aus‐ führungen der Arbeitsblätter ist die Zuordnung der Wörter zu den Objekten nicht vorgegeben. Hier wählen die Lernenden aus einer Reihe angebotener Wörter die passenden aus und schreiben sie unter die jeweiligen Bilder. 333 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="335"?> Abb. 15.3: Phase 2 - Auszug aus Arbeitsblatt WÖRTER (Version B/ C). Nach der Bearbeitung des Arbeitsblatts WÖRTER wird von der Wortebene auf die Satzebene gewechselt. Gemeinsam mit den Schüler: innen liest die Lehrkraft die verschrifteten Handlungsschritte auf dem blauen Arbeitsblatt PLAN. Die Lehrkraft entscheidet, wie beim Lesen verfahren werden soll. Mehrere Vorgehensweisen sind denkbar. So kann die Lehrkraft zunächst als Lesevorbild fungieren während die Ler‐ nenden still mit dem Finger folgen. Dem kann je nach Sprachstand und Lesesicherheit ein Einzellesen, ein Tandemlesen (vgl. Rosebrock et al. 2014, siehe auch Kapitel 8) oder auch ein chorisches Nachsprechen folgen. Abb. 15.4 zeigt ein vollständiges Arbeitsblatt der Version B. In der ,+‘-Variante sind in der farbig hinterlegten, rechten Verbklammer Lücken zu füllen, indem aus einer Auswahl (mit Ablenkern) die richtigen Verben ausgewählt und abgeschrieben werden müssen. Phase 3: Durchführung der Handlung Inhalt: a. Selbstständige Durchführung der Handlung b. Erleben des Handlungsresultats Sprachliche Teilfertigkeiten: Hörverstehen handlungsbegleitender Kommentare, handlungsbegleitendes Sprechen Setting: Die Schüler: innen sitzen am Werktisch. Auf dem Tisch liegen die für die Herstellung des Handlungsproduktes benötigten Zutaten und Arbeitsgeräte. Material: Gurke, Salz, Schäler, Messer, (Schneide-)Brett, Teller, Schüssel, Gabel 334 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="336"?> 7 Zur Erinnerung: Es handelt sich bei Version B um Sätze mit Subjekt am Satzanfang und mit adverbialen Präpositionalphrasen. Abb. 15.4: Phase 2 - Arbeitsblatt PLAN (Version B 7 ) Für die Phase 3 findet ein Wechsel vom Schreibtisch zum Werktisch statt bzw. ein Wechsel von der als Schreibtisch ausgewiesenen hin zur als Werktisch ausgewiesenen Schulbankseite. Das Selbst-Hand-Anlegen bereitet den Schüler: innen ganz besonderen Spaß. Wäh‐ rend sie die Handlung am Werktisch durchführen, begleitet die Lehrkraft die Handlungssequenzen sprachlich und entlockt den Lernenden je nach Sprachentwick‐ lungsstand handlungseingebunden Wörter oder Phrasen. In der Vorbereitung der Unterrichtseinheit sollte man sich bewusst machen, welche Art von Fragen sich zum Elizitieren welcher Zielstruktur eignet (siehe Kapitel 3, Tab. 3.1). Korrekte Äußerungen der Schüler: innen werden auch in dieser Phase mit Begeisterung wiederholt, auf fehler‐ hafte Äußerungen reagiert die Lehrkraft mit korrektivem Feedback oder einer anderen geeigneten Modellierungstechnik (siehe Kapitel 3, Tab. 3.3). Wenn die Lehrkraft selbst beim Erstellen des Handlungsprodukts aktiv wird, kann sie die Lernenden durch ihr Vorbild zum handlungsbegleitenden und inneren Sprechen anregen. Der Höhepunkt der HOSS-Einheit besteht im kollektiven Erleben des Handlungs‐ produkts - im hier beschriebenen Beispiel ist dies das gemeinsame Essen der Gurken‐ 335 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="337"?> scheiben. Auch in dieser Situation ergeben sich vielfältige, individuell gestaltbare Gelegenheiten der Sprachanregung. So die Möglichkeit besteht, kann die Lehrkraft in der körperlich aktiven Phase 3 die Schüler: innen bei der Durchführung der einzelnen Handlungsschritte fotografieren. Diese Fotos können später bei der Festigung des Gelernten zum Einsatz kommen oder für die Erstellung eines Plakats genutzt werden. Phase 4: Schriftliche Rekapitulation der Handlungsdurchführung Inhalt: a. Gemeinsames Lesen der verschrifteten Handlungsschritte b. Vergleich der Arbeitsblätter PLAN und BERICHT c. Ergänzen von Leerstellen Sprachliche Teilfertigkeiten: Sprechen, Mitlesen, Abschreiben/ Schreiben Setting: Die Schüler: innen sitzen am Schreibtisch. Material: Arbeitsblätter PLAN und BERICHT; Bleistift, Radiergummi, Spitzer Für die Phase 4 wechseln die Schüler: innen wieder vom Werktisch zum Schreibtisch. Hier liegen für sie bereit: das blaue Arbeitsblatt PLAN und das gelbe Arbeitsblatt BERICHT. Die erneute Beschäftigung am Schreibtisch mit den Handlungsschritten wird damit motiviert, dass man noch einmal überprüfen wolle, ob die Durchführung auch nach Plan erfolgt ist. Nach dem Vorlesen eines Handlungsschrittes vom Arbeitsblatt PLAN durch die Lehrkraft wird der entsprechende Handlungsschritt auf dem Arbeitsblatt BERICHT gemeinsam mit den Schüler: innen gelesen und überlegt, ob dieser Handlungsschritt tatsächlich durchgeführt wurde, was die Schüler: innen auf dem Arbeitsblatt BERICHT nach jedem gelesenen Arbeitsschritt mit einem Häkchen bestätigen können. Während für die Handlungsschritte auf dem Arbeitsblatt PLAN Modalverbkonst‐ ruktionen verwendet werden (z. B. Ich muss die Gurke mit dem Schäler schälen), sind die Handlungsschritte auf dem Arbeitsblatt BERICHT im Perfekt formuliert (z. B. Ich habe die Gurke mit dem Schäler geschält). Je nach Sprachstand kann das Arbeitsblatt in Version B gewählt werden mit dem Subjekt im Vorfeld oder in der etwas anspruchsvolleren Version C mit variabler Vorfeldbesetzung (z. B. Zuerst habe ich die Gurke mit dem Schäler geschält). Die zu füllenden Lücken des Arbeitsblatts BERICHT bieten eine weitere Individu‐ alisierungsmöglichkeit: Schwächeren Schüler: innen können dabei Alternativen (mit der Hand oder mit der Gabel) vorgegeben werden (Versionen B und C), während es sprachstärkeren Schüler: innen vielleicht bereits gelingt, die Lücken ohne Hilfestellung zu füllen (Versionen B+ und C+, siehe Abb. 15.5). 336 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="338"?> Abb. 15.5: Phase 4 - Auszug aus Arbeitsblatt BERICHT (Version C+) Überprüfung und Festigung des Gelernten An einem der HOSS-Einheit folgenden Tage sollte eine Rekapitulation zur festeren Verankerung des Wortschatzes und der Zielstrukturen stattfinden. Für die Lehrkraft ergibt sich damit auch eine Möglichkeit zu überprüfen, welche der behandelten Wörter und Konstruktionen bereits verinnerlicht wurden. Denkbar ist eine mündliche Wiederholung der benötigten Objekte und der durchgeführten Handlungsschritte (gestützt durch das Bildmaterial der Arbeitsblätter, ggf. ergänzt durch Szenenfotos der Kinder bei der Handlungsdurchführung). Die Aufgabe der Schüler: innen könnte darin bestehen, einer Handpuppe, einem beim letzten HOSS nicht anwesenden Kind oder einer anderen Lehrkraft zu berichten, wie sie das Handlungsprodukt (z. B. die Gurkenscheiben mit Salz) hergestellt haben und welche Objekte dafür notwendig waren. Soll die Wiederholung schriftlich erfolgen, kann das Arbeitsblatt WIEDERHOLUNG mit individuell gestaltbaren Formularfeldern genutzt werden. Mit der ersten Aufgabe werden die benötigten Objekte anhand von Bildern erfragt, mit der zweiten Aufgabe die Handlungsschritte. Je nach sprachlicher Schwerpunktsetzung und unter Berücksichti‐ gung der sprachlichen Heterogenität der Lernenden kann die Lehrkraft entscheiden, welche Lücken ausgefüllt werden sollen. Der Fokus kann zum Beispiel auf Perfekt‐ konstruktionen liegen (siehe Abb. 15.6), auf Temporaladverbien oder instrumentalen Präpositionalphrasen. 337 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="339"?> Abb. 15.6: Ausschnitt Arbeitsblatt WIEDERHOLUNG mit Perfekt-Lücken 15.4 Kurzes Schlusswort Der HOSS ist eine Methode für sogenannte Seiteneinsteiger: innen. Diese Kinder und Jugendlichen, die sich im Sprachbad der sie umgebenden deutschen Sprache nur allzu oft überfordert fühlen, erleben sich beim HOSS sprachlich handlungsfähig: Sie verstehen, worum es geht und sie können einen Teil des Inputs aufnehmen und situationsangemessen verwenden. Sie machen die hochmotivierende Erfahrung, in einem Sicherheit gebenden Setting über ihre eigentlichen sprachlichen Fähigkeiten hinauszuwachsen. Der sich an der Handlungstrias (Planung, Durchführung, Kontrolle) orientierende HOSS verzichtet bewusst auf Eigenständigkeit und Partizipation bei der Handlungskonzeption, liefert den Lernenden dafür aber ein stabiles, sprachlich anspruchsvolles (deutlich über dem aktuellen Sprachniveau liegendes), den kognitiven Ausdrucksbedürfnissen entsprechendes Sprachlerngerüst. Auch komplexe Strukturen (z. B. instrumentale PPs) werden durch die Parallelisierung von körperlicher Ausfüh‐ rung und Sprache inhaltlich verstanden und zunächst als Chunks aufgenommen und durch das wiederholte, aber lexikalisch variierte Auftreten in folgenden HOSS-Einhei‐ ten in ihre Bestandteile aufgebrochen und zu variablen Schemata (siehe Kapitel 3.2). Aus neurowissenschaftlichen Untersuchungen ist bekannt, dass positive Emotionen beim Lernen förderlich wirken (u. a. Sambanis 2013). „Inhalte, die mit positiven Emo‐ tionen in Verbindung stehen, [bleiben] in der Regel länger und besser in Erinnerung“ (ebd.: 27). Ein positives Gefühl stellt sich u. a. ein, wenn man in eine interessante Aufgabe involviert ist, im richtigen Maße gefordert wird, die Herausforderung meistert, sich als kompetent wahrnimmt und eine Entwicklung an sich beobachtet - Aspekte, die die Lernenden im HOSS erfahren. Aufgaben 1.* Anhand welcher Kriterien ließen sich handlungsorientierte methodische An‐ sätze charakterisieren und voneinander abgrenzen? 2.** Schauen Sie sich unter dem in Fußnote 6 gegebenen Link zunächst weitere HOSS-Einheiten an. Konzipieren Sie dann (in Einzel- oder Gruppenarbeit) auf den unter Z-021 zu findenden Blankovorlagen eine eigene HOSS-Einheit. Emp‐ fohlene Vorgehensweise: 338 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="340"?> a. Überlegen Sie, (i) welches Produkt erstellt werden soll, (ii) welche einzelnen Handlungsschritte hierfür erforderlich sind, (iii) welche Materialien benö‐ tigt werden. b. Entscheiden Sie sich für eine Arbeitsblattversion (A, B, C oder D) und erstellen Sie mit den Vorlagen (für WÖRTER, PLAN, BERICHT) die entspre‐ chenden Arbeitsblätter. c. Präsentieren Sie Ihre HOSS-Einheiten in einem Gallery-Walk. 3.*** Welche erwerbsbegünstigenden Faktoren finden in der Methodenkonzeption des HOSS Berücksichtigung? Lesen Sie hierfür in Bischoff & Bryant (2020) die Seiten 295-304. Download: Stundenverlaufsplan 339 15 Handlungsorientierter Sprach- und Schriftgebrauch (HOSS) <?page no="341"?> 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf Anne Sass Szenarien bieten einen ganzheitlichen Ansatz, um sprachliche Handlungsfähig‐ keit im Beruf zu trainieren. Vorbereitet durch das Üben von Redemitteln, rele‐ vanten grammatischen Strukturen und das Üben von flüssigem Sprechen sind auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnittene Szenarien Probehandeln für den Berufsalltag. Das Agieren in realitätsnahen Szenarien zeigt den Lernenden auf, was sie schon alles in der Zweitsprache bewältigen können und gibt ihnen so mehr Selbstsicherheit für (zukünftige) Kommunikationssituationen im Beruf. 16.1 Aktivierender Unterricht zur Vorbereitung auf das Berufsleben Fallbeispiele aus einer Berufsvorbereitungsklasse Amina (16) lernt erst seit einem Jahr Deutsch und jetzt soll sie ein Praktikum machen. Sie interessiert sich sehr für Technik. Mit Hilfe ihrer Lehrerin hat sie einen Praktikumsplatz in einem metallverarbeitenden Betrieb gefunden. Sie hat noch eine wichtige Frage, aber sie traut sich nicht beim Praktikumsbetrieb anzurufen. Paolo (17) lernt wie Amina noch nicht sehr lange Deutsch. Mit der Alltagssprache klappt es schon sehr gut. Er hat schon einen Schnuppertag in seinem Praktikums‐ betrieb gemacht und musste feststellen, dass er den Chef und die Kolleg: innen nicht gut versteht, vor allem wenn sie ihm Arbeitsaufträge geben. Jetzt hat er Angst, dass er, weil er etwas nicht korrekt versteht, Fehler macht und deshalb seinen Traumberuf Mechatroniker nicht erlernen kann. Betrand (18) versucht immer alles möglichst korrekt zu machen. Auch wenn er Deutsch spricht, möchte er keine Fehler machen. Deshalb traut er sich nicht viel zu sagen. Er hat schon ein Praktikum gemacht und anschließend wurde ihm mitgeteilt, dass er nicht aktiv genug gewesen sei. Er möchte auch einen technischen Beruf erlernen. In Berufsvorbereitungs- oder Berufsorientierungsklassen sollen zugewanderte Jugend‐ liche und junge Erwachsene fachlich, sprachlich und kommunikativ auf Situationen im Berufsleben vorbereitet werden. Für die Lehrkraft (LK) stellt sich die Frage, wie ein die Lernenden aktivierender Unterricht aussehen kann, der einerseits die relevanten Themen aufgreift und andererseits die individuellen Voraussetzungen und Unsicherheiten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen berücksichtigt. 340 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="342"?> Um die Zielgruppe gut auf berufliche Kommunikation vorzubereiten, sind u. a. folgende Aspekte in Bezug auf Sprache und sprachliches Handeln von Bedeutung: a. Neben der Alltagssprache geht es darum, sich in berufssprachlichen und fach‐ sprachlichen Kontexten sprachlich-kommunikativ einbringen zu können, z. B. in Gesprächen mit Vorgesetzten sowie mit Kolleg: innen oder auch Kund: innen, beim Verstehen von Arbeitsaufgaben (zu berufsrelevanten Registern vgl. Efing 2014). b. Der Unterricht sollte nicht strikt an den Niveaustufen des Gemeinsamen Europäi‐ schen Referenzrahmens (GER) ausgerichtet werden, denn sowohl authentische sprachlich-kommunikative Handlungen im Alltag wie auch am Arbeitsplatz sind niveauübergreifend (Kuhn 2015: 5). c. Sprache entsteht im Miteinander der jeweiligen Sprecher: innen, wird also als soziales Handeln und nicht nur als ein formales Zeichensystem verstanden (Grün‐ hage-Monetti & Svet 2014: 190). Sprache wird somit nicht nur in funktionaler Hinsicht, sondern auch in Bezug auf implizite soziale Regeln vermittelt. Sprache ist in soziale Prozesse eingebettet. Insbesondere Letzteres lässt sich im DaZ-Unterricht kaum abbilden und kann erst durch das Erleben der sozialen Praxis von jedem Einzelnen selbst mit seinen ganz in‐ dividuellen sprachlichen Kompetenzen erlebt und bewältigt werden. Die individuellen sprachlichen Kompetenzen zu stärken, damit die Lernenden sich als selbstwirksame Subjekte erleben, ist ein wichtiges Ziel in der sprachlich-kommunikativen Vorberei‐ tung auf den Berufsalltag. Der Eintritt ins Berufsleben ist häufig davon geprägt, dass Vieles neu und ungewohnt ist, da die Schülerinnen und Schüler (SuS) mit anderen sozialen Beziehungen und neuen Aufgaben konfrontiert sind. Dieser Schritt von der Schule in die Berufswelt evoziert - insbesondere bei Zweitsprachlernenden, die die soziokulturellen Aspekte der Sprache nicht so einfach dechiffrieren können - Ängste und Unsicherheiten (vgl. Thinnes 2018: 153). Für diese Lernergruppe bedarf es daher einer spezifischen methodischen Herange‐ hensweise, die es möglich macht, sich in einem geschützten Raum, in einer konstruk‐ tiven freudvollen Atmosphäre spielerisch den (zukünftigen) sprachlich-kommunikati‐ ven Herausforderungen des Berufsalltags zu stellen. Hier bietet sich an, die Szenario-Methode zu nutzen. Diese hat sich vor allem im Bereich des berufsbezogenen und berufsorientierten DaZ-Unterrichts etabliert, um Lernende gezielt auf die sprachlich-kommunikativen Situationen im Berufsleben vorzubereiten (Eilert-Ebke & Sass 2014, Kuhn & Sass 2018, Svet 2019). Die Ursprünge dieses Ansatzes liegen in den 1980er Jahren in Großbritannien und die Szenario-Methode diente dazu, Handlungsabläufe des realen Lebens nachzustellen. Über den Bereich der innerbetrieblichen Aus- und Weiterbildung hinaus wurden Szena‐ rien für Englisch als Fremdsprache in der kaufmännischen Ausbildung in Deutschland eingesetzt, um betriebswirtschaftliche Fragen im firmeninternen Sprachunterricht in Form von Fallstudien zu behandeln (vgl. Eilert-Ebke & Sass 2014: 7). Die sogenannte 341 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf <?page no="343"?> kommunikative Wende im Fremdsprachenunterricht bot einen weiteren Gestaltungs‐ spielraum für die Entwicklung von ganzheitlichen und dramapädagogischen Ansätzen (vgl. Schlemminger et al. 2000). Der Begriff Szenarien ist vom Begriff Lernszenarien (siehe Kap. 15.1 in diesem Band) abzugrenzen, wie er u. a. von Roche & Terasi-Haufe 2017 für den handlungsorientierten Unterricht an beruflichen Schulen verwendet wird. Hier wird Folgendes darunter verstanden: Szenarien Szenarien sind Handlungsketten von aufeinanderfolgenden Kommunikationssitu‐ ationen, wie sie in dem jeweiligen beruflichen Kontext vorkommen könnten. Im Unterricht werden die dafür erforderlichen sprachlich-kommunikativen Mittel Schritt für Schritt vorbereitet. Die Inszenierung des Szenarios steht am Ende der Unterrichtseinheit und ist Probehandeln für die kommunikative Handlungsfähig‐ keit am Arbeitsplatz. Dieses Vorgehen, das auch als Szenario-Methode bezeichnet wird, beruht auf den folgenden lerndidaktischen und methodischen Aspekten: a. Lernen wird als aktiver, konstruktivistischer Prozess verstanden. b. Handlungsschemata des Wissens werden an individuelle Handlungsschemata der Lernenden angebunden. c. Umsetzung von Wissen in Können und Handeln erfolgt niemals nur rezeptiv, passiv und reaktiv und niemals als reiner Nachahmungsprozess. d. Szenarien werden in Gruppen erarbeitet und ermöglichen dadurch ein hohes Maß an aktivem, effektivem Lernen durch gemeinsame Konstruktion, Kommunikation, Kooperation und Interaktion. e. Lernen erfolgt in ganzheitlichen, komplexen Situationen, die die individuelle Er‐ fahrung berücksichtigen und den Transfer in zukünftige Situationen ermöglichen. f. Lernen erfolgt nicht in losgelösten Einheiten, sondern es werden vor- und nach‐ gelagerte Prozessschritte gesehen, die sich in ihrer Weiterentwicklung gegenseitig determinieren. (Eilert-Ebke & Sass 2014: 9) Ganz im Sinne der Ermöglichungsdidaktik (siehe Erklär-Kasten) schafft die LK einen Raum, in dem sich die Lernenden ausprobieren können und ihre sprachlich-kommu‐ nikativen Kompetenzen in Szene setzen - sozusagen ein Probehandeln für das reale Leben. Dies fördert auch die für selbständige (Sprach-)Lernprozesse notwendigen Lerntechniken und -strategien (vgl. Sass 2018). 342 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="344"?> 1 „fide“ steht für „Français, Italiano, Deutsch in der Schweiz“ und bezeichnet das schweizerische Programm zur Förderung der sprachlichen Integration. [https: / / fide-info.ch/ de/ home; 29.10.2021] Ermöglichungsdidaktik „Ermöglichungsdidaktik“ nennt der Pädagoge Rolf Arnold (2007) eine Form des Lernens, die es den Lernenden ermöglicht, sich selbständig und selbstgesteuert, mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen. Die Lehrenden sind so nicht mehr die Vermitt‐ ler von Wissen, sondern schaffen als Lernbegleitende die Rahmenbedingungen für einen individuellen Lernprozess. Grundlage dieses didaktischen Vorgehens ist der Konstruktivismus: Wissen kann nicht durch äußere Einflüsse erworben werden, sondern entsteht, indem jedes Individuum dieses für sich selbst „konstruiert“. (vgl. Arnold & Schön 2019) Ein Szenario besteht aus einer Situationsbeschreibung (siehe Abb. 16.1), einer Rol‐ lenbeschreibung (Abb. 16.2) sowie Rollenkarten (Abb. 16.5) zu den einzelnen, sich aus der Gesamtsituation ergebenden Handlungsschritten (Abb. 16.3) und entspricht thematisch den zuvor identifizierten Bedarfen der jeweiligen Lerngruppe. Ein Unter‐ richt nach der Szenario-Methode zielt darauf ab, dass sich die SuS als handelnde Personen wahrnehmen und sich in die jeweilige Situation mit all den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen und kommunikativen Mitteln einbringen können. Um dies zu ermöglichen, ist jedem Szenario eine gezielt auf die Situation vorbereitende Übungssequenz vorzuschalten, die auf den gängigen didaktisch-methodischen Prinzi‐ pien bzw. Qualitätskriterien wie z. B. Bedarfsorientierung, Teilnehmendenorientierung sowie Handlungs- und Aufgabenorientierung basiert (vgl. Funk et al. 2014: 16-22, Beckmann-Schulz & Kleiner 2011). Diese auf einer vom Szenario ausgehenden Rückwärtsplanung (vgl. Funk et al. 2014: 14) basierende Vorbereitung bildet das sprachliche Fundament, auf das die SuS während der Inszenierung zurückgreifen können. Erst so ist - während der Inszenierung - ein aktives Sprachhandeln möglich. Die Szenario-Methode lässt sich in der Berufsvorbereitung und -orientierung ein‐ setzen, ist aber auch für die Ausbildungen bzw. Weiterqualifizierungen begleitenden Sprachkurse geeignet. Dann können die ausgewählten Szenarien Themen abbilden, in denen sprachliches und fachliches Lernen verzahnt wird: So liegen z. B. für die Ausbil‐ dung bzw. Anpassungsqualifizierung von Erzieher: innen, Lehrer: innen und Pflegekräf‐ ten szenariobasierte Lehrmaterialien vor (vgl. Raschke et al. 2018, Bolte-Costabiei et al. 2020, Sass 2021). Szenarien können aber auch für den allgemeinsprachlichen Bereich genutzt werden. Dieses Vorgehen hat sich z. B. in der Schweiz durch das Sprachförder‐ konzept für erwachsene Migrant: innen „fide“ 1 etabliert (vgl. Geschäftsstelle fide 2020). Szenarien können sowohl mündliche als auch schriftliche Kommunikationssituationen abbilden. (Es lassen sich z. B. auch E-Mails, Praktikumsberichte, Übergabeprotokolle oder auch Notizen in ein Szenario einbeziehen.) Szenarien werden so dem Anspruch 343 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf <?page no="345"?> 2 Der vollständige Szenario-Entwurf ist unter Z-023 zu finden. gerecht, die Fertigkeiten Lesen, Schreiben, Hören und Sprechen nicht isoliert zu behandeln, sondern Fertigkeiten kombiniert zu trainieren und den Sprachunterricht anhand der Kategorien Rezeption, Produktion, Interaktion und Mediation zu planen und zu strukturieren, wie es u. a. im Begleitband des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens gefordert wird (vgl. Council of Europe 2020: 39). Die Szenario-Methode lässt sich auch im Online-Format umsetzen. Dabei können asynchrone Phasen genutzt werden, um die relevanten Strukturen und Redemittel zu erarbeiten und zu festigen, während die Präsenzphasen im digitalen Raum dem Sprachhandeln und der Reflexion vorbehalten sind. 16.2 „Erster Tag im Praktikum“ - Ein Szenario entwickeln, ermöglichen, inszenieren Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer DaZ-Lerngruppe mit Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die sich auf den Einstieg ins Berufsleben vorbereiten (siehe die Fallbeispiele Amina, Paolo und Betrand am Anfang des Kapitels), z. B. kurz vor dem Schulabschluss, in einer Berufsvorbereitungsklasse, in einer Seiteneinsteigerklasse oder auch in einer Anpassungsqualifizierung. Die SuS haben das Niveau B1 erreicht und sind im Bereich der mündlichen Produktion sowie der Rezeption auf Niveau B2.1, insbesondere im Bereich der Alltagssprache. In berufsbezogenen Kontexten fühlen sie sich noch unsicher und brauchen einen auf Bildungs-, Fach- und Berufssprache abgestimmten DaZ-Unterricht. Im Verlauf der letzten Unterrichtsstunden haben Sie wahrgenommen, dass die SuS, die bald ein Praktikum bzw. eine Berufsausbildung beginnen werden, auf typische Situationen des Berufsalltags sprachlich und kommunikativ nicht gut vorbereitet sind. Daher möchten Sie den SuS ermöglichen, sich in die ersten Tage im Praktikum bzw. in der Ausbildung hineinzuversetzen. Ziel ist, dass sie sich sprachlich sicherer fühlen und beim Einstieg in die Arbeitswelt ihre kommunikativen und sozialen Kompetenzen gut einbringen können. An dem Beispiel „Erster Tag im Praktikum“ erfahren Sie, wie ein Szenario entwickelt, die dafür notwendigen sprachlichen Mittel vorbereitet werden können und wie das Szenario auf die Bühne gebracht werden kann. 2 Festlegen der Lernziele Zunächst ermitteln Sie die Bedarfe Ihrer SuS (vgl. Weissenberg 2012) und notieren die für das Thema „Erster Tag im Praktikum“ relevanten Lernziele (Kann-Beschreibungen), wie z. B.: Die SuS können a. einen Termin telefonisch bestätigen, b. den neuen Chef/ die neue Chefin begrüßen, 344 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="346"?> 3 Das Szenario wird am Beispiel der Praktikantin Amina Sabia beschrieben; dies erleichtert den Lesefluss; bei der Umsetzung des Szenarios können die SuS, die die Rolle des Praktikanten/ der Praktikantin spielen, ihre eigenen Namen nutzen. Der Kontext des dargestellten Szenarios ist exemplarisch zu betrachten: Je nach Zielgruppe lässt sich das Szenario für andere Berufsfelder adaptieren; so kann statt eines metallverarbeitenden Betriebes auch ein Softwareunternehmen, ein Supermarkt oder auch ein Kindergarten ausgewählt werden. c. bei Unklarheiten nachfragen, d. eine Arbeitsaufgabe verstehen, e. mit einem Kollegen/ einer Kollegin über die Arbeitsaufgabe sprechen, f. einen Kollegen/ eine Kollegin auf einen Fehler aufmerksam machen, g. einen Fehler an den Chef/ die Chefin weitergeben, h. auf Rückfragen des Chefs/ der Chefin reagieren, i. im Team Lösungsvorschläge erarbeiten, j. sich informell über Privates und Berufliches austauschen. Die Lernziele sind die Basis für die Entwicklung des Szenarios und davon ausgehend für einen Unterricht, der die SuS Schritt für Schritt auf die Inszenierung des Szenarios vorbereitet. Entwicklung des Szenarios Zu beginnen ist mit einer Beschreibung der Gesamtsituation (Abb. 16.1) und der zu vergebenen Rollen (Abb. 16.2). Abb. 16.1: Situationsbeschreibung 3 345 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf <?page no="347"?> Abb. 16.2: Rollenbeschreibung Die Gesamtsituation ist dann in einzelne Handlungsschritte zu unterteilen, sodass zum einen die Komplexität aufgebrochen und der Verlauf transparenter wird und zum anderen unterschiedliche kommunikative Handlungen am Arbeitsplatz Schritt für Schritt inszeniert werden können. Für das Szenario „Erster Tag im Praktikum“ sind fünf Handlungsschritte vorgesehen (Abb. 16.3). Falls die Komplexität des Szenarios die SuS noch überfordert, lässt sich das Szenario auch kürzen, indem die letzten beiden Schritte zunächst einmal weggelassen werden. Um auch die damit verbundenen Lernziele zu erreichen, können die Themen dann in ein späteres Szenario einfließen. Durch zusätzliche schriftliche Informationen, wie z. B. im vorliegenden Szenario eine dem Schritt 1 vorausgehende E-Mail von der Firma an die Praktikantin (Abb. 16.4), können weitere Informationen in das Szenario eingebunden werden. Diese E-Mail bildet den Ausgangspunkt für den ersten Schritt des Szenarios, ein Telefonat mit dem Praktikumsbetrieb, um noch einige offene Fragen zu klären. Für jede Rolle und jeden Handlungsschritt werden Rollenkarten vorbereitet, die den Rahmen der Handlung noch genauer beschreiben und Grundlage für die szenische Umsetzung sind, wie in den Abb. 16.5 bis 16.8 exemplarisch für die Schritte 1 und 2 der Rollen A und C dargestellt. 346 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="348"?> Abb. 16.3: Szenario-Verlauf: Fünf Handlungsschritte 347 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf <?page no="349"?> Sehr geehrte Frau Sabia, wir freuen uns sehr darauf, dass Sie am xx.xx.20xx Ihr Praktikum bei uns beginnen werden. Wir erwarten Sie um 9: 00 Uhr an der Pforte. Dort müssen Sie noch einen kurzen Sicherheits‐ check absolvieren und dann wird Ihre Vorgesetzte Katharina Dünnwald Sie in Empfang nehmen. Frau Dünnwald haben Sie ja schon kennengelernt, als Sie sich für das Praktikum bei uns vorgestellt haben. (…) Abb. 16.4: Auszug aus der dem Schritt 1 vorgeschalteten E-Mail Abb. 16.5: Beispiel einer Rollenkarte (Rolle A, Schritt 1) 348 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="350"?> Abb. 16.6: Beispiel einer Rollenkarte (Rolle C, Schritt 1) Abb. 16.7: Beispiel einer Rollenkarte (Rolle A, Schritt 2) 349 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf <?page no="351"?> Abb. 16.8: Beispiel einer Rollenkarte (Rolle C, Schritt 2) Das Szenario ermöglichen Eine genauere Betrachtung der allein in dieser Rollenkarte auftauchenden sprachli‐ chen Anforderungen zeigt, dass vorab spezifische sprachliche Mittel trainiert werden müssen, u. a. Duzen-Siezen, Höflichkeitsfloskeln, Fragetechniken, Smalltalk (vgl. dazu Beispieldialog, Sass 2018: 16). In den der Inszenierung vorgeschalteten Übungssequen‐ zen werden diese sprachlichen Mittel eingeführt und geübt. Eine genauere Analyse verdeutlicht dies: Schritt 2, Die Begrüßungssituation am neuen Arbeitsplatz, kann in sieben Lernsequen‐ zen trainiert werden, in denen sich die SuS anhand eines Musterdialogs die Inhalte erschließen und die benötigten Redemittel intensiv üben: 1. Die Themen des Dialogs „Erster Tag im Praktikum“ erkennen. 2. Sich den Handlungsplan des Musterdialogs erschließen. 3. Sich gemeinsam den Musterdialog erarbeiten. 4. Den Musterdialog nachsprechen. 5. Den Musterdialog mit einer Lernpartnerin üben. 6. Anhand des Musterdialogs die für den eigenen Dialog relevanten Redemittel erarbeiten. 7. Das Gelernte auf eine relevante Kommunikationssituation übertragen und den eigenen Dialog als Rollenspiel inszenieren. (vgl. Sass 2018: 16-21) 350 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="352"?> Abschließend nutzen die SuS den in Lernsequenz 6 erarbeiteten Handlungsplan und inszenieren ihre eigenen Dialoge in Form von Rollenspielen. Abb. 16.9: Handlungsplan für das Gespräch „Begrüßung am neuen Arbeitsplatz“ (Sass 2018: 20) Durch die in Komplexität und Anspruch überschaubaren Rollenspiele werden die SuS allmählich an die Inszenierung des gesamten Szenarios herangeführt und gewinnen zunehmend Vertrauen in die performativen Möglichkeiten seiner Ausgestaltung. Bei dem vorliegenden Szenario sollte - je nach Vorkenntnissen der SuS - die Vorbereitung mindestens zehn Doppelstunden umfassen. Das Szenario inszenieren (Beispieldoppelstunde) Nach den Ausführungen zur Entwicklung des Szenarios und zu den vorzuschaltenden Übungen geht es im Folgenden um die Inszenierung. Der für die Beispieldoppelstunde skizzierte Ablauf bezieht sich auf eine Lerngruppe, die noch nicht mit dem Szena‐ rio-Ansatz vertraut ist. In der Doppelstunde werden aus dem Szenario-Verlauf (siehe Abb. 16.3) die Handlungsschritte 1 und 2 inszeniert. (Für das vollständige Szenario mit den insgesamt fünf Schritten würde man etwa zwei Doppelstunden benötigen.) Das Szenario kann in einer Lerngruppe von bis zu 18 SuS durchgeführt werden. Diese werden in sechs Szenario-Teams zu je drei SuS eingeteilt. Bei Lernenden, die schon mehrfach Szenarien inszeniert haben, kann z. B. der Austausch in Rollengruppen wegfallen oder die SuS können sich schon vorab - als Hausaufgabe - auf ihre Rollen vorbereiten, sodass im Präsenzunterricht mehr Zeit für die Inszenierung und evtl. auch für eine Wiederholung mit anderer Rollenverteilung ist. 351 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf <?page no="353"?> Warm-up Als Einstieg in das Szenario bietet es sich an, zunächst die SuS in den situativen Kontext einzuführen. Die LK erzählt in Form von Story-Telling die Rahmenhandlung des Szenarios, d. h. die LK lässt die Handlung und Figuren durch das Erzählen lebendig werden, um das Eintauchen in das Szenario und Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen (vgl. Fuchs 2015). Die SuS bewegen sich durch den Raum und versetzen sich mehr und mehr in die Gesamtsituation des Szenarios „Erster Tag im Praktikum“ hinein. Dabei unterstützen Sätze der LK, wie z. B. „Sie haben einen Praktikumsplatz bekommen. Sie freuen sich.“ oder „Sie sind nervös, sie suchen den Eingang“. Die SuS spielen die Situationen nonverbal nach, sodass sie atmosphärisch in den Kontext des Szenarios eintauchen können. Denken Sie auch daran, Requisiten bereitzuhalten, z. B. Namensschilder, Arbeitskit‐ tel, Arbeitsgeräte, und regen Sie die SuS an, den gesamten Raum aktiv zu nutzen. Bei großen Lerngruppen ist es wichtig, einen ausreichend großen Raum für die Inszenie‐ rung bereitzustellen, wie z. B. die Aula der Schule, damit sich die Szenario-Teams nicht gegenseitig bei der Performance stören. Einführung Nach dem Aufwärmen erfolgt eine vertiefende Einführung in das Szenario. Die LK erläutert die Situation und die SuS können nachfragen und fassen die Situation kurz mit eigenen Worten zusammen. Vorbereitung von Schritt 1 des Szenarios (Telefonat mit der Chefin - Rückfragen zum Praktikumsstart) Die Szenario-Teams finden sich zusammen und es wird im Team entschieden, wer welche der drei Rollen (neue: r Mitarbeiter: in, Kolleg: in, Chef: in) übernimmt. Bei 15 SuS werden z. B. 5 Szenario-Teams gebildet. Sind es 16 SuS, gibt es in einer Gruppe einen zusätzlichen Beobachtenden oder eine weitere Kollegin. Lernende, die zurückhaltender oder sprachlich unsicherer sind, könnten z. B. zu zweit die Rolle von einarbeitenden Kollegen übernehmen, sodass sie sich gegenseitig unterstützen können. Sollten in einem Schritt, so wie es im vorliegenden Szenario bei Schritt 1 und 3 (siehe Abb. 16.3) der Fall ist, nicht alle Rollen aktiv sein, erhalten diese die Rolle von Beobachtenden. Die SuS lesen die Rollenkarten und die E-Mail, um sich auf den ersten Schritt, das Telefonat mit der Chefin, vorzubereiten. Um sicherzustellen, dass alle die Anforderun‐ gen an ihre Rolle verstanden haben, wird folgender Zwischenschritt eingebaut: Die SuS setzen sich in Rollengruppen (Gruppe 1: neue Mitarbeitende, Gruppe 2: Kollegen, Gruppe 3: Beobachtende) zusammen und besprechen in einem ko-konstruktiven Prozess, welche Ideen sie haben, um die Rolle zu füllen und welche Redemittel hilfreich sein könnten. Die Redemittel können sie auf ein Flipchart notieren, sodass diese Visualisierung während der Inszenierung als Anker genutzt werden kann. Die Beobachtenden erarbeiten in dieser Phase gemeinsam mit der LK Kriterien für die Beobachtung des Szenarios. Sie können sich z. B. gemeinsam überlegen, was für ein 352 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="354"?> gelungenes Kennenlerngespräch mit der Chefin wichtig ist, z. B. Duzen oder Siezen, passende Körpersprache. Inszenierung von Schritt 1 des Szenarios (Telefonat mit der Chefin - Rückfragen zum Praktikumsstart) und Reflexion Dann kommen die Szenario-Teams zusammen und inszenieren Schritt 1. Die LK geht von Team zu Team, beobachtet und macht sich Notizen, greift aber nicht ins Spiel ein. Die Beobachtenden nutzen die zuvor erarbeiteten Beobachtungskriterien und notieren die für sie wichtigen Punkte. Anschließend erfolgt zunächst in den Szenario-Teams und dann im Plenum eine Auswertung des ersten Schritts. Vorbereitung und Inszenierung von Schritt 2 des Szenarios (Offizielle Begrüßung in der Firma) und Reflexion Nun erarbeiten sich die SuS den zweiten Schritt (siehe Abb. 16.7 und 16.8). Dabei sind alle drei Rollen aktiv und bereiten sich entsprechend in Rollenteams auf ihre Rolle vor. Schritt 2 wird inszeniert und reflektiert. Zwischenbilanz im Plenum: Präsentation von Schritt 2 und Reflexion Nach Schritt 2 bietet es sich an, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen, indem im Plenum vertiefende Reflexionsfragen gestellt werden, z. B.: „Wie haben Sie sich gefühlt? Wie war die Gesprächsatmosphäre? Welche der zuvor erarbeiteten Redemittel waren hilfreich? Was war für Sie herausfordernd? “ Die in der Reflexion herausgearbeiteten Aspekte können anschließend direkt in einer weiteren Inszenierung berücksichtigt werden: Ein Szenario-Team, das sich freiwillig meldet, bringt den Schritt 2 nochmals auf die Bühne und erhält in Form eines Blitzlichts von den anderen SuS eine Rückmeldung, d. h. nacheinander äußern sich alle SuS kurz dazu, wie sie das Gesehene wahrgenommen haben. Während der Runde werden die einzelnen Aussagen nicht kommentiert. Abschließend kann das Szenario-Team sich zum Feedback äußern und ggf. kann die Gesamtgruppe daraus nächste Schritte für den Lernprozess ableiten. Analog dazu werden Schritt 3, 4 und 5 inszeniert und reflektiert. Besonders auf‐ schlussreich ist es, wenn die SuS Videoaufnahmen von ihrer Inszenierung machen, diese für die Reflexion nutzen und ggf. erneut in gleichen oder auch in neu verteilten Rollen spielen. Die SuS werden von Schritt zu Schritt, von Szenario zu Szenario selbstsicherer und vergessen, dass es sich um ein „Spiel“ handelt. Die Szenarien werden so eine Generalprobe für das wirkliche Leben. Aufgaben 1.* „Das ist ja wie in echt“ ist die Aussage einer Lernenden, nachdem sie im Rahmen einer szenario-basierten Lernstandsmessung ein Szenario durchgespielt hatte. Suchen Sie mindestens drei wichtige Aspekte im Text, die belegen, dass Szena‐ rien zu „echtem“ kommunikativem Handeln anregen. Tauschen Sie sich dazu in Ihrer Lerngruppe aus! 353 16 Mit Szenarien zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Beruf <?page no="355"?> 2.** Identifizieren Sie Kommunikationssituationen, die den (zukünftigen) berufli‐ chen Alltag von SuS abbilden und Ausgangspunkt für die Entwicklung von Sze‐ narien sein können. Überlegen Sie dann für die jeweilige(n) Situation(en) wer, mit wem, worüber, wozu kommuniziert und welche sprachlichen und kommu‐ nikativen Herausforderungen es zu bedenken gilt. Unter Z-024 finden Sie eine Tabellenstruktur, die Sie hierfür nutzen können. 3.*** a) Entwickeln Sie - ausgehend von ein bis zwei in Aufgabe 2 identifizierten Kommunikationssituationen - für Ihre Zielgruppe ein eigenes Szenario (3 Rollen, 3 Schritte). In Eilert-Ebke & Sass (2014) und Sass (2019) finden Sie weitere Anregungen dazu. b) Überlegen Sie, welche Redemittel und Strukturen die SuS vorab erlernt haben sollten, um dieses Szenario zu ermöglichen. Skizzieren Sie dazu ein Kurskonzept. Im Download-Bereich finden Sie eine Tabelle, die Sie hierfür nutzen können. Entscheiden Sie auch, wie viel Zeit Sie für die Erarbeitung der einzelnen Themen/ Sprachhandlungen und für die Inszenierung des Szenarios brauchen. c) Simulieren Sie das Szenario im Seminar oder setzen Sie es - wenn möglich - in einem Ihrer Kurse um und reflektieren Sie: □ Wie ist es den Beteiligten gelungen, das Szenario umzusetzen? □ Wie ist es Ihnen gelungen, performative Aspekte (z. B. Warm-up für die Inszenierung, Requisiten, Gestaltung des Kursraums) umzusetzen? □ Welche sprachlichen Mittel aus der Vorbereitungsphase konnten die Beteiligten während der Inszenierung aktiv nutzen? □ Welche sprachlichen Mittel hätten vorher intensiver trainiert werden müssen? □ Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen? Download: Stundenverlaufsplan 354 Im Fokus: Bewegen und Handeln <?page no="356"?> Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung Aktivierung a. Welche Assoziationen verknüpfen Sie mit dem Begriff Grammatikvermittlung? Stellen Sie diese in einem Assoziogramm dar. b. Vergleichen Sie in der Gruppe Ihre Assoziogramme und kommen Sie ins Gespräch darüber, wie Sie selbst Grammatikvermittlung erfahren haben und welche Erwar‐ tungen Sie an eine gute Grammatikvermittlung haben. c. Erinnern Sie sich an Ihren Fremdsprachenunterricht. War der eher auf Kommu‐ nikation ausgerichtet oder eher strukturfokussiert? Hat man sich streng ans Lehrbuch haltend ein sprachliches Phänomen nach dem anderen erarbeitet oder ließ man auch Raum und Zeit für interessensgeleitete Aufgaben? Können Sie sich vielleicht auch noch an Methoden oder an bestimmte Unterrichtsstunden erinnern, bei denen Ihnen das Sprachlernen besonders viel Spaß machte? d. Sicher haben Sie schon von der Standbild-Technik gehört und vermutlich (ob als Schüler: in und/ oder als Lehrkraft) auch schon Erfahrungen damit gemacht. Über‐ legen Sie, für welche Sprachhandlungen und welche konkreten Zielstrukturen diese Technik in der Sprachbildung/ -förderung eingesetzt werden könnte. ***** „Es hilft nichts, heute müssen wir mal wieder Grammatik machen.“ Hatten Sie auch eine Lehrerin, die ihre Unlust auf Grammatik so oder ähnlich auf ihre Schülerschaft übertrug? Oder einen Lehrer, für den Grammatik spürbar ein rotes Tuch zu sein schien? Grammatik hat immer noch einen schweren Stand in der Sprachvermittlung - in den Augen vieler ist sie ein notwendiges Übel, auf das man sich hin und wieder einlassen muss. Im Zuge der so genannten kommunikativen Wende (in den 1970er und 1980er Jahren) hatte man die Grammatik sogar weitgehend verbannt aus dem Fremdsprachenunterricht und sich primär dem Aushandeln von Bedeutungen in ansprechenden kommunikativen Settings zugewandt - im Glauben, die Lernenden würden in dieser dem Erstspracherwerb nachempfundenen Natürlichkeit den Weg in die Zielsprachlichkeit finden. Zwar attestierte man nun den Lernenden eine erhöhte Sprachfreude und eine verbesserte mündliche Sprachfertigkeit, bemängelte gleichzei‐ tig aber die Sprachrichtigkeit und die fehlenden Grammatikkenntnisse. Inzwischen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass man auf eine Grammatikvermittlung nicht vollends verzichten kann. Festhalten möchte man aber auch an einem bedeutungsori‐ entierten, kommunikativ ausgerichteten Unterricht (z. B. task-based language teaching, TBLT, s. Kap. 4.2). Im Fokus der aktuellen Zweit-/ Fremdsprachendidaktik steht daher <?page no="357"?> 1 Wie sich Grammatikvermittlung (u. a. Tempus, Passiv, Präpositionen, Pronomen, Konditionale) mit TBLT verknüpfen lässt, zeigt Niemeier (2017) für Englisch als Fremdsprache. die Frage, wie sich Bedeutungsorientierung und Grammatik sinnvoll zusammenführen lassen. 1 Ein methodischer Ansatz, der dies vermag und dem sich die nun folgenden fünf Kapitel (17 bis 21) widmen, ist die Dramagrammatik. Kapitel 17 stellt zunächst den noch recht jungen Ansatz der Dramagrammatik vor und geht dabei auch auf dessen Bezugsquellen ein. Bei der Dramagrammatik handelt sich um eine spezifische Ausprägung des dramapädagogischen Fremdsprachenunter‐ richts. Den zum Einsatz kommenden Inszenierungsformen und Inszenierungstechni‐ ken widmet sich Kapitel 18. Das inhaltlich eng anschließende Kapitel 19 gibt anhand zweier ausgewählter Inszenierungstechniken eine detaillierte Vorstellung davon, wie sich Mittel des Theaters einsetzen lassen, um durch spezifische Sprachhandlungen gezielt Wortschatz und Grammatik auf- und auszubauen. Im anschließenden Kapitel 20 werden zwei dramagrammatische Phasenmodelle vorgestellt - zunächst das Original von Even (2003) und dann eine modifizierte Form von Bryant (2012a). Während Evens Modell sich an DaF-Studierende richtet, ist Bryants Modell für Schüler: innen mit DaZ und/ oder Sprachförderbedarf konzipiert. Im letzten Kapitel 21 stellt Petra Schappert eine weitere Adaption von Evens Modell vor, einsetzbar für die niederschwellige Grammatikvermittlung in Integrationskursen mit Alphabetisierung. Damit gibt diese insgesamt fünf Kapitel umfassende thematische Rubrik vielfältige Einblicke in das Einsatzspektrum und in die Ausgestaltungsoptionen einer dramapä‐ dagogischen Grammatikvermittlung. Jede der in den Kapiteln 19-21 präsentierten dra‐ magrammatischen Unterrichtseinheiten zeigt auf, dass sich Grammatikarbeit durchaus mit interessanten, lebensweltnahen Inhalten verbinden und in performative Kontexte einbetten lässt, sodass die grammatischen Strukturen auf anschauliche Weise in ihrer Funktion wahrgenommen, im Spiel mit hoher Motivation verwendet und aufgrund des häufigen Gebrauchs sowie erlebter positiver Emotionen nachhaltig verinnerlicht werden können. 356 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="358"?> 1 Modifizierter und erweiterter Auszug aus Bryant (2020: 278-281). 2 Der Begriff Dramagrammatik geht auf Susanne Even (2003) zurück. 17 Dramagrammatik - eine strukturfokussierende Ausprägung des dramapädagogischen Fremdsprachenunterrichts 1 Doreen Bryant Die Dramagrammatik ist ein dramapädagogisch orientiertes Lehr- und Lernkon‐ zept, das verschiedene Inszenierungsformen und -techniken einsetzt, um gram‐ matische Strukturen in ihrer Funktion erfahrbar zu machen und um sinnstiftende Kontexte zur reflektierten Anwendung der fokussierten Strukturen zu schaffen. 2 Für ein besseres Verständnis der noch relativ jungen Dramagrammatik sei im Folgenden kurz auf ihre verschiedenen Bezugsquellen eingegangen. Abbildung 17.1 verortet die Dramagrammatik zwischen Dramapädagogik und Fremd‐ sprachendidaktik unterhalb des Dramapädagogischen Fremdsprachenunterrichts. Die drei Unterkapitel widmen sich nun nacheinander diesen drei Bezugsquellen der Dramagrammatik - beginnend mit der Dramapädagogik. Abb. 17.1: Verortung der Dramagrammatik (Bryant 2020: 279) 17.1 Dramapädagogik Die Dramapädagogik ist ein pädagogischer Ansatz, der fächerübergreifend mit den Mitteln des Theaters handlungsbezogen ganzheitliches Lernen herbeiführt. Im Vorder‐ grund steht hierbei nicht die Aufführung eines Theaterstücks, sondern der Lernprozess 357 17 Dramagrammatik <?page no="359"?> 3 Ob und welche Unterschiede zwischen Dramapädagogik und Theaterpädagogik bestehen, wird kon‐ trovers diskutiert. Wenn Unterschiede postuliert werden (u. a. Passon 2015; Oelschläger 2017), dann dahingehend, dass theaterpädagogisches Handeln in der Regel darauf ausgerichtet ist, die Teilneh‐ menden zu motivieren und zu befähigen, ein Theaterstück zu entwickeln, umzusetzen, zu proben und vor einem Publikum aufzuführen, während die Dramapädagogik primär andere pädagogische Ziele verfolgt - wie etwa soziales, fachliches, (fremd-)sprachliches oder interkulturelles Lernen. Bei der Dramapädagogik stehe - so u. a. Passon (2015) und Sambanis (2013) - eher der Prozess als das Produkt (die Theateraufführung) im Fokus. Aber auch im dramapädagogischen Prozess entstehen ästhetische Produkte. Allerdings präsentieren die Beteiligten sich diese Inszenierungen untereinander und nur selten Außenstehenden. Die Teilnehmenden erleben sich somit im geschützten Raum der Gruppe als Darstellende UND als Zuschauende. in all seinen Dimensionen: physisch, ästhetisch, emotional und kognitiv (Tselikas 1999: 21). 3 Das im Kompositum enthaltene Wort Drama lässt sich etymologisch zurückfüh‐ ren auf griech. dr-ma 'Handlung, Geschehen' und dr-n 'handeln, tun' (Kluge 1999: 192). Lerntheoretisch bezieht sich die Dramapädagogik „auf das neurophysiologische Prinzip der multiplen Vernetzung - je mehr Sinnesleistungen einbezogen werden, desto wirksamer wird gelernt“ (Even 2003: 53). In Großbritannien ist das Konzept Drama in Education bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts als fächerübergreifendes Lehrprinzip etabliert (Bonnet & Küppers 2011: 42). Auch in Deutschland gewinnt der dramapädagogische Ansatz zunehmend an Bedeutung. Nicht nur der Unterricht im Fach Deutsch konnte bislang davon profitieren (Bekes 2013; Scheller 1998). Auch im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich (Bernhardt 2010; Bertram & Bryant 2019; Hinz et al. 2011; Lehmann 2006) und sogar in den MINT-Fächern (Kramer 2008; Jogschies 2007), von denen man zunächst einmal keine Theateraffinität erwartet, wird bereits dramapädagogisch gearbeitet. Der Siegeszug der Dramapädagogik in die deutsche Fremdsprachendidaktik begann schon Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre im Rahmen des um die Dimension des Interkulturellen erweiterten kommunikativen Paradigmas (Bonnet & Küppers 2011: 42) und ist aufs Engste mit dem Namen Manfred Schewe und seinem 1993 erschienenen Werk Fremdsprache inszenieren: Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis verbunden. 17.2 Fremdsprachendidaktik und Formfokussierung In Bezug auf die Bewusstseinslenkung der Lernenden auf sprachliche Formen sind zunächst einmal zwei Extreme zu unterscheiden. Pagonis (2015: 149) spricht von einem didaktischen Kontinuum, an dessen einem Ende ein Ansatz steht, der ganz auf die Formfokussierung verzichtet und durch authentische Kommunikationssituationen die Bedeutungsseite sprachlicher Handlungen in den Mittelpunkt rückt (focus on meaning, FoM). Man spricht auch vom kommunikativen Ansatz. Am anderen Ende des Kontinuums findet sich der traditionelle Grammatikvermittlungsansatz, der den Fokus auf die Auseinandersetzung mit sprachlichen Formen legt (focus on forms, FoFs) und hierbei typischerweise im klassischen Dreischritt vorgeht: Einführen des sprach‐ lichen Phänomens, kontrolliertes Üben, selbständiges Anwenden. Die Auswahl der Formen und Regeln richtet sich nicht nach situativ-kommunikativen Bedürfnissen der 358 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="360"?> Lernenden, sie ist curricular vorgegeben. Zwischen diesen zwei extremen Polen liegt ein Ansatz, der (wie FoM) in erster Linie für einen bedeutungsbzw. inhaltsorientierten Unterricht steht, in diesem aber eine Formfokussierung zulässt, wenn in kommunika‐ tiven Situationen ein entsprechender Bedarf hierfür aufkommt (u. a. Long 1991). Für diese in kommunikativen Situationen motivierte Formfokussierung gebraucht Long (in Abgrenzung zu FoFs) das Akronym FoF (focus on form). In Longs Vorstellung sollte die Formfokussierung auf keinen Fall geplant sein, sondern reaktiv, kurz und möglichst unauffällig (ohne metalinguistische Erklärung) erfolgen, um die Ausführung der im Mittelpunkt stehenden kommunikativen Aufgabe so wenig wie möglich zu stören. Das Akronym FoF ist im fremdsprachendidaktischen Diskurs jedoch längst nicht mehr auf diesen eng abgesteckten Rahmen beschränkt. Ellis (2016) klassifiziert die verschiedenen FoF-Gebrauchsweisen (darunter auch bedeutungsorientierte Unterrichtskonzeptionen mit planvoller Strukturvermittlung) und schlägt vor, FoF nicht mehr als methodischen Ansatz zu verstehen, sondern „as a set of procedures attracting attention to form while learners are engaged in meaning making“ (ebd.: 423). 17.3 Dramapädagogischer Fremdsprachenunterricht und Dramagrammatik Der dramapädagogische Fremdsprachenunterricht verknüpft Dramapädagogik mit kommunikativ orientierter Fremdsprachendidaktik und versteht sich Ortner (1998: 141) zufolge als methodische Konkretisierung und Erweiterung des kommunikativen Ansatzes (Even 2003: 52). Der Fokus liegt auf der Gestaltung fiktiver Kontexte, “in denen intensives sprachliches Handeln erfolgt und literarische sowie interkulturelle Lernprozesse ausgelöst werden” (ebd.: 38). Es geht um die Entwicklung und Förderung kommunikativer Kompetenz - verstanden als spontanes Sprachhandeln. Und diese sprachliche Improvisationsfähigkeit kann - so Schewe (1993) - nur durch Improvisie‐ ren selbst gelernt werden. Offene Inszenierungsformen (siehe Kapitel 18) laden ein zum kreativen Umgang mit Sprache und zur Bedeutungsaushandlung in imaginären Situationen. Auf dem in Kapitel 17.2 skizzierten didaktischen Kontinuum, das auf den Ausprägungsgrad der Formfokussierung Bezug nimmt, ist der dramapädagogische Fremdsprachenunterricht dem bedeutungsorientierten Pol (FoM) zuzuordnen (siehe Abb. 17.1). Manfred Schewe zum Gegenstand eines dramapädagogischen Fremdsprachenun‐ terrichts: Der allgemeine Gegenstand eines dramapädagogischen Fremdsprachenunterrichts sind Situationen, die das Leben schreibt und schreiben könnte - Situationen, in denen das Handeln von Menschen mit Reibung und Spannung verbunden ist. Während (fiktive) Personen in diesen Situationen mit- oder gegeneinander ihre Positionen "aus‐ fechten" bzw. ihr Leben "bestreiten", offenbaren sie ihre Gefühle, ihre Phantasien, ihre Hoffnungen und Wünsche; sie überzeugen und beeinflussen einander; sie verursachen, 359 17 Dramagrammatik <?page no="361"?> verdecken und lösen Probleme; sie ändern ihr Verhalten (oder auch nicht! ), und sie ringen mit ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit, äußere - oder innere! - Ereignisse zu kontrollieren. Dramapädagogischer Fremdsprachenunterricht orientiert sich eng an dramatischen Formen, mit denen eine ästhetische Verarbeitung der charakterisierten Situationen geschieht: hauptsächlich an der Kunstform Theater, aber auch an Kunstformen wie Film/ Video, Literatur und "Storytelling". Mit Hilfe von Methoden, die sich aus dramatischen Kunstformen ableiten lassen, werden im Unterricht fiktive Kontexte geschaffen, in denen Lehrende und Lernende sprachlich und nichtsprachlich in intensiver Weise handeln - die fremde Sprache wird "inszeniert". (Schewe 1993: 3) Die von Schewes dramapädagogischem Fremdsprachenunterricht begeisterte DaF-Do‐ zentin Susanne Even suchte nach einem Weg, die Potenziale der ganzheitlichen Dra‐ mapädagogik zu nutzen, um sich auf systematische Weise grammatischen Phänomenen zu nähern (Even 2003: 38). Ein solcher Weg erschien ihr nicht zuletzt auch vor dem Hin‐ tergrund der bei den Fremdsprachlernenden vielfach zu beobachtenden mangelnden Integration grammatischen Wissens und fremdsprachlicher Handlungskompetenz als notwendig und aussichtsvoll. Ihr Ziel war ein fremdsprachlicher Grammatikunterricht, „der die Kontextferne der Lehrbuchübungen hinter sich lässt und in für Lernende sinnvolle Kontexte hineinführt“ (ebd.: 39 f). Sie erreichte dieses Ziel, indem sie das dramapädagogische Unterrichtsmodell von Schewe in weiten Teilen übernahm, aber eben sprachliche Strukturen in den Mittelpunkt stellte. Das bedeutet, die Auswahl an Materialien und dramatischen Kunstformen erfolgt so, dass das sprachliche Phänomen optimal erfahrbar wird. Beispielsweise beginnt eine Unterrichtseinheit zum Konjunktiv II mit einem Spiel, in dem es um höfliches Bitten geht: „Könntest du mir das bitte abnehmen? “ „Wärst du vielleicht so nett, darauf aufzupassen? “ (ebd.: 278). Even fügt dem Modell von Schewe auch eine zusätzliche Phase hinzu, in der explizit über die Zielstruktur (z. B. über die Bildung und Verwendungskontexte des Konjunktivs II) reflektiert wird, bevor diese in bestimmten Inszenierungsformen Anwendung findet. (Zum dramagrammatischen Phasenmodell siehe Kapitel 20.) Even prägt für diesen dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht, der eine „kognitive Auseinan‐ dersetzung mit Grammatik […] gezielt in den Lernprozess integriert“ (ebd.: 18), den Begriff Dramagrammatik. Mit der Integration von szenischem Handeln und bewuss‐ ter Spracharbeit greift die Dramagrammatik „die spracherwerbsfördernde Funktion von Interaktion und Bedeutungsaushandlung auf und betont gleichzeitig den hohen Stellenwert expliziten grammatischen Wissens für den Fremdspracherwerb“ (ebd.: 294). Wie in Abbildung 17.1 dargestellt, ist die Dramagrammatik dem FoF-Spektrum zuzuordnen. 360 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="362"?> Aufgaben 1.* „Im dramapädagogischen Fremdsprachenunterricht wird mit Kopf, Herz, Hand und Fuß gelernt und gelehrt! “ (Schewe 1993: 8). Nehmen Sie dieses berühmte (Pestalozzis Formel vom Lernen mit Kopf, Herz und Verstand aufgreifende und erweiternde) Zitat von Manfred Schewe als Ausgangspunkt, um (in einem Elevator-Pitch von 60 Sekunden) über diese Unterrichtsmethode Auskunft zu geben oder um jemanden dafür zu begeistern. 2.* Erklären Sie mit eigenen Worten, was unter „Dramagrammatik“ zu verstehen ist. 3.** Im dramapädagogischen Prozess „müssen die Lernenden von der Alltagsrealität in die so genannte dramatische Realität, in die fiktive Welt des Theaterspiels steigen“ (Tselikas 1999: 23). Überlegen Sie und tauschen Sie sich in der Gruppe aus, was alles dazu beitragen könnte, diesen Übergang zu erleichtern? 4.*** Tselikas (1999) gliedert den dramapädagogischen Prozess in drei Phasen: Ver‐ körperung, Projektion und Rollenübernahme, Abschluss/ Ausgang. Lesen Sie im Kapitel 1.1 (ebd.) nach, welche Funktionen die einzelnen Phasen im dramapäda‐ gogischen Prozess erfüllen. 5.*** Tselikas (1999) widmet ein Kapitel ihres Buches der Arbeit mit Sprachanfän‐ ger: innen (DaF). Lesen Sie im Kapitel 5 (ebd.), wie sich für die ersten Sprach‐ kontakte ein „sinnlicher Zugang“ zu Wörtern und Sätzen gestalten ließe. 6.*** Sambanis (2016) führt neurowissenschaftliche Erkenntnisse und didaktische Überlegungen zusammen. Welche Potenziale sieht sie in der Dramapädagogik für die Lehr-Lern-Prozesse im Fremdsprachenunterricht? 7.*** Dorothea Heathcote (1926-2011), Pionierin der Dramapädagogik (Drama in Education), etablierte den Lehransatz Teacher in Role und die Methode Mantle of the Expert (siehe Kapitel 18). Lesen Sie den folgenden Auszug und versuchen Sie in Ihren Worten wiederzugeben, wie Heathcote über Lehrstil und Autorität denkt. Welche Potenziale (und möglicherweise auch welche Risiken) sehen Sie persönlich in der „authority of role“ - in Bezug auf den Unterricht im Allgemeinen und in Bezug auf den Zweit-/ Fremdsprachenunterricht. Auszug aus: „Dorothea Heathcote on Education and Drama. Essential Writings“, hrsg. von O’Neill (2015), erstmals veröffentlicht in Dodd & Hickson (eds.) (1971). Teaching registers All teachers develop a range of registers as part of their survival kit. The difficulty is to be aware of the uses made of them and their real value to the teacher. Drama reflects registers of approach to and confrontation with other persons at times of change or crisis. Therefore the teacher requires sensitivity in this area and in particular must have a conscious command 361 17 Dramagrammatik <?page no="363"?> of the register used in confronting classes and understand the reasons for the selection at any given time. It is dangerous in any teaching situation to employ the ‘I`m telling you’ register too often - in drama situations it is suicidal. What of teacher as catalyst? (When I switch on the red light, ‘it’ has begun.) As reassurer? (Don’t worry, put yourself in my hands.) As devil’s advocate? (That’s surely not true.) As good listener? (Good idea. What happens then? ) Register is related to authority and impact, and all teachers need to know what kinds of authority they dare not or cannot forgo at any price. The teacher with a range of authorities and ways of asserting them can employ them to serve the needs of the various classes rather than the teacher’s own needs. For example: 1. The authority of role. ‘I have my river pilot’s licence and I am empowered by law to escort this boat and crew to the harbour bar.’ 2. The one who knows. ‘When you’ve decided what you require, I’ll help you to find out about it.’ 3. The teacher leader. ‘I’m in charge here.’ 4. The authority of being in a position to switch roles. To run with the hare and hunt with the hounds. Children rarely consider that they could also do this! For me the most secure authority has always been from within the drama situation rather than the teaching one - the authority of role. Not only can I be more flexible in the use of registers, but also I am fearful of relying on teacher authority. I mistrust my ability to cope with situations that might arise where the teacher is in opposition to the class. The role authority gives me shifting power and a variety of registers to be at the service of the class. I may suddenly gather authority to deny or accede to request, or lose power but have strong opinions or resist a class in order to strengthen its opinions and decisions. My belief in my attitudes supports their belief in theirs, but this type of teaching takes courage at first and is always a calculated risk. […] (ebd.: 22-23) 362 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="364"?> 1 In Anlehnung an Kao & O’Neill (1998: 6), zitiert in Even (2003: 156 f). 18 Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken Doreen Bryant Was bedeutet es, „mit den Mitteln des Theaters“ Lernen herbeizuführen (Tselikas 1999: 21)? Welche Mittel sind gemeint und eignen sich diese gleichermaßen für alle Sprachniveaus? Lehrkräfte von Sprachanfänger: innnen winken oft ab: Es sei noch zu früh, um mit ihren Schüler: innen Theater zu spielen. Dabei gibt es für jedes Sprachniveau an die jeweiligen Bedarfe anzupassende Formen und Techniken, die das Sprachlernen mit performativen Elementen verknüpfen und mit denen sich als Teil des Sprachlernprozesses auf eine lerngruppeninterne Aufführung hinarbeiten ließe. Im dramapädagogischen Sprachunterricht kommen verschiedene Inszenierungsfor‐ men zum Einsatz, die sich in Bezug auf den Grad der Steuerung auf einem Kontinuum von stark gelenkt bis (weitgehend) ungelenkt anordnen lassen (siehe Abb. 18.1). 1 Abb. 18.1: Kontinuum der Inszenierungsformen (Bryant 2020a: 282) Mit Abnahme der lehrerseitigen Lenkung nimmt die Eigenverantwortlichkeit der Lernenden zu (Even 2003: 156 f). Die stark gelenkten Formen (z. B. Sprachlernspiele) eignen sich, um sprachliche Strukturen und Äußerungsmuster zu üben und zu festigen. Beispielsweise könnte man in einen sogenannten Rotationskreis eine sprachliche Struktur hineingeben und mit unterschiedlichen Gefühlen (traurig, wütend, müde, vergnügt) wiederholen lassen (Gefühlsreplay). Sprachlernspiele mit wiederkehren‐ den und leicht zu modifizierenden Konstruktionen eignen sich gut, um gezielt typische Lernschwierigkeiten anzugehen und um im ungesteuerten Zweitspracherwerb fossili‐ sierte Sprachmuster zu überwinden (Bryant & Rummel 2015: 12). Im Folgenden sind drei Sprachspiel-Beispiele aufgeführt, die alle in Bewegung stattfinden und die durch vorausgehenden Input und unterstützende Visualisierungen den korrekten Output der 363 18 Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken <?page no="365"?> Zielstrukturen weitgehend sicherstellen. In den Unterrichtseinheiten der Kapitel 19, 20 und 21 finden sich weitere Spielideen (siehe auch die Literaturempfehlungen am Ende dieses Kapitels). Wachzappeln „Was wollen wir aufwecken? “ Alle bewegen sich ausgelassen zur Musik. Die Lehrkraft fragt eine Schülerin „Sophie, was wollen wir aufwecken? “ Sophie: „Den Kopf “. Alle Schüler: innen wackeln nun mit ihrem Kopf oder lassen ihn kreisen, bis Sophie einen anderen Schüler fragt: „Tarek, was wollen wir aufwecken? “ Der Schwierigkeitsgrad wird erhöht, indem im nächsten Durchlauf Bezug auf die Körperseiten genommen wird. Zur Unterstützung sind mögliche Antworten projiziert: Sprachliche Fördermöglichkeiten: Wortschatz: Körperteile; Grammatik: Akkusativ, Adjektivflexion Zauberklatschen „Wenn ich in die Hände klatsche, dann …“ Alle bewegen sich zur Musik im Raum. Die Lehrkraft übernimmt die ersten drei Zauberkommandos, um die sprachliche Konstruktion zu etablieren: „Wenn ich in die Hände klatsche, dann dürft ihr alle ganz laut lachen.“ Und wieder bewegen sich alle im Raum. „Wenn ich in die Hände klatsche, dann schleichen alle auf ihren Zehenspitzen.“ … „Wenn ich in die Hände klatsche, dann hüpfen alle wie ein Frosch.“ Danach dürfen die Schüler: innen sich abwechselnd das Kommando erteilen. Bei jüngeren Schüler: innen kann ein Zauberhut oder ein anderes Requisit die Zaubermacht und damit die Kommandohoheit verleihen. Sprachliche Fördermöglichkeiten: Wortschatz: Fortbewegungsverben (schleichen, trampeln, kriechen, …) Grammatik: Konditionalsätze (wenn - dann), Vergleichskonstruktionen (wie ein X) 364 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="366"?> Berührungsspiel „Berühre etwas, das kleiner / breiter / weicher / … ist als X“ Alle bewegen sich zur Musik im Raum. Wenn die Musik stoppt, gibt die Lehrkraft einen Auftrag: „Berühre etwas, das kleiner ist als dein Federmäppchen! “ („…, … als dieser Stuhl! “ / „…, … als ein Fußball! “) Die Schüler: innen müssen nun schnell einen passenden Gegenstand finden, wobei jeder Gegenstand nur von einem Schüler/ einer Schülerin berührt werden darf. Die Schüler: innen dürfen dann nacheinander im ganzen Satz ihren Gegenstand präsentieren und dabei die Komparativform nutzen: „Mein Füller ist kleiner als mein Federmäppchen.“, „Meine Uhr ist kleiner als mein Federmäppchen.“ Sprachliche Fördermöglichkeiten: Wortschatz: Adjektive (klein, groß, schmal, breit, weich, hart, dünn, dick, kurz, …) Grammatik: Komparativform und Vergleichskonstruktion, grammatisches Ge‐ schlecht an in-/ definiten Artikeln sowie an demonstrativen und possessiven Artikelwörtern im Nominativ Schon etwas anspruchsvoller als Sprachlernspiele, die selten über die Satzebene hinausgehen, sind einfache Rollenspiele - kleine Dialoge, bei denen vorgegebene Strukturen Verwendung finden. Werden mehrere sprachliche Alternativen angeboten, können die Interaktionspartner: innen sich hierüber austauschen und gemeinsam eine Auswahl für ihr einzuübendes Rollenspiel treffen. Auf dem Kontinuum von Abb. 18.1 wäre ein solches Rollenspiel, für das mehrere Sprachmuster zur freien Auswahl stehen, rechts von einem Rollenspiel mit nur einer Strukturvorgabe zu verorten. Mit einfachen Rollenspielen lassen sich typische Alltagssituationen (z. B. Markteinkäufe) simulieren. Diese können sich an festen Strukturen orientieren, sodass - um beim Marktbeispiel zu bleiben - nur die einzusetzenden Lebensmittel und Preise von den Lernenden variiert werden. Sie können aber durchaus schon bedeutungsaushandelnde Komponenten beinhalten. So kann die Lehrkraft in das Rollenspiel zu bewältigende Aufgaben integrieren (z. B. Du bemerkst, dein Geld reicht nicht für das bereits abgewogene Obst.), die in Abhängigkeit des Sprachstands der Lernenden mehr oder weniger anspruchsvoll sind. „Auch können die Teilnehmenden, die sich zunächst eher selbst spielen, zunehmend fiktive Identitäten mit anderen Eigenschaften und Einstellungen annehmen“ (Even 2003: 158). Improvisierte Rollenspiele (siehe hierzu auch Szenarien in Kapitel 16) geben zwar eingebettet in eine Handlungssituation (mit oder ohne Rollenvorgaben) ein kommunikatives Ziel vor (Even 2003: 158), überlassen aber den Akteur: innen weit‐ gehenden Freiraum, sich diesem Ziel zu nähern. Je weniger Vorgaben die kreative Gestaltungsfreiheit einschränken, um so weiter rückt die Inszenierungsform auf dem Kontinuum (Abb. 18.1) nach rechts. Am rechten Pol ist die szenische Improvisation zu verorten, die vergleichbar ist „mit einer Reise ins Ungewisse, auf der den Reisenden vielfältige strategische und organisatorische Kompetenzen abverlangt werden. Die 365 18 Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken <?page no="367"?> 2 Zum Lehransatz Teacher in Role siehe den Kasten am Ende dieses Kapitels. Lehrenden sind dabei ‚Mitreisende‘ […] und können durch gezielte Intervention als Teacher in Role dem Handlungsverlauf neue Impulse zuführen, Perspektivwechsel initiieren und angemessenes situationales Handeln modellieren“ (Even 2003: 160). 2 Beispiel für ein improvisiertes Rollenspiel Dank einer politischen Maßnahme verfügt der Familienhaushalt einmalig über zusätzliche 150 € und die vierköpfige Familie diskutiert beim Abendessen nun über deren Verwendung. Rolle der Mutter: Du bist dafür, dass die Familie mit dem Geld (endlich mal wie‐ der) einen gemeinsamen Wochenendausflug (Camping, Paddeln, …) unternimmt. Rolle des Vaters: Du bist dafür, dass mit dem Geld endlich die Waschmaschine repariert wird, weil sie schon seit Tagen nicht mehr richtig schleudert und deine Reparaturversuche leider nicht erfolgreich waren. Rolle des zehnjährigen Sohnes: Du bist dafür, dass du auch endlich so ein X bekommst, wie alle deine Freunde längst haben. Rolle der siebzehnjährigen Tochter: Du bist dafür, dass du das Geld verwenden darfst, um an deinem bevorstehenden 18. Geburtstag eine Party mit vielen Gästen veranstalten zu können. Kommunikatives Ziel: Findet gemeinsam eine Lösung für die Verwendung der 150 €. Stark gelenkte Inszenierungsformen eignen sich besonders für den Anfängerunter‐ richt, aber durchaus auch für Fortgeschrittene, um ihnen bei schwierigen Konstruk‐ tionen auf spielerische Weise zu einer höheren Gebrauchsfrequenz zu verhelfen und damit eine tiefere Verankerung der Strukturen zu bewirken (siehe Kapitel 3.2). Während der Fokus bei den stark gelenkten, geschlossenen Formen primär auf dem korrekten Sprachgebrauch liegt, geht es bei den (weitgehend) ungelenkten, offenen Formen vor allem um einen authentischen Sprachgebrauch, um Sprachflüssigkeit beim miteinander Agieren, um Bedeutungsaushandlung und das Erleben situativer Spannung. Zur Gestaltung der Inszenierungsformen steht ein vielfältiges Repertoire an Insze‐ nierungstechniken zur Verfügung - darunter: Standbild, Spalier, Doppeln, Heißer Stuhl, Mantle of the Expert. Die Auswahl erfolgt nach dramapädagogischen und sprachdidaktischen Kriterien, dem Sprachstand der Lernenden angemessen. So lässt sich die Technik Standbild aus sprachdidaktischer Sicht für verschiedene sprachliche Funktionen einsetzen, z. B. für Sprachhandlungen des Beschreibens und des Interpre‐ tierens. Auch lassen sich den im Standbild involvierten Personen Äußerungen oder kleine Dialoge entlocken, die mit entsprechender Unterstützung vielleicht sogar die Zielstrukturen enthalten. Die Aufgabe der Versprachlichung möglicher Gedanken oder 366 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="368"?> 3 Die Unterteilung in die zwei Sprachniveaustufen Basisniveau (GeR A1-2 ) und Aufbauniveau (GeR B1-2) erfolgt in Anlehnung an das Curriculum „Deutsch im Kontext von Mehrsprachigkeit“ für Vorbereitungsklassen in Baden-Württemberg. [https: / / www.schule-bw.de/ themen-und-impulse/ mi gration-integration-bildung/ vkl_vabo/ vkl/ mehrsprachigkeit/ curriculum/ curriculum.pdf ; 21.10.21] Gespräche könnte aber auch den Betrachtenden des Standbildes übertragen werden. Bei fortgeschrittenen Lernenden kann die Standbild-Technik als Vorstufe für eine szenische Improvisation dienen. Kapitel 19 widmet sich in mehr Ausführlichkeit den sprachförderlichen Potenzialen des Standbildes und der Statue, einer verwandten Technik. Zur Darstellung einer Entscheidungsfindung, eines inneren Konflikts, zum Abwä‐ gen von Pro- und Kontra-Argumenten eignen sich die Techniken Spalier (auch Gedankenallee genannt) oder Doppeln (Hilfs-Ich) in besonderer Weise. Während beim Spalier die Außenwelt versucht, auf die entscheidungsfindende Person Einfluss zu nehmen, eignet sich das Doppeln zur Darstellung der inneren Zerrissenheit, der sich zu Worte meldenden inneren Stimmen. Sprachfunktional bieten sich diese Techniken an, um meinungsäußernde, begründende, konditionale, abwägende und konzessive Strukturen anzubahnen und zu üben (siehe Tab. 18.1). 3 Kompetenzen Sprachbeispiele Basisniveau Meinung äußern Komplementsätze mit dass: Ich finde / glaube / meine / denke, dass … Meinung begründen Kausalsätze: …, weil / denn … Bedingung + Konsequenz versprachlichen Konditionalgefüge (eingeleitet mit wenn): Wenn …, dann … Aufbauniveau Argumente gewichten Besonders wichtig ist … / Noch wichtiger ist … Am wichtigsten ist … Argumente abwägen und Gegensätze zum Ausdruck bringen Einerseits … / andererseits … Auf der anderen Seite … Im Gegensatz / im Kontrast dazu … dagegen / hingegen Konzessive (einräumende) Ausdrucksformen nutzen trotzdem / dennoch (Adverbien) obwohl (Subjunktion); trotz (Präposition) Potenzialität / Eventualität zum Ausdruck bringen Konditionalgefüge (eingeleitet / uneingeleitet) mit Konjunktivform würd- + Infinitiv: Wenn du … würdest, dann … / Würdest du …, dann … Tab. 18.1: Für die Inszenierungstechniken Spalier und Doppeln geeignete Kompetenzen mit Beispielen 367 18 Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken <?page no="369"?> Spalier Mit dieser Technik wird eine Entscheidungsfindung inszeniert. Die Protagonistin ist hin- und hergerissen, schwankt zwischen zwei Optionen, für die es in Betracht zu ziehende Argumente gibt. Unter Abwägen von Pro- und Kontra-Argumenten soll eine Entscheidung getroffen werden. Für den Entscheidungsprozess müssen alle Argumente berücksichtigt und abgewogen werden. Hierfür bilden die Grup‐ penmitglieder ein Spalier. Die eine Seite repräsentiert die Pro-Argumente (z. B. für Handys in der Schule, für einheitliche Schulkleidung, für Ganztagsunterricht), die andere Seite die Gegenargumente. Das Spalier wird von der Person (z. B. von der Schuldirektorin), die den Konflikt in sich austrägt, langsam durchschritten. Dabei wendet sie sich abwechselnd der Für- und der Widerseite zu und empfängt von dem jeweils vor ihr stehenden Spalierwärter ein dieser Seite entsprechendes Argument. Abb. 18.2: Inszenierungstechniken (Standbild, Spalier/ Gedankenallee, Doppeln/ Hilfs-Ich) Doppeln Bei dieser Technik begibt sich eine zweite Person in die mentale Welt des Prot‐ agonisten und versprachlicht dessen Gedanken. Das Doppel bzw. das Hilfs-Ich kann Gedanken und Gefühle aussprechen, die der Protagonist selbst (aus welchen Gründen auch immer) nicht auszusprechen vermag. Das Hilfs-Ich kann dabei helfen, sich bestimmter Gefühle bewusst zu werden und Gedanken zu ordnen bzw. zu gewichten. Das Hilfs-Ich sitzt oder steht hinter dem Protagonisten, der selbst nichts sagt. Durch das Auflegen der Hand auf die Schulter des Protagonisten signalisiert das Hilfs-Ich seine Sprechabsicht. Spürt das Hilfs-Ich zum Beispiel durch ein zustimmendes Kopfnicken des Protagonisten dessen Bereitschaft, den Gedanken anzunehmen, kann das Hilfs-Ich diesen Gedanken lauter und eindring‐ licher wiederholen. Spürt das Hilfs-Ich hingegen eine Ablehnung wird der Gedanke in der Wiederholung leiser und zurückhaltender, bis er schließlich verstummt. 368 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="370"?> Erweiterungsidee: Warum sollte es nur eine innere Stimme geben? Vorstellbar wären auch mehrere Stimmen, die in Gedanken zu einem sprechen und zu überreden versuchen. Diese Stimmen könnten vielleicht auch die Perspektiven wichtiger Personen (Mutter, Vater, Freundin, …) aus dem Leben des Protagonisten einnehmen. Die beiden Sitzenden verkörpern eine Per‐ son, die in sich einen Konflikt austrägt. Die Person muss sich FÜR bzw. GEGEN etwas entscheiden. Sie ist gespalten. Ein Teil von ihr (die rechte Sitzende) ist daFÜR, ein Teil von ihr (die linke Sitzende) daGEGEN. Die Hinzutretenden liefern (als innere Stim‐ men) für die jeweils gewählte Seite die unterstützenden Argumente. Abb. 18.3: Eine Variation der Technik Doppeln Der heiße Stuhl (Hot Seating) ist eine Technik, die sich hervorragend zur Herausar‐ beitung eines Charakters und dessen Handlungsmotivationen eignet. Begibt sich die Lehrkraft als Teacher in Role auf den heißen Stuhl, dann kann dieses dramatische For‐ mat auch schon bei Sprachanfänger: innen genutzt werden. Sie könnten beispielsweise verschiedene Fragetypen (Entscheidungsfragen Wohnst du in Berlin? vs. W-Fragen Wo wohnst du? ) üben. Auch fortgeschrittene Lernende können mit dieser Technik und strukturell anspruchsvolleren Fragestellungen (Wann hast du erfahren, dass …/ Wie hast du dich gefühlt, als …/ Was würdest du tun, wenn …) ihre Frage-Kompetenz weiter ausbauen. Jede Inszenierungstechnik (so auch die des Heißen Stuhls) kann über die Unterrichtsstunde/ -einheit hinaus Ideen und sprachliche Gerüste für eine Fortführung der drama-/ theaterpädagogischen Arbeit liefern. Um ein Beispiel zu geben: In Abb. 18.5 ist eine Gerichtszene aus dem Tübinger Theatercamp zu sehen, für deren Erarbeitung auch die Technik Heißer Stuhl wiederholt zum Einsatz kam. Im Rahmen dramagram‐ matischer Workshops (siehe hierzu Kap. 20) konnten die Schüler: innen (in den Rollen von Richter: innen und Anwält: innen) ihr Fragenrepertoire erweitern oder sich (in die Rolle eines Zeugen oder eines Angeklagten einfühlend) der Beantwortung der Fragen stellen. Sich auf den Heißen Stuhl zu begeben, verlangt einiges an Mut und erfordert sprach‐ liche Improvisationsfähigkeit. Schüler: innen sind eher bereit, sich hierauf einzulassen, wenn sie die Verantwortung für die Situation mit einer zweiten Person teilen können. Daher ist eine simultane Doppelbesetzung des Heißen Stuhls zu empfehlen (Abb. 18.4). 369 18 Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken <?page no="371"?> 4 Mit dieser Technik, die auf Heathcote zurückgeht, arbeitet man in England bereits seit Mitte der 1980er Jahre, und zwar fächerübergreifend (u. a. Heathcote & Bolton 1994). Auf dem heißen Stuhl sitzt üblicherweise nur eine Person, die aus ihrer Rolle heraus Fragen beantwortet. In einer abgewandel‐ ten Form der Technik sitzen zwei Schü‐ ler: innen in der Mitte des Stuhlkreises. Die beiden Rücken an Rücken Sitzenden ver‐ körpern eine Person, die sich den Fragen der anderen stellt. Die Stuhlpartner: innen antworten abwechselnd oder verabreden für sich ein Zeichen, wer jeweils die Ant‐ wort übernimmt. Abb. 18.4: Eine Variation der Technik Heißer Stuhl Abb. 18.5: Theaterszene mit Fragen und Antworten - erarbeitet mit Hilfe der Technik Heißer Stuhl Mit der Technik Mantle of the Expert avancieren die Lernenden zu Experten auf einem bestimmten Fachgebiet. 4 Dieser Statuswechsel verlangt auch einen Wechsel im Sprachduktus. Die Technik ist daher besonders geeignet, um für Registerunterschiede zu sensibilisieren und um an bildungs- und fachsprachliche Ausdrucksweisen heran‐ zuführen. Es lassen sich Einzel- und Gruppenpräsentationen oder auch Fachtagungen inszenieren, je nachdem wird das monologische Sprechen oder die Diskussionsfähig‐ keit trainiert. 370 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="372"?> Die Technik Mantle of the Expert wird inzwischen auch in Deutschland erfolgreich im handlungsorientierten sprachsensiblen Unterricht eingesetzt - insbesondere zur Versprachlichung naturwissenschaftlicher Inhalte. Die Screenshots stammen aus dem Lehrfilm zum Buch „Sprachbildung im Sachunter‐ richt der Grundschule“ (Quehl & Trapp 2013). Abb. 18.6: Technik Mantle of the Expert Teacher in Role ist ein auf Dorothea Heathcote (1926 - 2011) zurückgehender dramapädagogischer Lehransatz, der in verschiedenen Formen der Begegnung und Interaktion typische Autoritätsverhältnisse zwischen Lehrendem und Lernenden überwindet. Hierfür nimmt die Lehrkraft eine Rolle ein und erschafft aus dieser heraus eine Vorstellungswelt, auf die sich die Schüler: innen einlassen und in der sie eigenverantwortlich und in kollektiver Zusammenarbeit agieren. Der Ansatz eröffnet der Lehrkraft ein breites Handlungsspektrum: Sie kann als Erzähler: in oder Berichterstatter: in fungieren, so eine gewünschte Stimmung erzeugen und für alle eine gleiche Wissensbasis schaffen, sie kann als fiktiver Charakter in Erscheinung treten, um Denkanstöße zu geben, um einen Prozess zu beeinflussen oder um den Schüler: innen einen Auftrag zu erteilen, sie kann als Unterstützerin auftreten und ihnen Lösungswege aufzeigen, sie kann als gleichberechtigte Partnerin mit den Schüler: innen an einer Sache arbeiten, sie kann aber auch in ihrer Rolle weniger wissen als die Schüler: innen und auf deren Hilfe angewiesen sein. Durch die Interpretation des Settings und der Handlungs- und Ausdrucksweisen der Lehrkraft in ihrer Rolle werden die Schüler: innen selbst in Rollen hineingezo‐ gen und übernehmen Verantwortung in dieser geschaffenen bzw. sich entwickeln‐ den Beziehung zwischen ihren Rollen und der Rolle der Lehrkraft. 371 18 Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken <?page no="373"?> Aufgaben 1.* Welche Sprachhandlungen / Sprachstrukturen ließen sich mit den Inszenie‐ rungstechniken Spalier und Doppeln fördern? Geben Sie konkrete Sprachbei‐ spiele. 2.** Wählen Sie (aus einem DaZ-/ DaF-Lehrwerk) ein Thema und hierzu passende sprachliche Mittel (aus den Bereichen Wortschatz und Grammatik). Überlegen Sie nun, welche der kennengelernten Inszenierungsformen und Inszenierungs‐ techniken sich hierfür unterstützend einsetzen ließen. Tauschen Sie sich in der Gruppe über Ihre Ideen aus. 3.*** Die Erfahrungen in der Fort- und Weiterbildung haben gezeigt, dass Lehrkräfte theatrale Methoden und Spielideen eher nutzen, wenn sie sich einen eigenen Katalog mit den Methoden/ Spielen ihrer Wahl erstellen, für sich die jeweiligen Einsatzmöglichkeiten überlegen und individuelle Anpassungen vornehmen. Entdecken Sie in den unten angegebenen Literaturempfehlungen ihre zehn Favoriten und erstellen Sie eine für Sie passende Übersicht an Methoden/ Spielen. Weitere Literaturempfehlungen zu Sprachlernspielen und theatralen Methoden Holl, E. (2011). Sprach-Fluss. Theaterübungen für Sprachunterricht und interkulturelles Lernen. Ismaning: Hueber. Kramer, M. (2008). Schule ist Theater. Theatrale Methoden als Grundlage des Unterrichtens. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Oelschläger, B. (2017). Bühne frei für Deutsch! Das Theaterhandbuch für Deutsch als Fremdsprache. Weinheim: Deutscher Theaterverlag. Piel, A. (2016). DaZ lernen mit Bewegung. 90 Spiele und Übungen zur Grammatik. Mühlheim: Verlag an der Ruhr. Sambanis, M. & Walter, M. (2019). In Motion. Theaterimpulse zum Sprachenlernen. Berlin: Cornelsen. Vlcek, R. (2019). Workshop Improvisationstheater. Übungs- und Spielesammlung für Theaterarbeit, Ausdrucksfindung und Gruppendynamik (10. Aufl.). Donauwörth: Auer Verlag. 372 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="374"?> 1 In der Literatur trifft man mal auf den einen, mal auf den anderen Begriff. Boal selbst verwendete am Anfang die Bezeichnung „Statuentheater“, gab diese später dann aber auf (Staffler 2009: 78). 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild Doreen Bryant & Nadine Schlockermann Sicher hat jede: r der Lesenden bereits Erfahrungen mit der Standbild-Technik gemacht. Vermutlich wird sich aber noch nicht jede: r die Unterschiede von Standbild und Statue in Bezug auf die Ziele, das Setting, die einzelnen Phasen sowie in Bezug auf geeignete Kontexte und dramapädagogische Anschlussmög‐ lichkeiten bewusst gemacht haben. Nur allzu oft wird für beide Darstellungsfor‐ men der Begriff Standbild verwendet und somit bleiben spezifische, sich aus den Unterschieden ergebende Einsatzmöglichkeiten für die Sprachbildung und Sprachförderung unerkannt und ungenutzt. Der Fokus dieses Kapitels liegt daher auf der Gegenüberstellung der beiden Techniken und dem Herausarbeiten ihrer sprachförderlichen Potenziale Standbilder und Statuen erfreuen sich nicht zuletzt aufgrund der einfachen Umsetzung bei Lehrkräften großer Beliebtheit. Wenn es darum geht, den (Literatur-)Unterricht handlungsorientiert und motivierend zu gestalten und Textinhalte körperlich darzu‐ stellen, um Verstehensprozesse zu unterstützen und eine tiefere Auseinandersetzung mit den Inhalten zu bewirken, ist das Standbild oder die Statue oftmals die Methode der Wahl (für Anwendungsbeispiele vgl. Leitzke-Ungerer 2015; Scheller 1998; Schewe & Woodhouse 2018). Die vielfältigen Ausgestaltungsoptionen der Methode(n) sind maßgeblich dem brasilianischen Theatermacher Augusto Boal zu verdanken, der in den 1970er Jahren im Rahmen seines politischen “Theater[s] der Unterdrückten” das Statuentheater/ Bil‐ dertheater 1 entwickelte (siehe Infobox). Augusto Boal (1931-2009) gilt als einer der bedeutendsten Dramaturgen Latein‐ amerikas und Theatermacher weltweit. Er schuf ein Theater, dass die Zuschauen‐ den aus ihrer passiven Beobachterrolle herauslockt, sie zum Mitdenken animiert und sie sogar aktiv in die Handlung eingreifen lässt (Baumann 2013: 8). Er entwickelte unter dem Namen Theater der Unterdrückten eine Methodenreihe, zu der u. a. auch die bekannten Theaterformen Statuentheater/ Bildertheater, Un‐ sichtbares Theater und Forumtheater gehören. Boal ging es in erster Linie darum, die Bühne des Theaters als Möglichkeit zu nutzen, soziale Missstände aufzude‐ cken und “einen ästhetischen Raum entstehen zu lassen, in dem die Veränderung von Realität geprobt werden kann” (ebd.: 7) mit dem Ziel, Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu begegnen. Beim Statuentheater (oder auch Bildertheater) 373 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="375"?> 2 Im Kontrast zu Boals nonverbalem Bauprozess setzen wir auch bereits im Entstehungsprozess des Bildes Sprache gezielt ein. 3 Indem wir für den Statuenbau zwei Personen (ein/ e Bildhauer: in und ein Modell) zusammenbringen und für das Standbild vier bis sechs Personen, eröffnen sich für die Sprachförderung unterschiedliche Möglichkeiten (siehe 19.2). werden Vorstellungen von Unterdrückung in ein Bild übersetzt (Boal 1979: 71). Dabei übernimmt eine Person die Rolle des Bildhauers und wählt aus der Zuschauergruppe Personen aus, um mit ihren Körpern ein bestimmtes Thema darzustellen. Der Bildhauer kann hierbei modellierend (die Körper formen) oder spiegelnd (d. h. Haltung & Mimik zeigen und nachmachen lassen) vorgehen. Gesprochen werden darf in der Bauphase jedoch nicht (Boal 2013: 274-275). 2 Ak‐ zeptiert das Publikum das Bild, bleibt es bestehen; bei Ablehnung wird ein neues erschaffen. Kann das Publikum dem Bild teilweise zustimmen, wird kollektiv an seiner Optimierung gearbeitet, bis alle mit dem Bild einverstanden sind (ebd.: 275). Die Bilder können vollkommen statisch bleiben oder einzelne dynamische Elemente integrieren. Durch den Einsatz einer rhythmischen Bewegung kann beispielsweise verdeutlicht werden, ob eine essende Figur ihr Essen genießt oder es verschlingt (ebd.: 279). Zusätzlich kann die Figur ein zur Bewegung passendes Geräusch, ein Wort oder einen Satz von sich geben. Haben sich die Beteilig‐ ten auf ein Realbild der thematisierten Unterdrückungsproblematik geeinigt, entwickeln sie im Folgenden ein Idealbild, das eine Wunschvorstellung einer Gesellschaft ohne Unterdrückung darstellt (ebd.: 43). Im Anschluss daran werden Übergangsbilder erschaffen, die aufzeigen, wie sich die Realität (Realbild) in die erträumte Gesellschaft (Idealbild) transformieren ließe (ebd.: 44). In der nun folgenden Gegenüberstellung unterscheiden wir (anders als Boal) zwischen Statue und Standbild. 3 Das Standbild stellt eine “Situation aus einer bestimmten Perspektive” dar, während die Statue „Abstraktionen, Beziehungsstrukturen, generelle Haltungen oder Begriffe“ sichtbar macht (Scheller 1998: 68). In der anwendungsorien‐ tierten Literatur wird meist nicht unterschieden zwischen den beiden Techniken. In der Regel fungiert der Begriff „Standbild“ als Oberbegriff für jegliche freeze images (‚eingefrorene Abbildungen‘) von Situationen bzw. Figuren. Für unser Anliegen, Inszenierungstechniken auf ihre sprachförderlichen Potenziale hin zu untersuchen, ist es jedoch sinnvoll, eine Unterscheidung von Statue und Standbild vorzunehmen. Dementsprechend gliedert sich dieses Kapitel in drei Teile. Zunächst werden die beiden Techniken einander gegenübergestellt, um im Anschluss daran deren Poten‐ ziale für die Sprachbildung und Sprachförderung aufzuzeigen. Den Abschluss bilden zwei Beispielstunden, die illustrieren, wie sich die beiden Inszenierungstechniken im sprachbildenden Deutschunterricht einbinden ließen. 374 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="376"?> 19.1 Statue und Standbild als Darstellungsform im Vergleich Beim Statuenbau sind üblicherweise zwei Schüler: innen involviert. Eine: r übernimmt die Rolle des Bildhauers/ der Bildhauerin und eine: r die Rolle des Modells. (Bei Drei‐ ergruppen gibt es zwei Bildhauer: innen.) Ziel ist es, eine Figur mit ihren typischen Eigenschaften und Einstellungen durch eine Statue darzustellen. Die Bildhauerin modelliert die Statue je nach Arbeitsauftrag. Gewünschte Positionen im Raum und einzunehmende Körperhaltungen werden nicht etwa demonstriert, sondern modelliert (Scheller 1998: 62) und/ oder sprachlich angeleitet (siehe Tab. 19.4). Nur die Mimik wird mit der sogenannten “Scheuklappentechnik” vorgemacht (siehe Abb. 19.1). Als Grundlage für den Statuenbau kann eine Rollenbiografie oder ein Rolleninter‐ view dienen. Auch ein zuvor erstellter Steckbrief kann dem Bildhauer helfen, seine Statue zu gestalten. Durch eine spezifische Modellierung können bestimmte Meinun‐ gen oder Einstellungen einer literarischen Figur oder einer bekannten Persönlichkeit ausgedrückt werden. Die Technik bietet sich aber auch im Rahmen von ‚Kennenlern‐ kontexten‘ an. So lässt sich im Anschluss an ein Partnerinterview auf der Basis der gewonnenen Informationen die Partnerin/ der Partner als Statue modellieren und von der Bildhauerin/ dem Bildhauer der Gruppe präsentieren. Bei der Erarbeitung des Gesichtsausdrucks der Statue hilft die sogenannte “Scheuklappentechnik”. Dabei hält der Bildhauer seine Hände an die Seite seines Gesichts, um den Fokus auf seine eigene Mimik zu lenken. Er gibt nun einen Gesichtsaus‐ druck vor, der von dem Modell kopiert werden soll. Abb. 19.1: Scheuklappentechnik Während das Bauen eines Standbildes bei Scheller (1998) einer „Hauptspielerin“ übertragen wird, die sich Personen aus der Gruppe auswählt und diese in ihren jeweiligen Haltungen formt (ebd.: 61-62), entstet nach unserem Ansatz ein Standbild in kollektiver Zusammenarbeit einer Gruppe von vier bis sechs Schüler: innen. Ziel ist es, eine Situation bzw. Momentaufnahme darzustellen. Für das Standbildtheater bieten sich, neben dramatischen Texten, vor allem kürzere Erzählgattungen wie Novelle, Kurzgeschichte, Fabeln oder Märchen an (Leitzke-Ungerer 2015: 149). Aber auch Lieder und Gedichte können durch Standbilder visualisiert werden (ebd.). Bei der Auswahl ist darauf zu achten, dass „der Text auf zentrale Momente im Handlungsverlauf reduziert werden muss, die sich in einem stummen Bild aussagekräftig darstellen lassen“ (ebd.: 129). 375 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="377"?> Statue Standbild Ziel Darstellung (einer Haltung) einer Figur im Raum Darstellung einer Situation Setting Gruppengröße: 2-3 Personen pro Statue Partnerarbeit (ein: e Bildhauer: in, ein Mo‐ dell); Dreiergruppe (zwei Bildhauer: innen, ein Modell) Beim Statuenbau modelliert i. d. R. ein: e Bildhauer: in eine Statue. Die Rolle der Statue ist im Entstehungsprozess (weitge‐ hend) passiv. Gruppengröße: 4-6 Personen pro Stand‐ bild Bei einem Standbild arbeiten alle Beteilig‐ ten als Gruppe zusammen und überlegen sich gemeinsam die Gesamtkomposition sowie die einzelnen Komponenten und ihre jeweiligen Positionen. Tab. 19.1: Gegenüberstellung der Inszenierungstechniken Statue und Standbild Die theatrale Arbeit erlaubt es, im Schutz der Gruppe und im Schutz der Rolle zu agieren. Damit eröffnen sich vielfältige und authentische Möglichkeiten der Binnen‐ differenzierung und des Voneinander- und Miteinanderlernens. Bevor im nächsten Abschnitt 19.2. auf die sprachförderlichen Potenziale eingegangen wird, sollen die beiden Techniken aber zunächst einmal einander gegenübergestellt werden. Tab. 19.1 fasst die bislang angesprochenen Unterschiede zusammen und Tab. 19.2 kontrastiert überblicksartig die Ausgestaltung in den Phasen der Erarbeitung, Präsentation und Publikumsreaktion. 376 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="378"?> Statue Standbild ERARBEITUNG mögliche Aufgabenstellung: Entscheidet, wer von euch die Rolle des Bildhauers/ der Bildhauerin und wer die Rolle des Modells einnimmt. Auftrag an den/ die Bildhauer: in: Stelle den Charak‐ ter/ die Figur so detailliert wie möglich dar. Folgende Überlegungen können dem/ der Bildhauer: in bei der Erarbeitung helfen: * Welche Körperhaltung (liegend, sit‐ zend, stehend), Beinstellung (offen vs. geschlossen) und Position der Arme spiegeln die Charaktereigenschaften der Rolle am besten wieder? * Welche Position im Raum wählst du für dein Modell, um die Haltung der Figur zu verdeutlichen? * Wie ist der Gesichtsausdruck der Fi‐ gur? (Nutze die Scheuklappentechnik Abb. 19.1.) Ende der Bearbeitung: Ist der Bildhauer mit seinem Modell zufrieden, setzt er sich auf den Boden, um das Ende der Bearbei‐ tungszeit zu signalisieren. Sobald alle Bild‐ hauer: innen sitzen, ist die Erarbeitungs‐ phase beendet. Die Zeitvorgabe für die Erarbeitung hängt von Auftrag und Präsentation ab (ca. 10- 15 Minuten). mögliche Aufgabenstellung: Baut ein Standbild zum Thema __. Stellt die Situation so detailliert wie möglich dar. Überlegt euch in der Gruppe für jede/ n Mitspieler/ in die dafür passende Position im Raum. Baut euer Standbild Zug-um-Zug (sukzessiv) auf und achtet darauf, dass alle Elemente am Ende ein Gesamtbild ergeben. Wichtige Überlegungen in der Gruppe: * Wie könnt ihr die Situation in ihre einzelnen Elemente zerlegen? * Wie positioniert ihr euch im Raum und zueinander? * Was ist die Rolle eines jeden Einzelnen für das Gesamtresultat? * Wie baut ihr das Standbild Zug-um-Zug (sukzessiv) bei der Prä‐ sentation auf ? Wer bezieht als Erste/ r Position im Raum? Ende der Bearbeitung: Ist die Gruppe mit ihrem Ergebnis zufrieden, setzen sich alle Gruppenmitglieder gesammelt auf den Bo‐ den, um das Ende der Bearbeitungszeit zu signalisieren. Die Zeitvorgabe für die Erarbeitung hängt von Auftrag und Prä‐ sentation ab (ca. 10-15 Minuten). PRÄSENTATION Statuenwald: Die Statuen nehmen die von ihren jeweiligen Bildhauer: innen entwor‐ fene Haltung im Raum ein und erstarren in dieser. Dabei ist darauf zu achten, dass das Publi‐ kum die Statue von allen Seiten betrachten kann/ soll (perspektivische Darstellung). Gruppenstandbild: Die darzustellende Si‐ tuation wird Zug um Zug von den Prota‐ gonist: innen aufgebaut; d. h. Spieler 1 be‐ tritt die Bühne, geht in Position und friert in seiner Haltung ein; Spielerin 2 betritt die Bühne, positioniert sich und friert ein usw. bis das Gruppenstandbild vollständig ist. Das Publikum betrachtet das Standbild von vorne (frontale Darstellung). REAKTION Das Publikum betrachtet die Statue aus unterschiedlichen Perspektiven und be‐ schreibt dabei Position, Mimik und Gestik der Statue. Das Publikum interpretiert Mimik und Gestik und schließt daraus auf Wesens‐ züge des Charakters. Das Publikum beschreibt das Standbild als Ganzes aus frontaler Perspektive und geht auf einzelne Personen im Standbild (Position, Mimik, Gestik) und ihre Anord‐ nung im Raum und zueinander ein. Das Publikum interpretiert die einzelnen Komponenten, deren Beziehungen zuein‐ ander und das Gesamtarrangement. Tab. 19.2: Gegenüberstellung der Inszenierungstechniken Statue und Standbild: Erarbeitung, Präsen‐ tation, Reaktion 377 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="379"?> Die Techniken Statue und Standbild bieten neben den in Tab. 19.2 aufgeführten noch weitere anknüpfende Gestaltungsmöglichkeiten sowie verschiedene Möglichkeiten zur sprachlichen und szenischen Weiterarbeit (siehe Tab. 19.3). Beide Darstellungsfor‐ men sind bei der Präsentation in der Regel statisch und nonverbal, können aber zum Leben erweckt und damit durch sprachliche Elemente erweitert werden. So könnte sich die Statue selbst mit einem Lebensmotto vorstellen oder eine für die Figur typische Äußerung von sich geben. Auch beim Standbild können die einzelnen Beteiligten zu Wort kommen, beispielsweise in Form eines inneren Monologs, der Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringt (Leitzke-Ungerer 2015: 153). Der lebenserweckende Impuls hierfür kann auch aus dem Publikum kommen, indem eine Zuschauerin einer Spielerin die Hand auf die Schulter legt und dadurch zum Sprechen bringt. Eine weitere ausbauende Gestaltungsmöglichkeit stellt die Arbeit mit Sequenzen dar (siehe Tab. 19.3). Bei der Statuentechnik geht es darum, zwei Facetten einer Figur zu modellieren und nacheinander zu präsentieren, um zu einem tieferen Rollenverständnis zu gelangen. Beim Standbildtheater hingegen wird ein Text auf seine zentralen Aussagen komprimiert und in mehreren chronologischen Standbildern als Dia-Show präsentiert. Leitzke-Ungerer (2015) schlägt (bezugnehmend auf das Fünf-Akt-Schema im Drama) als Sequenz fünf aufeinanderfolgende Standbilder vor, um „in der Präsentationsphase bei den Zuschauern den Eindruck [zu verstärken], ein Drama en miniature zu sehen” (ebd.: 149-150). Statue Standbild Statue zum Leben erwecken: Die Statue stellt sich selbst vor (Zitat, Lebensmotto, innerer Mo‐ nolog). Standbild zum Leben erwecken: Die einzel‐ nen Beteiligten des Standbildes kommen zu Wort. Statuensequenz Mögliche Darstellungsimpulse: * Widersprüchlichkeiten innerhalb einer Per‐ son aufdecken * unterschiedliche Handlungsmotivationen darstellen * gegensätzliche Haltungen/ Reaktionen ge‐ genüber Menschen/ Umständen/ Situationen aufzeigen * äußere Reaktion vs. innere Haltung wider‐ spiegeln Standbildsequenz/ Dia-Show Mögliche Darstellungsimpulse: * eine chronologische Abfolge von Ge‐ schehnissen bzw. einen Handlungs‐ strang darstellen * Beziehung zwischen Protagonisten aus der Sicht der einzelnen Personen nach‐ einander aufdecken Weiterarbeit: * Heißer Stuhl: Die Statue wird im Anschluss an die Präsentation vom Publikum inter‐ viewt. Talkshow: Verschiedene Statuen treffen im Rah‐ men einer Debatte aufeinander und diskutieren über ihre Haltungen/ Positionen. Weiterarbeit: * Aus einem Standbild entwickelt sich ein szenisches Spiel. * Die Dia-Show wird von einer Mitspie‐ lerin präsentiert und kommentiert. Das Standbild wird fotografiert und für die schriftliche Bildbeschreibung genutzt. Tab. 19.3: Alternative Gestaltungsmöglichkeiten und Vorschläge für die dramapädagogische Weiterarbeit 378 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="380"?> 19.2 Statue und Standbild: Sprachhandlungen und Zielstrukturen Die beiden Techniken Statue und Standbild unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer sprachbildenden bzw. sprachförderlichen Potenziale. Bei der ERARBEITUNG der jeweiligen Darstellungsform lässt die Statue eher eine gezielte Spracharbeit mit konkreten Wortschatz- und Strukturvorgaben zu (siehe Tabelle 19.4) als das Standbild. Bei letzterem interagieren mehrere Personen miteinander und der kreative Prozess ist deutlich vielschichtiger und daher anspruchsvoller. Das sprachliche Aushandeln der Gesamtkomposition und ihrer Einzelbeiträge sollte im kreativen Fluss nicht durch sprachliche Strukturvorgaben eingeengt werden. Jeder sollte sich bei diesem Erarbei‐ tungsprozess mit allen individuell zur Verfügung stehenden Mitteln (sprachlich, ges‐ tisch, mimisch) einbringen und seine Ideen verbal oder nonverbal kommunizieren. Das Sprachlernpotenzial liegt hier im gruppendynamischen Bewältigen der performativen Aufgabe. Die Lernenden müssen einander aufmerksam zuhören, ihre Äußerungen ggf. paraphrasieren und mit nonverbalen Mitteln ergänzen, sie lernen miteinander und voneinander und entdecken bei sich sprachliche Lücken, die sie im weiteren Verlauf möglicherweise schließen wollen. Im Rahmen der PRÄSENTATION bieten beide Techniken die Möglichkeit, die Prota‐ gonisten zu Wort kommen zu lassen und zuvor erarbeitete Zielstrukturen zu verwenden. Da es sich (in der Regel) nur um kurze Beiträge handelt, können hier auch sprachliche Konstruktionen verwendet werden, die die Lernenden in freier Sprachproduktion selbst noch nicht gebrauchen, die aber durch die Vorbereitung und die theatrale Darbietung eine gute Chance haben, als Ankerstruktur ins sprachliche Repertoire aufgenommen zu werden. Wie lässt sich aber die Sprache in die Präsentation integrieren? Beispielsweise kann die Statue durch Antippen eines Betrachters zum Leben erweckt werden und sich selbst den Betrachtenden vorstellen. Dabei können sprachliche Mittel Anwendung finden, die zuvor mit Hilfe eines Steckbriefes oder einer Rollenkarte überlegt wurden. Wird die Technik Statue eingesetzt, um individuelle Eigenschaften oder Fähigkeiten einzelner Gruppenmitglieder herauszuarbeiten und bei der Vorstellung zu versprachlichen, würden sich beispielsweise Relativsätze als Zielstrukturen hervorragend eignen: Ich bin der Detektiv, der gut beobachten kann. / Ich bin die Detektivin, die gut Spuren lesen kann. Beim Standbild gäbe es zudem die Option, die Technik des Doppelns (siehe Kapitel 18) anzuwenden. Hierfür würde sich ein Zuschauer hinter bzw. neben einen Darsteller begeben und dessen Gedanken versprachlichen. Für die Standbildsequenz (Diashow) ließe sich zudem an sprachlich schon etwas fortgeschrittene Lernende die Rolle eines Berichterstatters oder einer Erzählerin vergeben. Diese könnten z. B. das Präteritum gebrauchen und eine Rahmung für die direkte Rede der Standbildakteur: innen schaffen: Erzähler: … und der Apfelbaum mit seinen schwer tragenden Zweigen rief: Apfelbaum: Bitte schüttel mich. Die Äpfel sind längst reif und so schwer … Erzähler: Goldmarie lief zum Apfelbaum und sprach: Goldmarie: Gern, lieber Apfelbaum, helfe ich dir und schüttel dich … 379 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="381"?> Der/ die Bildhauer: in ist bei der Erarbeitung sprachlich deutlich aktiver als das Modell. Es ist daher zu empfehlen, diese Rolle (beim ersten Durchgang) den Sprachstärkeren zuzuweisen. Idealerweise macht der Bildhauer die gewünschten Haltungen selbst vor, während er parallel dazu die Haltungen versprachlicht, sodass die Bedeutung des Gesagten für den Rezipienten unmittelbar erfahrbar wird. Wortschatz: Körperteile, dynamische Positionsverben (stellen, legen, setzen), weitere spezifi‐ sche Verben (drehen, strecken, beugen, bücken, heben, senken, öffnen, schließen), einfache und aus Partizipien abgeleitete Adjektive für den Gesichtsausdruck (traurig, wütend, erschrocken, enttäuscht) Grammatik: Imperativ (Stell …! ), Artikelwörter im Akkusativ (den/ diesen/ deinen Arm, die/ diese/ deine Hand), Adjektivflexion (den rechten Arm, die rechte Hand), Komparativ (höher, tiefer), Richtungsangaben: nach vorn / hinten / oben / unten / rechts / links, Präpositionen auf und an + Akkusativ, Vergleichskonstruktionen (wie eine Tänzerin / wie ein Löwe) Äußerungsbeispiele für das Basisniveau (in Verbindung mit Zeigen und Vormachen) Im Fokus: Körperteile, Artikelwörter im Akkusativ, Richtungsangaben, Adjektivflexion im Akkusativ a. (Mach) den Arm / das Bein / die Schulter / … so. b. (Mach) diesen Arm / dieses Bein / diese Schulter / … nach vorn / oben / links / … c. (Mach) deinen linken Arm / dein rechtes Bein / deine linke Schulter / … nach vorn / oben / links / … Äußerungsbeispiele für das Aufbauniveau Stell(e) dich auf den Stuhl. Leg(e) deine rechte Hand auf dein linkes Knie. Den linken Arm lass einfach herunterhängen. Beug(e) den Oberkörper etwas nach vorn. Dreh(e) den Kopf etwas nach links. … Mach(e) ein trauriges Gesicht. Bitte noch etwas trauriger. Zieh(e) die Mundwinkel nach unten. Schließ(e) die Augen … Das Modell kann an die Bildhauerin Fragen richten. Basisniveau: Und mein Kopf ? Und dieser Arm hier? Und mein rechtes Bein? Aufbauniveau: Wie soll ich meinen Kopf halten? Wohin soll ich den rechten Arm legen? Tab. 19.4: ERARBEITUNG: Geeignete Zielstrukturen und Empfehlungen für die Technik Statue Nach der Präsentation sollten die Zuschauenden zu einer sprachlichen REAKTION auf die Darstellungsformen Statue und Standbild angeregt werden. Besonders das Standbild lässt sich sprachdidaktisch hervorragend nutzen, um die Sprachhandlungen des Be‐ schreibens und Interpretierens auf verschiedenen Sprachstufen zu üben. Tab. 19.5 ent‐ hält für das Basis- und das Aufbauniveau eine Auswahl an geeigneten sprachlichen Mitteln zur Ausgestaltung der beiden sprachlichen Operatoren. Auch hier sollte man sich wieder auf nur wenige Elemente konzentrieren, um die Lernenden nicht zu über‐ fordern und um ein Verinnerlichen der Zielwörter und Zielstrukturen zu ermöglichen. Am Ende einer jeden dramapädagogischen Einheit steht immer die gemeinsame REFLEXION. Man spricht über die Erfahrungen als Zuschauer: in und als Akteur: in und gibt einander wertschätzendes Feedback. Auch hier gilt es wieder eine Auswahl an Reflexionsfragen zu treffen und sprachliche Bausteine vorzubereiten, die von den 380 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="382"?> 4 Als Subjekt-Verb-Inversion bezeichnet man die Umkehrung der Abfolge von Subjekt und finitem Verb im deutschen Hauptsatz, wenn ein anderes Element (z. B. ein Adverb oder eine Präpositional‐ phrase) vor das Verb gestellt wird, vgl. Ein Junge sitzt daneben. vs. Daneben sitzt ein Junge. Lernenden genutzt werden können, um die gewonnenen Eindrücke und ihr Feedback zu formulieren. Die Zuschauer: innen sind angehalten das Standbild zunächst zu beschreiben und erst danach zu interpretieren. Die Sprachhandlungen des Beschreibens und Interpretierens verlangen un‐ terschiedliche sprachliche Mittel, die dem Sprachniveau angemessen ausgewählt, eingeführt und (mit unterstützenden Sprachbausteinen) angewendet werden können. BESCHREIBEN (Was seht ihr? Beschreibt (möglichst genau), was ihr hier alles im Standbild seht.) Sprachliche Mittel für das Basisniveau Einfache Sätze: Da sind vier Personen. / Ich sehe vier Personen. Zwei sitzen und zwei stehen. Der eine Junge hält die Arme hoch. … Sätze mit variablem Vorfeld (Subjekt-Verb-Inversion) 4 : Auf dem Stuhl sitzt ein Junge. Daneben stehen zwei Mädchen. Rechts liegt jemand auf dem Rücken. Personalpronomen, Possessivartikel, prädikative Adjektive: Er trägt eine Brille. Seine Hose ist schwarz. Attribute: attributive Adjektive (die schwarze Hose), attributive Präpositionalphrasen (ein Kleid mit Streifen, ein Mann mit einem weißen Hemd, die Frau vor dem Mann, der Stuhl neben der Tafel), einfache Relativsätze (Da ist ein Mann, der lacht. Er beobachtet die Frau, die dunkle Haare hat.) Lokalisierungsausdrücke: einfache Lokaladverbien (rechts, links, oben, unten, vorn, hinten, davor, dahinter, daneben); einfache Präpositionen (auf, in, unter, neben, vor, hinter) mit Dativ, Positionsverben (stehen, liegen, sitzen) Sprachliche Mittel für das Aufbauniveau weiteres Arbeiten an der Adjektivflexion - inklusive Komparation: die größere Frau, der kleinere von den beiden, … Attribute: attributive Partizipien (die zwei sitzenden Personen, der lachende Mann, das gestreckte Bein, der angewinkelte Arm), erweiterte Attribute (die ängstlich schauende Frau, die im Vordergrund stehende Frau, der nach oben gestreckte Arm, das eng anliegende Kleid), Genitivattribute (im Vordergrund des Standbildes, der Gesichtsausdruck des Mannes, die Körperhaltung der vorderen Person), Relativsätze (Die Frau, die auf dem Stuhl sitzt, beobachtet die beiden stehenden Personen.) weitere Lokalisierungsausdrücke: im Vordergrund, im Hintergrund, in der linken hinteren Ecke 381 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="383"?> INTERPRETIEREN (Was glaubt ihr, ist hier dargestellt? Versucht einmal zu deuten / zu interpretieren, …) Sprachliche Mittel für das Basisniveau Nebensätze (sog. Komplementsätze) mit dass: Ich glaube / denke, dass … Sprachliche Mittel für das Aufbauniveau Komplementsätze, Konjunktiv II, Kommentaradverbien: Ich vermute, dass … / Ich würde vermuten, … / Man könnte annehmen, dass … / Es könnte sein, dass … / Vermutlich / wahrscheinlich / möglicherweise / … Tab. 19.5: REAKTION: Geeignete Zielstrukturen und Empfehlungen für die Technik Standbild 19.3 Statue und Standbild: Zwei Beispieldoppelstunden Im Folgenden zeigen wir anhand zweier Beispieldoppelstunden, wie sich die Techniken Statue und Standbild im regulären Deutschunterricht mit einer sprachlich heterogenen Klasse am Ende der Grundschule oder auch in einer Vorbereitungsklasse sprachför‐ derlich einbinden ließen. In jeder der beiden Doppelstunden werden fünf Phasen durchlaufen: (1) Warm-up, (2) Hinführung, (3) Erarbeitung, (4) Präsentation und (5) Reflexion. Um den Lesenden die Entscheidung für die eine oder die andere Technik zu erleichtern, legen wir für beide Beispielstunden das gleiche Thema zugrunde und gestalten auch das Warm-up und die Hinführung in gleicher Weise. In den weiteren Phasen werden dann die unterschiedlichen Potenziale der beiden Techniken erkennbar. Das Thema der beiden Beispieldoppelstunden ist das Märchen „Frau Holle“ von den Gebrüdern Grimm. In sprachlicher Hinsicht bietet sich dieses Märchen an, kon‐ trastierende Adjektive (z. B. wach - müde, aktiv - passiv, fleißig - faul, hilfsbereit - egoistisch, respektvoll - respektlos) in den Fokus zu nehmen. Zudem lassen sich (wie bei allen Märchen) das Präteritum, die direkte oder auch die indirekte Rede sowie Temporaladverbiale zum Lerngegenstand machen. Darüber hinaus erlaubt die Technik Statue im Prozess des Modellierens den Gebrauch eines spezifischen Wortschatzes und bestimmter Strukturen (siehe Kap. 19.2). Beide Inszenierungstechniken bieten im Kontext der Operatoren Beschreiben und Interpretieren vielfältige Möglichkeiten, sprachliche Mittel gezielt einzusetzen (siehe Kap. 19.2). Beispieldoppelstunde zum Märchen „Frau Holle“ mit der Technik Statue (1) WARM-UP Dramapädagogische Unterrichtsstunden beginnen üblicherweise mit einem Warm-up. Dabei geht es um eine körperliche und stimmliche Aktivierung der Schüler: innen sowie die Förderung des sozialen Miteinanders. Das Warm-up kann auch schon auf das Thema ausgerichtet werden, so wie im vorliegenden Beispiel: Wir beginnen die Un‐ 382 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="384"?> 5 Da Musik automatisch Emotionen auslöst, sollte man generell bei der Auswahl sehr bedacht vorgehen. Zu empfehlen sind Instrumentalstücke, um nicht durch Texte eine unnötige Ablenkung zu riskieren. 6 In der Beispielstunde nutzen wir für das zur Goldmarie passende Schritttempo das Stück Getting on with it von Hans Zimmer aus dem Film “Der kleine Prinz” und für die langsamere Pechmarie das Stück Walkin’ the house von Michael Giacchino aus dem Film “Up! ”. terrichtsstunde mit einer klassischen Theatermethode, dem Raumlauf (siehe Kasten), der die Schüler: innen thematisch auf die Stunde einstimmen soll. In der vorliegenden Unterrichtssequenz sind die Schüler: innen bereits mit den Regeln des Raumlaufs vertraut. Die Lehrkraft bittet sie, sich im Raum zur Musik zu bewegen 5 - zunächst in einem normalen Schritttempo (Stufe 3). Es folgen Bewegungsanweisungen, die ein langsames oder schnelles Gehen erfordern und die zu den später vorzunehmenden Charakterisierungen von Goldmarie und Pechmarie passen: 6 Bewegt euch durch den Raum, als wärt ihr ganz müde und schlapp. Euer Körper ist ganz träge. Lasst Beine, Arme, Kopf und Schultern einfach hängen. Ihr habt keine Lust auf den Unterricht, ihr seid total lustlos, ihr findet alles schrecklich langweilig. Ihr schlaft gleich ein. Nun klatscht die Lehrkraft in die Hände; alle Schüler: innen gehen in den freeze. Die Musik stoppt. Die Lehrkraft schlüpft in die Rolle einer Energie-Fee und leitet den Raumlauf weiter an: Stellt euch vor, ich bin eine Energie-Fee und kann mit meinem Zauberstab Energie in jeden von euch schicken. Wenn jetzt gleich die Musik wieder läuft, bewege ich mich mit meinem Zauberstab durch den Raum und berühre euch einzeln mit dem Zauberstab an der Schulter. Dadurch spürt ihr Kraft und Energie und fangt an, euch in Schritttempo 4 durch den Raum zu bewegen. Wenn allen Schüler: innen Energie eingehaucht wurde, leitet die Lehrkraft durch den Raumlauf mit Adjektiven, die eine schnelle energetische Gangart unterstützen. Mögliche Adjektive: wach, aktiv, lebendig, munter, vital, putzmunter, quietschlebendig usw. Nachdem die Schüler: innen sich mit viel Energie durch den Raum bewegt haben, ist es wichtig, nun wieder etwas zur Ruhe zu kommen. Die Lehrkraft beendet den Raumlauf und bittet die Schüler: innen sich in einen Halbkreis auf Stühlen oder auf den Boden zu setzen. Raumlauf Der Raumlauf gehört zu den wichtigsten Warm-Up-Methoden. Er schafft ein Bewusstsein für den sich im Raum bewegenden Körper und bietet vielfältige Möglichkeiten Sprache und Bewegung zu verknüpfen. Bei einem Raumlauf ist es wichtig, zuvor Regeln mit den Schüler: innen zu besprechen, um jederzeit die 383 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="385"?> 7 Damit die Regeln nicht da sind, um gebrochen zu werden, ist ein spielerischer Umgang zu empfehlen. Eventuell kann man den “Vorbereitungs-Raumläufen” auch eine Art Wettbewerbscharakter geben, indem Schüler: innen bei Nicht-Beachten der Regeln ausscheiden bis letztendlich der/ die Raumlauf‐ sieger: in gekürt wird. 8 Das Klatschen ist ein gutes theatrales Disziplinierungsinstrument, das Ruhe und Konzentration in die Klasse bringt. Kontrolle und Übersicht im Spiel zu behalten und den Spielfluss nicht unterbrechen zu müssen. Es gelten folgende Regeln: 7 1. Jeder läuft für sich. Die Schüler: innen sind angehalten, Blickkontakt oder Körperkontakt zu anderen Mitschüler: innen zu vermeiden. 2. Die Schüler: innen nutzen den ganzen Raum und stellen sich dabei vor, das Klassenzimmer sei ein Floß, das nicht zum Kippen gebracht werden darf. Sie sollen daher versuchen, freie Plätze im Raum zu vermeiden. Wo ein freier Platz entsteht, ist dieser wieder zu füllen. 3. Es gibt verschiedene Schrittgeschwindigkeiten, die von der Lehrkraft durch Zahlen bzw. Stufen angegeben werden: Stufe 1 = Zeitlupe bis Stufe 5 = höchste Schrittgeschwindigkeit. 4. Klatscht die Lehrkraft in die Hände, erstarren alle Schüler: innen in ihrer Position und blicken zur Lehrkraft. 8 Für dieses „Einfrieren“ wird auch der englische Begriff freeze gebraucht. (2) HINFÜHRUNG Die Lehrkraft schlüpft nun in die Rolle einer Märchenerzählerin/ eines Märchenerzäh‐ lers (die Rolle kann mit einem Accessoire, z. B. einem roten Umhang verstärkt werden) und liest das Märchen “Frau Holle” vor. Je nach Sprachniveau wählt sie eine sprachlich angemessene Version und nutzt Bilder, um das Gelesene zu visualisieren (siehe Material unter Z-026). Die Schüler: innen hören gespannt zu. Nachdem das Märchen vorgelesen wurde, werden die Schüler: innen aufgefordert, passende Sätze aus dem Märchen (siehe Tab. 19.6) und / oder passende Adjektive (siehe Tab. 19.7) den zwei Protagonistinnen (Goldmarie und Pechmarie) an der Tafel zuzuordnen. Die Lehrkraft ergänzt nach Belieben die Sätze für Tab. 19.6 und trifft bei den Adjektiven eine dem Alter und dem Sprachstand angemessene Auswahl von max. 12 Adjektiven, deren Semantik in der Klasse besprochen werden sollte. Unter Einbeziehung von Mimik, Gestik, Bewegung und lebensnahen Beispielen beteiligen sich alle Schüler: innen bei der Erklärung, was die ausgewählten Adjektivwörter bedeuten. 384 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="386"?> Goldmarie Pechmarie “Ich helfe gern.” “Ich habe keine Lust.” “Ich bleibe gern und helfe im Haus.” “Ich mache mir doch nicht die Finger schmut‐ zig.” “Das strengt mich nicht an.” “Das ist mir viel zu anstrengend.” Tab.: 19.6: Zu den Protagonistinnen des Märchens passende Sätze Goldmarie Pechmarie hilfsbereit, selbstlos, uneigennützig egoistisch, selbstsüchtig, eigennützig fleißig, tüchtig, emsig, rege, anpackend, arbeitsam, motiviert, engagiert faul, träge, schwerfällig, behäbig, bequem, ar‐ beitsscheu, unmotiviert, lustlos aktiv, aufgeweckt, lebhaft, wach, munter, energievoll passiv, phlegmatisch, schwerfällig, müde, schläfrig, energielos gutmütig, respektvoll, freundlich, geduldig, verständnisvoll gehässig, respektlos, unfreundlich, ungeduldig, verständnislos interessiert, begeistert, enthusiastisch desinteressiert, gelangweilt, gleichgültig gewissenhaft, sorgfältig, gründlich nachlässig, schlampig, schludrig Tab.: 19.7: Zu den Protagonistinnen des Märchens passende Adjektive Die Gegenüberstellung der konträren Haltungen und Eigenschaften sind eine gute Vorbereitung auf die theatrale Erarbeitungsphase, in der sich die Schüler: innen mit den Einstellungen der Figuren des Märchens auseinandersetzen. Ideen zur spielerischen Paarbildung Satzpuzzle: Es werden Sätze aus dem allen Schüler: innen bekannten Text (hier: Märchen) geteilt. Jede/ r erhält einen Teilsatz. Die Aufgabe besteht darin, während man sich durch den Raum bewegt, das passende Gegenstück zum eigenen Teilsatz zu finden. Memory: Es werden in doppelter Ausführung Aktionskärtchen (z. B. Äpfel pflücken, Betten ausschütteln) verteilt. Während des Raumlaufs führen die Schüler: innen die ihnen jeweils zugeteilte Aktion pantomimisch aus und finden ihren Aktionspart‐ ner. Ideen zur spielerischen Gruppenbildung (mehr als 2 in der Gruppe) Jede/ r erhält eine (Fort-)Bewegungsart (z. B. rennen, schleichen, fliegen, schwim‐ men, … oder Fahrrad / Ski / Auto / Motorrad / … fahren oder sich bewegen wie ein Pferd, ein Hund, eine Katze, ein Frosch, …). Werden bei einer Klassengröße von 385 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="387"?> 24 Schüler: innen vier Gruppen benötigt, dann sind während des Raumlaufs vier verschiedene Bewegungsarten von jeweils sechs Schüler: innen darzustellen. Die Schüler: innen mit der gleichen Bewegungsart finden sich (ohne dabei zu sprechen) zu einer Gruppe zusammen. Jede: r erhält ein Geräusch (z. B. von Tieren) und soll dieses nun im Raumlauf darstellen. Die Schüler: innen finden sich zu geräuschgleichen Gruppen zusammen. (3) ERARBEITUNG Für die folgende Partnerarbeit werden die Schüler: innen gebeten, sich zu zweit zusam‐ men zu finden (bei ungerader Klassenstärke kann auch eine Dreiergruppe gebildet werden). Alternativ kann auch die Lehrkraft die Gruppeneinteilung übernehmen (siehe Kasten oben). Haben sich die Paare gefunden, erklärt die Lehrkraft den Arbeitsauftrag: Ihr arbeitet gleich zu zweit bzw. zu dritt zusammen. Eure Aufgabe ist es, die zwei Hauptfiguren des Märchens, Goldmarie und Pechmarie, in den verschiedenen Stationen des Märchens so genau wie möglich als Statue im Raum darzustellen. Ihr bekommt pro Paar jeweils eine Rollenkarte mit dem Arbeitsauftrag. Entscheidet, wer von euch die Bildhauerin/ der Bildhauer sein möchte und wer die Rolle des Modells bzw. der Statue übernimmt. Für die Aufgabe habt ihr insgesamt 15 Minuten Zeit. In unserem Beispiel gehen wir von 24 Schüler: innen aus, die sich in 12 Paaren zusammenfinden. Sechs Paare bekommen eine Rollenkarte für Goldmarie (G1-6), die anderen sechs Paare beschäftigen sich mit der Rolle von Pechmarie (P1-6). Die Charaktereigenschaften, Haltungen und Einstellungen von Goldmarie und Pechmarie sollen in Bezug auf drei zentrale Situationen im Märchen (beim Apfelbaum, beim Brotbackofen und bei Frau Holle) dargestellt werden. Dabei arbeiten die Gruppen mit der Statuen-Technik (“Bildhauer: in & Modell”), die in Kapitel 19.1 im Detail vorgestellt wurde. Die hierbei potenziell zum Einsatz kommenden sprachlichen Mittel finden sich in Kapitel 19.2 (Tab. 19.4). 386 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="388"?> Rollenkarte G1 Goldmarie beim Apfelbaum Lest den Märchenabschnitt, in dem Goldmarie auf den Apfelbaum trifft. Wie verhält sich Goldmarie in dieser Situation zum Apfelbaum? Welche Haltung hat sie gegenüber der Arbeit? Aufgabe für die Bildhauerin / den Bildhauer: Stell dir vor, dein Modell ist eine Knetmasse, die du formen kannst, wie du möchtest. Modelliere deine Statue so, dass ganz deutlich wird, wie sich Goldmarie in der Situation mit dem Apfelbaum fühlt und verhält. Für die Mimik deiner Statue, machst du selbst den Gesichtsausdruck vor, der dann von deinem Modell kopiert werden soll. Wenn du mit deiner Statue zufrieden bist, setzt du dich auf den Boden, um zu zeigen, dass ihr fertig seid. Aufgabe für die Statue: Wähle einen Satz, den deine Figur in der Situation sagen würde. Wie fühlt sich die Figur in der Körperhaltung? Abb. 19.2: Beispiel einer Rollenkarte (weitere Rollenkarten siehe unter Z-027) Sitzen alle Bildhauer: innen auf dem Boden oder sind 15 Minuten Bearbeitungszeit um, läutet die Lehrperson die Präsentationsphase ein. (4) PRÄSENTATION Für die Präsentation werden die Paare wie folgt zusammengestellt: Die Paare G1-3 sowie P1-3 präsentieren zuerst, während die anderen Schüler: innen die Rolle der Betrachtenden einnehmen. Die Lehrkraft verteilt Symbole (Apfelbaum, Brotbackofen, Frau Holle) und jeweils die Buchstaben “G” für Goldmarie und “P” für Pechmarie an das Publikum. Die Bildhauer: innen positionieren ihre Statuen im Raum und korrigieren eventuell noch Mimik und Körperhaltung. Der Statuenwald wird nun vom Publikum durchlaufen. Die Aufgabe für die betrachtenden Schüler: innen besteht darin, die Sym‐ bole und die Buchstaben den Statuen zuzuordnen. Die Lehrkraft bittet sie dann für jede Statue, die Entscheidung zu begründen. Hierbei können neben kausalen Sätzen auch die ausgewählten Adjektive in prädikativer oder attributiver Form Anwendung finden (…, weil sie müde aussieht / …, weil sie ein unfreundliches Gesicht macht). Die Lehrkraft kann hierfür Satzbausteine vorgeben, in denen eventuell nur die Adjektive einzusetzen sind. Zu begründen, woran die spezifische Situation erkannt wurde, sollte den in ihrer Sprachentwicklung am weitesten fortgeschrittenen Schüler: innen überlassen werden. Die Lehrkraft unterstützt sie bei den intendierten Versprachlichungen. Zur Kontrolle, ob die Betrachtenden die Statuen den richtigen Figuren und Situationen zugeordnet haben, darf nun jede Statue nacheinander angetippt werden, um von ihr einen für die Haltung in der spezifischen Situation typischen Satz zu hören. Darauffolgend präsentieren die Gruppen G4-6 und P4-6 ihre Entwürfe und die Darstellenden der ersten Runde übernehmen die Rolle der Betrachtenden. 387 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="389"?> 9 Alternativ könnte man die Bildhauer: innen ihre Statuen selbst vorstellen lassen. Damit würde man aber eine Möglichkeit verschenken, alle Schüler: innen sprachproduktiv einzubinden und sich im Gebrauch der Zielstrukturen und operatorenspezifischer sprachlicher Mittel zu üben. Ziel dieser Phase ist es, gegensätzliche Eigenschaften, Haltungen und Einstellungen zweier Figuren körperlich darzustellen und auf der sprachlichen Ebene die Darstellun‐ gen (u. a. mit treffenden Adjektiven) interpretierend zu beschreiben (Wer ist wohl dargestellt? Warum glaubst du, ist das die Pechmarie? In welcher Situation ist die Pechmarie hier dargestellt? Woran erkennst du das? ). 9 (5) REFLEXION Bevor die Reflexionsphase beginnt, fordert die Lehrkraft die Schüler: innen auf, ihre Rolle im wahrsten Sinne des Wortes abzuschütteln (Körper ausstreifen, Arme und Beine ausschütteln usw.). Damit wird sichergestellt, dass die Darsteller: innen ihre Rolle nicht mit ins Nachgespräch tragen. Zunächst steht die theatrale Präsentation im Fokus des Reflexionsgesprächs. Die Schüler: innen haben Gelegenheit zu berichten, wie sie sich in ihrer Rolle fühlten, wie sie mit der Inszenierungstechnik zurechtkamen, wie sie die Perspektiven (als Darstellende und Beobachtende) jeweils empfanden, usw. Anschließend werden Bezüge zur Lebenssituation der Kinder hergestellt. Mögliche Reflexionsfragen könnten sein: a. Wie hast du dich in der Rolle der Goldmarie/ Pechmarie gefühlt? b. Hast du solche Situationen schon einmal erlebt? Wie ist deine Haltung dazu? c. Was bedeutet es, jemandem (k)einen Gefallen zu tun? Welche Auswirkungen hat es auf einen selbst und auf die/ den Andere: n? d. Wie reagierst du, wenn man dir (k)einen Gefallen tut? Nach der Reflexion beendet die Lehrkraft die Stunde. Eine mögliche Weiterarbeit könnte darin bestehen, für die eigene Rolle einen inneren Monolog zu verschriftlichen, der die Gedanken der Figur in der zuvor dargestellten Situation zum Ausdruck bringt. Beispieldoppelstunde zum Märchen „Frau Holle“ mit der Technik Standbild Die ersten zwei Phasen (Warm-up, Hinführung) wie auch die letzte Phase (Reflexion) können aus der ersten Beispielstunde weitgehend übernommen werden. Daher be‐ schränken sich die folgenden Ausführungen auf die Phasen (3) und (4). (3) ERARBEITUNG Die SchülerInnen werden in drei- oder vierköpfige Gruppen aufgeteilt (siehe Kasten zur Gruppenbildung). Die Lehrkraft stellt den Arbeitsauftrag vor: Entwickelt in eurer Gruppe zwei Standbilder. Die beiden Standbilder sollen nacheinander präsen‐ tiert werden. Das erste Standbild stellt eine Situation mit dem fleißigen Mädchen (Goldmarie) in der Hauptrolle dar und das zweite Standbild eine Situation mit dem faulen Mädchen (Pechmarie) in der Hauptrolle. In jeder Gruppe gibt es eine Erzählerin / einen Erzähler und zwei oder drei Darstellende. Die Darstellenden dürfen (müssen aber nicht) etwas sagen oder ein Geräusch 388 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="390"?> machen. Jede Gruppe erhält als Grundlage für ihre Standbilder jeweils andere Auszüge aus dem Märchen (siehe Abb. 19.3). Überlegt euch zunächst, wer welche Rolle(n) übernimmt und erarbeitet dann gemeinsam die beiden Standbilder und die dazugehörigen Erzähltexte. Übt dann in eurer Gruppe mindestens dreimal euren Auftritt. Für die Aufgabe habt ihr insgesamt 20 Minuten Zeit. Zwei Situationen (→ Standbilder) am Apfelbaum Gleich für beide: Das Mädchen kam zu einem Baum. Der hing voll mit Äpfeln und rief: "Ach, schüttel mich, schüttel mich, die Äpfel sind alle längst reif, ich kann sie nicht mehr tragen, sie sind so schwer." Goldmarie Pechmarie Das Mädchen schüttelte den Baum so kräftig und so lange, bis alle Äpfel am Boden lagen. Die Äpfel legte sie dann ordentlich zusammen auf einen Haufen. Das Mädchen antwortete: "Ich habe Wichti‐ geres zu tun. Ich kann dir nicht helfen. Und ich will auch nicht, dass mir ein Apfel auf den Kopf fällt.“ Abb. 19.3: Beispiel einer Situationskarte für zwei Standbilder (weitere Karten siehe Z-027) Das Märchen „Frau Holle“ bietet zur Kontrastierung der Charaktere anhand unter‐ schiedlicher Verhaltensweisen (mindestens) 2 x 7 Situationen: Zu Hause bei der (Stief-)Mutter, am Brunnen, am Apfelbaum, am Backofen, bei Frau Holle, unter dem Tor, zurück zu Hause. Ohne Vorgabe sprachlicher Mittel (siehe Unterkapitel 19.2) erarbeitet jede Gruppe ihre zwei Standbilder. Je nach Sprachstand kann in der Gruppe ein eigener Erzähltext entwickelt werden oder die Textvorlage wird (in Auszügen) frei oder auch ablesend vorgetragen. Gleiches gilt für die Äußerungen der Darstellenden. (4) PRÄSENTATION Jede Gruppe präsentiert ihre zwei Standbilder zweimal. Während die Darstellenden ein Standbild aufbauen, schließt das Publikum die Augen. Die Lehrkraft oder der/ die Erzähler: in gibt hierfür das Kommando „Augen zu! “ Ist das Standbild erstellt, folgt das Kommando „Augen auf! “. In der ersten Runde wird auf Seiten des präsentierenden Teams nicht gesprochen. Denn zunächst sollen sich die Zuschauenden äußern - erst beschreibend und dann interpretierend. Die Lehrkraft moderiert die Sprachhandlungen des Beschreibens und Interpretierens und stellt hierfür die sprachlichen Mittel bereit (siehe 19.2, Tab. 19.5). Ob die Zuschauenden mit ihrer Interpretation richtig liegen, erfahren sie in der sich unmittelbar anschließenden zweiten Runde der Standbildprä‐ 389 19 Inszenierungstechniken und ihre sprachförderlichen Potenziale: Statue und Standbild <?page no="391"?> 10 Um abschließend noch einmal einen Bezug zu Augusto Boal und seinem Statuentheater (siehe Anfang dieses Kapitels) herzustellen und gleichzeitig auch Anregungen für die Reflexion und Weiterarbeit mit fortgeschrittenen Lernenden zu geben, sei auf das Potenzial der Gegenüberstellung zweier Verhaltensweisen in der gleichen Situation hingewiesen. Bezugnehmend auf Boals Bildtheater ließe sich von Realbild (Pechmarie) und Wunschbild (Goldmarie) sprechen und mithilfe des Publikums eine Transformation (wie kommt man vom Realbild zum Wunschbild) erarbeiten. Ferner könnte man Diskussionen dazu anregen, ob und inwiefern Goldmaries und Pechmaries Verhalten ein Spiegel unserer Gesellschaft sind und warum es oft so schwer fällt, hilfsbereit zu sein, ohne eine Gegenleistung oder eine Belohnung zu empfangen. sentation, in der nun auch die Sprache zum Einsatz kommen darf. Nachdem alle (sieben) Gruppen präsentiert haben, folgt die Reflexion (siehe oben). 10 Wenn es die Konzentration in der Klasse erlaubt, kann ein gemeinsamer theatraler Abschluss darin bestehen, das Märchen anhand der insgesamt 14 Standbilder noch einmal in seiner Chronologie darzustellen. Hierfür würden dann zuerst die Standbilder mit Goldmarie in der Hauptrolle zu sehen sein und dann die mit Pechmarie. Jede Gruppe müsste also auf zwei Einsätze in der Märchenabfolge achten und dürfte im Gesamtarrangement zweimal auf die Bühne kommen. Aufgaben 1.* Nennen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Inszenierungstechniken Statue und Standbild. 2.* Wie lassen sich die beiden Techniken gezielt zur Sprachbildung / Sprachförde‐ rung einsetzen? 3.** Wählen Sie eine der Beispielstunden und überlegen Sie für eine weitere Doppel‐ stunde, wie eine Fortführung der dramapädagogischen Arbeit aussehen könnte. (Ideen für eine Weiterarbeit finden Sie in 19.1, Tab. 19.3). 4.** Wählen Sie ein anderes Märchen und konzipieren Sie eine dramapädagogische Doppelstunde, in der eine der beiden Inszenierungstechniken (Statue oder Standbild) Anwendung findet. 5.*** Verschaffen Sie sich in Boal (2013: 269-322) einen Überblick über die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten des Bildertheaters von Boal und finden Sie darin weitere Anregungen für Ihre dramapädagogische Arbeit. Download: Stundenverlaufsplan 390 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="392"?> 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle Doreen Bryant Im Folgenden werden zwei dramagrammatische Phasenmodelle vorgestellt: das Original und eine Abwandlung. Das Original, dargestellt in 20.1, stammt von Even und wurde für den DaF-Unterricht an der Universität entwickelt. Die Zielgruppe sind also erwachsene Akademiker: innen. Die modifizierte Version von Bryant, der sich die anschließenden Unterkapitel widmen, richtet sich an Schüler: innen mit DaZ und/ oder Sprachförderbedarf. 20.1 Das dramagrammatische Phasenmodell für erwachsene DaF-Lernende Als Grundlage dient Even (2003) das dramapädagogische Unterrichtsphasenmodell von Schewe (1993) mit den Phasen Sensibilisierung, Kontextualisierung und Intensivierung. Sie erweitert dieses Modell um die strukturfokussierende Einordnungsphase und legt zudem einen besonderen Wert auf die Präsentation und Reflexion (auch zu den verwendeten sprachlichen Mitteln) am Ende einer Einheit. (1) SENSIBILISIERUNGSPHASE Die Teilnehmenden werden an bestimmte grammatische Strukturen herangeführt, indem zunächst ein persönlicher Anhaltspunkt gefunden wird, der das Bedürfnis bzw. die Notwendigkeit sich zu äußern, hervorruft (Even 2003: 174). (2) KONTEXTUALISIERUNGSPHASE Der vorangegangene Impuls wird aufgegriffen und in einen größeren Zusammenhang gestellt. Es werden (mit Improvisationen) weitere inhaltliche Kontexte für die Ziel‐ strukturen erarbeitet (ebd.: 174). (3) EINORDNUNGSPHASE Nachdem die Teilnehmenden auf bestimmte Grammatikphänomene aufmerksam ge‐ worden sind und diese bereits in kontextuellen Zusammenhängen erlebt haben, wird nun im dramatischen Prozess innegehalten, um bewusstes Nachdenken über diese Phänomene anzuregen (ebd.: 174). Kollaborative Regelfindung und Systemerarbeitung sind dem Lehrvortrag dabei übergeordnet (ebd.: 174 f). (4) INTENSIVIERUNGSPHASE Der dramatische Faden wird wieder aufgenommen. Die Teilnehmenden, die inzwischen die Möglichkeit gehabt haben, unvertrautes und bisher undurchschautes Material konzeptuell einzuordnen, kehren zum dramatischen Schaffensprozess zurück. Die nun folgenden Aktivitäten schließen sich thematisch an die Kontextualisierungsphase an (ebd.: 175). Die Lernenden entwerfen längere, zusammenhängende dramatische Situationen, in denen die zuvor besprochenen Strukturen eine zentrale Rolle spielen (Even 2011: 71). 391 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="393"?> 1 Dieser Themenbereich wurde ausgewählt, weil auch in der Beispielstunde des modifizierten drama‐ grammatischen Phasenmodells (siehe Kapitel 20.4) Konditionalsätze die Zielstruktur darstellen und so die Unterschiede der beiden Modelle deutlicher sichtbar werden. 2 Evens Entwürfe enthalten zusätzlich ausführliche didaktische Kommentare und die nötigen Requi‐ siten, aber keine Zeitangaben. 3 Lehrkraft (L) und Teilnehmer: in (Tn) (5) PRÄSENTATIONSPHASE / REFLEXIONSPHASE Die Endprodukte werden vor den anderen Teilnehmenden gezeigt. Damit ist keine Theateraufführung im herkömmlichen Sinne gemeint; der Klassenraum ist die Bühne und die Lernenden sind füreinander Publikum und Kritiker. Die Eindrücke und Erfah‐ rungen der Akteur: innen und Zuschauer: innen sind Thema der Reflexionsphase, in der Feedback ausgetauscht wird und methodische und sprachliche Probleme besprochen werden (ebd.: 71). Es müssen nicht immer alle Phasen durchlaufen werden. Auch kann es bei den mittleren Phasen aus didaktischen Gründen zu einer veränderten Abfolge kommen. Um den Lesenden eine erste Vorstellung von der dramagrammatischen Arbeit mit DaF-Studierenden zu geben, seien zwei Stundenkomplexe aus Even (2003) ausgewählt. Sie stammen aus einer Unterrichtseinheit zum Konjunktiv II, die in fünf Teilen die folgenden Kernverwendungsbereiche bearbeitet: Höflichkeit, Hypothetische Verglei‐ che, Konditionalsätze, irreale Wünsche, Nichtwirklichkeit (Even 2003: 265-291). Der den Themenauftakt bildende Bereich Höflichkeit wird in vier Phasen in der Abfolge (1) Sensibilisierungsphase, (2) Einordnungsphase, (3) Kontextualisierungsphase, (4) Präsentation behandelt (ebd.: 268-271). Beim zweiten ausgewählten Bereich der Kon‐ ditionalsätze 1 verzichtet Even auf die Sensibilisierungsphase, hält aber in Bezug auf die vier anderen Phasen an dem typischen, oben skizzierten Verlauf fest (ebd.: 272-276). Bei den folgenden tabellarischen Darstellungen handelt es sich um aus den Unterrichtsentwürfen wörtlich übernommene Unterrichtsschritte der einzelnen Phasen. 2 Höflichkeit (1) SENSIBILISIERUNGSPHASE a.) L und Tn 3 sitzen im Kreis. L zeigt den Tn ein Tuch und kündigt an, dass das Tuch auf möglichst unterschiedliche Weisen im Kreis herumgereicht werden soll. L beginnt z. B. damit, das Tuch mit äußerster Vorsicht in den zu einer Schale geformten Händen an einen anderen Tn weiterzugeben und fordert diesen auf, nun seinerseits das Tuch auf eine spezielle Art und Weise weiterzureichen. b.) Tn beobachten L und das Tuch. Der erste Tn nimmt das Tuch auf die gleiche vorsichtige Art und Weise entgegen, wie es überreicht wurde, und gibt es ganz anders weiter (z. B. zuwerfen, über den Boden schleifen, es um jemanden drapieren usw.). Alle Tn verfolgen die wechselnden Arten der Weitergabe, denken sich eigene aus und setzen sie um. 392 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="394"?> a.) L fordert Tn auf, die Übung zu wiederholen und dieses Mal die Übergabe des Tuchs mit einer Aufforderung zu verbinden (z. B. „Kannst du das festhalten? ", „Hier! " oder „Pass bitte darauf auf, ja? " usw.). b.) Tn reichen das Tuch auf verschiedene Weisen weiter und sprechen dabei passende Aufforderungen aus. a.) L fordert Tn auf, die Übergabe des Tuchs mit einer sehr höflichen Bitte zu verbinden (z. B. „Könntest du mir das abnehmen? ", „Wärst du so nett, darauf aufzupassen? " usw.). b.) Tn reichen das Tuch auf verschiedene Weisen weiter und sprechen dabei höfliche Bitten aus, wobei sie Gestik und Mimik dem veränderten Modus anpassen. (2) EINORDNUNGSPHASE a.) L breitet einen großen Papierbogen auf dem Boden aus und bittet Tn, darauf alle Höflichkeitsformulierungen zu sammeln, die ihnen einfallen. b.) Tn setzen sich auf den Boden, schreiben Höflichkeitsformulierungen kreuz und quer auf den Papierbogen. a.) L hängt den vollgeschriebenen Papierbogen an die Wand. b.) Tn betrachten den Papierbogen, lesen, beraten sich untereinander, korrigieren eventu‐ ell, stellen Fragen usw. a.) L fordert die Tn auf, in Dreiergruppen alle Konjunktiv II-Formen zu identifizieren und Regeln für ihre Bildung zu formulieren. b.) Tn-Gruppen schreiben Konjunktiv-Formen auf, sortieren sie in Gruppen, leiten Infi‐ nitive ab, unterhalten sich über die Unterschiede zwischen starken und schwachen Verben, den Gebrauch von würde usw. a.) L fordert die Tn auf, die Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit vorzustellen und gibt, wo nötig, Hilfestellung. b.) Tn berichten von ihren Ergebnissen. Dabei steuert jede Gruppe Details bei, sodass ein möglichst vollständiges Bild der Formen des Konjunktiv II entsteht. a.) L fasst die Ergebnisse zusammen. An dieser Stelle ist es wichtig, darauf zu verweisen, dass bei den meisten Verben die würde-Form benutzt wird, bei sein, haben und den Modalverben jedoch die starken Formen überwiegen. b.) Tn hören zu, machen sich Notizen, stellen Rückfragen usw. (3) KONTEXTUALISIERUNGSPHASE a.) L fordert die Tn auf, sich in Dreiergruppen zusammenzufinden und lässt jede Gruppe drei Karten ziehen. Auf jeder Karte steht ein Befehl, z. B.: Kommen Sie sofort her! Erklären Sie mir das! Mach das bis morgen fertig! Raus! Ruhe! usw. b.) Tn ziehen jeweils eine Karte, zeigen sie den anderen in ihrer Gruppe, tuscheln usw. 393 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="395"?> a.) L fordert die Gruppen auf, die Befehle in eine höflichere Form zu bringen, wobei nicht nur die Wörter, sondern auch der Ton die Musik machen. Mehrere Höflichkeits‐ abstufungen sind wünschenswert, z. B.: Kommen Sie mal her! Würden Sie bitte mal herkommen? Wären Sie so freundlich und würden Sie zu mir herüberkommen? b.) In ihren Gruppen verständigen sich die Tn über verschiedene Möglichkeiten, die Befehle in höflichere Aufforderungen zu verwandeln, und probieren sie sprechend aus. a.) L fordert die Tn auf, sich eine kurze Situation zu überlegen, in der die unterschiedlichen Befehle und ihre Verhöflichungen vorkommen könnten. b.) Tn sitzen/ stehen zusammen, tauschen Ideen aus und einigen sich schließlich auf eine Situation. a.) L informiert die Tn, dass sie ihre Situation als dramatische Szene vorspielen sollen, die den anderen Gruppen die Abstufungen von Befehl zu höflicher Aufforderung verdeutlicht. b.) Die Tn verteilen Rollen, entscheiden über den Szenenverlauf, proben, experimentieren mit Gestik und Mimik, einigen sich auf Requisiten und Raumnutzung, stellen Fragen usw. (4) PRÄSENTATION a.) L fordert die Gruppen auf, ihre Szene den anderen vorzuspielen. b.) Die einzelnen Gruppen präsentieren ihre Szene. Die Zuschauenden beobachten ge‐ spannt, lachen, applaudieren, fragen nach usw. Konditionalsätze (1) KONTEXTUALISIERUNGSPHASE a.) L hängt einen großen Papierbogen mit dem Gedicht ,Bedingungsformen‘ von Jürgen Henningsen (1974) an die Wand: Bedingungsformen Ich sage Ich würde sagen Ich hätte gesagt Aber man hat Frau und Kinder. b.) Tn lesen die Zeilen […]. a.) L fordert Tn auf, sich in Vierergruppen zu überlegen, in welchen Kontexten diese Sätze gesprochen werden könnten bzw. gesprochen worden sind. b.) Tn formen Vierergruppen, setzen sich zusammen, betrachten die Zeilen, tauschen Ideen aus, diskutieren, machen sich Notizen usw. 394 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="396"?> a.) L fordert die Tn auf, ein Standbild (auch Standbildsequenz möglich) zu erarbeiten, das den dem Gedicht innewohnenden Konflikt veranschaulicht. b.) Tn-Gruppen einigen sich auf einen bestimmten Kontext und entwerfen zusammen ein Standbild/ eine Standbildsequenz. a.) L fordert die Tn auf, ihr Standbild darzustellen, und kündigt zusätzliches thoughttracking an: Während der Präsentation geht L um das Standbild herum und stupst die Personen im Bild nacheinander leicht an, um sie zur Äußerung ihrer Gedanken anzuhalten. b.) Tn begeben sich ins Standbild, halten ihre Position und sagen, wenn sie angestupst worden sind, aus ihrer Rolle als Standbildfigur einen Satz. (2) EINORDNUNGSPHASE a.) L nimmt eine der Standbildpräsentationen als Anlass für die Formulierung von Konditionalsätzen und schreibt sie an die Tafel, z. B.: * Wenn ich einen neuen Job habe, sage ich meinem Chef die Meinung! [Indikativ] * Wenn ich einen neuen Job hätte, sagte ich meinem Chef die Meinung! [Konjunktiv II der Gegenwart] * Wenn ich einen anderen Job gehabt hätte, hätte ich meinem Chef die Meinung gesagt! [Konjunktiv II der Vergangenheit] L weist auf den unterschiedlichen Tempusgebrauch in den Sätzen hin und fordert Tn auf, in Gruppen die inhaltlichen Unterschiede zu benennen. b.) Tn-Gruppen lesen Konditionalsätze, verständigen sich untereinander, formulieren inhaltliche Unterschiede. a.) Im Plenum fordert L die Tn zur Darstellung ihrer Überlegungen auf. Abschließend fasst L die Unterschiede zwischen Indikativ, Konjunktiv II der Gegenwart bzw. der Vergangenheit zusammen. b.) Tn geben ihre Überlegungen bekannt, hören zu, machen sich Notizen, […] stellen Fragen. (3) INTENSIVIERUNGSPHASE a.) L bittet die Tn in einen Stehkreis, geht selbst in die Mitte und beginnt innerhalb des Kreises umherzuschlendern. Während des Herumwanderns gibt L z. B. die folgende Äußerung vor (und gestaltet sie aus): Wenn ich für immer von Zuhause weggehen würde, dann … (ginge ich nach Italien und würde in Bologna leben. Dort würde ich jeden Tag durch die Straßen gehen und die terracottafarbenen Häuser betrachten. Ich kaufte mir einen kleinen Motorroller und würde gut Italienisch sprechen lernen. Ich könnte viel Pizza essen und Rotwein trinken …) Danach geht L aus dem Kreis heraus und stellt sich hinter einen der Tn und fordert ihn damit auf, den leeren Platz in der Mitte einzunehmen und seinerseits zu erzählen. b.) Ein Tn tritt in die Mitte und beginnt ebenfalls umherzuwandern und zu erzählen, was er täte, wenn er für immer von Zuhause wegginge. Die anderen Tn beobachten ihn und hören zu. Der Erzähler tritt dann hinter eine weitere Person, die ihrerseits zum wandernden Erzähler wird usw. 395 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="397"?> a.) L fordert die Tn auf, sich in Partnerarbeit eine Person vorzustellen, die von Zuhause weggehen will. Diese Person soll etwa 20 Jahre alt sein. Die Zweiergruppen sollen eine Kurzbiografie dieser Person entwerfen (Name, Geschlecht, Aussehen, Wohnort, Familie, Ausbildung, Interessen usw.) und entscheiden, aus welchem Grund sie ihr Zuhause für immer verlassen will. b.) In Partnerarbeit erfinden die Tn eine Person und statten sie mit inneren und äußeren Attributen aus. a.) L bittet die Arbeitsgruppe, einen inneren Zeitsprung vorzunehmen und sich vorzustel‐ len, ein Vierteljahrhundert sei nun vergangen. Die Person blickt in die Vergangenheit zurück und sinnt darüber nach, was wohl gewesen wäre, wenn sie vor 25 Jahren ihr Zuhause nicht verlassen hätte. Dabei kann Bedauern, aber auch Zufriedenheit über ehemalige Entscheidungen ausgedrückt werden. b.) Die Tn versetzen sich in die Lage der nun 45-jährigen Person, überlegen sich, ob sie jetzt wohl glücklich ist oder nicht, wie sie auf ihre Jugend zurückblickt, was sie anders gemacht hätte usw. a.) L fordert die Gruppe auf, innere Monologe ihrer Personen schriftlich auszuarbeiten - als 20-Jährige, die ihr Zuhause noch nicht verlassen hat, aber davon träumt, und als 45-Jährige, die diesen Schritt getan hat und nun zurückblickt: * Wenn ich für immer von Zuhause weggehen könnte/ würde, dann … (20-Jährige) * Wenn ich vor 25 Jahren nicht von Zuhause weggegangen wäre, dann … (45-Jährige) b.) Die Zweiergruppen entwerfen innere Monologe für ihre Personen, formulieren, dis‐ kutieren, erkundigen sich nach grammatischen Formen, vergewissern sich über deren Angemessenheit usw. a.) L bittet die Zweiergruppen, äußere Haltungen einzunehmen, die dem inneren Zustand ihrer Personen entsprechen. b.) Die Zweiergruppen probieren unterschiedliche Haltungen aus, äußern ihre Meinun‐ gen, diskutieren, verfeinern, entscheiden. (4) PRÄSENTATION + REFLEXION a.) L kündigt an, dass jede Person im Jetzt und Damals präsentiert werden soll. Die beiden präsentierenden Personen sollen aus ihrem Standbild heraus in den inneren Monolog übergehen. b.) Die Tn verständigen sich über Beginn, Verlauf und Ende der Präsentation. a.) L bittet alle Tn in einen Halbkreis um eine Präsentationsfläche herum und fordert die Zweiergruppen zur Präsentation auf. b.) Die Zweiergruppen betreten nacheinander die ,Bühne‘, nehmen ihre Haltungen ein und gehen davon in die inneren Monologe über. Die beiden ,Ich-Zustände‘ der Person werden entweder chronologisch vorgestellt oder im Wechsel dialogisch präsentiert. Die Zuschauenden beobachten, geben Applaus. a.) L erkundigt sich nach den Eindrücken der Tn von den dramatischen Darbietungen. b.) Die Tn formulieren ihre Eindrücke, stellen Fragen, vergewissern sich über sprachliche Umsetzungen usw. 396 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="398"?> 4 Für die Kinder ist es ein die sprachliche Entwicklung förderndes, die Lust auf Theater und performa‐ tive Ausdrucksformen weckendes Ferienprojekt, für Stadt und Theater ein öffentlichkeitswirksames Integrationsprojekt und für die Universität als Ausbildungsstätte in erster Linie eine Lehr-, Lern- und Forschungsplattform (Bryant 2013). Den Lesenden wird in den dramagrammatischen Einheiten der hohe akademische Anspruch in Bezug auf a. die Zielstrukturen, den sprachlichen Input und die sprachlichen Aufgaben b. die Bereitschaft sich mit grammatischen Formen auseinanderzusetzen c. die Komplexität der kognitiven Anforderungen d. die erwartete Selbständigkeit in der dramapädagogischen Umsetzung aufgefallen sein. Vorausgesetzt wird eine recht hohe Sprachkompetenz, ein Interesse an metasprachlicher Reflexion und eine gewisse Routine im Umgang mit Inszenierungs‐ techniken und deren Ausgestaltungsoptionen. Um die Potenziale der dramagrammatischen Methode auch für andere Zielgruppen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, zu nutzen, bedarf es einiger Modifizierungen. Bevor in Kapitel 20.3 auf die an die Bedarfe von Schüler: innen mit DaZ und/ oder Sprachförderbedarf angepasste Version eingegangen wird, soll in einem kleinen Exkurs (Kap. 20.2) zunächst der Kontext skizziert werden, in dem sich die Möglichkeit bot, das dramagrammatische Modell zu adaptieren. Obgleich im Rahmen eines Ferienthea‐ tercamps entwickelt und vielfach erprobt, lässt sich das modifizierte Modell aber auch in anderen Kontexten anwenden, beispielsweise in einer Vorbereitungsklasse, in der additiven Sprachförderung, in einer Theater-AG oder auch im Deutschunterricht. Die in Kapitel 20.4 präsentierte Beispieleinheit kann (mit geringen Anpassungen) sowohl in einer Vorbereitungsklasse als auch im Deutschunterricht mit einer sprachlich heterogenen Schülerschaft durchgeführt werden. 20.2 Exkurs: Dramapädagogische Sprachförderung im Tübinger Theatercamp Das Tübinger Theatercamp ist ein Kooperationsprojekt der Stadt Tübingen, dem Landestheater und dem Arbeitsbereich Deutsch als Zweitsprache der Uni Tübingen, das von 2011 bis 2015 in den zweiwöchigen Pfingstferien stattfand. 4 Man hatte nach Möglichkeiten gesucht, die unterrichtsfreie Zeit zu nutzen, um Kindern mit DaZ und/ oder mit Sprachförderbedarf ein attraktives Ferienangebot zu machen und sich dabei von den amerikanischen Sommerschulen (siehe Kasten) und vom Jacobs-Sommercamp (siehe Kasten) inspirieren lassen (Batzel, Bohl, Bryant 2013). 397 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="399"?> 5 Für eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse vorliegender Wirksamkeitsstudien für Sommerschulen und einer quantitativen Meta-Analyse siehe Cooper et al. (1996). 6 Durch die Corona-Pandemie, die schichtspezifische Disparitäten verstärkt zu Tage treten ließ, besteht aktuell aufgrund der Leistungsrückstände vieler Schüler: innen sogar eine zwingende Notwendigkeit für kompensatorische Maßnahmen, die (auch) die Schulferien nutzen. Sommerschule Die Idee, die Schulferien gezielt für Förderangebote zu nutzen, stammt aus den USA, wo die Sommerferien mit bis zu drei Monaten besonders lang sind - mit negativen Konsequenzen für Schüler: innen aus bildungsfernen Familien. Mehrere Studien dokumentieren für diese Kinder nach der langen unterrichtsfreien Zeit beachtliche Kompetenzverluste in den Bereichen Lesen, Wortschatz, Mathematik (u. a. Heyns 1978, 1987; Entwisle & Alexander 1992; Cooper et al. 1996). Sozial benachteiligte Kinder sind also besonders angewiesen auf Fördermaßnahmen in der schulfreien Zeit, damit sie Anschluss halten können und sich die Leistungs‐ schere nicht weiter vergrößert. Um den negativen Effekten der Sommerferien auf die Kompetenzentwicklung entgegenzuwirken und insbesondere Schüler: innen mit Leistungsschwächen zu unterstützen, hat sich in den USA das Konzept der Sommerschule etabliert (u. a. Boss & Railsback 2002). 5 Auch in Deutschland findet die Idee der Sommerschule bzw. spezifischer Förder‐ angebote in den Schulferien zunehmend Anklang (u. a. Ballis & Spinner 2008). 6 Ihren Anfang nahm diese Entwicklung 2004 mit dem Jacobs-Sommercamp in Bremen, dem später weitere Sprachcamps (u. a. Mercator Feriencamp in Berlin, Theatersprachcamp in Hamburg, Theatersprachcamp in Tübingen) und andere Ferienprojekte folgten. Jacobs-Sommercamp Eines der ersten evaluierten Projekte zur Förderung von Deutsch als Zweitsprache war das vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung initiierte und in Zusam‐ menarbeit mit der Bremer Schulbehörde 2004 durchgeführte Jacobs-Sommercamp (u. a. Stanat, Baumert & Müller 2005). Eines der Projektziele bestand darin „ein Ferienprogramm zur Förderung deutscher Sprachkompetenzen zu entwickeln, zu implementieren und in seiner Wirksamkeit zu überprüfen. Dabei wird zwischen zwei Ansätzen der Förderung unterschieden: Mit einer handlungsorientierten Komponente wird der Frage nachgegangen, ob durch sprachintensive Aktivitäten implizite Lernprozesse ausgelöst werden, die sich positiv auf die Kompetenzent‐ wicklung im sprachlichen Bereich auswirken („implizite Förderkomponente“). Diese Komponente wird vor allem durch ein theaterpädagogisches Programm operationalisiert […] Die zweite Komponente des Ferienprogramms besteht in Unterricht, der sich an einem sprachsystematischen Ansatz für das Fach Deutsch 398 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="400"?> 7 Hierbei handelt es sich um eine interdisziplinäre Lehrveranstaltung, die sprachdiagnostische und sprachdidaktische sowie theaterpädagogische und sozialpädagogische Inhalte umfasst, vermittelt von jenen vier Lehrkräften, die auch ganztägig im Camp sind, um die Studierenden (der Studiengänge Lehramt Deutsch und BA DaZ) vor Ort bei ihrer Arbeit mit den Kindern zu unterstützen. als Zweitsprache (DaZ) orientiert und explizites Sprachlernen anstrebt (Rösch 2003) („explizite Förderkomponente“)“ (Stanat, Baumert, Müller 2005: 862). Am Camp nahmen 150 Kinder teil - zwei Drittel davon mit Migrationshintergrund. (In der Kontrollgruppe befanden sich 100 Kinder.) Um die Wirksamkeit von impliziter und expliziter Sprachförderung zu überprüfen, teilte man die Kinder des Camps in zwei Gruppen. Für alle Kinder wurde nachmittags eine zweistündige Theater-AG (als implizite Sprachförderung) angeboten. Darüber hinaus erhielt eine der Gruppen am Vormittag expliziten Sprachförderunterricht, während sich die andere Gruppe auch in dieser Zeit mit dem Theaterspiel beschäftigte. Es zeigte sich, dass die Kinder mit expliziter Sprachförderung sowohl in der Grammatik als auch beim Lesen gegenüber den Kindern der Theatergruppe einen deutlich höheren Leistungszuwachs erzielten. Allerdings war der nach dem Camp festgestellte Leistungsvorsprung im sprachstrukturellen Bereich nach drei Monaten nicht mehr signifikant (vgl. Rösch 2007: 288). Auch andere auf die Ferienzeit begrenzte Sprachförderangebote im Theaterkontext sehen sich mit dem Problem der Nachhaltigkeit konfrontiert. Die unmittelbar im Anschluss messbaren Erfolge verflüchtigen sich schon bald im Schulalltag (Kinze 2012: 95). Die Standorte Hamburg (Neumann et al. 2012) und Tübingen (Bryant & Rummel 2015) begegnen dem Nachhaltigkeitsproblem von Theatercamps mit sich hieran anschließenden Theater-AGs. Bezugnehmend auf die Sprachförderung lassen sich für das Tübinger Theatercamp mindestens drei Herausstellungsmerkmale nennen: 1. Einteilung der Gruppen nach Sprachstand zur entwicklungsproximalen Sprach‐ förderung 2. systematischer Auf-/ Ausbau bildungssprachlicher Fähigkeiten 3. inhaltliche Verknüpfung expliziter und impliziter Sprachförderung Nach einem intensiven Vorbereitungsseminar 7 betreuen 18 Studierende 60 bis 66 Kin‐ der der Klassenstufen 2 bis 4 und erarbeiten mit ihnen ein Theaterstück, das am letzten Tag öffentlich aufgeführt wird. Die Kinder sind entsprechend ihres zuvor ermittelten Sprachentwicklungsstandes in sechs relativ homogene Gruppen aufgeteilt und können so optimal in ihrer sprachlichen Entwicklung gefördert werden. Jeweils drei Studierende sind verantwortlich für eine Gruppe von ca. zehn bis zwölf Kindern. Die bereits im Vorfeld überlegte Rahmenhandlung des zu entwickelnden Theaterstücks berücksichtigt die spezifische Camp-Struktur von sechs Gruppen unterschiedlichen Sprachniveaus und beinhaltet dementsprechend sechs sprachlich mehr oder weniger 399 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="401"?> Abb. 20.1: Requisitenbau (hier: der Angeln) in der Gruppe der Fischer: innen mit dem HOSS anspruchsvolle Schlüsselszenen mit jeweils zehn bis zwölf zu besetzenden Rollen. So gab es beispielsweise 2013 im Stück „Die glücklichen Fischer“ (Insa Griesing) folgende sechs Gruppen: Fischer, Handwerker, Drachenfischer, Regierung, Forscher, Reporter. Während die Kinder der Fischer-Gruppe kaum Deutsch sprechen konnten, waren die Kinder der Reporter-Gruppe relativ weit fortgeschritten, obgleich man auch ihnen (im Vergleich zu ihren Mitschüler: innen) Sprachförderbedarf attestieren musste. Die für die erstgenannte sprachschwächste Gruppe verantwortlichen Studierenden erarbeiteten zusammen mit den Kindern Szenen, die das unbeschwerte, glückliche Lebensgefühl der Fischer: innen vermitteln sollten, vgl. Abb. 20.2. Hingegen ging es bei der Gruppe der Reporter: innen um die Inszenierung von Interviews, Reportagen und Nachrichten - sprachlich also ein deutlich anspruchsvolleres Unterfangen (Bryant 2013). Je nach Alter und sprachlichem Entwicklungsstand werden im Camp bestimmte bildungssprachliche Bereiche in der Sprachförderung fokussiert und sukzessive aufge‐ baut. Bei den sprachschwächeren Kindern geht es u. a. um die präzise Verwendung von Lokalisierungsausdrücken, um den Gebrauch von Personalpronomen der dritten Per‐ son (zunächst deiktisch, dann anaphorisch) und um die Versprachlichung temporaler Abfolgen, bei den Kindern der mittleren Sprachstufen wird u. a. an einer Erweiterung des Nebensatzspektrums und des Attributgebrauchs gearbeitet und bei den relativ fortgeschrittenen Kindern steht die Textarbeit (Textsorten, Textaufbau, Textkohäsion, …) im Vordergrund (Bryant 2012b). Der Campalltag gliedert sich in Vor‐ mittags- und Nachmittagsaktivitäten. Am Vormittag führen die Studierenden in ihrer Gruppe eine szenenbezogene dramagrammatische Sprachförderung durch (siehe Kapitel 20.3). Am Nachmit‐ tag wird die Sprache bei verschiedenen theaterbezogenen Tätigkeiten (Schau‐ spiel, Bewegung, Tanz, Gesang) implizit gefördert. Auch haben die Gruppen nachmittags Gelegenheit, an den Kulis‐ sen (u. a. Hütten) zu bauen und an ihren Requisiten und Kostümen zu arbeiten, wobei insbesondere bei den Kindern mit geringen Deutschkenntnissen auf eine handlungsbegleitende Sprache geachtet wird. So wird bei ihnen beispielsweise zum Requisitenbau die HOSS-Methode (siehe Kapitel 15) eingesetzt (Abb. 20.1). Inhaltlich werden Vor- und Nachmittagsaktivitäten zusammengehalten durch das übergeordnete Ziel der Entwicklung und Aufführung eines Theaterstücks. Unterstützt durch szenenbasierte Gruppennamen (Fischer, Forscher, Reporter, …), eine szenenge‐ rechte Gruppenraumausgestaltung (siehe Abb. 20.2) sowie durch Gruppenrituale und 400 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="402"?> -kleidung wird zum einen die Gruppenidentität und die Identifikation mit der Szene und den Charakteren gefördert und zum anderen eine Brücke zwischen Vormittags- und Nachmittagsaktivitäten geschlagen (Bryant 2012b: 33 f). Die inhaltliche Verknüpfung von expliziter und impliziter Sprachförderung, von Vormittags- und Nachmittagsaktivitäten ist eines der zentralen Unterscheidungsmerk‐ male zu anderen Camps (z. B. Jacobs Camp). Im Tübinger Camp behalten die Kinder ihre szenenbasierten Identitäten nicht nur über den gesamten Tagesverlauf bei, sondern über den gesamten Campzeitraum und bringen sich mit den verinnerlichten Gruppen‐ rollen in die Gestaltung des Theaterstücks ein. Es gibt keine zentral vorgegebenen Texte zum Auswendiglernen. Was gelernt und inszeniert wird, entwickeln die Kinder mit sprachdidaktischer und theaterpädagogischer Unterstützung selbst. Die vormittägli‐ chen Workshops nutzen die Szenenarbeit, um im Rahmen des dramagrammatischen Phasenmodells sprachliche Strukturen ins Bewusstsein zu rücken und mit Hilfe ausgewählter Inszenierungsformen/ -techniken anzuwenden. Abb. 20.2: Inhaltliche Verknüpfung von expliziter und impliziter Sprachförderung im Tübinger Theater‐ camp, Gruppe der Fischer: innen 401 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="403"?> 20.3 Das dramagrammatische Phasenmodell für Schüler: innen mit DaZ Für die dramapädagogische Spracharbeit im Theatercamp für Schüler: innen mit DaZ und/ oder Sprachförderbedarf orientierte sich Bryant (2012b) am dramagrammatischen Phasenmodell von Even (2003) und passte es in verschiedener Hinsicht an die Bedarfe der Zielgruppe an. So wird in der adaptierten Version stärker auf korrekten Input und Output geachtet und daher eher mit gelenkten Inszenierungsformen (siehe Abb. 18.1) gearbeitet. Dies ist darin begründet, dass Deutsch für die Zielgruppe die Umgebungs‐ sprache ist und die Schüler: innen daher reichlich Gelegenheit haben, Deutsch zu spre‐ chen und mit ihren deutschsprachlichen Möglichkeiten zu improvisieren. Einheiten zur Sprachförderung müssen daher nicht notwendigerweise Improvisationen für den authentischen Sprachgebrauch in den Mittelpunkt stellen. Vielmehr sollte ergänzend zu den zahlreichen ungesteuerten Erwerbssituationen die korrekte Sprachverwendung und der Aufbau des bildungssprachlichen Registers in den Fokus rücken. Die Situation des ungesteuerten Erwerbs kann zum einen dazu führen, dass im Sprachgebrauch Ver‐ einfachungs- oder Vermeidungsstrategien entwickelt werden, die den Erwerb komple‐ xerer Strukturen verhindern. Zum anderen können sich (unbemerkt, weil unkorrigiert) fehlerhafte Sprachmuster einschleifen. Das modifizierte dramagrammatische Modell versucht hier als Korrektiv zu wirken: Es wird eingesetzt, um systematisch komplexe (bildungssprachliche) Strukturen aufzubauen und um Fossilisierungen (z. B. in den Bereichen der Nominalflexion oder in der Domäne der Raumausdrücke) aufzubrechen. Evens Modell ist zugeschnitten auf erwachsene Deutschlernende in akademischer Ausbildung. Bei dieser Zielgruppe kann eine hohe Selbstmotivation und eine grund‐ sätzliche Bereitschaft, den didaktischen Pfaden der Lehrkraft zu folgen, vorausgesetzt werden. Das kann nicht ohne Weiteres von der sprachlich sehr heterogenen Schüler‐ schaft mit DaZ und/ oder mit bildungsfernem Elternhaus erwartet werden. Darunter sind auch einige Schüler: innen, die bereits große Frustrationen gegenüber allem Schulischen aufgebaut haben und die neben (bildungs-)sprachlichen Schwierigkeiten eventuell auch Konzentrationsschwächen und Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Das Lehrangebot muss daher besonders attraktiv sein und darf nicht überfordern. Um sprachlich ein Stück über sich hinauszuwachsen, müssen sich die Schüler: innen zu‐ nächst einmal sprachlich sicher fühlen. Aus diesem Gefühl der Sicherheit heraus, lassen sie sich dann auch auf einen theatralischen Sprachgebrach ein und sind dabei auch bereit sprachlich Neues auszuprobieren - vorausgesetzt die kommunikative Aufgabe ist gut motiviert. Das modifizierte dramagrammatische Phasenmodell sieht daher eine eigene Motivationsphase vor. Insgesamt umfasst das Modell fünf Phasen, wobei nicht immer alle Phasen durchlaufen werden müssen. Oftmals arbeitet man über mehrere Einheiten an einem Thema, sodass beispielsweise eine Motivationsphase und/ oder eine Strukturvermittlungs-/ Strukturreflexionsphase für eine gesamte Sequenz von drei bis fünf Fördereinheiten ausreichen kann. 402 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="404"?> (1) AUFWÄRMPHASE Eine Aufwärmphase besteht in der Regel aus einer Sequenz von Aktivitäten - oftmals beginnend mit einem Bewegungsspiel in nonverbaler Variation, in das in den Folge‐ runden kleine sprachliche Elemente (Laute, Lautverbindungen, Ausrufe, Wörter oder kurze Sätze) integriert werden können (siehe Klatschkreis). Diese Einstiegsübungen helfen dabei anzukommen und sich auf eine performative Unterrichtseinheit einzu‐ stellen, Hemmungen abzulegen und Vertrauen in sich und in die Gruppe aufzubauen. Klatschkreis - Eine energetische Aufwärmübung mit Variationspotenzial Eine beliebte Einstiegsübung, die in keinem Methodenkoffer fehlen darf, ist der Klatschkreis - ein Spiel, das die Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit fördert und durch den gemeinsam erlebten Spielfluss mit spontan initiierten Un‐ terbrechungen ein positives Gefühl von Zusammengehörigkeit und gegenseitiger Toleranz erzeugt. Alle stehen im Kreis. Die Lehrkraft wendet sich nach links, schaut der nebenste‐ henden Person in die Augen und klatscht in die Hände. Diese dreht sich daraufhin nach links und gibt das Klatschen im Uhrzeigersinn weiter. Will jemand das Klatschen nicht in die vorgegebene Richtung weitergeben, macht er / sie eine Abwehrhaltung, dreht sich geschwind zur anderen Seite und gibt das Klatschen nun nach rechts weiter bis sich erneut jemand gestisch gegen die Weitergabe stellt und den Klatschimpuls in die entgegengesetzte Richtung lenkt. Hat man sich mit diesen zwei Optionen (Richtung beibehalten vs. Richtung ändern) eingespielt, kommt eine dritte Option hinzu. Die angeklatschte Person kann nun das Klatschen wie gehabt nach links oder nach rechts weitergeben und zusätzlich auch schräg durch den Kreis (nach Blickkontaktaufnahme) mit nach vorn ausgestrecktem Arm zu einer der gegenüberstehenden Personen. Sprachlich ließen sich die drei Entscheidungsmöglichkeiten begleiten durch z. B. „rechts“, „links“, „Mitte“ oder „Ja! “, „Nein! “, „Vielleicht? “ oder anderer zum Thema der Unterrichtseinheit passenden Elementen (siehe z. B. die dramagrammatische Einheit in Kapitel 20.4). Die sich anschließenden Aktivitäten der Aufwärmphase dienen schon einer ersten Verankerung der zielsprachlichen Strukturen. Es wird - anders als bei Even - sehr genau auf einen korrekten Input und Output der Zielstrukturen geachtet. Es ist in dieser Phase nicht erforderlich, dass die Schüler: innen die Zielstrukturen bereits selbst produzieren. Wenn ihnen Zielstrukturen entlockt werden, dann sollte sichergestellt werden, dass diese in korrekter Form verwendet werden, um eine stabile Verankerung der phonologischen Repräsentation zu ermöglichen. Wodurch lässt sich eine korrekte Sprachproduktion begünstigen? Z. B. durch vielfache Wiederholung der Struktur im zuvor rezipierten Input, durch Nachsprechen, durch eine der Elizitierung unmittelbar vorausgehende Alternativfrage mit beinhaltenden Zielstrukturen, durch eine Auswahl 403 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="405"?> aus bereitgestellten Sprachbausteinen oder auch durch vorzulesende Konstruktionen (siehe die Beispieleinheit in 20.4). Insbesondere Rotationsspiele (siehe Abb. 20.3) erlauben es, sprachliche Konstruktio‐ nen kontrolliert in hoher Frequenz zu üben, was sich begünstigend auf den Erwerbs‐ prozess auswirkt und den Schüler: innen erfahrungsgemäß großen Spaß macht, weil sie durch klare Vorgaben sprachliche Sicherheit erfahren und somit Kapazitäten bleiben, ihren Äußerungen eine emotional theatralische Farbe zu geben, was sich wiederum positiv auf die mentale Verankerung der Zielstrukturen auswirkt. Inhaltlich haben die Sprachspiele bereits einen Bezug zum übergeordneten Thema der Einheit. Für die indirekte Rede (= Zielstruk‐ tur der dramagrammatischen Ein‐ heit) werden redeeinleitende Verben (sagen, erklären, berichten, betonen, …) benötigt und diese verlangen einen Objektsatz. Der eingeleitete Komplementsatz (Nebensatz mit dass) ist daher Gegenstand der Auf‐ wärmphase. Er wird mit den Wahr‐ nehmungsverben hören und sehen eingeübt. Die Inhalte der Sätze haben einen Bezug zum Theaterstück und sind den Kindern bereits vertraut. Die Kinder stehen im Kreis und sind angehalten die vorgegebene Struktur (z. B. Ich habe gehört, dass der Krug gestohlen wurde.) mit emotionaler Steige‐ rung zu wiederholen. In einem nächsten Durchgang sollen sie den vorgegebenen Satz emotional anders ausgestalten als das Kind davor - z. B. wütend und dabei kräftig mit dem Fuß stampfend, ängstlich und sich dabei nervös umschauend usw. In einem dritten Durchgang variieren die Kinder Ich habe gehört, dass …. und Ich habe gesehen, dass … mit einer begleitenden auf Ohren bzw. Augen referierenden Geste. Abb. 20.3: Beispiel einer Aufwärmphase mit Rotationsspiel (Bryant 2012b: 41) (2) MOTIVATIONSPHASE Die Schüler: innen erhalten eine sie begeisternde Aufgabe (z. B. eine wichtige Entschei‐ dung zu treffen oder einen Konflikt zu lösen), die sie unbedingt erfüllen wollen und dafür auch bereit sind, ihr sprachliches Repertoire zu erweitern und sich auf die folgende strukturfokussierende Phase einzulassen, die das sprachliche Rüstzeug für die sich anschließende Inszenierung liefert. Die Aufgabe kann auch von einer fiktiven, respektvollen und/ oder geheimnisvollen Person kommen, ohne dass diese dabei in Erscheinung tritt. In diesem Fall wird die Aufgabe auditiv (siehe Abb. 20.4) oder schriftlich (siehe den Kasten und Abb. 20.5) übermittelt. 404 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="406"?> Das Telefon klingelt plötzlich. Die Chefredakteurin des Schwäbischen Tagblatts ist am Apparat und berichtet aufgeregt, dass ihre Reporter: innen alle im Einsatz seien und sie nun händeringend Reporter: innen sucht für die in einer Stunde stattfindende Gerichtsverhand‐ lung. Die Kinder (spielen mit und) signalisieren großes Interesse, den Job zu übernehmen. Die Lehrkraft be‐ stärkt die Kinder, macht gleichzeitig aber auch deutlich, dass hierfür eine Vorbereitung notwendig sei. Sie bietet an, den Kindern zu zeigen, wie ein: e Reporter: in Bericht erstattet. (Gebraucht wird die sogenannte indirekte Rede.) Abb. 20.4: Beispiel einer Motivationsphase (Bryant 2012b: 41) Die Lust am Lesen und Schreiben wecken bzw. wiederbeleben Aufgrund schlechter Schulerfahrungen im Umgang mit ihren Lese- und Schreib‐ leistungen entwickeln nicht wenige Kinder eine Abwehrhaltung gegenüber dem Medium Schrift. Wie wir im Rahmen von Theatercamps und Theater-AGs feststel‐ len konnten, lässt sich in einem performativen Kontext mit (ritualisierten) Rollenübernahmen und einem damit verknüpften (ritualisierten) Emp‐ fangen und Verschicken von Botschaften die Lust am Lesen und Schreiben we‐ cken bzw. wiederbeleben. Die Rolle einer fiktiven Person (sei es beispielsweise ein Meisterdetektiv, eine Fernsehintendantin, eine Expeditionsleiterin, ein Laborleiter oder ein Regierungsoberhaupt), die mit den Schüler: innen in ihren jeweiligen Rol‐ len (ob als Detektiv: innen, Journalist: innen, Forscher: innen oder Minister: innen) schriftlich interagiert (ohne sich jemals zu zeigen), kann darüber hinaus genutzt werden, um den Schüler: innen Aufträge anzuvertrauen, die dann als Motivation für dramagrammatische Einheiten dienen können. Die Schüler: innen lassen sich, wohlwissend es handelt sich um eine Phantasiewelt, gern und ausdauernd auf diese ein. Wichtig ist, dass die Lehrkraft selbst Spaß daran hat, die Illusion aufzubauen und in doppelter Funktion zu agieren: Zum einen initiiert und lenkt die Lehrkraft aus dem Verborgenen heraus in der Rolle der fiktiven Person die schriftliche Kommunikation, zum anderen zeigt sie sich ebenso erfreut und überrascht wie die Schüler: innen über die eingegangenen Botschaften, begibt sich damit auf die gleiche Ebene und unterstützt (als Partner: in) die Schüler: innen beim Erfüllen ihrer Aufträge (siehe „teacher in role“ in Kapitel 18). 405 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="407"?> Der Präsident des Camp-Landes steht mit seinen Regierungsmitglie‐ dern in ständigem Austausch. Kom‐ muniziert wird über die Blitzpost, mit der der Präsident auch seine Aufträge übermittelt und kleine Be‐ richte von seinen Minister: innen empfängt. Abb. 20.5: Beispiel für Schriftverkehr mit einer fiktiven Person - auf dem Foto zu sehen: drei Minis‐ ter: innen der Camp-Regierung mit gerade empfangener Botschaft vom Präsidenten im Blitzpostrohr (3) STRUKTURVERMITTLUNGS- / STRUKTURREFLEXIONSPHASE Idealerweise erarbeiten sich die Schüler: innen anhand eines speziell aufbereiteten Ma‐ terials selbst die Zielstrukturen und reflektieren diese im Anschluss mit der Lehrkraft. Zum Beispiel könnten morphologische Kontraste oder syntaktische Stellungsvarianten sichtbar werden und zum Nachdenken über die Formunterschiede anregen. (Welcher Form kommt welche Bedeutung/ Funktion zu? ) Die Ergebnisse werden schriftlich (z. B. auf einem Plakat) festgehalten. Abb. 20.6: Schüler: innen beim Erstellen von Plakaten mit den Zielstrukturen (4) STRUKTURANWENDUNGSPHASE / INSZENIERUNG Dank der gemeinsam erarbeiteten und schriftlich fixierten, im Raum ausgelegten oder aufgehängten Hilfsstrukturen und Regeln sind die Schüler: innen nun in der Lage die im Rahmen der Motivationsphase gestellte kommunikative Aufgabe zu erfüllen. Je nach inhaltlichem Thema wird in Abhängigkeit des Sprachstandes der Kinder und 406 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="408"?> 8 Die vollständigen Einheiten können online nachgelesen werden in Bryant (2012) und Bryant & Rummel (2015). unter Berücksichtigung ihrer Erfahrungen mit dem dramapädagogischen Ansatz eine passende Inszenierungsform und Inszenierungstechnik ausgewählt, um die Strukturen nun anzuwenden. Idealerweise wird die Großgruppe in zwei Kleingruppen geteilt. (In Abhängigkeit des Alters, der Erfahrungen mit Gruppenarbeit und der allgemeinen Disziplin kann hierfür eine weitere Lehrkraft oder eine Praktikantin notwendig sein.) Die Aussicht auf eine kleine Präsentation setzt bei den Kindern enorme motivationale Kräfte frei, was sich wiederum positiv auf die Kreativität und Konzentrationsfähigkeit auswirkt. Die Minister: innen haben vom Präsidenten mit der Blitzpost den Auftrag erhalten, sich mit ihren je‐ weiligen Verantwortungsbereichen dem Volk vorzu‐ stellen. Die hierzu passenden Strukturen (Relativ‐ sätze) waren Gegenstand der Aufwärmphase und der Strukturvermittlungs-/ Strukturreflexionsphase. In der Strukturanwendungsphase planen die Minis‐ ter: innen nun ihre Präsentation und üben ihre indi‐ viduellen Auftritte am Rednerpult. Eine am Rednerpult inszenierte Vorstellung: Guten Tag, meine Damen und Herren. … Mein Name ist Georgio. Ich bin der Minister, der für die Landwirtschaft zuständig ist. … Abb. 20.7: Beispiel einer Strukturanwendungsphase / Inszenierung (nach Bryant & Rummel 2015) (5) PRÄSENTATIONSPHASE / REFLEXIONSPHASE Die Ergebnisse werden präsentiert und von den Akteur: innen selbst sowie von den Zuschauenden hinsichtlich vorgegebener Kriterien reflektiert. Es wird darauf geach‐ tet, dass hierbei neben umgangssprachlichen auch bestimmte bildungssprachliche Antwortmuster gebraucht werden. Zur Unterstützung liegen je nach Aufgabenstellung Satzbausteine aus, die bei Bedarf genutzt werden können: Besonders gut gefallen hat mir … / Besonders beeindruckt hat mich … / Besonders beeindruckend fand ich … Nach dieser kurzen Einführung in das modifizierte dramagrammatische Phasenmodell anhand von Beispielsequenzen aus dem Theatercamp, 8 sei für die nun folgende im Detail ausgeführte Doppelstunde ein allen Lesenden bekanntes Thema zugrunde gelegt, und zwar das Märchen „Hans im Glück“. 407 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="409"?> 9 Interaktives Hör-Lese-Kino: Zur Projektion von Screenshots aus dem Märchentrickfilm (zu finden auf YouTube) lesen die Lehrkraft und die Schüler: innen mit verteilten Rollen (Erzähler, Hans, Müllermeister, Reiter, Bäuerin) und gemeinsam zu artikulierenden Ausrufen (z. B. für Freude, Anstrengung, Überraschung) und Geräuschen (z. B. Galoppieren und Wiehern eines Pferdes, Kna‐ cken eines Stockes, Muhen einer Kuh) aus einem dem Sprachstand der Lernenden angemessenen, drehbuchartigen Skript. Mit dem interaktiven Hör-Lese-Kino wird zum einen sichergestellt, dass alle Schüler: innen die Inhalte des Märchens erfassen (über das Hörsehverstehen) und zum anderen werden sie auf ein performatives Ausgestalten von Sprache eingestimmt. 20.4 Eine dramagrammatische Doppelstunde Die folgende Stunde ist konzipiert für den Deutschunterricht in einer sprachlich heterogenen Klasse am Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe, sie ist aber auch für Vorbereitungsklassen älterer Jahrgangsstufen geeignet. Das zugrundeliegende Thema Märchen spricht sowohl jüngere wie auch ältere Schüler: innen an und taucht als Textsorte in den Bildungsplänen für das Fach Deutsch über die Jahrgangsstufen hinweg wiederkehrend auf. Das ausgewählte Märchen ist „Hans im Glück“ von den Brüdern Grimm. Die Unterrichtseinheit umfasst insgesamt vier Stunden (davon eine Doppelstunde). Zu Beginn der Einheit wird die erste Hälfte des Märchens im interaktiven Hör-Lese-Kino erlebt. 9 In der folgenden Doppelstunde, die hier im Detail vorgestellt werden soll, steht die Entscheidungsfindung von Hans im Mittelpunkt. Um das Abwägen der Konsequenzen der jeweiligen Entscheidung (Gold oder Pferd, Pferd oder Kuh) zu ver‐ sprachlichen, eignet sich als sprachliche Struktur der eingeleitete Konditionalsatz und als Inszenierungstechnik Doppeln oder Spalier (siehe Kapitel 18), von denen die erstgenannte Technik in der Beispieldoppelstunde Anwendung finden soll. In der dritten Stunde der Unterrichtseinheit haben die Schüler: innen Gelegenheit sich in Kleingruppen den Fortgang des Märchens zu überlegen und in Standbildsequenzen darzustellen. In der vierten Stunde erfahren die Schüler: innen, wie das Märchen weitergeht und werden angeregt über den Ausgang zu diskutieren. (1) AUFWÄRMPHASE Teil 1: Klatschkreis (Zeit: 10 Minuten) Die Aufwärmphase beginnt mit der nonverbalen Variante des Klatschkreises (siehe Kapitel 20.3), gefolgt von der Variante mit „Ja! “, „Nein! “, „Vielleicht? “. Mit diesen drei Wörtern und den erlebten Richtungswechseln sind wir körperlich und sprachlich schon im Spannungsfeld der Entscheidungsfindung angekommen. Wir erinnern die Schüler: innen an die letzte Stunde und fragen sie, zwischen was Hans sich entscheiden musste. Gewünschte Antworten: zwischen (dem) Gold und (dem) Pferd und zwischen (dem) Pferd und (der) Kuh. Diese Wörter werden nun ohne Artikel in den Klatschkreis integriert - beginnend mit „Gold“. Dieses Wort wird klatschend so lange nach rechts weitergegeben, bis jemand eine Abwehrhaltung einnimmt und das Wort „Pferd“ in die andere Richtung schickt. Damit sind nun zwei Reaktionsmöglichkeiten im Spiel. Wer keiner dieser beiden Optionen folgen will, wählt die Diagonale durch den Kreis und schickt das Wort „Kuh“ an eine der gegenüberstehenden Personen. 408 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="410"?> Teil 2: Raumlauf mit Suchauftrag (Zeit: 5-10 Minuten) Jede/ r Schüler: in erhält auf einem Zettel notiert einen Teilsatz eines Konditionalgefü‐ ges. Die Satzgefüge (siehe Tab. 20.1) nehmen inhaltlich Bezug auf die den Schüler: innen bekannte erste Hälfte des Märchens. Bei den Formulierungen der Teilsätze und der Verteilung der Teilsätze auf die Schüler: innen sollte die sprachliche Heterogenität Berücksichtigung finden. In Abb. 20.8 ist an einem Beispielkonditionalsatz illustriert, wie sich der Schwierigkeitsgrad in Richtung konzeptioneller Schriftlichkeit model‐ lieren ließe (siehe Kapitel 4.3). Sprachschwächere Schüler: innen erhalten auf dem Kontinuum links angeordnete Teilsätze und für sprachstärkere würde man sich bei den Formulierungen eher an den mittig und rechts angeordneten Konstruktionen (im Konjunktiv) orientieren. Der uneingeleitete Konditionalsatz (ganz rechts angeordnet) gilt als besonders schwierig und sollte an dieser Stelle noch nicht dabei sein, da die Schüler: innen in dieser Stunde für die Verbendstellung im wenn-Nebensatz - im Kontrast zur Verbzweitstellung im dann-Hauptsatz - sensibilisiert werden sollen. Wenn ich das Pferd bekomme, … Wenn ich das Pferd bekommen würde, … Wenn ich das Pferd bekäme, … Bekäme ich das Pferd, … Abb. 20.8: Formulierungsmöglichkeiten des Konditionalsatzes Die Aufgabe der Schüler: innen besteht darin, sich durch den Raum zu bewegen und den passenden Satzpartner zu ihrem Teilsatz zu finden. Die Hälfte der Teilsätze beginnt mit wenn und die andere Hälfte mit dann. Es gilt also, das richtige Gegenstück zu finden. Hierfür begegnen sich die Schüler: innen immer zu zweit, lesen sich gegenseitig ihre Teilsätze vor (beginnend mit dem wenn-Satz) und überlegen zusammen, ob die beiden Teilsätze inhaltlich zusammengehören. Sich begegnende Schüler: innen mit gleichem Satzanfang gehen sofort wieder auseinander. Paare, die sich gefunden haben, stellen sich zusammen an die Seite. Bedingung/ Voraussetzung (Nebensatz) Konsequenz (Hauptsatz) Wenn ich das Gold behalte, … …, dann bin ich ein reicher Mann. Wenn ich das Gold nicht eintausche, … …, dann muss ich es den langen Weg bis nach Hause schleppen. Wenn ich das Pferd bekommen würde, … …, dann wäre ich ganz schnell zu Hause bei meiner Mutter. Wenn ich das Pferd behalte, … …, dann wird es mich bestimmt wieder abwer‐ fen. Wenn ich das Pferd gegen die Kuh tausche, …, dann müsste ich wieder zu Fuß gehen. Wenn ich die Kuh bekäme, … …, dann hätte ich täglich Milch zu trinken. Tab. 20.1: Beispiele von Konditionalgefügen für den Raumlauf 409 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="411"?> Teil 3: Emotionales Satzlesen (Zeit: 5-10 Minuten) Nachdem sich alle Paare gefunden haben, formieren sich die Schüler: innen nun paarweise zu einem Kreis. Die Aufgabe besteht im Folgenden darin, als Paar das Satzgefüge vorzulesen, wobei der zweite Teilsatz entweder in gleicher Lautstärke, lauter oder leiser gelesen werden darf. Für den zweiten Durchgang überlegt sich jedes Paar eine Emotion (heiter, traurig, ängstlich, wütend, müde, nachdenklich, nervös …), übt für sich kurz das (möglichst freie) Vortragen und präsentiert dann der Gruppe das emotionale Satzgefüge. Die anderen Schüler: innen dürfen die dargestellte Emotion erraten. (2) MOTIVATIONSPHASE (Zeit: 5-10 Minuten) Die Lehrkraft fragt die Schüler: innen, ob sie denn auch schon mal in einer ähnlich schwierigen Situation wie Hans waren und sich zwischen zwei Sachen entscheiden mussten (z. B. das Geburtstagsgeld für X oder für Y auszugeben, sich am Wochenende mit X oder mit Y zu verabreden, die Ferien bei den Großeltern oder zu Hause bei den Freunden zu verbringen, …). Nach dem Austausch wird das Gespräch wieder auf Hans und seine zu treffenden Entscheidungen gelenkt: „Stellt euch einmal vor, Hans wäre mit seinem Gold in unserer Welt, in der heutigen Zeit unterwegs. Er besitzt nur den Klumpen Gold und die Kleidung, die er gerade trägt. Welche Dinge könnte man ihm (mit Ausnahme von Geld) zum Tausch gegen das Gold anbieten? “ Die Schüler: innen machen Vorschläge, die Lehrkraft notiert diese an der Tafel: Die Lehrkraft schlägt vor, die Entscheidungsfindung von Hans mit diesen in die heutige Zeit besser passenden Dingen nachzuspielen und stellt in Aussicht, hierfür eine wirkungsvolle Theatermethode einzusetzen. Doch zuvor gilt es zu überlegen, mit welchen Sätzen sich eine schwierige Entscheidungsfindung versprachlichen lässt: „Wie kann man das Nachdenken über eine Entscheidung ausdrücken? Das Nachdenken darüber, was passiert, wenn ich dies oder das tue. Erinnert euch an die Sätze, die wir gerade im Kreisspiel verwendet haben.“ (3) STRUKTURVERMITTLUNGS- / STRUKTURREFLEXIONSPHASE (Zeit: 15 Min.) Im Fokus stehen wenn-dann-Konditionalsatzgefüge. Die Lehrkraft wählt eins von den zuvor zusammengetragenen potenziellen Tauschobjekten aus und formuliert hiermit Konditionalsätze, und zwar zunächst im Indikativ. Gemeinsam wird über die Semantik und die Struktur der Sätze reflektiert: Was wird durch den wenn-Satz ausgedrückt und was durch den dann-Satz? (→ Bedingung / Konsequenz) Wo steht das finite (flektierte) Verb im wenn-Satz und wo im dann-Satz? (→ an letzter Stelle / an zweiter Stelle). Die Schüler: innen können einzeln auf einem Arbeitsblatt oder in kleinen Gruppen auf 410 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="412"?> 10 Hintergrundinformation für die LK: „Der Indikativ ist der unmarkierte Modus, der Normal- oder Standardmodus. Er wird verwendet, wenn kein Anlass besteht, einen anderen Modus zu gebrauchen.“ (Duden 2016: 511). Will „der Sprecher/ der Schreiber seine Aussage nicht als Aussage über Wirkliches, sondern als eine gedankliche Konstruktion verstanden wissen“ (ebd.: 528), ist der Konjunktiv II (als Modus der Irrealität) zu wählen. Für Konditionalgefüge, Zielstruktur dieser Beispielstunde, muss jedoch nicht notwendigerweise der Konjunktiv gebraucht werden. „Verwendet der Sprecher den Indikativ, so lässt er es völlig offen, ob die Bedingung seiner Ansicht nach erfüllt ist (wird) oder nicht“ (ebd.: 530). In unserem theatralen Kontext können wir daher grundsätzlich beide Varianten zulassen, den im Sprachniveau bereits etwas fortgeschrittenen Schüler: innen sollten wir aber den Gebrauch des Konjunktivs nahelegen. 11 In der gesprochenen Sprache gilt bei Vollverben die würde-Konstruktion inzwischen „als normale Realisierungsform des ‚Gegenwartstempus‘ im Konjunktiv II“ Duden (2016: 553). einem Poster eigene Sätze nach den gegebenen Mustern formulieren. Die Lehrkraft hilft ihnen ggf. dabei. Wenn ich den E-Scooter nehme, dann muss ich nicht mehr zu Fuß gehen. dann bin ich viel schneller zu Hause. dann habe ich ein umweltfreundliches Fahrzeug. Danach kann die nächste Komplexitätsstufe angegangen werden. Die Lehrkraft bietet die vorherigen Sätze nun auch im Konjunktiv an und lässt die Schüler: innen formale Unterschiede identifizieren und Hypothesen zur Funktion des Konjunktivs aufstellen. 10 Wenn ich den E-Scooter nehmen würde, 11 dann müsste ich nicht mehr zu Fuß gehen. dann wäre ich viel schneller zu Hause. dann hätte ich ein umweltfreundliches Fahrzeug. Die Schüler: innen formen dann auf ihren Arbeitsblättern / ihren Postern die zuvor notierten Satzgefüge den Vorgaben entsprechend in den Konjunktiv um. Die Lehrkraft unterstützt sie hierbei und stellt sicher, dass alle Gruppen mit korrekt verschriftlichten Zielstrukturen in die nun folgende Phase der Strukturanwendung gehen. (4) STRUKTURANWENDUNGSPHASE / INSZENIERUNG (Zeit: 20 Minuten) Die Klasse wird aufgeteilt in Gruppen von fünf bis sieben Schüler: innen. Es soll die Inszenierungstechnik Doppeln (Hilfs-Ich) angewendet werden. Jede Gruppe erhält den gleichen Auftrag. Um dennoch unterschiedliche Inszenierungen zu erleben und die Spannung für das Publikum in der Präsentationsphase aufrecht zu erhalten, stellt die Lehrkraft sicher, dass jede Gruppe mit anderen Tauschobjekten operiert. Der Arbeitsauftrag sollte zunächst für alle laut vorgelesen werden, um im Anschluss daran noch eventuelle Fragen beantworten und Unklarheiten beseitigen zu können: Stellt euch folgende Situation vor: Hans hat das Gold bereits gegen etwas anderes einge‐ tauscht und das liegt nun vor ihm. Daneben liegt noch etwas anderes, das ihm gerade zum Tausch angeboten wurde. Hans muss sich nun also zwischen diesen zwei Dingen entscheiden. Was Hans dabei durch den Kopf geht, was er denkt, wird jede Gruppe in einer kleinen 411 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="413"?> Theaterszene auf die Bühne bringen. Eine: r aus der Gruppe spielt Hans, die anderen sind seine inneren Stimmen und sprechen seine Gedanken aus. Hans steht, sitzt oder kniet im Vordergrund. Die anderen stellen sich etwa 1 m hinter ihm auf. Vor Hans liegen die beiden imaginären (nur in der Vorstellung vorhandenen) Objekte, die er abwechselnd betrachtet, befühlt, ausprobiert. Dabei äußert er den zum jeweiligen Objekt passenden Teilsatz: „Wenn ich X nehme“ bzw. „Wenn ich X nehmen würde“. Vervollständigt wird der Satz von einer seiner inneren Stimmen. Eine: r der hinter Hans stehenden Darsteller: innen legt hierfür die Hand auf seine Schulter und spricht nun den Satz (beginnend mit dann) zu Ende. Danach wechselt Hans zum anderen Objekt, spricht den hierzu passenden wenn-Satz und jemand anderes aus dem Hintergrund reagiert mit einem dann-Satz. Hans wechselt immer wieder zwischen den beiden Objekten, bis alle „inneren Stimmen“ mindestens einmal zu Wort gekommen sind, um den Satz (den Gedanken) zu ver‐ vollständigen. Am Ende muss Hans sich für ein Objekt entscheiden und seine Entscheidung in einer selbst gewählten Emotion verkünden. Was ist also zu tun? Legt zunächst fest, wer Hans darstellen soll. Überlegt dann gemeinsam in der Gruppe Sätze, die ihr sprechen wollt und notiert diese. Orientiert euch dabei an den Sätzen auf euren Postern. Legt dann fest, wer welchen Satz sprechen soll. Übt nun mehrmals eure Inszenierung und versucht eure Sätze zunehmend freier zu sprechen. (5) PRÄSENTATIONSPHASE / REFLEXIONSPHASE (Zeit: 10-15 Minuten) Jede Präsentation beginnt damit, dass die Zuschauenden durch einen ritualisierten Akt des Einzählens und/ oder Trommelwirbels den Darstellenden ihre ungeteilte Aufmerk‐ samkeit signalisieren und ihnen einen positiven Energieschub für ihre Aufführung mitgeben. Nacheinander zeigt jede Gruppe ihre vorbereitete Inszenierung und erhält einen frenetischen Applaus. Für die Reflexionsphase gibt es keine Vorgaben. Mögliche, zur Reflexion anregende Fragen: a. Wie fandet ihr die Theatermethode, die Gedanken einer Hauptfigur von mehreren Personen sprechen zu lassen? b. Wie haben sich die Hans-Darsteller: innen und wie die Darsteller: innen der Gedanken gefühlt? c. Wie haben die Präsentationen auf euch als Zuschauende gewirkt? d. Ist es euch leicht oder eher schwer gefallen, die zuvor besprochenen Sätze anzuwenden? e. Wie hättet ihr euch in der Situation entschieden? Zur Beantwortung der Fragen können vorbereitete Satzbausteine ausliegen. 412 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="414"?> Aufgaben 1.* Warum wird im modifizierten dramagrammatischen Phasenmodell ein beson‐ derer Wert auf gesteuerte Inszenierungsformen gelegt? 2.* Vergleichen Sie das dramagrammatische Phasenmodell für DaF-Studierende (siehe 20.1) und das für Schüler: innen mit DaZ und/ oder Sprachförderbedarf (siehe 20.3 und 20.4). Nennen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede. 3.** Wählen Sie aus den vier Zielstrukturen eine aus und überlegen Sie sich (zu zweit) Sprachspiele für eine Aufwärmphase einer dramagrammatischen Einheit. a. Personalpronomen der 3. Person Singular im Nominativ b. verbregierter Dativ (bei Verben des Besitzwechsels wie schenken, bringen, geben) c. Komparation d. Kausalsätze Simulieren Sie Ihre Sprachspiele in der Seminargruppe. Überlegen Sie sich hierfür genau, wie Sie diese anleiten wollen. 4.** In der dramagrammatischen Beispielstunde wurde die Inszenierungstechnik Doppeln (Hilfs-Ich) angewendet. Für die Entscheidungsfindung von Hans, für das Abwägen zweier Optionen und der dazu passenden konditionalen Zielstruktur ist aber auch die Technik Spalier (siehe Kapitel 18) sehr gut geeignet. Versuchen Sie die Strukturanwendungsphase der Beispielstunde für die Inszenierungstechnik Spalier (auch Gedankenallee genannt) zu konzipieren. 5.*** Lesen Sie noch weitere dramagrammatische Einheiten (z. B. in Even (2003: 192-225) zu Wortarten, in Even (2011) zu Wechselpräpositionen, in Bryant & Unger (2020) zu einfachen Relativsätzen oder in Bryant (2020a) zu konzessiven Konnektoren). Versuchen Sie (ausgehend von einer sprachlichen Zielstruktur Ihrer Wahl) einen ersten Entwurf einer dramagrammatischen Einheit zu konzipieren. Gehen Sie dabei wie folgt vor: Entscheiden Sie sich zunächst □ für das Alter und für das sprachliche Niveau Ihrer fiktiven Deutschlern‐ gruppe □ für das Phasenmodell (das Original für erwachsene DaF-Lernende oder die modifizierte Version für Schüler: innen mit DaZ) □ für eine dem Sprachstand angemessene Zielstruktur. Überlegen Sie nun □ welche Themen und Sprachhandlungen zu dieser Zielstruktur passen würden □ welche Inszenierungsformen und Inszenierungstechniken Sie einsetzen möchten. Konzipieren Sie nun grobrastig eine dramagrammatische Einheit mit 5 Phasen. Download: Stundenverlaufsplan 413 20 Zwei dramagrammatische Phasenmodelle <?page no="415"?> 1 Der Beitrag basiert auf der Monografie von Schappert (2020) zur Dramagrammatik im Rahmen von Alphabetisierungskursen für Erwachsene. 21 Dramagrammatik in Alphabetisierungskursen 1 Petra Schappert Menschen, die als Erwachsene nach Deutschland kommen, stehen vor der Heraus‐ forderung, in möglichst kurzer Zeit Deutsch zu lernen, um an gesellschaftlichen Kontexten teilhaben und vor allem auch eine berufliche Tätigkeit ergreifen zu können. Dafür müssen sie verpflichtend einen Integrationskurs absolvieren, der den Teilnehmenden auch eine Alphabetisierung in der deutschen Schrift ermög‐ lichen soll. Zweitschriftlernende eignen sich die lateinische Schrift oft schnell an, primäre Analphabet: innen stehen jedoch vor besonders großen Herausforde‐ rungen. Die Bedeutung des Wortes „Grammatik“ ist für sie nur schwer fassbar und das sich hinter dem Wort verbergende System kaum zu bewältigen. Die Adaption des Dramagrammatik-Modells von Susanne Even kann ein Weg sein, auf niederschwellige Art und Weise unter Verwendung der Mittel des Theaters bei weitgehendem Verzicht auf den Einsatz von Schrift grammatische Kompetenzen zu vermitteln. 21.1 Adaption von Evens Dramagrammatik-Modell Sowohl das Erlernen einer neuen Sprache als auch der Erwerb des Lesens und Schreibens sind für (erwachsene) Lernende herausfordernd. Findet beides gleichzeitig statt, ist die Herausforderung noch größer. Die meisten Teilnehmenden haben in ihren Herkunftsländern nicht die Schule besucht und daher auch nie eine Fremdsprache gelernt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Unterrichtssprache Deutsch ist. Die Lehrkraft spricht die Erstsprachen in der Regel nicht und kann daher auf diese nicht zurückgreifen, um den Teilnehmenden etwas zu erklären. Der Lernprozess vollzieht sich in großem Maße über das Memorieren von Gehörtem. Erlerntes kann zumindest zu Beginn nicht schriftlich fixiert werden. Bei aller Schwie‐ rigkeit, die mit dem Lernen verbunden ist, sieht das Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auch für Integrationskurse mit Alphabetisierung die Vermittlung von Grammatik vor (vgl. Feldmeier 2015). Besonders betont wird, dass sich die Auswahl der Grammatikinhalte an den konkreten Handlungsbedürfnissen der Kursteilnehmenden orientieren soll. Grammatikphänomen und gewähltes Thema sind eng miteinander zu verknüpfen, da die Verwendbarkeit der Inhalte im Alltag als pragmatisches Prinzip angestrebt wird. So sollen die Kursteilnehmenden dazu befähigt werden, das im ‚Schutzraum‘ des Alpha-Kurses Erlernte auch außerhalb des Sprachkurses erfolgreich anzuwenden. Es ist daher naheliegend, einen methodischen Ansatz zu wählen, der es erlaubt 414 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="416"?> 2 Primäre Analphabet: innen haben in ihrem Herkunftsland keine Schule besucht und somit keine Alphabetisierung in ihrer Erstsprache erfahren. Sekundäre Analphabet: innen konnten aufgrund von Kriegen, Vertreibung etc. nicht ausreichend lang zur Schule gehen, um das Erlernte so zu festigen, dass sich Routine beim Lesen und Schreiben entwickelt hat. Zweitschriftlernende sind in ihrer Erstsprache alphabetisiert und müssen lediglich ein neues Alphabet erlernen. 3 In der Basisalphabetisierung werden die Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, die für das Erlesen von Wörtern notwendig sind (vgl. Feldmeier 2015). Im Aufbau-Alpha-Kurs A und B werden die bisher behandelten Inhalte gefestigt und ausgebaut, um das Ziel A2.2 zu erreichen. Lernstarke Teilnehmende, das sind meist die Zweitschriftlernenden, können nach dem Aufbau-Alpha-Kurs B in einen Integrationskurs wechseln, um das Niveau B1 zu verfolgen. Alltagshandlungen spielerisch zu simulieren / zu inszenieren und hierzu passende Grammatikinhalte einzubinden. Integrationskurs mit vorausgehender Alphabetisierung Das Ziel eines solchen Kurses ist es, die Teilnehmenden funktional zu alphabeti‐ sieren und Deutschkenntnisse zu vermitteln. Teilnahmeberechtigt sind primäre Analphabet: innen, sekundäre Analphabet: innen und Zweitschriftlernende 2 . Zur Verfügung steht ein Kontingent von 1260 Stunden, um im Idealfall das Niveau B1 zu erreichen - was die wenigsten der primären Analphabet: innen schaffen. Als realistisch angesehen wird für die meisten das Niveau A2.2, für primäre Analphabet: innen oft nur das Niveau A2.1. Das Stundenkontingent gliedert sich auf in die Basis-Alphabetisierung mit einem Umfang von 300 Unterrichtseinheiten (UE), je weiteren 300 UE für den Aufbau-Alpha-Kurs A und den Aufbau-Alpha-Kurs B 3 . Sind die erworbenen Kenntnisse noch nicht ausreichend, können weitere 300 UE genutzt werden, um die noch bestehenden Lücken zu füllen. Es kommt häufiger vor, dass ein Teilnehmender nach der Basisalphabetisierung wieder von vorne beginnen muss, weil diese nicht erfolgreich war. 60 UE stehen für den Orientierungskurs zur Verfügung, in dem landeskundliche Kenntnisse erworben werden. Am Ende des Kurses ist der Deutschtest für Zuwanderer (DTZ) zu absolvieren. Das präsentierte Konzept lehnt sich an das Dramagrammatik-Konzept von Even (siehe Kapitel 20) an, nimmt aber zur Anpassung an die Bedürfnisse der Zielgruppe zahlreiche Modifizierungen innerhalb der Phasen vor. So wird in der Sensibilisierungsphase weitgehend darauf verzichtet, bereits Zielstrukturen zu präsentieren. Diese Phase dient allein dem Abbau von Hemmungen, dem Hineinfinden in eine alternative Unterrichtsform sowie der Erarbeitung bzw. Wiederholung von später benötigtem Wortschatz. In der Kontextualisierungsphase findet eine grobe thematische Veror‐ tung statt, das Spielerische steht dabei im Vordergrund. In Form von Kreisspielen, Raumläufen und anderen spielerischen Übungen werden die Teilnehmenden mit der grammatischen Struktur konfrontiert, ohne dass diese jedoch bewusst gemacht wird. Die spielerischen Übungen sind auf die Situation des szenischen Spiels der Intensivie‐ rungsphase abgestimmt. Des Weiteren kann es zwar auch bei dieser Zielgruppe eine 415 21 Dramagrammatik in Alphabetisierungskursen <?page no="417"?> 4 Gemeint ist hier, dass die Teilnehmenden Sprache nicht als ein linguistisches System begreifen. Einordnungsphase geben, jedoch sieht diese anders aus als bei Even (2003), bei der sich die Teilnehmenden intensiv mit der Grammatik auseinandersetzen und auf metasprachlicher Ebene diskutieren. Da Schrift und Sprache nur bedingt eingesetzt werden können, um z. B. Regeln darzustellen und zu formulieren, muss auf Visualisie‐ rungen in Form von Pfeilen, Symbolen und Bildern zurückgegriffen werden. Regeln werden weniger formuliert und niedergeschrieben, sondern anhand von Beispielen illustriert / veranschaulicht. Eine gemeinsame Regelfindung ist zwar auch bei dieser Zielgruppe wünschenswert, dürfte jedoch je nach Thema und dessen Komplexität schwerfallen. Die Lehrkraft hat in der Einordnungsphase eher die Aufgabe, noch einmal zu erklären oder durch Beispiele zu verdeutlichen, worauf im Sprachgebrauch der Unterrichtseinheit besonders zu achten ist. Da es sich bei den Teilnehmenden um lernungeübte Personen mit geringer Sprachbewusstheit 4 handelt, kann nicht erwartet werden, dass sie im aufbereiteten Sprachmaterial erkennen, um welches grammatische Phänomen es geht - selbst dann nicht, wenn in den vorherigen Phasen die Zielstrukturen in den Spielen und Übungen gehäuft aufgetreten sind. Die Lehrkraft kann bei den Teilnehmenden wesentlich weniger voraussetzen, als wenn sie (wie in Evens Konzept) Studierende vor sich hat, die bereits ein ganzes Schulleben durchlaufen haben, dabei auch beim Sprachenlernen verschiedenste Erfahrungen sammeln konnten und denen metasprachliche Reflexionen hinreichend vertraut sind. Die Übungen sind daher gelenkter und die Vorgehensweise kleinschrittiger und langsamer. Indem die Lehrkraft im Verlauf des Unterrichts immer mal wieder die Spielleitung aufgibt und als Mitspielerin fungiert, erfahren die Lernenden am handelnden Modell, was von ihnen in der jeweiligen Übung erwartet wird. Dem dramapädagogischen Ideal, „den Lernenden möglichst viel Freiraum [zu lassen], die Übungen inhaltlich auszugestalten“ (Even 2003: 64), kann also nur be‐ dingt nachgekommen werden. Im Rahmen der Intensivierungsphase treten weitere Herausforderungen zu Tage, die besonders den Kernbereich der Dramapädagogik betreffen, und zwar den Dialog. Dramapädagogischer Unterricht benutzt das dramentypische Moment des Dialogs, um inter‐ aktives Lernen im Klassenzimmer voranzutreiben. Durch die Gestaltung fiktiver Situationen, die durch ihre Unvorhersagbarkeit spontanes Handeln erzwingen und die Teilnehmenden zur Auseinandersetzung mit wechselnden Perspektiven konfrontieren, werden vielfältige Lernprozesse ausgelöst. (Even 2003: 147; Hervorhebungen durch die Autorin) Spontanes sprachliches Handeln in der Fremdsprache ist bei Teilnehmenden, die gerade die Basisalphabetisierung durchlaufen haben, nicht möglich - wohl aber die Erarbeitung eines kleinen Repertoires an sprachlichen Äußerungen, die dann zu einem Dialog verknüpft und geübt werden. Diese Vorgehensweise bietet den zögerlich agierenden, ängstlicheren Lernenden die Sicherheit, auf Erlerntes zurückzugreifen, und den mutigeren Teilnehmenden die Möglichkeit, sprachliche Wagnisse einzugehen. 416 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="418"?> 5 Die 2. Person Singular wird noch ausgespart, weil sie im Kontext der Spielszene nicht gebraucht wird, aber auch um die Lernenden nicht zu überfordern. Auf die Schaffung fiktiver Rollen wird bewusst verzichtet. Die Lernenden agieren als sie selbst in ‚realen‘ Spielsituationen. Im Vordergrund steht das Erproben von Realität im geschützten Raum, mit dem Ziel, dass sich die Teilnehmenden auch im Alltag an sprachliche Handlungen wagen. Schließlich muss auch die letzte Phase, die Even (2003) der Präsentation und Re‐ flexion widmet, modifiziert werden. Ergebnisse können auch von den Teilnehmenden eines Alphabetisierungskurses präsentiert werden, eine reflektierende Auseinander‐ setzung mit diesen Ergebnissen und mit dem Unterrichtsprozess ist allerdings aufgrund der zu geringen Sprachkenntnisse nicht bzw. in nur sehr begrenztem Umfang möglich. Zusammenfassung: In allen Phasen des Dramagrammatikunterrichts von Even wer‐ den die Studierenden mit meist komplexen Aufgaben und Übungen konfrontiert, die bereits einiges an Sprachleistungen erfordern. Oft werden Gruppenaufgaben gestellt, deren Bewältigung den Austausch und das Aushandeln von Ideen und Lösungen erfordert. Bei der Zielgruppe der erwachsenen Analphabet: innen bedarf es anderer Aufgabentypen: Zum einen sind dies spielerische Übungen mit theatralen Elementen, die auf Einübung, Wiederholung und Festigung von Wortschatz abzielen, zum anderen chorische Übungen, die ebenso dem Erarbeiten von Wortschatz und Phrasen dienen. Die gestalterische Freiheit ist im Rahmen der Übungen zwar eingeschränkt, aber nicht vollständig unmöglich, da die Übungen situativ eingebettet sind und in der Ausgestaltung (Emotionalität der Aussage, Lautstärke, dazu passende Mimik und Gestik etc.) den Teilnehmenden die Möglichkeit bieten, ihr schauspielerisches Potenzial einzubringen. 21.2 Von der Erarbeitung und Wiederholung der Formen zum szenischen Spiel Der nun folgenden Unterrichtseinheit liegt das Lehrwerk Schritte plus Alpha (Band 1 bis 3) in der Auflage von 2011 zugrunde, das im Hueber Verlag erschienen ist. Die Einheit kann auch lehrwerkunabhängig durchgeführt werden. Eine weitere Unter‐ richtseinheit, die die Pluralbildung zum Thema hat, steht unter Z-030 zur Verfügung. Unterrichtseinheit: Possessivartikel (Dauer: 180 Minuten) Der grammatische Lerngegenstand der Unterrichtseinheit sind Possessivartikel der ersten und dritten Person Singular im Nominativ: meine/ e, sein/ e und ihr/ e. 5 Die Schwierigkeit bei Possessivartikeln besteht in der Beachtung des grammatischen Geschlechts (Genus) mit einer Komplexitätssteigerung bei den possessiven Artikeln der dritten Person. Hier muss sowohl das Genus des Bezugsnomens als auch das Genus der besitzenden Person (ihr Arm, ihre Hand vs. sein Arm, seine Hand) berücksichtigt werden. Sie sind daher erst nach den possessiven Artikeln der ersten Person einzuführen. 417 21 Dramagrammatik in Alphabetisierungskursen <?page no="419"?> Die situative Einbettung stellt das Sprechen über Krankheit und Gesundheit dar. Der thematische Zielpunkt der Einheit ist der Besuch beim Arzt in Form eines szenischen Spiels. Bei dieser Unterrichtseinheit kann in geringem Maße mit Schrift gearbeitet werden, da zu diesem Zeitpunkt im Lehrwerk bereits die Basisalphabetisierung abgeschlossen ist. (1) SENSIBILISIERUNGSPHASE In der Sensibilisierungsphase geht es zunächst darum, Vokabular des Körpers ein‐ zuführen bzw. zu aktivieren. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Körperteile so ausgewählt werden, dass die Genus-Kontraste (feminin vs. nicht-feminin) erfahrbar werden. Bei den Possessivartikeln im Nominativ sind nur zwei Genuskategorien zu berücksichtigen: Der Kontrast zwischen Maskulinum und Neutrum (vgl. mein Arm vs. mein Bein) ist neutralisiert. Unterschieden werden feminine Formen (meine Hand) und nicht-feminine Formen (mein Arm, mein Bein). Um die Teilnehmenden nicht zu überfordern, sollte man eine Auswahl von ca. sechs bis zehn Körperteilen treffen. Warm-up verbunden mit Wortschatzarbeit (Dauer: 10 Minuten) Im wahrsten Sinne eines Aufwärmens machen die Lehrkraft und die Lernenden zunächst ein bisschen Gymnastik zu einer mitreißenden Musik. Zum Rhythmus der Musik werden die Arme, Beine und die Hüften zuerst acht-, dann vier-, dann zwei- und dann einmal ausgeschüttelt, in der Reihenfolge rechter Arm, linker Arm, rechtes Bein, linkes Bein, dann kommt die rechte Hüfte dran und zum Schluss die linke. Dabei werden die Körperteile benannt: der Arm, das Bein, die Hüfte. Es empfiehlt sich, an dieser Stelle den Plural noch wegzulassen. Raumlauf mit Bewegungszentrum (Dauer: 10 Minuten) Es schließt sich ein von Musik begleiteter Raumlauf an (siehe Kapitel 19.3). Die Lehrkraft demonstriert einen Lauf, bei dem von einem Körperteil die Bewegung ausgeht und der Rest des Körpers folgt. So geht der führende Impuls zum Beispiel mal von der Nase, mal vom Bauch aus. Dabei werden weitere Wörter eingeführt: der Kopf, die Nase, die Schulter, das Auge, der Hals, die Hand, der Bauch, der Fuß und der Rücken. Bei dieser Übung kann es bei den Teilnehmenden zu Befremden kommen. Daher sollte insbesondere hier, aber auch bei allen anderen Übungen, die Lehrkraft mitmachen und durchaus in die Übertreibung gehen bei der Ausführung der Übungen, um so den Teilnehmenden die Scheu zu nehmen. Klopfkreis (Dauer: 10 Minuten) Die letzte der körperaktiven Übungen ist ein Klopfkreis. Dazu stellen sich die Lernen‐ den in einen Kreis. Gleichzeitig klopfen sich alle mit einer Hand auf den Kopf, dann auf den rechten und den linken Arm, auf den Bauch, auf den Rücken, auf das rechte und das linke Bein, auf den rechten Fuß und auf den linken Fuß. Die Bezeichnungen für die Körperteile werden während der Aktion mitgesprochen. Es wird stets der Nominativ verwendet (der linke Fuß, der linke Arm, …). Sind die Lernenden bei den 418 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="420"?> Füßen angekommen, geht der Weg wieder zurück nach oben. Dies wird mehrmals wiederholt, bei jeder Wiederholung wird das Tempo gesteigert. Im Laufe der ersten drei Übungen wurden die für die Unterrichtseinheit wichtigen Vokabeln intensiv und mit vielen Wiederholungen geübt. Das Lernen wurde mit Bewegung verknüpft. Abschließend wird das neue Vokabular an der Tafel notiert und mit passenden Bildkarten illustriert (Dauer: 10 Minuten). In der nächsten Kreisübung wird der Wortschatz weiter geübt und gefestigt. Klatschkreis mit Körperteilen (Dauer: 10 Minuten) Die Lernenden stehen im Kreis. Eine Person nennt einen Körperteil mit Artikel und gibt diesen mit einem Klatschen an die nächste Person im Kreis weiter. Diese wiederum überlegt sich ein neues Wort, gibt dieses an die nächste Person weiter usw. Fällt einer Person kein neues Wort ein, wiederholt sie das der vorherigen Person. Mehrere Durchgänge können durchgeführt werden. Die Lernenden nennen die Körperteile, die sie gerade gelernt haben. Es kann auch ein neues Wort fallen, hier muss die Lehrkraft unterstützend eingreifen und gegebenenfalls einen falschen Artikel korrigieren. (2) KONTEXTUALISIERUNGSPHASE Nach der Erarbeitung des Wortschatzes muss dieser situativ eingebettet werden. Die Teilnehmenden erfahren, wie man die Formulierung wehtun verwendet, um Schmerzen auszudrücken. Zunächst wird der Possessivartikel in der ersten Person Singular (mein/ e) eingeführt. Viele Wiederholungen dienen der Festigung. Übung zu mein/ e (Dauer: 10 Minuten) In der ersten Übung der Kontextualisierungsphase wird der Possessivartikel mein/ e eingeführt und geübt. Dazu arbeiten die Lernenden, nachdem die Lehrkraft die Übung vorgeführt hat, in Partnerarbeit. Sie stehen einander gegenüber. Eine Person zeigt mit dem Finger auf einen Körperteil der anderen Person und diese sagt dann, um welchen Körperteil es sich handelt: Das ist mein/ e … Dann wird gewechselt. Pantomime im Kreis (Dauer: 10 Minuten) Bei dieser Pantomime-Übung stehen alle im Kreis. Die Lehrkraft zeigt die Übung. Dazu geht sie in die Mitte des Kreises und stellt pantomimisch dar, was ihr wehtut. Sie sagt: Mein … tut weh! Die anderen tun zuerst ihr Bedauern kund und zeigen auf die Lehrkraft. Sie sagen: Oh! Sein/ ihr … tut weh! Dabei machen sie Körperhaltung, Mimik und Gestik der Lehrkraft nach. Besonders wichtig ist das Mitsprechen durch die Lehrkraft, da sie für die Teilnehmenden einen Orientierungspunkt darstellt. Es kann auch hilfreich sein, die Übung so anzuleiten, dass zunächst ein männlicher Teilnehmer in den Kreis tritt, um die Form sein/ e einzuführen, und dann eine weibliche Teilnehmerin, um zu zeigen, dass in diesem Fall die Form ihr/ e verwendet werden muss. Zur Unterstützung werden die grammatischen Formen in Verbindung mit einem Frauenbild und einem Männerbild an der Tafel notiert. Jeder Lernende darf einmal in die Mitte gehen und von seinen Schmerzen berichten. Die Lehrkraft muss auf den Satz Mein… tut weh! bestehen, da bei der Formulierung Ich habe …schmerzen die Possessive nicht geübt werden können. 419 21 Dramagrammatik in Alphabetisierungskursen <?page no="421"?> Fällt der Satz dennoch, sollte den Lernenden gesagt werden, dass diese Struktur auch möglich ist, im Moment aber nicht geübt wird. Auch bei dieser Übung können die Lernenden anfangs etwas gehemmt sein; sobald aber ein Teilnehmender aus sich herausgeht, trauen sich auch die anderen Lernenden. Schweinchen in der Mitte (Dauer: 10 Minuten) In einer Dreierübung, bei Kindern als ‚Schweinchen in der Mitte‘ bekannt, wird das gerade Eingeführte weiter gefestigt. Zwei Personen stehen einander gegenüber, eine dritte Person steht in der Mitte. Die Person in der Mitte zeigt auf einen Körperteil der Person gegenüber. Die angesprochene Person sagt: Das ist mein/ e … Die dritte Person fragt: Tut sein/ e bzw. ihr/ e … weh? Über Blickkontakt wird entschieden, ob der Körperteil weh tut oder nicht. Dann dreht sich die Person in der Mitte zu der fragenden Person um und beantwortet die Frage (Nein, ihr Bauch tut nicht weh. - Ja, sein Arm tut weh. - …). Jede Person sollte in jeder Position üben können. Diese Übung muss mehrfach demonstriert werden, um von allen verstanden zu werden. An dieser Stelle sind sowohl die nötigen Vokabeln erarbeitet als auch die Grammatik‐ struktur eingeführt. Das Erarbeitete kann schriftlich fixiert werden. Vorab sollte aber eine Pause gemacht werden. (3) EINORDNUNGSPHASE In der Einordnungsphase wird gemeinsam ein Regelblatt (siehe Abb. 21.1 und Abb. 21.2; auch unter Z-031) ausgefüllt. Die Inhalte auf dem Blatt sind auf das Wesentliche redu‐ ziert, da auch nach einer erfolgten Basisalphabetisierung nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Lernenden Sätze schreiben, lesen und verstehen können. Merk‐ sätze sind zu diesem Zeitpunkt zu komplex. Es ist wichtig, das Blatt gemeinsam mit den Lernenden auszufüllen und ihnen ausreichend Zeit zum Schreiben zu geben. Das korrekte Abschreiben von der Tafel sollte überprüft und beim Ausfüllen geholfen wer‐ den. (4) INTENSIVIERUNGSPHASE In der Intensivierungsphase wird das Gelernte vertieft und kognitiv verankert. Weite‐ res Sprachmaterial wird erarbeitet, um die Lernenden zu befähigen, das szenische Spiel am Ende der Unterrichtseinheit zu bewältigen. Kreisspiel mit Ball (Dauer: 10 Minuten) Das Kreisspiel mit Ball wird in verschiedenen, aufeinander aufbauenden Runden gespielt. In der ersten Runde wird ein Ball geworfen, verbunden mit der Frage: Wie geht es Ihnen? Die angesprochene Person beantwortet die Frage mit: Schlecht. Ich bin krank. Dieser kurze Dialog wird so oft durchgespielt, bis jeder Lernende einmal gefragt und einmal geantwortet hat. In der zweiten Runde geht das Gespräch weiter. Der Dialog startet wieder: - Wie geht es Ihnen? - Schlecht. Ich bin krank. 420 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="422"?> Auf diesen ersten Austausch folgt, zwischen denselben Personen, die den Ball immer wieder hin- und herwerfen, eine weitere Frage: - Was fehlt Ihnen? Darauf die Antwort: - Mein … tut weh. Die Schmerzen werden nicht weiter erläutert. Der Dialog ist an dieser Stelle abge‐ schlossen. Die Person, die gerade geantwortet hat, wird nun zu derjenigen, die fragt. Auch hier muss unbedingt darauf geachtet werden, dass nicht Ich habe …schmerzen gesagt wird, da sonst die Struktur nicht geübt werden kann. Abb. 21.1: Auszug aus dem Regelblatt (Possessivartikel der ersten Person Singular) Abb. 21.2: Auszug aus dem Regelblatt (Possessivartikel der dritten Person Singular) 421 21 Dramagrammatik in Alphabetisierungskursen <?page no="423"?> 6 Mit Freeze ist gemeint, dass man stehen bleibt und in seiner Position verharrt. Zwischenspiel (Dauer: 10 Minuten) Als Zwischenspiel werden in Form eines Unterrichtsgesprächs Genesungstipps (z. B. für Kopf-, Bauch-, Halsschmerzen) zusammengetragen. Die Ideen werden an der Tafel festgehalten. Sie können mit Bildimpulsen aus dem Lehrwerk unterstützt werden. Dass für diese Tipps der Imperativ verwendet wird, der mit einer Inversion einhergeht, wird nicht weiter thematisiert. Die Sätze werden lediglich als Chunks zur Verwendung eingeführt. Kreisspiel mit Ball, Teil 2 (Dauer: 10 Minuten) Das Ballspiel wird wieder aufgenommen und durch das Formulieren des Tipps erwei‐ tert. Es ist nun also folgender Dialog entstanden, der wieder durch den Kreis geht: - Wie geht es Ihnen? - Schlecht. Ich bin krank. - Was fehlt Ihnen? - Mein … tut weh. - Trinken Sie viel Tee. (Oder ein anderer Tipp.) Raumlauf mit Gespräch (Dauer: 10 Minuten) Der entstandene Dialog wird in der nächsten Übung in Form eines Raumlaufes geübt. Alle laufen durch den Raum. Auf ein Klatschen der Lehrkraft hin bleiben alle stehen und gehen in ein Freeze 6 . Die Lehrkraft schnipst zwei Lernende ihrer Wahl an, die daraufhin den Dialog miteinander durchspielen, der mit Danke beendet wird. Dann nehmen die Lernenden den Raumlauf wieder auf. Die Dialoge sollten mehrere Male geführt werden, damit sie sich festigen können. Spiel im Raum: geben und nehmen (Dauer: 10 Minuten) Mit diesem Spiel werden die Verben geben und nehmen eingeführt. Dafür liegen in der Mitte des Raumes Bälle. Es muss ein Ball weniger sein, als Teilnehmende im Kurs sind. Die Lernenden laufen zu Musik durch den Raum. Stoppt die Musik, ruft die Lehrkraft Nehmen! Jeder Lernende nimmt sich einen Ball. Eine Person bleibt ohne Ball übrig. Die Musik setzt wieder ein und alle laufen wieder durch den Raum. Auf den nächsten Stopp hin ruft die Lehrkraft Geben! Alle Personen versuchen nun, so schnell wie möglich den Ball der Person zu geben, die gerade keinen Ball hat. Raumlauf mit Gespräch, Wiederaufnahme (Dauer: 10 Minuten) Nach dieser aktivierenden Übung wird der Raumlauf wieder aufgenommen. Die Gespräche werden erneut geübt, dieses Mal in leicht modifizierter Form. Auf ein Klatschen bleiben alle stehen und nehmen die Freeze-Position ein. Die Lehrkraft wählt drei Personen aus, die ein Gespräch miteinander führen sollen. Die dritte Person ist ebenfalls krank. Es handelt sich um die Tochter oder den Sohn der kranken Person. Auf diese Weise kann zusätzlich sein/ e und ihr/ e geübt werden. Auch hier empfiehlt es sich, mehrere Durchgänge zu machen. 422 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="424"?> 7 Kursteilnehmende ohne Schulbiografie, aber auch Lernende, die in die Schule gegangen sind in Ländern, in denen selbstständiges Arbeiten im Unterricht nicht praktiziert wird, reagieren verunsichert, wenn sie in Gruppen arbeiten sollen. Möglicher Beispieldialog: - Guten Tag. - Guten Tag. Wie geht es Ihnen? - Schlecht. Ich bin krank. - Was fehlt Ihnen? - Mein … tut weh. - Trinken Sie viel Tee. - Gut, vielen Dank. Mein Sohn / meine Tochter ist auch krank. Sein/ e / / Ihr/ e … tut weh. - Geben Sie ihm / ihr eine Tablette. - Vielen Dank. Szenisches Spiel: Beim Arzt (Dauer: 20 Minuten) Die Lernenden sind nun bereit für das szenische Spiel, den Höhe- und Schlusspunkt der Unterrichtseinheit. Dafür wird der Unterrichtsraum in das Sprechzimmer eines Arztes bzw. einer Ärztin verwandelt und die Spielenden mit Requisiten ausgestattet: einem Arztkittel, einem Stethoskop und einer Hornbrille. Ein Tisch mit Stühlen davor und dahinter deuten das Sprechzimmer des Arztes an. Das Anamnesegespräch wird in Dreiergruppen durchgeführt. Das Sprachmaterial dazu wurde in den vorigen Übungen erarbeitet. Die Dreiergruppen können gleichzeitig oder nacheinander spielen, je nachdem, ob die Teilnehmenden in der Sozialform Gruppenarbeit geübt sind. 7 Abb. 21.3: Mehrschrittige Hinführung zum szenischen Spiel (5) PHASE DER PRÄSENTATION UND REFLEXION Die Spielszenen werden vorgespielt und vom Publikum beklatscht. Es schließt sich eine Phase der Reflexion mit leicht verständlichen Fragen zum Spiel selbst, zur Unterrichtseinheit und darin erlebten Spaßmomenten oder generell zu Arztbesuchen in Deutschland und im Herkunftsland an. 423 21 Dramagrammatik in Alphabetisierungskursen <?page no="425"?> Aufgaben 1.* Fassen Sie zusammen, worauf man achten muss, wenn man die Dramagramma‐ tik in Alphabetisierungskursen einsetzen möchte. Gehen Sie dabei insbesondere auf die Zielgruppe zu alphabetisierender Erwachsener ein. 2.** Viele Sprachlernende stehen Grammatik abwehrend gegenüber. In der Vermitt‐ lung von Grammatik durch dramapädagogische Methoden sieht Even großes Potential, diese Haltung aufzubrechen: „Grammatik, die von den Lernenden in den meisten Fällen als langweilig und trocken empfunden wird und an die auch die Lehrenden oft mit der Einstellung ‚Augen zu und durch‘ herangehen, kann dramapädagogisch inszeniert werden“ (Even 2003: 170). Diskutieren Sie, ob die Prämisse und die Schlussfolgerung auf die Teilnehmenden eines Alphabetisie‐ rungskurses (Zweitschriftlernende ausgenommen) übertragen werden können. 3.*** Verschaffen Sie sich zunächst einen Überblick über den Lerngegenstand Plural (z. B. Bryant & Rinker 2021: Kapitel 4.2.3) und wählen Sie eine oder zwei Regeln der Pluralbildung aus. Entwickeln Sie eine Dramagrammatik-Einheit zur Ver‐ mittlung des Plurals. Vergleichen Sie Ihren Entwurf mit der Unterrichtseinheit unter Z-030. Download: Stundenverlaufsplan 424 Im Fokus: Dramapädagogische Grammatikvermittlung <?page no="426"?> 22 Literatur Abraham, U. & Knopf, J. (2014). Genres des BilderBuchs. In J. Knopf & U. Abraham (Hrsg.), BilderBücher. Bd. 1: Theorie (S. 3-11). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Aebli, H. (2006 13 ). Zwölf Grundformen des Lehrens: eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Stuttgart: Klett-Cotta. Ágel, V. & Hennig, M. (Hrsg.) (2007). 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