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Brückenschläge

Linguistik an den Schnittstellen

1017
2022
978-3-8233-9518-8
978-3-8233-8518-9
Gunter Narr Verlag 
Sarah Brommer
Kersten Sven Roth
Jürgen Spitzmüller
10.24053/9783823395188
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Der Sammelband regt an, über den Tellerrand der Linguistik hinauszuschauen, dorthin zu gehen, wo sich die (Sub)Disziplinen nicht mehr zuständig fühlen, und dabei die Gegenstände, Zugänge sowie Handlungsräume neu zu betrachten. Die Beiträge leuchten die Schnittstellen zwischen den institutionell verfestigten Disziplinen aus und diskutieren, wo sinnvolle Grenzüberschreitungen und Brückenschläge nötig sind, um starre "Denkstile" (Ludwik Fleck) aufzubrechen, disziplinäre Gewissheiten zu hinterfragen und mögliche neue Gegenstandsbestimmungen vorzunehmen.

<?page no="0"?> TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Brückenschläge Linguistik an den Schnittstellen Sarah Brommer / Kersten Sven Roth / Jürgen Spitzmüller (Hrsg.) <?page no="1"?> Brückenschläge <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 583 <?page no="3"?> Sarah Brommer / Kersten Sven Roth / Jürgen Spitzmüller (Hrsg.) Brückenschläge Linguistik an den Schnittstellen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die Festschrift wurde durch die Universitätsbibliothek Zürich finanziell unterstützt. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395188 © 2022 · Sarah Brommer / Kersten Sven Roth / Jürgen Spitzmüller (Hrsg.) Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8518-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9518-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0459-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Prof. Dr. Sarah Brommer Universität Bremen Fachbereich 10 | Sprach- und Literaturwissenschaften Universitäts-Boulevard 13 28359 Bremen https: / / orcid.org/ 0000-0002-1792-4328 Univ.-Prof. Dr. Jürgen Spitzmüller Universität Wien Institut für Sprachwissenschaft Sensengasse 3a A-1090 Wien https: / / orcid.org/ 0000-0001-7213-9173 Prof. Dr. Kersten Sven Roth Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Institut III/ Bereich Germanistik Zschokkestr. 32 39104 Magdeburg https: / / orcid.org/ 0000-0003-1691-9671 <?page no="5"?> 7 19 39 65 89 111 133 155 177 205 Inhalt Sarah Brommer (Universität Bremen), Kersten Sven Roth (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) und Jürgen Spitzmüller (Universität Wien) Brückenschläge fachlich, menschlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Stark (Universität Zürich) Warum es nur eine Linguistik gibt. Keine Interdisziplinarität ohne starke Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guido Seiler (Universität Zürich) Wie viele Kasus hat das Deutsche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Neef (TU Braunschweig) Satz für Satz. Wo liegt die Schnittstelle zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Elspaß (Paris Lodron Universität Salzburg) Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag zwischen Areallinguistik und Grammatikographie - am Beispiel der Genusvariation Livia Sutter und Noah Bubenhofer (Universität Zürich) Zwischen Empirie und Hermeneutik. Korpuspragmatische Analyse zu ‚links‘ und ‚rechts‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manabu Watanabe (Meiji Universität, Tokyo) Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Übersetzung als Problem der Hermeneutik und der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Crispin Thurlow (Universität Bern) Spracharbeit im Filmgeschäft. Von der Bedeutung „kleiner Texte“ . . . . . . . . Ulrich Schmitz (Universität Duisburg-Essen) Design als symbolische Form. Und ihr Zusammenspiel mit Sprache . . . . . . Heiko Hausendorf (Universität Zürich) „Telekopräsenz“. Interaktionslinguistische Anmerkungen zu einer Kommunikationsbedingung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 245 271 295 317 321 Gerd Antos (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) Meinung. Anmerkungen zu einer diskursiven Positionierung . . . . . . . . . . . Jan Georg Schneider (Universität Koblenz-Landau) und Katharina A. Zweig (TU Kaiserslautern) Ohne Sinn. Zu Anspruch und Wirklichkeit automatisierter Aufsatzbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Neuland (Bergische Universität Wuppertal) Sprachliche Höflichkeit. Kein Thema für die Didaktik? . . . . . . . . . . . . . . . . . Urs Bühler (Neue Zürcher Zeitung) Die Brückenbauerin. Christa Dürscheid und die Medien . . . . . . . . . . . . . . . . Herausgeber: innen und Beiträger: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Brückenschläge fachlich, menschlich Sarah Brommer (Universität Bremen), Kersten Sven Roth (Otto-von-Guericke- Universität Magdeburg) und Jürgen Spitzmüller (Universität Wien) Beginnen wir mit ein paar persönlichen Erinnerungen, die sehr gut verdeutli‐ chen, warum wir diesen Band so betitelt haben, wie wir ihn betitelt haben. Die erste reicht genau zwei Jahrzehnte zurück, in den Herbst 2002. Christa Dürscheid hatte gerade ihre Professur am Deutschen Seminar der Universität Zürich angetreten, deren zwanzigjähriges Jubiläum wir mit diesem Band feiern, und zwei Prädoc-Assistenzen ausgeschrieben. Einer von uns hatte sich darauf beworben, ohne viel Hoffnung, da er Christa Dürscheid persönlich nicht kannte, sie ganz sicher noch nichts von ihm gehört hatte, und außerdem: Syntax? ! Vorfelder im Deutschen? ! Valenz? ! Schriftsysteme? ! Da konnte er nun wirklich nicht reüssieren. Na gut, da war ja noch die Medienlinguistik, ein kleiner Hoff‐ nungsschimmer vielleicht, und versuchen kann man es ja. Überraschenderweise kam dann die Einladung zum Bewerbungsgespräch. Schnell auf der Zugfahrt nach Zürich noch einmal die Einführung in die Syntax gelesen, man weiß ja nie; aber dann doch eingesehen, dass auf diesem Feld nichts zu gewinnen war, und in die Offensive gegangen: „Frau Dürscheid, dass ich im Bereich der Grammatiktheorie nichts vorzuweisen habe, haben Sie ja in den Unterlagen gesehen.“ - „Dann erzählen Sie doch mal, was Sie machen! “ Der Bewerber erzählt von seinem laufenden Dissertationsprojekt, einer soziolinguistischen Arbeit, in der sprachkritische Diskurse auf der Basis französisch-poststruktu‐ ralistischer Epistemologie analysiert werden - ein Thema, bei dem viele sog. ‚Kernlinguist: innen‘ nur müde abgewunken hätten (dazu später mehr). Christa Dürscheids Miene wird nachdenklich und ernst. „Ehrlich gesagt, ich habe absolut keine Ahnung von dem, was Sie mir da gerade erzählt haben.“ Plötzlich ein Strahlen: „Das interessiert mich! “ Diese Geschichte ist typisch dafür, wie Christa Dürscheid Sprachwissenschaft betreibt: als ständiges Sondieren dort, wo möglicherweise Neues und Überraschendes (nach Peirce 1958 [1901]: § 180 ein Motor der wissenschaftlichen Erkenntnis) zu finden ist, Dinge, die nicht nur den <?page no="8"?> eigenen Horizont, sondern potenziell auch den Skopus der Sprachwissenschaft insgesamt zu erweitern versprechen: Linguistik an den Schnittstellen. Dass das Interesse ernst gemeint war, zeigte sich dann nicht nur daran, dass der Bewerber tatsächlich eine der beiden Stellen bekommen hat (die andere, auch das ist bezeichnend, wurde mit einem Bewerber besetzt, der Syntax auf der Grundlage Generativer Theorie betrieben hat - und Christa Dürscheid wusste, dass es sich lohnt, einen Soziolinguisten und einen Generativisten in ein Büro zu setzen; auch dieser Brückenschlag ist ihr gelungen). Die Ernsthaftigkeit zeigte sich vor allem darin, dass Christa Dürscheid von nun an begonnen hat, sich systematisch mit Sprachkritik zu befassen - und dies eben gerade nicht so, wie es in Fachkreisen zu der Zeit so gerne gemacht wurde: im Sinne eines belehrenden Aufklärens von ‚Mythen‘, sondern mit ernstem Interesse daran, was die Menschen bewegt, die sich jenseits der Linguistik mit Sprache befassen (s. dazu auch den Beitrag von Bühler i. d. Bd.). Bald auch erste Publikationen zum Thema. Inzwischen ist Christa Dürscheid, die Konrad-Duden-Preisträgerin 2020, auch auf diesem Gebiet, wie man weiß, schon längst gefragte Expertin und stetige Impulsgeberin. Dass dieses systematische Explorieren neuer Felder niemals auf Kosten anderer geht, dass sie also, wenn sie sich ein Thema ‚zu Eigen‘ macht, dies immer zum Gewinn derer ist, die sie dazu inspiriert haben, ist einem sehr wesentlichen Charakterzug Christa Dürscheids zu verdanken, den Erinnerungen an erste gemeinsame Tagungsbesuche verdeutlichen. Es war uns bereits bewusst, wie unglaublich vernetzt ‚die Chefin‘ ist. Wir selbst kannten kaum jemanden und hatten bei den wenigen vorherigen Tagungsbesuchen die nicht sehr angenehme Erfahrung gemacht, dass man als Noviz: in häufig eher verloren dasteht in einem Kreis von Personen, die sich alle mehr oder weniger gut kennen, sich vielleicht länger nicht gesehen und entsprechend viel zu besprechen haben. Wie sie uns später erzählt hat, kannte Christa Dürscheid diese Erfahrung auch, und vielleicht deswegen hat sie sich um uns in dieser prekären Situation so gut gekümmert. „Kommen Sie, ich stelle Sie ein paar Leuten vor! “ Es folgte eine Tour, die uns wie ein Gang durch unsere Literaturliste vorkam: lauter bekannte Namen, die nun mit Menschen verkoppelt wurden, zu denen uns Christa Dürscheid Brücken schlug, welche vielfach erhalten geblieben sind. In Erinnerung geblieben ist uns dabei aber nicht zuletzt, wie sie sie schlug. Christa Dürscheid sagte zu ihren Kolleg: innen nicht: „Ich möchte Ihnen meine Assistentin/ meinen Assistent XY vorstellen“. Sie sagte: „Ich möchte Sie gerne mit XY bekannt machen. Wir arbeiten zusammen an einem Lehrstuhl.“ Dass Christa Dürscheid immer das Wohlergehen der anderen mit im Blick hat, zeigt sich auch daran, dass sie Brücken zwischen Wissenschaftsbetrieb 8 Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, Jürgen Spitzmüller <?page no="9"?> und Privatleben schlägt und dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für sie keine leere Floskel, sondern eine Herzenssache ist. Wer sie kennt, schätzt ihre aufrichtige Anteilnahme am persönlichen Wohlergehen anderer, ihr Mitfreuen an Anlässen wie Hochzeiten und Geburten ebenso wie ihr Mitfühlen bei persönlichen Belastungen. Unvergessen bleibt das Erlebnis, als Christa Dürscheid von der anstehenden Elternschaft von einem von uns erfuhr: Die in leiser Sorge vorgetragene Mitteilung traf auf große Freude ihrerseits, die in einen langen, begeisterten Vortrag mündete, wie schön diese Aussicht sei und wie wunderbar sich wissenschaftliches Arbeiten und Familienalltag vereinbaren ließen. Dass dies in der Praxis nicht immer der Fall ist, haben wir dann noch früh genug erfahren. Aber der steten Anteilnahme und Unterstützung durch Christa Dürscheid konnten wir uns in jedem Moment gewiss sein. Die Selbstverständlichkeit und Uneitelkeit, mit der die Mütter und die Väter diese Unterstützung erfuhren, war und ist einzigartig. Wie Christa Dürscheid auch fachlich und wissenschaftsstrategisch beim Brü‐ ckenbau anderer mitplante, verdeutlicht die letzte Erinnerung. Nach Abschluss der Dissertation und nachdem klar war, dass dem eine Postdoc-Phase folgen sollte, beschäftigten wir uns mit der Frage, zu welchem Thema wir denn eine Habilitation anstreben sollten. Eine: r von uns hatte, nicht zuletzt durch Christa Dürscheids schriftlinguistische Arbeiten inspiriert, mit dem Gedanken gespielt, zur Materialität und Gestaltung von Schrift zu arbeiten, damals noch ein randständiges Thema im Fach, mit dem sich allenfalls die Textstilistik oder Sozialsemiotik gelegentlich befassten (die Schriftlinguistik, selbst zu der Zeit immer noch randständig genug, noch nicht). Dieses Gedankenspiel wurde jäh beendet, nachdem wir von einem Sprachwissenschaftler, einem ausgewiesenen Soziolinguisten, der von unserer aufkeimenden Habilitationsidee nichts wusste, im Gespräch über unsere (soziolinguistisch-diskurslinguistische) Dissertation den gut gemeinten Rat bekommen haben: „Aber für Ihre Habilitation machen Sie doch etwas Linguistisches! “. Als Christa Dürscheid dann einige Zeit später wissen wollte, ob man schon Ideen für das Habilitationsprojekt habe, hat die: der dermaßen Zurechtgestutzte geantwortet: „Na ja, ich habe mal mit dem Gedanken gespielt, im Bereich der Schriftlinguistik zu arbeiten und dort die vernachlässigten Gebiete Typographie, Materialität und Gestaltung genauer anzusehen. Aber ich habe das verworfen, weil das Thema etwas zu randständig ist und von Vielen sicher gar nicht als sprachwissenschaftliches akzeptiert wird.“ Christa Dürscheids Antwort: „Na, wenn das kein Grund ist, sich des Themas endlich anzunehmen! “.  9 Brückenschläge fachlich, menschlich <?page no="10"?> Die Metapher der S C HNITT S T E L L E , die wir für den Untertitel dieses Bandes gewählt haben, lässt sich unterschiedlich ausdeuten. Zuerst denkt man sicher an den Bildspendebereich der Computertechnik. Dort ist, wie wir etwa in der Wikipedia lesen können, [d]ie Schnittstelle (englisch Interface, [ˈɪntəfeɪs] oder [ˈɪnt̬ɚfeɪs]) […] der Teil eines Systems, das der Kommunikation dient. (Wikipedia o. J.; Herv. entfernt) Schnittstellen sind also Kommunikationskanäle zwischen verschiedenen Berei‐ chen eines ‚Systems‘, sie verbinden voneinander getrennte Sphären zu einem ‚Ganzen‘. Wie der zitierte Wikipedia-Artikel weiter ausführt: Wenn man ein beliebiges „System“ als Ganzes betrachtet, das es zu analysieren gilt, wird man dieses Gesamtsystem in Teilsysteme „zerschneiden“. Die Stellen, die als Berührungspunkte oder Ansatzpunkte zwischen diesen Teilsystemen fungieren (über die die Kommunikation stattfindet), stellen dann die Schnittstellen dar. Unter Ver‐ wendung dieser Schnittstellen kann man die Teilsysteme wieder zu einem größeren Ganzen zusammensetzen. Sie dienen dann als Nahtstellen. (Wikipedia o. J.) Kommunikation zwischen als getrennt betrachteten Sphären und Schnittstellen als Nahtstellen zwischen kommunizierenden (Teil-)Systemen: Dies beschreibt das Sprachwissenschaftsverständnis Christa Dürscheids sehr treffend. Wie die geschilderten Erinnerungen zeigen, ist der Dialog über (teil-)disziplinäre Grenzen hinaus (und dazu gehört unbedingt auch die Schule und die nichtlin‐ guistische Öffentlichkeit) etwas, was für diese Sprachwissenschaftlerin unbe‐ dingter Bestandteil eigenen Tuns ist. Christa Dürscheid ist überzeugt davon, dass nur Offenheit gegenüber neuen Themen und Gegenständen und für ab‐ weichende Positionen Wissenschaftler: innen und Wissenschaften voranbringt, wohingegen ein Verharren im „esoterischen Kreis“ (Fleck 1980 [1935]: 138-139) der eigenen akademischen Blase zwar zu immer weitergehender Spezialisierung führen mag, aber einer Spezialisierung, die den eigenen Denkstil und dessen „Be‐ harrungstendenz“ (Fleck 1980 [1935]: 40-53) nicht zu überschreiten imstande ist. Auch wenn Christa Dürscheid alles andere ist als eine Poststrukturalistin, haben wir den Eindruck, dass Michel Foucaults Motto auch das ihre ist: Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist. (Foucault 1995 [1984]: 15) Neben der computertechnischen Lesart kann man die Metapher der S C HNITT ‐ S T E L L E freilich auch anders lesen, wenn man die Metaphorik, die die infor‐ mationstechnologische Terminologie trägt (wie das zweite Wikipedia-Zitat 10 Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, Jürgen Spitzmüller <?page no="11"?> oben zeigt), weiter auflöst. Die Schnittstelle ist dann eine Grenze, die Stelle, in der etwas (vielleicht einem Schnittmuster folgend) in verschiedene Teile zerschnitten wird. Wenn man die Metapher so auflöst, wäre ‚Linguistik an den Schnittstellen‘ ‚Linguistik an den Grenzen‘ oder ‚Rändern‘. Dies impliziert, dass die Sprachwissenschaft konzentrisch aufgebaut ist. Wie wir wissen, ist das ein in der Sprachwissenschaft (insbesondere des vergangenen 20. Jahrhunderts) weit verbreitetes Konzept. Demzufolge gibt es eine ‚Kernlinguistik‘ (auch ‚harte Linguistik‘ oder linguistics proper), die umgeben ist von den sogenannten ‚Bindestrich-Linguistiken‘ an der Peripherie. „Aber für Ihre Habilitation machen Sie doch etwas Linguistisches! “ ist ein Rat, der auf einer solchen konzentrischen Vorstellung beruht (bzw. auf der Vorstellung, dass der Kandidat sich in einem als konzentrisch konzipierten Fach bewegt, karrierestrategisch also keinesfalls das ‚Zentrum‘ vernachlässigen darf, wenn er in diesem Fach weiterkommen möchte). Eine andere Form dieses Rats, die ein (vernichtendes) Verdikt ist, trägt die Form „Aber das ist nicht (Gegenstand der) Linguistik! “ oder auch „Das ist keine linguistische Fragestellung! “, ein Verdikt, das mehr ist als nur der Hinweis auf Disziplinengrenzen, Zuständigkeiten und Kompetenzen und das - wie Agha (2007) zeigt - sehr eng zusammenhängt mit der Entstehungsgeschichte der (‚modernen‘) Sprachwissenschaft und ihrem Bemühen, die eigene Existenz gegenüber älteren mit Sprache befassten Disziplinen zu legitimieren: ‘Yes, but it isn’t linguistics.’ This incantation is not an innocent dismissal. It is an ideological stance on the study of language that serves specific positional interests. It bespeaks a particular model of discipline formation, one which links the act of rest‐ ricting a subject matter to the performative self-constitution of a unified ‘linguistics,’ and to membership in its disciplinary ranks. (Agha 2007: 220) Schön, aber das ist doch keine Linguistik! Diesen Satz musste sich auch Christa Dürscheid (p. c.) anhören, als sie etwa 2002 die erste Auflage der inzwischen fünffach aufgelegten Einführung in die Schriftlinguistik (Dürscheid 2016a) aus‐ arbeitete. Inzwischen ist ‚die Schriftlinguistik‘ längst unbestrittenes Standard‐ werk, das Buch hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Teildisziplin selbst fest im Fach zu etablieren, und die jüngst erschienene englischsprachige Schwesterpublikation (Meletis & Dürscheid 2022) zeigt, wie sehr dies inzwi‐ schen auch international der Fall ist. Das ist Linguistik! ‚Linguistik an den Schnittstellen‘ ist also bei Christa Dürscheid gerade nicht ‚Linguistik an den Rändern‘ oder gar ‚Linguistik jenseits ihrer Grenzen‘. Es ist ‚Linguistik in Kommunikation‘. Christa Dürscheid hat immer selbstverständlich und souverän Bereiche bearbeitet, die im Konzentrismus als ‚Kernbereiche‘ der Sprachwissenschaft bezeichnet werden, etwa Grammatiktheorie, spezifisch 11 Brückenschläge fachlich, menschlich <?page no="12"?> Syntax (bspw. Dürscheid 1989, 1999, 2012), gleichzeitig aber auch solche, die diese eher im Bereich der ‚weichen‘ bzw. ‚peripheren‘ Angewandten Sprach‐ wissenschaft verorten würde, etwa im Feld der Medienlinguistik (bspw. Dür‐ scheid, Wagner & Brommer 2010, Thurlow, Dürscheid & Diémoz 2020), der Politolinguistik (Roth & Dürscheid 2010), der Sozio- (Dürscheid & Spitzmüller 2006) und Variationslinguistik (Dürscheid & Schneider 2019, Dürscheid 2021) sowie der Deutschdidaktik (vgl. Dürscheid 1993, 2016b, 2022). Und sie hat sich Gebieten zugewandt, die für viele Vertreter: innen des Konzentrismus ‚jenseitig‘ (in vielerlei Hinsicht des Wortes) sind, etwa die genannte Schriftlinguistik oder die Mensch-Maschine-Kommunikation (Brommer & Dürscheid 2021). Dabei hat Christa Dürscheid stets auch, wie bereits erwähnt, die Schnittstelle Wissenschaft - Öffentlichkeit mitbedacht, lange bevor die Wissenschaftskom‐ munikation neben Forschung und Lehre als third mission deklariert wurde. Zahlreiche Beiträge oder Interviews für Zeitungen und Zeitschriften, regelmä‐ ßige Teilnahmen an Veranstaltungen für die Öffentlichkeit sowie Publikationen, die sich dezidiert an ein breites Publikum wenden (z. B. Dürscheid & Frick 2016, Dürscheid 2021), zeugen von ihrem Engagement für das Fach. All dies ist für Christa Dürscheid - selbstverständlich! - Linguistik. Für das ‚beschneidende‘ der Schnittstellen und die innerfachlichen Kämpfe um die Grenzen und Gegenstände des Fachs zeigt sie dabei ein staunendes Interesse. Ein prägendes Erlebnis, von dem Christa Dürscheid oft erzählt hat und das sie bis heute beschäftigt, ist der DGfS-Kongress 1993 in Jena, an dem Christa Dürscheid als junge Nachwuchswissenschaftlerin teilnahm und staunend zusah, wie sich eine Kontroverse über den „Gegenstand der Sprachwissenschaft“ zwischen dem kulturwissenschaftlich verorteten Ludwig Jäger und einigen Vertretern einer „harten Kernlinguistik“, insbesondere Günther Grewendorf und Manfred Bierwisch, entzündete, die als „Jäger-Grewendorf-Bierwisch-De‐ batte“ in die Fachwissenschaftsgeschichte eingegangen ist (vgl. Jäger 1993a,b; Bierwisch 1993, Grewendorf 1993, Habel 1993). Bis heute ist Christa Dürscheid fasziniert von der Härte, mit der diese Debatte geführt wurde, und davon, wie wenig darin kommuniziert wurde, weil keiner der Beteiligten den andern wirklich ernsthaft zugehört hatte. Das war ‚Linguistik an den Schnittstellen‘ als ‚Linguistik der Begrenzungen‘. Nicht Christa Dürscheids Linguistik.   Die Frage, wie man eine solch unerhörte Breite in einer Festschrift angemessen würdigen kann, hat uns lange beschäftigt und ziemlich herausgefordert. Als Meisterin des fachlichen und menschlichen Brückenschlags, die sie ist, und als souveräne und anerkannte Spielerin auf so vielen disziplinären Feldern hat 12 Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, Jürgen Spitzmüller <?page no="13"?> Christa Dürscheid ein, wie man heute sagt, großes Netzwerk. Hinzu kommt, dass dieses Netzwerk sie unglaublich schätzt. Egal, wen wir gefragt haben, ob sie: er bereit wäre, einen Text zu einer Festschrift für Christa Dürscheid beizusteuern, es kam stets postwendend die Antwort: „Für Christa immer! “ Bald ist uns daher klar geworden, dass wir dieses Netzwerk und damit Christa Dürscheids Skopus nur partiell abdecken können. Wir haben uns daher dafür entschieden, diese Festschrift als eine Art exemplarischen Ausschnitt (no pun intended! ) des Dürscheid’schen Universums anzulegen. Dieser Ausschnitt soll einerseits das breite Themenspektrum andeuten, das Christa Dürscheid abdeckt, andererseits auch verschiedene institutionelle Felder, in denen sie steht. Das führt zu Mehrerem, was erklärt werden muss: Erstens ist die Festschrift, die wir vorlegen, gewissermaßen strategisch hybrid. Das betrifft sowohl die Themen als auch die Zugänge und die Schreibstile. Alles andere wäre der Jubilarin nicht gerecht geworden. Zweitens, und das schmerzt uns mehr, haben wir im großen Kreis potenzieller Beiträger: innen stark selektieren müssen, und dies nicht unbedingt nach absteigender ‚Wichtigkeit‘ oder ‚Nähe‘, sondern eher prototypisch: Es sollte aus möglichst vielen der unterschiedlichen Felder, auf denen sich Christa Dürscheid bewegt, jemand dabei sein. Wie gesagt: Alle, die wir gefragt haben, haben ohne zu zögern zugesagt. Das heißt nun aber im Umkehrschluss, dass wir viele, die wir hätten anfragen können, nicht angefragt haben. Das wird, darüber sind wir uns vollauf im Klaren, zu Verwunderung bei einigen Kolleg: innen, vielleicht auch bei der Jubilarin selbst führen. Wir hoffen hier aber auf allseitiges Verständnis. Die Auswahl der Beiträger: innen zu dieser Festschrift ist weit weg von einer vollständigen Abbildung ihres akademischen Netzwerks, sie ist kontingent, aber sie ist auch nicht beliebig, denn an ihr lässt sich, wie wir meinen, ganz gut die Kontur von Christa Dürscheids sprachwissenschaftlicher Breite erkennen. Der Band ist, wenn man so will, eines von mehreren möglichen Schnittmustern ihrer Linguistik an den Schnittstellen. Er vereint viele verschiedene Stimmen und Positionen, die man zur Sprachwissenschaft und sprachwissenschaftlichen Themen haben kann: ein polyphoner Jubiläumschor.    Den Auftakt macht Elisabeth Stark mit einem emphatischen Plädoyer für das Festhalten an einer engen Auffassung des Gegenstands der Linguistik im Sinne eines strukturalistischen Zugriffs auf Sprache. Sie argumentiert, dass nur auf diese Weise, durch Wahrung eines klar umrissenen „Markenkerns“ der Sprachwissenschaft, ein wirklich Gewinn bringender Brückenschlag zu anderen verwandten Disziplinen im Sinne echter Interdisziplinarität möglich werde. 13 Brückenschläge fachlich, menschlich <?page no="14"?> Guido Seiler stellt die allgemeine Annahme, derzufolge das Deutsche eine Sprache mit einem Vierkasussystem sei, in Frage, indem er in seiner Analyse eine allomorphische Beziehung zwischen den Kasus des peripheren Bereichs - Genitiv und Dativ - aufzeigt, die im Grunde der Genitivschwund in den kolloquialen Varietäten des Deutschen ihrerseits schon überwunden habe. Die Überlegungen führen ihn dazu, die Fortexistenz des Genitivs innerhalb dieses Dreikasussystems als im Sinne eines stilistischen Markers ausschließlich soziopragmatisch erklärbar zu charakterisieren. Martin Neef befasst sich mit der Frage, was ein Satz sei. Er verbindet dabei Auffassungen der theoretischen Linguistik, bei denen Einheiten des sprachli‐ chen Systems den relevanten Bezugspunkt darstellen, mit schriftlinguistischen, bei der die Schriftäußerung die entscheidende Größe ist. Auf diese Weise wird die Beantwortung der gestellten Frage zur Charakterisierung der - wie es im Titel formuliert ist - „Schnittstelle zwischen gesprochener und geschriebener Sprache“. Stephan Elspaß blickt in seinem Beitrag auf die Schnittstelle zwischen Areal‐ linguistik und Grammatikographie im Projekt „Variantengrammatik“, in dem er lange mit Christa Dürscheid zusammengearbeitet hat. Er zeigt am Beispiel der Genusvariation bei Anglizismen, wie sich die beiden im Titel genannten linguistischen Zugänge fruchtbar ergänzen bei der angemessenen empirischen Beschreibung grammatischer Wirklichkeit. Eine theoretisch-methodologische Schnittstelle, die im gegenwärtigen Fach‐ diskurs nicht selten als schwer überwindbare Grenzen wahrgenommen wird, machen Livia Sutter und Noah Bubenhofer zum Gegenstand ihres Beitrags: die zwischen einer Linguistik, die sich dem Paradigma der qualitativ-hermeneuti‐ schen Geisteswissenschaften verpflichtet sieht, und einer quantitativ-empiri‐ schen Sprachwissenschaft, die häufig einem sozialwissenschaftlich geprägten Disziplinverständnis zugeordnet wird. Anhand einer Beispielanalyse zu den Ausdrücken ‚links‘ und ‚rechts‘ demonstrieren sie, wie ein korpuspragmatischer Zugriff helfen kann, diese dichotomische Sichtweise zu überwinden und die Musterhaftigkeit der sprachlichen Oberfläche als Resultat diskursiven Handelns zu verstehen. Hermeneutik einerseits und die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation andererseits bringt Manabu Watanabe mitein‐ ander in Verbindung. Ausgehend von philosophischen Konzepten von Hum‐ boldt und Gadamer erörtert der Beitrag die grundsätzlich positive Rolle von Fremdheitserfahrung im übersetzungswissenschaftlichen Kontext. Eine besondere Form von professioneller und sozioökonomisch bedingter „Spracharbeit“ macht Crispin Thurlow zum Gegenstand seiner Analyse: die Pro‐ 14 Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, Jürgen Spitzmüller <?page no="15"?> duktion und Funktionsweise von Untertiteln für gehörlose und schwerhörige Menschen in Kinofilmen (Closed Captions), die nicht nur die Verschriftlichung gesprochener in geschriebene Sprache, sondern auch die Transmodalisierung anderer Modi wie Musik und Geräusche leisten. Der Beitrag versteht sich dabei nicht zuletzt als Würdigung sogenannter „kleiner Texte“ für die sprachliche Prägung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Um das Zusammenspiel verschiedener Zeichenmodi geht es auch im Beitrag von Ulrich Schmitz, der einen linguistischen Blick auf das Phänomen Design vornimmt: Ausgehend von der Annahme, dass es sich bei Design um eine symbolische Form im Sinne Cassirers handelt, untersucht er am Beispiel eines Sachbuchs und eines Auto-Cockpits die gemeinsame „Gestaltungsarbeit eines komplexen Sinnganzen“ zwischen Design und Sprache. Heiko Hausendorf diskutiert anschließend die besonderen Herausforde‐ rungen, die die Kommunikation in Videokonferenzen, die in den letzten Jahren befördert durch die Corona-Pandemie rasant zugenommen hat in der alltäglichen Praxis, für einen auf Goffman bezogenen Interaktionsbegriff dar‐ stellen. Indem das Kriterium der wechselseitigen Wahrnehmung hier wie in der Face-to-Face-Interaktion gegeben, aber nun nicht mehr an die Bedingung der lokalen Kopräsenz gebunden ist, spiele hier eine grundsätzlich neuartige Inter‐ aktionsbedingung eine Rolle, die Hausendorf als „Telekopräsenz“ bezeichnet. Für die Entwicklung und Etablierung einer „linguistischen Meinungsfor‐ schung“ plädiert Gerd Antos. Angesichts der Tatsache, dass Meinungen im Sinne diskursiver Positionen „gefragt“ und „sozial, kulturell, kommerziell und poli‐ tisch folgenreich“ seien, hält er eine systematische sprachwissenschaftliche For‐ schung zu den Akteuren, Produktionsweisen, medialen Mustern und schließlich nicht zuletzt der Erkennbarkeit von Meinungen anhand bestimmter Indikatoren für notwendig. Einem Thema an der Schnittstelle zwischen Hermeneutik und Schreibdi‐ daktik widmen sich Jan Georg Schneider und Katharina A. Zweig in ihrem Beitrag. Sie setzen die algorithmische Vorgehensweise automatisierter Aufsatz‐ bewertungssysteme, die darauf zielen, Vorhersagen der Aufsatzbenotung zu errechnen, ins Verhältnis zum sinnerfassenden Bewerten durch eine Leserin oder einen Leser. Auf diese Weise wird sichtbar, worin die Grenzen des „E-Ra‐ ters“ liegen und worin das Potenzial des Zusammenwirkens des automatisierten und des hermeneutischen Zugriffs. Mit einer anderen Herausforderung der Sprachdidaktik befasst sich Eva Neuland, die nach dem Status des Themas „Sprachliche Höflichkeit“ mit Blick auf den muttersprachlichen Deutschunterricht fragt. Sie konstatiert dabei eine Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Themas in der klassischen 15 Brückenschläge fachlich, menschlich <?page no="16"?> linguistischen Pragmatik und in gesellschaftlichen Diskussionen einerseits und seiner Behandlung in einschlägigen Unterrichtsmaterialien außerhalb des „Deutsch-als-Fremdsprache“-Unterrichts andererseits. Der Beitrag geht den Gründen für dieses Phänomen nach. Den Abschluss dieser Festschrift bildet eine Hommage, die Urs Bühler der Wissenschaftskommunikatorin Christa Dürscheid widmet. Als NZZ-Redaktor hat er über viele Jahren hinweg von ihrer besonderen und nach wie vor nicht selbstverständlichen Bereitschaft profitiert, ihre Forschungsinhalte und Erkenntnisse einer breiten an Sprache interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Man darf Bühlers Dank für diese Arbeit wohl mit dem Hinweis ergänzen, dass gerade in dieser Hinsicht nicht nur die Öffentlichkeit von Christa Dürscheids Neigung zum Überschreiten von Grenzen profitiert hat, sondern vermutlich weit mehr noch ihr Fach, die Sprachwissenschaft. Literatur Agha, Asif. 2007. The object called “language” and the subject of linguistics. Journal of English Linguistics 35 (3), 217-235. Bierwisch, Manfred. 1993. Ludwig Jägers Kampf mit den Windmühlen: Anmerkungen zu einer merkwürdigen Sprach(wissenschafts)verwirrung. 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April 2022). 18 Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, Jürgen Spitzmüller <?page no="19"?> Warum es nur eine Linguistik gibt Keine Interdisziplinarität ohne starke Disziplinen Elisabeth Stark (Universität Zürich) Abstract: In diesem Beitrag wird der Kern der Sprachwissenschaft bzw. Linguistik umrissen als die empirische wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung sprachlicher Strukturen an sich, als solche, d. h. unabhängig von ihrem (kommunikativen) Kontext und den sie umgebenden Diskursen. Damit ist die Sprachwissenschaft durch ihren Gegenstand und die daraus resultierenden Methoden wesentlich unterschieden von interpretativen Geisteswissenschaften, auch von den Kulturwissenschaften, und von zahlreichen Textwissenschaften, mit denen sie aber traditionellerweise häufig institutionell und forschungspolitisch zusammen gruppiert wird. Weiterhin wird die Relevanz einer kundigen wissenschaftlichen Beschrei‐ bung und Erklärung von Sprache(n) durch die jeweiligen ExpertInnen herausgearbeitet, u. a. für die Sprachpolitik, und das Risiko eines Verlusts bzw. in falsch verstandener Interdisziplinarität gleichsam ‚aufgelösten Markenkerns‘ der Linguistik skizziert. Schliesslich erfolgt ein emphati‐ sches Bekenntnis zu einem Brückenschlag auf solidem diszipinären Grund zwischen der Linguistik und anderen Disziplinen im Sinne eines vollstän‐ digen Verständnisses des Definiens‘ des homo sapiens schlechthin: seiner Sprachfähigkeit. 1 Einleitende Bemerkungen Seit etwa 30 Jahren geht ein Gespenst um in der Forschungsförderung und Forschungspolitik, und zwar dasjenige der Interdisziplinarität. Wenn es völlig ausser Frage steht, dass die komplexen Fragen unserer Zeit umfassend nur durch das Zusammenarbeiten von WissenschaftlerInnen aus verschiedensten Disziplinen angegangen werden können, so muss doch verwundern, dass häufig das Präfix anstelle des lexikalischen Kopfnomens die Diskussion, die Forschung, <?page no="20"?> 1 Wie in dem vielerorts erfolgreich eingesetzten Studienbuch Linguistik von Linke et al. werden die beiden Bezeichnungen Sprachwissenschaft und Linguistik in diesem Beitrag synonym verwendet (siehe Linke et al. 5 2004: 1). Zum Verhältnis der Linguistik zu den anderen Disziplinen, die ebenfalls wissenschaftliche Sprachbetrachtung betreiben, siehe Linke et al. 5 2004: 3-6. ja sogar die Lehre zu determinieren scheint. Dies führt dann zu Projektanträgen zur Stand-Up-Comedy aus pragmatischer Sicht, in denen die Grice’schen Im‐ plikaturen, ein wesentlicher Bestandteil der linguistischen Pragmatik (siehe Levinson 1983: 100-118), sichtlich nicht mehr beherrscht werden, zur Analyse von Modalpartikeln (siehe Waltereit 2006) in literarischen Texten, in der die Modalitätsdiskussion sehr unscharf wird, zur areal-geographischen Analyse von Nominalphrasenkomplexität, ohne die syntaktischen Funktionen, in denen die fraglichen Nominalphrasen stehen, als Untersuchungsparameter auch nur mit einzubeziehen. Eine weitere Folge dieser Entwicklung ist der dramatische Schwund an Studienprogrammen, in denen das linguistische Kerngeschäft, also die Beobachtung, Beschreibung und Erklärung sprachlicher Strukturen als solchen (siehe Abschnitt 2), überhaupt noch substantiell vorkommt - stattdessen werden Werbetexte, Genderdiskurse und literarische Texte nach Herzenslust analysiert und kritisch hinterfragt, mit zur jeweiligen Interpreta‐ tion passend und punktuell herausgebildeten Beschreibungskategorien - und die Sprachwissenschaft oder Linguistik 1 ist mit den anderen sprachbezogenen Disziplinen (Philosophie, Theologie, Philologie, Rhetorik, Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Kulturanalyse, Gender Studies, Kommunikationswis‐ senschaft, Literaturwissenschaft und einigen anderen mehr) zu einem grossen Brei verwoben, in dem sie ihr Gesicht zu verlieren droht. Schlimmer: Sie gibt damit ihre Inhalte auf und ihre Expertise ab. Am anderen Ende des disziplinären Rauschens wandelt sich die Linguistik gerade in eine rein empirisch-quantita‐ tive Beobachtungswissenschaft, die ihre Fragestellungen und Methoden ohne theoretische Durchdringung ihrer Daten in Einklang zu bringen versucht mit der Welt der Naturwissenschaften (v. a. der Biologie). Angesichts dieser Entwicklungen, die nach Ansicht der Verfasserin nicht zufällig einhergehen mit einer institutionell weiterhin schwachen Stellung der Linguistik, zumindest an den Universitäten Europas, möchte der vorliegende Beitrag dreierlei. Zum Ersten soll in Abschnitt 2 daran erinnert werden, was der Markenkern der Linguistik ist und was Peripherie und warum diese regel‐ mässige Erinnerung immer vonnöten ist. Zum Zweiten sollen in Abschnitt 3 konkrete Beispiele gelingender interdisziplinärer Zusammenarbeit skizziert werden, die notwendig auf einer sehr tiefgehenden disziplinären Expertise ruht. Zum Dritten soll in Abschnitt 4 die Relevanz der Linguistik an und für sich 20 Elisabeth Stark <?page no="21"?> 2 Einen viel weiteren Begriff von Sprachwissenschaft finden wir bei Eugenio Coseriu: „jegliche Reflexion über Sprache“ (Coseriu 1988: 11). für die Forschung und die Gesellschaft - und konkret für die Forschung und Gesellschaft in der deutschsprachigen Schweiz - aufgezeigt werden, mit der Konklusion, dass die Linguistik Interdisziplinarität kann, aber nicht braucht, und aus dieser Stärke eine immer stärker nachgefragte Gesprächspartnerin an‐ derer Disziplinen sein wird, wenn sie sich an ihren Kernkompetenzen orientiert. Dass sich dieser Beitrag selbst im Arbeitsfeld der Sprachwissenschaft bewegt, bezeugt übrigens eine Passage aus de Saussures Cours de linguistique générale (1916, in einer Ausgabe von 1979), einem der Gründungswerke der zeitgenössi‐ schen Linguistik: La tâche de la linguistique sera : a. de faire la description de l’histoire de toutes les langues qu’elle pourra atteindre, ce qui revient à faire l’histoire des familles de langues et à reconstituer dans la mesure du possible les langues mères de chaque famille ; b. de chercher les forces qui sont en jeu d’une manière permanente et universelle dans toutes les langues, et de dégager les lois générales auxquelles on peut ramener tous les phénomènes particuliers de l’histoire ; c. de se délimiter et de se définir elle-même. (de Saussure 1979: 20, Hervorhebung von mir) 2 Was tut Sprachwissenschaft/ Linguistik - und was nicht? Betrachten wir eingangs eine von vielen Definitionen der Linguistik: Wissenschaftliche Disziplin, deren Ziel es ist, Sprache und Sprechen unter allen theo‐ retisch und praktisch relevanten Aspekten und in allen Beziehungen zu angrenzenden Disziplinen zu beschreiben. (Bußmann 4 2008: 671) Wie das Standardwerk Lexikon der Sprachwissenschaft von Hadumod Bußmann bezeichnen zahlreiche weitere Lexika oder auch Einführungswerke die Lin‐ guistik als die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache. 2 Diese auf den ersten Blick völlig einleuchtende Definition enthält allerdings gleich zwei Stolpersteine: Was verstehen wir unter wissenschaftlich? Und, viel schwerer zu beantworten: Was ist Sprache? Letzteres hat vor allem in den letzten Jahrzehnten ausufernde Diskussionen mit sich gebracht und soll nicht Gegenstand der vorliegenden Ausführungen sein. Relativer Konsens scheint darüber zu bestehen, dass der Terminus die 21 Warum es nur eine Linguistik gibt <?page no="22"?> speziesspezifische Art des homo sapiens bezeichnet, nach einem unbewusst und automatisch ablaufenden Erwerbsprozess Symbole eines von sich untereinander stark unterscheidenden Zeichensystemen so miteinander zu kombinieren, dass situationsunabhängig über komplexe Zusammenhänge kommuniziert werden kann. Die Zeichensysteme erlauben dabei die Produktion neuer Zeichen und Zeichenkombinationen (Kreativität), die in potentiell unendlich langen Strukturen miteinander verknüpft werden können, wobei kommunikative und kognitive Erfordernisse dieser Unendlichkeit Grenzen setzen in der Kommu‐ nikationspraxis. Eine wichtige und nicht kommunikativ direkt herleitbare Eigenschaft menschlicher Sprache(n) ist dabei die Wohlgeformtheit (siehe Seiler 2015), die alleine erklären kann, warum in deutschen, französischen oder englischen elektronischen Kurznachrichten wie SMS oder WhatsApp gegebene Subjektreferenten im Hauptsatz durchaus wegfallen können, aber nicht im Nebensatz - hie wie da sind sie kommunikativ nicht erforderlich, aber eine syntaktische Regel dieser besonderen Sprachvarietät in diesen Einzelsprachen (‚geschriebene Kurztexte‘, siehe Haegeman/ Stark 2021) verhindert ihren Ausfall im Nebensatz - im Gegensatz etwa zum Italienischen oder Spanischen. Ich möchte bereits an dieser Stelle nachdrücklich darauf hinweisen, dass Kommu‐ nikation und Sprache in einem metonymischen Verhältnis zueinander stehen und je unabhängig voneinander existieren und auch wissenschaftlich betrachtet werden müssen: Sprache ist das präferierte zur Kommunikation eingesetzte semiotische System des homo sapiens, aber beileibe nicht das einzige (man denke an Mimik, Verkehrszeichen, Mode usw.). Und Sprache hat neben der kommunikativen Funktion noch viele weitere, v. a. kognitive und ästhetische. Sprache und Kommunikation existieren logisch und in der tatsächlichen Praxis der Menschen also (auch) unabhängig voneinander. Obwohl sich Sprache und Kommunikation in manchen Strukturen gegenseitig beeinflussen mögen, sind Sprachwissenschaft und Kommunikationswissenschaft zwei unterschiedliche Disziplinen (in der Regel auch sichtbar in der getrennten institutionellen Verortung an Universitäten). Ersteres, also der Terminus wissenschaftlich, lässt die anhaltende Kontroverse zwischen qualitativen und quantitativen Zugängen zum Beschreibungsgegen‐ stand und dahinterstehend diejenige zwischen geistesvs. sozial- oder naturwis‐ senschaftlichen Ansätzen aufleuchten, die hier ebenfalls nur am Rande gestreift werden kann. An diesem Punkt hilft uns ein Blick in das in Zürich entstandene Studienbuch Linguistik (Linke et al. 5 2004): Ziel der Sprachwissenschaft ist die Beschreibung und Erklärung sprachlicher Phä‐ nomene, und sie tut dies in vorwiegend theoretischer Absicht. Theoretisch bezieht 22 Elisabeth Stark <?page no="23"?> sich hier nicht darauf, dass die Linguistik Beschreibungsmethoden und Theorien über ihren Gegenstand entwickelt - dies tut jede Wissenschaft. Als theoretische Wissenschaft besitzt die Linguistik im Unterschied zu den anwendungsorientierten Wissenschaften aber kein unmittelbar zugeordnetes Praxisfeld. […] Sie umfasst eine Vielzahl von Teilbereichen, die je bestimmte Aspekte von Sprache beschreiben und die zusammen ein komplexes Gebäude von aufeinander bezogenen Disziplinen bilden.“ (Linke et al. 5 2004: 1, Hervorhebung im Text). In der Linguistik geht es also um sprachliche Phänomene, und als wissenschaft‐ lich ist im obigen Zitat das systematisch-methodologisch reflektierte Beschreiben und auch das theoretische Modellieren (in manchen Theorien gleichbedeutend mit dem Erklären) des Beschriebenen gefasst - völlig einleuchtend (siehe auch Dubois et al. 2012: 285). Das Studienbuch Linguistik bietet in seinem Einleitungs‐ kapitel auch eine knappe Fachgeschichte (siehe Linke et al. 5 2004: 4-5), die darauf hinweist, dass die Linguistik als Einzelwissenschaft erst seit etwa 200 Jahren existiert und in ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert nicht direkt Tradi‐ tionen der antiken Rhetorik, Grammatikschreibung oder Philologie fortsetzt, sondern einen neuen eigenständigen empirischen und auf Verallgemeinerung der einzelnen (Text-)Belege basierenden Fokus setzt: „die historische Erforschung der Sprachen, ihre Entwicklung, [sic! ] und ihre Verwandtschaften.“ (Linke et al. 5 2004: 4, Hervorhebung im Text). Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wird sich die Emanzipation der Sprachwissenschaft von der wissenschaftlichen Sprachbetrachtung und ihre Entwicklung zu einer eigenen Disziplin, der Lingu‐ istik, endgültig vollziehen, wie im Cours de linguistique générale kurz skizziert (siehe de Saussure 1979: 13-16). Diese neue Disziplin, so de Saussure, entsteht aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den romanischen und germani‐ schen Sprachen, was in einem Festschriftbeitrag einer Romanistin für eine Germanistin unbedingt erwähnt werden sollte: „La linguistique proprement dite […] naquit de l’étude des langues romanes et des langues germaniques.“ (de Saussure 1979: 18) Zwei Aspekte dieser vergleichsweise jungen Disziplin finden sich als Defini‐ entia immer wieder, von denen vor allem der erste als grundlegend betrachtet werden kann, der zweite aber nicht weniger wichtig ist. Ich habe erstens bereits an anderer Stelle ausführlich darauf hingewiesen, dass die Linguistik sprachliche Phänomene als solche untersucht, unabhängig von ihrem kommunikativen Zweck oder ihrer Funktion als Mittel oder Teil einer grösseren Interaktion (einer Werbekampagne, Schmähgedicht, Gesetzestext, Gedicht, siehe Stark 2018). Besonders erfreulich und besonders bezeichnend ist die sprachunabhängige Rekurrenz dieser definitorischen Autonomie des Objekts in verschiedenen Abhandlungen (siehe auch Oesterreicher 2011: 79, der als „paradigmatischen 23 Warum es nur eine Linguistik gibt <?page no="24"?> 3 Selbstverständlich etablieren sich teilweise unterschiedliche Akzentuierungen und manchmal auch Termini in den einzelnen Sprachgemeinschaften, was auch durch die institutionelle ,Verstreutheit‘ von SprachwissenschaftlerInnen an traditionellen Universitäten mitbedingt sein kann. Kern der Linguistik“ die Beschäftigung mit den historischen Einzelsprachen und ihrer Varietäten als solche definiert), und besonders bemerkenswert, zweitens, die daraus resultierende einzelsprachunabhängige Natur der Linguistik: Linguistique [adj., ES] renvoie au principe d’immanence qui consiste à étudier la langue comme formant un ordre propre, autonome, dont il est possible de décrire les structures par leurs seules relations. (Dubois et al. 2012: 265) Diese Meinung wird auch von Linke et al. vertreten: „[…] dies ist aber der An‐ spruch der Linguistik. Sie stellt die Sprache selbst ins Zentrum und untersucht sie als Sprache, um ihrer selbst willen.“ ( 5 2004: 5) Es herrscht nun aufgrund der einzelsprachlich unterschiedlichen historischen Ausprägungen der menschlichen Sprachfähigkeit, den (historischen) Einzel‐ sprachen (siehe Coseriu 1988), auch innerhalb der Linguistik die Notwendigkeit der Spezialisierung. Daher gibt es sicherlich eine Linguistik der germanischen oder der romanischen Sprachen, so wie es in der Physiologie Abteilungen für Zell-, Muskel- oder bestimmte Organphysiologie gibt. Dies wohlgemerkt mit genitivus objectivus. Es gibt also keine Deutsche Linguistik, die als Linguistik grundlegend anders wäre als eine Romanistische Linguistik - es ist das gleiche Fach. 3 Die Linguistik unterscheidet sich, zusammenfassend, von anderen sprach‐ interessierten Disziplinen durch ihren Gegenstand, sprachliche Phänomene, Norm- und Regelgefüge als solche. Ich schlage vor, innerhalb und ausserhalb der Akademia diesen wesentlichen Unterschied zu beachten, wann immer es um disziplinäre Schärfe und/ oder interdisziplinäre Zusammenarbeit geht: (Wissenschaftliche) Sprachbetrachtung (z. B. in der Literaturwissenschaft bei der Interpretation eines Gedichts, wenn dessen Reimschema auch phonetisch-pho‐ nologisch analysiert wird, z. B. unter Berücksichtigung des Terminus’ Nasal‐ vokal, siehe Jakobson/ Lévi-Strauss 1962) ist nicht das gleiche wie sprachwissen‐ schaftliche Betrachtung sprachlicher Phänomene (die Lautung eines Gedichts sagt nichts über das Phonemsystem einer Sprache aus, die Datenbasis ist qualitativ wie quantitativ dafür ungeeignet). Letztere nimmt die sprachlichen Phänomene als solche in den Fokus ihres Interesses: Keine andere Disziplin als die Linguistik kann diese Regel- und Normgefüge als solche, als überindividuelle, nur vom konkreten Diskurs oder Text abstrahierend erfassbare 24 Elisabeth Stark <?page no="25"?> und eben auch nicht unmittelbar kommunikativ bedingte, erforschen, erfassen und erklären, keine andere Disziplin strebt aber auch danach (cf. Oesterreicher 2009: 102 f.; […]). Das Forschen nach der überindividuellen einzelsprachlichen historischen Regu‐ larität, nicht nach dem Individuell-Punktuellen, begründet meines Erachtens die von Wolf-Dieter Stempel bereits 1988 festgehaltene „grundsätzliche Verschiedenheit von sprachwissenschaftlichem und literaturwissenschaftlichem Ansatz“ (Stempel 1988: 51), und der sprachwissenschaftliche ist durch seinen Gegenstand, die historischen Einzelsprachen und Varietäten als solche, eben auch grundsätzlich zu unterscheiden von einem kommunikations-, kultur- oder sozialwissenschaftlichen (so Oesterreicher 2009: 87). (Stark 2018: 101) Ein Beispiel aus der Germanistik mag diesen Punkt nochmals erhellen helfen. Die berühmte Selbstidentifikation des Mephistopheles aus Goethes Faust kann als sprachliches Einzelereignis auf vielerlei Arten betrachtet werden: „Ich bin der Geist, der stets verneint.“ aus: Goethe, Faust - Der Tragödie erster Teil, Zeile 1338 (Mephistopheles). His‐ torisch-kritische Faustedition, Hrsg. von A. Bohnenkamp, S. Henke und F. Jan‐ nidis (2017). Beta-Version 3. Frankfurt a.M./ Weimar/ Würzburg. Lesetext Faust I / 1 H.1, URL: beta.faustedition.net/ print/ Cotta_Ms_Goethe_AlH_C-1-12_Faust_I.7#l133 8 , abgerufen am 7. Mai 2018. [www.http: / / beta.faustedition.net/ ] Mögliche Fragen der Kultur- oder Literaturwissenschaft könnten folgender‐ massen lauten: Was will der Autor damit sagen? Welche Funktion hat die Aussage im Hinblick auf die Figurencharakterisierung? In welchem Handlungs‐ kontext steht sie? Wie hat sich dieses Goethezitat im Laufe der Jahrhunderte in unserer Gesellschaft entwickelt (geflügeltes Wort)? Wieso gerade diese Wortstellung? Wieso das kurze Adverb stets? Wieso eine identische Silbenzahl in Haupt- und Nebensatz? Letztere Fragen verwenden Beschreibungskategorien der Sprachwissenschaft, allerdings ist der Untersuchungsgegenstand hier der einzelne Text, ja das einzelne Zitat, es geht nicht um die Rekonstruktion einer gesamten Varietät des Deutschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts - deshalb bleiben auch solche Fragen stets literaturwissenschaftliche. Mögliche Fragen der Linguistik wären hingegen: Warum sind bestimmter Artikel und Relativpronomen (der) formgleich - handelt es sich möglicherweise um das gleiche Element? Wie verhält es sich in anderen Sprachen, in den Sprachen der Welt? Ist ein gemeinsames kognitives Prinzip erkennbar? Kann man die aus dem Sprachvergleich gewonnenen Erkenntnisse nutzen, z. B. für maschinelle Übersetzung dieses und anderer Texte? Warum kann man nicht sagen *Ich bin der Geist, der verneint stets? - oder doch, aber dann mit anderer Betonung? Und wie kann man so etwas wie ,Betonung‘ erforschen? Woher wissen wir, 25 Warum es nur eine Linguistik gibt <?page no="26"?> dass die Abfolge verneint stets seltsam ist, mitunter sogar falsch? Wann und wie haben wir das gelernt? Was passiert im Gehirn von SprecherInnen, wenn sie die beiden Wortstellungsvarianten hören und eine als ,falsch‘ ausschliessen, und warum? Wie häufig kommt die Wortform verneint in dieser Distribution in Korpora des Deutschen vor? Gibt es regionale Muster, historische, stilisti‐ sche? Alle diese Fragen interessieren sich für Eigenschaften der Sprache(n) an sich, nicht für Interpretationen oder den künstlerischen Text, und können das Goethezitat allenfalls als Ausgangspunkt nehmen bei der Erstellung einer ausreichend grossen Datensammlung, eines Korpus, die zentrale empirische Basis sprachwissenschaftlicher Untersuchungen. Die Linguistik beschreibt das Vorgefundene also empirisch, mit falsifizier‐ baren Ergebnissen, und sucht, wie im obigen Zitat von Stempel klar unterstri‐ chen und anhand des Goethe-Zitats illustriert, immer die Verallgemeinerung, die Reduktion der Komplexität in den Daten auf ihnen zugrunde liegende Gesetzmässigkeiten. Ich stelle dies unkommentiert dem folgenden Zitat von Peter Strohschneider zur Tätigkeit der Geisteswissenschaften im deutschen Hochschulsystem gegenüber: Die Geisteswissenschaften entwickeln, erproben und bewahren Weisen der Welt‐ auslegung und sie halten die historischen, kulturellen, normativen, ästhetischen Alternativen zum Gegebenen für die Wissenschaftsgesellschaft verfügbar. So steigern sie deren Komplexität und Kontingenz: Es könnte auch anders sein, als es ist. (Strohschneider 2009) Es ziehe jede/ r seine/ ihre eigenen Schlüsse. Warum, so mag man sich nun fragen, betone ich den Markenkern der Lingu‐ istik so emphatisch, ihre Einheit als Fach und ihre notwendige Abgrenzung von anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich ebenfalls mit Sprache befassen? Hier möchte ich aus einem weiteren, erst vor Kurzem erschienenen Einführungswerk aus der Schweiz zitieren, Jacques Moeschlers Buch Pourquoi le langage ? . Der Autor rechtfertigt die Existenz dieses Buches im Vorwort folgendermassen: Mais il y a une autre raison à l’écriture de ce livre. Je l’ai écrit parce que le langage est généralement considéré comme allant de soi : d’une part, nous le maîtrisons, l’enseignement scolaire nous apprend sa codification écrite, et d’autre part, comme il est normé par des institutions dont c’est la fonction […], les normes grammaticales qui le régissent nous semblent non seulement légitimes mais surtout immuables. J’aimerais au contraire vous convaincre que la question du langage ne va pas de soi, qu’il fait l’objet de très nombreuses recherches […] ce qui montre qu’il y a des pans 26 Elisabeth Stark <?page no="27"?> 4 ‚Aber es gibt einen anderen Grund, dieses Buch zu schreiben. Ich habe es geschrieben, weil die Sprache gemeinhin als selbstverständlich angesehen wird: Zum Einen beherr‐ schen wir sie, der Schulunterricht bringt uns ihre kodifizierte Schriftform bei; zum Anderen erscheinen uns die grammatischen Normen, die sie bestimmen, nicht nur legitim, sondern sogar unveränderlich, weil die [Schrift-]Sprache von Institutionen normiert wird, deren Funktion genau das ist. Demgegenüber möchte ich Sie davon überzeugen, dass die Frage der Sprache keine selbstverständliche ist, dass die Sprache Gegenstand ausserordentlich zahlreicher Forschungsbemühungen ist, was zeigt, dass es ganze Schichten im inneren Aufbau menschlicher Sprache gibt, die uns noch unbekannt sind.‘ [Übersetzung Elisabeth Stark]. 5 Siehe auch das Nachfolgeprojekt What’s up, Switzerland? , SNF Sinergia CRSII1_160714, Informationen zum Projekt siehe Ueberwasser/ Stark 2017, Korpus siehe Stark et al. 2014-2020. entiers de l’organisation du langage qui nous sont encore inconnus […]. (Moeschler 2020: 7) 4 In seiner Einleitung greift der Autor dann unter vielem anderen Ergebnisse eines Projektes auf, das ich die Ehre hatte zu leiten und das ohne die tatkräftige Hilfe und Forschungskooperation mit Christa Dürscheid nicht zustande gekommen und nicht zu der Sichtbarkeit gelangt wäre, die es bis heute hat: „SMS commu‐ nication in Switzerland: Facets of linguistic variation in a multilingual country“ (SNF-gefördert, Sinergia, Projektnummer: CRSII1_136230, sms4science.ch ). 5 Ge‐ meinsam mit Marie-José Béguelin, Neuchâtel, haben Christa Dürscheid und ich die Frage der syntaktischen Unvollständigkeit und grammatischen Variation im mobilen elektronischen Schreiben auf der Grundlage eines gemeinsam erstellten digitalen Korpus untersucht und unter anderem klar nachgewiesen, dass die vorhandenen Sprachproduktionsdaten in keiner Hinsicht auf einen Sprachver‐ fall o.ä. hindeuten. Christa Dürscheid hatte ausserdem bereits in einem Vorgän‐ gerprojekt gezeigt (siehe Dürscheid et al. 2010), dass Jugendliche sehr wohl zu unterscheiden wissen zwischen verschiedenen Kommunikationssituationen und einem je adäquaten Sprech- oder Schreibstil. Die Fragestellungen, die wir entwickelt haben, die Methoden, die wir eingesetzt haben, und die Ergebnisse sind nur aus und in der Linguistik, also in der Disziplin, die sprachliche Phä‐ nomene als solche untersucht, denkbar: Die sprachwissenschaftliche Kategorie des Subjekts (siehe Robert-Tissot 2018), die sprachwissenschaftliche Kategorie der Ellipse (siehe Frick 2017), die Kategorie der Fragekonstruktion und ihrer je grammatischen Eigenschaften (siehe Guryev 2017) sind nur innerhalb des Faches, das sie eineindeutig definiert, operationalisierbar. Das Wissen um die quantitative Validität von Aussagen ist der Linguistik zwar nicht ausschliesslich zu eigen, aber sie hat es, gerade in den letzten Jahren und zusammen mit einer starken technologischen Entwicklung im Bereich des Natural Language 27 Warum es nur eine Linguistik gibt <?page no="28"?> Processing, in ihrer Forschung und Lehre systematisch integriert. Verständnis von Sprachen als sich stetig wandelnden Objekten (im Unterschied zu dem allgemein Angenommenen, siehe das Zitat von Jacques Moeschler weiter oben), die Rolle von Sprachkontakt für den Sprachwandel, auch zwischen einzelnen Varietäten einer Sprache, das Verständnis von Schrift als abgeleitete und erlernte Modalität der sprachlichen Interaktion (während Lautsprache und Gebärden‐ sprache natürlich erworben werden), die verschiedenen Strukturierungsebenen der Sprache vom Laut zum Satz mit ihren Eigengesetzlichkeiten und ihrer mehr oder weniger starken Interdependenz - all diese Dinge sind zentrale Erkenntnisse der Linguistik und in anderen sprachbezogenen Disziplinen nicht oder nur zufällig-marginal vorhanden. Moeschler weist entsprechend explizit darauf hin, dass der laienhafte Eindruck des Sprachverfalls beim Betrachten einzelner SMS falsch ist, ebenso falsch wie die Überzeugung, dass die Sonne morgens aufgeht und nicht die Erde sich dreht. (Einzel-)beobachtungen ohne wissenschaftliche Methodologie, also kontrollierte empirische Untersuchungen von geeigneten Daten und theoriegeleitete Auswertungen, ergeben eben keine wissenschaftlichen Fakten, geschweige denn generalisierbare Erkenntnisse. Schrift als eigene Manifestationsform des Sprachlichen hat erst in jüngerer Zeit das systematische Interesse der Linguistik auf sich gezogen (siehe die Vorbemer‐ kungen in Dürscheid 4 2012: 11), und während die Beschreibung von Schriftsys‐ temen und ihre Entstehung ebenso wie ihre gesellschaftliche und ökonomische Relevanz auch HistorikerInnen und im weiteren Sinne Kulturwissenschaftler‐ Innen leisten können, kann nur eine Sprachwissenschaftlerin diesen Aspekten ein theoretisches Kapitel zur sprachwissenschaftlich fundierten Reflexion und Modellierung des Verhältnisses von Gesprochenem und Geschriebenem voran‐ stellen. Schriftgeschichte, Orthographie und Typographie erfordern weiterhin eher wenig systematisches Wissen über die grundlegende Struktur menschli‐ cher Sprache(n), wohl aber die Graphematik. Diese Teildisziplin der Linguistik umfasst die wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Regularitäten von Schriftsystemen auf segmentaler (= den Einzellauten entsprechend) und suprasegmentaler Ebene (= die einzellautübergreifenden lautlichen Ereignisse betreffend, z. B. Silbenstruktur, Pausenstruktur, Intonation; siehe Dürscheid 4 2012: 126 f.). Im Unterschied zur Rechtschreibung, also der normativ festge‐ legten einzig korrekten Schreibung von sprachlichen Einheiten einer Sprache (= Orthographie), beschreibt die Graphematik „einen Lösungsraum möglicher Schreibungen für Lautungen […]“ (Neef 2005: 11). Um „mögliche Schreibungen für Lautungen“ erfassen zu können (mit „möglich“ ist hier ,systemkonform‘, also z. B. dem Schriftsystem des Deutschen entsprechend, gemeint), braucht man ein Inventar dieser Lautungen, eine empirisch fundierte Theorie über 28 Elisabeth Stark <?page no="29"?> 6 In der beginnenden sehr fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit von Linguistik und Psychiatrie an der Universität Zürich hat sich beispielsweise herausgestellt, dass der Ausdruck Semantik in der Psychiatrie und Neurowissenschaft allgemein für Kon‐ die Abbildung der vielen Lautereignisse auf viele Schriftereignisse, es muss an grossen Datenmengen systematisch verglichen, es müssen Verallgemeine‐ rungen herausgearbeitet werden, und grundsätzlich vom Einzelfall abstrahiert. Der Schrifterwerb schliesslich steht zwischen zwei oder sogar drei Disziplinen: der Linguistik, der Psychologie und der Medizin. 3 Gelingende Interdisziplinarität In Abschnitt 2 wurden einige Beispiele genannt, in denen die Linguistik bzw. SprachwissenschaftlerInnen an Projekten beteiligt sind, bei denen sie für sich selbst keine Erkenntnis gewinnen können (v. a. die sprachliche Ana‐ lyse künstlerischer Interaktionen und Texte im weitesten Sinne). Sie leisten quasi ,sprachwissenschaftliche Nachhilfe‘, wenn sie geeignete sprachwissen‐ schaftliche Beschreibungskategorien für die Interpretation von Sprachkunst‐ werken bereitstellen, während sie selbst für ihren Beschreibungsgegenstand, die menschliche(n) Sprache(n) als solche, keine verwertbaren Daten, Fakten, Erkenntnisse erhalten oder erzeugen können. Für die historische Sprachwissen‐ schaft, die häufig auf künstlerische Texte angewiesen ist als einzige Zeugen bestimmter Sprachstufen oder Sprachvarietäten, kann dieser Mangel einerseits durch die Bereitstellung grosser Datenmengen (d. h. es wird stets konsequent vom Einzelfall abstrahiert) und andererseits durch die reflektierte Zusammen‐ stellung künstlerischer Texte mit möglichst grosser diskurstraditioneller Varia‐ tion ausgeglichen werden (siehe Kabatek 2005, für das Französische z. B. Frantext (https: / / www.frantext.fr/ ) oder DWDS für das Deutsche (www.dwds.de)). Wo dies nicht möglich ist, hat die historische Sprachwissenschaft seit ihrem Beginn Methoden der Rekonstruktion entwickelt - erneut an Daten, die stets über das Einzelereignis hinausgehen und strukturelle Verallgemeinerungen erlauben. Mit ihrem Wissen über eines der zentralen Definientia der menschlichen Spe‐ zies stellt die Linguistik nun eine Ansprechpartnerin für zahlreiche Disziplinen dar, in deren Forschungsgegenständen und -methoden auch echte Chancen für die Sprachwissenschaft liegen. Anzustreben ist interdisziplinäre Zusammenar‐ beit, in der keine Disziplin zur Hilfswissenschaft der anderen degradiert wird (oder sich, ohne es zu bemerken, selbst dazu degradiert). Übersetzt bedeutet das die Bewahrung der disziplinären Rigorosität, was bei einer oft anspruchsvollen Verständigung über grundlegende gemeinsam verwendete Begriffe und Kon‐ zepte beginnt, 6 über den Respekt vor der allfälligen Unvereinbarkeit einzelner 29 Warum es nur eine Linguistik gibt <?page no="30"?> zeptwissen gebraucht wird (also was ein Sofa, ein Tisch usw. ist), nicht für die Struktur der Bedeutung sprachlicher Zeichen (also z. B. die Tatsache, dass cheveux auf Frz. im Unterschied zum deutschen Haare nur die menschliche Kopfbehaarung bezeichnen kann). Ein Kollege aus der Neurochirurgie hat nach dieser Entdeckung Sebastian Löbners Einführungswerk in die Semantik ( 2 2015) gekauft und durchgearbeitet - ein exzellentes Beispiel für die so aufwendigen wie notwendigen Voraussetzungen gelingender Interdisziplinarität. Methoden (etwa interpretativ-hermeneutischer hie und empirisch-quantitativer da) führt und in der sorgfältigen Abgrenzung der einzelnen Disziplinen in der Bearbeitung einzelner Aspekte gemeinsamer Forschungsprojekte gipfelt. In den seltensten Fällen haben die einzelnen Disziplinen den gleichen Untersuchungs‐ gegenstand, auch wenn sie eine gemeinsame Fragestellung bearbeiten. Dies klar zu benennen und die Orientierung nicht zu verlieren, zeichnet gelingende Interdisziplinarität aus. Bereits umrissen habe ich weiter oben ein interdisziplinäres Betätigungs‐ feld, in dem die Linguistik unverständlicherweise kaum gefragt wird - die (Fremd-)Sprachenbildungspolitik. Hier kann sie Wissen bereitstellen über die Regularitäten der Phänomene, die in der Schule, aber auch in der Erwachsenen‐ bildung, vermittelt werden, und sie kann ihrerseits an Daten gelangen, die Erkenntnisse erzeugen können, etwa in der Graphematik und im Schrifterwerb und allgemein im Fremdsprachenlernen (cf. Fehlerlinguistik, siehe Cherubim 1980, Lernerkorpora, siehe Granger 2008, allgemein zum L2-Lernen, siehe Ellis 1994). Rekurrente Fehlertypen im Erwerb bestimmter zielsprachlicher Strukturen können bei sachkundiger Interpretation und quantitativer Analyse durchaus auch Eigenschaften der Zielsprache an sich offenlegen helfen, und die Linguistik weiss ihrerseits aus dem Sprachvergleich um fehleranfällige Domänen (beim Vorhandensein des Merkmals in L1 und L2, allerdings in unterschiedlicher Kodierung oder Distribution, z. B. Genus) und um Strukturen, deren Erlernen erheblichen Aufwand erfordern wird (weil das Merkmal der L2 in der L1 gar nicht als kodiertes vorhanden ist, siehe Schwartz/ Sprouse 1994 oder Parodi 2014, wie etwa der romanische subjonctif/ Konjunktiv als Prä‐ suppositionsanzeiger, siehe Gsell/ Wandruszka 1986). Die Sprachwissenschaft kann und sollte aufgrund ihrer Forschung falsche Annahmen und unrichtige, aber traditionell verbreitete Beschreibungsansätze in Lehrwerken korrigieren - wenn sie denn gefragt wird. Die naive Annahme des „langage allant de soi“ (siehe obiges Zitat von Jacques Moeschler) verhindert hier allerdings häufig eine systematische Interaktion zwischen Forschenden und Entscheidungsträ‐ gerInnen, übrigens auch bereits auf universitärer Ebene, aber es gibt dankens‐ werterweise Initiativen aus der Linguistik heraus und auch eine sprachwissen‐ 30 Elisabeth Stark <?page no="31"?> schaftliche Publikationstätigkeit (siehe Dürscheid 2014, Dürscheid/ Sutter 2020, Dürscheid/ Rödel angenommen), die innerhalb disziplinärer Grenzen verbleibt und gerade deshalb wertvoll ist für die Didaktik und Bildungsforschung. Weiterhin kann nur die Sprachwissenschaft die naive Annahme über die Grundbausteine menschlicher Sprache(n) widerlegen im Dialog mit der Kultur- und Kommunikationswissenschaft (siehe Thurlow et al. 2020). Emojis etwa können menschliche Sprache(n)/ Sprachzeichen nicht ersetzen, weil sie nur (ambige) Inhaltsabbilder sind und das Grundgerüst menschlicher Sätze, also die metasprachlichen Informationen über die Funktionen der Inhaltswörter im Satz, nicht mitkodieren (siehe Dürscheid/ Siever 2017) - so einfach, so unbekannt. Während Äusserungen wie unter (1) a. -koch- -fischb. ��������������� ������� völlig ratlos zurücklassen, verstehen wir (2) Der _ hat ge-_t . im Unterschied zu (3) Dem _ ist ein _ ver_t. immerhin als Äusserung über eine Handlung (gegenüber (3), das eine Mitteilung über ein Ergebnis ist), die in der Vergangenheit stattgefunden hat. Die Linguistik kann ihrerseits in derartigen Interaktionen neben dem reinen Datenmaterial, das sie möglicherweise nicht selbst erschlossen hätte, beobachtbare Muster in hybriden Texten (Bild-Text-Bezug usw.) samt ihrer kulturwissenschaftlichen Erklärung verwenden, um rekurrente sprachliche Strukturen oder bestimmte pragmatische Phänomene besser zu verstehen. Schliesslich ist die Linguistik - selbst eine theoretische im Sinne von nicht direkt anwendungsbezogene - Disziplin (siehe oben, das Zitat von Linke et al. 5 2004 am Beginn von Abschnitt 2) in der Lage, auch mit stark anwendungsbezogenen Disziplinen wie der Ergonomie, Arbeitspsychologie und der Übersetzungswissenschaft zusammenzuarbeiten - erneut, ohne sich zu verbiegen oder ihre Methoden und Fragestellungen zu verwässern. Ein interdisziplinäres Projekt zur Untertitelung im Schweizer Fernsehen unter der 31 Warum es nur eine Linguistik gibt <?page no="32"?> Leitung von Alexander Künzli, Genf („From Speech to Text“, www.unige.ch/ ft i/ files/ 7815/ 4080/ 9511/ Project_Description_Joint_Seed_Funding.pdf), versucht einen vierdimensionalen Blick auf Untertitel - als Prozess (hier kommt die ergonometrische Untersuchung der Arbeitsbedingungen der UntertitlerInnen ins Spiel), als Produktion (hier muss die Praxis übersetzungswissenschaftlich analysiert werden), als Produkt (hier geht es um Sprachstrukturen in den Untertiteln als solche, d. h. um eine linguistische Fragestellung, siehe Dürscheid 2021) und als Gegenstand eines Rezeptionsprozesses (aus neuropsychologischer Perspektive). Das Zusammenspiel von vier Disziplinen ergibt ein Ganzes, und wenn sich Linguistik und Übersetzungswissenschaft bis hin in die Korpuser‐ stellung und Annotationskategorien gegenseitig befruchten können, bleiben Arbeits- und Neuropsychologie methodologisch in ihrer jeweils eigenen Welt - zu Recht und zum Wohle des Unterfangens. 4 Die Relevanz der wissenschaftlichen Erforschung von Sprache(n) als solche Im vorangehenden Abschnitt haben wir gesehen, wie sich die Wissenschaft von Sprache(n) als solche gewinnbringend interdisziplinär betätigen kann. Von Interdisziplinarität kann dagegen im Übrigen keineswegs dann die Rede sein, wenn germanistische und romanistische SprachwissenschaftlerInnen zu‐ sammenarbeiten - obwohl eine solche Kooperation durch die unglückliche institutionelle Gliederung vieler traditioneller Fakultäten häufig institutsüber‐ greifend geschehen muss, was die Linguistik insgesamt schwächt. Abschnitt 2 hat gezeigt, dass es nur eine Sprachwissenschaft gibt, mit notwendiger Spezialisierung auf einzelne Sprachen oder Familien, da der Untersuchungs‐ gegenstand in unterschiedlichen Ausprägungen auftritt. In diesem abschlies‐ senden Abschnitt soll es darum gehen, die Relevanz des Markenkerns der Sprachwissenschaft und die Gefahr einer Aufgabe desselben zugunsten eines pseudo-interdisziplinären (in aller Regel kommunikations- und kulturwissen‐ schaftlich) verwässerten Breis. Es geht schlicht um den Verlust von Wissen und Verständnis für eines der zentralen Elemente menschlichen Lebens, um das Aufgeben von Forschungstätigkeit rund um die menschlichen Sprache(n) als solche, um ein Aufgehen in Bereichen, die Philosophie, Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft, aber auch Geographie, Evolutionsbiologie und Neuropsychologie besser als die krampfhaft zu moderneren Fragestellungen und Methoden ,geläuterten‘ LinguistInnen bearbeiten. Durch das willfährige Aufgeben des Markenkerns 32 Elisabeth Stark <?page no="33"?> 7 Siehe aber sagw.ch/ ssg/ taetigkeiten/ projekt-linguistik-an-mittelschulen. entstünde eine Lücke, die sich nicht mehr schliesst - in mancher Lehrprobe von (Fremd-) Sprachenlehrpersonen wird das bereits unmittelbar ersichtlich. Über die offensichtliche Anwendbarkeit sprachwissenschaftlicher Erkennt‐ nisse im Schulunterricht hinaus können am Beispiel von elektronischem Schreiben und der Schriftlinguistik - nicht zufällig gewählte Wirkungsbereiche der zu Ehrenden - die Folgen eines möglichen Aufgebens des Markenkerns der Linguistik, also der Beschreibung und Erklärung sprachlicher Phänomene als solcher (z. B. durch eine rein interpretierende kommunikationswissenschaftliche Auswertung der SMS-basierten Interaktion zweier Jugendlicher), recht gut konkretisiert werden, in allgemeiner, sozialer und bildungspolitischer Hinsicht. 1. Die Menschheit wüsste auch weiterhin nicht, was ihr bevorzugtes Kommu‐ nikationsmittel, die menschliche Sprache, überhaupt ist, welche Bausteine sie konstituieren, welchen Regularitäten und Veränderungsmechanismen sie unterworfen ist und in welchen voneinander sich stark unterscheidenden Modalitäten sie sich manifestiert (Lautsprache, Gebärdensprache, Schrift). Die Tatsache, dass diese Dinge tatsächlich weit weniger bekannt sind als zum Bei‐ spiel das Phänomen der Schwerkraft, die Photosynthese oder die Reformation, weist auf einen grundlegenden Mangel in der (gymnasialen Schul-)Bildung hin: 7 Die menschliche Sprache an sich ist leider noch kein Gegenstand des Un‐ terrichts; daraus erklären sich viele der von Jacques Moeschler monierten idées reçues, die im besten Falle einfach falsch, im schlimmsten Falle Ausgangspunkt verfehlter Bewertungen und Entscheidungen sind. 2. Punktuelle Betrachtungen von Sprachproduktionsereignissen können sehr schnell zu Fehlurteilen über ganze Bevölkerungsschichten führen - z. B. über die Jugend, in Unkenntnis der inhärenten Veränderlichkeit von Sprache(n), über Menschen mit Migrationshin‐ tergrund, in Unkenntnis ihrer Herkunftssprachen und der hohen Komplexität der zielsprachlichen, z. B. deutscher Strukturen, über ,Rechtschreibfehler‘, die sich aus graphematischer Perspektive im Schrifterwerb als korrekte Transfer‐ leistungen der SchülerInnen herausstellen könnten, wenn die Lehrpersonen ausreichend linguistisch ausgebildet wären, über die vermeintliche Schwierig‐ keit des Französischen im Vergleich zum Englischen (siehe hierzu https: / / www .linguistik.uzh.ch/ de/ easyling/ faq/ stark-franzosisch.html), über die kognitiven Vorgänge in Erstvs. Fremd- oder gar Schriftspracherwerb etc. etc. 3. Vor allem letztere Unkenntnis, die sich in einer beklagenswert geringen Ausstattung des Gebiets der linguistischen Spracherwerbs- und Sprachlernforschung an den Universitäten und in der Lehrpersonenausbildung spiegelt, führt zu konkreten Problemen und dramatischen Fehlentscheidungen der Bildungspolitik. Wenn 33 Warum es nur eine Linguistik gibt <?page no="34"?> 8 Zum positiven Einfluss expliziter grammatischer (metasprachlicher) Kenntnisse auf die Performanz der Fremdsprachenlernenden siehe Ribas et al. (2015). Grundschullehrpersonen das Prinzip „One person, one language“, das in bilin‐ gualen Familien zur Ausprägung kindlicher Zweisprachigkeit (= 2 L1) zurecht angewendet wird, für sich selbst reklamieren und eine Art „L1-Mimikry“ im Klassenraum nachstellen, ohne Beachtung des L2-Status der zu vermittelnden Sprache und der künstlichen Kommunikationssituation, wenn allen Ernstes angenommen wird, dass Fremdsprachen ohne expliziten (Grammatik- oder Graphematik-)Unterricht an Schulen vermittelt werden könnten, 8 wenn in der universitären Ausbildung das Unterrichten der Struktur der zu vermittelnden Fremdsprachen oder auch des Deutschen so sträflich vernachlässigt wird, dass die Lehrpersonen über die oft falschen oder widersprüchlichen Erklärungen des jeweiligen Schulbuchs nicht hinausdenken und -unterrichten können, wenn Erkenntnisse zur sehr geringen Effizienz des Englischunterrichts an Primar‐ schulen und zum Zusammenhang mit einem geglückten Erstspracherwerb, auch im Schreiben (siehe Pfenninger 2016), ignoriert werden, dann wird es teuer, wird falsch investiert, falsch vermittelt, falsch beurteilt - und, wie aktuell gut zu beobachten, der Sprachenreichtum irgendwann durch einen einzigen internationalen Code ersetzt, den Rest besorgen die digitale Autokorrektur und Google Translate. Dabei sind die Sprechenden sich des Reichtums und der Variation mensch‐ licher Sprache(n) wohlbewusst - aber sie verfügen über keinerlei Beschrei‐ bungskategorien für ihre Vielsprachigkeit (was ist ein Dialekt/ Patois? Was eine Sprache, und wer entscheidet das? ). Die weitverbreiteten idées reçues Moeschlers gipfeln in reflexartigen Bewertungen und unsicheren kulturellen Identitäten. Dies obwohl sich die Reflexion auf das eigene Sprechen und die eigene Sprache als eine gewinnbringende, bereichernde kulturelle Betrachtung von hoher gesellschaftlicher Relevanz erweist. Es ist und bleibt eine Kernauf‐ gabe der sprachwissenschaftlichen SpezialistInnen, Variation wissenschaftlich zu beschreiben und zugänglich zu machen. Die Dialektologie, gerade in der Deutschschweiz, geht hier mit blendendem Beispiel voran (Glaser 2021) - aber in plurizentrischen Sprachen wie dem Deutschen variieren Strukturen eben auch in den Standardvarietäten der einzelnen deutschsprachigen Regionen und Länder, und dies über die reinen Lexeme hinaus (siehe Ammon et al. 2016 vs. mediawiki.ids-mannheim.de/ VarGra, Dürscheid et al. 2018). Nur eine Disziplin, die Sprache(n) als solche betrachtet, kann dieser Variation systematisch auf die Spur kommen - natürlich wird sie sich auch der Methoden der Sozialwis‐ senschaften bedienen, um soziodemographische Faktoren am Ursprung der 34 Elisabeth Stark <?page no="35"?> Variation erfolgreich isolieren zu können. Aber das, was da variiert, sind Sprachstrukturen, und die Linguistik ist als einzige Disziplin in der Lage, diese sachlich korrekt zu erkennen, zu beschreiben und zu erklären. Neben dem reinen Erkenntnisgewinn geht es einmal mehr um eine Neubewertung von beobachtbarer Variation z. B. in schriftlichen Prüfungsunterlagen, und um eine wertschätzende Spracherziehung, die der rein instrumentellen Auffassung von Sprache als Kommunikationsmittel die identitätsstiftende und Reflexion erst ermöglichende kognitive Funktion (mindestens) an die Seite stellt. Wer Vielfalt bewahren möchte, muss sie erforschen und das Feld der Sprachwissenschaft im engen disziplinären Sinne bestellen, bevor interdisziplinäre Kooperationen eingegangen werden, ein Feld, welches, so meine Beobachtung, schon teilweise brach liegt an Universitäten und darüber hinaus. Keine andere Disziplin als die Linguistik kann sich hierzu und zu vielen anderen Fragen der Sprache(n) als solche kompetent zu Wort melden und auch gegebenenfalls in den bildungspolitischen Diskurs eingreifen - so sie denn bei ihrem Markenkern bleibt und nicht in den Untiefen nicht verstandener Inter‐ disziplinarität verschwimmt. Tatsächliche Schnittstellen zwischen Disziplinen existieren nämlich nur dort, wo ein gemeinsamer Forschungsgegenstand iden‐ tifiziert werden kann - und das ist überraschenderweise zwischen Linguistik und anderen sprachbezogenen Wissenschaften nur sehr selten der Fall. Nur die Sprachwissenschaft untersucht sprachliche Phänomene als solche, in ihrem strukturellen Aufbau, keine andere Disziplin. Daher möchte ich die Metapher des Brückenschlags derjenigen der Schnitt‐ stelle vorziehen: Brücken zwischen disziplinär gewonnenen Erkenntnissen zu bauen, auch auf einer Metaebene die Ergebnisse der jeweils anderen Disziplin nachvollziehen zu können und den gemeinsamen Erkenntnisfortschritt heraus‐ zuarbeiten, stellt die anspruchsvollste Aufgabe akademischer Forschung (und Lehre) dar - und ist gleichzeitig nichts weniger als die Voraussetzung für wissenschaftlich belastbaren Erkenntnisgewinn. Literatur Ammon, Ulrich/ Bickel, Hans/ Lenz, Alexandra Nicole ( 2 2016). 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Die im Beitrag vorgestellte diachrone Analyse zeigt, dass es im Kasussystem neben Abbautendenzen auch bemerkenswerte Stabilität gibt, namentlich die scharfe Trennung zwischen einem zentralen (Nominativ/ Akkusativ) und einem peripheren (Genitiv/ Dativ) Bereich. In Bezug auf den peripheren Bereich fällt die komplementäre Distribution von Genitiv vs. Dativ (als strukturell regierte Kasus) auf. Ich mache den Vorschlag, dass die beiden letztgenannten Kasus im heutigen Deutschen in eine allomorphische Beziehung getreten sind und dieses somit nur über ein Dreikasussystem verfügt. In kolloquialen Varietäten ist diese Allomorphie wieder beseitigt, indem das traditionell als Genitiv bezeichnete Allomorph geschwunden ist. Vor diesem Hintergrund ist das eigentlich Erklärungsbedürftige der Erhalt des Genitivs in der Standardvarietät, der aber als stilistischer Marker eine neue Funktion erhält. 1 Einleitung 1 Unter den indogermanischen Sprachen verfügt das Deutsche über ein relativ ausge‐ prägtes Kasussystem. Von den acht rekonstruierten Kasus des Indogermanischen (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Ablativ, Lokativ, Instrumental, Vokativ) lassen sich noch vier Kasuskategorien unterscheiden. (Dürscheid 1999: 8) <?page no="40"?> 2 Zur Notation: Ich verwende, wo immer diese Unterscheidung für das Verständnis zentral ist, für die (syntaktischen) Kasuskategorien Abkürzungen in Großbuchstaben (NOM, AKK, GEN, DAT), für Flexionsformen in Kleinbuchstaben (Nom. etc.), ansonsten (d. h., wenn beides gemeint ist) die voll ausgeschriebenen Namen der Kasus (Nominativ etc.). Die neuhochdeutsche Standardsprache ist somit eine Momentaufnahme einer längerfristigen Entwicklung des Abbaus und Zusammenfalls von Kasus. Die Frage, über wie viele Kasus genau das Nhd. verfügt, ist nicht ganz trivial: Vergegenwärtigt man sich die interne Struktur des neuhochdeutschen Kasussystems, so stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt berechtigt ist, für das Deutsche genau vier Kasuskategorien anzusetzen. Diese sind ja morphologisch nicht eindeutig differenziert. (Dürscheid 1999: 9) Dies liegt u. a. daran, dass in Paradigmen Synkretismen, d. h. polyfunktionale Formen, vorliegen (z. B. das Kind = Nominativ oder Akkusativ), weshalb es nötig ist, zwischen (syntaktisch geforderten) Kasuskategorien und (morphologisch ausgedrückten) Kasusformen zu unterscheiden (Dürscheid 1999: 8-12): In Das Kind schläft liegt ein syntaktisch geforderter (Subjekts-)NOM vor, im Gegensatz zum syntaktischen AKK in Ich mag das Kind, der aber durch dieselbe morpho‐ logische Form realisiert ist (die wir Nom., Akk. oder vielleicht ohnehin anders nennen können). 2 Synkretismus ist ein wichtiges, aber nicht das einzige Problem bei der Feststellung der Anzahl Kasus im Deutschen. Auch die funktionale Differenzie‐ rung zwischen Kasusformen muss überdacht werden, etwa dergestalt, ob zwei unterschiedliche morphologische Formen auch wirklich zwei verschiedenen syntaktischen Kasuskategorien zuzuordnen sind. In Bezug auf die formale Differenzierung ist z. B. der sehr weit gehende Synkretismus zwischen NOM und AKK im Deutschen auffällig und erklärungsbedürftig. In Bezug auf die funktionale Differenzierung ist eine gewisse Nähe zwischen GEN und DAT verschiedentlich und relativ beiläufig festgestellt worden. Nach Eisenberg „ist man berechtigt, den Dat/ Gen als markiert dem Nom/ Akk als unmarkiert gegenüberzustellen“ (2006: 172). Vater hält fest, „dass der Dativ als ‚eine Art Genitiv‘ empfunden wird“ (2015: 228). Ein anderes Problem bei der Eingangsfrage ist, was unter ‚Deutsch‘ zu verstehen sei. Während das frühe Althochdeutsche in Resten noch einen fünften Kasus aufweist, den Instrumental, ist die Anzahl der Kasuskategorien in den allermeisten hochdeutschen Dialekten auf drei reduziert (NOM, AKK, DAT). Das Bild einer generellen Abbautendenz ist aber zu oberflächlich, denn „die Geschichte der deutschen Kasusmorphologie zeigt nicht nur auflösende, son‐ 40 Guido Seiler <?page no="41"?> dern in ebenso hohem Grade systemerhaltende Tendenzen auf “ (Dal 1971[1942]: 160), und zwar gerade auch in den hochdeutschen Dialekten, denn „auch die Mundarten weisen systemerhaltende Tendenzen auf “ (Dal 1971[1955]: 172): Insbesondere „die feste Stellung des Dativs auf hochdeutschem Gebiet ist ein so auffälliger Zug, dass man das Hochdeutsche als das Dativgebiet charakterisieren könnte“ (Dal 1971[1960]: 189). Die bemerkenswerte Stabilität des Dativs in allen hochdeutschen Varietäten ist erklärungsbedürftig, ebenso wie die Instabilität des Genitivs, wo sich in der beobachtbaren Sprachgeschichte am meisten Wandel vollzogen hat: in der Standardsprache sehr starker Rückzug des Genitivs aus dem adverbalen Bereich, in den Dialekten gar gänzlicher Wegfall des Genitivs. Der Einschätzung Dals, dass „der Wegfall des Genitivs […] ein sprachgeschichtliches Problem [ist], zu dem eigentlich noch gar keine befriedigende Erklärung beigebracht worden ist“ (1971[1955]: 174 f.), stimmen auch Fleischer/ Schallert zu, insofern sie den Genitivschwund als ein „Phänomen, das bisher keine gesamthafte Erklärung gefunden hat“ (2011: 99), ansehen. Der im Folgenden vorgestellte Ansatz versucht, die großen Entwick‐ lungslinien im hochdeutschen Kasuskategorien- und -formengefüge nachzu‐ zeichnen. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf Erhalt und Verlust von formal-morphologischen und funktional-syntaktischen Differenzierungen. Daraus könnte gewissermaßen en passant auch eine mögliche Lösung für das Genitivproblem resultieren, d. h. eine plausible Erklärung für sein Verschwinden in den meisten hochdeutschen Dialekten ebenso wie für seinen Erhalt in der Standardvarietät (was im Kontext der übrigen modernen Varietäten ja ebenfalls erklärungsbedürftig ist). Ich gehe dabei folgendermaßen vor: Ich identifiziere zunächst (Abschn. 2) wesentliche Entwicklungstendenzen des Kasussystems vom Altzum Neuhochdeutschen hin. Als Konsequenz daraus wird dafür argu‐ mentiert, dass das Verhältnis zwischen Genitiv und Dativ im Nhd. neu überdacht werden muss (Abschn. 3). In einer Zwischenbilanz zum Nhd. (Abschn. 4) zeigt sich, dass das Nhd. einige erklärungsbedürftige Eigenschaften aufweist, die allerdings im alemannischen Kasussystem weitgehend eliminiert sind (Abschn. 5). Abschn. 6 stellt die These auf, dass sich der entscheidende Unterschied zwischen standardsprachlichem und dialektalem System (Vorhandensein bzw. Fehlen des Genitivs) durch Refunktionalisierung des Genitivs als stilistischer Marker erklären lässt. Das Fazit in Abschn. 7 fasst die zentralen Punkte nochmals zusammen. 41 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="42"?> 2 Drei langfristige Entwicklungstendenzen des deutschen Kasussystems 2.1 Schwächung des formalen Kontrasts zwischen Nominativ und Akkusativ Viele der für die morphologische Exponenz relevanten Entwicklungen des Kasussystems vom Altzum Neuhochdeutschen hin lassen sich an folgender Gegenüberstellung ablesen: (1) Repräsentative Kasusparadigmen des Alt- und Neuhochdeutschen (Synkre‐ tismen sind durch fehlende horizontale Trennlinien markiert; Braune/ Heide‐ rmanns 2018: 250, 282, 339): Ahd. Sg. Pl. Sg. Pl. NOM dër tag dea taga diu zunga deo zungūn AKK dën tag dea taga dea zungūn deo zungūn GEN dës tages dëro tago dëra zungūn dëro zungōno DAT dëmu tage dêm tagum dëru zungūn dêm zungōm INSTR diu tagu Nhd. Sg. Pl. Sg. Pl. NOM der Tag die Tage die Zunge die Zungen AKK den Tag die Tage die Zunge die Zungen GEN des Tages der Tage der Zunge der Zungen DAT dem Tag(e) den Tagen der Zunge der Zungen Wenn man vom Verlust des ahd. Instrumentals absieht (vgl. dazu das Ende von Abschn. 3), fällt auf den ersten Blick ins Auge, dass in der nhd. Nominalphrase die Kasusmarkierung im Wesentlichen Aufgabe des Determinativs ist. In den Beispielen kommt substantivische Kasusflexion nur im GEN Sg. der stark deklinierten Nichtfeminina und im DAT Pl. der starken Deklination vor (dazu kommen noch die schwachen Maskulina, bei denen der NOM Sg.-Form Bär eine zweite Form Bären gegenübersteht, die eingesetzt wird, sobald das Kasus- oder das Numerusmerkmal oder beide von NOM Sg. abweichen). Aufgrund der sehr viel weitergehenden Artikelgrammatikalisierung im Neuhochdeutschen 42 Guido Seiler <?page no="43"?> halte ich es deshalb für nötig und gerechtfertigt, die Substantivdeklination jeweils als Zusammenspiel von Determinativ und Substantiv darzustellen (vgl. die fehlenden vertikalen Linien in den nhd. Paradigmen), während ich für das Ahd. Artikel- und Substantivflexion getrennt darstelle. Es fällt sodann auf, dass beim schwachen Femininum (Zunge) sowohl zwi‐ schen NOM und AKK als auch zwischen GEN und DAT die Formen zum Nhd. hin zusammenfallen. Insbesondere die morphologische Distinktion zwischen NOM und AKK ist schon beim Einsetzen der Überlieferung ohnehin sehr schwach und reduziert sich zum Nhd. hin weiter (vgl. Braune/ Heidermanns 2018: 282, 339): (2) Ahd. Nhd. diu (Nom.) ≠ dea (Akk.) → die (Nom. = Akk.Sg.f.) hano (Nom.) ≠ hanon (Akk.) → Hahn (Nom. = Akk.Sg.m.) zunga (Nom.) ≠ zungūn (Akk.) → Zunge (Nom. = Akk.Sg.f.) Es bleibt bei der nhd. Nominalphrase (Determinativ + Substantiv) somit nur noch im Sg. des Maskulinums ein formaler Kontrast zwischen NOM und AKK erhalten (der allerdings beim Indefinitartikel auch schon erheblich schwächelt, vgl. Pröll, unter Begutachtung). Interessanter finde ich allerdings, wo keine Tendenz zum Kasussynkretismus vorkommt. Dies ist zum einen der Fall bei den Personalpronomen, wo die morphologischen Distinktionen des Ahd. besser erhalten bleiben (z. B. der Viererkontrast in der 1.Sg. ich/ mich/ meiner/ mir). Zum anderen sehen wir in den nhd. Paradigmen aus Bsp. (1) eine einzige durchgezo‐ gene horizontale Linie, nämlich die Trennung in einen oberen Bereich (NOM/ AKK) und einen unteren (GEN/ DAT) - während im Ahd. die Synkretismen zwar insgesamt etwas weniger häufig, aber auch weniger systematisch verteilt sind (es gibt dort in Bsp. 1 keine horizontale Linie, die nicht an irgendeiner Stelle unterbrochen ist). Dies bedeutet, dass der formale Kontrast zwischen den Bereichen NOM/ AKK einerseits und GEN/ DAT andererseits zum Nhd. hin nicht nur erhalten bleibt, sondern sich sogar festigt. 2.2 Spezialisierung des strukturellen Genitivs als adnominaler Kasus Eine ganz wesentliche Veränderung in der syntaktischen Distribution der Kasus (die folglich in der Darstellung 1 der morphologischen Exponenz nicht sichtbar ist) betrifft den Genitiv. Der Genitiv als Objektskasus war im Ahd. (neben dem Akkusativ) ganz üblich, ist im Nhd. aber ausgesprochen eingeschränkt, z. B. auf Fälle wie: 43 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="44"?> (3) Das bedarf einer Erklärung. Akkusativ und Genitiv kommen im Ahd. gleichberechtigt nebeneinander als Objektskasus vor, häufig bei denselben Verben, wobei die Verteilung auf aspektsemantische Distinktionen sensibel reagiert: Akkusativobjekt (Bsp. 4) steht für eine terminative (totale, resultative, punktuelle, semelfaktive), Geni‐ tivobjekt (Bsp. 5) für eine nicht-terminative (partitive, durative, habituelle) Lesart (vgl. die Diskussion bei Donhauser 1998; Leiss 2000, Kap. 5; Schrodt 2004, Kap. 2.9): (4) Wolt ich hiar nu redinon …Wio thar thio fruma [AKK] niezent thie hiar thia sunta rienzent (O V 23,7) ‚ich möchte hier nun davon sprechen, … wie diejenigen, die hier die Sünden bereuen, dort in den Genuß des Heiles kommen‘ (Donhauser 1998: 74) (5) lango niaz er libes [GEN] (OI L 74) ‚er möge noch lange das Leben genießen‘ (Donhauser 1998: 74) Während also im Ahd. der Akkusativ-Genitiv-Wechsel vital und semantisch motiviert (also regelhaft) ist, ist Genitivrektion im Nhd. eine eingefrorene Eigenschaft von nurmehr einer Handvoll Verben (z. B. bedürfen, gedenken, sich erinnern). Dies bringt uns zu einer fundamentalen Unterscheidung, die die Zuweisung von Kasus betrifft. Kasus kann lexikalisch, strukturell oder inhärent sein (Dürscheid 1999: 54-55; Woolford 2006: 112). Lexikalische Zuweisung ist eine idiosynkratische Eigenschaft des jeweiligen regierenden Elements (z. B. des Verbs oder der Präposition), die mit dem Einzellexem gelernt werden muss, während struktureller und inhärenter Kasus nicht aufgrund einer Idiosynkrasie eines einzelnen Lexems, sondern aufgrund einer grammatischen Regularität zugewiesen werden. Strukturell zugewiesene adverbale Kasus sind im Nhd. der Subjektsnominativ, der Akkusativ des Direkten Objekts, der Dativ des Indirekten Objekts (vgl. Dürscheid 1999: 58-59 mit Bezug auf Wegener 1991). Das heißt, dass z. B. bei einem dreiwertigen Verb nicht extra die von ihm regierten Kasus mitgelernt werden müssen; es genügt zu wissen, dass das Verb drei nominale Argumente nimmt, denen dann per Default die genannten Kasus strukturell zugewiesen werden (vom Default abweichende Kasus wären lexika‐ lisch zugewiesen, nur diese müssten mit dem regierenden Lexem abgespeichert werden). Inhärenter Kasus ist ebenfalls musterhaft, ist aber im Gegensatz zum strukturellen Kasus nicht durch eine bestimmte strukturelle Konfiguration zugewiesen und im Gegensatz zum lexikalischen Kasus nicht durch ein regie‐ 44 Guido Seiler <?page no="45"?> rendes Element prädeterminiert, sondern trägt eine Eigensemantik bei, wie z. B. der temporal-adverbiale Akkusativ in Letzten Montag habe ich die Schule geschwänzt. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass sich der Objektsgenitiv vom Ahd. zum Nhd. von einem prädiktablen hin zu einem idiosynkratischen Kasus gewandelt hat: Genitivrektion ist eine Idiosynkrasie einzelner Verben, eine Eigenschaft, die für diese Verben extra gelernt werden muss. Nicht ganz klar, aber für das Fol‐ gende unwesentlich, ist, welche Art prädiktabler Kasus im ahd. Objektsgenitiv vorliegt. Donhauser (1998: 83) klassifiziert ihn als strukturell, wobei m. E. auch inhärente Anteile beteiligt sind: Strukturell ist der Ausschluss von Nominativ und Dativ als Kasus des Direkten Objekts, inhärent die semantisch-aspektuelle Wahl zwischen Akkusativ und Genitiv. Während der Wegfall des Genitivs als prädiktabler Objektskasus zum Nhd. hin einen viel beachteten und radikalen Wandel in der deutschen Kasussyntax darstellt, geht leicht vergessen, dass sich etwas Wesentliches nicht verändert hat, nämlich der Genitiv als adnominaler Attributskasus (das Buch meines Bruders), wenn man vom Wandel der Stellungspräferenzen innerhalb der Nominalphrase absieht (vgl. Demske 2001, Kap. 4). Der adnominale Genitiv ist klar strukturell; es ist sicherlich nicht eine idiosynkratische Eigenschaft des Einzellexems Buch, den Genitiv zu regieren. Der adnominale Genitiv ist auch klar die häufigste Verwendung: Weber (2021: 94, 97) zählt 94 % adnominale Vorkommen von Genitivformen, denen nur 5 % präpositionale und gar lediglich 1 % adverbale Verwendungen gegenüberstehen. Folglich kann die Entwicklung der Genitiv‐ syntax vom Ahd. zum Nhd. hin zusammengefasst werden als (i) Lexikalisierung (und damit Wegfall der strukturellen Zuweisung) im adverbalen Bereich, (ii) damit einhergehend Beschränkung des strukturell zugewiesenen Genitivs allein auf den adnominalen Bereich: In adnominaler Relation, d. h. innerhalb einer NP, tritt der Genitiv im Deutschen als struktureller Kasus auf. Der Kasus ist in diesem Fall an die NP-interne Strukturposition gebunden. Dagegen fällt der Genitiv in den seltenen Fällen, in denen er im Neuhoch‐ deutschen noch von einem Verb regiert wird, unter die Klasse der lexikalischen Kasus. (Dürscheid 1999: 60) Als Grund, warum genau sich der Genitiv als Objektskasus so weitgehend zurückzieht, nehmen Donhauser (1998), Leiss (2000) und Schrodt (2004) an, dass er gewissermaßen ins Sandwich gekommen ist zwischen einer generellen Abkehr des Deutschen vom grammatischen Ausdruck von Aspektualität einer‐ seits und der Grammatikalisierung des Artikelsystems andererseits, das einen Teil der alten Genitiv-Akkusativ-Alternation funktional auffängt. Ich folge hier 45 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="46"?> 3 Entsprechendes gilt im Folgenden auch jeweils für die Postpositionalphrase. diesen Überlegungen und gebe lediglich zu bedenken, dass die Abkehr von grammatischer Aspektualität selbst wieder ein Explanandum darstellt (das ich hier aber nicht lösen kann). Ein weiteres Explanandum ist der Verlust des Genitivs überhaupt in den allermeisten Dialekten, also insbesondere auch des adnominalen. Es greift zu kurz, hier lediglich lautliche Abschleifung, eine diffuse Tendenz zum Formen‐ abbau oder zur Paradigmenökonomie verantwortlich zu machen: Die morpholo‐ gische Bildungsweise des Genitivs wird nämlich nicht abgebaut. Beispielsweise kennt das Zürichdeutsche weiterhin Formen wie s Müllers, s Graafe etc., die etymologisch auf Genitivformen zurückgehen, hier sogar in starker und schwacher Flexion. Synchron handelt es sich nicht um Genitive, sondern um kasusunterspezifizierte Kollektivformen mit einer relativ spezifischen Semantik (Familienzugehörigkeit bei Menschen), die syntaktisch als Plurale fungieren (s Müllers sind choo ‚die Müllers sind gekommen‘; s Müllers iri Chind ‚den Müllers ihre Kinder‘). Echter adnominaler Genitiv ist dagegen nur noch im Höchstalemannischen zu finden (vgl. Fleischer/ Schallert 2011: 86). M.W. gibt es für den totalen Wegfall des Genitivs in den allermeisten Dia‐ lekten noch keinen plausiblen Erklärungsversuch; vgl. aber dazu mein Vorschlag in Abschn. 5. 2.3 Ausbau der Präpositionalphrase Weniger beachtet als der Genitivwandel bzw. -schwund, aber von ebenso großer Tragweite für das Gesamtgefüge, ist der sukzessive Ausbau der Präpositional‐ phrase 3 : „Der Kasusschwund vom Indoeuropäischen zum Neuhochdeutschen hat auch dazu geführt, daß Funktionen, die Kasuskategorien inne hatten, von Präpositionalkonstruktionen übernommen wurden“ (Dürscheid 1999: 10). Sowohl paradigmatisch (Umfang des Inventars an Präpositionen) als auch syntagmatisch (Distribution) ist die Kombination aus Präposition und kasus‐ markierter Nominalphrase die eigentliche Erfolgsgeschichte der sprachhistori‐ schen Entwicklung. Ich illustriere dies an instrumentalen Angaben. Der hierfür spezialisierte indogermanische Instrumental tritt in Konkurrenz mit reinem Dativ in instrumentaler Funktion sowie den Kombinationen mit + Instrumental und mit + Dativ, was sich schließlich (noch in der ahd. Periode) durchsetzt (Dal/ Eroms 2014: 37-38): 46 Guido Seiler <?page no="47"?> (6) Ausdrücke für instrumentale Relationen: a. Idg.: NP instr b. Ahd.: NP instr NP dat mit + NP instr mit + NP dat c. Nhd.: mit + NP dat Es ist ohne weitere Präzisierung somit nicht korrekt zu konstatieren, dass der nhd. Dativ die Funktionen der verloren gegangenen idg. obliquen Kasus übernommen habe, sondern: In den neuhochdeutschen Dativ beispielsweise gehen - so ist immer wieder in diachronen Grammatiken zu lesen - die Funktionen des Ablativs, des Lokativs und des Instrumentals ein […]. Im Neuhochdeutschen trägt aber nicht alleine der Dativ diese Funktionen. Es ist vielmehr die Verbindung aus Präposition und Dativ-NP, die eben dies leistet. (Dürscheid 1999: 10-11) Genauer genommen ist das sprachgeschichtliche Erfolgsmodell also nicht die Präpositionalphrase an sich oder der Dativ an sich, sondern die Kombination aus beidem. Neben obliquen Relationen wird von diesem Modell auch ein Teil der adverbalen Genitivrektion übernommen: (7) sie eiscōtun thes kindes (Ahd., Otfrid: Dal/ Eroms 2014: 21) ‚Sie fragten nach dem Kind‘ Analog zur Kasusvergabe im adverbalen Bereich kann man sich fragen, ob es in der Präpositionalphrase ebenfalls einen Default-Kasus gibt, der somit strukturell zugewiesen ist, so dass das präpositionale Lexikon insofern entlastet werden könnte, als nur noch Abweichungen vom Default lexikalisch abgespeichert werden müssen. M.E. kommt hierfür nur der Dativ in Frage. Genitiv-regierende Präpositionen gibt es zwar nicht wenige (wegen des schlechten Wetters), jedoch können sie im Gebrauch optional auch mit Dativ kombiniert werden (wegen dem schlechten Wetter), was häufig als Zweifelsfall oder Unsicherheit gedeutet wird, uns aber nur zeigt, dass es sich beim Dativ um den Default-Kasus nach Präposition handelt, weshalb ich diese Dativverwendungen weniger als 47 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="48"?> 4 Ich gehe auf den umgekehrten Fall, also Ersatz des adpräpositionalen Dativs durch den Genitiv, unten Abschn. 6 kurz ein. Unsicherheit, sondern vielmehr als vollkommen systemangemessene Regulari‐ sierung verstehen möchte; die Regularität besteht darin, dass hier konsequent von Genitiv auf Dativ ausgewichen wird 4 und nicht etwa auf Nominativ oder Akkusativ (was morphologisch ja viel einfacher wäre! ). Nur wenige Präpositionen zeigen reine Akkusativrektion (z. B. durch, für, ohne). In diesem Ansatz müsste die Akkusativrektion mit der Präposition gelernt werden, also lexikalisch sein. Wechselpräpositionen mit Dativ in lokaler und Akkusativ in direktionaler Funktion verfügten nebeneinander über den strukturell zugewiesenen Dativ und die lexikalisch gesteuerte direktionale Ak‐ kusativoption; vgl. außerdem Abraham (2001) für einen alternativen Ansatz, der für Wechselpräpositionen sogar ausschließlich Dativrektion annimmt, während der Akkusativ von woanders zugewiesen werde: Die Wortart Präposition regiert aus eigener Kraft prinzipiell den Dativ. Der Akkusativ dagegen wird durch das Sekundärprädikat hin-/ her-, die optionale Verbpartikel, bzw. ein komplexes Richtungsadverbial zum Fortbewegungsverb regiert. (Abraham 2001: 63) 3 Konsequenz: Morphemzusammenfall von Genitiv und Dativ Wir können mit Eisenberg (2006: 172) im klassischen Vierer-Kasusparadigma eine tiefe Sollbruchstelle zwischen NOM/ AKK als unmarkiertem und GEN/ DAT als markiertem Kasuspaar ansetzen. Das unmarkierte Kasuspaar ist funktional für den zentralen Core-Bereich zuständig, den Blake (1994: 32) und Baerman et al. (2005: 40) als Überbegriff für Subjekt und Direktes Objekt definieren. Es handelt sich hierbei um die obersten beiden Positionen auf der NP Accessibility Hierarchy von Keenan/ Comrie (1977). Ich fasse alles, was nicht Core ist, als Noncore-Bereich zusammen, d. h. die übrigen Positionen der NP Accessibility Hierarchy unterhalb von Subjekt und Direktem Objekt, worunter im Deutschen insbesondere das Indirekte Objekt, oblique Relationen (zumeist als Präpositio‐ nalphrasen kodiert) sowie das adnominale Attribut fallen. Die formale Distinktion zwischen NOM und AKK ist im Deutschen schwach und schwächer werdend, so dass die meisten nominalen Ausdrücke über eine einzige Form verfügen, die für diesen ganzen Core-Bereich zuständig ist. Plank (2016) hat die Frage aufgeworfen, inwiefern es sinnvoll sei, bei notorischem NOM-AKK-Synkretismus überhaupt von einem solchen zu sprechen, oder ob die Bezeichnungen Nominativ und Akkusativ nicht besser für diejenigen 48 Guido Seiler <?page no="49"?> 5 Abgesehen von lockeren Appositionen, denn es besteht eine Tendenz, „bei Appositi‐ onen mit nicht-nominativischer Bezugs-NP den Dativ als ‚Normalkasus‘ zu wählen“ (Weber 2021: 86). Weber (2021: 87) führt als Beispiel an: Damals bekam er sein erstes Buch über Hildegard von Bingen, der bedeutendsten Naturheilkundigen des Mittelalters (Schweriner Volkszeitung, 15.6.2010, S. 17). Formparadigmen reserviert bleiben sollen, die diese Distinktion formal auch tatsächlich realisieren, während es dann für die synkretische Form eine neue Bezeichnung bräuchte, für die Plank (2016) „Nokkusativ“ vorschlägt. Ich komme auf die Frage zurück (Abschn. 4). Was jedoch steht im Deutschen dieser Fast-Einheitsform für den Core-Bereich gegenüber? Wie teilen sich die beiden gemäß Eisenberg (2006: 172) markierten Kasus jenseits der Sollbruchstelle, d. h. Genitiv und Dativ, im Noncore-Bereich die Arbeit? Um diese Frage zu beantworten, muss lexikalisch zugewiesener Kasus völlig außer Acht bleiben, denn dessen Pointe besteht ja gerade darin, dass er sich der strukturellen Kasuszuweisung entzieht. In der hier nur relevanten Domäne der strukturellen Kasuszuweisung gibt es nun eine interessante Beobachtung. Es wurde oben Abschn. 2.2 gezeigt, dass es sich beim Genitiv in adnominaler Umgebung (aber nur dort) um einen strukturell zugewiesenen Kasus handelt. Ebenfalls wurde darauf hingewiesen, dass der Dativ des Indirekten Objekts ebenfalls ein struktureller Kasus ist. Schließlich habe ich in Abschn. 2.3 argu‐ mentiert, dass der Dativ der Default-Kasus in der Präpositionalphrase ist, d. h. dass adpräpositionaler Dativ ebenfalls strukturell zugewiesen wird. Umgekehrt kennt das Standarddeutsche innerhalb der Nominalphrase keine Einbettung von Dativen 5 ; komplexe Nominalphrasen wie meinem Vater sein Auto, also mit Dativattribut, sind in Dialekten sehr weit verbreitet (Henn-Memmesheimer 1983), aber ausgerechnet in der Standardsprache nicht möglich. Die Konsequenz daraus ist, dass die beiden für den Noncore-Bereich über‐ haupt in Frage kommenden strukturellen Kasus (Genitiv und Dativ) zueinander in komplementärer Distribution stehen: In adnominaler Umgebung tritt aus‐ schließlich der Genitiv auf, während im übrigen Noncore-Bereich (Indirektes Objekt, Präpositionalphrase) der Dativ auftritt. In der Phonologie werden zwei Laute, die in komplementärer Distribution auftreten, als zwei materielle Exponenten derselben zugrunde liegenden abstrak‐ teren (kontrastierenden) Einheit analysiert, also als Allophone desselben Phonems (Hall 2011: 39). Entsprechend werden in der Morphologie zwei Formen, die in komplementärer Distribution auftreten, als zwei materielle Exponenten derselben zugrunde liegenden abstrakteren (bedeutungstragenden) Einheit analysiert, also als Allomorphe desselben Morphems (Hockett 1947). Das sind Prämissen der 49 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="50"?> strukturellen Linguistik, und gemeinsam mit der oben aufgestellten Generalisie‐ rung zur komplementären Distribution als weitere Prämisse folgt aus ihnen der Schluss: Das Verhältnis zwischen Genitiv und Dativ ist im Neuhochdeutschen ein allomorphisches. Genitiv und Dativ sind lediglich zwei materielle Exponenten derselben zugrunde liegenden morphemischen Einheit, die in voraussagbarer, komplementärer Distribution auftreten. Diese abstraktere Einheit, der die beiden Gen. und Dat. genannten Allomorphe zugeordnet sind, können wir GEN, DAT oder auch anders, z. B. OBL[IQUUS] nennen. Es handelt sich dabei um den dritten (und damit letzten), markierten Kasus im deutschen Kasussystem, der für den gesamten peripheren bzw. Noncore-Bereich zuständig ist. Somit verfügt das Neuhochdeutsche auf morphemischer Ebene nur über die drei Kasuskategorien NOM, AKK und OBL. Ein möglicher Einwand gegen diese Analyse könnte sein, dass ja vielleicht letztlich alle Kasus in lediglich allomorphischer Beziehung zueinander stehen. Tatsächlich ist die Tendenz in generativ-derivationellen Syntaxmodellen sehr ausgeprägt, die Kasusvergabe direkt an bestimmte syntaktische Strukturposi‐ tionen zu koppeln. Die zugrunde liegende Strukturposition wäre dann das Bedeutungsunterscheidende, nicht die Kasusform selbst. Das ist eine mögliche, aber ausgesprochen theorieabhängige Generalisierung. Ihr stehen Ansätze mit einer wesentlich flacheren deutschen Satzstruktur entgegen (z. B. Frey 1993, Kap. 2.5; Haider 1993; Berman 2003, Kap. 3.2), in denen Subjekt, Direktes und Indirektes Objekt mittels VP-Adjunktion einander hierarchisch quasi gleichge‐ stellt sind. Dann kommt, auch verursacht durch die im Hauptsatz obligatorische Vorfeldbesetzung (Dürscheid 1989), Kasus als der eigentliche Träger der Infor‐ mation über grammatische Funktionen wieder ins Spiel (Constructive Case in der Lexical-Functional Grammar, vgl. Nordlinger 1998). Dadurch erweist sich bei den strukturell zugewiesenen adverbalen Kasus die Kasusmarkierung eben doch als das bedeutungsunterscheidende Element. Zur Illustration kommt nur ein ditransitives Prädikat mit drei belebten/ menschlichen Mitspielern in Betracht, da nur dann Weltwissen und Pragmatik nicht ohnehin schon eine Lesart nahelegen (in Fällen wie kaufen + Hans + Auto ist die Kasusmarkierung zur Disambiguierung der grammatischen Funktionen redundant, und bei Hans und Auto sind Nominativ und Akkusativ ja auch tatsächlich nicht einmal formal geschieden). Zudem wähle ich zur Illustration NPs im Maskulin Singular, da hier das morphologische Distinktionspotenzial voll ausgeschöpft werden kann: (8) a. Der Vater zeigt den Jungen dem Kinderarzt. b. Der Vater zeigt dem Jungen den Kinderarzt. 50 Guido Seiler <?page no="51"?> c. Den Vater zeigt der Junge dem Kinderarzt. d. Dem Vater zeigt der Junge den Kinderarzt. Wenn wir akzeptieren, dass die vier Varianten phrasenstrukturell relativ äqui‐ valent sind (die Satzstruktur also relativ flach ist), zeigt sich das morphemische, also bedeutungsunterscheidende Potenzial der Distinktion zwischen Nominativ, Akkusativ und Dativ. Man könnte nun einwenden, dass in der ersten Variante (8a bzw. 9a) Dativ vs. Genitiv ebenfalls kontrastierend wären: (9) a. [Der Vater] zeigt [den Jungen] [dem Kinderarzt]. b. [Der Vater] zeigt [den Jungen [des Kinderarztes]]. Hier aber ist die Variante (9b) phrasenstrukturell klar anders konfiguriert bzw. geklammert als (9a): Der Satz (9b) enthält im Unterschied zu (9a) nur zwei und nicht drei adverbale Mitspieler, dafür eine komplexe NP mit eingebettetem adnominalem Genitiv. Und diese (unstrittige) unterschiedliche Klammerung ist wiederum genau der Umgebungsfaktor, der die Allomorphwahl zwischen Gen.- und Dat.-Morph des OBL-Morphems determiniert. Damit sehe ich es als erwiesen an, dass sich die Allomorphieproblematik auf das Verhältnis nur zwischen Genitiv und Dativ beschränkt. Ein zweiter möglicher Einwand könnte sein, dass ja entgegen der oben postulierten voraussagbaren komplementären Distribution Genitive eben doch in den Positionen auftreten, in denen nach bisheriger Generalisierung der Ak‐ kusativ oder Dativ vorausgesagt wird, etwa bei genitivregierenden Verben oder Präpositionen. Richtig, diese Genitive stehen dem postulierten Muster entgegen, es handelt sich jedoch um lexikalische Kasus, für die unsere Generalisierung nicht greift und auch nicht greifen soll (denn sonst würde die idiosynkratische Charakteristik des Phänomens der lexikalischen Zuweisung ja gar nicht mehr abgebildet). Dürfen also Allomorphe entgegen dem sonst gültigen Default lexikalisch selegiert werden? Natürlich, und das ist nicht einmal ungewöhnlich. Beispielsweise ist in der deutschen Substantivflexion die Tendenz zwar sehr aus‐ geprägt, dass Feminina nach der schwachen und Nichtfeminina nach der starken Deklination flektiert werden. Wenn man diese Generalisierung nicht über Bord werfen möchte (was schade und ein intellektueller Rückschritt wäre), kommt man nicht umhin, stark flektierte Feminina (Hände) und schwach flektierte Nichtfeminina (Bären) als lexikalische Idiosynkrasie zu analysieren. Diese ergibt im Sprachsystem zwar nicht besonders viel Sinn, aber damit können Sprachen 51 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="52"?> und Sprecher*innen gut leben. Lexikalische Idiosynkrasien, die sonst gültige Regularitäten überschreiben, existieren auch in der Phonologie. Beispielsweise werden im Mittelbairischen Geminaten in finaler Position generell gekürzt (Geminate in fiʃʃɑ ‚Fischer‘, aber Simplex in fi: ʃ ‚Fisch‘), aber für die finale Gemi‐ natenkürzung gibt es lexikalische Ausnahmen in spezifischen morphologischen Kontexten wie z. B. dem Plural der starken Maskulina (Geminate in fiʃʃ ‚Fische‘; Seiler 2005: 109). Es ist aber nichts gewonnen, wenn man deswegen die sonst gültige Generalisierung zur finalen Geminatenkürzung gleich gänzlich verwirft. Aus diachroner Perspektive haben wir bei der hier postulierten Entwicklung von Genitiv und Dativ einen Vorgang des Morphemzusammenfalls vor uns. Dieses Konzept, das mir aus der deutschsprachigen Literatur nicht bekannt ist, ist durch seine Parallelität zum Phonemzusammenfall inspiriert (Hockett 1958: 446; vgl. Honeybone/ Salmons 2015, Kap. 3.1): Phonemzusammenfall bezeichnet die Vereinigung von zwei ursprünglich zu getrennten Phonemen gehörigen Lauten neu in einem einzigen Phonem, wobei der lautliche Unterschied aber durchaus aufrechterhalten bleiben kann; er ist aber nach dem Phonemzusam‐ menfall nurmehr allophonischer Natur. Dass ein Phonemzusammenfall stattge‐ funden hat, ist also nicht etwas, was man hört (denn man hört weiterhin zwei unterschiedliche Laute), sondern etwas, was sich durch Analyseprozeduren erschließt (denn die beiden Laute sind nach dem Phonemzusammenfall neu distribuiert und nicht mehr in der Lage, zu kontrastieren). Ein Beispiel für Pho‐ nemzusammenfall ist der Zusammenfall der mhd. langen und kurzen Vokalpho‐ neme in eine einzige Reihe von nicht quantitätsspezifizierten Vokalphonemen im Mittelbairischen, die je nach Umgebungsbedingungen als lange oder kurze Allophone realisiert werden (Seiler 2005). Phonemzusammenfall können wir also folgendermaßen schematisieren: (10) Vor dem Zusammenfall: Nach dem Zusammenfall: / γ/ ≠ / δ/ → / γ/ [α] [β] [α] [β] Wir können die Variablen mit phonologischen Einheiten instanziieren oder aber mit morphologischen Einheiten; auch dann stehen zwischen den eckigen Klammern die materiellen Exponenten (in dem Fall dann Allomorphe) und 52 Guido Seiler <?page no="53"?> zwischen Schrägstrichen die abstrakten Einheiten (Morpheme), denen die ma‐ teriellen Exponenten zugeordnet sind (Verbindungslinien). Wie der Phonemzu‐ sammenfall ist der Morphemzusammenfall eine Angelegenheit der kategorialen Distinktionen auf der Ebene der abstrakten Einheiten, nicht (unbedingt) auf der Ebene der materiellen Exponenten. Die erste mir bekannte Benennung solcher Phänomene als Morphemzusam‐ menfall stammt von Hoeningswald (1960): A particularly interesting form of merger exists when morhps which originally contrast recur, at the later stage, in phonemically corresponding shape but in comple‐ mentary distribution and therefore as co-allomorphs. (Hoenigswald 1960: 36) Das Konzept scheint weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, was erstaunt, denn besonders selten sind solche Phänomene nicht und werden m. E. auch kor‐ rekt beschrieben, aber nicht mit dem Konzept Morphemzusammenfall in Verbin‐ dung gebracht. So weisen Braune/ Heidermanns (2018: 248) darauf hin, dass im Ahd. je nach Flexionsklasse „die Formen des Dat.Sg. […] mehrfacher Herkunft [sind], sie gehen auf verschiedene idg. Kasus zurück (Dativ, Instrumental, Lokativ, Ablativ)“. Beispielsweise sind etymologische Instrumentalformen in ihrer Exponenz z. T. erhalten, aber werden dativisch verwendet: Bei den Pronomina dër (in substantivischem Gebrauch) und (h)wër vertritt der Instr.Sg. im Neutrum den kaum gebrauchten Dativ. Deshalb sind hier Verbindungen mit dativischen Präpositionen häufig (z. B. bi diu, in diu […], zi wiu […]). (Braune/ Heidermanns 2018: 248) Analog ist der Kasuszusammenfall im Germanischen bei Ringe (2006) darge‐ stellt: „The dative, ablative, and locative cases underwent syntactic merger, yielding a ‚dative‛ case with the functions of all three“ (Ringe 2006: 198). Er stellt „functional merger of the ablative and locative cases with the dative“ (Ringe 2006: 224) fest sowie: „there are enough unambiguous cases to show that both dative and locative endings survived in the singular in dative function“ (Ringe 2006: 225). Gleiches konstatiert Kulikov (2006) auch für den lateinischen Ablativ: Note that all three Proto-Indo-European source cases, the (old) ablative, locative and instrumental, have left traces both in the singular and plural paradigms at least in some of the attested Latin declensions, so that phonetic processes alone could not yet result in the simple syncretism of these three cases. […] In particular, the three source cases must be considered semantically (functionally) close enough to each other, which has licensed the form of one of them to take over the functions of the other(s). (Kulikov 2006: 34) 53 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="54"?> Ich deute die beschriebenen Fälle als weitere Beispiele für Morphemzusam‐ menfall: Zu einem früheren Zeitpunkt existierte eine Reihe von formal und funktional geschiedenen obliquen idg. Kasus. Zu einem späteren Zeitpunkt sind sie funktional in eine einzige Kasuskategorie verschmolzen, wobei aber die ursprünglich morphemisch relevanten formalen Kontraste tw. weiterhin fortbestehen und nurmehr als allomorphische (in den angesprochenen Fällen im Wesentlichen auf Flexionsklassenunterschiede reduzierte) Varianten fun‐ gieren. 4 Zwischenbilanz für die Entwicklung zum Neuhochdeutschen hin Wenn man sich die Gesamtentwicklung des Kasussystems vom Altzum Neuhochdeutschen hin Revue passieren lässt, zeichnet sich das Nhd. durch folgende Eigenschaften gegenüber früheren Sprachstufen aus: (i) großer und zunehmender formaler Synkretismus im Kasuspaar Nomi‐ nativ/ Akkusativ; davon ausgenommen sind die Personalpronomen sowie nichtpronominale Nominalphrasen im Sg.m.; (ii) Rückzug des strukturellen Genitivs aus dem adverbalen Bereich in den adnominalen Bereich, abgesehen von lexikalisierten Resten im adverbalen Bereich; (iii) damit einhergehend komplementäre Distribution im Noncore-Bereich von strukturell zugewiesenem Genitiv (in adnominaler Umgebung) und Dativ (in den übrigen Umgebungen), die ich als ein allomorphisches Verhältnis analysiert habe; (iv) Ausbau der Präpositionalphrase, wobei sich insbesondere hier (gegenüber dem Idg. und Germanischen) neuartige Verwendungsweisen des Dativs entfalten, bei gleichzeitigem Erhalt der (lexikalischen) Genitivrektion zahlreicher Präpositionen (wo jedoch der Gebrauch instabil ist und Ge‐ nitiv und Dativ miteinander variieren). Ad (i): Das Nhd. zeigt einen Split in ein Nom.-Akk.-System (Personalpronomen sowie Sg.m.) und ein „Nokkusativ“-System (sonst; Plank 2016). Eine höhere kasusmorphologische Distinktionsfähigkeit von Personalpronomen ist typolo‐ gisch nicht weiter auffällig und somit erwartbar. In Analogie zur Beschreibung von Sprachen mit Split-Ergativität (etwa in der Australianistik) kann man hier von einer Split-Akkusativität sprechen: Die obersten Positionen der Beleb‐ theitshierarchie von Silverstein (1976), also die Personalpronomen, zeigen eine morphologisch vom Subjekt differenzierende Markierung des Direkten Objekts, was andere Nominalausdrücke nicht zeigen (Baerman et al. 2005: 44-47). Man 54 Guido Seiler <?page no="55"?> könnte in Analogie zur Australianistik die Bezeichnung für den nicht-differen‐ zierenden, unmarkierten Kasus (dort: den Absolutiv) beibehalten auch für die transitiven Situationen, wo Subjekt und Direktes Objekt morphologisch gleich kodiert sind, nämlich in ebendiesem unmarkierten Kasus (die weniger sinnvolle Alternative, die im Kontext der Split-Ergativität-Forschung m.W. auch nicht genutzt wird, wäre, bei Gleichkodierung der beiden zentralen Mitspieler von einem Absolutiv-Ergativ-Synkretismus zu sprechen). Die Generalisierung zum Nhd. kann somit folgendermaßen formuliert werden: Direktobjektspronomen werden im Akkusativ kodiert. Das Subjekt sowie die übrigen Direkten Objekte werden im Nominativ kodiert (die Bezeichnung „Nokkusativ“ ist in diesem An‐ satz nicht mehr nötig). Folglich verfügen nur die Personalpronomen überhaupt über eine eigene Akkusativform. Diese Generalisierung greift für das Nhd. fast vollständig, einzig der Sg.m. (der ebenfalls über Akkusativformen verfügt) entzieht sich ihr, was im Gesamtgefüge eine Art Auffälligkeit oder Unebenheit darstellt. Ad (ii): Wenn sich der adverbale Genitiv nur als lexikalischer Kasus bei einer Handvoll Verben hält, kann man sich fragen, ob und wie lange sich der adverbale Genitiv überhaupt halten kann (unter der Annahme, dass lexikalischer Kasus für den Erwerb einen Mehraufwand ohne besonderen Nutzen darstellt). Ad (iii): In Bezug auf den hier postulierten Morphemzusammenfall zwischen Genitiv und Dativ möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Prozess massiv Allomorphie in das System trägt. Allomorphie verletzt ein zentrales Prinzip der Natürlichen Morphologie, das Prinzip der Uniformität (Mayerthaler 1980). Wir haben eigentlich zu viele Morphe für zu wenige morphemische Kontraste. Mit Allomorphie kann eine Sprache natürlich leben. Dennoch würde die Natür‐ lichkeitstheorie voraussagen, dass die Allomorphie zumindest instabil ist und längerfristig durch Sprachwandel überwunden wird. Es sind zwei mögliche Auswege aus der Allomorphie denkbar: Entweder ein Allomorph fällt mit der Zeit weg, oder die beiden Allomorphe bestehen fort und werden sekundär refunktionalisiert. Ad (iv): Wie bei (ii) ist auch hier der Lernaufwand für die lexikalische Genitivrektion von Präpositionen verdächtig, und wiederum kann man darüber spekulieren, ob sie mit der Zeit abgebaut wird und der Default-Kasus der Präpositionalphrase, also der Dativ, zum Tragen kommt. Gleichzeitig möchte ich aber spezifisch für den Dativ noch auf eine weitere Beobachtung hinweisen. Aufgrund des großen sprachgeschichtlichen Erfolgs der Präpositionalphrase wird die ursprüngliche Verwendung des Dativs, nämlich als (nicht-adpräpositi‐ onaler) Kasus des Indirekten Objekts, relativ gesehen massiv seltener. Gemäß Webers (2021: 94, 96-97) Zählung kommt im Nhd. die überwältigende Mehrheit 55 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="56"?> (94 %) der Dativformen in von Präposition regierter Umgebung vor, während nur gerade 4 % der Dative adverbal, d. h. in Funktion des Indirekten Objekts vorkommen (zu einer ähnlichen Zahl, 92 %, kam auch Nübling 1992: 221). Wenn man diese Zahlen als Hinweis versteht, dass die prototypische Umgebung für Dative die präpositional regierte ist, dann erscheint der nicht-präpositionale, d. h. Indirektobjektsdativ, geradezu als eine Ausnahme. 5 Alemannisch als „Neuhochdeutsch 2.0“ Was für ein Kasussystem würden wir erwarten, wenn wir uns in einem Gedankenexperiment die oben (Abschn. 4) erläuterten Eigenschaften des nhd. Kasussystems noch konsequenter oder regelmäßiger implementiert vorstellen, d. h. die für die Entwicklung zum Nhd. hin verantwortlichen Tendenzen weiterdenken würden? Ad (i): Die Auffälligkeit des distinkten Akkusativs im nicht-pronominalen Sg.m. könnte verschwinden. Ad (ii): Adverbaler lexikalischer Genitiv könnte wegfallen. Ad (iii): Die Allomorphie von Genitiv- und Dativformen würde beseitigt, etwa dergestalt, dass eines der Allomorphe wegfällt. Hierfür kommt insbesondere die Genitivform in Frage, da dadurch gleichzeitig die Überlastung des Lexikons, vgl. Punkte (ii) und (iv), wegfallen würde. Ad (iv): Die Affinität des Dativs zur adpräpositionalen Umgebung könnte weiter ausgebaut und regularisiert werden, etwa dergestalt, dass sich die Kodierung des Indirekten Objekts an das sonst übliche Vorkommen des Dativs (nämlich adpräpositional) angleicht. Zusammengefasst würden die Entwicklungslinien vom Ahd. zum Nhd. hin - nun über den im Nhd. dokumentierten Zustand hinaus gedacht - zu einem Zweikasussystem führen, wo ein „Directus“ oder „Nokkusativ“ im Core-Bereich einem zweiten Kasus gegenübersteht, der für den Noncore-Bereich zuständig ist und dort jeweils gemeinsam mit Präposition auftritt (der Dativ, den wir dann auch „Obliquus“ oder „Präpositiv“ nennen können). Weiterhin könnte man bei den Personalpronomen distinkte Akkusativformen erwarten, aber nur dort. Genau über dieses, bis jetzt rein hypothetische, Kasussystem verfügt eine Vielzahl von alemannischen Dialekten. Ich illustriere dies am Beispiel des elsässischen (niederalemannischen) Dialekts von Benfeld: 56 Guido Seiler <?page no="57"?> (11) Kasussystem im Elsässischen (Benfeld, Bas-Rhin; Rünneburger 1992) Elsäss. ‚der Brief ‘ ‚die Ente‘ ‚wer‘ ‚ich‘ NOM der brief d ant wär i AKK der brief d ant wär mi DAT emm brief e de ant e wämm e miir Wir stellen in diesem Dialekt eine vollständige Nivellierung des formalen Kon‐ trasts zwischen Nominativ und Akkusativ fest außer beim Personalpronomen, die vollständige Eliminierung des Genitivs (und damit auch zahlreicher lexika‐ lischer Genitivzuweisungen), aber auch eine weiterhin große morphologische Integrität des Dativs sowie die Etablierung eines präpositionalen Markers (e), der vor Dativformen treten kann, sofern dort nicht ohnehin bereits eine andere Präposition steht. Diese präpositionale Dativmarkierung zeichnet viele alemannische und bairische Dialekte aus, vgl.: (12) a. Gebbs e de Frài! (Benfeld, Bas-Rhin; Rünneburger 1992: 61) ‚Gib es der Frau! ‘ b. er git dr Öpfel a mir statt a dir (Glarus; Bäbler 1949: 31) ‚Er gibt den Apfel mir statt dir‘ c. sàg’s in der frau (Südbairisch: Oberinntal; Schöpf 1866: 286) ‚Sagʼs der Frau‘ Seiler (2003: 148) analysiert den Dativmarker als ein präpositionales Expletiv, dessen Entstehung durch syntaktische Analogie zum prototypischen Vor‐ kommen von Dativen, nämlich adpräpositional, motiviert ist (vgl. Seiler 2003: 220, 227, 248). Nicht alle alemannischen Dialekte folgen diesem Muster. Präpositionale Dativmarkierung ist auf ein bestimmtes, aber durchaus umfangreiches Gebiet beschränkt (Seiler 2003: 263-265), außerdem verfügen einige höchstalemanni‐ sche Dialekte am Südwestrand des Sprachgebiets nach wie vor über den Genitiv (Fleischer/ Schallert 2011: 86). Dennoch sollte damit deutlich geworden sein, dass das in vielen alemanni‐ schen Dialekten vorzufindende Kasussystem keineswegs eine Abkehr oder gar einen Abfall von den Entwicklungslinien darstellt, die wir vom Ahd. zum Nhd. hin ohnehin schon isolieren konnten. Im Gegenteil, diese Entwicklungen 57 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="58"?> sind im Alemannischen lediglich weiter fortgeschritten und systematischer implementiert. Alemannisch ist somit gewissermaßen ein neuhochdeutscheres Nhd. als das Nhd. selbst. 6 Genitivproblem 2.0: Warum ist der Genitiv im Neuhochdeutschen erhalten? Ich habe versucht zu zeigen, dass im Noncore-Bereich des Nhd. eigentlich ein Zuviel an Formen vorherrscht, da weiterhin Genitiv- und Dativformen koexistieren, die (sofern strukturell zugewiesen) zueinander in komplementärer Distribution stehen, wodurch dieser Analyse folgend massiv Allomorphie in das System hineingetragen wird. Das Alemannische wie überhaupt die überwältigende Mehrzahl der hochdeutschen Dialekte hat diese Allomorphie durch Eliminierung der Genitivform bzw. Generalisierung der Dativform wieder beseitigt. Sie besteht aber weiterhin im Nhd. Während also der in den Dialekten bezeugte Wegfall des Genitivs eine durchaus erwartbare Entwicklung darstellt, formiert sich nun ein Genitivproblem der anderen Art: Das eigentlich Erklä‐ rungsbedürftige ist nicht der Wegfall, sondern vielmehr der Erhalt des Genitivs, wie wir ihn in der Standardvarietät vorfinden. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass bei einem Zuviel an Formen zwei Weiterentwicklungen denkbar sind, entweder Eliminierung von Formen (wie im Alemannischen) oder sekundäre Refunktionalisierung, legt dies die Vermutung nahe, dass im Nhd. ev. eine solche Refunktionalisierung vorliegen könnte. Dies ist m. E. auch tatsächlich der Fall. Allerdings tritt die Refunktionalisierung nicht auf der Ebene des eigentlichen Kasussystems ein; dieses wird gewissermaßen zweckentfremdet. Der Genitiv ist ein stilistischer Marker geworden, der Hoch- oder Schrift‐ sprachlichkeit signalisiert. Dadurch transportiert er auch (oder gar in erster Linie) außergrammatische Bedeutung, was von Szczepaniak (2014) und Pickl (2020) detailliert diskutiert wird. Damit soll nicht gesagt sein, dass die stilistische Markierung das Einzige ist, was man über die Genitivverwendung wissen muss; weiterhin gilt die Distribution als struktureller Kasus innerhalb der Nominal‐ phrase sowie als lexikalischer Kasus bei einigen Verben und Präpositionen. Es soll hier aber die These aufgestellt werden, dass die grammatisch-funktionale Abstützung des Genitivs innerhalb der Logik des deutschen Kasussystems doch eher bescheiden ist und folglich der Genitiv ohne die Refunktionalisierung als Marker von Standardsprachlichkeit nicht hätte überleben können - wie ja die überwältigende Mehrheit der Dialekte (mit vollständigem Wegfall des Genitivs), 58 Guido Seiler <?page no="59"?> wo Markierung von Standardsprachlichkeit per definitionem fehl am Platz ist, beweist. Ein deutlicher Hinweis, dass innerhalb der relevanten grammatischen Do‐ mäne, also im Wesentlichen in der Konkurrenz mit dem Dativ, der Genitiv hohes Prestige gewinnt, ist die Tatsache, dass im Verlauf der sprachgeschicht‐ lichen Entwicklung vermehrt auch Genitive mit ursprünglich dativregierenden Präpositionen verwendet werden (Szczepaniak 2014, Kap. 3; z. B. gemäß, S. 43). Auf den ersten Blick erscheint diese Expansion als eine Herausforderung für den hier vorgestellten Ansatz, demzufolge der Default-Kasus bei Präposition der Dativ sei, aber sie ergibt viel Sinn im Licht der außergrammatischen, stilmarkierenden Funktion des Genitivs: Hyperkorrekte Genitivverwendung ist Ausdruck einer Unsicherheit, die in meinem Ansatz völlig erwartet ist, da lexikalische Genitivrektion bei Präpositionen mit der Default-Zuweisung des Dativs durch Präpositionen konfligiert. Sprecher*innen tendieren dann bei Unsicherheit zu der Option, die ihnen stilistisch als hochsprachlicher erscheint (zum Genitiv), und hochsprachlich erscheint sie ihnen deshalb, weil es die Form im Dialekt nicht gibt: Die Genitivform ist systematisch anti-dialektal, und das ist gut für einen Marker, der ausdrücklich Standardsprachlichkeit signalisieren soll. Man mag einen gewissen Widerspruch sehen darin, dass ausgerechnet eine Form, die (meiner Analyse folgend) im grammatischen System nicht einmal be‐ sonders gut funktional verankert und eigentlich entbehrlich ist (wie zahlreiche Dialekte demonstrieren), als Prestigeform refunktionalisiert werden soll. M. E. ist dies kein Widerspruch, sondern im Gegenteil eine Kausalität: Gerade weil der Genitiv im Kasussystem relativ wenig verankert und entbehrlich ist, ist er ein morphologischer Luxus und bietet sich dadurch als Prestigeform an: Wer ihn dann trotzdem (und korrekt) benutzt, kann mit Luxus protzen. Einen parallelen Fall aus der Domäne Tempus vermuten Seiler/ Weber (2022) beim Präteritum: Auch hier ist eine Kategorie im Kontext des Tempussystems relativ schlecht grammatisch-funktional abgestützt; auch hier kommen zahlreiche Dialekte ohne sie aus; auch hier entwickelt sich eine stilistische Markierung des Präteritums, die zu gutgemeinten, besonders „hochsprachlich“ klingenden Überverwendungen des Präteritums führen kann (Dürscheid/ Hefti 2006: 136). 7 Fazit Es gebe, Dal (1971[1955]: 174 f.) und Fleischer/ Schallert (2011: 99) folgend (vgl. oben Abschn. 1), für den Wegfall des Genitivs in den Dialekten bislang noch keine befriedigende Erklärung. Der vorliegende Beitrag macht den Vorschlag, 59 Wie viele Kasus hat das Deutsche? <?page no="60"?> • dass der strukturell zugewiesene, also adnominale Genitiv des Nhd. in einem allomorphischen Verhältnis zum Dativ steht; • dass das Nhd. (gleich wie die meisten Dialekte) folglich auf der morphe‐ mischen Ebene nur über ein Dreikasussystem aus NOM, AKK und OBL verfügt (wobei zwischen NOM und AKK erheblicher morphologischer Synkretismus besteht; • dass durch die massive Allomorphie zwischen Genitiv- und Dativformen im Nhd. das natürlichkeitstheoretische Prinzip der Uniformität verletzt wird, wobei in den Dialekten Uniformität aber durch den Wegfall des einen Allomorphs (des Genitivs) wiederhergestellt wird; • dass lexikalische, also adverbale und adpräpositionale Genitivzuweisung im Nhd. eine Überlastung des Lexikons darstellt, die durch den Wegfall des genitivischen Allomorphs (in den Dialekten) obsolet wird; • dass das eigentlich Erklärungsbedürftige nicht der Wegfall des Genitivs in den Dialekten, sondern sein Erhalt in der Standardvarietät ist, was sich aber daraus erklärt, dass das genitivische Allomorph als stilistischer Marker für Standardsprachlichkeit refunktionalisiert ist. Literatur Abraham, Werner (2001). 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Martin Neef (TU Braunschweig) Abstract: Die gesprochene und die geschriebene Sprache sind Gebrauchs‐ phänomene. Dem Gebrauch liegt Wissen zugrunde, dem Wissen liegen Phänomene zugrunde, die als Systeme rekonstruiert werden können. Letz‐ teres ist die Perspektive der theoretischen Linguistik. Ein Schriftsystem ist hierbei plausiblerweise als auf ein bestimmtes Sprachsystem bezogen anzusehen. Damit ist Information des Sprachsystems für das Schriftsystem gegebene Information. Daraus folgt, dass die schriftlinguistische Model‐ lierung Einheiten aus dem Sprachsystem aufnimmt und ihre spezifische schriftliche Umsetzung untersucht. Eine solche Einheit ist der Satz, sprach‐ systematisch verstanden als Finitumsphrase. Wie z. B. die Schreibung zweier koordinierter Sätze zeigt (Sie ist hier und er ist dort.), beginnen in geschriebener Form manche Sätze mit Großbuchstaben, manche enden mit einem Schlusszeichen, andere aber nicht. Die schriftlinguistische Größe, innerhalb derer satzbezogene Regularitäten zu erfassen sind, ist die Schreibäußerung, die sich auch für kontrastive Studien eignet. 1 Einleitung Der Terminus Satz gehört zu den besonders umstrittenen in der Linguistik. Das hat seine Gründe. Wird der Satz als eine strukturelle Größe der Syntax angesehen, ist es die Aufgabe jeder einzelnen formalen Syntaxtheorie, eine in diesem Rahmen geeignete Definition des Terminus Satz bereitzustellen. Termini sind in diesem Sinne theorieabhängig. So, wie es aus diesem Grund viele zwar ähnliche, aber doch unterschiedliche Definitionen des Terminus Satz geben kann, können Theorien das fragliche Konzept auch mit einer anderen Benen‐ nung versehen oder auch ohne ein regelrechtes Satzkonzept auskommen, wenn <?page no="66"?> z. B. das gewöhnliche Satzkonzept auf zwei distinkte Teilkonzepte aufgespalten wird (wie etwa IP und CP in der Rektions- und Bindungstheorie der Generativen Linguistik; vgl. Chomsky 1986). Beim Terminus Satz kommt erschwerend hinzu, dass er auch in der Alltags‐ sprache verwendet wird. Alltagskonzepte sind gewöhnlich weit und unscharf oder, um es pointierter mit Dürscheid und Schneider (2015: 171) zu sagen: „Satz ist in unserer Geistes- und Kulturgeschichte ein beinahe hoffnungslos mehrdeutiger Ausdruck.“ Eine wissenschaftliche Bearbeitung derartiger Gegen‐ stände führt regelmäßig dazu, dass das Alltagskonzept in distinkte Teilkonzepte zerlegt wird, die jeweils terminologisiert werden. Problematisch ist hierbei dann immer, welches der angesetzten Teilkonzepte die Alltagsbenennung - in diesem Fall Satz - erhalten soll (wenn diese Benennung überhaupt wissenschaftlich genutzt werden soll). Überdies gibt es Satzkonzepte, die in der gesprochenen Sprache verankert sind, und solche, die zur geschriebenen Sprache gehören. Über das Verhältnis dieser beiden Arten von Satzkonzepten zueinander soll es im vorliegenden Beitrag gehen. Hierzu ist eingehend und grundlegend das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache zu bedenken. 2 Das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache Um die Relevanz schriftlinguistischer Forschung zu begründen, werden häufig zunächst signifikante Unterschiede zwischen der ‚gesprochenen Sprache‘ und der ‚geschriebenen Sprache‘ herausgearbeitet. Dürscheid (2016: 26-35) trägt einschlägige Unterscheidungsmerkmale zusammen und identifiziert nach einer Kritik an anderen Merkmalen die folgenden beiden Merkmale als konstitutiv für die in Frage stehende Unterscheidung: 1. Konstitutive Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache (Dürscheid 2016: 35) a. Die gesprochene Sprache ist körpergebunden. Die geschriebene Sprache ist dies nicht. Sie benötigt ein Werkzeug. b. Die gesprochene Sprache erstreckt sich in der Zeit. Dies gilt für die geschriebene Sprache nicht. Sie hat eine räumliche Ausdehnung. Letztlich können aber auch diese Merkmale nicht als gültig angesehen werden: Heutzutage gibt es genügend Erfahrung mit gesprochener Sprache, die von tech‐ nischen Geräten ausgeht und insofern nicht körpergebunden ist. Zugleich war es immer schon möglich, mit eigenem Blut auf eigene Haut zu schreiben oder mit Fingern auf der Haut oder in der Luft Buchstabenformen nachzuzeichnen, sodass auch die geschriebene Sprache nicht notwendig ein körperexternes 66 Martin Neef <?page no="67"?> Werkzeug benötigt. Weiterhin muss sich die gesprochene Sprache nicht in der Zeit erstrecken; Speichermedien wie die Schallplatte und das Tonband bewahren die gesprochene Sprache zeitlos auf, so wie Bücher es für die geschriebene Sprache leisten. Ohnehin behandeln aktuelle digitale Datenträger von den Spei‐ chereigenschaften her die gesprochene und die geschriebene Sprache gleich. Lediglich für die Produktion und die Rezeption wird Zeit benötigt, aber dies gilt für die gesprochene wie für die geschriebene Sprache gleichermaßen. Mit tech‐ nischen Geräten wie einem Oszillographen kann man auch der gesprochenen Sprache in der Notation eine räumliche Ausdehnung geben. Auch wenn sich die gesprochene und die geschriebene Sprache in ihren pro‐ totypischen Eigenschaften unterscheiden mögen, kommt man also auf diesem Weg nicht zu einer wesentlichen, definitorischen Unterscheidung dieser beiden Sprachformen; die Argumentation zur Begründung ihrer Unterscheidung ist auf anderem Weg zu suchen. Ein solcher Weg deutet sich an, wenn man weiter verfolgt, wie Dürscheid (2016: 35-42) bestimmte theoretische Positionen zum Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache erläutert (Depen‐ denzhypothese vs. Autonomiehypothese). Als ein wesentliches Argument zu‐ gunsten der Autonomie der geschriebenen von der gesprochenen Sprache führt Dürscheid (2016: 38) an, die geschriebene Sprache (‚die Schrift‘) bestehe aus ‚diskreten Einheiten‘, die gesprochene Sprache dagegen stelle ein Kontinuum dar. Wenn es aber darum geht, diese Beziehung zu konkretisieren, stehen auf der Seite der gesprochenen Sprache nicht dementsprechende kontinuierliche Schallsignale, sondern Phoneme als ebenfalls diskrete Einheiten (z. B. gemäß den gängigen Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln). Schallsignale fallen in den Gegenstandsbereich der Phonetik als der Wissenschaft der lautlichen Ei‐ genschaften der ‚gesprochenen Sprache‘ im Sinne eines Sprachgebrauchs, Pho‐ neme sind theoretische Konzepte der Phonologie, welche die systematischen Eigenschaften erfasst, die der gesprochenen Sprache zugrundeliegen; die Pho‐ nologie ist dem Sprachsystem zuzuordnen. Der allfällige Vergleich der beiden Sprachmodi wird folglich üblicherweise gar nicht auf der Gebrauchsebene - auf der Ebene des Sprechens und des Schreibens - durchgeführt, sondern auf einer abstrakteren Systemebene. Dabei können Gebrauch und System über die folgenden Definitionen in Beziehung zueinander gesetzt werden: 2. Definitionen von ‚gesprochene Sprache‘ und ‚geschriebene Sprache‘ gesprochene Sprache = Produkt der Nutzung des Wissens über ein Sprach‐ system geschriebene Sprache = Produkt der Nutzung des Wissens über ein Schrift‐ system 67 Satz für Satz <?page no="68"?> 1 Dies ist meine Interpretation dieser zum generativen Paradigma zählenden Ansätze. Die Autoren selbst mögen ihre Konzeptionen anders einschätzen wollen. 2 Bei Primus stehen ‚Schriftsprache‘ und ‚Lautsprache‘ überdies auf einer Ebene neben der ‚Gebärdensprache‘. Wenn die Konzepte ‚Sprachsystem‘ und ‚Schriftsystem‘ distinkt sind, gilt dies auf dieser Basis auch für die davon jeweils abhängigen Konzepte ‚gesprochene Sprache‘ und ‚geschriebene Sprache‘. Somit gilt es, die Termini Sprachsystem und Schriftsystem zu definieren. In der linguistischen Theoriebildung wird dies vorrangig im Kontext der Frage geleistet, in welcher Beziehung Sprachsystem und Schriftsystem zueinander stehen, oder in anderen Worten: Wie ist es um die Schnittstelle dieser beiden Systemarten bestellt? Darauf gibt es, wie zu erwarten, unterschiedliche Antworten, die zu unterschiedlichen Erklärungsmodellen ge‐ führt haben. 3 Das Verhältnis von Sprachsystem und Schriftsystem Auf die Frage, in welchem Verhältnis auf Modellebene Sprachsystem und Schriftsystem zueinander stehen, sind - in unterschiedlichen Forschungsan‐ sätzen - zumindest vier distinkte Antworten gegeben worden: 3. Wie sieht die Beziehung von Sprachsystem und Schriftsystem aus? a. Das Schriftsystem ist ein Teil der Grammatik (z. B. Eisenberg 1983, 2021) b. Das Schriftsystem ist ein Teil des Sprachsystems (z. B. Bierwisch 1972, Wiese 1987) 1 c. Sprachsystem und Schriftsystem stehen auf der gleichen Ebene neben‐ einander (z. B. Primus 2003: 6, 2 Neef 2005: 5, Domahs und Primus 2016: XIX) d. Das Sprachsystem ist ein Teil des Schriftsystems (z. B. Neef 2012: 217) Solche Zuordnungen sind als axiomatische Setzungen im Rahmen individu‐ eller Theorien anzusehen. Insofern sind sie nicht als richtig oder falsch zu bewerten, sondern sie erweisen sich im Zuge ihrer Anwendung für einschlägige sprachliche Analysen als mehr oder weniger sinnvoll. Im Übrigen können sie plausibel gemacht werden. Da ich seit 2012 Position (3d) vertrete, möchte ich diese hier plausibilisieren: Charakteristischerweise ist ein Schriftsystem ein System für ein bestimmtes Sprachsystem. Während ein Sprachsystem ohne ein Schriftsystem existieren kann, ist ein Schriftsystem regelmäßig mit einem bestimmten Sprachsystem verbunden. Folglich ist ein Schriftsystem von einem gegebenen Sprachsystem abhängig. Für das Schriftsystem gilt das Sprachsystem 68 Martin Neef <?page no="69"?> als gegebene Information, auf die es Zugriff hat. Der wesentliche Teil eines Schriftsystems ist eine Menge von Einheiten (Zeichen), die Einheiten des Sprachsystems zugeordnet sind. Das Modul des Schriftsystemmodells, das sich mit diesem Aspekt befasst, nenne ich ‚Graphematik‘. Zusätzlich enthalten natürliche Schriftsysteme typischerweise (aber nicht notwendigerweise) ein weiteres Modul, die ‚systematische Orthographie‘, die sich auf der Basis graphe‐ matischer Regularitäten mit der korrekten Schreibweise graphischer Einheiten beschäftigt. Dazu gehört auch der Bereich der Zeichensetzung. Das folgende Diagramm stellt die allgemeine Konzeption der in dieser Weise fundierten Modularen Schriftsystemtheorie (Neef 2005 et passim) dar. Sprachsystem Schriftsystem Graphematik systematische Orthographie Abb. 1: Modell des Schriftsystems (vgl. Neef 2015: 718) Für die Schnittstellenfrage ergeben sich hieraus folgende Konsequenzen: Das Sprachsystem und das Schriftsystem sind distinkte Objekte. Aus wissenschaft‐ licher Sicht ist es sinnvoll, dass sich ihnen unterschiedliche linguistische Teildisziplinen widmen. Dabei ist die Forschung zum Sprachsystem ihrerseits aufgespalten in diverse feiner gegliederte Teildisziplinen wie die Phonologie, die Morphologie und die Syntax. Wesentlich ist dabei, dass Forschung zum Sprachsystem autonom von Fragen zum Schriftsystem zu vollziehen ist; das Sprachsystem ist ein aus sich heraus zu modellierendes Objekt, das unbeein‐ flusst von Fragen zum Schriftsystem zu betrachten ist. Anders sieht es für die Schriftsystemforschung aus: Da das Sprachsystem modellhaft als Teil des Schriftsystems gilt, setzt die schriftlinguistische Analyse Informationsbestände zum Sprachsystem voraus. Welche Aspekte des Sprach‐ systems genau für die aktuelle schriftlinguistische Modellbildung relevant sind, kann nur eine spezifische Analyse zeigen. In jedem Fall aber steht sämtliche In‐ formation zum Sprachsystem der schriftlinguistischen Analyse zur Verfügung. Das macht die Schriftlinguistik als eine von der Sprachsystemforschung abhän‐ 69 Satz für Satz <?page no="70"?> 3 Diese Festsetzung passt zur Einschätzung von Müller (1985: 88 et passim), während z. B. Dürscheid und Schneider (2015: 178 f.) die Verhältnisse anders bewerten. gige Teildisziplin zu einer anspruchsvollen Wissenschaft, insbesondere einge‐ denk des Umstands, dass die Sprachsystemlinguistik (aus nachvollziehbaren Gründen, nicht als inhärente Schwäche) keine als allgemein verbindlich angese‐ hene Standardtheorie hervorgebracht hat. Die schriftlinguistische Modellierung muss sich gleichwohl für den jeweils in den Blick genommenen Teilgegenstand auf eine bestimmte Modellierung der Sprachsystemlinguistik festlegen, um daran anknüpfend schriftlinguistische Analysen ausarbeiten zu können. Unter Sicht des Modells in (4) steht zu erwarten, dass es zahlreiche unterschiedliche Theorievorschläge gibt, je nachdem, welche Sprachsystemtheorie als Basis genommen wird. Die Vielfalt potenziert sich, wenn auch andere angenommene Relationen zwischen Sprachsystem und Schriftsystem, wie in (3) aufgeführt, einbezogen werden. 4 Der Satz im Sprachsystem In einer schriftlinguistischen Analyse im Rahmen der Modularen Schriftsys‐ temtheorie werden schriftsystematische Einheiten (graphematischer oder or‐ thographischer Natur) analysiert, wobei mitunter der Bezug auf Einheiten des Sprachsystems wesentlich ist. Für die folgende Diskussion setze ich voraus, dass für die in diesem Beitrag vorgenommene schriftlinguistische Analyse eine syntaktische Einheit relevant ist, die typischerweise als Satz bezeichnet wird. Ich setze also fest, dass mit dem Ausdruck Satz eine Einheit der Syntax als Teil‐ bereich der Grammatik des Sprachsystems bezeichnet wird. 3 Im nächsten Schritt zeige ich dann, dass der Bezug zu dieser Einheit in der schriftlinguistischen Analyse benötigt wird. Die Benennung Satz ist dabei natürlich, wie bei jedem Terminus, im Grundsatz arbiträr. Ein wesentlicher Grund, sie zu wählen, ist der Bezug zur linguistischen Tradition. In Syntaxtheorien wird dieser Ausdruck häufig genutzt; ein zentraler Teil syntaktischer Forschungstätigkeit besteht darin, für bestimmte Sprachen Regeln oder Wohlgeformtheitsbedingungen für eine ‚Satz‘ genannte Einheit zu formulieren. Nach meinem Dafürhalten ist dies das linguistische Kernkonzept von Satz. Während die Benennung arbiträr ist, ist es die Definition natürlich nicht. Hier liegt ein zentrales Problem, da für das häufig mit der Benennung Satz ver‐ sehene Konzept innerhalb der Syntaxforschung diverse Definitionsvorschläge vorliegen. Um für die schriftlinguistische Modellierung eine größere Reichweite zu erzielen, ist es sinnvoll, an sprachsystematische Ergebnisse anzuknüpfen, die 70 Martin Neef <?page no="71"?> 4 Müller (1985: 89) hingegen fordert, den Terminus finites Verb aus der Definiensposition des Terminus Satz grundsätzlich auszuschießen, und zwar mit der Begründung, er sei möglichst weit geteilt werden. Dabei müssen sich beide Modellkomponenten natürlich demselben linguistischen Paradigma zuordnen lassen, um miteinander kompatibel zu sein. Eine konzeptualistische Schriftsystemtheorie beispielsweise muss auf einer konzeptualistischen Sprachsystemtheorie basieren (die beide ihre Objekte als mentale ansehen). Meine eigenen Überlegungen stehen im Paradigma der Realistischen Linguistik, die das Sprachsystem wie auch das Schriftsystem als abstrakte Objekte konzipiert (vgl. Katz 1981; Neef 2018). Dass die Grammatik von ihrer Ontologie her ein abstraktes Objekt darstellt, ist sicher keine neue, sondern eine gut in der Tradition verankerte Einschätzung, die gewöhnlich nur nicht ausdrücklich so formuliert wird. Alternative Paradigmen sehen die Grammatik als ein mentales Objekt an (z. B. die Generative Linguistik) oder als ein Gebrauchsphänomen, wie man es gegenwärtig in bestimmten korpuslinguistischen Ansätzen wiederfindet, soweit diese auf das Konzept von Grammatikalität verzichten und alle im betrachteten Korpus vorhandenen Daten für gleichwertig erachten. Einen geeigneten Ansatz einer syntaktischen Satzdefinition kann man im Grammatikduden (Wöllstein und Dudenredaktion 2016: 776) finden. Tatsäch‐ lich werden dort drei unterschiedliche Satzdefinitionen angeboten; die dritte (Wöllstein und Dudenredaktion 2016: 777) ist allerdings keine syntaktische, insoweit dort auf den Handlungscharakter verwiesen und das fragliche Konzept mithin als pragmatisches ausgewiesen wird (was in den weiteren Abschnitten dieses Texts relevant werden wird); die zweite (Wöllstein und Dudenredaktion 2016: 776) ist letztlich gar keine Definition, insofern dort nur vermerkt wird, dass es sich bei einem Satz um eine nach Regeln gebildete (abgeschlossene) Einheit handelt. Diese Eigenschaft gilt auch für viele weitere syntaktische Konstruktionen und erfasst letztlich jegliche in einer Syntaxtheorie angesetzte syntagmatische Einheit (wobei die Charakterisierung als ‚abgeschlossen‘ zu präzisieren bleibt). Die erste Satzdefinition lautet wie folgt: 4. Definitionsvorschlag der syntaktischen Einheit ‚Satz‘ (Wöllstein und Duden‐ redaktion 2016: 776) Ein Satz ist eine Einheit, die aus einem Prädikat mit finitem Verb und den dazugehö‐ rigen Ergänzungen und Angaben besteht. Ähnliche Definitionen finden sich in zahlreichen anderen Texten zur Syntax des Deutschen. 4 Dabei ist der Bezug auf die Einheit ‚Prädikat‘ im Grunde 71 Satz für Satz <?page no="72"?> entweder nicht gut definiert oder hänge vom Satzbegriff ab. Gleichwohl lässt sich das finite Verb rein morphologisch über Flexionsmerkmale bestimmen. 5 Heringer (1979: 156) begründet überzeugend, dass Satzgliedkonzepte grundsätzlich nicht im Definiens der Einheit ‚Satz‘ auftreten dürfen, „weil wir nicht sagen können, was Teil eines Satzes ist, ehe wir überhaupt wissen, was ein Satz ist“. 6 So z. B. Oppenrieder (1991: 253). überflüssig; 5 wesentlich ist, dass die fragliche Konstruktion ein finites Verb enthält. In einer nachgeordneten Satzgliedanalyse kann dieses Element als Teil des Prädikats analysiert werden - oder auch nicht, wenn der Ansatz beispielsweise auf die Einheit ‚Prädikat‘ verzichtet, wie man es in aktuellen Satzgliedtheorien verstärkt findet (z. B. Musan 2013). Die Forderung, dass zum Satz neben dem finiten Verb auch die ‚dazugehörigen Ergänzungen und Angaben‘ zählen sollen, ist insoweit problematisch, weil möglicherweise nicht alle Elemente, die man in typischerweise als Satz klassifizierten Einheiten findet, einem dieser beiden Konzepte zugeordnet werden können (offensichtlich ist dies z. B. für das Vorfeld-es). Um diese Unschärfe zu umgehen, wäre es möglich, auf die konkrete Benennung derjenigen Elemente, die neben dem finiten Verb zum Satz gehören sollen, zu verzichten und die entsprechende Anforderung in allgemeinerer Weise in einer Definition zu implementieren. Dabei ist auch zu bedenken, dass der Satz lediglich eine syntaktische Konstruktion neben anderen ist, was im Terminus Phrase aufgenommen ist: Phrasen sind syntaktische Kon‐ struktionen, die ein bestimmendes Element enthalten (ihren Kopf oder Kern) und die spezifischen Wohlgeformtheitsbedingungen unterliegen, die dergestalt sind, dass u. a. neben dem Kopf gegebenenfalls weitere Elemente zur selben Phrase gehören. Dies ist jeweils einzeln zu bestimmen, aber grundsätzlich in einem Phrasenkonzept verankerbar. Dann lässt sich der Satz als Phrase mit finitem Verb als Kopf ansehen oder auch kürzer als Phrase mit einem Finitum als Kopf, also als Finitumsphrase 6 (FP). Infinitivkonstruktionen sind demgemäß keine Sätze, sondern Phrasen anderen Typs. 5 Der Satz im Schriftsystem In der geschriebenen Sprache tauchen Einheiten auf, die als syntaktische Sätze der skizzierten Art klassifiziert werden können. Ob ein bestimmtes zu untersu‐ chendes Schriftsystem auf der Basis eines Satzkonzepts der skizzierten Art eine originäre Domäne nutzt, hängt davon ab, ob mit dieser Eigenschaften verknüpft sind, die sich nicht aus der sprachsystematischen Basis ergeben. Das wird in der einschlägigen Literatur (zumindest zu Schriftsystemen, die die lateinische Schrift nutzen) regelmäßig so gesehen, wenn konstatiert wird, dass Sätze in 72 Martin Neef <?page no="73"?> 7 Das hält aber z. B. Lyons (1981: 13) nicht davon ab, von einer Isomorphie von gesprochenem und geschriebenem Satz auszugehen. 8 Auf gewisse Bezüge zwischen Schlusszeichen und Intonation weist z. B. Lyons (1981: 16) hin. der geschriebenen Sprache mit einem Großbuchstaben beginnen und mit einem Schlusszeichen enden. 7 Das sind offensichtlich keine Eigenschaften, die in der sprachsystematischen Basis verankert sind. 8 Das fragliche schriftsystematische Konzept könnte auf dieser Basis sinnvollerweise einen Namen erhalten, der den Ausdruck Satz enthält. Hierzu gibt es eine Reihe von Vorschlägen. Die folgende Aufstellung enthält einige solche terminologische Ansätze, bei denen zwei distinkte Satzkonzepte angenommen werden, eins für das Sprachsystem (die ‚gesprochene Sprache‘) und eins für das Schriftsystem (die ‚geschriebene Sprache‘), und bei denen beide dazugehörige Termini den Ausdruck Satz ent‐ halten: Sprachsystem Schriftsystem Lyons (1981: 13) spoken sentence written sentence Nunberg (1990: 21f.) lexical sentence text sentence Cook (2004: 42) sentence sentence Dürscheid/ Schneider (2015: 179) Satz Satz Schmidt (2016: 222) syntaktischer Satz graphematischer Satz Ágel (2017: 11) grammatischer Satz orthographischer Satz Tab. 1: Termini zu Satzkonzepten in Sprachsystem und Schriftsystem Bei einer solchen Herangehensweise könnte das schriftlinguistische Satzkon‐ zept so definiert werden, dass ein sprachsystematischer Satz in geschriebener Form einen schriftsystematischen Satz ergibt. In einem nächsten Schritt wäre zu erfassen, welchen Bedingungen der Wohlgeformtheit der ‚geschriebene Satz‘ (in einem bestimmten Schriftsystem) unterliegt, also z. B. für das Deutsche, dass der erste Buchstabe ein Großbuchstabe und das letzte Zeichen ein Schlusszei‐ chen sein müssen. Tatsächlich gehen einschlägige Analysen zumindest zum deutschen Schriftsystem meines Wissens nicht so vor. Vielmehr wird gewöhn‐ lich eine schriftlinguistische Domäne angesetzt, die nicht in der genannten Art unmittelbar auf den syntaktischen Satz bezogen ist, der aber die beiden 73 Satz für Satz <?page no="74"?> 9 Zu einer Geschichte dieses Terminus vgl. Neef (2021b). genannten Merkmale zugeordnet werden. Letztlich dominiert eine zirkuläre Definitionsweise des schriftlinguistischen Satzkonzepts dergestalt, dass es in seiner Definition die Merkmale trägt, zu deren Erklärung es eigentlich heran‐ gezogen werden soll, nämlich die Anfangsgroßschreibung und die Nutzung von Satzschlusszeichen (vgl. die entsprechende Kritik bei Gallmann 1985: 38, 45; Ickler 1999: 154; Müller 2016: 58). Je nach Ziel kann eine Definition des schriftsystematischen Satzes über initiale Großbuchstaben und finale Schlusszeichen dennoch sinnvoll sein. In diesem Sinne bezeichnet Schmidt (2016) die diskutierte Domäne als ‚graphe‐ matischen Satz‘ und definiert diese gegen Ende seines Texts (2016: 247) so: „Der graphematische Satz kann als die suprasegmentale Einheit der Schrift bestimmt werden, die mit einer satzinitialen Majuskel beginnt und mit einem Satzschlusszeichen endet […].“ Merkwürdig an der Definition ist zunächst, dass in ihr zweimal der Ausdruck Satz vorkommt (in satzinitial und Satzschlusszei‐ chen); klarer wäre eine Formulierung, wonach der graphematische Satz ‚mit einer Majuskel‘ beginnt und ‚mit einem Schlusszeichen‘ endet. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich überdies, dass die vorgeschlagene Definition keine ist, die in den von Schmidt (2016) angenommenen theoretischen Rahmen passt. Er übernimmt nämlich die sprachverarbeitungstheoretische Interpunktionstheorie von Bredel (2008), die in das konzeptualistische Paradigma der Linguistik fällt. In diesem Rahmen haben Schlusszeichen die Funktion, „den Leser [zu] instruieren, die syntaktische Prozessierung abzubrechen und das eingelesene Syntagma thematisch weiterzuverarbeiten“ (Schmidt 2016: 249). Auf dieser Basis müsste eine konsistente Definition der Domäne ‚graphematischer Satz‘ möglich sein. Schmidts mutmaßliche Definition der Einheit ‚graphematischer Satz‘ ist stattdessen am besten als Entdeckungsprozedur zu verstehen zur Aufgabe, wie man in einem geschriebenen Text erkennt, dass eine solche Einheit vorliegt. Die Amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung erweckt den An‐ schein, der Zirkularität der Definition zu entgehen. Sie bedient sich diesbezüg‐ lich des Konzepts des ‚Ganzsatzes‘, 9 definiert diesen aber nur ostensiv über eine lange Liste an Beispielen (Deutsche Rechtschreibung 2018: 74) und damit notwendigerweise unscharf (vgl. auch Bredel 2005: 181 f.). Bei den gegebenen Beispielen sind solche, die genau einen syntaktischen Satz enthalten, aber auch solche, die mehr als einen Satz umfassen (Im Hausflur war es still, ich drückte erwartungsvoll auf die Klingel.), und schließlich auch solche, die aus etwas anderem als einem Satz bestehen (Hilfe! ). Damit bleibt der Bezug des 74 Martin Neef <?page no="75"?> 10 Bredel (2005) zeichnet die Geschichte eines solchen Analyseansatzes in deutschen Interpunktionslehren historisch nach. Ganzsatzes zum syntaktischen Satz unklar. 10 Das Konzept ‚Ganzsatz‘ taucht in der Amtlichen Regelung später in einschlägigen orthographischen Regeln auf (die in der Amtlichen Regelung aus Sicht der einzelnen Schriftzeichen formuliert sind). Gemäß § 67 etwa diene ein Punkt (unter anderem) dazu, den Schluss eines Ganzsatzes zu kennzeichnen (Deutsche Rechtschreibung 2018: 75). Mit einer solchen Formulierung ist zumindest klar, dass der Ganzsatz in diesem Kontext logisch gesehen nicht dadurch definiert sein kann, dass er mit einem Schlusszeichen endet, auch wenn die Sichtung der definierenden Beispiele für den Ganzsatz kaum eine andere Deutung zulässt. Für die schriftlinguistische Analyse wird also eine Domäne gesucht, die mit Mitteln der Schriftlinguistik definierbar ist und für die dann über Wohlgeformtheitsbedingungen formuliert wird, unter welchen Umständen sie mit einem Großbuchstaben zu beginnen und mit einem Schlusszeichen zu enden hat. Bei der Diskussion im folgenden Abschnitt werden insbesondere solche Beispiele relevant, bei denen die gesuchte Domäne nicht mit einem Großbuchstaben beginnt bzw. nicht mit einem Schlusszeichen endet, ohne aber ihren Status als Instanz der fraglichen Domäne zu verlieren. 6 Die Einheit ‚Schreibäußerung‘ Eine andere Herangehensweise besteht darin, die fragliche schriftlinguistische Domäne unabhängig von der syntaktischen Einheit ‚Satz‘ zu definieren. Im‐ merhin lassen sich leicht Beispiele finden, bei denen ein syntaktischer Satz in der geschriebenen Sprache erscheint, ohne z. B. mit einem Schlusszeichen zu enden: 5. Syntaktische Sätze mit und ohne Schlusszeichen a. Die Sonne scheint. b. Die Sonne scheint, sagte sie. c. Die Sonne scheint und der Regen ist vorbei. In allen Beispielen in (5) ist derselbe Satz DIE SONNE SCHEINT enthalten (hier notiert in durchgehenden Großbuchstaben, um anzuzeigen, dass es sich nicht um ein Datum der Schriftlinguistik, sondern um eins der Syntax handelt). Nur in (5a) folgt dem Satz in der geschriebenen Form ein Schlusszeichen. In (5b) fungiert der Satz als konstruktionsinitialer Objektsatz, in (5c) ist er syndetisch koordiniert mit einem folgenden Satz (der seinerseits nicht mit 75 Satz für Satz <?page no="76"?> 11 Vgl. hierzu auch Henne (1975). einem Großbuchstaben beginnt). Solche Beispiele sprechen für eine größere Un‐ abhängigkeit derjenigen schriftlinguistischen Einheit, die mit den Merkmalen Initialgroßschreibung und Schlusszeichen verbunden ist, von der syntaktischen Einheit ‚Satz‘. Eine solche Einschätzung findet sich verschiedentlich in der Linguistik. So stellt Maas (1992: 53 ff.) fest: „Nicht Sätze haben Interpunktionszeichen […], sondern Texte (und seien sie noch so kurz! ) werden für das Erlesen mit Interpunktionszeichen in Einheiten gegliedert“. Dabei steht der kommunikative Aspekt von Texten im Vordergrund, wenn Maas (1992: 53) betont, dass Texte durch Interpunktionszeichen „für Leser“ strukturiert werden. Andere Autoren sehen eine enge Verbindung der für die gesuchte Domäne charakteristischen Schlusszeichensetzung mit der Pragmatik. Für das Fragezeichen und das Aus‐ rufezeichen liegt eine solche Sicht nahe, werden diese Zeichen doch gewöhnlich an pragmatische Konzepte wie Fragen und Befehle geknüpft, aber auch für die Setzung von Punkten nutzen z. B. Bornemann und Bornemann (2012: 67) pragmatische Kategorien zur Erklärung: „Am Ende einer Aussage oder einer Feststellung steht ein Punkt“. Eine schriftlinguistische Fassung dieser Größe findet sich bei Stetter (1989: 303), der sich auf den von Ulshöfer (1974) geprägten pragmatischen Terminus Schreibakt bezieht 11 und diesen für die Erklärung der fraglichen Grenzsignale nutzt: „Die Wahl der Satzmajuskel markiert so den An‐ fang eines illokutiven Schreibakts, der durch die Wahl des Satzschlußzeichens genauer bestimmt wird“ (Stetter 1989: 302). Dabei stellt er fest: „Ein Text ist folglich nicht einfach aus Sätzen aufgebaut, seine Konstituenten sind, genau betrachtet, Schreibakte.“ Allerdings konzediert er, „daß mit der Einbettung des Schreibakts in den Text er seinen illokutiven Charakter verliert, den der Lokution jedoch beibehält“ (Stetter 1989: 318). Deshalb bevorzuge ich (vgl. Neef 2021a) als Benennung für das fragliche Konzept die basalere Form Schreibäuße‐ rung (bzw. written utterance). In diese Richtung zielt auch Stein (2015: 354), für den gilt: „Wir sprechen und schreiben in Äußerungen, indem wir kommunikativ relevante Einheiten bilden“, ebenso wie Dürscheid und Schneider (2015: 171): „Wenn wir in der geschriebenen Sprache einen Satz formulieren, so handelt es sich um eine geschriebensprachliche Äußerung“. Wenn die gesuchte schriftlinguistische Domäne als Schreibäußerung be‐ zeichnet wird, ist deutlich, dass sie nicht von der syntaktischen Größe ‚Satz‘ abhängt. Bredel (2005) führt in diesem Sinne einige Belege aus deutschen Interpunktionslehren des 15. und 16. Jahrhunderts auf, gemäß denen Schluss‐ zeichen (insbesondere der Punkt) nicht an eine syntaktische Größe gebunden 76 Martin Neef <?page no="77"?> ist, sondern an eine ‚Sinneinheit‘. Dabei interpretiert Bredel die Belege stark in Richtung Lesepsychologie. Viele Quellen erlauben aber ebenso eine Deutung, wonach es um die statisch gemeinte Abgrenzung von Sinneinheiten geht, unab‐ hängig von der Frage, wie Schreiber oder Leser im Gebrauch beim Formulieren oder Rezipieren damit umgehen. Ossner (1998: 86) diskutiert, in die gleiche Richtung zielend, die oben angerissenen Probleme der Definition der Einheit ‚Ganzsatz‘ und konstatiert, „daß ein Ganzsatz das ist, was der Schreiber als solchen bestimmt, und keine unabhängige Größe des Sprachsystems.“ Mögliche Motive, warum ein Schreiber per Grenzmarkierung eine bestimmte schriftlin‐ guistische Größe festlegt, finden sich bei Stetter (1986: 58), der Konstruktionen wie in (5c) als ‚eine Äußerung‘ und zugleich als ‚einen zusammenhängenden Gedanken‘ auffasst. Damit ist ein Rahmen skizziert, innerhalb dessen die Einheit ‚Schreibäuße‐ rung‘ definiert werden kann. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass diese Definition unmittelbar an viele ältere Satzdefinitionen anschließen kann, die unter Satz ja gerade in erster Linie eine geschriebene Einheit verstehen. Hoff‐ mann (1992: 365) sieht Sätze ‚funktional‘ so bestimmt, dass sie als „Ausdruck eines (vollständigen) Gedankens“ gelten sollen, eine Auffassung, die bis in die Antike zurückzuverfolgen sei. Gleichfalls ist eine Verwandtschaft zu äl‐ teren ‚psychologisierenden‘ Satzdefinitionen zu erkennen (vgl. Dürscheid und Schneider 2015: 171; Rinas 2017: 269), denen zufolge die fragliche Domäne einem ‚abgeschlossenen Gedanken‘ entspreche (was an das rhetorische Konzept ‚Periode‘ anschließt; vgl. Rinas 2017). Gleichwohl muss der in einer Schreibäu‐ ßerung gefasste Gedanke nicht abgeschlossen sein, sondern kann auch explizit abgebrochen sein, wie etwa eine Markierung mit finalen Auslassungspunkten indizieren kann. Auf dieser gedanklichen Grundlage definiere ich die schriftlinguistische Einheit ‚Schreibäußerung‘ folgendermaßen: 6. Definition der Einheit ‚Schreibäußerung‘ Eine Schreibäußerung ist eine schriftlinguistische Einheit, mit der ein kohärenter Gedanke ausgedrückt wird. Dabei haben Schreiber eine gewisse Flexibilität, was sie als kohärenten Ge‐ danken konzipieren möchten, aber sie sind auch nicht gänzlich frei in ihren Entscheidungen. Überdies ist die Schreibäußerung eine systematische Einheit, für die es Bedingungen der Wohlgeformtheit gibt, die im nächsten Abschnitt angesprochen werden. 77 Satz für Satz <?page no="78"?> 7 Orthographische Beschränkungen für Schreibäußerungen im Deutschen Die Schreibäußerung ist die zentrale Domäne in der Systematischen Orthogra‐ phie. Wesentliche Regularitäten oberhalb der Ebene des geschriebenen Worts lassen sich mit Bezug auf diese Einheit erfassen. Unter der Annahme, dass die Modellierung eines Sprachsystems wie auch die eines Schriftsystems eine zu‐ nächst sprachspezifische Angelegenheit ist, gebe ich im Folgenden einen kurzen Einblick in Beschränkungen für die Einheit ‚Schreibäußerung‘ im Schriftsystem des Deutschen. Mit der gleichen Theorie lassen sich andere Schriftsysteme analysieren, wobei im Ergebnis ein Sprachvergleich möglich wird, der Überein‐ stimmungen und Unterschiede in der Art dieser Beschränkungen demonstrieren dürfte (vgl. ansatzweise Neef 2021a). Zunächst führe ich zwei Bedingungen auf, die sich auf Eigenschaften be‐ ziehen, die gewöhnlich dem Ganzsatz zugeschrieben werden, nämlich die initiale Großschreibung und das finale Schlusszeichen. Die beiden auf die Schreibäußerung bezogenen Bedingungen sind allerdings komplexer formuliert und erfassen weitergehende Datenbereiche, die in alternativen Ansätzen häufig (wenn auch nicht immer) ausgeblendet werden. 7.1 Großbuchstaben am linken Rand von Schreibäußerungen Großbuchstabenbedingung Wenn das erste Element einer Schreibäußerung (abgesehen von öffnenden Klammern und öffnenden Anführungszeichen) ein Buchstabe ist, muss er als Großbuchstabe realisiert sein. In dieser Bedingung wird zunächst unterschieden zwischen Schreibäuße‐ rungen, die mit einem Buchstaben beginnen, und solchen, deren erstes Element ein Schriftzeichen anderer Art ist. Dabei werden öffnende Inter‐ punktionszeichen (Klammern und Anführungszeichen) aus der Betrachtung ausgenommen. Sicher ist es der Normalfall, dass Schreibäußerungen mit einem Buchstaben beginnen; diese Fälle betrachte ich zunächst. Anders als in vielen anderen Ansätzen ist das Merkmal eines initialen Großbuchstabens nicht Teil der Definition der fraglichen Domäne, sondern eine Bedingung ihrer Wohlgeformtheit. Natürlich lässt sich dieses Merkmal didaktisch für Entde‐ ckungsprozeduren von Schreibäußerungen nutzen, aber das macht es nicht zu einem Definitionskriterium. Ein wesentlicher Vorteil dieser Konzeption ist, 78 Martin Neef <?page no="79"?> 12 Mit der zusätzlichen Einheit ‚feste Buchstabenverbindung‘ (Neef 2005: 41) werden in diesem Ansatz solche Aspekte beschreibbar, die in graphembasierten Ansätzen mit dem Konzept Mehrgraph erfasst werden. Wie ihr Name zeigt, ist diese Einheit von der Grundeinheit Buchstabe abgeleitet. Die Buchstabenfolge <sch> konstituiert dabei eine von elf festen Buchstabenverbindungen des Deutschen. dass es auch Schreibäußerungen geben kann, deren erster Buchstabe ein Klein‐ buchstabe ist. Das ist z. B. möglich in einem Kontext, der radikale Kleinschrei‐ bung nutzt, einer Varietät, die in ihren Wohlgeformtheitsbedingungen vom Standard abweicht, der mit den benannten Bedingungen beschrieben werden soll. In den meisten Fällen aber würde ein solcher initialer Kleinbuchstabe als orthographischer Fehler gelten. Fehler können nur Verstöße gegen Wohlge‐ formtheitsbedingungen sein, nicht gegen Definitionsmerkmale. Ansätze, die den initialen Großbuchstaben zu einem Definitionskriterium erheben, haben Probleme damit, schreibäußerungsähnliche Domänen zu klassifizieren, die mit einem Kleinbuchstaben beginnen. Die Großbuchstabenbedingung ist buchstabenbezogen formuliert und nicht graphembezogen, was eine alternative Sichtweise darstellen könnte. Die Einheit ‚Graphem‘ wird in der Forschungsliteratur recht unterschiedlich definiert; ich beziehe mich hier allgemein auf solche Konzeptionen, die im deutschen Schriftsystem eine Buchstabenfolge wie <sch> als ein einheitliches Graphem analysieren würden. In einem solchen Ansatz wird an einem Beispiel wie *<SCHau her! > deutlich, dass für die Großbuchstabenbedingung die Einheit ‚Buchstabe‘ ausschlaggebend ist und nicht die Einheit ‚Graphem‘. In Neef (2005) nehme ich dies als ein wesentliches Argument dafür, ein Modell für die Schrift‐ systemanalyse zu entwerfen, das auf der Einheit ‚Buchstabe‘ basiert und auf die Einheit ‚Graphem‘ verzichtet. 12 Buchstaben treten dabei in zwei Varianten auf, nämlich als Kleinbuchstaben und als Großbuchstaben. Im Übrigen ist es gemäß der Großbuchstabenbedingung unerheblich, ob der erste Buchstabe noch andere Gründe hat, in Form eines Großbuchstabens aufzutreten, sei es, weil das erste Wort als Substantiv von sich aus groß zu schreiben ist, sei es, weil sich die Schreibäußerung in einem Kontext durchgehender Großschreibung befindet wie z. B. gegebenenfalls in einer Überschrift. Als nächstes betrachte ich Schreibäußerungen, deren erstes Element kein Buchstabe ist. Gehen dem ersten Buchstaben öffnende Wortzeichen voran, ist grundsätzlich die Variante Großbuchstabe erforderlich (vgl. (7a)); ansonsten kann der erste Buchstabe auch ein Kleinbuchstabe sein (vgl. (7b)): 79 Satz für Satz <?page no="80"?> 13 Die Großschreibung des ersten Buchstabens nach der runden Klammer wird nicht von der Großbuchstabenbedingung erfasst, sondern ist im Kontext der Regularitäten für Klammern zu klären. 14 Schmidt (2016: 240 f.) formuliert in seinem theoretischen Rahmen eine anders gelagerte Erklärung für derartige Daten. 7. Schreibäußerungen, die nicht mit einem Buchstaben beginnen a. [Er] setzte sich hin. „Hörst du? “, fragte sie. „(Un)Berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft“ 13 b. … und gab keine Antwort. ’s ist schade um sie. 52 volle Wochen hat das Jahr. Klammern und Anführungszeichen als erste Elemente von Schreibäußerungen werden von der Großbuchstabenbedingung quasi übersehen, was hier so model‐ liert ist, dass diese Elemente ausdrücklich ausgenommen werden. 14 Die Beispiele aus (7b) entstammen der Amtlichen Regelung (Deutsche Rechtschreibung 2018: 56) und werden dort so bewertet, dass sie als ‚Satzanfänge‘ zu gelten haben. Dies passt allerdings logisch nicht in den Regelapparat der Amtlichen Regelung, da § 54 verlangt, dass das erste Wort eines Ganzsatzes groß zu schreiben sei; dies müsste dann auch für die genannten Daten gelten. In jedem Fall zeigen diese Beispiele, dass unter bestimmten Umständen der erste Buchstabe einer Schreibäußerung ein Kleinbuchstabe sein kann. 7.2 Schlusszeichen am rechten Rand von Schreibäußerungen Die zweite Wohlgeformtheitsbedingung für Schreibäußerungen regelt die Mar‐ kierung des rechten Rands dieser Einheit. Im Sprachsystem gibt es keine analoge Bedingung; bei der Nutzung des Sprachsystems in der gesprochenen Sprache gibt es keinen Grund, die Grenzen einer entsprechenden Einheit zu markieren. Das bedeutet zugleich, dass Sprachbenutzer sich in der münd‐ lichen Textproduktion nicht festlegen müssen, wann sie eine Äußerung als abgeschlossen verstanden wissen wollen. Das Schriftsystem dagegen verlangt eine solche Festlegung, die infolgedessen nicht aus Wissen zum Sprachsystem abgeleitet werden kann, sondern eine originär schriftlinguistische Bedingung darstellt (wie die anderen Bedingungen für diese Domäne im Übrigen auch). Von der Formulierung her klingt die folgende ‚Schlusszeichenbedingung‘ nicht ungewöhnlich: 80 Martin Neef <?page no="81"?> 15 Dürscheid und Siever (2017: 274) diskutieren für Emojis die Frage, ob diese auch als Schlusszeichen bzw. als Satzintensionssignale klassifiziert werden können. Dies gilt aber nur in der substandardmäßigen Varietät der deutschen Orthographie, die die Zeichenklasse der Emojis einschließt. Schlusszeichenbedingung Das letzte Element einer Schreibäußerung muss ein Schlusszeichen sein. Geltungsbereich: Textmodus. In der Formulierung dieser Bedingung tauchen zwei Termini auf, die ihrerseits erklärungsbedürftig sind, nämlich Textmodus und Schlusszeichen. Der rechte Rand einer Schreibäußerung muss nicht in jedem Fall markiert werden; Über‐ schriften und Listeneinträge beispielsweise sind von dieser Forderung ausge‐ nommen (wiewohl eine entsprechende Markierung auch nicht ausgeschlossen ist). Bredel (2008: 32 ff.) hat hierfür die hilfreiche Unterscheidung von Text‐ modus gegenüber Listenmodus eingeführt. Die Schlusszeichenbedingung ist ausdrücklich dafür gekennzeichnet, ausschließlich im Textmodus (und damit nicht im Listenmodus) zu gelten. Bei den anderen Bedingungen, die ich in diesem Text aufführe, gibt es solche Einschränkungen nicht, sodass sie über eine generelle Gültigkeit im Schriftsystem des Deutschen verfügen (jedenfalls in der Standardvarietät). Der andere zu bestimmende Terminus ist Schlusszeichen. Die Menge der Schlusszeichen kann extensional definiert werden, da ihr Umfang gering ist; zu ihnen gehören der Punkt, das Ausrufezeichen und das Fragezeichen. 15 Mit Schmidt (2016: 236 f.) zähle ich auch den Doppelpunkt zur Menge der Schlusszeichen; die nächste Schreibäußerung dieses Texts gibt einen Beleg dafür. Insbesondere fallen auch folgende Daten unter die Wirkungsweise der Schlusszeichenbedingung: 8. Schreibäußerungsfinale Punkte in unterschiedlicher Funktion (vgl. Deutsche Rechtschreibung 101 ff.) a. Sein Vater ist Regierungsrat a.D. b. Der König von Preußen hieß Friedrich II. c. Ich habe die Nase voll und … Nach Abkürzungspunkt sowie nach Ordinalzahlenpunkt wird ebenso wenig ein weiterer Punkt als Schlusszeichen gesetzt wie nach Auslassungspunkten. Diese bekannte Verteilung ergibt sich im gegebenen Ansatz automatisch und muss nicht über Sonderregeln oder Regeleinschränkungen eigens erfasst werden (wie etwa in der Amtlichen Regelung durch § 67 E3 im Verbund 81 Satz für Satz <?page no="82"?> 16 Die Beispiele a-d sind aus Schmidt (2016: 236). 17 Entsprechende Fälle im Englischen diskutiert Nunberg (1990: 22). mit § 100, 103 und 105). Fragezeichen und Ausrufezeichen dagegen können sehr wohl noch folgen und damit ihre speziellen funktionalen Leistungen einbringen. In (8c) liegt eine Schreibäußerung vor, die einen unvollständigen Gedanken ausdrückt. Das harmoniert mit der Definition der Schreibäußerung in (6), von welcher nicht verlangt wird, dass sie einen vollständigen Gedanken ausdrückt, sondern nur, dass der Gedanke kohärent ist. Weiterhin können alle Schlusszeichen auch innerhalb von Schreibäußerungen auftreten und sind in diesem Sinne mehrdeutig (vgl. Lemnitzer und Zinsmeister 2006: 65). Damit sind sie ebenso wenig sichere Indizien für die Grenzen von Schreibäu‐ ßerungen, wie es Großbuchstaben sind, sogar wenn sie nach Zeichen stehen, die als Schlusszeichen auftreten können: 9. Schlusszeichen innerhalb von Schreibäußerungen  16 a. Er zitierte v. a. aus den Werken von Musil und Rilke. b. Das 3. kleinere Zitat von oben gefällt ihm am besten. c. Nur so! fühlte Törleß. d. Er will sechs? neue Bücher veröffentlichen. e. Heute will Katharina II. Berliner essen. f. Die Berliner sind schon komische Leute. Gestern wollten sie Katharina II. treffen, aber Katharina hatte keine Zeit. Heute lassen sich die Berliner nicht am Hof sehen. Heute will Katharina II. Berliner essen. Berliner trinken. Berliner singen. Und das die ganze Zeit. 7.3 Zum strukturellen Verhältnis von Schreibäußerung und Satz Eine weitere Wohlgeformtheitsbedingung lässt sich für die Schreibäußerung formulieren, die ihr Verhältnis zur syntaktischen Größe ‚Satz‘ betrifft. Eine solche Bedingung kann nicht in den Blick geraten, wenn der Satz im Sprach‐ system und im Schriftsystem als prinzipiell die gleiche Größe angesehen wird. Einschlägige Beispiele werden z. B. bei Gallmann (1985: 44) präsentiert: 17 10. Schlusszeichen innerhalb von syntaktischen Sätzen a. Er läuft. Und läuft. Und läuft. b. Er läuft. Weil er einen starken Motor hat. c. Gestern kam nur Gabi. Und natürlich Paul. d. Iss das Huhn ruhig mit den Händen. Aber ohne zu schmatzen! Für Gallmann liegt hier jeweils eine Struktur aus Ganzsatz plus elliptischem Ganzsatz vor mit dem besonderen ‚Reiz‘, dass die Folge „ohne irgendwelche 82 Martin Neef <?page no="83"?> nichtorthographische Änderung in einen einzigen Ganzsatz übergeführt werden kann“ (Gallmann 1985: 44). Angesichts der notorischen Unschärfe des Ganzsatzbegriffs müssten unter einer solchen Analyse aber auch die folgenden Beispiele orthographisch korrekt sein, die ich aber für orthographisch falsch halte und mit der angedeuteten Bedingung ausschließen möchte: 11. Orthographisch falsche Schlusszeichensetzung innerhalb von syntaktischen Sätzen a. *Du weißt. Ich bleibe hier. b. *Das. Buch. Ist. Grün. Daten wie in (11) werden selten beschrieben. Sie finden sich sehr wohl in Bereichen, in denen mit Sprache gespielt wird, so in der Werbung oder der Poesie. Daten aus diesen Bereichen können aber nicht unkritisch als wohlge‐ formt angenommen werden; der Witz solcher Sprachspiele besteht oft gerade darin, gegen Regeln des Sprachsystems oder des Schriftsystems zu verstoßen. Letztlich ist die Dateneinschätzung eine Frage der Plausibilität. Der Wortlaut der Amtlichen Regelung vermag die von mir angenommene orthographische Abweichung freilich nicht zu stützen; dennoch gehe ich davon aus, dass die aufgeführten Daten gegen Wohlgeformtheitsbedingungen der deutschen (systematischen) Orthographie verstoßen. Der Unterschied zu den Daten in (10) besteht darin, dass dort die jeweils erste Schreibäußerung einen wohlgeformten Satz enthält, hier aber nicht. Genau dies erfasst die folgende Bedingung: Satzaufteilungsbedingung Wenn ein Satz aufgeteilt auf mehr als eine Schreibäußerung erscheint, muss die erste der fraglichen Schreibäußerungen eine Konstruktion enthalten, die den Status eines wohlgeformten Satzes hat. 7.4 Kommaregeln als Wohlgeformtheitsbedingungen für Schreibäußerungen Auch das, was üblicherweise als Kommasetzungsregeln formuliert wird, lässt sich als Beschränkung für Schreibäußerungen modellieren (Neef 2022). Zur Illustration zitiere ich hier eine von dort angesetzten drei Bedingungen, die u. a. das Auftreten von Kommas regeln: 83 Satz für Satz <?page no="84"?> Bedingung c: Interpunktionszeichen bei schreibäußerungsinternen Infinitivphrasen Innerhalb einer Schreibäußerung müssen die Grenzen von nicht-nebenge‐ ordneten Infinitivphrasen markiert sein, wenn sie - konjunktional eingeleitet (um, ohne, statt, anstatt, außer, als) oder - Attribut sind und aus mehr als dem Infinitiv bestehen. Als Markierungen gelten: - Gedankenstrich und Klammer ➟ Liegt keine solche Markierung vor, muss dort ein Komma stehen. Bedingung c ist formuliert als Wohlgeformtheitsbedingung für Schreibäuße‐ rungen. Dies untermauert den zentralen Status dieser Domäne in der Modellie‐ rung eines Schriftsystems, zumindest des deutschen. Im Kern geht es in der Bedingung um die Kommasetzung bei eingeleiteten Infinitivkonstruktionen. Je nachdem, in welcher Position diese Konstruktion steht, muss ein Komma vor oder nach der Infinitivphrase gesetzt werden oder auch auf ihren beiden Seiten: 12. Kommasetzung bei eingeleiteten Infinitivphrasen a. Ich würde nach Zürich kommen, um einen Vortrag zu halten. b. Um einen Vortrag zu halten, würde ich nach Zürich kommen. c. Ich würde, um einen Vortrag zu halten, nach Zürich kommen. Durch die Formulierung der Bedingung mit ihrem Bezug auf die Einheit ‚Schreibäußerung‘ lassen sich diese Kommafälle als einheitliches Muster rekon‐ struieren. In Neef (2022) werden weitere Argumente dafür angeführt, dass die Kommasetzung mit Bezug auf die Einheit ‚Schreibäußerung‘ erfolgreicher modelliert werden kann als unter alleinigem Rückgriff auf eine satzartige Domäne. 8 Fazit Kerngedanke dieses Beitrags ist es, dass zwischen der syntaktischen Einheit ‚Satz‘ und der schriftlinguistischen Einheit ‚Schreibäußerung‘ zu unterscheiden ist. In der Geschichte der Sprachwissenschaft werden zwar diese beiden Ein‐ heiten häufig mehr oder weniger klar konzeptionell unterschieden, gern aber durchweg Satz genannt (wie z. B. die Materialsammlung in Hoffmann 1992 eindrücklich demonstriert). Eine Schreibäußerung lässt sich sprachübergreifend 84 Martin Neef <?page no="85"?> ohne Bezug auf syntaktische Aspekte so definieren, dass es sich um eine Domäne handelt, mit der ein kohärenter (aber nicht notwendigerweise auch vollständiger) Gedanke ausgedrückt wird. Im Schriftsystem des Deutschen unterliegt die Schreibäußerung Bedingungen der Wohlgeformtheit, die in erster Linie initiale Buchstaben und finale Interpunktionszeichen betreffen. In anderen Schriftsystemen können gleiche, aber auch andere Wohlgeformtheits‐ bedingungen für diese Domäne gelten. Voraussetzung für eine Entsprechung z. B. der Großbuchstabenbedingung ist die Nutzung eines dualen Alphabets wie dem der lateinischen Schrift. Weiterhin kann die Schreibäußerung auch als relevante Domäne für die Formulierung von Bedingungen genutzt werden, die die Kommasetzung im Deutschen steuern. Damit kommt ihr eine zentrale Position in der Schriftlinguistik zu. Die strikte terminologische Trennung von Satz als syntaktischer Größe und Schreibäußerung als schriftlinguistischer Größe ermöglicht, wie angedeutet, eine klarere Modellierung der betroffenen Datenbereiche. Ob es aber tatsächlich sinnvoll ist, am Ausdruck Satz zur Benennung einer syntaktischen Einheit festzuhalten, ist fraglich. Je nach spezifischer Syntaxtheorie finden sich ohnehin auch andere Benennungen für die jeweils festgelegte satzartige Einheit. Für die Syntax des Deutschen scheint die Finitumsphrase der wesentliche Satzbegriff zu sein. Eine solche Formulierung deutet an, dass der Ausdruck ‚Satz‘ am besten nurmehr als vortheoretischer Verständigungsbegriff über die Grenzen von Theorien wie auch über die Grenzen untersuchter Sprachen hinweg zu nutzen sein sollte und nicht zuletzt auch als Ausdruck in der Experten-Laien-Kommu‐ nikation. Im Hintergrund der Überlegungen zu Satzbegriffen steht eine theoreti‐ sche Klärung des Verhältnisses von gesprochener Sprache und geschriebener Sprache. Ich habe dafür argumentiert, dass das fragliche Verhältnis nicht auf der Gebrauchsebene angesiedelt ist, wie es ein Terminus wie ‚gesprochene Sprache‘ andeutet, sondern auf der Systemebene. Ein Schriftsystem ist abhängig von einem Sprachsystem, welches mithin als vorrangig gegebenes System als Bestandteil des abhängigen Schriftsystems anzusetzen ist. Die geschriebene Sprache ist der Gebrauch des Wissens zu einem Schriftsystem und steht damit nur in vermittelter Weise in einer Beziehung zur gesprochenen Sprache als dem Gebrauch des Wissens zu einem Sprachsystem. 85 Satz für Satz <?page no="86"?> Literatur Ágel, Vilmos (2017). Grammatische Textanalyse. Berlin/ Boston: de Gruyter. Bierwisch, Manfred (1972). Schriftstruktur und Phonologie. Probleme und Ergebnisse der Psychologie 43, 21-44. Bornemann, Monika/ Bornemann, Michael (2012). Schulgrammatik extra: Deutsch. 4 Aufl. Mannheim, Zürich: Dudenverlag. Bredel, Ursula (2005). Zur Geschichte der Interpunktionskonzeptionen des Deutschen - dargestellt an der Kodifizierung des Punktes. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 33 (2), 179-211. Bredel, Ursula (2008). Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens (= Linguistische Arbeiten 522). Tübingen: Niemeyer. Chomsky, Noam (1986). Barriers (= Linguistic Inquiry Monograph 13). 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Dabei soll untersucht werden, ob sich einzelfallübergreifende Raumbilder grammatischer Variation im Standarddeutschen feststellen lassen. Als Fallbeispiel dient die Genusvariation bei Anglizismen. 1 Einleitung, Verortung und Zielsetzung Unter den vielen Projekten, die Christa Dürscheid leitete, sticht die Varian‐ tengrammatik des Standarddeutschen (2018) aus zwei Gründen heraus, zum einen als einziges trinationales Projekt, das sie nicht nur leitete (zusammen mit Arne Ziegler und mir), sondern auch maßgeblich vorantrieb, und zum anderen aufgrund der Projektdauer, die sich auf insgesamt acht Jahre belief. Die Motivation des Projekts ergab sich aus einem Forschungsdesiderat, das auch für den Titel dieses Beitrags Pate stand. Die Zusammenfassung des Projektantrags von 2011 beginnt wie folgt: Die nationale und regionale Variation in der Grammatik der deutschen Standard‐ sprache hat in der Grammatikographie - trotz einer zunehmenden Orientierung an <?page no="90"?> 1 ‚Grammatikographie‘ und ‚Grammatikschreibung‘ werden in diesem Beitrag synonym verwendet. 2 Der oft synonym gesehene Terminus ‚Dialektgeographie‘ (s. etwa Bußmann 2002: 92, 163, Herrgen, Knoop 2016: 55) scheidet hier aus, da es nicht um dialektale, sondern standardsprachliche Variation geht. Ebenso wenig favorisiere ich den gelegentlich ebenfalls als Synonym genannten Terminus ‚Sprachgeographie‘ (s. etwa Bußmann 2002: 163, 623), da er nahelegt, dass es sich um eine Teildisziplin der Geographie handele. Textkorpora - bislang kaum Beachtung gefunden. Dieser Typus von Variation ist freilich nicht etwas ausserhalb der Standardsprache Anzusiedelndes, sondern Realität innerhalb der Standardsprache; entsprechende Varianten dürfen auch nicht pauschal als sozial markiert angesehen oder einer „Grammatik der gesprochenen Sprache“ zugeschlagen werden. (Dürscheid/ Elspaß/ Ziegler 2011) Götz (1995) hatte schon in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass „regio‐ nale grammatische Varianten des Standarddeutschen“ noch nicht systematisch erfasst seien. Erst das Projekt Variantengrammatik des Standarddeutschen nahm es in Angriff, die diatopische Variation in der Grammatik des Standarddeutschen auf der Grundlage eines großen - und areal ausgewogenen - Korpus zu erfassen, zu untersuchen und zu dokumentieren. Mit der aus diesem Projekt hervorgegangenen gleichnamigen Online-Publikation Variantengrammatik des Standarddeutschen (VG) (2018) liegt erstmals ein Kodex vor, der eine solche Dokumentation bietet. Sie ist somit ein Novum unter den grammatischen Kodizes des Deutschen. Ziel war aber nicht nur, einen solchen Kodex zu schaffen, sondern auch die Aufmerksamkeit der Grammatikschreibung auf die areale Variation zu lenken und somit zur Klärung offener Fragen in der Grammatikschreibung des Deutschen beizutragen. Damit soll eine Brücke zwischen der Areallinguistik und der Grammatikographie 1 des Deutschen geschlagen werden. Ich verwende den Terminus ‚Areallinguistik‘ hier im Sinne von ‚Geolinguistik‘ 2 , also einer linguistischen Teildisziplin, die sich mit der sprachlichen Variation im geographischen Raum befasst (Lanwer 2015: 21). Sie richtet ihren Fokus in erster Linie auf die Arealität von Sprache im Sinne von „the areal concentration of linguistic features“ (Hickey 2017: 2), entweder innerhalb einer Sprache - darum geht es im vorliegenden Beitrag - oder auch sprachübergreifend (etwa als Folge von Sprachkontakt in sogenannten ‚Sprachbünden‘). Die erwähnten offenen Fragen betreffen unter anderem zum einen das Problem der Normativität, zum anderen auch die Struktur der Variation und ihre Erklärungen. Der vorliegende Beitrag wird sich diesen beiden Fragen widmen. Nach einer kurzen Vorstellung der VG (Abschnitt 2) wird gezeigt, wie die VG - ausgehend vom Begriff des ‚Gebrauchsstandards‘ - den normativen Status 90 Stephan Elspaß <?page no="91"?> 3 Fördergeber waren in der ersten Projektphase der SNF als Lead Agency (100015L-134895; Christa Dürscheid, Zürich), die DFG (EL 500/ 3-1; Stephan Elspaß, Augsburg) und der FWF (I 716-G18; Arne Ziegler, Graz). Aufgrund des Wechsels des deutschen Partners an die Universität Salzburg waren in der zweiten Phase nur mehr der SNF als Lead Agency (100015L_156613) und der FWF (I 2067-G23; Arne Ziegler, Graz; nationaler Forschungspartner: Stephan Elspaß, Salzburg) beteiligt. Über die gesamte Projektlaufzeit hinweg waren also drei Teams an drei Standorten mit klar definierten Teilaufgaben beteiligt. grammatischer Varianten zu klären hilft (Abschnitt 3). Darauffolgend wird un‐ tersucht, ob sich einzelfallübergreifende Raumbilder grammatischer Variation im Standarddeutschen feststellen lassen, die die inner- und außersprachlichen Hintergründe dieser Variation beleuchten; als Beispiel dient der Bereich der Genuszuweisung bei substantivischen Anglizismen (Abschnitt 4). 2 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen Die Variantengrammatik des Standarddeutschen begann als trinationales D-A-CH-Projekt und wurde in der zweiten Förderphase als binationales A-CH-Projekt weitergeführt. 3 Es handelt sich, wie erwähnt, um das erste Projekt zur Untersuchung der arealen Variation in der Grammatik des Standard‐ deutschen. Grundlage war ein rund 600 Millionen Wortformen umfassendes Korpus, das aus redaktionellen Texten in den Regional- und Lokalteilen von 68 Regionalzeitungen aus den deutschsprachigen Ländern und Regionen Europas besteht. Der Fokus lag auf der Variation im geschriebenen Standard. Konzeptio‐ nell und sprachideologisch wich das Projekt Variantengrammatik in mehrerlei Hinsicht von lange - etwa bis zur sechsten Auflage der Duden-Grammatik (1998) - vorherrschenden Ansichten von ‚Standard‘ in der Grammatikographie ab, die von einer homogenen Standardvarietät ausgingen, wie sie vor allem in Modelltexten der Literatursprache zu finden sei. So stand hinter der Text‐ auswahl der VG zum einen die Auffassung, dass der Standard unbedingt als ‚Gebrauchsstandard‘ zu konzipieren sei, sodass er - wie es in den derzeitigen korpuslinguistischen Zugängen zum geschriebenen Standarddeutsch Praxis ist - „im Prinzip statistisch durch eine Auswertung umfangreicher Zeitungskor‐ pora zu ermitteln“ ist (Eisenberg 2007: 217). Zum anderen unterscheidet sich die Textauswahl der VG insofern von den vorherigen Ansätzen, als nicht zwingend der „Sprachgebrauch der überregionalen Presse“ (ebd.) als Standard angesehen wird; vielmehr gelten für die VG - selbstverständlich, möchte man sagen - auch Texte der regionalen Presse als standardsprachlich. Was die methodische Umsetzung betraf, entschied sich das Projektteam der VG deshalb seinerzeit dafür, ein Korpus aus ausschließlich regionalen Zeitungen zu erstellen. Damit 91 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="92"?> 4 In den gemeinsamen Publikationen mit Christa Dürscheid zur Variantengrammatik haben wir stets den Terminus „pluriareal“ präferiert und dies damit begründet, dass dieser die Gliederung des Sprachraums, in dem standarddeutsche Varietäten verwendet werden, angemessener erfasst als der Terminus „plurizentrisch“, der in der gegenwär‐ tigen Forschungsliteratur vorwiegend im Sinne von „plurinational“ gebraucht wird und die standardsprachlich-geographische Variation auf nationale Varietäten reduziert. Zur näheren Erläuterung der Begrifflichkeiten vgl. Elspaß (angenommen). vollzog es - etwa im Unterschied zu Eisenberg - eine Ausweitung des Begriffs der Gebrauchsstandards von einem monozentrischen zu einem plurizentrischen bzw. pluriarealen 4 Verständnis, wie es etwa schon Berend (2005: 143 f.) vorge‐ schlagen hatte. Dieser Begriff der areal verschiedenen Gebrauchsstandards des Deutschen liegt auch der Konzeption des Variantenwörterbuchs (VWB 2016) und dem Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards (AADG 2011 ff.), auf dem wiederum das aktuelle Duden-Aussprachewörterbuch (2015) in weiten Teilen basiert, zugrunde - also den beiden anderen aktuellen Kodizes, die sich der arealen Variation im Standarddeutschen widmen. In Anlehnung an Berend (2005: 143) seien ‚Gebrauchsstandards‘ wie folgt definiert: Gebrauchsstandards sind Sprachgebrauchsweisen (i. S. v. Varietäten), die von den Sprachverwender*innen als in formellen Situationen und Kontexten angemessen angesehen werden. Aufgrund der inhärenten Variation von Gebrauchsstandards können diese überregionale, aber auch großregionale Geltung haben. Varianten der Gebrauchsstandards sind entsprechend solche, die von den Sprachverwender*innen als in formellen Situationen und Kontexten angemessen angesehen werden. Die VG umfasst fast 1.000 Artikel, von denen 113 Überblicksartikel zu übergrei‐ fenden Phänomenen und die restlichen Einzelartikel sind; dazu kommen acht Grundlagenartikel zur Flexion, Valenz und Rektion, Wortbildung u. a. Die Ein‐ zelartikel und einige der Überblicksartikel enthalten neben einer allgemeinen Beschreibung des jeweiligen grammatischen Phänomens und Beispielen aus dem Korpus (ähnlich dem Aufbau des Duden-Zweifelsfälle 2021) insbesondere eine Erläuterung der arealen Distribution der standardsprachlichen Einzelvari‐ anten in Textform und in Form von Karten; die Verbreitung von Einzelvarianten wird zum einen durch Karten mit Tortendiagrammen pro Areal, zum anderen durch Heat Maps dargestellt. Zusätzlich findet sich jeweils eine „Frequenzta‐ belle“, der die prozentuale Aufteilung der Varianten pro Areal zu entnehmen ist. Die Aufteilung des Sprachgebiets in 15 Einzelareale (D-nordwest, D-nordost, D-mittelwest usw., A-West, A-Mitte, A-Ost, A-Süd, CH, LUX, LIE, BELG, STIR) folgt im Wesentlichen der teils politisch, teils dialektgeographisch motivierten Gliederung im VWB (2016). Zu weiteren methodischen und konzeptionellen 92 Stephan Elspaß <?page no="93"?> 5 Um hier ein Bonmot von Milroy/ Milroy (1985: 24) zu bemühen: „the only fully standardised language is a dead language“. 6 S. VWB 2016, vgl. auch AdA: https: / / www.atlas-alltagssprache.de/ r8-f3i-j-2/ (last ac‐ cessed: 31.08.2021). 7 S. Duden-Zweifelsfälle 2016: 868 und VG: http: / / mediawiki.ids-mannheim.de/ VarGra/ i ndex.php/ Stehen (last accessed: 31.08.2021). 8 S. AADG: http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ AADG/ SimAnlaut (last accessed: 31.08.2021). Dieses Beispiel sowie die anderen Einträge im AADG machen übrigens deutlich, dass es ein in arealer Hinsicht ‚akzentfreies Deutsch‘ per se nicht geben kann - eine standarddeutsche Ausspracheweise hat immer einen klein- oder großregionalen Akzent. Aspekten verweise ich auf die ausführlichen Erläuterungen in Dürscheid/ Elspaß (2015). 3 Vom Nutzen der Variantengrammatik für die Klärung grammatischer Normprobleme Von Anfang an war es ein Anliegen des Projekts Variantengrammatik, areale grammatische Variation im Standarddeutschen nicht nur zu ermitteln und zu dokumentieren, sondern durch die Erfassung von Varianten in einem eigenen Kodex auch den normativen Status dieser Varianten zu klären. Die Grundannahme ist dabei, dass es eine einheitliche überregionale deutsche Stan‐ dardsprache nicht gibt - so wie es auch keine andere lebende Standardsprache gibt, die völlig variationsfrei wäre. 5 Das ist ein Axiom der Variationslinguistik. Anders gesagt und auf die Ebene konkreter Einzelvariablen und -varianten gewendet: Zwar gilt für den weit überwiegenden Teil der standardsprachlichen Lexik, Grammatik und Aussprache, dass im gesamten Sprachgebiet einheitliche Formen gebraucht werden und dass es zu diesen keine nennenswerten Vari‐ anten gibt. Daneben gibt es aber eben auch einen gewissen - wenn auch kleinen - Prozentsatz an variablen Formen, die im Standard areal variieren; Schmidlin (2013: 23) nennt einen Anteil von „vielleicht 5 %“. Einen überregional einheitlichen standardsprachlichen Gebrauch gibt es also in vielen Fällen nicht (Möller/ Elspaß 2021: 23). So sind Portmonee (/ Portemonnaie), Geldbeutel, Geld‐ tasche und Geldbörse (/ -börserl) allesamt lexikalische Varianten, 6 es ist in der Zeitung gestanden und es hat in der Zeitung gestanden beides grammatische Varianten 7 sowie [s]irup und [z]irup Aussprachevarianten 8 des Standarddeut‐ schen mit jeweils recht klar zu umreißender arealer Geltung. Die genannten Variationsfälle sind in der Linguistik weitgehend unumstritten. Ein großer Teil der standardsprachlichen Variation war aber bis zur Jahrtausendwende kaum bekannt, weil die Datenlage unzureichend war und die bestehenden Kodizes 93 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="94"?> 9 Den Anfang machte das Projekt Variantenwörterbuch mit der Lexik; das gedruckte VWB erschien 2004 in erster Auflage. Die Daten im Projekt Deutsch heute wurden 2006 bis 2009 erhoben, und die Ergebnisse werden seit 2011 im Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards veröffentlicht. 2011 startete schließlich das Projekt Vari‐ antengrammatik des Standarddeutschen, das in die Veröffentlichung der gleichnamigen Online-Grammatik im Jahr 2018 mündete und 2019 zum Ende kam. 10 Die „Variation in der Standardaussprache“ ist dabei systematisch - wenn auch nicht exhaustiv - in der Einleitung (Duden-Aussprachewörterbuch 2015: 63-73) dargestellt. Im Wörterbuchteil ist dies dagegen - wohl v. a. aus darstellungspraktischen Gründen - nicht konsequent umgesetzt. So findet sich etwa die oben angesprochene [z]-[s]-Va‐ riation im systematischen Teil beschrieben (ebd.: 71-72), während im Wörterbuchteil anlautendes <s>, wie in Sirup, nur mit stimmhaftem [z] transkribiert ist. diese Variation daher nur unzureichend - und zum Teil nur mit ‚anekdotischer Evidenz‘ - erfassen konnten. Erst in den 2000er Jahren machten es die drei Projekte Variantenwörterbuch, Deutsch heute/ Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards und Variantengrammatik des Standarddeutschen möglich, diese Variation systematisch zu untersuchen. 9 Alle drei Projekte gingen bzw. gehen, wie dargestellt, vom Konzept des Gebrauchsstandards aus. Die Orientierung an Gebrauchsstandards hat für die Kodifizierung folgende einfache Konsequenz: Es sollte keinen Unterschied zwischen dem Gebrauchsstandard und dem kodifizierten Standard geben. In den Kodex soll das Eingang finden, was im Gebrauch ist […] und eine bestimmte Frequenz aufweist […] (Elspaß/ Dürscheid 2017: 92) Eine zentrale Motivation war für alle drei Projekte, auch auf andere Gesamtdar‐ stellungen und andere Kodizes - insbesondere solche mit dem Markennamen Duden - einzuwirken. Im Fall des AADG ergab sich der glückliche Umstand, dass die beiden Bearbeiter die Neubearbeitung des Duden-Aussprachewörterbuch 2015 übernahmen und die Erkenntnisse des AADG zu einem großen Teil gleich in die Neuauflage einfließen lassen konnten. 10 Die im VWB erfasste lexikalische Variation scheint noch nicht recht in den allgemeinsprachlichen Wörterbü‐ chern und Online-Portalen angekommen zu sein, wie ein kursorischer Blick etwa in den Online-Duden (www.duden.de) oder das Online-Portal des DWDS (www.dwds.de) zeigt. Die in der VG dokumentierte grammatische Variation wird dagegen z. B. in der 9. Auflage des Duden-Zweifelsfälle (2021) - zumindest in Teilen - berücksichtigt (s. Hennig 2021: 17 f.). Der Nutzen der Variantengrammatik für die Klärung grammatischer Norm‐ probleme sei nur kurz am Beispiel des Genus bei Anglizismen illustriert, das Gegenstand der Untersuchung im nächsten Abschnitt ist. Das prominenteste Nachschlagewerk zur Klärung solcher Probleme ist der Duden - genauer: Band 9 94 Stephan Elspaß <?page no="95"?> 11 http: / / mediawiki.ids-mannheim.de/ VarGra/ index.php/ Spray. 12 Bei Blackout sind allerdings die Angaben zur Verbreitung von Maskulinum und Neutrum vertauscht. der 12-bändigen Reihe, „Sprachliche Zweifelsfälle“. Im Fall der Form Spray etwa fand man in der 8. Auflage des Duden-Zweifelsfälle (2016: 858) nur den Hinweis: „Es heißt das Spray oder der Spray“; im Original ist das Spray gelb unterlegt, was unterstreichen sollte, dass die Redaktion diese Variante präferierte und so auch den Benützer*innen empfahl. Die 9. Auflage (Duden-Zweifelsfälle 2021: 877) hält nun - orientiert am Artikel Spray in der VG 11 - fest: „Das Genus von Spray […] ist in dem meisten Regionen Deutschlands fast immer Neutrum (das Spray). Im Südwesten manchmal und in Österreich und in der Schweiz fast immer der Spray (Maskulinum).“ Die 9. Auflage verzichtet dabei auf eine farblich markierte Hervorhebung einer der beiden Varianten und macht damit - wie schon die VG - den Benützer*innen deutlich, dass beide Varianten standard‐ sprachlich grundsätzlich korrekt sind. Ähnlich ist es bei Laptop: Während der Duden-Zweifelsfälle (2016: 602) lapidar feststellt: „Es heißt der, auch: das Laptop“ (der ist gelb markiert), lautet die Angabe nun präziser und sachgerechter, dass es „meist der Laptop, in Deutschland und der Schweiz manchmal auch: das Laptop“ heißt (Duden-Zweifelsfälle 2021: 619, nach VG, allerdings immer noch mit gelber Markierung der maskulinen Variante). In dieser Weise wirken die Ergebnisse der VG also inzwischen auf den wichtigsten Normkodex für die Grammatik des Deutschen. Wie bei Service und Laptop, so enthalten nun auch die Artikel zu Level, Service (in der Bedeutung ‚Kundendienst, Dienstleistung‘) und Terminal, die in der 8. Auflage des Duden-Zweifelsfälle (2016) nur allgemein auf die Variation dieser Substantive zwischen Maskulinum und Neutrum hinweisen, nun in der 9. Auflage (2021) areale Markierungen, wie sie ganz ähnlich in der VG zu finden sind (s. auch unten Tabelle 1). Die Artikel zu Blackout und Radar, die in der 8. Auflage des Duden-Zweifelsfälle (2016) überhaupt keinen Hinweis auf diatopische Genusvariation enthalten, führen in der 9. Auflage (2021) nun entsprechende Angaben, die den Artikeln der VG entnommen sind. 12 Bei Radio gibt es folgende Änderung hinsichtlich der Minderheitsvariante mit maskulinem Genus: Während es bisher hieß, dass „umgangssprachlich und süddeutsch, österreichisch und schweizerisch auch der Radio gebräuchlich“ sei (Duden-Zweifelsfälle 2016: 769), findet man nun die Angabe, dass „im Süden Deutschlands, in Österreich und in der Schweiz vereinzelt das maskuline Genus (der Radio)“ vorkomme (Duden-Zweifelsfälle 2021: 790). Abgesehen von den präziseren diatopischen Markierungen besteht die Verbesserung darin, dass nun vermieden wird, diese mit der Markierung „umgangssprachlich“ zu koppeln, welche Nonstandardsprachlichkeit insinuiert. Solche Hinweise helfen den Be‐ 95 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="96"?> nützer*innen also, verlässliche Auskunft zu erhalten zum standardsprachlichen Status gerade von Varianten, die eine begrenzte Verbreitung haben, in den frag‐ lichen Gebieten aber in Gebrauch sind und damit zum impliziten Sprachwissen der Sprecher*innen und Schreiber*innen gehören. Zu wünschen ist, dass auch die Angaben auf www.duden.de (und auch www.dwds.de) mit den aktuellen Angaben versehen bzw. verlinkt werden, da viele Interessierte bei sprachlichen Zweifelsfällen heutzutage natürlich zuerst die kostenlosen und zeitsparenden Internetseiten konsultieren. 4 Vom Nutzen der Variantengrammatik für die Grammatikforschung - das Beispiel Genus bei Anglizismen 4.1 Areale Genusvariation im Deutschen Köpcke/ Zubin (2017: 203) leiten ihren Aufsatz über „Genusvariation“ im Deut‐ schen mit den Worten ein, dass in „traditionelle[r] Sicht“ angenommen werde, die Genuszuordnung bei Substantiven im Deutschen sei „fixiert, invariant und mit überregionaler Geltung ausgestattet, vgl. Duden (2016)“ (Köpcke/ Zubin 2017: 203). Tatsächlich führt die Duden-Grammatik auf 26 Seiten über 100 Zwei‐ felsfälle im Bereich des Genus - mit anderen Worten: Fälle von Genusvariation - auf (Duden-Grammatik 2016: 220-246). Nur 15 von diesen Fällen betreffen areale Variation. Die Liste ist aus arealer Perspektive in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: • Die Liste ist alles andere als vollständig. Die VG enthält allein 54 Einzelar‐ tikel zur Genusvariation bei Substantiven und verweist auf viele weitere Substantive, die in der Literatur als im Genus variierend beschrieben werden, was aber aufgrund einer nicht ausreichenden Beleglage (trotz des Umfangs von 600 Millionen Wortformen) anhand des VG-Korpus nicht überprüft werden konnte. Dazu kommen einige Substantive, die in der Liste der Duden-Grammatik nicht als areal variierend markiert sind, aber laut VG eine eindeutige areale Variation aufweisen, z. B. der/ das Joghurt, der/ das Polster und der/ das Raster. • In zehn der 15 Fälle wird eine in Klammern als „seltener“ (Duden-Gram‐ matik 2016: 220) markierte Form als „österr.“ ausgewiesen, in einem Fall als „schweiz.“, in einem weiteren Fall als „österr., schweiz.“, und die restlichen Fälle werden unspezifisch als „reg.“ bezeichnet. Diese Markierungen spiegeln eine in der Lexikographie und Grammatikographie verbreitete Praxis, nach der zum einen areale Varianten nur auf der Ebene der nationalen Variation ausgegeben werden und zum anderen weit überwiegend Varianten aus Österreich oder 96 Stephan Elspaß <?page no="97"?> 13 Abkürzungen wie „bundesdt.“ und „ostdt.“ müssten allerdings noch neu aufgenommen werden; im Abkürzungsverzeichnis der Duden-Grammatik (2016) fehlen sie noch. der Schweiz herausgehoben werden; ganz selten werden dagegen Varianten, die nur in Deutschland gebräuchlich sind, als ‚Besonderheiten‘ markiert (vgl. Sutter 2017: 158 und 222 am Beispiel von Duden-Werken). Die Problematik kann am Beispiel von Gulasch illustriert werden. Der Eintrag der Duden-Gram‐ matik (2016: 227) in der Spalte „Genus“ lautet: „der/ das (österr. nur: das)“. Laut VG ist in den meisten Gebieten das Gulasch die Mehrheitsvariante, in der Schweiz und in Österreich sogar die ausschließlich gebräuchliche Variante. Gulasch mit Maskulinum findet sich im VG-Korpus nur in Deutschland belegt - genauer: Nur in den beiden ostdeutschen Arealen D-nordost und D-mittelost ist der Gulasch die Mehrheitsvariante. Daraus ergäbe sich als sinnvolle und sprachpolitisch weitaus korrektere Markierung „das (bundesdt., besonders im Osten auch: der)“ oder - noch genauer - „das (bes. nordost-/ mittelostdt. auch: der)“. 13 4.2 Prinzipien der Genuszuordnung bei Anglizismen Köpcke/ Zubin (2017: 224) wenden sich gegen die verbreitete Vorstellung einer „ausschließlich lexikalische[n] Verortung des Genus“ und suchen - wie die meisten Grammatiker*innen - Genusvariation durch „pragmatische Projek‐ tionen, phonologische und semantische Feldeffekte und syntaktische Effekte“ zu erklären. Sie begründen dies damit, dass es für Sprecher*innen kognitiv ökonomischer sei, aufgrund einer überschaubaren Anzahl von Prinzipien Ge‐ nuszuweisungen vorzunehmen, als jedes einzelne Nomen zusammen mit einem Genus zu speichern. Ein interessantes Testfeld ist in diesem Zusammenhang die Genuszuordnung bei substantivischen Anglizismen im Deutschen. Diese eignet sich auch beson‐ ders gut für eine Untersuchung mit Fokus auf arealer Variation, zum einen aufgrund ihrer hohen Frequenz unter den Entlehnungen, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass der Faktor ‚Übernahme des Quellgenus‘ ausgeschieden werden kann, da das heutige Englisch über kein grammatisches Genus mehr verfügt. Aus dem Englischen entlehnten Substantiven muss bei ihrem Eintritt in das System der deutschen Nominalflexion also zwingend ein Genus zugewiesen werden. Die zentralen Prinzipien der Genuszuweisung bei Anglizismen sind nach der einschlägigen Literatur (Gregor 1983; Köpcke und Zubin 1984, 1996; Kra‐ tochvílová 2000; Schulte-Beckhausen 2002; Chan 2005; Onysko, Callies und Ogiermann 2013; Eisenberg 2018: 229-231) die folgenden: 97 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="98"?> 14 Lautliche Prinzipien, wie sie etwa Köpcke/ Zubin (1996: 486 f.) für die Genuszuordnung bei nativen Substantiven ins Spiel brachten, etwa das „Konsonantenhäufungsprinzip“ (z. B. [kn_#] → Mask), scheinen bei Anglizismen keine große Rolle zu spielen. 1. semantische Prinzipien: a. ,Natürliches‘ Geschlechtsprinzip; Beispiele: der Lord, die Lady. b. Prinzip der semantischen Äquivalenz (‚gender copy‘): „Handelt es sich bei dem englischen Lehnwort um ein morphologisches Simplex, so erhält es das Genus des naheliegendsten deutschen Äquivalents.“ (Gregor 1983: 59); Beispiel: die Band ← die Kapelle. c. Unterklassifizierungsprinzip bzw. Prinzip der Genusvererbung von Hyponymen: „Handelt es sich bei dem englischen Lehnwort um einen Artbegriff, so erhält es das Genus des entsprechenden deutschen Gattungsbegriffs.“ (Gregor 1983: 60); Beispiel: der Charleston ← der Tanz (ebenso: der Tango, der Walzer, der Chachacha etc.). 2. formale Prinzipien: 14 a. Prinzip der morphologischen Äquivalenz: „Handelt es sich bei dem englischen Lehnwort um eine durchsichtige Morphemkonstruktion, so erhält es das Genus des in einer entsprechenden deutschen Mor‐ phemkonstruktion genusdeterminierenden Morphems.“ (ebd.); Bei‐ spiel: die Fit-ness ← die -heit/ -keit, der Serv-er ← der -er. b. Dazu gehört auch das Kognatenprinzip (Onysko, Callies und Ogier‐ mann 2013: 108), das zum einen bei Simplizia, z. B. die School ← die Schule, die Card ← die Karte, zum anderen aber auch bei Komposita greift; Beispiele: der Background ← der (Hinter-) Grund, das Notebook ← das (Notiz-)Buch. c. Formal folgen a. und - im Falle von Determinativkomposita - auch b. dem „Letzt-Glied-Prinzip“, d. h. das Suffix bzw. das Grundwort des Determinativkompositums ist entscheidend für die Genuszuweisung (vgl. Köpcke/ Zubin 1984: 28). Das gilt auch für Akronyme oder Kurz‐ wörter, deren Genus dem der Vollform folgt, z. B. der PC ← der Per‐ sonal Computer, der Science Fiction ← der Science Fiction-Film/ -Roman/ -Thriller (vgl. die entsprechenden Fälle von „gender copy“ bei Onysko, Callies und Ogiermann 2013: 110). d. Nullableitungsprinzip, das für syntaktische Konversionen von Verben das Neutrum festlegt, z. B. das Downloaden (Köpcke/ Zubin 1984: 28); entsprechend gilt für morphologische Konversionen das Maskulinum als Default-Genus, z. B. der Download (Onysko, Callies und Ogiermann 2013: 111). 98 Stephan Elspaß <?page no="99"?> 3. das Prinzip ‚Maskulinum als unmarkiertes Genus‘ (Eisenberg 2018: 229): Dieses Prinzip findet Anwendung, wenn die Prinzipien (1) und (2) nicht greifen und gilt vor allem für einsilbige Anglizismen (Kratochvílová 2000: 72); Beispiele: der Act, der Chip, der Look. Wenn die Prinzipien in Konflikt geraten, kann es zum einen dazu kommen, dass ein Prinzip das andere überlagert, so z. B. wenn das Prinzip ‚Maskulinum als unmarkiertes Genus‘ das Prinzip der semantischen Äquivalenz sticht, z. B. bei der Look statt *das Look ← das Aussehen, der Mix, nicht *die Mix ← die Mischung oder *das Mix ← das Gemisch (Kratochvílová 2000: 72; Onysko, Callies und Ogiermann 2013: 108). Zum anderen kann der Prinzipienkonflikt aber eben auch zu Variation führen, d. h. es gibt Fälle, in denen ein Prinzip sich entweder noch nicht durchgesetzt hat, oder Fälle, in denen sich ein Status des ‚Nebeneinanders‘ der Formen im Gebrauch stabilisiert hat. Der letztgenannte Zustand kann dadurch befördert werden, dass sich einzelne Varianten in bestimmten diatopischen Sprach‐ gebrauchsräumen stärker etabliert haben als andere. 4.3 Areale Genusvariation bei Anglizismen im Deutschen Die meines Wissens bisher einzige Studie, die sich der arealen Variation in der Genuszuweisung widmet, ist die von Onysko, Callies und Ogiermann (2013). Die Autorin und die Autoren führten einen Fragebogentest mit 26 Anglizismen durch. Für die Auswertung wurden 506 Fragebögen herangezogen, die von An‐ glistik-Studierenden deutscher Muttersprache an Universitäten im Nordwesten (Dialektraum „Westniederdeutsch“) und Westen Deutschlands (Dialektraum „Westmitteldeutsch“) sowie im bairisch-österreichischen Dialektraum in Öster‐ reich ausgefüllt worden waren. Leider geben die Autor*innen nicht an, um welche Orte es sich genau handelt und ob kontrolliert wurde, woher die Studierenden stammen. Von den 26 Anglizismen weisen achtzehn eine relativ hohe Genusvariation auf (Alcopop, Badge, Cookie, Domain, Download, Gate, Jingle, Login, Movie, Preview, Sale, Shake, Slot, Stage, Take-off, Techno, Update, Voucher). In Bezug auf die areale Genusvariation ist das Hauptergebnis der Untersuchung, dass die Studierendengruppe im Süden ein höheres Ausmaß an verschiedenen Genuszuordnungen aufweist als die beiden Gruppen aus dem Nordwesten und dem Westen Deutschlands. Die Autor*innen konstatieren „a hidden rift between the South (primarily consisting of Austrian German varieties) and more central and northern German regions“ (ebd.: 131). Sie lassen dabei allerdings offen, ob sie den „Riss“ zwischen den Dialektgebieten oder zwischen Deutschland und Österreich, also den unterschiedlichen nationalen Zugehörigkeiten der Studierenden, sehen. 99 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="100"?> 15 Der VG-Artikel von Engel und Fischlhammer (2018) listet sechzehn weitere Fälle von Anglizismen auf, die laut Fachliteratur im Genus - möglicherweise auch areal - variieren, was aber durch die VG aufgrund zu weniger Belege nicht bestätigt werden konnte. 16 Diese Tendenz wird bestätigt mit einem Blick auf die in Engel und Fischlhammer (2018) genannten weiteren sechzehn Fälle von Genusvariation, die in der Fachliteratur dokumentiert sind: Zwölf von diesen weisen Schwankungen zwischen Maskulinum und Neutrum, drei zwischen Femininum und Neutrum und eine zwischen Femininum und Maskulinum auf. (In den Fällen, die in der VG festgehalten sind, ist eine Genusschwankung zwischen Femininum und Maskulinum nicht zu finden, s. Tab. 1.) Ich möchte die Untersuchung von Onysko, Callies und Ogiermann (2013) als Ausgangspunkt für eine kleine Untersuchung zur Genusvariation von Anglizismen nehmen, die in der VG erfasst sind. Untersuchungsleitend soll die Frage sein, inwiefern sich die von den drei Autor*innen festgestellten arealen Gegensätze auch in der von der VG erfassten Genusvariation finden lassen. Zu beachten ist, dass sich die Daten von Onysko, Callies und Ogiermann (2013) in zwei wesentlichen Punkten von denen der VG unterscheiden: • Erstere sind indirekt erhoben, letztere direkt (im Rahmen einer Korpusana‐ lyse). • Erstere sind an nur drei Ortspunkten erhoben worden, letztere im gesamten deutschsprachigen Gebiet (68 Regionalzeitungen, s. Abschnitt 2). Sehen wir uns zunächst an, welche Arten von Genusvariation sich überhaupt feststellen lassen und wie sich diese areal verteilen. In Tabelle 1 sind siebzehn Anglizismen aufgeführt, die nach den Auswertungen im Korpus der VG dia‐ topische Unterschiede in der Genuszuordnung aufweisen. (Die Liste erfasst nicht sämtliche areale Varianten in diesem Bereich, sondern nur diejenigen, die sich im VG-Korpus hinreichend belegen lassen. 15 ) Die Markierung der Länder- oder Regionenkürzel durch Grauschattierung und gegebenenfalls zusätzliche Fettung zeigt an, wie stark eine Präferenz für ein Genus in bestimmten Arealen ist. Auch wenn die Liste in Tabelle 1 aus den genannten Gründen nicht alle Fälle von Genusvariation bei substantivischen Entlehnungen aus dem Englischen erfassen kann, macht sie hinreichend deutlich, dass das Genus bei Anglizismen meist zwischen Maskulinum und Neutrum und seltener zwischen Femininum und Neutrum schwankt. 16 Wie aus der Liste weiters zu ersehen ist, gibt es dabei keinen Anglizismus, der auf den Sexus eines Referenten hinweist, und keinen Fall morphologischer Äquivalenz. Dies verwundert nicht, denn beide Faktoren würden für eine eindeutige Genuszuweisung sprechen. 100 Stephan Elspaß <?page no="101"?> Lexem Genus und Verbreitungsgebiet laut VG-Artikel (grau unterlegt: jeweilige Mehrheitsvarianten in einzelnen Arealen/ Gebieten; fett: (fast) ausnahmslose Variante im jeweiligen Areal) der die das App - A(A-Mitte), CH, D, LUX, STIR A-west, A-südost, CH, STIR Blackout CH, D A - A CH Blog A, CH, D - A, D, CH Comic A, CH, D (D-nord‐ west, D-süd‐ west) - A-südost, CH, D-mittelwest, D-nordost, D-mittelost, D-südost Dress (hier: Sport-) D A - A-west, CH D Event CH, LIE A, D, STIR - A, BELG, D, LUX, STIR Laptop A, BELG, CH, D - BELG, CH, D Level CH A, D - A, D CH E-Mail - BELG, D, LUX, STIR A, CH A, CH Match CH - A, D, LUX Radar CH, D-südost A, D - A, D CH, D-südost Radio A-west - A-mitte, A-südost, BELG, CH, D, LUX Service (hier: ‚Kun‐ dendienst, Dienstleis‐ tung‘) A-west, A-mitte, BELG, CH, D, LUX, STIR A-ost, A-südost - A-ost, A-südost A-west, A-mitte 101 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="102"?> 17 Vgl. die Interpretation zu Blackout bei Eisenberg (2018: 230). Lexem Genus und Verbreitungsgebiet laut VG-Artikel (grau unterlegt: jeweilige Mehrheitsvarianten in einzelnen Arealen/ Gebieten; fett: (fast) ausnahmslose Variante im jeweiligen Areal) SMS - A, D CH CH A Spray A-mitte, A-west, A-südost, CH D-süd‐ west - D A-südost Terminal (‚Flugha‐ fenhalle‘, ‚Be-/ Entla‐ deort‘) A, CH D - D A, CH Tram - A, D, LUX CH In Tabelle 2 wird versucht, anhand der in Abschnitt 4.2 aufgeführten Prinzipien die Gründe für die jeweiligen Genusvarianten zu rekonstruieren. Genus Lexem Maskulinum: der Femininum: die Neutrum: das App - semantisch: die An‐ wendung ? Blackout semantisch: der Ausfall - semantisch 17 und letztes Glied: das Aus Blog Mask. als unmarkiertes Genus - semantisch und letztes Glied: das (Log-)Buch Comic Mask. als unmarkiertes Genus - letztes Glied: das Comic-Heft Dress Mask. als unmarkiertes Genus - semantisch: das Trikot Event Mask. als unmarkiertes Genus - semantisch: das Ereignis Laptop letztes Glied: der (Laptop-) Rechner - letztes Glied: das (Re‐ chen-) Gerät ? 102 Stephan Elspaß <?page no="103"?> Genus Lexem Maskulinum: der Femininum: die Neutrum: das Level Mask. als unmarkiertes Genus, semantisch: der Rang - semantisch: das Niveau E-Mail - semantisch: die (elektronische) Nachricht / Post ? Match Mask. als unmarkiertes Genus, semantisch: der Wett‐ kampf - semantisch: das Spiel Radar Mask. als unmarkiertes Genus - letztes Glied: das Radar‐ gerät Radio letztes Glied: der Radio‐ apparat - letztes Glied: das Radio‐ gerät / radio detecting and ranging Service Mask. als unmarkiertes Genus, semantisch: der Dienst - ? SMS - (trotz Letztglied service! ) semantisch und letztes Glied: die (SMS-) Nachricht ? Spray Mask. als unmarkiertes Genus, semantisch: der Sprüh‐ nebel - semantisch: das Sprüh‐ zeug/ -mittel? Terminal Mask. als unmarkiertes Genus, semantisch: der Be-/ Ent‐ ladeort - ? Tram - semantisch und letztes Glied: die (Straßen-)Bahn letztes Glied: das/ es Trämli/ Trambähnli (nur CH)? Tab. 2: Mögliche genuszuweisende Prinzipien bei Genusvarianten der Anglizismen Wie die Übersicht zeigt, stehen sich häufig das Prinzip ‚Maskulinum als un‐ markiertes Genus‘ und ein semantisches Prinzip, das ein Neutrum motiviert, gegenüber. In nur wenigen Fällen greift, wie erwartet, ein formales Prinzip (,Letzt-Glied-Prinzip‘). Gleichzeitig machen die vielen Fragezeichen in der 103 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="104"?> 18 Ich schließe natürlich nicht aus, dass mir bei der einen oder anderen möglichen Zuweisung nach einem semantischen Prinzip die Fantasie gefehlt hat. 19 Zu den ‚kleinen‘ Ländern und Regionen Ostbelgien, Luxemburg, Liechtenstein und Südtirol liegen nicht in allen Fällen Daten vor. Aus demselben Grund sind für Tabelle 3 und 4 auch die Differenzierungen innerhalb der drei ‚großen‘ Länder außer Acht gelassen worden. Trotz dieser Vereinfachung bilden Tabellen 3 und 4 immerhin die Variation innerhalb der drei ‚großen‘ Länder ab und geben Hinweise auf die ungefähren Frequenzverhältnisse. letzten Spalte deutlich, dass die Motivation für die Genuszuweisung ‚Neutrum‘ mit den bisher aufgestellten Prinzipien nicht vollständig erfasst werden kann. 18 Als weiteres Prinzip lässt sich daher (4) ‚Neutrum als Ausweichgenus‘ formu‐ lieren, das bisher - wenn ich recht sehe - für das Deutsche nur mit Blick auf die Zuweisung des Neutrums zu Städtenamen (z. B. das alte Rom, das Hamburg der 70er Jahre) diskutiert worden ist (vgl. Caro Reina und Nowak 2019: 509 mit weiteren Verweisen). Es stellt sich im Weiteren die Frage, ob sich allgemeinere areale Präferenzen für die Genuszuweisung im Deutschen finden lassen. Dazu werfen wir noch einmal einen Blick auf Tabelle 1. Es lassen sich zunächst allgemeine folgende Feststellungen treffen: 1. Es gibt - außer vielleicht der Match (CH), das Service (A) und das Tram (CH) - kaum Varianten, die für ein Land spezifisch wären. 2. In den wenigsten Fällen gelten Varianten in einem Land oder einer Region fast ausnahmslos (d. h. im Sprachgebrauch der VG: zu mehr als 95 %) oder absolut (in Tabelle 1 fett markiert): die App (D, LUX, A-Mitte), der Blackout (D), der Comic (D-nordwest, D-südwest), der Event (CH)/ das Event (BELG, LUX), der Laptop (A), die E-Mail (BELG, D), der Match (CH)/ das Match (A, D, LUX), das Radio (A-mitte, A-südost, D, BELG, LUX), der Service (BELG, CH, D, LUX, STIR), die SMS (D), der Spray (A-mitte, A-west), die Tram (A, D, LUX) / das Tram (CH). Schauen wir uns schließlich an, wie sich die Präferenzen bei der Masku‐ linum-Neutrum-Variation, dem zahlenmäßig größten Schwankungsfall (Tabelle 3), sowie der Femininum-Neutrum-Variation (Tabelle 4) gestalten. Die beiden Tabellen stellen die Verteilung auf die verschiedenen Areale - in vereinfachter Form - nur für die drei Länder Österreich, die (Deutsch-) Schweiz und Deutschland dar. 19 Gefettete Schrift gegenüber Normalschrift zeigt an, wie stark eine Präferenz für ein Genus in bestimmten Arealen ist. Zur besseren Er‐ fassbarkeit der im jeweiligen Land dominanten Varianten sind diese zusätzlich grau hinterlegt. Blass gedruckte Variantenbezeichnungen kennzeichnen seltene 104 Stephan Elspaß <?page no="105"?> Minderheitsvarianten; dies dient der Unterscheidung zu den Fällen, in denen eine Variante fast überhaupt nicht vorkommt („-“). Tendenz zum Maskulinum Tendenz zum Neutrum A CH D A CH D Blackout Blackout Blackout Blackout Blackout Blackout Blog Blog Blog Blog Blog Blog Comic Comic Comic Comic Comic Comic Dress Dress Dress Dress Dress Dress Event Event Event Event Event Event Laptop Laptop Laptop - Laptop Laptop Level Level Level Level Level Level - Match - Match - Match Radar Radar Radar Radar Radar Radar Radio Radio Radio Radio Radio Radio Service Service Service Service - - Spray Spray Spray Spray Spray Spray Terminal Terminal Terminal Terminal Terminal Terminal Tab. 3: Genusvariation zwischen Maskulinum und Neutrum Tendenz zum Femininum Tendenz zum Neutrum A CH D A CH D App App App App App - E-Mail E-Mail E-Mail E-Mail E-Mail - SMS SMS SMS SMS SMS - Tram - Tram - Tram - Tab. 4: Genusvariation zwischen Femininum und Neutrum: 105 Die Variantengrammatik des Standarddeutschen als Brückenschlag <?page no="106"?> Die Gegenüberstellungen in den Tabellen 3 und 4 lassen folgende Interpre‐ tationen zu: 1. In den schweizerischen Zeitungstexten gibt es bei Genusschwankungen zwischen Maskulinum und Neutrum eine klare Tendenz zum ‚unmar‐ kierten‘ Maskulinum: Blackout, Blog, Comic, Event, Laptop, Level, Match, Radar, Service, Spray, Terminal. Gegenbeispiele sind Dress und Radio, bei denen das Neutrum - wohl aus semantischen Gründen - überwiegt. In deutschen und österreichischen Zeitungstexten verteilen sich dagegen bei Schwankungen zwischen Maskulinum und Neutrum die Präferenzen ungefähr gleichmäßig auf das ‚unmarkierte‘ Maskulinum (Blog, Comic, Dress, Laptop, Service; in A zusätzlich: Spray, Terminal; in Deutschland zusätzlich: Blackout) und das ‚Neutrum als Ausweichgenus‘ (Event, Level, Match, Radar; in A zusätzlich: Blackout; in D zusätzlich: Spray, Terminal). 2. In den wenigen Fällen von Genusschwankungen zwischen Femininum und Neutrum tritt Variation nur in österreichischen und schweizerischen Zeitungstexten auf, während in Texten aus Deutschland ausschließlich das Femininum gewählt wird. 5 Fazit: Vom Nutzen eines Brückenschlags zwischen Areallinguistik und Grammatikographie Die areale Variation war lange Zeit ein blinder Fleck in der Grammatikographie des Standarddeutschen. Durch die neuere Forschung in diesem Bereich wird die Grammatikographie um eine Perspektive bereichert, die zum einen norma‐ tive Probleme (s. Abschnitt 3) und zum anderen deskriptive und explanative Probleme in Bezug auf die grammatische Variation (s. Abschnitt 4) klären helfen kann. Die Potenziale eines solchen ‚Brückenschlags‘ sollten im vorliegenden Beitrag am Beispiel der Genusvariation bei Anglizismen im Deutschen illustriert werden. Die Fallstudie, der die Genusvariation der siebzehn in der VG untersuchten Anglizismen zugrunde lag, verdeutlichte, dass Anglizismen, deren Genuszuord‐ nung nicht über das natürliche Geschlechtsprinzip oder ein formales Prinzip erklärt werden können, in hohem Maße variieren. Die Variation ließ sich auf Konflikte der Prinzipien der Genuszuordnung zurückführen. Neben semanti‐ schen Prinzipien und dem Prinzip des ‚Maskulinum als unmarkiertes Genus‘ konnte als weiteres Prinzip das des ‚Neutrum als Ausweichgenus‘ identifiziert werden. Dabei erwies sich, dass diese Variation sich in areal unterschiedli‐ chen Präferenzen niederschlagen kann. Während bei Genusvariation zwischen Maskulinum und Neutrum Anglizismen in Texten aus der Deutschschweiz 106 Stephan Elspaß <?page no="107"?> vorherrschend dem Prinzip ‚Maskulinum als unmarkiertes Genus‘ folgen, ori‐ entieren sich Schreiber*innen in Texten aus Deutschland und Österreich eher entweder am Prinzip der semantischen Ähnlichkeit oder am Prinzip ‚Neutrum als Ausweichgenus‘. Bei Schwankungsfällen zwischen Femininum und Neutrum verwenden Schreiber*innen aus Deutschland fast ausnahmslos das Femininum, während solche aus Österreich und der Schweiz zwischen beiden Genera variieren. Wie in der Untersuchung von Onysko, Callies und Ogiermann (2013) ist die Datenbasis der vorliegenden Studie recht klein, aber immerhin ist sie bei der VG areal deutlich besser ausgewogen. In zukünftigen Studien müssten an weit größeren Korpora die hier vorgestellten vorläufigen Ergebnisse überprüft werden. Dazu eignet sich inzwischen insbesondere das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo), nicht nur aufgrund seiner massiven Erweiterung in den letzten Jahren, sondern auch wegen seiner inzwischen verbesserten arealen Ausgewo‐ genheit. Überhaupt haben sowohl das VG als auch das VWB offensichtlich wich‐ tige Anstöße für die Korpuslinguistik des Gegenwartsdeutschen gegeben; so verfügt auch das DWDS inzwischen - vorläufig allerdings nur für Deutschland - mit dem ZDL-Regionalkorpus über ein areal balanciertes Korpus. Untersu‐ chungen an solchen großen Textkorpora wie auch breit angelegte Befragungen bieten die Voraussetzungen für ein Forschungsfeld an der Verbindung von Areallinguistik und Grammatikographie. Die Brücke, an deren Konzeption und Ausführung Christa Dürscheid entscheidend mitgewirkt hat, ist jedenfalls geschlagen, sie sollte noch weiter genutzt werden. Literatur AADG 2011 ff. = Kleiner, Stefan (2011 ff.) Atlas zur Aussprache des deutschen Ge‐ brauchsstandards (AADG). 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ZDL-Regionalkorpus = ZDL-Regionalkorpus. https: / / www.dwds.de/ d/ korpora/ regional (Zuletzt aufgerufen am 01.09.2021) 110 Stephan Elspaß <?page no="111"?> Zwischen Empirie und Hermeneutik Korpuspragmatische Analyse zu ‚links‘ und ‚rechts‘ Livia Sutter und Noah Bubenhofer (Universität Zürich) Abstract: Auf der einen Seite die qualitativ-hermeneutischen Geistes‐ wissenschaften, auf der anderen die quantitativ-empirischen Sozialwis‐ senschaften: Solche Dichotomien halten sich hartnäckig. Die Korpuspragmatik versucht in diesem Spannungsverhältnis den Brückenschlag: Ansätze und Methoden unterschiedlicher Disziplinen werden für linguis‐ tische Zwecke genutzt, gleichzeitig werden die Forschungslogiken und Denkstile reflektiert, in die sie eingebettet sind. Dies gilt insbesondere für diskurs- und kulturlinguistische Fragestellungen: Sie betrachten die sprachliche Oberfläche als Sediment von Performanz und operationali‐ sieren Musterhaftigkeit als quantitatives Phänomen. Die Deutung dieser Muster erfolgt im Verbund mit nicht-sprachlichen Zeichen ‚lesend‘. Wir schlagen diese Brücke in einer Studie der Ausdrücke ‚links‘ und ‚rechts‘ und zeigen, wie politische Positionen durch eine quantitative Analyse der sprachlichen Oberfläche als diskursives Phänomen empirisch beschreibbar sind. 1 Einleitung Gehört die Linguistik zu den Geistes- oder Naturwissenschaften? Kann, soll, darf die Linguistik sich mit sozial- und politikwissenschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzen - und mit geistes-, sozial- oder naturwissenschaftlichen Methoden? Oder ganz konkret: Was ist die sprachwissenschaftliche Antwort darauf, was ‚links‘ und ‚rechts‘ in der Politik bedeuten? Selbstverständlich gibt es nicht ‚die sprachwissenschaftliche Antwort‘, was auch damit zusammenhängt, dass die Linguistik sehr verschiedene Richtungen vereint. So gibt es Richtungen, die von einem ‚Sprachsystem‘ ausgehen, das mitunter mit naturwissenschaftlich anmutenden Methoden untersucht wird, <?page no="112"?> jedoch auch solche, die den Fokus auf sprachliches Handeln in der Gesellschaft legen. All diese Richtungen nutzen unterschiedliche Methoden, seien sie eher qualitativ oder quantitativ, maschinell oder hermeneutisch ausgerichtet. Wir vertreten mit einem kulturlinguistischen, korpuspragmatischen Para‐ digma eine Linguistik, die Sprache vor allem als Sprachgebrauch modelliert und diesen Sprachgebrauch sowohl als Spiegel für sprachliches Handeln in Gesellschaft auffasst als auch als gesellschaftliches Handeln konstituierend (Bubenhofer und Scharloth 2015). Dieses Paradigma wird in unterschiedlichen Facetten seit längerer Zeit in der Linguistik theoretisiert und methodologisiert; es fusst auf der pragmatischen Wende im Fach (Feilke 2000), rehabilitiert die „sprachliche Oberfläche“ (Feilke und Linke 2009), betont die kulturelle und so‐ ziale Veränderbarkeit von sprachlicher Bedeutung, etwa in begriffshistorischen Arbeiten (Busse et al. 1994; Fritz 1998), und führte zu einer Fülle diskurslingu‐ istischer Arbeiten (Busse 2006; zur Übersicht: Spitzmüller und Warnke 2011). Wenn es nun darum geht, mit linguistischen Methoden die Konzepte von ‚links‘ und ‚rechts‘ in politischen Diskursen zu untersuchen, sind für uns diese theoretischen Grundlagen leitend. Ausgangspunkt ist dabei die sprachliche Oberfläche, der Gebrauch dieser Ausdrücke - und semantisch ähnlicher Aus‐ drücke, die potenziell ähnliche Konzepte beschreiben. Die Musterhaftigkeit der Verwendung lässt sich dabei mit korpuslinguistischen Methoden erschliessen (Bubenhofer 2009); umfangreiche Textkorpora sind also die Voraussetzung für die Analysen. Zusammengefasst sind also die folgenden Aspekte leitend für die Analysen: • Der empirisch messbare Sprachgebrauch ist die Grundlage der Analyse. Wir zeigen im Folgenden auf, worin sich die klassisch politikwissenschaft‐ lichen Ansätze, ‚links‘ und ‚rechts‘ zu definieren und zu operationalisieren, von unserem linguistischen Ansatz unterscheiden. Dies lässt sich gut an einem Zeichenmodell illustrieren, beispielsweise jenem von Ogden und Richards (1974): Die Relationen zwischen Ausdruck, Referenzobjekt und der die beiden moderierenden Position des Begriffs müssen als dynamisch auf‐ gefasst werden, als diskursiv geprägt, abhängig von Positionen, Funktionen und Zeit. • Damit wird die diskurs- und kulturlinguistische Einbettung deutlich, die wichtig ist, um gebrauchssemantisch vorgehen zu können. Dies geht nicht nur mit einem dynamischen Zeichenmodell einher, sondern auch mit einer anderen Auffassung von ‚Medium‘. Mit Jäger (2005) gesprochen, ist Sprache eben kein „technisches Übermittlungssystem“, um Botschaften „bei Bedarf zwischen verschiedenen austauschbereiten Ich-Adressen hin 112 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="113"?> und her zu schicken“ ( Jäger 2005: 53). Vielmehr werden „semantische Gehalte von Sprachzeichen […] im medialen Modus performativer Vollzüge konstituiert“, distribuieren „die Inhalte der kulturellen Semantik [und] […] sind auch wesentlich an ihrer Hervorbringung beteiligt“ ( Jäger 2005: 53). Die Verwendungsmuster von ‚links‘ und ‚rechts‘ spiegeln also eine kulturelle Semantik und bestimmte Diskurse wider, konstituieren diese jedoch auch gleichzeitig. Dies wird besonders deutlich, wenn etwa politikwissenschaft‐ liche Modelle zur Strukturierung der Parteienlandschaft Eingang in die Massenmedien finden und so Vorstellungen von ‚links‘ und ‚rechts‘ prägen. • Schliesslich erlaubt die theoretisch begründete Orientierung an der Mus‐ terhaftigkeit auf der sprachlichen Oberfläche den Einsatz korpuslinguis‐ tischer Methoden und eine zutiefst empirische Ausrichtung. Muster‐ hafter Sprachgebrauch in Textkorpora kann statistisch modelliert werden, etwa mit Kollokationsanalysen, wie wir in der Analyse zeigen. Zudem können neben klar hypothesengeleiteten Zugängen auch datengeleitete Verfahren eingesetzt werden. Allerdings bleibt dabei entscheidend, dass damit keine Dichotomie zwischen ‚quantitativ‘ und ‚qualitativ‘ aufgemacht wird: Um die diskurs- und kulturlinguistische Einbettung zu rekonstruieren, müssen die quantitativ erzeugten Daten wiederum interpretiert - gelesen - werden. Verschiedene Ansätze wie ‚quantitativ informierte qualitative Analysen‘ (Bubenhofer 2013), Mixed Methods (Dreesen et al. 2019; Kuckartz 2014) oder korpuslinguistisch-datengeleitete Grounded Theory (Scharloth 2018) kommen dafür in Frage. Im Folgenden soll nun an einer klassischen Fragestellung der Politikwissen‐ schaft gezeigt werden, wie eine Brücke zwischen einer kulturlinguistisch-kor‐ puspragmatischen und einer sozialwissenschaftlichen Disziplin geschlagen werden kann. Zudem wird der Fokus auf den Sprachgebrauch in der Deutsch‐ schweiz gelegt, denn bereits 2010 nannten Kersten Sven Roth und Christa Dürscheid das Desiderat, das Forschungsfeld der Schweizer Politiklandschaft politolinguistisch zu erschliessen (Roth und Dürscheid 2010: 3), also eine dezi‐ diert linguistische Sicht auf Politik einzunehmen - und dabei auch zu prüfen, was die Eigenheiten der Schweizer Politiklandschaft sind. 2 Fragestellung: Orientierungsschwierigkeiten Was die Rechten allerdings heute definitiv besser können als die Linken: mit ihrer ex‐ klusiv weissen Identitätspolitik eine radikale ökonomische Umverteilung betreiben.“ (Galizia 2018) 113 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="114"?> 1 Ziel der Kritik ist hier der Verein Sentience Politics, der sich für faire Produktion von Nahrungsmitteln, speziell von tierischen Produkten, einsetzt: „Die Philosophie der 2013 gegründeten Denkfabrik heisst: ‚Altruismus ist unser Antrieb. Antispeziesismus und Rationalität unsere Richtschnur. […]‘“ (Aschwanden/ Gerny 2018). ‚[…] Jetzt will die Linke auch noch die politisch korrekte Ernährung im Energieregle‐ ment hieb- und stichfest verankern‘, sagt Reinhard ärgerlich. ‚Dieser Bevormundung wollen wir einen Riegel schieben.‘ (Aschwanden und Gerny 2018). Politische Inhalte werden bisweilen mit harten Bandagen verhandelt, wie diese Auszüge aus den Schweizer Zeitungen WOZ und NZZ illustrieren. Konfliktli‐ nien werden dabei nicht selten zwischen den Polen ‚links‘ und ‚rechts‘ verortet, die eines der wichtigsten Orientierungssysteme in der politischen Landschaft darstellen (vgl. Milic 2008: 272), seit sich im Parlament der jungen Demokratie Frankreich die Verfechter des Status Quo in die rechte, die Befürworter von Veränderung in die linke Hälfte des Saales setzten (vgl. Bobbio 1994: 46 f.). Gerade vor diesem historischen Hintergrund wird ‚links‘ häufig mit ‚progressiv‘, ‚rechts‘ demgegenüber mit ‚konservativ‘ gleichgesetzt (vgl. Nef 2002: 39). Wie die Beispiele aus der WOZ und der NZZ zeigen, sind die Zuschreibungen zu ‚links‘ und ‚rechts‘ aber vielfältiger: Die Kritik in der Aussage, wie sie die NZZ abdruckt, trifft nicht nur das tierschützerische Anliegen der ‚Linken‘. 1 Diese werden gleichzeitig mit übertrieben kontrollierendem Verhalten semantisiert, das Ärger auslöst, das gestoppt werden muss. ‚Links‘ und ‚rechts‘ können somit stellvertretend für gegenteilige Positionen zu politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Streitfragen stehen, ja sogar einfach eine Antipa‐ thie ausdrücken. Diese Vieldeutigkeit der Begriffe von ‚links‘ und ‚rechts‘ und ihre gleichzeitige Unverzichtbarkeit für das politische Handeln wird von der Politikwissenschaft mitunter kritisch betrachtet. Nef (2002: 43) etwa argumen‐ tiert, dass sich dieses Orientierungssystem nicht zur wissenschaftlich-neutralen Beschreibung politischer Positionen eigne, da die Bedeutung von ‚rechts‘ gerade im deutschsprachigen Raum stark durch den Nationalsozialismus geprägt sei. Gleichzeitig kann die Wissenschaft aber den Gebrauch dieser Ausdrücke im ge‐ sellschaftlich-politischen Diskurs nicht ignorieren, da sie von verschiedensten politischen Akteur: innen verwendet werden, um politisch zu handeln: „Mit der Reduktion auf die Links-Rechts-Orientierung geht enorm viel Information verloren. Aber erst diese Komplexitätsreduktion erlaubt die Identifikation von Identitäten im politischen Raum - in Differenz zu anderen Identitäten“ (Fuhse 2004: 212). So sind in der Politikwissenschaft verschiedene Ansätze entstanden, die diesem Problem mit Definitionen und Modellen beikommen und Klarheit 114 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="115"?> schaffen sollen: Auf welches gegensätzliche Paar von Werten, welche im Konflikt stehenden politischen Ziele, welche unvereinbaren Perspektiven auf die Gesellschaft lassen sich ‚links‘ und ‚rechts‘ als Dichotomie herunterbrechen? Norberto Bobbio (1994) macht den Bedeutungskern dieses Orientierungssys‐ tems an den weltanschaulichen Gegensätzen ‚Gleichheit vs. Ungleichheit‘ fest. Fuhse (2004: 216-218.) hält jedoch ein Modell entgegen, in dem die „Egalitarier“ den ‚linken‘, die „Hierarchiker“ den ‚rechten‘ Pol darstellen. Dazwischen siedelt Fuhse zusätzlich die „Individualisten“ an, die zu verschiedenen Zeiten ‚rechts‘ oder ‚links‘ zugeordnet werden und deren oberstes Ziel die ‚Freiheit‘ ist; Freiheit verstanden als Möglichkeit, sich als Individuum frei von staatlicher Kontrolle entfalten, entsprechend seiner Leistung entlohnt werden und Status‐ unterschiede geniessen zu können (vgl. Fuhse 2004: 216). Sich für Freiheit einzusetzen, ist oftmals konstitutiv für das Selbstverständnis von Akteur: innen, die als ‚rechts‘ bezeichnet werden, wie das folgende Beispiel aus der Weltwoche zeigt: „Rechts: Das sind die Kräfte, die sich für Selbstbestimmung und Unab‐ hängigkeit, für die Freiräume der Bürger in der direkten Demokratie und für die Unternehmen wehren“ (Köppel 2015). ‚Rechte‘ würden die Zuschreibung ‚Gleichheit vs. Ungleichheit‘ wohl nicht unterschreiben, sondern bedingt durch ihr Selbstbild ‚Ungleichheit‘ durch ‚Freiheit‘ ersetzen. Die Perspektive, aus der die Ausdrücke ‚links‘ oder ‚rechts‘ verwendet werden, hat also einen massgeblichen Einfluss auf die Bedeutung, die mit diesen Bezeichnungen ausgedrückt werden soll. Ein anderes Problem ist der Umstand, dass ‚links‘ und ‚rechts‘ auf verschiedene Dimensionen des gesellschaftlich-politischen Le‐ bens angewendet werden. Christmann (2009: 26-29) diskutiert darum Modelle, die ‚links‘ und ‚rechts‘ als Pole auf einer wirtschaftlichen Dimension setzen und diese durch eine zweite Achse ergänzen; die kulturell-weltanschauliche Achse ‚libertär-konservativ‘ bzw. ‚liberal-konservativ‘. Dieser Ansatz wird aber auf das Problem zurückgeworfen, dass er sich zwar zur wissenschaftlichen Analyse politischer Fragestellungen eignet, die Realität der Verwendung dieser Ausdrücke aber nicht abbilden kann: Im Sprachgebrauch wird mit ‚links‘ und ‚rechts‘ auf Referenzobjekte verwiesen, die auf allen möglichen Dimensionen des gesellschaftlich-politischen Feldes angesiedelt werden können (vgl. Nef 2002). Dies zeigt sich in der Kritik an den ‚Rechten‘, wie sie die WOZ im oben zitierten Artikel übt. Das ‚Rechts-Sein‘ wird gleichermassen an der ‚radikalen ökonomischen Umverteilung‘ und der ‚exklusiv weissen Identitätspolitik‘ fest‐ gemacht - ‚Rechts-Sein‘ wird dadurch sowohl auf einer wirtschaftlichen wie auch auf einer kulturellen Achse festgemacht (vgl. Galizia 2018). 115 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="116"?> 2 Unter anderen: ‚Linke‘ als Vertreter: innen der Arbeiter: innen, ‚Rechte‘ als Ver‐ treter: innen des Kapitals (vgl. Christmann 2009: 24); ‚links‘ als Ziel, den Kompetenz‐ bereich des Staates auszubauen und ‚rechts‘ als Ziel, das Eingreifen des Staates möglichst einzudämmen (vgl. Jagodzinski/ Kühnel 1994: 330); Verteilung kultureller und wirtschaftlicher Aspekte auf Alte Linke/ Neue Linke und Alte Rechte/ Neue Rechte (vgl. Jaschke 1992). Ähnlich wie mit diesen Beispielen verhält es sich mit weiteren politologi‐ schen Versuchen, 2 ‚links‘ und ‚rechts‘ zu definieren: In sich sind die vorgeschla‐ genen Definitionen oder Modelle kohärent und bieten ein passendes Werkzeug für die politikwissenschaftliche Verortung politischer und gesellschaftlicher Strömungen. Auf die Frage, was ‚links‘ und ‚rechts‘ im alltäglichen Sprach‐ gebrauch bedeuten, liefert jedoch keiner dieser Ansätze eine abschliessende Antwort. Im Sprachgebrauch werden ‚links‘ und ‚rechts‘ auf verschiedenste Dimensionen bezogen, ausserdem ist ihre Bedeutung stark von der Perspektive geprägt, aus der sie verwendet werden. Diese Vielfalt konnte beispielsweise Noelle-Neumann (1996) abbilden, indem sie Zuschreibungen zu ‚links‘ und ‚rechts‘ aus verschiedenen Meinungsumfragen in den USA, Kanada, Spanien, Frankreich und Deutschland aggregiert hat. Solche Erhebungen können jedoch den Nachteil haben, dass die Befragten aktiv über ihre Antworten nachdenken, während viele Elemente von Bedeutung gerade unbewusst mit einem Ausdruck verknüpft sind und von einer Umfrage nicht aufgefangen werden können. Die diskutierten Ansätze geben wohl alle einen Teil des Bedeutungsnetzes wieder, das sich um ‚links‘ und ‚rechts‘ spinnt. Aber keiner vermag es, ihre Bedeutung so zu erfassen, wie sie im Alltagsgebrauch besteht, oder sich ihr mittels unverfälschter Daten zu nähern. Diese Versuche stehen damit im scheinbar unauflösbaren Spannungsfeld zwischen dem Streben nach definito‐ rischer Eindeutigkeit und der beobachteten Vieldeutigkeit der Ausdrücke ‚links‘ und ‚rechts‘. Doch wie kommt es dazu, dass in dieser Frage überhaupt ein Spannungsfeld entsteht? Dazu muss eine weitere Frage gestellt werden: Welches Verständnis von ‚Bedeutung‘ steht hinter dem Anspruch, den Bedeutungskern von ‚links‘ und ‚rechts‘ zu finden? 3 Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Bedeutung‘ Abstrahiert formuliert, versuchen die diskutierten Ansätze, alle Bedeutungsa‐ spekte, die mit ‚links‘ und ‚rechts‘ assoziiert werden, auf einen gemeinsamen Nenner herunterzubrechen. Sie nehmen an, dass mit allen Aussagen zu ‚links‘ und ‚rechts‘ eine Kernbedeutung variiert wird, dass diese aber im Grunde persistent bleibt und darum deduktiv erfassbar sein muss. Da viele Bedeutungs‐ 116 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="117"?> aspekte, die ‚links‘ und ‚rechts‘ zugesprochen werden, sich gegenseitig aus‐ schliessen oder auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind, versuchen andere Modelle, diese Aspekte auf verschiedene Achsen aufzuteilen - was aber wiederum nicht der Realität des Gebrauchs entspricht. Das Problem beginnt also hier: in der Annahme, dass ein Bedeutungskern überhaupt existiert. Die Zei‐ chentheorie von Ogden und Richards (1974) erlaubt einen genaueren Blick auf dieses Verständnis von ‚Bedeutung‘. Nach Ogden und Richards ist die Beziehung zwischen dem Ausdruck („Symbol“) und dem Referenzobjekt („Bezugsobjekt“) - also zwischen einem Wort und einem ‚Ding‘, das es bezeichnet - durch den Begriff („Gedanke oder Bezug“) moderiert. Dadurch, dass ein Ausdruck mit einem bestimmten Begriff verbunden ist, bedeutet ein Ausdruck nicht nur den Bezug zum Referenzobjekt, er transportiert eine ganze Reihe weiterer Bedeutungen, die Ogden und Richards „emotionale“ (Ogden und Richards 1974: 17) nennen. Der Versuch vieler politikwissenschaftlicher Ansätze, die Frage nach der Bedeutung von ‚links‘ und ‚rechts‘ abschliessend zu klären oder die diversen Bedeutungsaspekte in ein mehrdimensionales Modell aufzufächern, impliziert, dass alle Elemente des semiotischen Dreiecks gleich stabil sind: dass, weil die Ausdrücke ‚links‘ und ‚rechts‘ immer dieselben sind, mit ihnen auch auf ein im Grunde immer gleichbleibendes Referenzobjekt und den gleichen Begriff verwiesen wird. Auf Bedeutung kann man nun aber auch eine andere Perspektive einnehmen und sie nicht als etwas Statisches, allen Äusserungen und Gebrauchsmomenten Zugrundeliegendes verstehen, sondern sie vielmehr dynamisch und mit ihrem Gebrauch und dessen Musterhaftigkeit identisch denken. Bezogen auf das Modell von Ogden und Richards (1974) würde dies also bedeuten anzunehmen, dass sich Referenzobjekt und Begriff in jeder einzelnen Aussage, die zu ‚links‘ und ‚rechts‘ getroffen wird, ändern können - und dies zudem unabhängig von‐ einander. Diese Dynamik und Multiperspektivität von Bedeutung abzubilden, ist die Expertise der Korpuslinguistik, wie sie Bubenhofer (2009) und Spitzmüller und Warnke (2011) im Anschluss an die Diskurslinguistik entwerfen. Vor diesem Hintergrund kann Bedeutung als eine diskursiv verhandelte und konstruierte Einheit von Wissen verstanden werden. Die Diskurslinguistik begreift Bedeu‐ tung dabei immer als kontextabhängig (vgl. Spitzmüller und Warnke 2011: 37). Methodisch heisst dies, dass die diskurslinguistische Analyse etwa beobachtet, welche Wörter sich im Umfeld eines untersuchten Ausdruckes befinden, in welche Verbindung diese Wörter miteinander gebracht werden oder welche pragmatische Funktion der Ausdruck in diesem spezifischen Kontext erfüllt (vgl. Gardt 2007: 28-29). Dabei interessiert nicht so sehr die einzelne Aussage, son‐ dern deren Gesamtheit und das Muster ihrer Verbindungen: Scharloth, Eugster 117 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="118"?> und Bubenhofer verstehen den Diskurs so im Anschluss an den Rhizom-Begriff von Guattari und Deleuze: Das Textgeflecht des Diskurses basiert also letztlich auf in verschiedenen Texten verstreuten Äusserungen, die in traditionellen linguistischen Diskursanalysen als einem bestimmten, thematisch gefassten Diskurs zugehörig beschrieben werden, weil sie sich ähnlich sind (Scharloth et al. 2013: 361). Laut diesen Autoren treten dabei die einzelnen Aussagen hinter das komplexe Netz ihrer Verbindungen zurück. Diese Verflechtungen ergeben die Muster‐ haftigkeit, die auf Diskurse hinweist und die Aussagen vorstrukturiert, die in einem Diskurs sagbar sind (vgl. Scharloth et al. 2013: 346-347), und die schlussendlich die Bedeutung eines Ausdruckes konstruieren. Die Korpuslin‐ guistik rückt also nicht so sehr die Inhalte von Diskursen oder die Frage ins Zentrum des Interesses, worin die Bedeutung eines Ausdruckes besteht. Sie interessiert sich vielmehr dafür, wie Bedeutung sprachlich hergestellt wird und welche Äusserungen dazu in musterhafter Weise verwendet werden. Diese Art von Korpuslinguistik, die wir im Folgenden genauer als ‚Korpuspragmatik‘ be‐ zeichnen wollen, bedient sich nun bei der Erkundung dieser Musterhaftigkeiten empirischer Ansätze und arbeitet mit grossen Mengen von Sprachdaten, die ein induktives Erkunden von Diskursen erlauben (vgl. Bubenhofer 2009: 16). Bedeutung kann so als Phänomen der sprachlichen Oberfläche gedacht werden (vgl. ebd.: 30). Zwar setzt die Korpuspragmatik dabei ein anderes Verständnis von ‚Bedeutung‘ voraus, als die oben diskutierten politikwissenschaftlichen Ansätze dies tun. Mit ihrem induktiven, auf statistischer Signifikanz basierenden Vorgehen verwendet sie gleichzeitig aber empirische Methoden, wie sie sonst eher sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie etwa der Politikwissenschaft zugeschrieben werden. 4 Analyse 4.1 Die Oberfläche lässt tief blicken Im Folgenden soll anhand einer kleinen Untersuchung gezeigt werden, welche Perspektive die Korpuspragmatik mit ihren Ansätzen auf die Bedeutung von ‚links‘ und ‚rechts‘ eröffnen kann. Die Bedeutung soll daran sichtbar gemacht werden, wie häufig ein Ausdruck verwendet wird, in Konkurrenz zu welchen Bezeichnungsalternativen er steht oder im Umfeld welcher anderen Ausdrücke er häufig auftritt. Dazu werden Frequenzlisten und Kollokationsprofile von ‚links‘ und ‚rechts‘ erstellt - eine Methode, die sich ganz auf die sprachliche Oberfläche konzentriert und so „Klumpen im Text“ (vgl. Bubenhofer 2009: 111) 118 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="119"?> 3 Die Daten wurden von der Schweizer Mediendatenbank AG (SMD) über Swissdox@LiRI (liri.uzh.ch) zur Verfügung gestellt. Alle in der vorliegenden Studie zitierten Zeitungsartikel sind Teil des Korpus, das aus diesen Daten besteht. aufspürt, die wiederum an auffällige Diskursstränge heranführen. Die Untersu‐ chung basiert auf einem Korpus von rund 717’000 Artikeln, die zwischen 2012 und 2019 in den Schweizer Tages- und Wochenzeitungen WOZ, Tagesanzeiger, Blick, NZZ und Weltwoche erschienen sind. 3 Vontobel (2005: 32) bietet eine Einordnung dieser Zeitungen in die politische ‚links-rechts‘-Landschaft und verortet die WOZ an deren ‚linken‘, die Weltwoche am ‚rechten‘ Pol. Der Ta‐ gesanzeiger und der Blick werden als ‚links-liberal‘, die NZZ als ‚rechts-liberal‘ eingestuft. An dieser Stelle darf aber nicht vergessen gehen, dass die Kategorien ‚links‘ und ‚rechts‘ im Rahmen dieser Untersuchung nicht als gegeben, sondern als konstruiert betrachtet werden. An diesem Konstruktionsprozess sind die Zeitungen nicht nur dadurch beteiligt, dass sie Aussagen über bestimmte Referenzobjekte treffen oder zitieren, in denen sie diese als ‚links‘ oder ‚rechts‘ bezeichnen. Die Zeitungen konstruieren ‚links‘ und ‚rechts‘ auch dadurch mit, dass sie sich selbst auf diesem Spektrum verorten und entsprechend sprachlich handeln. Die Zuschreibung der Positionen ‚links‘ und ‚rechts‘ zu den fünf Zeitungen von aussen — etwa durch die Wissenschaft, andere Medien oder Einzelpersonen — muss darum mit der Position kontrastiert werden, an der sich die Zeitungen selbst verorten. Zuschreibungen von aussen, wie hier durch Vontobel (2005), decken sich dabei nicht in jedem Fall mit der Selbstbeschreibung der Zeitungen: Es ist einzig die WOZ, die sich selbst auf dem Spektrum links-rechts verortet und sich explizit als „links“ (vgl. WOZ 2021) versteht. Laut Weltwoche-Redaktor Roger Köppel ist in keiner anderen Zeitung die „[…] Vielfalt der Positionen grösser, von links bis rechts, ohne dass das Profil darunter leidet.“ (Köppel 2020). Die NZZ derweil bezeichnet ihre politische Ausrichtung als „freisinnig-demokratisch“ (vgl. NZZ Mediengruppe 2021), der Tagesanzeiger die seine als „unabhängig“ (vgl. Tamedia 2021). Der Blick schreibt sich gar keine politische Position zu, sondern beschreibt sich als „[…] schnell, emotional und immer nahe dran mit Exklusiv-Informationen.“ (Ringier 2022). Mit der Wahl von Zeitungen als Grundlage für das Korpus wird gleichzeitig ein bestimmter Ausschnitt aus dem ‚links-rechts‘-Diskurs gewählt, der durch das Medium Zeitung mit seinen spezifischen Produktions- und Rezeptionsbe‐ dingungen geprägt ist. Bubenhofer (2009: 332) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass zusätzliche Textsorten hinzugezogen werden müssten, um einen Diskurs umfassend beschreiben zu können. Dies kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht geleistet werden. Dennoch sind Zeitungen gerade bei politikwissenschaftlichen Fragestellungen als Korpora sinnvoll: Sie zitieren 119 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="120"?> 4 Abgefragt wurden ‚links‘ bzw. ‚rechts‘ als Attribut zu einem Substantiv oder als Substantiv kombiniert mit einem vorangestellten Attribut. Dabei wurde die Suchsyntax so formuliert, dass ‚links‘ und ‚rechts‘ allein oder als Teil eines Kompositums auftreten können. Diese eingeschränkte Suchsyntax wurde gewählt, um falsche Treffer möglichst vermeiden zu können. und besprechen nicht nur relevante Diskursbeiträge wie etwa Reden von Poli‐ tiker: innen oder Forderungen politischer Akteur: innen. In Zeitungen wird der ‚links-rechts‘-Diskurs auch ausserhalb des strikt (partei-)politischen Kontextes aufgenommen, etwa in Meinungsartikeln oder Kolumnen zu kulturellen und gesellschaftlichen Themen wie „Political Correctness“ (dazu vgl. Eugster 2019). Ein Problem dieser Untersuchung ist, dass ‚links‘ und ‚rechts‘ nicht nur in der Politik als Orientierungssystem fungieren und dass im Korpus nicht gezielt nach ‚rechts‘ und ‚links‘ im politischen Sinne gesucht werden kann. Eine naive Suche nach Ausdrücken wie ‚links‘ oder ‚Rechte‘ führt darum oftmals zu Treffern wie diesem: Der Rechtsverkehr gewohnte Fahrer ist im rechtsgesteuerten Testauto im dichten Stadtverkehr beim Abstandhalten von einem drängelnden Töff zu nah an die linke Bordsteinkante geraten: Beide linken Reifen sind platt. (Felber 2014). Die Suchanfragen, die den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung bilden, sind darum syntaktisch so eingeschränkt, dass möglichst viele falsche Treffer ausgeschlossen werden können 4 - dies nimmt in Kauf, dass auch viele er‐ wünschte Treffer verloren gehen, sorgt jedoch auch für validere Ergebnisse. 4.2 Korpuspragmatik als Topographie der Semantik Die „Entdeckungsprozedur“ (Linke 2015) beginnt mit einer einfachen Suchan‐ frage in der CWB, die in diesem ersten Schritt nur Aufschluss geben soll, welche Wortformen von ‚links‘ und ‚rechts‘ wie oft im Gesamtkorpus auftreten. Ein Blick auf die zwanzig häufigsten lemmatisierten Formen bietet folgende Tabelle: AUSDRÜCKE ‚LINKS‘ ANZ. TOKEN AUSDRÜCKE ‚RECHTS‘ ANZ. TOKEN linken Flügel/ -s 1480 Rechten Rand * 749 linken Parteien 771 Rechten Flügel 380 linken Lager 523 Rechtsextreme/ -n Szene * 289 Linken/ links ist/ sind 421 Rechter Rand 270 linken Rand * 320 Rechtsextreme Front * 254 120 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="121"?> AUSDRÜCKE ‚LINKS‘ ANZ. TOKEN AUSDRÜCKE ‚RECHTS‘ ANZ. TOKEN Radikalen Linken * 304 Rechtsextreme/ -n Partei * 244 linken Kreisen 235 Rechtspopulistischen Lega 240 links-grüne/ -n Lager 221 Rechts gerückt 207 linken Spektrum 145 Extremen Rechten * 197 politischen Linken 130 Neuen Rechten 192 Links-grüne/ -n Mehrheit 123 Rechtspopulistische/ -n Partei/ -en 178 Linken“ 111 Politischen Rechten 174 links-grüne Parteien 69 Rechten Parteien 167 links-grüner Seite 65 Rechtsnationalen Schwe‐ dendemokr. 118 linksautonomen Szene * 42 Rechten Szene 90 deutschen Linkspartei 39 Rechts sind/ ist 77 linksextremen Szene 36 Rechtspopulistischen Frei‐ heitlichen 60 linksliberale Zeitung 35 Rechtsbürgerliche Mehrheit 51 links-grüne Politiker 31 Rechtsextremen Kreisen* 49 links-grüne Kreise 30 Rechtskonservative Regie‐ rung 48 Total Vorkommen (Token) 5’131 Total Vorkommen 4’024 Anteil Komposita (Token) 12,7 % Anteil Komposita 31,9 % *Anteil Ausdrücke mit expl. Bezug zu Randphänomenen (Token) 13,7 % *Anteil Ausdrücke mit expl. Bezug zu Randphänomenen (Token) 44,2 % Tab. 1: Frequenz der zwanzig häufigsten Wortformen mit ‚links‘ und ‚rechts‘ Interessant sind hier drei Beobachtungen: Gemessen an der Anzahl Token wird der Ausdruck ‚links‘ in seinen verschiedenen Formen häufiger verwendet als der Ausdruck ‚rechts‘. Dafür tritt ‚rechts‘ deutlich häufiger als Teil eines Kompositums auf als ‚links‘. Bezeichnenderweise, und dies führt zur dritten 121 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="122"?> 5 Das häufigste Kompositum mit ‚links‘ und ein häufiger Kollokator dieses Ausdrucks ist ‚grün‘. Dieser Ausdruck kann aber nicht im selben Masse als Kompositum gelten wie etwa ‚linksautonom‘: Nef (2002: 41) gibt hier zu bedenken, dass ‚links‘ und ‚grün‘ Beobachtung, wird das Kompositum ‚rechtsextrem‘ ganze 836-mal als Attribut zu den Substantiven ‚Szene‘, ‚Front‘, ‚Partei‘ oder ‚Kreis‘ im Gesamtkorpus verwendet, während von der ‚linksextremen Szene‘ nur gerade 36-mal die Rede ist. Semantisch scheint ‚rechts‘ demnach stärker mit politischen Rand‐ phänomenen assoziiert zu werden als ‚links‘. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Es darf angenommen werden, dass sich politische Akteur: innen des gesamten Spektrums etwa gleich häufig an politischen Prozessen beteiligen und dass beide Lager ungefähr gleich häufig in den Medien zitiert werden. Wenn überhaupt, müsste das Gleichgewicht der Medienberichterstattung gerade in den Jahren 2012 bis 2020 wegen des grossen Erfolges ‚rechtspopulistischer‘ Parteien in Europa und den USA eher zu Gunsten der ‚Rechten‘ gelagert sein, nicht umgekehrt. Das seltenere Auftreten ‚Rechter‘ im Korpus kann unter diesen Voraussetzungen nur darauf zurückgeführt werden, dass sie nicht so häufig als ‚rechts‘ bezeichnet werden, wie ‚Linke‘ als ‚links‘ bezeichnet werden. Die Annahme ist hier Folgende: Mit dem Ausdruck ‚links‘ wird ein grösseres Spek‐ trum politischer Strömungen, Gruppen und Personen bezeichnet, als dies für ‚rechts‘ der Fall ist. Der Ausdruck ‚rechts‘ wird demgegenüber seltener in seiner Grundform verwendet. Häufiger wird er durch eine Kompositabildung mit einer anderen politischen Strömung wie ‚rechtskonservativ‘ oder einer Wertung wie ‚rechtsextrem‘ präzisiert: Semantisch bedeutet eine Kompositabildung auch eine Disambiguierung. Es wird klargestellt, welche Art von ‚rechts‘ gemeint ist: rechtskonservativ‘ oder ‚rechtsbürgerlich‘ als Wertehaltungen, die in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert werden können, oder ‚rechtsnationalistisch‘ oder gar ‚rechtsextrem‘, die ein gesellschaftliches Randphänomen darstellen. Werden jedoch als gemässigt betrachtete Gruppen, Personen oder Gesinnungen besprochen, so geschieht dies möglicherweise durch alternative Ausdrücke wie etwa ‚konservativ‘ oder ‚bürgerlich‘. Bei ‚links‘ scheint demgegenüber kein solcher Bedarf zur Disambiguierung zu bestehen und das Wort erscheint deshalb verhältnismässig häufiger in seiner Grundform. 4.3 Linke sind links, Rechte sind konservativ Welches sind also mögliche Alternativen zu den Ausdrücken ‚links‘ und ‚rechts‘, und wie können sie identifiziert werden? Mögliche alternative Bezeichnungen lassen sich bereits von den Komposita zu ‚links‘ und ‚rechts‘ auf den Frequenz‐ listen ableiten: so beispielsweise ‚konservativ‘, ‚bürgerlich‘ oder ‚nationalistisch‘ als Alternativen für die ‚Rechten‘; ‚alternativ‘ und ‚liberal‘ für die ‚Linken‘. 5 122 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="123"?> nicht so eng zusammen gedacht werden, weil ‚grüne‘ Politik zwingend ein ‚linkes‘ Anliegen ist, sondern weil diese beiden Strömungen in der realen Politik oftmals Koalitionen eingehen. Dies soll nicht bedeuten, dass grüne Politik nicht auch ‚linke‘ Politik beinhaltet und umgekehrt, aber es ist nicht eindeutig klar, welcher Ausdruck als Untergruppe des anderen verstanden werden soll. 6 Ausgeschlossen aus dieser Suchsyntax werden Akteur: innen, die sich ausserhalb des demokratisch-verfassungskonformen Rahmens bewegen oder vom BPB als extremis‐ tisch eingestuft werden, da diese hauptsächlich Kollokatoren wie ‚rechtsextrem‘ oder ‚linksradikal‘ generieren würden. Dies betrifft die griechische Chryssi Avgi und die ungarische Jobbik (vgl. BPB 2021). 7 Kriterien dafür, dass ein Kollokator als Alternativbezeichnung gewertet wird, sind folgende: Sie dürfen nicht als Komposita mit ‚rechts‘ oder ‚links‘ auftreten oder eine Intensität angeben wie etwa „extrem“ oder „drittstärkste“. Ausserdem muss auch hier anhand der Textbelege kontrolliert werden, ob ein Kollokator tatsächlich als alternative Bezeichnung fungiert oder ob es sich dabei um einen Gegenentwurf handelt, wie etwa der Kollokator „bürgerlich“ zum Ausdruck ‚links‘. Um dies empirisch zu verifizieren und gegebenenfalls auf weitere Bezeich‐ nungsalternativen zu stossen, wird das (vermutete) semantische Umfeld der Bezeichnungsalternativen zur Suchsyntax umfunktioniert. Es wird dazu eine Suchsyntax bestehend aus zehn Akteur: innen erstellt, die als Kollokatoren zu den Ausdrücken ‚links‘ und ‚rechts‘ erscheinen. Die Überlegung hinter diesem Vorgehen ist die: Wenn beispielsweise die ‚SVP‘ ein Kollokator von ‚rechts‘ ist, wird die SVP als Referenzobjekt im Umkehrschluss auch als ‚rechts‘ bezeichnet. Und wenn es alternative Ausdrücke zu ‚rechts‘ gibt, mit denen auf das Referenz‐ objekt SVP verwiesen wird, müssen sich diese ebenfalls im Kollokationsprofil von ‚SVP‘ finden. Für die Suchsyntax wurden folgende Ausdrücke aus den Kollokatoren von ‚links‘ und ‚rechts‘ ausgesucht: 6 • für ‚rechts‘: FN, SVP, FDP, AfD, (Marine Le) Pen, FPÖ, CDU, CVP, CSU, Republikaner • für ‚links‘: Gewerkschaft, SP, Grüne, Parti socialiste, Syriza, Partito Democ‐ ratico, Demokraten, Frauenorganisation, SPD, Sozialist Von diesen Ausdrücken als Suchsyntax werden wiederum Kollokationslisten gezogen, die nach Adjektiven und Adverbien gefiltert werden. 7 Aus den ersten hundert Kollokatoren ergeben sich damit folgende Ausdrücke als Alternativbe‐ zeichnungen für ‚links‘ und ‚rechts‘: 123 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="124"?> Abb. 1: Alternativbezeichnungen zu ‚links‘ (soz.dem. = sozialdemokratisch) Abb. 2: Alternativbezeichnungen zu ‚rechts‘ Diese Darstellungen implizieren, dass es für ‚rechts‘ mehr Alternativbezeich‐ nungen gibt als für ‚links‘. Ausserdem treten die Alternativbezeichnungen für ‚rechts‘ in einer deutlich höheren Frequenz auf als jene für ‚links‘: Während ‚sozialdemokratisch‘ durch 4549 Token im Gesamtkorpus vertreten ist, sind es für ‚bürgerlich‘ ganze 25’103 Token. Interessant ist die Mischung von verschie‐ denen Dimensionen der politischen Ausrichtung, auf welchen die abgebildeten Ausdrücke anzusiedeln sind: Während ‚wirtschaftsliberal‘ oder ‚proeuropäisch‘ Einstellungen in einem bestimmten Bereich - in diesem Falle Wirtschaft und Aussenpolitik - bezeichnen, können Ausdrücke wie ‚konservativ‘ und ‚progressiv‘ Positionen beispielsweise auf der kulturellen oder wirtschaftlichen Dimensionen benennen, oder aber auf eine grundlegendere Wertehaltung referieren. Für ‚rechts‘ scheinen also nicht nur mehr Kompositakonstruktionen ver‐ wendet zu werden als für ‚links‘, sondern auch mehr Alternativbezeichnungen. Nun stellt sich die Frage, ob dies in allen Zeitungen der Fall ist, oder ob Blätter mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen diese drei verschie‐ denen Bezeichnungsoptionen - Grundform, Komposita, Alternativbezeichnung - in unterschiedlichen Mischverhältnissen verwenden. Um dies zu prüfen und dabei Störfaktoren auszuschliessen, werden von den drei Gruppen sowohl für ‚links‘ als auch ‚rechts‘ die jeweils zehn häufigsten Ausdrücke als Stichprobe verwendet. Gemessen wird, welchen prozentualen Anteil jede Gruppe an allen Nennungen hat, aufgeschlüsselt nach der WOZ als ‚linkeste‘ Zeitung, der Weltwoche als ‚rechteste‘ Zeitung, und der NZZ, Tagesanzeiger und Blick als Mittekorpus. 124 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="125"?> Abb. 3: Bezeichnungsformen für ‚links‘ nach Zeitungen Abb. 4: Bezeichnungsformen für ‚rechts‘ nach Zeitungen Interessanterweise ist die Rangfolge der Bezeichnungsformen sowohl für ‚links‘ als auch ‚rechts‘ bei allen Zeitungen dieselbe: Für ‚links‘ wird am häufigsten die Grundform verwendet, gefolgt von den Alternativbezeichnungen. Am seltensten wird auf ‚links‘ als Teil eines Kompositums zurückgegriffen. Bei ‚rechts‘ dominieren die Alternativbezeichnungen, den zweiten Rang belegt die Grundform, und auch hier werden Komposita am seltensten verwendet. 125 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="126"?> Aufschlussreicher ist im Vergleich der Zeitungen jedoch, wie gross die Differenz in der Verwendungsfrequenz der drei Optionen ausfällt. Bei der WOZ sind die Komposita mit ‚rechts‘ fast gleichauf mit den Alternativbezeichnungen, während letztere in der Weltwoche deutlich häufiger verwendet werden als die anderen beiden Formen. Dies harmoniert mit der Beobachtung, dass der Ausdruck ‚rechts‘ eine Semantik des Extremismus transportiert: Die WOZ aus ihrer ‚linken‘ Perspektive verwendet diesen Ausdruck darum möglicher‐ weise häufiger, um so bezeichnete Referenzobjekte kritisch zu verhandeln, während die Weltwoche diesen Ausdruck eher vermeidet. Bei einem Blick in die Belegstellen zeigt sich zudem, dass Nennungen beider Ausdrücke in der NZZ und Weltwoche oft einen metadiskursiven Charakter haben und teilweise Umdeutungen an diesen Ausdrücken vornehmen: Potenziell rechtsradikal ist jeder, der sich nicht selbst als links bezeichnen mag. […] Wer wagt es heute noch, von sich zu behaupten, er sei rechts? Ein Rechter, nun ja, das ist so jemand wie ein Pädophiler oder ein Kinderschänder. (Scheu 2017) Die Linken sind der Meinung, dass sie für die höchsten Werte kämpfen: Gleichheit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit. Sie tendieren dazu, sich ihren Gegnern moralisch überlegen zu fühlen. Da ist es zum selbstgerechten Moralismus nur ein kleiner Schritt, zur arroganten Überheblichkeit. Kein Zufall, dass Linke ihren Gegnern oft unredliche Motive unterstellen. (Köppel 2019) Dieses Gebrauchsmuster der Ausdrücke ‚links‘ und ‚rechts‘, das die verschie‐ denen Zeitungen aufweisen, kann so interpretiert werden, dass die Bedeutung von ‚links‘ im Diskurs zu Gunsten von Akteur: innen geführt wird, die selber als ‚links‘ eingeschätzt werden. An dieser Stelle müsste noch genauer untersucht werden, wie die verschiedenen Zeitungen Umdeutungen an ‚links‘ und ‚rechts‘ vornehmen, wie diese pragmatisch gestaltet werden und welche Seite des Sprachzeichens sie bearbeiten (dazu vgl. Klein 1991). Diese Untersuchung illustriert, dass sich Aspekte der Bedeutung von ‚links‘ und ‚rechts‘ allein schon in ihrer Verwendungshäufigkeit ausdrücken: Der Ausdruck ‚rechts‘ tritt häufiger im Umfeld von Wörtern auf, die eine Semantik des Extremismus transportieren, als dies für ‚links‘ der Fall ist. Darum wird ‚rechts‘ in seiner Grundform seltener verwendet als ‚links‘. Um bestimmte Referenzobjekte zu bezeichnen, wird auf Alternativbezeichnungen wie ‚bür‐ gerlich‘ zurückgegriffen, oder ‚rechts‘ wird in einer Kompositabildung wie ‚rechtskonservativ‘ genauer definiert. Der Ausdruck ‚links‘ scheint demgegen‐ über nicht in vergleichbarem Masse von einer negativen Semantik belastet zu sein und wird darum auch meistens in seiner Grundform verwendet. In der Häufigkeit, mit der die Zeitungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung 126 Livia Sutter, Noah Bubenhofer <?page no="127"?> diese Sprachzeichen verwenden, werden die Deutungskämpfe um ‚links‘ und ‚rechts‘ sichtbar: Während die WOZ deutlich häufiger auf den Ausdruck ‚rechts‘ zurückgreift, verwendet ihn die Weltwoche seltener und dabei oftmals in metadiskursiver Verwendung. Zusammen ergeben diese Verwendungsweisen ein typisches Muster, wie mit den Ausdrücken ‚links‘ und ‚rechts‘ sprachlich gehandelt wird. Indem Handeln als Teil von Bedeutung verstanden wird, ist dieses Muster korpuslinguistisch bereits als ‚Bedeutung‘ zu lesen, die sich an der Oberfläche zeigt. 5 Brückenschlag zwischen Geistes- und Sozialwissenschaft Politik findet zu einem grossen Teil im Sprachgebrauch verschiedenster poli‐ tischer Akteur: innen statt, von Politiker: innen über die Medien bis zu Akti‐ vist: innen. Die Linguistik ist bereits darum geeignet, mit ihren Theorien und Methoden Fragestellungen zu beantworten, die für die Politikwissenschaft von Belang sind. Wie hier gezeigt wurde, bietet die Korpuspragmatik eine Antwort auf die Frage, was denn nun die Bedeutung von ‚links‘ und ‚rechts‘ ist. Die Antwort kommt jedoch nicht in Form einer konzisen Definition oder eines weiteren Ausdruckspaars. Die Korpuspragmatik nimmt vielmehr eine differenziertere Perspektive auf ‚Bedeutung‘ ein. Sie nähert sich dieser Frage mit empirischen Methoden und versteht ‚Bedeutung‘ als Sprachgebrauch: als Summe sprachlicher Handlungen, die in musterhafter Weise vollzogen werden und dadurch Bedeutung herstellen. So verstanden, ist Bedeutung nicht etwas Festes, sondern eine Dynamik, die sich im Zusammenspiel verschiedener Sprachhandlungen ergibt. In der Bedeutung verstanden als Sprachgebrauch haben darum auch alle Bedeutungsaspekte ihre Berechtigung, die die Politik‐ wissenschaft als Definitionen gegeneinander abzuwägen oder in verschiedene Achsen aufzufächern versucht. Während also die Politikwissenschaft unter allen Bedeutungsaspekten — progressiv versus konservativ, Gleichheit versus Ungleichheit, freier Markt vs. kontrollierter Markt - das eine Gegensatzpaar zu finden versucht, das den Kern von ‚links‘ und ‚rechts‘ definiert, anerkennt die Korpuspragmatik das Zusammenspiel und die Konkurrenz all dieser Bedeu‐ tungsaspekte bereits als Bedeutung von ‚links‘ und ‚rechts‘. Fokus der Analyse ist dabei die sprachliche Oberfläche: Mit welchen Ausdrücken wird ein Gegen‐ stand bezeichnet? Welche Ausdrücke stehen dazu in Konkurrenz? Wie häufig werden diese konkurrierenden Ausdrücke verwendet? Von wem? Und ebenso wichtig: Von wem nicht? Diese Untersuchung illustriert dabei, dass sich der Prozess der Bedeutungskonstruktion in einem musterhaften Sprachgebrauch an der Sprachoberfläche in statistisch errechneten Daten wie Frequenzlisten und 127 Zwischen Empirie und Hermeneutik <?page no="128"?> Kollokationsprofilen manifestiert. Mit ihrem Verständnis von Bedeutung bietet die kultur- und diskurslinguistisch eingebettete Korpuspragmatik eine genuin linguistische Herangehensweise an eine politikwissenschaftliche Fragestellung - und dies darüber hinaus mit empirischen Methoden, die oftmals eher den Sozialwissenschaften und weniger den Philologien zugeschrieben werden. 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Begegnung mit dem ‚Fremden‘ Übersetzung als Problem der Hermeneutik und der interkulturellen Kommunikation Manabu Watanabe (Meiji Universität, Tokyo) Abstract: In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie Überset‐ zungsprobleme über den üblichen Rahmen der Übersetzungswissenschaft bzw. -theorie hinaus gehandhabt werden können. Dies soll nicht nur aus der Perspektive der Sprachwissenschaft geschehen, die - mit Schlüs‐ selbegriffen wie Kulturem und Äquivalenz - nah an die Kultursemiotik grenzt, sondern auch aus Sicht der Hermeneutik. Dabei wird u. a. auf die Ausführungen Wilhelm von Humboldts und Hans-Georg Gadamers als Wegweiser dieses Erkenntniszugangs eingegangen. Im Anschluss daran wird der Themenbereich noch etwas genauer im Kontext interkultureller Kommunikation erörtert. Dabei wird insbesondere die positive Rolle von Fremdheitserfahrung in den Blick genommen. Ein kurzer Ausblick auf die Funktion von Übersetzung in Migration(sliteratur) beschließt den Beitrag. 1 Übersetzung von und zwischen Kulturen: Probleme und Begriffe Im Zentrum dieses Beitrags steht ein mehrfacher Brückenschlag: Erstens, the‐ matisch, der Brückenschlag zwischen Sprachen und Kulturen, den man ‚Über‐ setzung‘ nennt. Zweitens, perspektivisch, ein für die Bearbeitung dieses Themas notwendiger Brückenschlag zwischen den Disziplinen. 1 Das Hauptinteresse richtet sich dabei auf die Rolle von Übersetzung in der interkulturellen Kom‐ <?page no="134"?> 2 Vgl. bspw. Vorderobermeier/ Wolf (2008). 3 Dies entspricht einer der beiden „Methoden des Übersetzens“, die Schleiermacher (1963 [1813]: 47) diskutiert: „Entweder der Uebersezer [sic! ] läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“ Vgl. zur zweiten Methode im Kontext kultureller Übersetzung auch Vermeer (1986: 37). munikation. Erkenntnistheoretisch gerahmt ist der Beitrag von Hans-Georg Gadamers hermeneutischen Überlegungen sowie von der Kultursemiotik. Der Übersetzungsbegriff, wie er im Alltag und im akademischen Diskurs ge‐ läufig ist, ist vieldeutig. Das zeigt sich etwa in den zahlreichen metaphorischen Verwendungen. Eine metaphorische Verwendung, die in der (kultursemiotisch verankerten) Übersetzungstheorie wichtig ist, ist kulturelle Übersetzung.  2 Was kann man darunter verstehen? In wörtlicher Lesart hieße dies soviel wie ‚Übersetzung von Kultur‘ bzw. ‚Übersetzung zwischen Kulturen‘. In kulturse‐ miotischer Terminologie würde man, wie später (Abschnitt 1.1) ausgeführt wird, sagen: ‚Übersetzung von Kulturemen‘. Doch was heißt das genau? Betrachten wir zunächst ein konkretes Beispiel für ‚kulturelle Übersetzung‘: das christliche Abendmahl in Japan. Dieses für die Religion zentrale Ritual wurde mit der römisch-katholischen Missionierung ab dem 16. Jahrhundert in die japanische Kultur importiert. Dabei hat man nun aber gerade keine Anpas‐ sung an die Zielkultur vorgenommen: Die kultursemiotisch charakterisierten Grundbestandteile (Kultureme) der europäisch geprägten Christenheit, ‚Brot‘ und ‚Wein‘ als Symbol für ‚Leib und Blut Christi‘, die im damaligen kulturellen Kontext Japans eher durch ‚Reis‘ und ‚Reiswein‘ verkörpert gewesen wären, wurden unverändert übernommen. Bei der kulturellen Übersetzung legte man in diesem Fall also offensichtlich Wert darauf, die Elemente der Ausgangskultur unverändert in die Zielkultur zu übertragen. 3 So wurde die christliche Tradition in ein dieser Tradition ‚fremdes‘ Land ( Japan) in einer ‚fremden‘ Gestalt überlie‐ fert, die bis heute Teil der dortigen Tradition ist. ‚Brot‘ und ‚Wein‘ sind dabei aber gleichzeitig auch, trotz derselben referentiellen Bedeutung, in der japanischen Liturgie rekontextualisiert worden, denn über die christliche Sinngebung hinaus stehen sie in anderen kulturellen Verweiszusammenhängen. So sind sie in der westasiatischen Kultur weniger als in der ‚abendländischen Tradition‘ auch fester Bestandteil alltäglicher Esskultur. Das heißt: Brot und Wein haben in Europa und in Asien einen unterschiedlichen Stellenwert in Tradition und Alltagskultur (vgl. Hörning 2001). Wenn ein: e japanische: r Christ: in ‚Brot‘ und ‚Wein‘ in der Eucharistie zu sich nimmt, rückt mithin der alltagssprachliche Kontext in den Hinter- und der geistliche Sinn in den Vordergrund. 134 Manabu Watanabe <?page no="135"?> 4 Vgl. Kallmeyer (2002). In Habermas (2001: 66-67) ist die Formulierung zu lesen: „Zur Angehörigkeit oder Mitgliedschaft gehört ein mit anderen Genossen vorgängig geteiltes Verständnis dessen, was die eigene Lebensweise zur gemeinsamen macht.“ Dem Sinn nach kann man dies auch unter dem Stichwort common ground erfassen. 5 Zeit- und kulturbedingt wirkten höchstwahrscheinlich nur männliche Dolmetscher mit, weswegen das Maskulinum in diesem Fall nicht generisch zu verstehen ist. Ähnlich wie in dem geschilderten Beispiel verhält es sich aus kultursemioti‐ scher Perspektive auch mit anderen Formen der Übersetzung: Sie setzen eine Bezugsetzung des zu Übersetzenden zu zwei kulturellen Kontexten voraus, der Ausgangs- und der Zielkultur. Die Frage, wie ‚genau‘ oder ‚direkt‘ oder ‚sinngemäß‘ eine Übersetzung ist, kann dann umformuliert werden zur Frage, ob die Übertragung näher an die Zielkultur herangerückt oder näher an der Ausgangskultur belassen wird. Mit Bezug auf den Begriff der Perspektivität (Köller 2004) gewendet ist die Frage, wie weit in der Übersetzung die (für die Zielkultur ‚fremde‘) Perspektive der Ausgangskultur ‚gewahrt‘ bleibt oder durch eine der Zielkultur eigene und vertrautere Perspektive relativiert bzw. abgeändert wird. 1.1 Kultureme und kulturelle Rahmung Wie bereits erwähnt wird in Teilen der kultursemiotischen Übersetzungsthe‐ orie Übersetzung mit der Übertragung von Kulturemen in Zusammenhang gebracht. Földes (2005: 271) definiert diese als „abstrakte[…] Einheiten von kulturellen Regulierungen“, denen auf der Ebene des Verhaltens „Behavioreme“ zugeordnet werden, „Verhaltensweisen, die verbaler, parasprachlicher und/ oder nonverbaler und/ oder extraverbaler Art sein können“ und in denen sich Kultureme manifestieren. Etwas stärker interpretativ-soziolinguistisch oder kognitionslinguistisch ausgedrückt könnte man ‚Kultureme‘ auch als common ground (Gumperz 2002) 4 oder kulturelle Frames einer Gruppe verstehen, als gemeinsame Bezugsrahmen, die Verständigung, aber auch Gruppenbezogen‐ heit bzw. -zugehörigkeit ermöglichen, und dies mit durchaus verschiedenen Reichweiten: für kleinere soziale Gruppen (beispielsweise durch die vergemein‐ schaftende Funktion einer Sprachvarietät bzw. eines Registers), für größere Diskurs-/ Interpretationsgemeinschaften (durch die vergemeinschaftende Funk‐ tion der dort üblichen Praktiken) oder gar für komplexe sprachlich verbundene Gemeinschaften (‚Sprachkulturen‘). Kulturell und historisch gerahmt ist übrigens nicht nur der Prozess der Übersetzung, sondern auch die Tätigkeit des Übersetzens selbst. Exemplarisch soll hier darauf hingewiesen werden, wie die niederländisch-japanischen Dol‐ metscher 5 (jap. oranda-tsuuji ‚Dolmetscher fürs Niederländische‘) während 135 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="136"?> 6 In unserem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass der für die Außenpolitik Japans in der Edo-Zeit übliche Ausdruck sakoku (‚Landesabschließung‘) selbst ein Beispiel für eine fremdkulturelle Rahmung ist: Der Begriff soll von Engelbert Kämpfer (1651-1716) geprägt worden und 1801 ins Japanische übersetzt worden sein (vgl. Kreiner 2003: 7). der Zeit der sog. ‚Abschließung‘ 6 Japans (Edo-Zeit, 1630-1853), in der Japan ausschließlich mit Holland Beziehungen unterhielt, gesellschaftlich bewertet wurden. Die oranda-tsuuji verfügten in der Edo-Zeit über einen hohen sozialen Status (vgl. Sato 2004; Coulmas/ Stalpers 2011: 21-22). Der Zugang zum Beruf wurde von der Regierung streng kontrolliert, die Dolmetscher waren hochge‐ schätzte Beamte, denen zahlreiche Aufgaben anvertraut und deren Beruf vererbt wurde. Mit der Öffnung des Landes änderte sich dies aber, die Dolmetscher verloren Privilegien und soziales Ansehen (vgl. Sato 2004: 132). Dafür mag es verschiedene Gründe geben. Einer hat vielleicht auch mit der Profession selbst zu tun: Dolmetscher: innen brauchen bekanntlich ein spezifi‐ sches Training und umfangreiches Wissen, das in der Ausbildung vermittelt werden muss (vgl. Wilss 1996: 29). Mit der Öffnung des Landes und damit auch der Verbreiterung der kulturellen Beziehungen verloren die niederländisch-ja‐ panischen Dolmetscher ihren sozialen Wert, die Gründe für die vorherige staatliche Unterstützung und Professionalisierung dieses Dolmetscher-Zweigs und vielleicht auch des Dolmetscher-Berufs insgesamt entfielen. 1.2 Äquivalenz Kommen wir nun jedoch zur Hauptlinie des aktuellen Themas zurück, der Frage nach der kulturellen Dimension des Übersetzens. Wir haben im vorherigen Ab‐ schnitt versucht, den für die kultursemiotische Übersetzungstheorie zentralen Begriff Kulturem genauer zu fassen. Im Folgenden soll ein weiterer für die Übersetzungstheorie wichtiger Begriff genauer betrachtet werden: Äquivalenz. Stolze (2011: 101) beschreibt diesen als „Gleichung zwischen einlaufender und nach Umkodierung wieder auslaufender Information im interlingualen Kom‐ munikationsvorgang“. Weiterhin verweist sie darauf, dass in der französischen Forschungs- und terminologischen Tradition durch den Terminus Äquivalenz „die Übersetzungsprozedur des Ersetzens einer ausgangssprachlichen Situation durch eine kommunikativ vergleichbare zielsprachliche Situation“ (Stolze 2011: 102, Herv. M.W.) bezeichnet werde. Was in dem Zusammenhang ‚vergleichbar‘ ist, könne dabei aber unterschiedlich ausgedeutet werden. So könne man etwa zwischen „cultural equivalent“, „functional equivalent“ oder „descriptive equivalent“ (Stolze 2011: 102) unterscheiden - auch hier kann also entweder die Ausgangs- oder die Zielkultur stärker gewichtet werden. Egal, wie man Äquivalenz im Einzelnen bestimmt, besteht dabei aber Koller zufolge jedenfalls 136 Manabu Watanabe <?page no="137"?> Einigkeit darüber, dass Äquivalenz nicht Identität oder Invarianz (auf allen Ebenen) bedeuten kann, sondern dass sich Äquivalenz immer in relativer Weise auf bestimmte Äquivalenzrahmen (denotative, konnotative, ästhetische, pragmatische usw. Äquiva‐ lenz) bezieht. (Koller 2008: 187-188) Der Aspekt der „funktionale[n] Anpassung der in ihrem Inhalt unverfälschten Botschaft an zielkulturelle Vorstellungen“ (Stolze 2011: 102) ist dabei aus kultursemiotischer Sicht von besonderem Belang. Denn jeder noch so bemühte Übersetzungsversuch wäre wohl müßig, wenn eine ausgangssprachliche Infor‐ mation/ Situation im Kontext der Zielkultur nicht angemessen gedeutet werden könnte. Und dabei ist eben auch auf die Werte und Normen der Zielkultur zu achten, in deren Kontext die Übersetzungen ‚Sinn‘ machen müssen (vgl. Baumer 2002: 60). 1.3 Übersetzung und (Vor-)Urteil Der Bezug auf Kulturen und Kultureme birgt aber auch eine Gefahr, die Übersetzungen entsprechend mitbetreffen können: die Gefahr pauschaler kul‐ turbezogener Werturteile und Stereotype. Zu den „sozialen Praktiken, in die wir die Dinge einbeziehen und bei denen wir auf kulturelle Vorannahmen und Wissensbestände zurückgreifen, die unser Handeln implizit anleiten“ (Hörning 2001: Klappentext) gehört nicht nur „das [gemeinsame] Sachbzw. Weltwissen als soziokulturelles Hintergrundwissen“ (Földes 2005: 273), es gehören zum common ground auch Stereotype sowohl betreffend uns selbst (Autostereotype) als auch betreffend andere (Heterostereo‐ type). Beide äußern sich vielfach in homogenisierenden Annahmen bezüglich der ‚eigenen‘ oder einer ‚fremden Kultur‘. Im Ergebnis stehen pauschalisierte Annahmen darüber, wie ‚wir‘ oder ‚andere‘ (Mitglieder einer bestimmten ‚Kultur‘) sich in bestimmten Situationen (angeblich) verhalten - wie es Baumer (2002: 60) bewusst überspitzt darstellt: Unter Stress werden US-Amerikaner lauter reden, Südamerikaner gestikulieren, Japaner auf Distanz gehen, Deutsche auf ihr Recht pochen und Franzosen mit noch kühlerer Logik argumentieren. Ohne Stress sind US-Amerikaner freundlich und groß‐ zügig, Südamerikaner liebenswürdig, Japaner höflich, Deutsche entgegenkommend und Franzosen charmant. Der Spagat zwischen kultureller Kontextualisierung und kulturessentialisti‐ scher Stereotypisierung ist aus kultursemiotischer Sicht ein zentrales Problem, mit dem sich Übersetzer: innen auseinandersetzen müssen. 137 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="138"?> 7 Mit diesen Problemen setzt sich klassischerweise die Lexik, Semantik (lexikalische Semantik, Widerspiegelungstheorie der Bedeutung etc.) und (Kultur)Semiotik oder aber auch die anthropologischen/ ökologischen Linguistik auseinander. Entsprechende Übersetzungstheorien sind überwiegend innerhalb der Sprachwissenschaft/ Sprachthe‐ orie verhaftet. 8 Diese Probleme werden klassischerweise eher in der Übersetzungswissenschaft, Über‐ setzungstheorie, angewandten Übersetzungswissenschaft etc. verhandelt. 9 Vgl. die Ausführungen in Bekku (1982: 49). Bekku (1927-) ist einer der produktivsten Übersetzer im Bereich der englischen Literatur, der lange an der Sophia-Universität Tokyo wirkte. 1.4 Kultureller Relativismus oder Universalismus? Übersetzungsschwierigkeiten, die z.T. auf divergierende Kultureme (schwer zu findende kulturelle Äquivalente) zurückführbar sind, 7 und solche, die eher auf Übersetzungspraktiken (Fertigkeiten, Techniken usw.) reduzierbar sind, 8 sind voneinander abzugrenzen. Zum ersten Problemfeld gehört unter anderem, dass Wörter (bzw. lexikalische Einheiten) in bestimmten Sprachen mit spezifischen Assoziationen verbunden und semantisch unterschiedlich extensionalisierbar sind. 9 Wie gravierend dies für die Übersetzungspraxis ist, wird unterschiedlich beurteilt. Aus sprachrelativistischer Perspektive ergibt sich hieraus ein zentrales Übersetzungsproblem. Mit Humboldt ausgedrückt wird Übersetzen aus dieser Perspektive dadurch erschwert, dass „jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält“ (Hum‐ boldt 1968 [1830-1835]: 60). Sprachen sind nicht nur Sinnbilder von, sondern auch Ursache für jeweils in gewisser Hinsicht eingeschränkte Perspektiven (sensu Köller 2004) von Angehörigen einer bestimmten (Sprach-)Kultur, und diese sind aus Sicht der Vertreter: innen sprachrelativistischer Positionen schwer vermittelbar (vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 2). Diese sprach- und kulturrelativistische Position wird nun aber bekanntlich nicht durchweg geteilt. Sie wird vielfach konfrontiert mit der Position, es gebe sprachliche Universalien, „eine gemeinsame Grundlage […], dank welcher Kommunikation bis zu einem gewissen Grade jederzeit zwischen allen Men‐ schen möglich ist“ (Mounin 1967: 100). Auch Vertreter: innen dieser Position konzedieren zwar, dass „bei der Übersetzung gewisser Aussagen von Sprache zu Sprache Informationsverluste unvermeidbar sind“ (Mounin 1967: 100), sie halten aber Übersetzung zwischen Kulturen grundsätzlich für möglich. Wieder andere versuchen zwischen diesen beiden Positionen zu vermitteln und postulieren, dass das Übersetzen nichts anderes sei als ein ewiges Hin und Her zwischen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit, an dessen Ausgang ein 138 Manabu Watanabe <?page no="139"?> mehr oder weniger hinreichender Kompromiss stehen mag. So schreibt etwa Lloyd (2007: 65): Many nuances are indeed likely to be lost in any translation into another natural language, however sensitive that may be. On the other hand, it is not as if no comprehension is possible, as if all understanding is barred by the translation process. 2 Übersetzen und/ als Verstehen: Perspektiven der Hermeneutik im Anschluss an Humboldt und Gadamer In diesem Abschnitt werden die Positionen Wilhelm von Humboldts und Hans-Georg Gadamers zur Übersetzung aufgegriffen bzw. vertieft. Trotz ihrer Differenzen scheinen die beiden Denker insofern in die gleiche Richtung zu blicken, als sie stark an die Macht der Sprache glauben und - jeder auf seine ei‐ gene Weise - ihren Überlegungen eine gewisse Form von Sprachdeterminismus bzw. sprachlichem Relativismus zugrunde legen. Beide stehen insoweit in einer hermeneutischen Tradition, als sie Erkenntnis auf Sprache zurückführen und einen überaus großen Schwerpunkt auf die Frage setzen, wie (meist, aber nicht ausschließlich schriftliche) Texte interpretiert werden (können). Beide erachten also gewissermaßen das Sprachapriori (Gipper 1987) als wesenhaft und ausschlaggebend - eine Position, die durchaus kritisch unter die Lupe genommen werden könnte, was an dieser Stelle aber unterbleiben muss. In der Einleitung zum Agamemnon kann man einige Ausführungen Hum‐ boldts finden, aus denen seine Auffassung zur Sprache und zur Übersetzung in einer für uns relevanten Form hervorgeht. So schreibt Humboldt: Wie könnte […] je ein Wort, dessen Bedeutung nicht unmittelbar durch die Sinne gegeben ist, vollkommen einem Worte einer anderen Sprache gleich seyn? (Humboldt 1968-1969 [1816]: 130) Keine Sprache gleiche der anderen. Übersetzung sei daher immer nur bedingt möglich. Das heißt allerdings nicht, dass Sprachen im Ausdruck eingeschränkt seien. Wie Humboldt an gleicher Stelle festhält, sei [e]s […] nicht zu kühn zu behaupten, dass in jeder, auch in den Mundarten sehr roher Völker […] sich Alles, das Höchste und Tiefste, Stärkste und Zarteste ausdrücken lässt. (Humboldt 1968-1969 [1816]: 130) Jede Sprache verfüge also über hinreichend ‚Sprachkraft‘, um jegliche Dinge auszudrücken. Allerdings „schlummern“, wie Humboldt gleich ergänzt, viele 139 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="140"?> 10 Überdies ist Humboldt - wie viele seiner Zeitgenossen - nicht frei von sprachpatriotisch motiviertem Rangierungsbestreben, was bspw. aus folgender Passage hervorgeht: „Trotz dieses Vorteils scheint mir die chinesische Sprache ohne jeden Zweifel als Organ des Denkens jenen Sprachen weit unterlegen, die in gewissem Grade ein System vervollkommnet haben, das dem chinesischen entgegengesetzt ist [gemeint sind die europäischen Sprachen; M.W.]“ (Humboldt [1827], 68). Ich danke Jürgen Spitzmüller für den Hinweis. dieser Kräfte in einzelnen Sprachen und Kulturen ungenutzt. 10 Daher ist gerade der Kontakt zwischen den Sprachen - unter anderem durch die Übersetzung - ein wesentliches Mittel, um Sprachen, sprachliche Ausdrucksfähigkeit und kulturelle Perspektiven zu erweitern (in diesem Punkt stimmt Humboldt übri‐ gens mit seinem Zeitgenossen Schleiermacher 1963 [1813] überein): Das Uebersetzen und gerade der Dichter ist […] eine der nothwendigsten Arbeiten in einer Literatur, theils um den nicht Sprachkundigen ihnen sonst ganz unbekannt bleibende Formen der Kunst und der Menschheit, wodurch jede Nation immer bedeutend gewinnt, zuzuführen, theils aber und vorzüglich, zur Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache. (Humboldt 1968- 1969 [1816]: 130) Ein wesentliches Mittel zur Erlangung dieser Erweiterung nennt Humboldt „einfache Treue“: Soll aber das Uebersetzen der Sprache und dem Geist der Nation dasjenige aneignen, was sie nicht, oder was sie doch anders besitzt, so ist die erste Forderung einfache Treue. (Humboldt 1968-1969 [1816]: 132) Damit ist nun aber vor allem eine Treue zur Ausgangskultur gemeint, deren Perspektiven sich die Zielkultur über die Übersetzung zu eigen machen soll: Diese Treue muss auf den wahren Charakter des Originals, nicht, mit Verfassung jenes, auf seine Zufälligkeiten gerichtet seyn, so wie überhaupt jede gute Uebersetzung von einfacher und anspruchloser [sic! ] Liebe zum Original, und daraus entspringendem Studium ausgehen, und in sie zurückkehren muss. Mit dieser Ansicht ist freilich nothwendig verbunden, dass die Uebersetzung eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt […]. (Humboldt 1968-1969 [1816]: 132) Übersetzer: innen sind Humboldt zufolge also ‚Fremdheitsboten‘; sie werden mit Fremdheitserfahrung konfrontiert und leiten diese als ‚Fremdes‘ weiter: Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht 140 Manabu Watanabe <?page no="141"?> gar das Fremde verdunkelt, da verräth der Uebersetzer, dass er seinem Original nicht gewachsen ist. (Humboldt 1968-1969 [1816]: 132). Was Humboldt hier als „das Fremde“ bezeichnet, sind die durch fremde Sprachen und Kulturen übermittelten neuen (der eigenen Sprache und Kultur noch ‚fremden‘) Perspektiven, die aber durch gute Übersetzung in die Zielkultur integriert werden. „Fremdheit“ drückt demgegenüber Distanz aus: Etwas, was in die eigene Kultur (noch) nicht integrierbar, nicht ‚fassbar‘ ist. Diese „Fremdheit“ muss der Übersetzer überwinden, um das Fremde im Kontext der Zielkultur begreifbar zu machen und der Zielkultur so einzuverleiben. Übersetzung muss also Brücken schlagen, nicht bloß Klüfte aufzeigen. Dem „Original […] gewachsen“ ist der Übersetzer (und der Leser) mit anderen Worten dann, wenn er versteht. Damit kommt die Hermeneutik ins Spiel, der wir uns jetzt genauer zuwenden. Hierfür ist es angebracht, zunächst über den Zusammenhang von Verstehen und Interpretieren nachzudenken. Zu diesem Zweck soll Gadamers Zugang genauer beleuchtet werden. Wie Gadamer schreibt, […] war es bereits die tiefe Einsicht der deutschen Romantik, daß das Verstehen und Interpretieren nicht nur […] bei schriftlich fixierten Lebensäußerungen ins Spiel kommt, sondern das allgemeine Verhältnis der Menschen zueinander und zur Welt betrifft. (Gadamer 1986b: 330) Verstehen ist demnach nicht gleich Textverstehen, sondern weit mehr, nämlich flächendeckendes und „sprachliche Erscheinungsformen übergreifendes Ver‐ stehen“ (Gadamer 1986b: 330). Was hat dies nun mit Übersetzen zu tun? Hierzu möchte ich zunächst einen Gedanken wieder aufgreifen, den ich vor langer Zeit formuliert habe: „Wie das Denken als das innere Sprechen anzusehen ist, so kann man das Verstehen als das innere Übersetzen bezeichnen“ (Watanabe 1986: 46). Jeder Mensch, könnte man im Anschluss daran formulieren, ist im Verstehensprozess sein eigener Übersetzer. Wie Gadamer unter Rückgriff auf das Konzept des hermeneutischen Zirkels argumentiert, geht Verstehen dabei - vielleicht ähnlich, wie sich das Humboldt für die Umwandlung von ‚Fremdheit‘ zum ‚Fremden‘ vorgestellt hat, schritt‐ weise und ‚kreisend‘ vonstatten: Der Begriff des hermeneutischen Zirkels drückt nun dies aus, daß im Bereiche des Verstehens gar keine Ableitung des einen von dem anderen prätendiert wird, so daß der logische Beweisfehler der Zirkelhaftigkeit hier kein Fehler des Verfahrens 141 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="142"?> ist, sondern die angemessene Beschreibung der Struktur des Verstehens darstellt. (Gadamer 1986b: 331) Konstitutiv für hermeneutisches Verstehen ist dabei auch Widerstand (und seine Überwindung). Das geht aus der folgenden Stelle hervor: So finden wir überall - und nur dort, wo mit einer primären Sinnvermutung an eine Gegebenheit herangetreten wird, die sich nicht widerstandslos in eine Sinnerwartung einfügt, den hermeneutischen Bezug auf den Textbegriff am Werk. […] Es bestätigt sich […], daß wir immer schon auf das Verstehen des im Text Gesagten vorausblicken. Erst von da aus gewahren und qualifizieren wir überhaupt einen Text als lesbar. (Gadamer 1986b: 340-341, Herv. im Original unterstrichen) Zum Verstehen wichtig ist daher, wie Gadamer weiter ausführt, auch „guter Wille“, die Bereitschaft, Widerstände zu überwinden (wir können auch sagen: Brücken zu bauen): Im schriftlichen Gespräch wird also im Grunde die gleiche Grundbedingung in Anspruch genommen, die auch für den mündlichen Austausch gilt. Beide haben den guten Willen, einander zu verstehen. So liegt überall, wo Verständigung gesucht wird, guter Wille vor. (Gadamer 1986b: 343, Herv. M.W.) Gadamer ist dabei grundsätzlich optimistisch, was die Verständigung und das Verstehen betrifft. Die Frage, was geschieht, wenn einer (oder sogar mehrere) der Beteiligten den Willen zur Verständigung nicht aufbringt, wird gar nicht erst gestellt. Allerdings ist, wie aus dem folgenden Zitat deutlich wird, Verstehen in der Regel partiell: […] Kommt man je so weit, daß man versteht, was wirklich ist? Beides, totales Verstehen und adäquates Sagen, sind Grenzfälle unserer Weltorientierung, unseres inneren unendlichen Dialogs mit uns selber. (Gadamer 1986a: 201) Verstehen ist Gadamer zufolge also keine Selbstverständlichkeit. Es erfordert Willen und ein aufeinander Zugehen. Dieses nun aber eröffnet - hier ist Gadamer nah an Humboldt - neue Perspektiven: Die Tatsache, daß wir in einer sprachlichen Welt uns bewegen und durch eine sprach‐ lich vorgeformte Erfahrung in unsere Welt hineinwachsen, nimmt uns durchaus nicht die Möglichkeit der Kritik. […] Es öffnet sich uns die Möglichkeit, über unsere Konventionen und alle unseren vorschematisierten Erfahrungen hinauszugelangen, indem wir uns im Gespräch mit anderen, Andersdenkenden neuer kritischer Bewäh‐ rung und neuen Erfahrungen stellen. (Gadamer 1986a: 203-204) 142 Manabu Watanabe <?page no="143"?> 11 Vgl. „die Tatsache, daß man immer im Kopf […] aus einer Fremdsprache in die eigene übersetzend denkt“ (Watanabe 1986: 45). Dieser Prozess wird beim Zuhören einer fremden Sprache in gegebenen Kommunikationssituationen bewusst gemacht. Was nun das Übersetzen angeht, so zieht Gadamer - ähnlich wie wir oben - eine direkte Verbindung zum Verstehen: Lesen ist schon Übersetzen und Übersetzen ist dann noch einmal Übersetzen. […] was […] heißt, daß wir übersetzen, d. h. daß wir etwas Totes hinübersetzen in den neuen Vollzug des lesenden Verstehens oder gar in den neuen Vollzug des Verstehens in einer anderen, unserer eigenen Sprache, von etwas, was nur in einer fremden Sprache aufgezeichnet wurde und als Text gegeben ist. (Gadamer 1986a: 205, Herv. M.W.) Beim Übersetzen handelt es sich demzufolge also eigentlich um einen (mindes‐ tens) doppelten Vollzug. Das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis. 3 Übersetzung als Problem der interkulturellen Kommunikation 3.1 Interkulturelle Kommunikation und (Un-)Übersetzbarkeit Im Folgenden soll das Problem der Übersetzung aus der Perspektive der in‐ terkulturellen Kommunikation im Anschluss an die bis hierhin dargelegten Überlegungen noch einmal resümiert werden. Übersetzung im Kontext der interkulturellen Kommunikation ist im Sinne des bis hierhin Beschriebenen eine Verständnis suchende Praxis zwischen (mindestens) zwei Kulturen. Dabei geht es, wie ausgeführt, um weit mehr als um ‚äquivalente‘ Lexik und Semantik. Es geht um kulturelle Kontextualisierung des ‚Fremden‘ und auch um adäquate kommunikative Performanz. Wichtig ist hierbei unter anderem die Frage, welche kommunikativen Regeln und Kom‐ munikationsstile (wie) übertragen werden müssen, um adäquates Verstehen zu ermöglichen. Angesichts der immer öfter vorzufindenden „multilingualen Sprachproduktions- und Sprachrezeptionsbedingungen“ (Földes 2005: 272) 11 und des unterschiedlichen sprachlichen und kommunikativen Hintergrunds in den verschiedenen kulturellen Kontexten ist dies keine leichte Aufgabe. Wie Iino et al. (2003) schreiben: Wenn wir unsere alltäglichen Sprachpraktiken betrachten, ist ersichtlich, dass selbst „grammatikalisch korrekte Sätze“ je nach Kontext, also je nach den Komponenten „wann“, „wo“, „wer“, „wem“, „was“, „wie“ und „in welcher Situation“ ihren Sinn ändern. Dies führt manchmal zu Missverständnissen oder Kommunikationsschwie‐ rigkeiten. (Iino et al. 2003: 112) 143 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="144"?> Diesen Schwierigkeiten hat sich Übersetzung zu stellen. Dabei kann und soll Übersetzung durchaus auch kreativ sein. Ungeachtet der Gefahr, dass durch die Erweiterung/ Übertragung eines Begriffs dessen Präzision und dessen Be‐ deutungskern verwischt werden kann (bis hin zu den semantisch ausgebleichten Wörtern, die Pörksen 1988 Plastikwörter nennt), ist Metaphorik auch in Über‐ setzung ein mächtiges Mittel, das Verstehen sichern kann (vgl. Watanabe 2012: 108). Nicht zufällig bedeutet Metapher wörtlich ja auch ‚hinüber tragen‘, also ‚über-setzen‘. Letztendlich sollte also bei Übersetzung im Rahmen der interkulturellen Kommunikation die Mobilität/ Plastizität der Sprache im kulturellen Kontext berücksichtigt werden, die im Sinne eines Gebens und Nehmens kommunikativ und kulturell bereichernd sind. Wie oben ausgeführt, ist bei Übersetzung dabei immer die Relation (min‐ destens) zweier Kontexte ausschlaggebend. Und nicht nur das, wichtig sind auch (zum Teil stereotype) Vorstellungen, Wahrnehmungen und Bewertungen dieser Kontexte. Bei Übersetzung in interkultureller Kommunikation gilt es daher, kontextuelle Nuancen und Kontextwahrnehmungen zu erkunden und zu beschreiben und ihre Differenzen in für beide Seiten der anderssprachigen Perspektive (wohlgemerkt: für zwei Perspektiven! ) und in gut verständlicher Form zu versprachlichen. Im Anschluss an diese Überlegungen kann das im Zusammenhang mit dem sprachlichen Relativismus bereits angesprochene Problem der Unüber‐ setzbarkeit wieder aufgegriffen werden. Aus einer universalistischen Position charakterisiert Mounin dieses Problem wie folgt: […] die Übersetzung ist durch Argumente zweierlei Art in Frage gestellt worden, die getrennt geprüft werden müssen: 1. Die Übersetzung ist unmöglich, weil Kom‐ munikation überhaupt unmöglich ist, selbst die Kommunikation in einer Sprache und innerhalb einer Kultur […]. 2. Oder aber die Übersetzung ist unmöglich, weil die Kommunikation zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen (im Unterschied zur Kommunikation in einer Sprache und innerhalb einer Kultur) unmöglich ist […]. (Mounin 1967: 93) In den beiden Argumenten führt Mounin Übersetzbarkeit auf die Kommunizier‐ barkeit zurück. Entsprechend müsse man der Frage nachgehen, ob und unter welchen Bedingungen Kommunikation gelingt, um die Frage der Übersetzbar‐ keit zu klären. Mounin selbst schreibt dazu: „Die Solipsisten verwechseln die Kommunikation unter den Menschen mit der Gemeinschaft der Auserwählten, wie sie sich etwa Dante im Paradiso oder Petrarka in einem berühmten Sonett vorstellen“ (Mounin 1967: 95). Unter Berufung auf Sapir führt er weiter aus: 144 Manabu Watanabe <?page no="145"?> Zum Zweck der Übermittlung muß eine solche Erfahrung eingeordnet werden in einer Erfahrungskategorie, die von der in Frage kommenden Sprachgemeinschaft stillschweigend als existent anerkannt wird. […] das Sprachelement „Haus“ ist in erster Linie nicht etwa das Lautbild für eine einzelne Wahrnehmung, nicht einmal für die Vorstellung von einem bestimmten Gegenstand, sondern es ist das lautliche Symbol für einen „Begriff “, d. h. ein mit Tausenden von Erfahrungen gefülltes und zur Aufnahme weiterer Tausender von Erfahrungen fähiges Gedankenschubfach. (Mounin 1967: 96-97) Es gebe also ein kollektives Moment in der Sprache, das über den Individua‐ lismus und Solipsismus hinausgehe. Wie Mounin (1967) dazu abschließend konstatiert: Letzten Endes kann man feststellen, daß die moderne Sprachwissenschaft die alten metaphysisichen und antidialektischen Thesen, wonach Kommunikation entweder immer möglich oder immer unmöglich ist, mit Erfolg durch eine dialektische These ersetzt, wonach Kommunikation nicht mehr eine absolute Eigenschaft des menschli‐ chen Geistes, keine zu vollkommenem Funktionieren stets bereite Fähigkeit, sondern eine Potenz, eine in ständigem Werden befindliche historische Möglichkeit, eine vervollkommnungsfähige Tätigkeit mit ihren Zuständigkeiten und ihren Grenzen, ihren Erfolgen und ihren Mißerfolgen, ihren Rückschlägen und ihren Fortschritten […]. (Mounin 1967: 98, Herv. M.W.). Dem steht die sprachrelativistische Position gegenüber, derzufolge der Abstand zwischen Sprachen einem Abstand zwischen Perspektiven auf die Welt ent‐ spreche. Exemplarisch hierfür sei eine Passage aus Pym (2010: 17) angeführt: Sprachen erfassen die Welt aus sehr verschiedenartiger Perspektive. Deshalb gibt es keine Wörter, die befreit von der eigenen sprachlichen Struktur vollkommen (korrekt) übersetzt werden könnten. Also ist Übersetzung unmöglich. (Pym 2010: 17, übersetzt von M.W.) Wie kann man aus Sicht der interkulturellen Kommunikation mit dieser Pro‐ blemstellung und den unterschiedlichen Positionen umgehen? Eine Möglichkeit ist es, den Aspekt des ‚Fremden‘ und der ‚Fremdheit‘ genauer zu beleuchten und auch kritisch zu diskutieren. Allein schon unserer Erfahrung und Intuition nach ist es schwierig, „auch nur einigermaßen genau zu erklären, was unter ,eigener‘ und ,fremder‘ Kultur eigentlich zu verstehen ist und was das eine wie das andere in einem präzisen Verstande bedeuten soll“ (Göller 2000: 359). Was also heißt ‚fremd‘? Im Anschluss an Julia Kristevas (1990) Diktum „Fremde sind wir uns selbst“ sollte man sich zunächst einmal fragen, wer gegenüber wem fremd ist oder sich so fühlt, wenn man von Fremdsein, Fremdheit, 145 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="146"?> 12 Es soll eigens hervorgehoben werden, dass ich für folgende Ausführungen u. a. Keim (1995) vieles zu verdanken habe. Fremdheitserfahrung etc. spricht (vgl. hier auch die oben zitierte Passage Hum‐ boldts in der Einleitung zum Agamemnon). In diesem Zusammenhang kommen auch einige wichtige Schlüsselbegriffe ins Spiel, die zunächst diskutiert werden sollen: Fremdreferenz, Fremdwahrnehmung, Fremdkategorisierung, Fremdpositi‐ onierung. 12 Bei dem Terminus Fremdreferenz geht es u. a. um den Gegenstandsbezug, anders gewendet, um den Bezug innerhalb einer realen oder fiktionalen Welt auf einen bestimmten (Denk)Gegenstand. Fremdwahrnehmung ist eine Angele‐ genheit der Wahrnehmung. Bei Fremdkategorisierung geht es zumeist um eine mentale Gruppenbildung, die von sprachlicher (und darüber hinausgehender) Tragweite ist. Bei Fremdpositionierung geht es schließlich darum, wie man sich zu dem Fremden sprachlich und nicht-sprachlich positioniert, distanziert und welche Nähe/ Distanz man zu ihm halten will. Um diese Begriffe besser verstehen zu lernen, sei hier auch auf Mounin (1967) verwiesen: „Hic et nunc sind die Kulturen, wenigstens zu einem nicht zu unterschätzenden Teil, einander oft völlig fremd“ (Mounin 1967: 104); daran schließt sich, was für uns von Belang ist, eine Hochschätzung der Ethnographie, in der Fremdheit und Fremdheitserfahrungen ja zentral sind (vgl. bspw. Hirsch‐ auer/ Amann 1997), an: Bezeichnet man als Ethnographie die vollständige Beschreibung der gesamten Kultur einer gegebenen Gemeinschaft und als Kulturen die Komplexe von Tätigkeiten und Institutionen, durch die diese Gemeinschaft sich manifestiert - ihr ökologisches Verhalten, ihre Technologien, ihre sozialen Strukturen, ihre geistlichen und geistigen Systeme, Recht, Religion, Moral, Ästhetik -, so wird man erkennen, daß die Ethno‐ graphie sich die Aufgabe stellt, alle Situationen und alle Kontexte zu beschreiben, die der Übersetzer benötigen würde, um die Aussagen, die er übersetzen will, dort einzufügen, und das heißt, um die Bedeutungen dieser Aussagen besser zu erfassen. (Mounin 1967: 104-105) Weiterhin heißt es dort: „Wo die Übersetzung noch scheitert, ist die Kommu‐ nikation dank der ethnographischen Beschreibung dessen, was sich nicht übersetzen lassen will, schon möglich“ (Mounin 1967: 106). Für Mounin leistet also Ethnographie den Übersetzer: innen eine große Hilfe. Man muß[, um ein guter Übersetzer/ eine gute Übersetzerin zu werden, M.W.] die Sprache und die Kultur kennen, von der diese Sprache handelt, und das heißt: das 146 Manabu Watanabe <?page no="147"?> 13 S. zu diesem Punkt die Ausführung Humboldts in seiner Einleitung zum Kawi-Werk. Wilhelm von Humboldt hat als Komponenten einer Kultur genannt: „Sitten und Gebräuch[e]“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 2), „[…] Sagen, […] Beredsamkeit und Dichtung“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 3), „Sprache, Literatur, Mythe und religiöse[] Philosophie“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 8), „Sitten“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 11), „Geistesbildung und Literatur“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 11). Leben, die Zivilisation, die möglichst vollständige Ethnographie des Volkes [Herv. M.W.], dessen Ausdrucksmittel diese Sprache ist. (Mounin 1967: 108) 13 Ethnographische Beobachtungen helfen also, das ‚Fremde‘ zu verstehen, und übrigens auch, wie Hirschauer/ Amann (1997) betonen, im Sinne einer „Befrem‐ dung der eigenen Kultur“ das ‚Eigene‘. Darüber hinaus ist jedoch mit Blick auf die interkulturelle Kommunikation und auf Übersetzung auch die folgende Bemerkung Göllers mit zu berücksichtigen: „Anders als beim Kulturverstehen ist es beim interkulturellen Verstehen […] von primärer Bedeutung, daß es sich um kulturale Bestimmtheit handelt, die als kulturdifferente Bestimmtheit anzusehen ist“ (Göller 2000: 360, Hervorhebung M.W.). Es geht hier also nicht um eine Kultur, sondern um das Verhältnis von Kulturen - in der Übersetzung: Ausgangs- und Zielkultur - zueinander. 3.2 Übersetzung im Problemfeld Globalisierung Die gesellschaftlich-sozialen Prozesse, die häufig mit dem Schlagwort Globali‐ sierung bezeichnet werden, werden häufig als Gefahr für die „sprachlich-kultu‐ relle Vielfalt“ ( Jurt 2008) wahrgenommen. So schreibt etwa Berthoud: Es besteht [heute im Zeitalter der Globalisierung, M.W.] die Gefahr, dass es zu Verschmelzungen kommt, wo eigentlich Trennung von Nöten wäre. Sprachenvielfalt stellt ein Mittel dagegen dar, indem sie die Universalität durch die schöpferische Kraft des Negativen [der Unübersetzbarkeit, M.W.] erhält und sich in der Folge der Vereinheitlichung der Standards und der Uniformität - die heute allzu oft mit Universalität verwechselt wird - widersetzt. (Berthoud 2008: 195) ‚Unübersetzbarkeit‘ wird vor diesem Hintergrund nicht als Problem, sondern als Vorteil beschrieben, da durch sie die sprachliche und kulturelle Vielfalt gewahrt werde. Ist aber, wie Berthoud hier insinuiert, Sprachkreuzung und -mischung generell eine Gefahr und ein Schritt hin zu globaler Uniformität? Symptomatisch ausgedrückt: Wie soll man sich dem Phänomen der Code‐ mischung in den alltäglichen Kommunikationssituationen bei nicht wenigen Sprachteilhaber: innen mit oder ohne Migrationshintergrund oder mit bilin‐ gualem Hintergrund auseinandersetzen? Welche Rolle spielt auch für interkul‐ 147 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="148"?> 14 Földes (2005) differenziert zwischen „Multikulturalität“, das „von der Existenz sich klar unterscheidender, in sich homogener Kulturen aus[gehe]“ (Földes 2005: 293-294) und „Mehrkulturigkeit“ als „Teilhabe [von Personen; M.W.] an mehreren Kultursystemen“ (Földes 2005: 272). 15 Bei Humboldt lassen sich weiterhin auch folgende wertend-rangierenden Aussagen zu Kultur [in seiner Schreibung: Cultur, M.W.] finden: „Die Völkerschaften des Mayaischen Stammes befinden sich, wenn man ihre Wohnsitze, ihre Verfassung, ihre Geschichte, vor allem aber ihre Sprache betrachtet, in einem sonderbareren Zusammenhang mit Stämmen verschiedenartiger Cultur, als leicht irgend ein anderes Volk des Erdbodens“ (1968 [1830-1835]: 1). Er spricht von „der niedrigsten Stufe der Cultur“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 6) und erwähnt „den Culturzustand der verschiedenen Menschenstämme“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 6), „[i]nsofern Civilisation und Cultur den Nationen ihnen vorher unbekannte Begriffe aus der Fremde zuführen oder aus ihrem Innren entwickeln […]“ (Humboldt 1968 [1830-1835]: 28). Er hält Civilisation und Cultur nicht für wesensunterschiedlich. turelle Kommunikation Globalisierung, der sogenannte Multikulturalismus  14 (Baumer 2002: 60 etc.), innergesellschaftliche Mehrsprachigkeit, auch „Mehr‐ sprachigkeit im Kopf “ (Tracy/ Stolberg 2008)? Stellen sie, wie Berthoud nahelegt, Bedrohungen für Sprachen und Kulturen dar, oder sind sie nicht vielmehr, wie Böhringer/ Hülmbauer (2010: 183) konstatieren, Zeichen von „Begegnungen“, aus denen neue sprachliche Möglichkeiten („emergent varieties“) entstehen, die die Kulturen bereichern? Betrachtet man plurilinguale Repertoires […] als integriert, d. h. die verschieden‐ sprachlichen Elemente als nicht klar voneinander abgrenzbar, so stellen sich auch in‐ novative linguistische Formen, anderssprachlicher Einfluss oder das „code-switching“ nicht länger als Manifestationen von sprachlichem Fehlverhalten dar. Im Gegenteil - da sie sich in einer kommunikativen Notwendigkeit im Rahmen interkultureller Interaktion [Herv. M.W.] begründen, sind sie vielmehr als willkommene, bereichernde Maßnahmen zu bewerten. (Böhringer/ Hülmbauer 2010: 183) Hier ist die positive Einschätzung der Vielfalt, der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturigkeit, der Grundton des Argumentes. Dabei scheint ein wichtiger Aspekt in der Diskussion stets zu sein (wie auch das Zitat von Berthoud zeigt), ob verschiedene Sprachen und/ oder Kulturen im Kontakt ‚verschmelzen‘ oder nebeneinander stehen bleiben. In historischer Perspektive zeigt dies bspw. fol‐ gende Feststellung Wilhelm von Humboldts im Hinblick auf „die Malaysche[n] [sic! ] Völker und ihre Culturverhältnisse“: Es ist hier keine wahre Verwebung, noch weniger eine Verschmelzung, sondern nur eine mosaikartige Verbindung von Fremdem und Einheimischem. (1968 [1830-1835]: 9, Herv. M.W.). 15 148 Manabu Watanabe <?page no="149"?> Die von Berthoud negativ bewertete Vermischung wird hier also gerade positiv gewertet, das Nebeneinanderstehen als negativ (ähnliche Wertungen finden wir in Diskussionen um ‚Integration‘ migrierter Personen). Ähnlich wie im Fall der Übersetzung glaubt Humboldt also offensichtlich auch im Fall des generellen Kulturkontakts, dass nur eine ‚Einverleibung‘ des ‚Fremden‘ für die einverleibende Kultur nützlich ist. Allerdings kann man sich fragen: Was bleibt vom ‚Fremden‘ dann noch übrig? 4 Fazit und Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurde der Frage nachgegangen, wie weit man Herme‐ neutik (bzw. Interpretation) mit dem Fokus auf Verstehen und Übersetzung als Erfahrung des und Begegnung mit dem ‚Fremden‘ auffassen kann. Wir haben gesehen, dass das ‚Fremde‘ im Sinne einer Bereicherung hier als konstitutiv betrachtet werden kann. Grenzen zu überschreiten und Brücken zu schlagen gilt demnach als unerlässlich, auch um die eigenen Horizonte zu erweitern. Dass dies auch für die Übersetzungstheorie selbst gilt, dass durch den Versuch, „Übersetzung nicht nur ,cross-cultural‘, sondern auch ,cross-categorial‘ anzu‐ legen“, also „neue Horizonte eines ‚translational turn‘“ (Bachmann-Medick 2008: 158) erschlossen werden können, wurde durch die Ausführungen hoffentlich ebenfalls deutlich. Abschließend sei noch kurz ein weitreichendes, angewandtes Feld berührt, das in dem bisherigen Rahmen noch nicht angesprochen werden konnte, das aber einen hochinteressanten Anwendungsbereich auch der Übersetzungswis‐ senschaft (und nicht nur der Literaturwissenschaft oder der Kulturwissenschaft) darstellt, nämlich Migrationsliteratur. Dieser Nachtrag bedarf nach meinem Dafürhalten einer doppelten Begründung: zum einen weil Migrant: innen selbst, die hier in Frage kommen, ein Transferphänomen darstellen - Migrant: innen beim Überschreiten der Grenze, an den Grenzen verweilend, konfrontiert mit selbst oder anderweitig aufgebauten Grenzen -, zum anderen, weil in der betreffenden Literatur mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verschiedene Perspektiven (der Welt), basierend auf der Migrationsgrundlage, ausgebreitet und zur Schau gestellt werden können oder ein Sicht-/ Perspektivenwechsel (Kehre, beabsichtigte Umkehrung etc.) häufig vorkommt. Die Begegnung mit dem ‚Fremden‘ wird in dem Zusammenhang - unabhängig von Übersetzung - oft unmittelbar und aus verschiedensten Perspektiven erlebbar. Grenzen werden erfahren und überschritten. Dabei ist allerdings mit Derrida zu bedenken: Auch wenn man von einer Transgression, d. h. von einem Übergang zu der anderen Seite spricht, stellt solche/ solcher, wobei man sich bloss einbildet, was man über‐ 149 Begegnung mit dem ‚Fremden‘ <?page no="150"?> schritten hat, hinter sich gelassen zu haben, als Endeffekt genau dasselbe dar, was man überschritten hat. (Derrida 1989: 286-287, übersetzt von M.W.) Mit Blick auf den Bandtitel kann man also abschließend festhalten: Grenzüber‐ schreitung - auch im Sinne der Übersetzung - ist idealerweise eine Brücken‐ querung, nach der die Brücke nach der Überquerung nicht abgebrochen wird, sondern bleibt, und verbindet. Ein Brückenschlag, wie man ihn vielfach von unserer Jubilarin kennt! Literatur Bachmann-Medick, Doris (2008). 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Anschliessend verorte ich die Überlegungen im Kontext der Spracharbeit, bevor ich einen Überblick über die Spracharbeit hinter den Kulissen des Filmgeschäfts gebe: insbesondere Dialektcoaching, Synchronisation und Closed Captioning. In Bezug auf das Closed Captioning schlage ich einen aussichtsreichen soziolinguistischen Forschungsansatz vor. Der Beitrag endet mit einer kurzen Reflexion über die ideologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Spracharbeit. Das vorliegende Kapitel nimmt Christa Dürscheids (2021) Beitrag über „kleine Texte“ als Ausgangspunkt, welcher in der Tradition ihrer langjährigen For‐ schung zu digitalen Texten wie SMS (z. B. Dürscheid 2002; Dürscheid/ Stark 2011) steht. Auch ich interessiere mich für diese kleinen Texte (z. B. Thurlow 2003) und teile somit Dürscheids Enthusiasmus für die Erforschung alltäglicher sprachlicher Praktiken, welche vielfach als unbedeutend oder einer genaueren Betrachtung nicht würdig abgetan werden. Da viele - Eltern, Journalist: innen und auch (manche) Forschende - sich von diesen Textformen nicht angespro‐ chen fühlen, halten sie sie für unwichtig, unseriös oder gar schädlich. Natürlich ist dies eine simplifizierende und vorurteilsbehaftete Haltung; zudem ist sie <?page no="156"?> 1 Ganz kurz: Im Englischen sind subtitles in der Regel für ein hörendes Publikum gedacht und übersetzen eine Sprache in eine andere; closed captions sind vordergründig für gehörlose und hörbeeinträchtigte Zuschauende gedacht und geben alle wichtigen Geräusche - gesprochene oder anderweitige - in Schriftform wieder. Die Untertitel werden als „closed“ (also „geschlossen“) bezeichnet, weil sie eigens ausgewählt oder ein‐ geschaltet werden müssen. Es ist allgemein bekannt, dass solche Untertitel heutzutage auch von vielen anderen, nicht hörbeeinträchtigten Menschen regelmässig verwendet werden (z. B. beim Ansehen von Filmen in der Öffentlichkeit oder beim Sporttreiben). Viele Online-Plattformen verwenden zunehmend automatisch generierte Untertitel; dies führt nicht nur zu Untertiteln, die sprachlich und kulturell oft nicht ausgereift sind, sondern ist auch unzureichend, um nicht-sprachliche Geräusche und anderweitige, narrativ/ interaktional wichtige akustische Informationen wiederzugeben. meist wissenschaftlich unbegründet. So zeigt Justine Coupland (2000, 2008) in ihrer Untersuchung über Klatsch und andere Formen der phatischen Kommu‐ nikation sehr schön, dass sogenannter Smalltalk eigentlich big talk ist. Diese alltäglichen, flüchtigen Gespräche sind keineswegs oberflächlich und ‚leer‘, sondern reich an sozialer Bedeutung und kulturellem Wert; ihnen kommt auch eine bemerkenswerte ideologische Funktion etwa bei der Sicherung sozialer Hierarchien und der Überzeugungsarbeit zu. Ähnlich verhält es sich mit vielen oder gar den meisten kleinen Texten. Wie Ulrich Schmitz (2021) feststellt, mögen diese Texte unscheinbar sein, sie spielen aber dennoch eine wesentliche kommunikative Rolle; sie sind also klein, aber oho! Ganz in diesem Sinne erweitert Dürscheid (2021) ihr bestehendes Interesse an digitalen Texten mit einer vergleichenden Perspektive auf Untertitel. Ziel ist dabei nicht nur zu zeigen, wie kleine Texte funktionieren, sondern auch, wieso sie von Bedeutung sind. Diese aktuelle Entwicklung in Dürscheids Forschungsagenda ist für mich umso erfreulicher angesichts der Tatsache, dass auch ich angefangen habe, über Untertitel nachzudenken. Wie Dürscheid interessiere ich mich insbesondere für Untertitel, die in erster Linie für gehörlose oder hörbeeinträchtigte Menschen gedacht sind. Im Englischen wird dies als closed captioning bezeichnet und umfasst nicht nur Transkriptionen gesprochener Sprache, sondern auch von Pa‐ rasprache, Lautäusserungen (siehe unten), Musik und Hintergrundgeräuschen. 1 Mein Interesse an Untertiteln ist Teil eines umfassenderen Forschungsprojekts über zeitgenössische Spracharbeit, also Arbeit, bei der Sprache nicht nur Mittel zum Zweck, sondern Mittelpunkt und Hauptprodukt des entsprechenden Berufs ist. Dabei konzentriere ich mich auf relativ angesehene beziehungsweise elitäre Bereiche der Spracharbeit, die von den meisten Sprachwissenschaftler: innen bisher weitgehend übersehen wurden. So habe ich mich beispielsweise mit Werbetexter: innen (Thurlow 2018), Dialektcoaches (Thurlow/ Britain 2020) und, 156 Crispin Thurlow <?page no="157"?> 2 Auch wenn der deutsche Ausdruck Wortschmied gebräuchlich ist (und auch historisch weit zurückverfolgt werden kann), bleibe ich hier bewusst bei der englischen Form, die mir mit der deutschen nicht äquivalent erscheint. in geringerem Masse, mit Synchronsprecher: innen (Thurlow 2020a) beschäftigt. Diese begonnene Forschung zu Spracharbeit im Filmgeschäft führt mich nun zur Untertitelung und schliesslich zur Audiodeskription. Dabei zeigt sich eine weitere Überschneidung meiner Forschung mit der von Christa Dürscheid hin‐ sichtlich der Theorie-Praxis-Schnittstelle und der Frage, wie unsere Arbeit als Linguist: innen über die akademische Welt hinaus Anwendung und Relevanz hat (z. B. Bonderer/ Dürscheid 2019) - beziehungsweise auch umgekehrt, inwiefern die Praktiken und das Wissen anderer Sprachexpert: innen unseren eigenen, akademischen Umgang mit Sprache beeinflussen können. Vor diesem Hintergrund beginne ich im folgenden Abschnitt mit einem kurzen Kommentar zur Macht von kleinen Texten und einigen allgemeinen Bemerkungen zur Bedeutung von Spracharbeiter: innen und insbesondere den Spracharbeiter: innen, die ich wordsmiths (also etwa „Wortschöpfer: innen“) nenne. 2 Danach wende ich mich speziell dem Bereich Sprache im Film zu, wobei ich zuerst einen groben Überblick gebe und kurz die Arbeit von Dialektcoaches und Synchronsprecher: innen vorstelle. Anschliessend gehe ich auf die kleinen Texte ein, die von Untertitler: innen produziert werden. Hierbei skizziere ich einige meiner Meinung nach vielversprechende Ansätze für eine soziolinguis‐ tische, multimodale Untersuchung von Untertitelung. Abschliessend biete ich Überlegungen zu den ökonomischen und ideologischen Gegebenheiten, die Spracharbeit im Allgemeinen zu strukturieren scheinen. 1 Die Macht kleiner Texte In einer der ersten dezidierten sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit kleinen Texten definiert Hausendorf (2009) diese anhand ihrer Kleinheit (d. h. sie nehmen einen kleinen Raum ein), Einfachheit (einschliesslich syntakti‐ scher Einfachheit), Zweckmässigkeit (sie sind z. B. eher funktional als poetisch), Ortsspezifität und Formelhaftigkeit. Als Beispiele nennt er unter anderem die Innenseite eines Kaffeesahne-Deckels, ein kleines Stück Papier, das am Ende des Fadens eines Teebeutels befestigt ist, den Boden einer Plastiktüte, ein Gästebuch, ein Schild an einer Tür (z. B. Achtung, Prüfung! Bitte nicht stören! ), einen Fahrplan und eine Urlaubspostkarte. Wie Schmitz (2021) feststellt, sind kleine Texte faktisch überall, aber sie sind meist unauffällig. Für ihn sind kleine Texte 157 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="158"?> 3 Beim Lesen dieser Aufzählung wurde mir übrigens bewusst, dass ich mich länger schon mit kleinen Texten befasst habe - unter anderem eben mit Visitenkarten und Urlaubs‐ postkarten (siehe Thurlow/ Jaworski 2010) oder - wie viele Kolleg: innen, die im Bereich der kritischen Diskursforschung und der Linguistic-Landscape-Forschung tätig sind - vielfach mit Werbeslogans, Ladenschildern und politischen Plakaten. Erst kürzlich habe ich kommerzielle Branding-Taktiken untersucht, die auf Ein-Wort-Botschaften beruhen (z. B. Thurlow 2020b zum Wort premium). einfach strukturiert, funktional und folgen stark konventionalisierten Normen; als Beispiele nennt er u. a. Einkaufszettel, Kontaktanzeigen und Visitenkarten. 3 Für Schmitz bedeutet ‚klein‘ nicht zwingend ‚kurz‘, wie die Beispiele der Preislisten, Speisekarten oder Fahrpläne zeigen. Kleine Texte sind für ihn vielmehr durch ihre inhaltlichen Qualitäten und ihre vergleichsweise schwache grammatische Integriertheit charakterisiert. Wie Schmitz (2018: 18) erklärt, sind kleine bzw. sehr kleine Texte „schriftliche kommunikative Minimalein‐ heiten, die höchstens einen grammatisch vollständigen Satz enthalten“. In ihrer vergleichenden Analyse von Untertiteln und WhatsApp-Nachrichten öffnet Dürscheid (2021) das empirische Feld in bestimmter Hinsicht. Da sie kleine Texte anhand ihrer Kürze definiert (d. h. ihrer relativen Kürze in Bezug auf die verwendeten grafischen Zeichen), kann sie das Spektrum der kleinen Texte auf Horoskope und Witze, aber auch Postkarten und Strassenschilder sowie eben auch Untertitel und WhatsApp-Nachrichten erweitern. Letztere, so kurz sie auch sein mögen, haben dabei gemeinsam, dass sie sehr heterogen sind; beide lassen sich nicht ohne Weiteres einer klar definierten Textsorte zuordnen, anders als etwa Horoskope, die sowohl inhaltlich als auch formal musterhaft sind. In diesem Sinn bietet Dürscheid denn auch keine neuen Einsichten in die Linguistik von Untertiteln an sich, ihr Ziel ist vielmehr, den Begriff des ‚kleinen Textes‘ kritisch zu betrachten und zu nuancieren. Egal, wie man sie definiert, und egal, welche Form sie annehmen, kleine Texte sind überall in unserem Leben zu finden. Oft ist es ihre Kleinheit, die sie weniger auffällig oder weniger wichtig erscheinen lässt; ihre Bedeutung und ihr Einfluss sollten aber nicht unterschätzt werden. Genau das stellt Lara Portmann (2022) in ihrer Studie über UX-Writer: innen fest - über jene Fachleute, die unter anderem für die Gestaltung von Software-Interface-Texten verantwortlich sind. Diese von UX-Writer: innen erstellten Software-Interface-Texte werden manchmal auch als Microcopy bezeichnet; ein besonders auffälliges Beispiel sind die uns allen bekannten Cookie-Banner in Abbildung 1. 158 Crispin Thurlow <?page no="159"?> Abb. 1: Microcopy in Cookie-Bannern Diese prototypisch kleinen Texte enthalten banale Botschaften, die subtil unsere digitalen Interaktionen steuern und so unseren Alltag prägen. Im We‐ sentlichen werden solche Cookies verwendet, um zum Beispiel Informationen wie Benutzernamen und Standort, aber auch persönlichere Daten wie solche zum Surfverhalten von Nutzenden zu erfassen. Zwar sind Unternehmen nach EU-Recht (Datenschutz-Grundverordnung) verpflichtet, die Zustimmung von Nutzenden einzuholen, bevor Daten gespeichert werden, ihre Cookie-Banner weisen aber nur selten darauf hin, welche Informationen genau gespeichert werden. Hier kommt es auf die geschickte - möglicherweise kunstvolle - Arbeit von UX-Writer: innen an, die einen Weg finden müssen, die Einwilligung von Nutzenden so schnell und mühelos wie möglich einzuholen. Wie Jones (2020) feststellt, erscheinen diese kleinen Texte, wenn Nutzer: innen eine Website besuchen, in der Regel als Hindernis, das den Zugriff auf das Eigentliche verstellt. Der sprachliche Inhalt von Cookie-Bannern ist oft so gestaltet, dass er spielerisch und harmlos erscheint; das Ziel ist, so Jones, Nutzende davon abzuhalten, das Kleingedruckte genauer zu lesen und ihre Cookie-„Präferenzen“ anzupassen. So finden wir in den Beispielen in Abbildung 1 die folgenden persuasiv-umgangssprachlichen Formulierungen: • Hey! We use cookies to improve your experience. [Hey! Wir verwenden Cookies, um dein/ Ihr Erlebnis zu verbessern.] • This website uses cookies to improve your experience. �� [Diese Website verwendet Cookies, um dein/ Ihr Erlebnis zu verbessern. �� ] • We’ll assume you’re OK with this, but you can opt-out if you wish. [Wir gehen davon aus, dass das für dich/ Sie OK ist, aber du kannst/ Sie können aussteigen, wenn du willst/ Sie wollen.] • This website feeds you cookies. [Diese Website füttert dich/ Sie mit Cookies.] 159 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="160"?> • By continuing to browse this website, you agree to use analytical (yummy) cookies […] [Durch das Weitersurfen auf dieser Website stimmst du/ stimmen Sie zu, analytische (leckere) Cookies zu verwenden […]] Wie man hier sieht, sind kleine Texte ein grosses Geschäft. Wichtiger ist jedoch, dass kleine Texte grosse Konsequenzen haben können, von denen viele häufig nicht offensichtlich sind. Das Gleiche lässt sich über einen beträchtlichen Teil heutiger Spracharbeit sagen, vor allem, wenn es sich um angesehenere, ‚professionelle‘ Spracharbeiter: innen handelt - solche, die ich als wordsmiths bezeichne. Im Englischen wird dieses Wort in der Regel für Personen verwendet, die Expert: innen im Gebrauch oder in der ‚Gestaltung‘ von Sprache sind; es kann aber auch auf Kunstfertigkeit und Raffiniertheit hinweisen. Manchmal sind die Texte, welche diese Expert: innen produzieren, gar nicht so klein; sie sind auch nicht immer geschrieben - was sie aber mit ‚kleinen Texten‘ gemein haben, ist ihre relative Unauffälligkeit und/ oder Selbstverständlichkeit. Das gilt für einen grossen Teil der Sprache und Spracharbeit in Filmen. 2 Spracharbeiter: innen und wordsmiths Es ist allgemein bekannt, dass weitreichende wirtschaftliche Veränderungen im sogenannten industrialisierten Westen das kulturelle und soziale Leben generell einschlägig verändert haben. Ein Grossteil dieses Wandels dreht sich um die wachsende Bedeutung, die Kommunikation als Mittel und Ressource des wirtschaftlichen Austauschs gewonnen hat. Dieser Prozess wurde als Semiotisierung des zeitgenössischen Lebens bezeichnet (siehe z. B. Baudrillard 1994[1981]). Der Diskursanalytiker Norman Fairclough (1999) nennt denselben Prozess die ‚textuelle Vermittlung‘ sozialer Wirklichkeit, was auch das bein‐ haltet, was Rick Iedema und Hermine Scheeres (2003: 318) als ‚neue Textuali‐ sierung der Arbeit‘ bezeichnen. Aufgrund der zentralen Bedeutung von Kommunikation in den genannten Kontexten nutzen immer mehr Menschen - freiwillig oder notgedrungen- Sprache als wesentlichen Teil ihrer Arbeitspraxis. Daher haben sich auch eine Reihe von Sprachwissenschaftler: innen ausführlich, teils auch in historischer Perspektive, damit befasst, wie Sprache von der postindustriellen Kommodifi‐ zierung von Wissen und Kommunikation erfasst und in den Mittelpunkt gerückt wird. Für viele, wie z. B. Cameron (2000) und Heller (2003), sind die Arbeitenden in Call-Centern das Paradebeispiel für diese neuen Arbeitsformen. Die gesamte Belegschaft dieses Gewerbes stellen deterritorialisierte Sprecher: innen, die für ihren Lebensunterhalt vollständig auf Sprache und Sprechen angewiesen sind. Wie Heller gezeigt hat, sind jedoch auch viele andere und sehr unterschiedliche 160 Crispin Thurlow <?page no="161"?> Arbeitskontexte von Sprache als Prozess bzw. Vehikel oder als Produkt abhängig geworden. Diese wordforce, um Hellers Bezeichnung zu verwenden, besteht häufig aus relativ schlecht bezahlten Arbeitskräften, die manchmal auch noch zusätzlich (freilich ohne zusätzliche Bezahlung) aufgrund ihrer sprachlichen und mehrsprachigen Fähigkeiten ausgebeutet werden (siehe z. B. Duchêne 2011). Zu beachten ist allerdings, dass Spracharbeit sehr unterschiedlich ent‐ löhnt und unter unterschiedlichen Arbeitsbedingungen geleistet wird. Im Rahmen dieser sozialen und akademischen Entwicklungen habe ich mich seit einiger Zeit den Formen von Spracharbeit zugewandt, die hohes Ansehen geniessen (siehe Thurlow 2020a). Wie bereits erwähnt geht es hier um die Arbeit von wordsmiths, von Angestellten (white collar workers) im Gegensatz zu Arbeiter: innen (blue collar workers), deren Arbeit von anderen bereits ausgiebig diskutiert wurde. Es ist bezeichnend, dass den wordsmiths viel eher als Letzteren der privilegierte Status ‚Profi‘ oder ‚Expert: in‘ zugestanden wird, und obwohl ihre Arbeit meistens hinter den Kulissen stattfindet, ist die Auswirkung und der Einfluss dieser Arbeit oft von besonders grosser Tragweite. Das bedeutet auch, dass diese Arbeit in der Regel besser bezahlt wird und die Arbeitsbedingungen sicherer sind - obschon sicherlich nicht immer und nicht für alle. Aus dem Spektrum dieser elitären Spracharbeit haben meine Kolleg: innen und ich mehrere Bereiche herausgegriffen, die bisher von der Soziolinguistik und der Diskursforschung weitgehend übersehen worden sind: Dialektcoaches (siehe unten), politische Redenschreiber: innen (z. B. Mapes, eingereicht), UX-Writer: innen (z. B. Portmann, 2022) sowie Social-Media-Influ‐ encer: innen und Werbetexter: innen (z. B. Droz-dit-Busset, eingereicht; siehe auch Thurlow 2018). Gemeinsam versuchen wir, diese verschiedenen Welten der ‚Wortschmiedekunst‘ zu erschliessen, indem wir (a) den Fokus auf tatsäch‐ liche Arbeitspraktiken - sprich, Produktionsprozesse und nicht nur textliche Produkte oder Ergebnisse - legen und (b) die Perspektiven von Insider: innen in den Mittelpunkt stellen, wozu auch gehört, zuzuhören, wie diese Fachleute selbst Sprache verstehen und erklären. In jedem Fall - und bevor wir in das Arbeitsleben anderer Menschen eindringen - beginnen wir mit einer Methode, die wir profession mapping nennen. Dabei ermitteln wir unter anderem die Ursprünge und Geschichte des jeweiligen Berufs, Ausbildungsprogramme und Lehrbzw. Handbücher, typische Karrierewege, Aufsichtsbehörden und Akkreditierungsverfahren, Verbände oder Konferenzen sowie alle möglichen Informationen über Beschäftigungsbedingungen und den Gehaltsrahmen. 161 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="162"?> 3 Spracharbeit im Filmgeschäft So sehr Kino gemeinhin als visuelles Medium betrachtet wird, ist es natürlich auch ein ausgesprochen sprachliches Medium. Dazu gehört zunächst die pro‐ minente Arbeit von Schauspieler: innen auf der Vorderbühne, die Drehbüchern eine Stimme geben und die Vision der: des Regisseur: in umsetzen. (Natürlich gibt es auch hier Hierarchien bezüglich der Sichtbarkeit unterschiedlicher Schau‐ spieler: innen auf der Leinwand, die von Hauptdarsteller: innen - sogenannten Stars - bis hin zu Cameos und Statist: innen reicht, die manchmal auch als ‚Hintergrunddarsteller: innen‘ bezeichnet werden.) Hinter der Kamera finden wir die ebenso hochkarätige Spracharbeit der Drehbuchautor: innen, welche die Drehbücher verfassen, auf denen ein Film basiert. Oft werden weitere Personen angeheuert, um das Drehbuch in kurzer Zeit zu verbessern (script-doctoring); diese Drehbuchberater: innen werden im Abspann aber nicht aufgelistet, es sei denn, sie haben zwischen 35 und 50 Prozent des Drehbuchs beigetragen. Schliesslich sind es dann die Regisseur: innen, die dafür verantwortlich sind, das Drehbuch zum Leben zu erwecken. Sowohl Drehbuchautor: innen als auch Regisseur: innen teilen sich den Titel - und den rechtlichen Schutz - der ‚audiovisuellen Urheberschaft‘. Obwohl beide nicht auf der Leinwand zu sehen sind, ist ihre sprachliche Arbeit von grosser Bedeutung und wird auch entspre‐ chend gewürdigt; beide werden beispielsweise bei der jährlichen Verleihung der Academy Awards mit entsprechenden Preisen ausgezeichnet. All dies gilt nicht für die ansonsten umfangreiche und zunehmend zen‐ trale Arbeit zahlreicher anderer wordsmiths wie Dialektcoaches, Synchron‐ sprecher: innen, Übersetzer: innen und Untertitler: innen. Diese leisten die ver‐ borgene Spracharbeit, die hinter den Kulissen stattfindet und mich primär interessiert. Hier gibt es eine Reihe verschiedener Expert: innen, die auf un‐ terschiedliche Weise mit gesprochener oder geschriebener Sprache arbeiten: Dialektcoaches arbeiten an der gesprochenen Sprache anderer; Synchronspre‐ cher: innen mit/ an ihrer eigenen gesprochenen Sprache. Im Gegensatz dazu arbeiten Übersetzer: innen und Untertitler: innen an der Transmodalisierung ge‐ sprochener Sprache in geschriebene Sprache. Dürscheid (2021: 134) bezeichnet Untertitelung in ihrem Beitrag denn auch als doppelten Modalitätenwechsel, da ein ursprünglich geschriebener Text - das Drehbuch - in einen gespro‐ chenen Text umgewandelt wird, der wiederum in einen anderen geschriebenen Text umgewandelt wird). Einige Untertitler: innen arbeiten indirekt mit Dreh‐ büchern, andere arbeiten mit der Tonspur des Films. Weiter beinhaltet die Arbeit in der Audiodeskription noch komplexere Arten der Transmodalisierung: die Übertragung (und Verschriftlichung) einer Vielzahl von semiotischen Res‐ 162 Crispin Thurlow <?page no="163"?> sourcen und verkörperlichten Handlungen in gesprochene Sprache. Darauf genauer einzugeben würde allerdings den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Gegen Ende des Kapitels werde ich vorschlagen, dass diese unterschiedlichen Beziehungen zu verschiedenen Modalitäten von Sprache einen Einfluss darauf haben, wie Spracharbeit bewertet, eingeschätzt und anerkannt wird. Dies wiederum hat viel mit der Entlöhnung und den Beschäftigungsbedingungen der jeweiligen Berufe zu tun. Zunächst möchte ich jedoch kurz einige Bemer‐ kungen zu Dialektcoaches und Synchronsprecher: innen machen, bevor ich mich speziell mit Untertitler: innen befasse. Denn wenn wir die Arbeit von Dialektcoaches und Synchronsprecher: innen genauer betrachten, sehen wir, dass deren angewandtes Verständnis von Sprache nicht nur äusserst interessant, sondern manchmal auch für unsere eigene wissenschaftliche Praxis spannend sein kann. 3.1 Dialektcoaches In Thurlow und Britain (2020) stellen mein Kollege und ich zunächst fest, dass der Begriff ‚Dialektcoaching‘ als Beruf nicht sehr klar umrissen ist, nicht einmal für Dialektcoaches selbst, die ihre berufliche Praxis oft mit zwei oder drei verschiedenen Arten von Arbeit in Verbindung bringen. Die Arbeit von Menschen, die sich als Dialektcoach bezeichnen, kann vom Akzentunterricht für Schauspieler: innen über Stimm- und Dialogtraining, Rhetorik und öffentliches Sprechen bis hin zur sogenannten Akzentreduktion reichen. Die vor allem in den USA verbreitete Akzentreduzierung unterstützt Menschen dabei, sich ihren ‚fremden‘ Akzent zugunsten eines standardisierteren Englisch abzutrainieren. Genau aus diesem Grund sind Linguist: innen oft schnell geneigt, Dialektcoaches zu verurteilen, weil sie mit groben Stereotypen arbeiten oder Sprache auf merkantile, kulturell fragwürdige Weise behandeln. Ihre Herangehensweise an Sprache ist jedoch nicht unbedingt subjektiver oder problematischer als unsere eigene. Tatsächlich kann die Art und Weise, wie Dialektcoaches an Sprache herangehen, oft nuancierter sein - und wohl auch genauer - als die Arbeitsweise mancher Linguist: innen. Basierend auf unserer eigenen Primär- und Sekundärforschung stellen wir fest, dass Dialektcoaches Schauspieler: innen in der Regel dazu ermutigen, sich der Sprechweise ihrer Charaktere durch Biografien anzunähern anstelle von Kategorien oder Typen - oder aber beides miteinander zu verbinden. Dialektcoa‐ ches wissen, dass sie um des dramatischen Effekts willen bestimmte sprachliche Stereotype bedienen müssen; sie müssen dies jedoch gegen die Erziehung, die Mobilitätsbiographie und die soziale Stellung des Charakters abwägen. (Gutes) Dialektcoaching ist daher viel stärker auf Fragen des persönlichen Stils ausge‐ 163 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="164"?> 4 Original: “for an accent to really resonate as authentic, it has to be sitting properly in the bio-mechanical system.” 5 Original: “The best compliment that you can get as a dubbing artist is that no-one actually realises it was dubbed. Our job is to vanish behind the original version […]” richtet und geht sowohl auf individuelle als auch auf soziale Unterschiede ein. Im Gegensatz dazu bestand in der Soziolinguistik und Dialektologie lange Zeit eine Tendenz, sich nur mit dem Sozialen zu befassen, jedenfalls bis zum Aufkommen neuerer Konzepte wie ‚Repertoires‘ (z. B. Busch 2012) und ‚Personae‘ (z. B. Podesva 2007). Auch verfolgen Dialektcoaches generell einen ganzheitlicheren Ansatz, wenn es um Sprache geht. Während viele Sprachwissenschaftler: innen versuchen, Sprache von ihrem breiteren semiotischen oder kommunikativen Kontext zu trennen, neigen Dialektcoaches viel eher dazu, das gesprochene Wort als Element einer multimodalen, auch körperlich gebundenen Leistung zu betrachten. Mary McDonald-Lewis (Purcell 2014) stellt zum Beispiel fest, dass „ein Akzent nur dann wirklich authentisch wirkt, wenn er im biomechanischen System richtig sitzt“. 4 3.2 Synchronsprecher: innen In Thurlow (2020a) gehe ich kurz auf die Arbeit derjenigen ein, die manchmal auch unter den Bezeichnungen voice over artist oder voice actor bekannt sind. Für viele isolierte Englischsprachige ist dies eine Welt, die ihnen völlig fremd ist; anderswo jedoch ist die Arbeit von Synchronsprecher: innen von grosser Bedeutung. Es ist auch ein grosses und oft ziemlich schmutziges Geschäft. Meine vorläufigen Bemerkungen zu diesem speziellen Bereich der Spracharbeit stützen sich in erster Linie auf einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2016 mit dem Titel Being George Clooney. Der Film stützt sich auf Interviews mit Synchronsprecher: innen aus der ganzen Welt und legt die nackte wirtschaftliche Tatsache offen, die ihrer Arbeit zugrunde liegt, nämlich dass der fremdsprachige Markt für Hollywood unendlich viel mehr wert ist als der heimische US-Markt oder andere englischsprachige Märkte. Noch relevanter ist - und das haben Synchronsprecher: innen mit Dialektcoa‐ ches gemeinsam -, dass ein Merkmal ihres Erfolgs darin besteht, dass ihre Arbeit nicht auffällt. Der bekannte deutsche Synchronsprecher Dietmar Wunder (der beispielsweise Daniel Craigs Rollen synchronisiert) erklärt diesen Aspekt seiner Arbeit wie folgt: „Das beste Kompliment, das man als Synchronsprecher: in bekommen kann, ist, dass niemand merkt, dass der Film synchronisiert ist. Unsere Aufgabe ist es, hinter der Originalfassung zu verschwinden […]“ (New York Times 2014). 5 Es ist jedoch genau diese geschätzte Unsichtbarkeit, die 164 Crispin Thurlow <?page no="165"?> Synchronsprecher: innen vermeintlich entbehrlich und ihre Arbeit prekär und meist unterbezahlt macht. Die meisten Synchronsprecher: innen, so erfahren wir, haben keine Rechte an ihrer eigenen Stimme und werden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. So dürfen sie zum Beispiel in der Regel nicht an Filmpremieren teilnehmen, vermutlich aus Angst, sie könnten die Illusion zerstören, dass George Clooney fliessend Türkisch, Italienisch, Portugiesisch, Hindi oder Deutsch spricht! Nicht alle Synchronsprecher: innen sind schlecht bezahlt; einige können bis zu 15’000 Dollar pro Film verdienen. Viele sind in ihren Heimatländern auch sehr bekannt. Besonders interessant sind die Einblicke, die der genannte Dokumentarfilm in die Arbeitsbedingungen vor Ort gibt. Viele Synchronsprecher: innen müssen zum Beispiel aus Gründen des strengen Urheberrechtsschutzes Filme synchroni‐ sieren, ohne den Film selbst zu sehen. Sie müssen also Darbietungen einsprechen basierend auf einer strikt redigierten Version, bei der nur der Mund des: der Schauspieler: in zu sehen ist. Aus akademischer Sicht ist diese Erwartung grotesk, da dabei die Beziehung zwischen geschriebenem Wort (dem Drehbuch, das Synchronsprecher: innen haben) und gesprochener Sprache sowie die in‐ härent multimodale, körperlich-gebundene Natur von Sprachgebrauch völlig vernachlässigt wird. Ich werde auf die semiotischen Ideologien, die sich hier abzeichnen, später zurückkommen. 4 Untertitel als kleine Texte No one has really treated captioning as a significant variable in multimodal analysis, on par with image, sound, and video. No one has considered the possibility that captions might be as potent and meaningful as other kinds of texts we study in the humanities. In short, we don’t yet have a good understanding of the rhetorical work captions do to construct meaning and negotiate the constraints of space and time. (Zdenek, 2015: xiii) In ihrer kurzen Abhandlung zu Untertiteln zeigt Dürscheid (2021) einige der technischen Einschränkungen auf, denen Untertitel in Bezug auf Raum und Form unterliegen. Dies ist es, was sie zu ‚kleinen Texten‘ macht. Untertitel müssen zum Beispiel so kurz sein, dass sie vor dem Szenenwechsel gelesen werden können, normalerweise also nicht länger als zwei Zeilen. Anders gesagt: Diese Texte sind räumlich begrenzt. Von der Form her müssen sie gekürzt werden, aber nicht auf Kosten der ‚Natürlichkeit‘; weiter sollten sie so nah wie möglich an der gesprochenen Originalsprache bleiben. Kraftausdrücke werden also immer wiedergegeben, Dialekte manchmal (wenn nicht wird zumindest in Klammern auf sie hingewiesen). Mein eigenes Interesse an Untertiteln - speziell 165 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="166"?> 6 Original: “mere transcription or the dutiful recording of every sound” an intralingualen Untertiteln - gilt weniger ihren generischen, formalen oder strukturellen Eigenschaften; stattdessen interessieren mich ähnlich wie Sean Zdenek (2015; oben zitiert) vor allem die diskursiven Implikationen von Unter‐ titeln. Dazu gehören Fragen zu den Themen Multimodalität, Sozialsemiotik und Sprachideologie. Sean Zdeneks (2015) Reading Sounds ist die bisher umfangreichste wissen‐ schaftliche Abhandlung zu Untertiteln. In diesem Buch geht der Autor von der Erkenntnis aus, dass Untertitelung mehr als nur eine Frage der verbalen Darstellung ist; Untertitelung ist kein einfacher oder ‚neutraler‘ Prozess. Viel‐ mehr müssen Untertitler: innen selbst entscheiden, welche Geräusche - von menschlicher Sprache bis hin zu Hundegebell - kommunikativ und narrativ relevant sind und daher untertitelt werden sollten. Gleichzeitig müssen Unter‐ titler: innen mit technischen Zeit- und Raumbeschränkungen zurechtkommen, um die Untertitel mit Szenenwechseln zu koordinieren. Zumindest bei Spiel‐ filmproduktionen müssen sie auch ein ausgeprägtes Gespür für Erzählung als literarische Form haben und Schauplatz, Charaktere, Handlung, Perspektive und Stil verstehen. Untertitler: innen müssen ausserdem sowohl Genauigkeit als auch Integrität bewahren bei der Transmodalisierung von gesprochener, körpergebundener Sprache in Schrift beziehungsweise grafische Darstellung. Oft müssen sie grafische Hilfsmittel erfinden, um nicht etablierte oder nicht standardisierte akustische Phänomene darzustellen; diese interpretatorische und erfinderische Dimension ihrer Arbeit gilt insbesondere für die Untertitelung von Lautäusserungen und anderen nichtsprachlichen Geräuschen. Unter dem Strich, so argumentiert Zdenek, ist Untertitelung eher eine rhetorische als eine technische Praxis. Es handelt sich nicht um eine „blosse Transkription oder die pflichtgemässe Aufnahme jedes Geräusches“ (2015: 2). 6 Untertitler: innen brauchen ein äusserst genaues Verständnis von Sprache als Diskurs - prozedural und auch deklarativ gesehen. Dabei geht es um Sprache als eine multimodale, situative und oft auch poetische oder metasprachliche Ressource. In vielerlei Hinsicht wissen auch Soziolinguist: innen, dass dem so ist. Zumindest in der Theorie haben wir schon immer gewusst, dass die Bezie‐ hung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache nicht offensichtlich ist und dass Schrift niemals einfach eine direkte Parallele zu Gesprochenem bildet oder umgekehrt (siehe Dürscheid 2016; auch Cameron/ Panović 2016 für eine gute Zusammenfassung). Ebenso, und obschon Zdenek Transkription als eine oberflächliche Technik behandelt, wurde schon lange erkannt, dass es sich beim Transkribieren um eine sozial konstruierte und somit ideologische 166 Crispin Thurlow <?page no="167"?> 7 Eine kürzlich erschienene Sonderausgabe von Research on Language & Social Interaction (Keevallik/ Ogden 2020) stellt eine willkommene Intervention dar. Praxis handelt (siehe Ochs’ 1979 bekannte Arbeit hierzu). Ebenso widmet sich der gesamte Bereich der Übersetzungswissenschaft (z. B. Basnett 2014) der zwangsläufig unvollkommenen und subjektiven Übertragung von Bedeutung aus einer Sprache in eine andere. Vertrauter - aus meiner Sicht - sind die verwandten Gebiete der Multimodalitätsforschung (siehe Jewitt 2014) und der Sozialsemiotik (z. B. van Leeuwen 2005), die sich beide hauptsächlich mit dem kommunikativen (oder rhetorischen) Zusammenspiel verschiedener semiotischer Systeme befassen; dazu gehört beispielsweise das Zusammenspiel zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sowie zwischen Sprache und Bild. Die Studie von Zdenek (2015) über Untertitel bietet eine sehr nützliche Grundlage für meine eigene Forschungsagenda; Zdenek bietet ein reichhaltiges profession mapping, basierend unter anderem auf einer Sichtung von Stilrichtli‐ nien, Interviews mit zehn professionellen Untertitler: innen und seinen eigenen empirischen Analysen. Eine dieser Analysen untersucht die Darstellung eines einzigen nichtsprachlichen Geräuschs in einer Zeichentrickserie über einen Zeitraum von neun Jahren. Zdenek vertritt die Ansicht, dass die Untertitelung von solchen nicht-sprachlichen Geräuschen, die oft mehrdeutig und immer kommunikativ komplex sind, ein inhärent oder unvermeidlich subjektiver, kreativer Prozess ist. Obwohl ich diese Sichtweise akzeptiere und respektiere, bin ich dennoch der Meinung, dass Untertitelung die analytische und kritische Aufmerksamkeit der soziokulturellen Linguistik verdient. Insbesondere inter‐ essiert mich, wie Untertitler: innen mit Lautäusserungen und paralinguistischem Verhalten umgehen - ein durch und durch multimodaler Untersuchungsgegen‐ stand. Die soziokulturelle Linguistik schenkt dem Thema Lautäusserung als wichtige kommunikative und interaktionale Ressource meist nur sporadisch Aufmerksamkeit, in der Regel mit Bezug auf Goffmans (1981) Diskussion zu response cries.  7 In dieser Hinsicht gibt es sicherlich noch viel zu tun; vielleicht können uns Untertitler: innen dabei helfen. Basierend auf seiner eigenen inhaltsanalytischen Studie identifiziert Zdenek (2015: 39) mithilfe von Beispielen die häufigsten Arten nicht-sprachlicher Informationen, die untertitelt werden: Sprachkennzeichnungen wie [SPRICHT FRANZÖSISCH] oder [SPRICHT IN EINER FREMDSPRACHE]; Transkription von Geräuscheffekten wie [FLUGZEUG IM HINTERGRUND]; von Parasprachlichem wie in [DIE MENGE SCHREIT] oder [KNURRT ALARMIERT]; Markierungen der Sprechweise wie [FLÜSTERT] oder [SCHLUCHZT]; Beschreibungen von Musik 167 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="168"?> wie in [BELEBTE MELODIE DAUERT AN] oder einfach nur [♪ ♪ ♪]; und Beschrei‐ bungen des Kanals wie in [ÜBER FUNK]. Bei jeder dieser Kategorien müssen die Untertitler: innen auch eine Reihe von differenzierten Entscheidungen treffen; zum Beispiel können sie Verbformen verwenden, um parasprachliche Hand‐ lungen zu unterscheiden, die entweder abgeschlossen [LACHT] oder anhaltend [LACHEND] sind. In ähnlicher Weise können Untertitler: innen entscheiden, ob sie adverbiale Qualifikationen einfügen, wie beispielsweise [ATMET LAUT AUS] oder [KICHERT LEISE]. Es können auch mehrere Beschreibungen kombiniert werden, wie zum Beispiel [MANN SINGT IN EINER FREMDSPRACHE IM RADIO]. Bemerkenswert ist, dass dieses System zur Kennzeichnung von nichtsprachli‐ chen Informationen nicht standardisiert oder streng geregelt ist; daher gibt es Unterschiede von Film zu Film, von Person zu Person und im Laufe der Zeit sogar innerhalb der Arbeit einer einzelnen Person. Wie bereits gesagt sieht Zdenek diese Variabilität nicht unbedingt als etwas Schlechtes an, denn sie zeigt, wie Untertitler: innen jeden Film kreativ angehen. Sie lenkt jedoch etwas von den soziolinguistischen und ideologischen Implikationen dieser kleinen Texte ab. Dies gilt insbesondere, wenn man das Ausmass ihrer Reichweite bedenkt, ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung in Bezug auf Inklusion. Die wohl dominanteste semiotische Ideologie, die Untertitelung prägt, ist ein mit ihr verbundener Logozentrismus. Nun ist der Logozentrismus in der Geschichte der Sprachreflexion - und auch der Sprachwissenschaft - generell von grosser Bedeutung; auch die soziokulturelle Linguistik war nicht frei davon, wie man am erst relativ rezenten Aufkommen multimodaler Analysen und der jüngsten Hinwendung zu verkörperlichten Praktiken - etwa im Rahmen einer embodied sociolinguistics (siehe Bucholtz/ Hall 2014) - sehen kann. Im Falle der Untertitelung sieht Zdenek (2005) Logozentrismus vor allem in den Praktiken des undercaptioning (wenn Sprachlaute gegenüber Nicht-Sprachlauten privile‐ giert werden) und des overcaptionings (wenn undeutliche, nicht-expositorische Sprache trotzdem untertitelt wird) am Werk. In beiden Fällen wird die gespro‐ chene Sprache des Films gegenüber dem allgemeinen akustischen Kontext des Films übermässig hervorgehoben. Ich denke, dass es weitere interessante ideologische Momente gibt, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden; in diese Richtung wird meine eigene, zukünftige Arbeit gehen. Nachfolgend liste ich einige der meiner Meinung nach am meisten versprechenden soziolinguis‐ tischen und multimodalen Ansätze auf. • Die Entscheidung, ob und wie andere Sprachen identifiziert werden, ist eindeutig eine sprachideologische. In den Beispielen oben sehen wir, dass manchmal eine spezifische Sprache signalisiert wird, wie im Fall von [SPRICHT FRANZÖSISCH], in anderen Fällen jedoch nicht, wie bei [SPRICHT 168 Crispin Thurlow <?page no="169"?> IN EINER FREMDSPRACHE]. Dies tritt öfters bei Untertitelungen auf, ebenso häufig sind Übersetzungen, die von geringer Qualität sind. Dabei wird immer von einem bevorzugten oder privilegierten anglophonen Publikum ausgegangen, das keinen Zugang zur ‚fremden‘ Sprache hat. • Auch im streng linguistischen Sinne ergibt sich ein weiterer, potenziell ergiebiger soziolinguistischer Untersuchungsstrang rund um die höchst subjektive und oft höchst fragwürdige Untertitelung von Akzenten, Dia‐ lekten und Non-Standard. Die Ausklammerung oder Vereinfachung sozio‐ linguistischer Variation und unterschiedlicher Stile ist etwas, das auch in der Synchronisation häufig vorkommt (Antonini 2008). • Was nonverbale, multimodale Aspekte betrifft, so bedeutet die Abwägung zwischen technischen Restriktionen (Raum und Zeit) und der Authentizität von Sprache/ Ton, dass Rückmeldesignale oft reduziert oder weggelassen werden; auch dies variiert in der Praxis (Zdenek 2015: 268). Als Sozio‐ linguist: innen wissen wir jedoch, wie essenziell diese kommunikativen Formen für das Interaktionsmanagement sind (z. B. White 1989). • Zdenek (2015) weist auf den äusserst variablen Gebrauch der nicht-sprach‐ lichen Laute [GRUNT] und [SCREAM] hin, die als Auffangbecken für eine Reihe verschiedener Reaktionen bzw. response cries bezüglich Schmerz, Schreien, Anstrengung, Stöhnen und Hecheln zu fungieren scheinen. Goffman (1981) zeigt uns nicht nur, wie wichtig diese nonverbalen Aus‐ drücke in menschlicher Interaktion sind, sondern auch, wie nuanciert und unterschiedlich response cries sind. Diese exemplarisch ‚kleinen Texte‘, bestehend aus einem einzigen Wort, sind höchstwahrscheinlich stark simp‐ lifizierende Reduktionismen. • Während meines eigenen Konsums von Filmen und Fernsehsendungen ist mir ebenfalls die vereinfachende Darstellung von [SCOFF] und [SIGH] als zwei interaktional und semiotisch aufgeladene response cries aufgefallen. Diese emotionalen ‚verbalen Ausbrüche‘ werden weder einheitlich produ‐ ziert noch sind sie einfach zu interpretieren; dies zeigen Alan Cowen und Kolleg: innen (Cowen et al. 2019) eindrucksvoll in der folgenden ausserge‐ wöhnlichen Online-Ressource: https: / / s3-us-west-1.amazonaws.com/ vocs/ map.html • In seinem umfassenden Überblick weist Zdenek (2015) auf eine Reihe weiterer interessanter parasprachlicher, nichtsprachlicher und/ oder klang‐ licher Entscheidungen hin: Stille, anhaltende/ abgeschlossene Laute und Lautmalerei. Er betrachtet auch andere grafische und textliche Gestaltungs‐ merkmale wie Interpunktion, Ellipsen und Layout (die Positionierung von 169 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="170"?> Untertiteln auf dem Bildschirm) - alles Dinge, die es wert wären, genauer betrachtet zu werden. • Aus ausdrücklich multimodaler Perspektive interessiert mich selbst ins‐ besondere die Untertitelung wichtiger parasprachlicher Details wie Laut‐ stärke, Tonhöhe, Intonation, Zögern und Tempo oder Rhythmus. Diese Aspekte sind alle wichtig für die Konstruktion eines bestimmten Stils, für high performance (vgl. Coupland 2007), und sind insbesondere in Parodien oder anderen Formen des reflexiven Sprachspiels von zentraler Bedeutung. In diesem Zusammenhang fällt mir zum Beispiel auf, dass in den Untertiteln von RuPaul’s Drag Race einige ihrer berühmten Sprüche in der Transmo‐ dalisierung völlig verloren gehen. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die prosodisch gestaffelte Ermahnung gegen Ende jeder Show: And. Don’t. Fuck. It. Up! Indem die Untertitel dies einfach als And don't fuck it up wiedergeben, wird die parasprachliche Nuance von RuPauls dramatisch-spielerischer Sprachperformance grafisch gelöscht; auf diese Weise wird auch die Poetik und Politik des Camp ausgelöscht (für das Konzept des Camp als subversiver Stil und soziale Praxis siehe Meyer 1994). Diese scheinbar technische Entscheidung ist deshalb auch eine kulturell und ideologisch bedeutsame. Wie bereits erwähnt sind meine eigenen Überlegungen zur Untertitelung nur vorläufig und somit tentativ. Mein Interesse begründet sich darin, dass diese ‚kleinen Texte‘ nicht nur im räumlichen Sinne klein sind, sondern dass sie auch von der Allgemeinheit regelmässig als unbedeutend betrachtet werden - wenn sie denn überhaupt wahrgenommen werden. Es handelt sich klar um Textarbeit, in die kaum jemand finanziell investieren will, sodass Unternehmen zuneh‐ mend nach maschinell generierten Möglichkeiten zur Untertitelung suchen. Automatische Spracherkennung ist bekanntermassen stark begrenzt, wenn es um die komplexen Transmodalisierungen geht, die für Untertitel erforderlich sind (Butler 2019). All dies hat aber materielle Folgen für die wordsmiths, die sorgfältig und gekonnt Untertitel erstellen, die zugänglich und rhetorisch nuanciert sind. Dies bringt mich zu einigen kurzen Überlegungen zu den symbolischen Ökonomien (und den semiotischen Ideologien) von Spracharbeit im Allgemeinen. 5 Ökonomien und Ideologien der Spracharbeit Wie zu Beginn dieses Kapitels angedeutet, besteht eines der zentralen Anliegen meiner derzeitigen Forschung darin, Bereiche der Spracharbeit und Sprachex‐ pertise aufzudecken, die in der Soziolinguistik und der angewandten Linguistik bisher vollständig oder weitgehend übersehen worden sind. In meinen Überle‐ 170 Crispin Thurlow <?page no="171"?> gungen zur ‚Sprache im Film‘ habe ich denn auch begonnen, mich auf einige der ‚kleinen Texte‘ zu konzentrieren, die von Untertitler: innen und Fachleuten in der Audiodeskription produziert werden. Was mir an der Arbeit dieser besonderen wordsmiths auffällt - und dies scheint auf Spracharbeit im Allgemeineren zuzutreffen - ist, dass sie generell kulturelle Diskurse über Sprache an sich ans Licht bringen. In Thurlow (2020a) schlage ich vor, dass die Art und Weise, wie Spracharbeit bewertet wird, damit zu tun haben könnte, wie Sprache selbst eingeschätzt und oft allgemein (ent)wertet wird. Dabei geht es nicht einfach um Werturteile über bestimmte Sprachen oder bestimmte Arten des Sprachgebrauchs, sondern vielmehr um Sprache an sich. Wie Wörter gegenüber anderen Kommunikationsmodi bewertet werden, hat eindeutig mit semiotischen Ideologien zu tun. In Anlehnung an Keane (2003; siehe auch Spitzmüller 2015) meine ich hiermit tief verwurzelte, kul‐ turelle Überzeugungen darüber, wie Bedeutungszuweisung funktioniert und insbesondere Überzeugungen zum unterschiedlichen Wert, der verschiedenen Kommunikationsmodi beigemessen wird - wie dem vermeintlich grösseren Realismus von Bildern oder der ‚grammatikalischeren‘ Natur und Raffinesse von Sprache. In dieser Hinsicht legt die Arbeit von Synchronsprecher: innen nahe, dass die Stimme unweigerlich ‚nur‘ als Vehikel für den Körper behandelt wird, der als irgendwie realer oder valider angesehen wird. Auf diese Weise wird Sprache - insbesondere die gesprochene Sprache - abgewertet. Ungeachtet ihrer beeindruckenden sprachlichen Leistungen sind Synchronsprecher: innen lediglich dazu da, die Worte anderer zu (re-)animieren (vgl. Goffman 1981). Dies scheint die Hegemonie des geschriebenen Wortes zu sein: Gesprochene Sprache ist einfach weniger wert als Schrift. Das ist zumindest teilweise der Grund, weshalb Dramatiker: innen und Komponist: innen (beides Textproduzierende) so oft mehr Status und Ruhm zugestanden wird als Schauspieler: innen und Musiker: innen (beides Textnutzende). Es ist sicherlich kein Zufall, dass die zwei ersteren, höherrangigen Positionen in der Regel besser bezahlt werden und unverhältnismässig oft von Männern besetzt sind, selbst in Bereichen, in denen die Darstellenden überwiegend Frauen sind. Es ist also nicht Sprache an sich, die zwangsläufig abgewertet wird, sondern bestimmte Modi der Sprache. Es scheint, dass Spracharbeit umso wertvoller ist, je mehr sie sich dem Text und dem geschriebenen Wort nähert. Wenn auch nicht immer. Für viele wordsmiths scheint es tatsächlich die Gesprochenheit ihrer Wort-Ar‐ beit zu sein, die sie sowohl unsichtbar als auch vulnerabel macht; dies ver‐ bindet die Arbeit (wenn auch nicht die Arbeitsbedingungen) von Synchronspre‐ cher: innen und Dialektcoaches mit der von Callcenter-Agent: innen. In ihrer Arbeit über politische Redenschreiber: innen stellt Gwynne Mapes (eingereicht) 171 Spracharbeit im Filmgeschäft <?page no="172"?> jedoch fest, dass es sich hier um Autor: innen von Texten handelt, die sich bewusst hinter den hochrangigen Animateur: innen (vgl. Goffman 1981) ihrer Texte verbergen. In diesem Fall wird die Arbeit von Redenschreiber: innen, die sonst hinter den Kulissen stattfindet, nachträglich und stellvertretend in den Vordergrund gerückt. Der sonst hegemoniale Status des geschriebenen Wortes gilt nicht ohne Weiteres für die relativ unsichtbaren Texte, die von Übersetzer: innen und Untertitler: innen produziert werden. Hier finden wir eine Welt von Texten, die, so mächtig oder einflussreich sie auch sein mögen, weitgehend unbeachtet und abgewertet bleiben. In diesem Fall scheint es also auf die Kleinheit oder Geringfügigkeit der Texte anzukommen. Denn diese Texte sind klein in Bezug auf ihren Umfang, ihre Prominenz und den Status ihrer Produktion. Spracharbeiter: in? Wordsmith? Wie Alexandre Duchêne (2020) argumentiert, sind diese Bezeichnungen letztendlich weniger wichtig als die besonderen Umstände oder Bedingungen der Arbeit selbst. Offensichtlich gibt es sehr unter‐ schiedliche Arten von wordsmiths mit sehr unterschiedlichen Arbeitspraktiken und auch Arbeitsbedingungen. Wie alle Spracharbeiter: innen sind auch words‐ miths unweigerlich in den breiteren sprachlichen Markt verstrickt; sie werden - auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Masse - aufgrund ihrer besonderen Sprachkenntnisse und ihres sprachlichen Fachwissens ausgebeutet. Auch wenn Sprache zunehmend im Mittelpunkt des heutigen Wirtschaftslebens steht, sind Worte - entgegen dem Titel der bekannten Abhandlung von Judith Irvine (1989) - offenbar ziemlich billig. Das gilt für die Worte der einen mehr als für die Worte der anderen. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass es sich, generell betrachtet, nicht immer lohnt, mit Sprache zu arbeiten. Vielleicht gehören wir als Akademiker: innen zu den Glückspilzen unter den Spracharbeiter: innen und wordsmiths? Danksagung Dieses Kapitel entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts, das zu einem Grossteil vom Schweizerischen Nationalfonds (100015_192299) gefördert wurde, mit dem Titel Elite Creativities: Engaging the Language Work of Profes‐ sional Wordsmiths (www.crispinthurlow.net/ elite-creativities). Ich danke Lara Portmann für unsere produktiven Diskussionen über ‚kleine Texte‘. Zudem hat Lara, zusammen mit Jürgen Spitzmüller, die Übersetzung dieses Kapitels ins Deutsche übernommen - ein wahres Geschenk. (Auch Christa Dürscheid wird die besondere Poesie dieses Moments zu schätzen wissen.) Ausserdem bin ich Nicolas Rötlisberger dankbar, der einige sehr nützliche Vorabinformationen zu 172 Crispin Thurlow <?page no="173"?> Untertiteln zusammengestellt hat. Auch Ursula Kluwick hat in entscheidenden Momenten grosszügig und geschickt mitgeholfen. Schliesslich möchte ich den Herausgeber: innen Sarah Brommer, Kersten Roth und Jürgen Spitzmüller für die geduldige Unterstützung danken. Literatur Agar, Michael (1995). Language shock: Understanding the culture of conversation. New York: William Morrow. Antonini, Rachele (2008). The perception of dubbese: An Italian study. In: Chiaro, Delia/ Heiss, Christine/ Bucaria, Chiara (Hrsg.). Between text and image: Updating research in screen translation. Amsterdam: John Benjamins, 135-147. Basnett, Susan (2014). Translation. London: Routledge. Baudrillard, Jean (1994[1981]). Simulacra and Simulation [Übers. S. Glaser]. 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Design als symbolische Form Und ihr Zusammenspiel mit Sprache Ulrich Schmitz (Universität Duisburg-Essen) Abstract: Design wird als eine symbolische Form im Sinne von Ernst Cassirer begriffen und mit anderen symbolischen Formen verglichen und kontrastiert, insbesondere auch mit Kunst und Technik. Anschließend wird an Beispielen (Sachbuch und Auto-Cockpit) herausgearbeitet, wie Design und (Schrift-)Sprache sich die Gestaltungsarbeit eines komplexen Sinnganzen teilen, wenn sie als zwei unterschiedliche symbolische Formen aufeinander treffen. 1 Symbolische Formen In diesem Beitrag wird Design als eine symbolische Form im Sinne von Ernst Cassirer begriffen. Dabei geht es nicht so sehr darum, Cassirers offener Liste symbolischer Formen ein weiteres Element hinzuzufügen. Vielmehr soll vor allem erkundet werden, ob Cassirers Überlegungen helfen, das, was alltäglich unter ,Design‘ verstanden wird, theoretisch besser zu erfassen. Außerdem soll an Beispielen herausgearbeitet werden, was geschieht, wenn Design und (Schrift-)Sprache als zwei symbolische Formen aufeinandertreffen. Ernst Cassirer war einer der bedeutendsten Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine vielfältigen Interessen und seine stupende Belesenheit gipfelten, neben zahlreichen anderen Veröffentlichungen, in seiner Philosophie der symbolischen Formen. 1 Das gleichnamige Werk erschien 1923-1929 in Berlin und wurde durch viele frühere Vorträge und Veröffentlichungen vorbe‐ reitet sowie durch spätere Aufsätze und Bücher ergänzt. Die fortschreitende Entwicklung seines Denkens spielt für die folgenden Überlegungen keine <?page no="178"?> Rolle, so dass Publikationen aus verschiedenen Phasen seiner Arbeit an „einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen“ (Cassirer 1953: V) her‐ angezogen werden können. Diese Theorie will „eine Phaenomenologie der Erkenntnis“ sein (Cassirer 1956c: 208) und zugleich auch als „,Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie‘“ gelten (ebd.: 229). Als Erkenntnis wird dabei verstanden „jede geistige Tätigkeit, in der wir uns eine ,Welt‘ in ihrer charak‐ teristischen Gestaltung, in ihrer Ordnung und in ihrem ,So-Sein‘, aufbauen.“ (ebd.). Es gibt „verschiedene ,Dimensionen‘ des Erfassens, des Verstehens, des Denkens der Phaenomene“ (ebd.). Eine symbolische Form ist ein „Prinzip geistiger Gestaltung“ (Cassirer 1953: 10). Verschiedene symbolische Formen „drücken verschiedene Richtungen der geistigen Formung aus“ (Cassirer 1954b: 66). Solche Prinzipien sind not‐ wendig, damit in dem zeit-unterworfenen, prozess-gebundenen menschlichen Bewusstsein „ein allgemeiner Gehalt, eine geistige ,Bedeutung‘ sichtbar wird“ (Cassirer 1956b: 177): „aus dem bloßen Werden soll sich ein Gebilde, eine Gestalt, ein ,Eidos‘ losringen“ (ebd.). Man denke etwa daran, wie Kinder beim Spracherwerb Wortbedeutungen lernen; so lernen sie nach und nach, mit der symbolischen Form Sprache umzugehen. „Unter einer ,symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“ (Cassirer 1956b: 175) Und weiter: „Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklich‐ keit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und lebendiger Kraft.“ (Cassirer 1956b: 175 f.) Keineswegs spiegelt unser Bewusstsein eine objektive Wirklichkeit außerhalb unseres Bewusstseins eins zu eins wider; das wäre unmöglich allein schon aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Praxen (vgl. Recki 2003). Vielmehr durchdringt unser Bewusstsein „jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks“ (Cassirer 1956b: 175). So gibt es verschiedene symbolische Formen, neben Sprache etwa Mythos, Kunst und Wissenschaft. Beispielsweise werden Raum und Zeit im Mythos, in der Kunst und in der Relativitätstheorie jeweils völlig anders konzipiert (Cassirer 1957: 118 f.; vgl. Cassirer 1953: 30). In jeder einzelnen symbolischen Form „drückt sich je eine spezifisch eigene Art der Auffassung“ (Cassirer 2011: 21) und damit eine spezifische Produktivität des menschlichen Geistes aus. 2 Kritik an Cassirer Man könnte sich wundern oder auch bewundern, wie Cassirer die radikalen Kulturbrüche und politischen Katastrophen seiner Zeit persönlich aushält und 178 Ulrich Schmitz <?page no="179"?> 2 Dazu Toni Cassirer 1981. Im Vergleich mit den Zeitgenossen Walter Benjamin, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein: Eilenberger 2018. 3 „man hat Cassirer früh die unbestimmte Weite und freie Handhabung seines Symbol‐ begriffs vorgeworfen“ (Orth 1988: 45; vgl. ebd. 45 ff. und Orth 1985). 4 Leider kannte Cassirer Peirce nicht (wenn man von einer winzigen Nebenbemerkung bei Cassirer (1907: 5) absieht). Cassirers Drei-Stufen-Lehre der Formwerte (erst mimisch, dann analogisch, schließlich symbolisch; Cassirer 1953: 139-148; 1956b: 178-182) sowie die Unterscheidung dreier Symbolfunktionen (Ausdruck, Darstellung und Bedeutung; z. B. Cassirer 1954b: 67-118) könnten durchaus produktiv mit dessen triadischer Begrifflichkeit (Firstness, Secondness, Thirdness: z. B. Peirce 1985) konfrontiert werden. sich unbeirrt um „eine Rekonstruktion der systematischen Philosophie mit neuen Mitteln“ (Krois 1988: 18) bemüht. Biographische Hintergründe und persönliche Charaktereigenschaften 2 dürften durchaus auch Grundzüge philo‐ sophischer Werke mit prägen. Während etwa der unglückliche Außenseiter Ludwig Wittgenstein eine traditionskritische und antisystematische Philoso‐ phie mannigfaltiger Sprachspiele aphoristisch entfaltet, bemüht sich ganz im Gegensatz dazu der großbürgerliche Professor Cassirer in der Nachfolge Kants zeitlebens um ein kohärentes philosophisches System, gerade auch wenn es ihm dabei um eine „Philosophie des Plurals“ (Paetzold 1995: 44) geht. Dafür nimmt er teils wenig präzise und/ oder mehrdeutige Begriffe in Kauf. 3 Oft sagt Cassirer Gleiches in ähnlichen Worten. Wer ihm nicht gut gesinnt ist, könnte daraus ableiten, dass er nicht präzise genug denkt und deshalb eine strikt festgelegte Terminologie vermeidet. 4 In dieser Sichtweise scheinen andere Passagen - aus dem Kontext gerissen - dann mit hehren Worten eher banale Sachverhalte zu beschreiben. Zum Beispiel: Und so ist es überall die Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaos der sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestalt anzunehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeiner Richtung der Zeichengebung, bildend gegenübertreten, gewinnt er für uns Form und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darin überein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt, in keinem Zuge mehr dem bloßen Material gleicht, von dem sie anfänglich ausgegangen waren. (Cassirer 1953: 43) In ähnlicher Weise, nur etwas anders formuliert, finden wir diesen Gedanken an vielen Stellen in Cassirers Werk. In einfacher Sprache formuliert würde er etwa so lauten: 179 Design als symbolische Form <?page no="180"?> 5 Es wäre interessant zu erfahren, wie Cassirer auf Leroi-Gourhans (1980) Darstellung der Evolution von Technik, Sprache und Kunst reagiert hätte. 6 Außer im Band 2 zum mythischen Denken (Cassirer 1954b), wo er besonders viel Material aus Aby Warburgs Kulturwissenschaftlicher Bibliothek verwerten konnte. - Das methodische Dilemma zwischen gesuchtem einheitlichen ideellen Zusammenhang („in sich geschlossener Kosmos“) und rein empirischem Verfahren diskutiert Cassirer (1953: 15-17). 7 In Seminaren über Cassirer ist das oft die erste Frage der Studierenden. Auch Gadamer (1986: 72) weist darauf hin: „Denn Sprache steht nicht neben Kunst und Recht und Religion, sondern stellt das tragende Medium für alle diese Erscheinungen dar.“ 8 Anders allerdings 1946 in der Analyse des politischen Mythus im 20. Jahrhundert (Cassirer 2002). Durch unsere Sinne nehmen wir eine unüberschaubare Fülle vielfältiger und vergäng‐ licher Eindrücke wahr. Unser Denken bildet sie nicht eins zu eins ab. Vielmehr nehmen sie erst durch Zeichenbildung in geistiger Arbeit eine feste Gestalt für uns an. Dafür gibt es unterschiedliche Prinzipien, die ich symbolische Formen nenne. Dazu zählen Sprache, Kunst, Mythos und Wissenschaft. Eben in der Beschreibung der unterschiedlichen Leistung der verschiedenen symbolischen Formen liegt Cassirers Bedeutung. Aus der Sicht heutiger Kultur‐ wissenschaften könnte man ihm vorwerfen, dass er für eine derart anspruchs‐ volle Untersuchung menschlicher Kultur womöglich zu philosophisch, zu uni‐ versalistisch, zu ahistorisch 5 und oft zu wenig empirisch vorgeht. 6 Außerdem ist fragwürdig, wieso Sprache hierarchisch auf der gleichen Stufe stehen soll wie die anderen symbolischen Formen, wo doch die meisten von ihnen auf Sprache angewiesen sind, nicht aber umgekehrt. 7 Und schließlich kann man seine idealistische Grundhaltung kritisieren, welche geistige Gestaltung recht freischwebend von einem nicht näher bestimmten allgemeinen Subjekt her konzipiert, das heißt: weitgehend ohne materielle, ökonomische und gesell‐ schaftliche Bedingungen zu berücksichtigen. 8 Gleichermaßen werden - ähnlich wie bei Kant, doch anders als zum Beispiel bei Humboldt - die Rolle von Interaktion, Kommunikation, Gespräch kaum berücksichtigt. Hier schließt Bourdieu an. Pierre Bourdieu hat sich intensiv mit Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ auseinandergesetzt. Dabei hat er, wie Magerski (2005: 114) zusammenfassend schreibt, eine Bewegung „von einer Universalisierung hin zu einer Historisierung der symbolischen Formen“ voll‐ zogen und deren Wechselwirkung mit sozialen Formen thematisiert. Der Titel „Zur Soziologie der symbolischen Formen“ für eine Sammlung ins Deutsche übersetzter Aufsätze von Bourdieu (1970) suggeriert, Bourdieu hätte eben eine solche Soziologie verfasst. Allerdings kommt weder der Name Cassirer noch dessen zentraler Begriff in diesen Aufsätzen vor, auch wenn man einige 180 Ulrich Schmitz <?page no="181"?> 9 Z. B. Bourdieu 1998, 1999. 10 Für den Wissenschaftsbetrieb tut das Ludwik Fleck als Pionier. Er scheint sich auf Cassirer zu beziehen, wenn er in den 1930er Jahren schreibt, Denkstile bestünden aus einer bestimmten Stimmung und der sie realisierenden Ausführung: „Eine Stimmung hat zwei eng zusammenhängende Seiten: sie ist Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln. Sie schafft die ihr adäquaten Ausdrücke: Religion, Wissenschaft, Kunst, Sitte, Krieg usw., je nach der Prävalenz gewisser kollektiver Motive und der angewandten kollektiven Mittel.“ (Fleck 1980: 130) 11 „Zahllose Welten, durch Gebrauch von Symbolen aus dem Nichts erzeugt - so könnte ein Satiriker einige Hauptthemen im Werk Ernst Cassirers zusammenfassen.“ So beginnt Goodman (1984: 13) sein analytisches Buch über „Weisen der Welterzeugung“. 12 Das scheint mir - ich bin mir der Anmaßung bewusst - plausibler als Panofskys (1927) Vorschlag, Perspektive als symbolische Form aufzufassen. Perspektive ist zwar ein Darstellungsmittel der Kunst, nicht aber wie jene eine „echte geistige Grundfunktion“ (Cassirer 1953: 9). Gedanken darin (und auch in anderen Schriften Bourdieus) als fundierte Anre‐ gungen zu einer Geschichte und Soziologie der symbolischen Formen Kunst, Religion und Erkenntnis lesen kann. In dieser Linie und im Anschluss an andere Schriften von Bourdieu 9 wäre es durchaus produktiv und sinnvoll, Cassirers vorwiegend philosophisch erfasste symbolische Formen intensiver aus den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen der beteiligten Akteure heraus und entsprechend in ihrem historischen Wandel zu betrachten. 10 In den folgenden Abschnitten können wir nur einige wenige Aspekte dazu beitragen. 3 Design als symbolische Form Anfangs ging es in Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ nur um Kunst, Erkenntnis/ Wissenschaft, Mythos, Religion und Sprache (Cassirer 1953: 9-17). Später hat er sie auf immer „neue Gebiete“ angewendet, zum Beispiel auf „ethische[] und rechtsphilosophische[] Probleme“ (Cassirer 1939: 7), aber auch auf Geschichte (Cassirer 1985: 262-314). In anderen Schriften werden Technik, Staat, Recht und Moral als symbolische Formen betrachtet, einmal Mathematik (Cassirer 1990: 329), an einer anderen Stelle (Cassirer 2011: 21) evtl. auch Architektur. Die Liste ist offen. 11 Im Folgenden wird Design als symbolische Form betrachtet. 12 Design nennen wir üblicherweise die gezielte Gestaltung (Prozess und Resultat) von Gebrauchsgegenständen und Kommunikationsprozessen. Dazu gehören (a) anfassbare Waren wie beispielsweise Autos, Kleidung und Elektro(nik)geräte, (b) ebenfalls anfassbare Verpackungen, (c) nur sichtbare Oberflächen wie Typographie und Layout (z. B. von Druckerzeugnissen 181 Design als symbolische Form <?page no="182"?> 13 Detailliert dazu der Klassiker: Kress/ van Leeuwen 2006. - Die einschlägige Fachzeit‐ schrift „Information Design Journal“ erscheint 2019 im 25. Jahrgang. 14 Schäffner (2010) erkennt auch in der aktuellen Entwicklung der Wissenschaften eine neue „Praktik der Gestaltung“ mit dem Ziel „eines neuen architektonischen Designs der Welt“ (ebd.: 36). Freilich werden auch mit Nanotechnologie (Schäffners Kronzeugin) uralte Beziehungen zwischen - mit Cassirers Begriffen - den symbolischen Formen Wissenschaft, Technik und neuerdings eben Design lediglich fortentwickelt. Denn seit Menschengedenken lockt die „Welt als Faktum […], im Spielraum des Unverwirklichten, durch das Faktische nicht Ausgefüllten, das originär Menschliche zu setzen, das authen‐ tisch ‚Neue‘ zu realisieren, aus dem Angewiesensein auf ‚Nachahmung der Natur‘ ins von der Natur Unbetretene hinaus vorzustoßen.“ (Blumenberg 1981b: 88) 15 In seiner „Kritik der Warenästhetik“ schreibt Haug (1971: 17): „Das ästhetische Ge‐ brauchswertversprechen der Ware wird zum Instrument für den Geldzweck.“ 16 Zeitgeschichtlich typisch ist der lesenswerte Eintrag in der elften Auflage der Encyclo‐ pædia Britannica. Er argumentiert von der Kunst her und begreift Design vor allem „as a guide for the execution of work“ (Lethaby 1910). Siebzig Jahre später in der 15. Auflage wird der Begriff weiter gefasst als „the process of developing plans or schemes of action“ (Encyclopædia Britannica 1979: 487). Im sechzehnbändigen Brockhaus von 1908 ist das Stichwort nicht aufgeführt. In der zwanzigsten Auflage 1997 wird es lediglich so erläutert: „formgerechte und funktionale Gestaltung, v. a. von Gebrauchsgegenständen (→Grafikdesign, →Industriedesign).“ Unter diesen beiden Verweisstichwörtern erfährt man in jeweils zwei Spalten etwas mehr, etwa dass der Begriff ,Grafikdesign‘ erstmals 1922 verwendet wurde. 17 Erst „in den beiden letzten Jahrzehnten nahm die Zahl der theoretischen Publikationen über Design und im Design rasant zu.“ (Brandes/ Erlhoff/ Schemmann 2009: 11). Vgl. Bürdek 2005, Erlhoff 2013 sowie die knappe Darstellung bei Schweppenhäuser 2016. Aktuelle Designforschung z. B. bei Erlhoff/ Jonas (Hrsg.) 2018. - In Friedrich Schillers letztem Brief zur ästhethischen Erziehung des Menschen (1795) finden sich einige Gedanken, die das, was wir heute Design nennen, auf eine frühe Emanzipation des Menschen von der Herrschaft des Stoffes zurückführen, Z. B.: „Sobald er überhaupt nur anfängt, dem Stoff die Gestalt vorzuziehen und an den Schein (den er aber dafür erkennen muß) Realität zu wagen, so ist sein tierischer Kreis aufgetan, und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet.“ (Schiller 1984: 223) 18 Aktuelle Entwicklungen im Design kann man beispielsweise hier verfolgen: <eyeon‐ design.aiga.org>, <printmag.com>. und Bildschirmseiten) 13 , außerdem (d) Erscheinungsformen von Institutionen (Marken, Slogans, public relations, corporate identity) und evtl. (e) ganze Lebensbereiche (life styles). 14 Design steht meistens im Dienste kommerzieller Interessen. 15 Trotz historischer Vorläufer ist Design im hier genannten Sinne erst im 20. Jahrhundert entstanden. 16 Folglich hat auch Designtheorie noch keine lange Tradition entwickelt. 17 Dabei wird nicht ohne Grund behauptet: „Design ist von der Disziplin zur Deutungsmacht geworden“ (Windgätter 2021). 18 Wieso nun kann Design als symbolische Form verstanden werden? Cassirer (2011: 22) zufolge besitzt der menschliche Geist die Kraft, „sich in sich selbst zu differenzieren. Er bildet für jedes neue Problem, das ihm hier entgegentritt, 182 Ulrich Schmitz <?page no="183"?> 19 „As a society becomes increasingly affluent, wants are increasingly created by the process by which they are satisfied.“ (Galbraith 1998: 129) 20 „Der Mythos drückt sich aus in der Modalität der Indifferenz: Die Unterscheidungen zwischen Schein und Wahrheit, Ich und Welt, Gruppe und Ich, Leben und Tod sind dem mythischen Denken noch fremd (PSF II, 47 ff.).“ (Paetzold 1995: 60) 21 „Design […] can be seen as deliberately creating oder increasing affordances for intended use and may, under the right conditions, also serve to communicate those intended uses.“ (Bateman/ Wildfeuer/ Hiippala 2017: 90 f.) 22 Das war wohl der Sinn des viel zitierten Gestaltungsgrundsatzes des Bauhauses: „Form follows function“ (Der Zweck bedingt die Form). Der Gedanke geht auf den amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough im 19. Jahrhundert zurück (vgl. Loran 1947). 23 Wo nur die erste erfüllt ist, kam nur Technik, nicht aber Design zum Zuge. Wo nur die zweite erfüllt wird, ist Design korrumpiert: In einer Besprechung von Ngai 2020 schreibt Dath 2020: „Viele Waren sind getarnter Müll, auch kulturelle.“ Kunstwissenschaftlich formuliert: Man spricht von ,Manier‘, wenn „die Form einer Handlung oder eines Gegenstandes auf Kosten ihrer Funktion in den Vordergrund tritt.“ (Bourdieu 1970: 60) eine neue Form der Auffassung aus.“ „Ein und dieselbe Grundfunktion, die Funktion des Symbolischen als solche, entfaltet sich in ihren verschiedenen Hauptrichtungen und schafft innerhalb derselben immer neue Gebilde.“ (ebd.: 29) „Je weiter die Kultur sich entwickelt und in je mehr Einzelgebiete sie sich auseinanderlegt, um so reicher und vielfältiger gestaltet sich diese Welt der Be‐ deutungen“ (ebd.: 79). So ist es kein Wunder, dass im Laufe der kulturellen Ent‐ wicklung auch neue symbolische Formen entstehen. Das „neue Problem“, das durch Design gelöst wird, ergibt sich aus der im 20. Jahrhundert immer weiter entfalteten Produktion von Waren und Dienstleistungen. Im entwickelten Kapitalismus werden viel mehr Waren produziert, als zur Lebenserhaltung notwendig wären. 19 Wenn und wo die Bevölkerung nicht mehr nennenswert wächst, ist das angestrebte Wachstum des Bruttosozialprodukts nur durch Steigerung der Bedürfnisse und Differenzierung des Warenangebots möglich. Die erwünschte Leistung von Design besteht darin, angebotene Erzeugnisse möglichst funktional und angenehm erscheinen zu lassen sowie zwischen Produkten mit ähnlichem oder gleichem Gebrauchswert jedenfalls äußerlich (stilistisch) zu differenzieren. Damit ist Design eine Modalität der Differenz, ganz im Gegensatz zum Mythos als Modalität der Indifferenz. 20 Dabei hat Design zwei Aufgaben zu erfüllen. Erstens soll der eigentliche Ge‐ brauchszweck des Produktes zusätzlich unterstützt werden. 21 Eine Zahnbürste etwa mit ergonomisch gestaltetem Kunststoffgriff gilt als besser als eine andere mit einfachem quaderförmigem Holzgriff. Zweitens soll das Produkt gefällig erscheinen. Eine farbige Zahnbürste gilt als hübscher als eine rein weiße. Je besser beide Aufgaben - Funktionalität und Gefälligkeit - zugleich gelöst werden, 22 desto besser ist das Design. 23 183 Design als symbolische Form <?page no="184"?> 24 „es ist ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können.“ (Cassirer 2002: 49) 25 Das Stichwort ,Raumdesign‘ erbringt (im Juni 2021) über eine halbe Million Ergebnisse in der Suchmaschine <google.de>, zumeist Geschäfte für Innenausstattung. Aber auch im Städtebau und bei der Planung öffentlicher Räume spielt Design eine wichtige Rolle (vgl. z. B. Havemann/ Selle 2010, Karow-Kluge 2010). 26 Sogar Mythus kann systematisch produziert werden, wie Cassirer angesichts des nationalsozialistischen Staates erfahren musste: „Mythus ist immer als das Ergebnis einer unbewußten Tätigkeit und als ein freies Produkt der Einbildungskraft bezeichnet worden. Aber hier finden wir Mythus planmäßig erzeugt“ (Cassirer 2002: 367). Und entsprechend wird im NS-Staat dessen gesamtes Erscheinungsbild planmäßig durch‐ designed (Koop 2017): ein Beispiel für das Zusammenspiel von Mythus und Design. 27 Vgl. die Theorie der unsichtbaren Hand (Keller 1990: 83-121). Die Gestaltung einer Zahnbürste, so könnte man einwenden, dürfte wohl auf einer viel banaleren Ebene liegen als etwa die Leistung von Sprache, Religion oder einer anderen symbolischen Form, die diesen Namen verdient hätte. Der Einwand verfängt freilich nicht. Denn die Zahnbürste ist nur ein Beispiel - auf gleicher Ebene wie das Exemplar einer Textsorte (für Sprache) oder ein bestimmter Segen im Gottesdienst (für Religion). Es geht nicht um einzelne Fälle, sondern darum, „das Problem des Zeichens […] in die konkrete Entfaltung und Ausgestaltung, die es in der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Kulturgebiete erfährt,“ zu verfolgen (Cassirer 1953: 41). Design ist eines dieser Kulturgebiete. Symbolische Formen können auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden. 24 Raum etwa kann mythisch, künstlerisch oder wissenschaftlich kon‐ zipiert werden. Der Designer hingegen hat eine andere Vorstellung von Raum: Er geht Raum als planmäßig gestaltbar bzw. gestaltet an. 25 Auch in Design - ähnlich wie in Sprache, Mythos, Kunst und Religion - „werden unsere Gefühle […] in ,Werke‘ umgewandelt“, die über den Augenblick hinaus bestehen bleiben (Cassirer 2002: 65) - nur dass das bei Design stets in einem geplanten technischen Akt geschieht. Und dies ist ein wesentlicher Unter‐ schied gegenüber allen anderen symbolischen Formen außer Technik. Die Mittel klassischer symbolischer Formen können zwar auch von Fall zu Fall zu einem bestimmten vorausgeplanten Zweck genutzt werden. 26 Normalerweise aber bilden und entwickeln sie sich hinter dem Rücken der Akteure unwillkürlich in einem historisch-gesellschaftlichen Prozess 27 ; und die Menschen bewegen sich in diesem kulturell überlieferten Milieu samt dessen emergenter Weiterent‐ wicklung so selbstverständlich und unreflektiert wie Fische im Wasser. (Daraus entsteht ja gerade das, was Elias (1939) und Bourdieu (1997) Habitus nennen.) Design hingegen versucht, symbolische Formung gezielt zu steuern und von Fall zu Fall planmäßig einzusetzen. Bewusst und/ oder unbewusst schließen De‐ signer dabei an die aktuellen Bewusstseinslagen an und nutzen sie für konkrete 184 Ulrich Schmitz <?page no="185"?> 28 Cassirer (2011: 32) weist auf den „Illusionscharakter“ aller geistigen Formen außerhalb „des bloß Logischen“ hin. 29 Charakeristischerweise heißt es auf einer Webseite über den legendären Designer Dieter Rams: „The Braun products, by retaining the same basic character through decades of change, appeal to an illusion that is extremely attractive right now. They offer the promise of rational solutions, the fantasy that things - things in the bathroom and the kitchen, at least - really can be brought under control.“ <https: / / 3oneseven.co m/ braun-dieter-rams> (15.6.2021) 30 Lassen wir Cassirer sprechen: Das mythische Bewußtsein „lebt im unmittelbaren Eindruck“; es hat „den Gegenstand nur, indem es von ihm überwältigt wird“; „hier gibt es nur die schlichte Ergriffenheit durch ihn.“ (Cassirer 1954a: 93 f.) „Wenn irgendetwas für den Mythos bezeichnend ist, dann die Tatsache, dass er ‚ohne Sinn und Verstand‘ ist.“ (Cassirer 1990: 116) „Das wirkliche Substrat des Mythos ist kein Gedanken-, sondern ein Gefühlssubstrat.“ (Ebd.: 129) 31 In seinen „Mythen des Alltags“ wollte Barthes (2010: 11) „dem ideologischen Mißbrauch auf die Spur kommen, der sich nach meinem Gefühl in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt.“ - Man denke auch an Horkheimer/ Adorno (1947: 41): „In der aufgeklärten Welt ist Mythologie in die Profanität eingegangen.“ 32 Dazu T. Habermas 1999. 33 Dazu Bourdieu 1982, 1998, 1999. 34 Detailliert dazu Lenger/ Schneickert/ Schumacher (2013) (Hrsg.) sowie Bourdieu 1997. Zwecke. Andere symbolische Formen (z. B. Sprache, Mythos) beruhen auf meist unbewusster konventioneller Anerkennung als Selbstverständlichkeit. Design bewährt sich im Kaufen und Gebrauchen. Dabei schafft Design, ideologisch flankiert von Imagewerbung, mit technischen Mitteln Mythos. Während zum Beispiel in der Physik Begriffe „freie ,Scheinbilder‘ [sind], die die Erkenntnis entwirft, um die Welt der sinnlichen Erfahrung zu beherrschen“ (Cassirer 1953: 17) 28 , übersetzt Design zweckmäßig erfundene „Scheinbilder“ in anschauliche materielle Realität und formt so die Welt der sinnlichen Erfahrung unmittelbar. Design ist handfeste Illusion. 29 Klassischer Mythos 30 wird vorwiegend sprachlich überliefert und unbewusst anerkannt. Im Design aber scheint er evident: Hier wird Mythos mit technischen Mitteln anschaulich gemacht und damit zugleich verborgen: 31 „Unsichtbares De‐ sign. Damit ist heute gemeint: das konventionelle Design, das seine Sozialfunk‐ tion selber nicht bemerkt“ (Burckhardt 1981: 20). Zu diesen Sozialfunktionen für die Konsumenten gehören einerseits Identitätsbildung 32 und andererseits Positionierung im sozialen Raum. 33 Wer (2021) Adidas-Sneakers trägt, inszeniert sich damit als körperlich fit, geistig jung und sozial am Puls der Zeit. Denn - wie Paetzold (1995: 67) Cassirer referiert - : „Schon beim ersten Eindruck eines Phänomens greifen die kulturellen symbolischen Formen ein.“ Insbesondere passen Design des Gegenstands und Habitus der Person zu‐ sammen; im täglichen Gebrauch spiegeln sie einander. Habitus 34 lässt sich 185 Design als symbolische Form <?page no="186"?> 35 Für Design vgl. etwa Brandes/ Erlhoff/ Schemmann 2009, Mareis 2011, 2016. Für Technik Kornwachs 2013, 2018; vgl. aber auch Blumenberg 1981a, 1981b, 2009. Für Kunst z. B. Henrich/ Iser 1982, Schneider 2011. ,Kunst‘ umfasst bei Cassirer alle „verschiedenen Künste“ (Cassirer 1990: 237) wie etwa bildende Kunst, Malerei, Musik, Dichtung etc. Bourdieu (1970: 143) zufolge „als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese.“ Dieses System individuell verinner‐ lichter kollektiver Dispositionen „drängt zu Entscheidungen, die der gegebenen sozialen Lage, aus der es hervorgegangen ist, im Vorhinein angepasst sind“ (Bourdieu 1982: 285). Als Denk- und Handlungsmuster, Haltung, Manieren, Sprech- und Verhaltensweisen, Vorlieben, Geschmack, Mode, Konsumverhalten sowie Wahrnehmungsschemata und für selbstverständlich gehaltene Überzeu‐ gungen (doxa) charakterisiert der Habitus Individuen als Angehörige ihrer Gruppen oder sozialer Klassen. Im „Raum der Lebensstile“ (Bourdieu 1982: 277) konkurrieren die Menschen um symbolisches Kapital, also um Prestige und Anerkennung in der Gesellschaft. Im Anschluss an Cassirer und Bourdieu kann man Design als diejenige symbolische Form auffassen, die im praktischen Vollzug Gebrauchsgegenstände und Kommunikationsprozesse gezielt gestalten lässt, sodass sie nicht nur technisch funktional, sondern auch sozial gefällig sind. Individueller Habitus kann dadurch sozial imprägniert werden. So entstehen Design-Gemeinschaften (analog Denkkollektiven in der Wissenschaft: Fleck 1980). Damit trägt Design unauffällig zur Integration und Stabilisierung einer Gesellschaft bei. 4 Design zwischen Kunst und Technik 4.1 Drei Praktiken Design, Technik und Kunst werden meist als Praktiken begriffen; ihre theo‐ retische oder wissenschaftliche Fundierung gilt als nachrangig oder heikel. Folglich ist die entsprechende wissenschaftliche Theoriebildung und Methodo‐ logie weniger entwickelt als etwa die für Reflexion über Sprache oder Natur. 35 Blumenberg (1981b: 64) sieht „ein Phänomen der ,Sprachlosigkeit‘ der Technik“, eine „Ohnmacht der Sprache“ gegenüber der Technik - so als könne (mit Cassirers Denkfigur) die eine symbolische Form nicht leicht von der anderen begriffen werden. Noch weniger gibt es eine ausgereifte Philosophie von Design. Dabei gilt für Design gleichermaßen wie für Sprache als symbolische Formen, „daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft“ (Cassirer 1956a: 79). Dennoch 186 Ulrich Schmitz <?page no="187"?> 36 Wie das ja beispielsweise auch im Fall von Sprache und Mythos bzw. Religion geläufig ist. (oder gerade deswegen? ) können diese beiden im selben Erzeugnis aufeinander einwirken und gemeinsam Sinn schaffen. 36 Das soll unten in Abschnitt 6 gezeigt werden. Mareis (2011: 11) weist darauf hin, dass mit der Etablierung von ,Design‘ als „einer autonomen Wissensdisziplin eine prekäre Demarkation verbunden ist. Das ‚soziale Feld‘ Design wird von den Feldern Kunst und Wissenschaft territorial abgegrenzt und mit eigenen Begriffen, Konzepten und Sprachregelungen versehen.“ Fasst man dabei jedoch Design als eine unter vielen symbolischen Formen im Sinne Cassirers auf, so können - denke ich -, „die komplexen, vielfach produktiven, historisch-dis‐ kursiven Interdependenzen“ (Mareis 2011: 12; vgl. ebd.: 285ff.) zwischen den Feldern theoretisch besser verstanden und in der Folge empirisch auch besser untersucht werden. Analoges dürfte für Kunst und Technik gelten. Design teilt manche Eigenschaften mit Kunst, andere mit Technik. Im Konzert aller symbolischen Formen hat es seinen Platz deshalb genau zwischen diesen beiden. Das soll in diesem Abschnitt 4 gezeigt werden. Danach wird Abschnitt 5 die Leistung von Design mit derjenigen anderer symbolischer Formen vergli‐ chen, während Abschnitt 6 erkundet, was geschieht, wenn Design mit einer weiter entfernten Form, nämlich Sprache, koaliert. 4.2 Kunst vs. Design Kunst ist zwecklos. „Die künstlerische Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr“ (Cassirer 1956b: 190). Im Vergleich zu üblicher Sinneswahrnehmung gilt: „Die ästhetische Erfahrung hingegen ist unvergleichlich viel reicher. Sie schließt unendliche Möglichkeiten in sich, die in der gewöhnlichen Sinneserfahrung unverwirklicht bleiben. In der Arbeit des Künstlers werden diese Möglichkeiten aktualisiert; sie werden freigesetzt und nehmen Gestalt an. Daß sie diese unerschöpfliche Vielfalt von Aspekten an den Dingen offenbart, gehört zu den zentralen Vorrechten der Kunst und macht ihren eigentlichen Zauber aus“ (Cassirer 1990: 223). Kunst gestaltet aber eben auch. Mit den Worten von Malraux (1987: 113 f.): „Wir werden inne, daß bildende Kunst niemals aus einer bestimmten Art entsteht, die Welt zu sehen, sondern sie zu gestalten.“ Doch anders als Kunst ist Design zweckorientiert und entsprechend interessengebunden. In der Arbeit des Designers werden nur solche Möglichkeiten aktualisiert, die einem bestimmten 187 Design als symbolische Form <?page no="188"?> Gebrauchszweck dienen. Design nutzt ästhetische Momente, um die übliche Sinneswahrnehmung auf diesen Zweck hin zu organisieren. Wie verhalten sich ästhetische und nicht-ästhetische Momente zueinander? Grundsätzlich erkennt Goodman (1995: 234) einen scharfen Unterschied zwi‐ schen beiden: „Dichte, Fülle und Exemplifikation sind also Erkennungszeichen für das Ästhetische; Artikuliertheit, Abschwächung und Denotation sind Erken‐ nungszeichen für das Nichtästhetische.“ Doch diese Klassifikation gilt weniger für ein jeweiliges Ganzes, sondern dient vielmehr der Identifikation dessen ästhetischer bzw. nicht-ästhetischer Aspekte. Wagenfelds Tischlampe beispiels‐ weise hat ästhetische Merkmale als formschöne Gestalt und nicht-ästhetische Merkmale als elektrischer Lichtspender. Die Verknüpfung von (ästhetischer) Gefälligkeit oder Schönheit mit (nicht-ästhetischer) Funktionalität ist die Auf‐ gabe von Design, die sie von allen anderen symbolischen Formen unterscheidet. Goodman (1995: 223) schreibt: „Die ästhetische ,Haltung‘ ist ruhelos, for‐ schend, erprobend - ist weniger Haltung als vielmehr Handlung: Schöpfung und Neuschöpfung.“ Das mag auch auf Design-Gestalter zutreffen, auf Design-Rezi‐ pienten normalerweise nicht. Im Gegensatz zu Kunst ist Design zum Ge- und Verbrauch geschaffen. 4.3 Technik vs. Design „Techne ist das, was durch menschliche Kunstfertigkeit in die Welt kommt“ ( Janich 2003: 76). „Technik ist alles,“ so zitiert Cassirer (1985: 45) zustimmend Max Eyth (1924: 1 f.), „was dem menschlichen Wollen eine körperliche Form gibt.“ Und weiter Cassirer: Technik als eine selbständige „Energie des Denkens“ (Cassirer 1985: 80) erblickt „das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen“ (ebd.: 81). „Denn die Wirklichkeit selbst erweist sich, unbeschadet ihrer strengen und unaufheblichen Gesetzlichkeit, nicht als ein schlechthin starres Dasein, sondern als ein modifizierbarer, als ein bildsamer Stoff. Ihre Gestalt ist nicht fertig und endgültig, sondern sie bietet dem Wollen und dem Tun des Menschen einen Spielraum von unübersehbarer Weite“ (Cassirer 1985: 67). „Technisches Schaffen aber bindet sich niemals an diese reine Faktizität, an das gegebene Gesicht der Gegenstände, sondern es steht unter dem Gesetz einer reinen Vorwegnahme, einer vorausschauenden Sicht, die in die Zukunft vorweggreift und eine neue Zukunft heraufführt“ (ebd.: 82). Dabei betont Cassirer, „wie fließend hier im konkreten Werden, in der Entstehung der technischen Formwelt und in der Entstehung der künstlerischen Form, die Übergänge sind“ (Cassirer 1985: 82 f.). Ähnliche Übergänge gibt es nicht nur zwischen Technik und Kunst, sondern erst recht auch zwischen Technik und Design. Denn beide gestalten materielle Formen, wobei Technik es 188 Ulrich Schmitz <?page no="189"?> 37 So deutet auch Blumenberg (1981b: 63) einen Dialog von Nikolaus von Cues aus dem Jahre 1450: „Die Formen von Löffeln, Töpfen, Tellern, die der ,Laie‘ herstellt, sind rein technische Formen, und es ist von der Freude über diesen Sachverhalt bis zu seiner Akzentuierung am Produkt selbst als Grundzug des modernen ,industrial design‘ kein Sprung mehr nötig.“ Doch „das ganze Pathos des schöpferisch-originären Menschen und der Bruch mit dem Nachahmungsprinzip“ tritt „beim technischen, nicht beim künstlerischen Menschen“ hervor (ebd.). auf zweckmäßige Funktionalität anlegt, Design aber auf gefällige Ergonomie - Kunst hingegen auf nichts dergleichen. 4.4 Technik - Design - Kunst In Technik ist Design von Anfang an bereits angelegt: Schon in die technische Herstellung von Gegenständen fließt Design ein. Technik geht es allerdings in erster Linie um nützlichen Gebrauchswert, während Design den Gebrauch und das Anschauen des Produkts auch schön machen soll. (Deswegen hat sich Design als eigenständige symbolische Form erst dort emanzipiert, wo eine Gesellschaft sich Luxus erlauben kann.) Künstlerische Erzeugnisse dagegen gehören einer anderen Sphäre an: Sie sind nicht praktisch. Deshalb gibt es einen fließenden Übergang zwischen Technik und Design, doch einen großen Unterschied zwischen Technik und Kunst. 37 Design steht in der Mitte zwischen Kunst und Technik. 5 Design im Vergleich mit anderen symbolischen Formen Wenn man Merkmale der symbolischen Form Design beschreiben will, kann man sich an Cassirers Kernsätzen zu anderen symbolischen Formen orientieren. Etwa: • „So wie die Sprache alles ausdrücken kann, das Niedrigste und das Höchste, so vermag die Kunst die gesamte Sphäre menschlicher Erfahrung und menschlichen Erlebens zu erfassen und zu durchdringen.“ (Cassirer 1990: 242 f.) Das trifft auch auf Design zu, wie man täglich beobachten kann, zum Beispiel an der Gestaltung eines Schmäh-Graffitis bzw. einer Gedenkstätte. • „In allen menschlichen Tätigkeiten und in allen Formen menschlicher Kultur finden wir eine ,Einheit in der Vielfalt‘. Kunst gibt uns eine Einheit der Intuition; Wissenschaft gibt uns eine Einheit des Denkens; Religion und 189 Design als symbolische Form <?page no="190"?> 38 Am Rande sei darauf hingewiesen, dass Ludwik Fleck 1935 den Unterschied zwischen Wissenschaft und Mythos in einer beiläufigen Bemerkung ganz anders (nämlich von seinem Denkstil-Begriff her) bestimmte: Wissenschaft suche ein Maximum passiver (unbewusst für selbstverständlich gehaltener) Wissenselemente „in ihr System aufzu‐ nehmen, ohne Rücksicht auf die Übersichtlichkeit; der Mythus enthält nur wenige solcher Elemente, aber künstlerisch komponiert“ (Fleck 1980: 125). Design, so könnte man diesen Gedanken weiterführen, strebt einen harmonischen Ausgleich unauffälliger (konservativer) und auffälliger (innovativer) Elemente an. Mythus geben uns eine Einheit des Fühlens“ (Cassirer 2002: 53). 38 Design gibt uns eine Einheit der Präsentation menschlicher Werke. • „Die Wissenschaft gibt uns Ordnung im Denken; die Moral gibt uns Ordnung im Handeln; die Kunst gibt uns Ordnung in der Auffassung der sichtbaren, greifbaren und hörbaren Erscheinungen“ (Cassirer 1990: 257). Design gibt uns Ordnung in den technisch erzeugten Erscheinungen. • Die Kunst „forscht nicht nach den Eigenschaften oder Ursachen der Dinge; sie gibt uns eine Anschauung von der Form der Dinge“ (Cassirer 1990: 221). Design hingegen gestaltet deren Formen. • „Das Kunstwerk läßt in einer durchaus eigenartigen, ihm allein vorbehal‐ tenen Weise ‚Gestalt‘ und ‚Ausdruck‘ ineinander übergehen“ (Cassirer 1985: 84). Design lässt in einer ebenfalls ihm allein vorbehaltenen Weise ‚Gestalt‘ und ‚Zweck‘ ineinander übergehen. • Wie für alle symbolischen Formen gilt auch für Kunst: „Sie ist nicht Nachah‐ mung, sondern Entdeckung von Wirklichkeit“ (Cassirer 1990: 220). Technik entdeckt Möglichkeiten in der Wirklichkeit und realisiert sie; Design entdeckt und schafft Zugänge (,Schnittstellen‘) zu technischen Prozessen. • „Sprache und Wissenschaft sind Abkürzungen der Wirklichkeit; Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit“ (Cassirer 1990: 221). Design ist Verbeque‐ mung von Wirklichkeit (making reality more comfortable). • Cassirer (1990: 121) zufolge ist Kunst (in den Worten Kants) „völlig gleich‐ gültig gegenüber dem Dasein oder Nichtsein ihres Gegenstandes“. Zum Mythos aber, so Cassirer weiter, gehört notwendig der „Glaube an die Wirklichkeit seines Gegenstandes“ (ebd.). Und Design? Für Design (und Technik) ist sein Gegenstand faktisch sichtbar. • „Der Mythos verbindet ein theoretisches mit einem künstlerisch-schöpfe‐ rischen Moment.“ (Cassirer 1990: 120) Das Design dagegen verbindet ein praktisches mit einem künstlerisch-schöpferischen Moment. • Laut Cassirer (1990: 134) „kann man das gesamte mythische Denken als beharrliche und hartnäckige Leugnung des Todes deuten.“ Könnte man dann nicht auch umgekehrt Designdenken und -praxis als beharrliche und hartnäckige Verherrlichung (ein Feiern) des aktiven Lebens deuten? 190 Ulrich Schmitz <?page no="191"?> 39 „Sehflächen sind Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsame Bedeutungseinheiten bilden.“ (Schmitz 2011a: 25) 40 Zu Typographie, Textdesign und graphischer Variation überhaupt ausführlich Spitz‐ müller 2013 mit umfassend weiterführender Literatur; außerdem z. B. Hagemann 2013, Spitzmüller 2016, Steinseifer 2013, Wachendorff 2019. 41 Blumenberg (1981c: 172) bemerkt: „Die Erprobung der Leistungsfähigkeit des Konzepts der symbolischen Formen hat Cassirer zum nicht-kanonisierten, zum exotischen, zum obskuren Material geführt.“ Für den genannten Zweck ist es gleichgültig, welche Beispiele man wählt. Sie sollten nur prägnant sein. 6 Sprache & Design 6.1 Form und Materie Mitten im Zweiten Weltkrieg und wenige Monate vor seinem Tode schreibt Cas‐ sirer (1990: 346) am Ende seines letzten Buches eine bemerkenswert euphorische Eloge auf Funktionen und Zusammenwirken der verschiedenen symbolischen Formen. Darin heißt es: „Alle diese Funktionen vervollständigen und ergänzen einander.“ Am Beispiel des Zusammenwirkens von Design und (schriftlicher) Sprache soll nun untersucht werden, wie das konkret geschieht. Alle symbolischen Formen sind auf materielle Grundlagen angewiesen. Sprache in mündlicher Form artikuliert Schallwellen nicht nur abstrakt derge‐ stalt, dass Phoneme nach allgemein anerkannten Konventionen voneinander unterschieden werden können (langue), sondern notwendigerweise auch mate‐ riell sehr konkret: Stimmführung und -höhe, Intonation, Pausen, Tempo und andere paraverbale Merkmale geraten von Fall zu Fall individuell jeweils sehr verschieden (parole). Sie lassen auf Aspekte des Habitus des Sprechers schließen. Wenn diese materiellen Merkmale bewusst und gezielt gestaltet werden, ist Design im Spiel. Analoges gilt für Handschriftliches. Druckschriftliches (auch am Bildschirm) hingegen ist immer schon designed - allein schon deshalb, weil vorgefertigte Typen verwendet werden. Schrift beruht auf konventioneller Verteilung von Farbpigmenten (oder Pixeln) auf einer Fläche. Schon dabei ist notwendigerweise Design involviert, und sei es nur durch die Entscheidung für bestimmte Farben, Schriftarten und Schriftgrößen (Typographie). Wenn es um längere Texte geht, wird deren Lektüre durch ergonomische Verteilung auf Seiten gelenkt (Layout). Wenn auch Bilder zu den Texten gehören, will deren ansprechende und praktikable Verteilung auf Sehflächen 39 wohlorganisiert sein. 40 Wir wählen zunächst ein Beispiel mit vielen Texten und vielen Bildern (Abschnitt 6.2) und dann eines mit wenig Text und wenig Bild (Abschnitt 6.3). 41 191 Design als symbolische Form <?page no="192"?> 42 Zur Kulturgeschichte des rechteckigen Feldes vgl. Sommer 2016. 43 Zum Beispiel in Schaufenstern (Mortelmans 2005), aber auch in Büchern (z. B. Gursky 1989). 6.2 Beispiel Sachbuch Abb. 1 zeigt die Doppelseite 158/ 159 aus dem Buch „Bilderpedia“ (2016). Die Gestalter dieser Seite standen vor der Aufgabe, wichtiges Wissen über den Planeten Erde auszuwählen und in Wort und Bild so darzustellen, dass auch Kinder sich davon angezogen fühlen und es verstehen können. Technische Vorbedingungen, denen das Design sich zu unterwerfen hat, sind die Traditionen der lateinischen Schrift (also zeilenweise von rechts oben nach links unten) und des Buchdrucks (also nicht etwa Papyrus-Rolle oder Computer-Bildschirm), hier insbesondere Farbdruck auf einer rechteckigen Papierfläche von 30,1 × 50,4 cm. Um möglichst viel Informationen möglichst übersichtlich unterzubringen, wurde die knappe Fläche in zehn ebenfalls rechteckige Felder unterteilt. 42 Sie sind durch waagerechte und senkrechte gelbe Linien voneinander abgegrenzt und enthalten jeweils links oben eine knappe und typographisch stets gleich hervorgehobene Überschrift, die das jeweilige Thema nennt. Diese zehn Felder sind in sich strukturiert, und zwar fast immer allein durch konsequent verteilte Leerräume, in die die einzelnen Informationen gemäß einer klaren Architektur eingelassen sind. Der Kontrast von leer gegenüber voll dient hier der gliedernden Abgrenzung einzelner Informationselemente (wie auch bei Spatien zwischen Wörtern im Text) und nicht, wie andernorts 43 manchmal, der Anmutung von Exklusivität und Luxus. Bilder und zugehörige Texte werden dabei fast immer deutlich voneinander getrennt. Unter diesen strikt eingehaltenen Bedingungen wird gestalterische Vielfalt angestrebt: Ein Feld (oben links) enthält nur Text; unter den Bildern gibt es Fotos, Zeichnungen und sehr unterschiedliche Arten von Diagrammen; und die Beziehungen zwischen Texten und zugehörigen Bildern werden optisch sehr unterschiedlich ins Werk gesetzt: Mal steht Text links von Bildern, mal darunter, mal dazwischen, mal darauf, und gelegentlich werden sie mit Strichen auf die entsprechende Stelle im Bild bezogen. Abb. 1: Bilderpedia S. 158/ 159 192 Ulrich Schmitz <?page no="194"?> 44 Zu Schriftbildlichkeit vgl. Krämer 2004. 45 Z. B. als Überschrift „Magnetfeld“ links oben - oder wie in einem Bildwörterbuch „Sonne“ auf der abgebildeten Sonne schräg darunter. 46 Z. B. „Sauerstoff 47 %“ ganz oben in der Mitte. 47 (1) 36 Wörter unter „Die Erde“ links oben. (2) 26 Wörter unter „Aufbau der Erde“ direkt unter (1). (3) 23 Wörter unter „Die Erdkruste“ oben in der Mitte. (4) 41 Wörter unter „Atmosphäre“ direkt unter (3). (5) 36 Wörter unter „Höchste und tiefste Stelle“ rechts unten. Die gesamte ästhetische Erscheinung wirkt ausgewogen: links ein sehr großes und attraktives Bild, in der Mitte eine hochaufragende Senkrechte, rechts viele kleine Bilder, unten eine ruhige Basis aus acht thematisch ähnlichen Fotos im identischen Quadratformat. Würde man sich die Texte (die man anfangs sowieso nicht liest) wegdenken, erschiene ein auch farblich gut komponiertes Gesamt‐ bild. Sodann würde der Blick vom größten und farblich konstrastreichsten Bild links (gemäß der hierzulande üblichen Leserichtung: links zuerst) angezogen. Hier fällt er auf eine an sich selbst zunächst rätselhafte Kugel, die wie eine russische Matrjoschka aus mehreren kleineren Kugeln zu bestehen scheint. Wie ein sphärisches Puzzle lädt es zum Spielen ein, als ginge es eher um handgreifliches Betasten als um mentales Begreifen. Die große Überschrift „Die Erde“ und dann die kleinere Überschrift „Aufbau der Erde“ verraten, worum es geht, und schon fühlt man sich hineingezogen in die acht kleinen Textstücke, die das Rätsel lösen. Welche Auswirkung hat nun dieses gleichermaßen ergonomische wie äs‐ thethische Flächendesign auf die symbolische Form Sprache, hier in Gestalt von Schriftsprache? Zunächst einmal ist das Schriftbild selbst ein Bild. 44 Mit der einheitlichen serifenlosen Typographie stellt der Text sich nicht in den Mittelpunkt, sondern dient dem Verständnis des zugehörigen Bildes; und mit der durchdachten Anordnung der Texte auf der Fläche (zeilenweise, meist linksbündig, doch gelegentlich links des zugehörigen Bildes rechtsbündig bzw. unterhalb des Bildes mittig) unterstützt es den vergleichsweise ruhigen und rationalen Eindruck des Gesamtbildes dieser Doppelseite. Die Kraft der symbolischen Form Design strahlt aber auch auf den Wortlaut der Texte selbst aus. Erstens sind alle Texte sehr kurz. Viele Elemente enthalten nur ein einziges Wort 45 oder zusätzlich eine Maßangabe etwa in einer Legende 46 . Die meisten Texte bestehen aus einem oder zwei Sätzen. Die fünf längsten Texte umfassen jeweils lediglich drei Sätze mit zusammen zwischen 23 und 41 Wörtern. 47 Aus Platzmangel müssen sie kurz sein: Die Bilder nehmen den meisten Platz auf der Seite weg. Vor allem aber können sie so kurz sein, weil sie mit dem zugehörigen Bild eine Verständniseinheit bilden: Was im Bild zu sehen ist, muss im Text nicht formuliert werden - und umgekehrt. Wenn wir keine 194 Ulrich Schmitz <?page no="195"?> 48 <www.youtube.com/ watch? v=F4F1zNBSb9Q> am 15.6.2021, Still bei 0’16. 49 Wir betrachten hier nur dieses Bild ohne die zahlreichen zusätzlichen digitalen Mög‐ lichkeiten, bei denen Bild und Text in ähnlicher Weise zusammenspielen. Bilder vor uns hätten, müssten die Texte notwendigerweise sehr viel länger und kohärenter werden. Dann würde bei gleicher Typographie die hier bedruckte Fläche kaum ausreichen. Und trotzdem könnte nicht alles, was es hier zu sehen gibt, im Text angemessen ausgedrückt werden. Die übrigen Merkmale dieser Texte sind nicht dem Design der Seite ge‐ schuldet, sondern der Textsorte Erklärtext. Alle Texte stehen im Präsens Indi‐ kativ. Und sie enthalten zahlreiche Fachwörter. An diesem wie an jedem ähnlichen Beispiel kann man also beobachten, wie im Design, als symbolische Form aufgefasst und in Verbindung mit Sprache, „eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht“ (Cassirer 1953: 11). 6.3 Beispiel Cockpit Vergleichen wir nun das Zusammenspiel von Design und Schriftsprache im Cockpit eines Autos. Abb. 2: Cockpit eines Volkswagen Touareg 2021 48 Abb. 2 zeigt das Cockpit in einem VW Touareg. 49 Es ist sehr viel minimalistischer gestaltet als die Bilderpedia-Doppelseite. Anders als dort soll der Nutzer nicht über längere Zeit in die Informationen hineingezogen werden, um etwas zu lernen. Sondern sie sollen ihm oder ihr ad hoc helfen, sich in extrem kurzer 195 Design als symbolische Form <?page no="196"?> 50 Die linke Hälfte besteht übrigens aus drei Etagen: das Lenkrad samt Aufschriften, die beiden Schalter an der Schaltsäule hinter dem Lenkrad und die eigentliche Cockpit-Fläche. Zeit einen Überblick über das in der augenblicklichen Situation gerade Wichtige zu verschaffen. Fahrerin oder Fahrer müssen vorrangig auf die Verkehrslage außerhalb des Autos vor ihnen achten. Wenn sie zwischendurch auf Anzeigen im Cockpit blicken, müssen sich die Augen sehr schnell von Fernauf Nahsicht und umgekehrt umstellen. Anders als bei der Lektüre etwa von Büchern bleibt also nur eine äußerst kurze Zeitspanne zur Aufnahme von Informationen. Damit sind die technischen Vorbedingungen, denen das Design sich zu unterwerfen hat, wesentlich anspruchsvoller. Daraus ergibt sich das minimalistische Design in Abb. 2: erstens wenig Weiß auf viel Grau oder Schwarz, sonst fast keine Farben; zweitens Aufteilung der Fläche in unterschiedlich große (und entsprechend wichtige) Module; drittens wenig Bilder (die nur ablenken würden) und wenige (äußerst knappe) schriftliche Elemente, nämlich fast nur kurze Zahlen und allgemein bekannte Abkürzungen; viertens extrem spärliche serifenlose Typographie; und fünftens Anordnung der verschiedenen Informationen an konventionalisierten Stellen, wie man sie aus den meisten Autos kennt. Die linke Hälfte direkt vor dem Fahrer ist unmittelbar für das Fahren wichtig, die rechte dient zusätzlichem Komfort. Die wichtigsten Instrumente links sind der Rundung des Lenkrads angepasst. Diese wohldurchdachte Architektur führt dazu, dass man die gesamte Seh‐ fläche mit ihren beiden Hälften 50 wie ein mehr oder weniger vertrautes Bild wahrnimmt, in dem lediglich aktuelle Änderungen von Interesse sind. Beim Fahren fallen in der linken Hälfte vor allem Bewegungen der beiden Zeiger hinter dem Lenkrad auf. Die rechte Hälfte bietet hauptsächlich mögliche Änderungen durch Fingerdruck an. Was bedeutet diese Konstellation nun für die Form der Sprache? Denkbare sprachliche Formulierungen, wie wir sie im Gespräch zwischen Menschen oder schriftlich in herkömmlichen Gebrauchsanweisungen benutzen würden, sind fast vollständig ersetzt durch konventionalisierte Icons (z. B. das Lautsprecher‐ symbol rechts oben) oder durch Ziffern (z. B. die Uhrzeit „11: 51“ oben links und oben rechts). Reste von Sprachlichkeit erscheinen vorrangig durch Abkür‐ zungen („km/ h“, „OK“, „P“) oder verkürzte Wörter („Auto“ für ,Automatik‘, „Klima“ für ,Klimaanlage‘ unten rechts). Außerdem sehen wir drei Einzelwörter („Airbag“ auf dem Lenkrad, „Berlin“ und „Samstag“ in der rechten Hälfte) und einen selbstständigen Zwei-Wort-Text („Keine Meldungen“ in der rechten Hälfte links unten). 196 Ulrich Schmitz <?page no="197"?> Das längste Textstück („Jazz Orchestra Funky You“) ist für das eigentliche Fahren völlig belanglos. Es kommt gleich zwei Mal vor (links zwischen Dreh‐ zahl- und Geschwindigkeitsanzeige sowie rechts unterhalb der Mitte) und dient nicht dem Fahren, sondern der Unterhaltung. Das zeigt erneut, wie unbedeutend, ja geradezu kontraproduktiv schriftliche Texte für die eigentliche Aufgabe des Autofahrens sind und dass dennoch auf Schrift keineswegs gänzlich verzichtet werden kann. Alle diese Textelemente zusammenhängend gelesen ergeben keinen Sinn. Sie erhalten ihre Bedeutung nur im Kontext dieser nach einem strikten Plan gestalteten Sehfläche und durch ihre Position an der ihnen jeweils zugewie‐ senen Stelle. Ein einziges Mal spielen auch ikonische Bilder eine Rolle beim Verständnis: In der rechten Hälfte links oben liest man den gelben Kreis nur deshalb als Sonne, weil er auf demselben quadratischen Feld steht wie das kleine Ikon einer Regenwolke und die Textstücke „Berlin“ und „21 o C“. Auch in diesem Beispiel sind wir also in der Lage, Design als eine symbolische Form „in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen“; denn, so Cassirer (1953: 51) weiter, jede dieser Formen unterscheidet sich von den anderen durch „gemeinsame und typische Grundzüge der Gestaltung selbst“. 6.4 Arbeitsteilung zwischen Sprache und Design Zusammengefasst: (Schrift-)Sprache und Design teilen sich die Arbeit der Informationsvermittlung. Im Falle des Sachbuches (Abb. 1) besteht die Aufgabe des Designs darin, Bilder und Texte in einen optisch gut begreifbaren Zusam‐ menhang zu stellen, so dass Leserinnen und Leser sich einerseits (ästhetisch) angesprochen fühlen, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen, und anderer‐ seits (ergonomisch) auswählen können, was sie am meisten interessiert. Im Falle des Kraftfahrzeug-Cockpits (Abb. 2) hat das Design dafür zu sorgen, dass wesentliche von weniger wichtigen Informationen unterschieden und in Bruchteilen von Sekunden erfasst werden können. Bilder und Farben würden hier eher ablenken. Schriftliche Elemente müssen wegen der längeren Lesezeit extrem kurz sein und möglichst als einheitliche Gestalt wahrgenommen werden können, so dass vor allem Zahlen vorherrschen. Die wichtigsten davon werden durch Zeigerbewegungen hervorgehoben. Bestmögliche Ergonomie und ruhige Ästhetik sind hier zwei Seiten derselben Medaille. In beiden Fällen dominiert das grundlegende Design der zur Verfügung stehenden Fläche. Es formt den ersten Eindruck, lenkt den Blick, fügt sämtliche Bestandteile in eine kompositorische Ordnung und strahlt zwecks einheitlicher Erscheinung auf die einzelnen Elemente aus. Je nach Zweck - hier Informa‐ tionsvermittlung, dort Unterstützung sicheren und komfortablen Fahrens - 197 Design als symbolische Form <?page no="198"?> 51 Cassirer plädiert dafür, „das Gebilde aus der Funktion zu verstehen“ zu suchen, nicht umgekehrt (Cassirer 1953: 10): „Denn das Grundprinzip kritischen Denkens, das Prinzip des ,Primats‘ der Funktion von [sic] dem Gegenstand, nimmt in jedem Sondergebiet eine neue Gestalt an und verlangt eine neue selbständige Begründung.“ (ebd.: 11) 52 Zu kleinen und sehr kleinen Texten vgl. Schmitz 2021. 53 Diese Beobachtung impliziert nicht (wie Steinseifer 2013: 25 vermutet), dass beider Mittel wechselseitig äquivalent wären. Vgl. ausführlicher und mit anderen Beispielen Schmitz 2011b und 2017. Bereits vor vier Jahrzehnten bemerkte ein Designtheoretiker an einer mit Text gefüllten Tabelle: „A tabular syntax has replaced the normal syntax of prose“ (Waller 1982: 139). nimmt Sprache in der Zusammenarbeit mit Design unterschiedliche Formen an. 51 Im Sachbuch sind schriftliche Erläuterung und Bild (Foto, Zeichnung oder Diagramm) wechselseitig aufeinander angewiesen, so dass die schriftlichen Elemente oft sehr kurz sein, aber auch kohärente Texte mit bis zu drei Sätzen umfassen können. Im Cockpit treten schriftliche Elemente noch weiter reduziert auf, sind semantisch dafür aber umso wichtiger. 52 Cassirer (1953: 27) begreift die verschiedenen symbolischen Formen als „die Ursprünge aller Gestaltung“. Wir sehen, dass bei der Gestaltung verschiedene symbolische Formen eine Arbeitsteilung eingehen können. Je mehr ordnende Funktionen Design übernimmt, desto weniger bleibt für Sprache zu tun. 53 Beide Fälle zeigen exemplarisch, wie gutes Zusammenspiel zweier symbolischer Formen - hier Design und Sprache - visuelle Kommunikation angenehmer und effizienter machen kann. Design ohne Sprache wäre hier leer, Sprache ohne Design jedoch extrem unbeholfen. 7 Gestaltetes Bedeutungserlebnis Cassirer (1956c: 218) greift gern Karl Bühlers Wort „Bedeutungserlebnis“ auf: In der Wahrnehmung (hier von mündlicher Rede) erfasse ich „ein komplexes Sinnganzes und bin ihm zugewandt; ich ,vollziehe‘ innerlich diesen Sinn und lebe in ihm“ (ebd.), und zwar ohne analytisch über dessen Konstruktion aus einzelnen Elementen nachzudenken. Genau so verhält es sich im Umgang mit Design, sei es in der Lektüre der „Bilderpedia“, sei es beim Blick auf das Cockpit im Auto. Cassirer (1954b: 235) versteht unter ,symbolischer Prägnanz‘ die Art, „in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches Erlebnis‘, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ,Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren 198 Ulrich Schmitz <?page no="199"?> 54 „Die Grundidee der Prägnanz übernahm Cassirer von der Gestalttheorie. […] Das Gesetz der Prägnanz besagt, daß die Organisation des Wahrnehmungsfeldes immer so ,gut‘ ist, wie unter den Umständen möglich, das heißt, daß es geschlossen, stabil, abgerundet oder sonst zusammenhängend aufgefaßt wird.“ (Krois 1988: 24) 55 In diesem Aufsatz ging es nur um Sprache in ihrer schriftlichen Form. Design gespro‐ chener Sprache kommt bisher vergleichsweise milder vor, z. B. in Bezug auf Tempo, Intonation und Stimmführung etwa in Werbung oder politischer Rhetorik. 56 Häufig (Abb. 1), doch keineswegs immer (Abb. 2), gehören dann auch materielle Bilder dazu. Wie diese sich in Cassirers Welt der symbolischen Formen einfügen, müsste eigens bedacht werden: Kunst? Fotografie als eigene symbolische Form? konkreten Darstellung bringt.“ 54 Solche sinnlichen Erlebnisse werden durch Design gesteuert oder hervorgerufen. Wenn Sprache in ihrer materiellen Form 55 gezielt gestaltet wird und/ oder wenn Sprache nur aus dem Zusammenhang innerhalb einer Bildfläche 56 ver‐ standen werden soll und kann, gehen Sprache und Design als zwei symbolische Formen eine kooperative Arbeitsteilung ein, um eine verstehbare Einheit zu bilden. Literatur Bateman, John/ Wildfeuer, Janina/ Hiippala, Tuomo (2017): Multimodality. Foundations, Research and Analysis. A Problem-Oriented Introduction. Berlin, Boston: de Gruyter. Barthes, Roland (2010): Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe [frz. 1957]. Frank‐ furt/ M.: Suhrkamp. Bilderpedia (2016): Bilderpedia. Ein Lexikon - 10.000 Fotos [engl. 2015]. München: Dorling Kindersley. 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April 2021, N3. 204 Ulrich Schmitz <?page no="205"?> „Telekopräsenz“ Interaktionslinguistische Anmerkungen zu einer Kommunikationsbedingung im Wandel Heiko Hausendorf (Universität Zürich) Abstract: „Telekopräsenz“ meint eine Kommunikationsbedingung, bei der die wechselseitige Wahrnehmung der Kommunikationsbeteiligten nicht auf physischer Anwesenheit, sondern auf technisch-medialen Formen des gleichzeitigen Sendens und Empfangens von Audiooder/ und Videodaten beruht. Neben dem Telefon(ieren) sind Videokonferenzen (via „Zoom“, „Teams“, „Jitsi“ oder „Webex“) ein seit der COVID-19-Pandemie massenhaft verbreitetes Beispiel für Kommunikationsformen auf der Grundlage von Telekopräsenz. Erscheinungen wie diese fordern den mit den Arbeiten von Goffman populär gewordenen Interaktionsbegriff neu heraus, weil sie Prämissen von Kopräsenz in Frage stellen, die lange Zeit für selbstver‐ ständlich gehalten wurden. Vor dem Hintergrund einer aktuellen Debatte in der Gesprächs-, Text- und Medienlinguistik, an der sich auch Christa Dürscheid immer wieder beteiligt hat, sollen einige dieser Prämissen im Beitrag diskutiert und anhand von Aufzeichnungen von videokonferenz‐ basierten Seminarveranstaltungen exemplarisch veranschaulicht werden. 1 Zur Einführung: COVID-19 und der Wandel von Kommunikationsbedingungen Unsere kommunikative Welt ist seit Beginn der COVID-19-Pandemie (noch) unübersichtlicher geworden. Vielleicht hat es tatsächlich einmal eine Welt gegeben, in der man Kommunikation nur realisieren konnte, indem man sich irgendwo ‚traf ‘, sei es auf Gewohnheit hin oder auf Verabredung, sei es zufällig-alltäglich oder ritualisiert-zeremoniell. Anwesenheit, d. h. mit anderen zur gleichen Zeit am gleichen Ort anwesend (kopräsent) zu sein, wäre in dieser Welt eine exklusive Kommunikationsbedingung gewesen, zu der es keine <?page no="206"?> Alternative gab. - Gerne stellt man sich in Medientheorien bis heute die ‚orale Stammesgesellschaft‘ so vor (vgl. z. B. Baecker 2020). Entscheidend ist, dass ein solches ‚Sich-Treffen‘ darauf beruht, dass man wahrnehmen kann, dass man wahrgenommen wird, also nicht nur den anderen sieht (er/ sie ist ‚da‘), sondern auch sieht, dass der andere gesehen hat, dass man ihn/ sie gesehen hat (so dass das gemeinsame ‚Da‘-sein bereits Teil der Kommunikation ist und als mitgeteiltes ‚Da‘-Sein ‚verstanden‘ werden kann). In der Interaktionssoziologie Goffmans, aber auch der Luhmann’schen Systemtheorie ist für diesen Spezialfall von Kommunikation der Terminus ‚Interaktion‘ reserviert (s. dazu noch u. Abschnitt 2). Diesem Sprachgebrauch schliessen wir uns hier an (Hausendorf 2015). Er ist nicht mehr (so) selbstverständlich (wie er vielleicht einmal gewesen ist), seit es auch in der auf Schrift(lichkeit) beruhenden Kommunikation Erschei‐ nungsformen des Austausches von Nachrichten gibt, die der Gleichzeitigkeit von Sendung und Empfang unter Anwesenden sehr nahekommen. Christa Dürscheid hat dafür am Beispiel der Chatkommunikation im Internet den oft wiederaufgenommenen Ausdruck der „quasi-synchronen“ Kommunikation verwendet, um anzuzeigen, dass die gebräuchliche Unterscheidung „synchron“ vs. „nicht synchron“ mit der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien aufgehoben sei, auch wenn die „Möglichkeit einer direkten Interaktion“ damit „nicht gegeben“ sei (Dürscheid 2012: 28 f.). Dieses Verständnis trifft sich mit der inzwischen vermehrt (auch von Chr. Dürscheid) vertretenen Auffassung, dass der oben zitierte Interaktionsbegriff zu eng sei, weil er nicht das Prinzip der Dialogizität berücksichtige. Darunter ist, allgemein gesagt, zu verstehen, dass „eine wechselseitige Bezugnahme auf die Äusserungen des anderen vorlieg[e].“ (Dürscheid 2018: 34; auch als „response presence“ eingeführt: Knorr-Cetina 2009: 74). Wenn man so argumentiert, kann man natürlich auch den „schriftli‐ chen Nachrichtenaustausch“ als Interaktion bezeichnen (ebd.). Abgesehen von terminologischen Fragen, die man so oder so beantworten kann, zeigt sich an dieser Kontroverse (die bei Dürscheid 2016b sehr fein und sehr differenziert aufbereitet wird) ein grundsätzlicher Unterschied in der Herangehensweise an den Gegenstand der Kommunikation, der auch mit disziplinären Traditionen zu tun hat: Während der enge Interaktionsbegriff an vornehmlich soziologische Vorarbeiten zur Interaktions- und Kommunikationstheorie anknüpft (s. schon o.), bezieht sich die Ausweitung des Interaktionsbegriffs vor allem auf linguis‐ tische Vorarbeiten zur Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache (vgl. dazu systematisch Dürscheid 2016a: 23 ff.). Wir wollen diese unterschiedlichen „Definiertraditionen“ (Kieserling 1999) in diesem Beitrag auf‐ nehmen und auf eine Kommunikationsform beziehen, die seit einiger Zeit einen starken Aufschwung erlebt: die „Videokonferenz“. An Beispielen dieser Kom‐ 206 Heiko Hausendorf <?page no="207"?> 1 Fast seit Beginn des Ausbruchs der Pandemie sind die Massenmedien voll von Kommen‐ taren, Stellungnahmen und Diagnosen zu der Frage, ob und wie die „COVID-19-Krise“ die Gesellschaft verändert, verändern wird oder längst schon verändert hat. Auch nach mehr als einem Jahr sind die Versuche der Zeitgenossen und -genossinnen nicht abge‐ rissen, bei laufendem Motor („aus dem Auge des Zyklon“: Knoblauch 2020) reflektierend zu begleiten, was wir seither alltäglich erleben - wiewohl man wissen kann, dass es dazu eines Abstands bedürfte, den im Moment noch niemand beanspruchen kann. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich deshalb auf einen kleinen empirischen Ausschnitt an Phänomenen, der mit den schon genannten Videokonferenztools zu tun hat. munikationsform soll gezeigt werden, worin die Fruchtbarkeit einer auf dem engen Interaktionsbegriff beruhenden Definition bestehen könnte - jenseits der gemeinhin geteilten Feststellung, dass es sich dabei klarerweise, wie schon beim Telefonieren, um Interaktion (im engeren Sinne) handele. Insbesondere gilt es hervorzuheben, dass man auch mit einem engen Interaktionsbegriff auf die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien gewinnbringend reagieren kann, also weder empirisch noch theoretisch immun ist gegenüber Evolutionen im Gegenstandsbereich. Die in Videokonferenzsystemen hergestellte Anwesen‐ heit verbuchen wir deshalb nicht einfach als weiteren Fall von Kopräsenz (und damit basta), sondern sehen darin einen besonderen Fall, der als „Telekopräsenz“ (Zhao 2003) genauer unter die Lupe zu nehmen ist und im Mittelpunkt dieses Beitrags steht. Als Kommunikationsbedingung verbreitet sich Telekopräsenz seit dem Frühjahr 2020 ähnlich rasant wie das Coronavirus selbst. Das ist kein Zufall. Mit ihrer weitreichenden Problematisierung der Face-to-face-Interaktion hat die Pandemie zu einer starken Hybridisierung von alternativen wie komplementären Kommunikationsbedingungen beigetragen. 1 Diese Hybridisierung betrifft insbesondere die Bedingung der Anwesenheit bzw. Kopräsenz („copresence“ sensu Goffman 1963) und damit das Sprechen und Zuhören unter Anwesenden. Kopräsenz wird nicht nur medial nachgeahmt (und simuliert: ein Moderator im Fernsehen tut z. B. so, als ob er seine Zuschauer ‚hinter der Kamera sehen würde: Hausendorf 2001), sondern auch auf neuartige Weise am Bildschirm als Telekopräsenz in Szene gesetzt (und wenn man so will emuliert: die Beteiligten können sehen, dass sie gesehen werden). Auch das ist nicht neu. Die Videokonferenztechnologie ist schon länger entwickelt und auch verbreitet worden. Erste Versuche reichen parallel zur Entwicklung des Fernsehens sogar bis in die 1930er Jahre zurück, und ab den frühen 90er Jahren waren Softwaretools für Videochat vorhanden und seit etwa 2005 mit „Skype“ auch verbreitet (Held 2020). Vergleichbar mit der seit der Pandemie zu konstatierenden Allgegenwart von Telekopräsenz ist das aber nicht: 207 „Telekopräsenz“ <?page no="208"?> In 2020, video conferencing went from a novelty to a necessity, and usage skyrocketed due to shelter-in-place throughout the world. (Fauville et al. 2021: 1) Im vorliegenden Beitrag wird diese viel kommentierte Entwicklung aufge‐ nommen und zunächst theoretisch modelliert. Dazu müssen wir kommunika‐ tions- und interaktionstheoretisch etwas weiter ausholen und an die schon in der Einleitung skizzierte Diskussion anknüpfen (siehe Abschnitt 2). Im Anschluss wollen wir dann an Beispielen aus videokonferenzbasierten Lehrver‐ anstaltungen zeigen, dass es sich dabei tatsächlich um eine Erscheinungsform von Telekopräsenz handelt - und was im Einzelnen das heisst (siehe Abschnitt 3). Ein Ausblick zu dem, was genau sich unter der Bedingung von Telekopräsenz in der Kommunikation mit und durch Sprache verändern könnte, beschliesst den Beitrag (siehe Abschnitt 4). 2 Anwesenheit vs. Erreichbarkeit Anwesenheit (bzw. Kopräsenz) wird hier und im Folgenden als Kommunikati‐ onsbedingung verstanden und vor dem Hintergrund alternativer Kommunikati‐ onsbedingungen thematisiert. Wie sich zeigen wird, darf man sich diese Bedin‐ gung(en) allerdings nicht im Sinne externer Vorgaben vorstellen, unter die das Kommunikationsgeschehen sozusagen a priori gestellt ist. Vielmehr muss man erklären können, dass diese Kommunikationsbedingung eine Errungenschaft der Kommunikation selbst ist, die mit und durch Kommunikation erst in die Welt kommt. Die Kommunikation schafft sich, paradox gesagt, die Voraussetzung(en) selbst, unter denen sie anläuft und sich aufrechterhält. Offensichtlich sind schon diese Eingangsbemerkungen alltagsfern und auch für Linguist*innen gewöhnungsbedürftig: Weder stellen wir uns Kommunikation in der Linguistik und der hier zuständigen Pragmatik unabhängig von den beteiligten Personen (und ihren Motiven und Intentionen, ihrem Meinen und Verstehen) vor, noch gibt es einen kommunikationstheoretischen common sense, der vermeintliche Variablen von Situation und Kontext in Hervorbringungen der Kommunikation selbst überführen würde. Gleichwohl gibt es mit der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und ihrer Rezeption in der Linguistik eine Tradition, an die solche Formulierungen anschliessen können, wenn dort etwa von der Interaktion zwischen den Beteiligten oder der Vollzugswirklichkeit der Interaktion mit ihren Hervorbringungsleistungen die Rede ist. Allerdings ist daraus bis heute weder eine allgemeine Kommunikationstheorie noch eine bereichsspezifische Interaktionstheorie hervorgegangen. Kommt hinzu, dass die neueren linguistischen Weiterentwicklungen der Konversationsanalyse, salopp gesagt, mehr an Sprache als an Kommunikation interessiert sind (vgl. 208 Heiko Hausendorf <?page no="209"?> 2 Die Kommunikation wird also grundsätzlich (und gleichsam kontrachronologisch) von „hinten“, d. h. vom Verstehen her konstituiert. Das gilt für die Interaktion (im engeren Sinne, s. o.) und erst recht für alle anderen Formen erreichbarkeitsbasierter Kommunikation, wie sie z. B. auf Schrift und massenmedialer Verbreitung durch Druck und Funk basieren. Es ist deshalb aus unserer Sicht womöglich missverständlich, wenn man im Fall der Massenmedien in Anlehnung an den hier referierten Luhmann’schen Kommunikationsbegriff eine „technische Unterbrechung“ ansetzt, durch die „Mittei‐ lung und Verstehen auseinandergezogen werden“ (Sutter 2020: 109). Wenn überhaupt Kommunikation zustande kommt, beruht sie auf dem „Verstehen“, mit dem dann auch eine „Mitteilung“ (im Nachhinein) konstruiert wird (s. auch noch u. in diesem Abschnitt). die kritischen Bemerkungen in Hausendorf 2021). Wir wählen deshalb mit der Interaktionssoziologie Goffmans (siehe Abschnitt 1) und der soziologischen Sys‐ temtheorie zwei dezidiert kommunikationstheoretische Anknüpfungspunkte. Von „Kommunikation“ wollen wir immer dann sprechen, wenn jemand dazu gebracht wird, einen Unterschied zwischen einer Information und ihrer Mitteilung zu machen. Damit kommt in einem basalen Sinn Verstehen zustande: Alter hat „verstanden“, dass Ego ihm etwas sagen wollte. Für Kommunikation reicht das vollkommen aus - wenn man sich am dreistelligen Kommunika‐ tionsbegriff der neueren soziologischen Systemtheorie orientiert (Luhmann 1984), für den nicht die Absicht des Sprechers und letztlich auch nicht das Verständnis des Zuhörers konstitutiv sind, sondern ein geeigneter Auslöser dafür, dass davon ausgegangen werden kann, dass es so etwas wie eine Mit‐ teilungsabsicht gegeben hat (unabhängig davon, ob es sie auch „tatsächlich“ gegeben hat). 2 Dieser Auslöser kann sprachlich sein, dann haben wir es mit Kommunikation durch und mit Sprache zu tun. Er muss aber nicht sprachlicher Natur sein; auch ein längerer Blick, ein Winken oder eine Körperzuwendung können geeignet sein, unter Anwesenden einen hinreichenden Verdacht einer Mitteilungsabsicht zu unterstellen. Gleichwohl zeigen schon diese wenigen Beispiele, worin evolutionär für die Genese von Kommunikation der Schub der Herausbildung und Verwendung von Sprache gelegen haben muss: Im Fall des Sprechens (und Schreibens) lässt sich die Absicht zu kommunizieren nicht leugnen, sondern wird auf einen Schlag und in der Regel verlässlich unterstellbar, was immer man dann auch noch sagen (und schreiben) mag. Wie eingespielt und automatisiert dieser Mechanismus ist, sieht man eindrucksvoll daran, dass wir im Fall der direkten Konfrontation mit gesprochener oder geschriebener Sprache - den Sprach- und Schrifterwerb vorausgesetzt - gar nicht verhindern können, „zuzuhören“ oder „mitzulesen“ und in genau diesem Sinne zu „verstehen“. 209 „Telekopräsenz“ <?page no="210"?> Ausgehend von diesem Grundverständnis lässt sich Interaktion (in einem engeren Sinne, siehe Abschnitt 1) als Kommunikation bestimmen, die auf Anwesenheit beruht. Damit ist dann schon zweierlei gesagt, was nicht trivial ist: (1) Es gibt auch Kommunikation, die nicht auf Anwesenheit beruht (sondern z. B. auf Lesbarkeit, s. u.). Anders gesagt: Die soziale Welt erschöpft sich nicht in anwesenheitsbasierter Interaktion. (2) Anwesenheit muss als Kommunikati‐ onsbedingung sozial, nicht physi(kali)sch bestimmt werden, wenn sie kein kom‐ munikationsexternes Datum, sondern eine kommunikative Grösse sein soll. Wir kommen auf den ersten Aspekt noch zurück und vertiefen zunächst den zweiten Aspekt. Mit den Arbeiten von Goffman ist es leicht, sich Anwesenheit als kommunikativ erzeugte Grösse vor Augen zu führen. Die entscheidenden Hin‐ weise finden sich bei der Erläuterung von „copresence“ (siehe Abschnitt 1), und sie kreisen um das Konzept der Wahrnehmungswahrnehmung. Wie Goffman ausführt, kommt es dadurch zu Interaktion, dass Personen in eine wechselseitige Situation unmittelbarer Gegenwart und Aufmerksamkeit geraten und damit nahe genug zusammen sind, einander in ihren Aktivitäten wahrzunehmen und prinzipiell auch dieses Wahrgenommen-Werden vom jeweils Anderen ihrerseits wahrnehmen oder doch unterstellen können. Damit einher geht der Effekt, dass zwischen solcherart „Anwesenden“ die Unterscheidung zwischen Sendung und Empfang aufgehoben ist, weil jede/ r zugleich sendet und empfängt, also z. B., während sie spricht, auch wahrnehmen kann, wie das Gesprochene auf- und angenommen wird, und umgekehrt jede/ r, der vermeintlich nur zuhört, nicht umhinkann, sein Zuhören zu präsentieren (Goffman 1963: 16-18). Dieses basale Verständnis von Interaktion, das Luhmann schon früh in seinen Interaktions‐ begriff mit dem Konzept der Wahrnehmungswahrnehmung aufgenommen und in seine Kommunikationstheorie integriert hat (Luhmann 2005 [zuerst 1972]), hat sich inzwischen in mehrfacher Hinsicht als explikationsbedürftig erwiesen. Das hat auch mit einer vereinfachenden Rezeption der Goffman’schen Interak‐ tionssoziologie zu tun, die man an stillschweigenden Prämissen festmachen kann, von denen hier drei herausgegriffen werden sollen: 1. Kopräsenz ist oftmals als Parameter der Sprechsituation reifiziert worden, d. h. als externe Variable behandelt worden, die mit dem Zusammensein von Personen bereits gegeben sei. 2. Wahrnehmungsleistungen sind i. d. R. mit den Sinnesorganen des Men‐ schen verknüpft worden, so dass Kopräsenz als unmittelbar („natürlich“) verkörperte Anwesenheit („embodied reference“: Knorr-Cetina 2009) gelten konnte. 3. Als Anwesende sind vielfach wie selbstverständlich (erwachsene und in ihren Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsfähigkeiten nicht 210 Heiko Hausendorf <?page no="211"?> beeinträchtigte) Menschen in Betracht gekommen, also Personen im Voll‐ sinne intelligenter menschlicher Sensomotorik. In allen diesen Punkten sind Revisionen angebracht: Kopräsenz ist bereits ein Effekt der Kommunikation, der im Medium der Wahrnehmungswahrnehmung (also bereits durch Interaktion) systematisch herbeigeführt wird. Kopräsenz ist nicht gleichzusetzen mit verkörperter Anwesenheit, sondern kann auch massiv eingeschränkt sein oder durch Sendungs- und Empfangstechnologien „künstlich“ über die Reichweite menschlicher Sensorik erweitert werden. An‐ wesende müssen nicht notwendig (erwachsene) Menschen sein. Worauf es vielmehr ankommt, ist, dass die Beteiligten soziale Erwartungen an „agency“ aufbauen können, die auf eine nicht fest definierte Weise mit etwas wie Wahrnehmungsfähigkeit, Bewusstheit und Intentionalität zu tun haben, so dass unter bestimmten Umständen auch Interaktion mit Kleinkindern, Engeln, Robotern, Hunden oder Demenzkranken möglich wird. All das sind aktuell viel besprochene Grenzfälle von Interaktion, die sowohl empirisch-methodische wie theoretisch-methodologische Fragen aufwerfen (vgl. z. B. Muhle 2016; Muhle 2018; Reichertz 2020). Sie zeigen, dass man auch mit einem engen Interaktions‐ begriff auf eine fruchtbare Weise an Entwicklungen im Gegenstandsbereich anknüpfen und dabei zugleich Annahmen über Interaktion (im engeren Sinne! ) in Frage stellen kann, die man womöglich über lange Jahre stillschweigend für selbstverständlich gehalten hat. Das gilt auch für die Ausdehnung und Verbreitung von Videokonferenztech‐ nologien, die sich, wie hier nicht zum ersten Mal gezeigt werden soll (siehe Anm. 9), in einem engeren Sinn als Interaktion beschreiben und untersuchen lassen. Wir wollen dazu aber konzeptionell ein bisschen weiter ausholen, um die Besonderheit der Interaktion in diesem Fall auch theoretisch gehaltvoll erfassen zu können, und kommen an dieser Stelle auf die erste der o. g. Implikationen zurück, die sich mit der Bestimmung von Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden ergibt: dass es nämlich kommunikative Alternativen zur Interaktion gibt. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, reicht es aus, sich zu ver‐ gegenwärtigen, dass es mit Schrift zum Sich-Treffen unter Anwesenden schon lange eine wirkmächtige und einflussreiche Alternative zur Interaktion gibt. Sie besteht in der Erreichbarkeit von Anderen als Lesenden, sei es eines „Briefes“ oder einer „Zeitung“ oder eines „Buches“. Neben „Anwesenheit“ (und der Wahrnehmbarkeit der Wahrnehmung) als Kommunikationsbedingung ist damit so etwas wie (die) „Lesbarkeit“ (des Textes) als Kommunikationsbedingung getreten (Hausendorf et al. 2017). Man kann auch sagen: Man war seit der Ent‐ wicklung und Verbreitung von Schrift nicht mehr darauf angewiesen, für Kom‐ munikation mit anderen „zusammen zu sein“, sich unter Mit-Anwesenden zu 211 „Telekopräsenz“ <?page no="212"?> treffen, sondern konnte andere durch Schrift als Mit-Lesende kommunikativ er‐ reichen - im Prinzip raum- und zeitabgelöst, weitere Errungenschaften medientechnischer Art vorausgesetzt, an anderen Orten: in einer anderen Stadt; zu anderen Zeiten: fern in der Zukunft. Ich kann dann einem anderen schreiben, dass ich gerade eine interessante Erfahrung gemacht habe und muss ihn oder sie dafür nicht mehr treffen. Es ist bekannt, wie sich seither Formen und Inhalte von anwesenheits- und lesbarkeitsbasierter Kommunikation weiterentwickelt und auseinandergezogen haben. Wichtig ist im vorstehenden Zusammenhang: Anwesenheit hat mit Erreichbarkeit (und im Fall von Schrift: mit Lesbarkeit) als Kommunikationsbedingung eine Alternative bekommen. Genauer gesagt: Mit Erreichbarkeit erhält Anwesenheit wohl überhaupt erst den Status einer Kom‐ munikationsbedingung unter anderen, während sie vorher gar nicht als solche reflektierbar gewesen sein dürfte, sondern mit „Kommunikation“ zusammen‐ gefallen ist: Kommunikation = Anwesenheit / Kopräsenz. Das gilt spätestens mit Schrift und ihrer gesellschaftsweiten Verbreitung („Literalität“: Dürscheid 2016a: 54 ff.) nicht mehr. Wie gerade die Entwicklung der Pandemie gezeigt hat, setzen die modernen Teilsysteme unserer Gesellschaft schon längst nicht mehr exklusiv und dominant auf Interaktion, sondern operieren unter der Bedingung von Erreichbarkeit: dass nämlich mehr oder weniger weltweit gesendet und empfangen, gelesen und geschrieben werden kann. Mit dem Schreiben und Lesen von Nachrichten und Mitteilungen in mobilen und fast jederzeit und überall verfügbaren elektronischen Umgebungen ist Erreichbarkeit in Form von Lesbarkeit auch schon vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie zu einer viel kommentierten Alltagserscheinung geworden. Die Pandemie hat uns aber vor Augen geführt, wie weitgehend die auf Erreichbarkeit und Lesbarkeit ba‐ sierenden Formen der Kommunikation Interaktion unter Anwesenden ersetzen können. Dabei tritt die Videokonferenz als ein bestimmter Typus hybrider Kommunikation besonders dominant in Erscheinung, bei dem sich die Kommu‐ nikationsbedingungen kreuzen, wie wir im Folgenden erläutern wollen. Wir gehen dazu im ersten Schritt von unserer Ausgangsunterscheidung aus, der Unterscheidung zwischen Anwesenheit und Erreichbarkeit, und unter‐ scheiden damit grundsätzlich zwei Fälle von Kommunikation: 212 Heiko Hausendorf <?page no="213"?> 3 Hinweise zur gesprächsanalytischen Relevanz von „Mitgliedschaft“ z. B. für die Unter‐ suchung institutioneller Kommunikation finden sich bei Hausendorf 2008. 4 Luhmann hat dieses Verständnis von Erreichbarkeit, an das wir hier anknüpfen, vor allem im Kontext seiner medientheoretischen Ausführungen schon früh entwickelt (Luhmann 1981). An diesen medientheoretischen Erreichbarkeitsbegriff schliessen wir hier vor allem an. Im Kontext der gesellschaftstheoretischen Ausführungen zu der o. g. Trias von Anwesenheit, Mitgliedschaft und Erreichbarkeit ist der Bezug auf konkrete Formen der Kommunikation dagegen sehr viel abstrakter geblieben - auch, weil die Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem bei Luhmann alle andere Abb. 1: Anwesenheit vs. Erreichbarkeit Schon diese erste Unterscheidung ist nicht ganz trivial, und sie versteht sich auch nicht ganz von selbst. Soziologisch hat sie mit dem Hintergrund der Luh‐ mann’schen Systemtheorie einen anderen Resonanzraum als in der Linguistik, in der sie gewissermassen ihre stillen Begleiter hat, die nicht genau das Gleiche unterscheiden, aber oft in ähnlichem Zusammenhang auftauchen (s. u.). Was den soziologischen Hintergrund betrifft, schliessen wir terminologisch an Luhmanns Unterscheidung verschiedener Ebenen der Konstitution von Kommunikation an, die er mit „Interaktion“, „Organisation“ und „Gesellschaft“ bezeichnet hat und die für je eigenständig zum Gegenstand zu machende soziale Systeme stehen (vgl. Luhmann 1984; Luhmann 2014). Wir können und wollen das hier nicht im Einzelnen ausbreiten, sondern nur darauf hinweisen, dass jedem dieser Typen von Kommunikation eine eigene Kommunikationsbedingung zugrunde liegt: Im Fall von Interaktion ist das eben „Anwesenheit“ (in Anlehnung an Goffmans copresence, s. schon o.), im Fall von Organisation „Mitgliedschaft“ 3 und im Fall von Gesellschaft als dem umfassenden Sozialsystem „Erreichbarkeit“. An diesen Begriff von Erreichbarkeit schliessen wir hier an: Er bezeichnet eine Schwelle, die Kommunikation überschreiten muss, wenn sie sich über den Kreis Anwesender hinaus ausbreiten soll, die Erreichbarkeit der Beteiligten also mit anderen Worten nicht auf ihrer Anwesenheit und der damit verbundenen Wahrnehmungswahrnehmung beruht (s. o.), sondern auch Teilnahme und Beteiligung an Kommunikation unter Abwesenden ermöglichen soll, die eben dazu auf andere Weise erreichbar (gemacht) werden müssen. 4 Dazu haben 213 „Telekopräsenz“ <?page no="214"?> sozialen Systeme notwendig in sich einschliesst und es dafür offenkundig einen gesellschaftstheoretischen Erreichbarkeits-Begriff benötigt, auf den wir hier aber nicht rekurrieren. Luhmann hat den medientheoretischen und den gesellschaftstheoretischen Erreichbarkeitsbegriff meines Wissens nicht systematisch verbunden, weshalb gerade die genannte Trias bis heute zu den nicht ganz aufgelösten faszinierenden Rätseln der Systemtheorie gehört (vgl. dazu z. B. Heintz und Tyrell 2015). 5 Wir haben es in diesem Fall also entgegen einer verbreiteten Metaphorik nicht mit einer „zerdehnten Sprechsituation“ zu tun (Ehlich 1994), in der das Zuhören gewissermassen mit zeitlichem Abstand erfolgt, sondern (im Fall von Lesbarkeit) mit einer Lesebzw. Lektüresituation, aus der heraus die Kommunikation immer wieder neu zustande gebracht werden muss. die Entwicklung und Verbreitung von Schrift mit den Errungenschaften der Alphabetschrift und des Buchdrucks massgeblich beigetragen (s. dazu Luhmann 1997 und die Hinweise bei Hausendorf et al. 2017: 74 ff.). Mit der Bedingung der Erreichbarkeit wird Kommunikation in die Erwart‐ barkeit von Anschlussmöglichkeiten verschoben. Genau dafür steht das Suffix „-bar“ in „Erreichbarkeit“. Im Gegensatz dazu steht Anwesenheit dafür, dass die Potentialität der Wahrnehmbarkeit bereits umgeschlagen ist in die Faktizität der Wahrnehmungswahrnehmung. Deshalb zerfällt die anwesenheitsbasierte Interaktion in Kommunikationsepisoden mit Anfang und Ende, während die auf Erreichbarkeit basierende Kommunikation im Prinzip ihr Zustandekommen, und damit auch Anfang und Ende, mit eigenen (Bord-)Mitteln nicht (mehr) sicherstellen kann, und deshalb zwar wie jede Kommunikation zeitgebunden, aber gleichwohl auf eine spezifische Weise zeitlos ist (vgl. dazu Hausendorf et al. 2017: 34 ff.). 5 Was den linguistischen Resonanzraum betrifft, in den die Unterscheidung von Anwesenheit und Erreichbarkeit fällt, stehen an vergleichbarer Stelle in der Regel Unterscheidungen, die ihre Kriterien aus dem Bezug auf Raum, Zeit oder Sprache gewinnen: Abb. 2: Nähe vs. Ferne 214 Heiko Hausendorf <?page no="215"?> 6 Wir können darauf an dieser Stelle nicht näher eingehen. Verwiesen sei nur auf die in der Linguistik sehr prominente Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Diskussion (vgl. rückblickend z. B. die Beiträge in Feilke und Hennig 2016). Chr. Dürscheid bietet eine sehr instruktive und aufschlussreiche Zusammenschau der verschiedenen Unterschei‐ dungsmöglichkeiten im Kontext der Frage, was letztlich gesprochene und geschriebene Sprache trennt (Dürscheid 2016a: 24 ff.). Abb. 3: Synchron vs. Asynchron Abb. 4: Mündlich vs. Schriftlich Die Unterscheidung von Nähe und Ferne hat offensichtlich mit Raum und Räumlichkeit, die von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit offenkundig mit Zeit und Zeitlichkeit und die von Mündlichkeit und Schriftlichkeit offenkundig mit Sprache und Sprachlichkeit zu tun. Keine dieser Unterscheidungen fällt mit der von uns gemeinten Unterscheidung von Anwesenheit und Erreichbarkeit zusammen, und jede dieser Unterscheidungen hat eine eigene Prominenz in der Forschung. 6 Ohne dass wir auf die damit verbundenen Forschungstraditionen hier detailliert eingehen können, lässt sich aber leicht zeigen, wie ausgehend von diesen Unterscheidungen die Weichen unterschiedlich gestellt werden; wer primär Nahvon Fernkommunikation unterscheidet, wird das Telefonge‐ spräch (nomen est omen) und die Videokonferenz wie selbstverständlich zur Fernkommunikation zählen; wer synchrone von asynchroner Kommunikation unterscheidet, wird das Telefongespräch und die Videokonferenz gleichwohl und zweifelsfrei zur synchronen und schliesslich auch zur mündlichen Kommu‐ nikation zählen. Telefongespräch und Videokonferenz finden sich zwar jeweils zusammen auf der gleichen Seite der Unterscheidungen wieder, aber in einem 215 „Telekopräsenz“ <?page no="216"?> Fall auf der rechten Seite der Unterscheidung (Ferne vs. Nähe) - ein oberfläch‐ liches Indiz dafür, dass hier Klärungsbedarf besteht, wenn man über deskriptive Terminologie und oberflächliche Begriffsbestimmungen hinauskommen will. Schliesslich kann man schnell sehen (und auch bei Dürscheid 2016a: 24 ff. nachlesen), dass sich auch die gesprochene und die geschriebene Sprache auf beiden Seiten der Unterscheidung wiederfinden. Spätestens mit der „sekundären Oralität“ (Ong 1987) fällt die Mündlichkeit nicht mehr mit dem Nähe- und Gleichzeitigkeitspol zusammen. Und mit der „Live“-Übertragung einer Sendung gibt es Synchronizität auch in der Fernkommunikation. Die vorgeschlagene Ausgangsunterscheidung kommt deshalb nicht zufällig ohne Referenzen auf Raum, Zeit und Sprache aus. „Anwesenheit“ steht zwar der Einheit von Raum/ Ort und Zeit nahe (zur gleichen Zeit am gleichen Ort), ist damit aber als Kommunikationsbedingung nicht angemessen erfasst, weil sie als solche eine Hervorbringung der Kommunikation selbst ist und auf basale Weise durch Wahrnehmungswahrnehmungen zustande kommt. Wenn und in dem Masse, in dem wahrgenommen werden kann, dass (die eigene Wahrnehmung des Anderen vom Anderen auch) wahrgenommen werden kann, entsteht dieser Idee zufolge so etwas wie „Anwesenheit“ (s. o.). Ein solcher zugegeben abstrakter Begriff hat den Vorteil, dass er offenlässt, wie diese Wahrnehmungswahrnehmung im konkreten Einzelfall bewerkstelligt oder eben auch ausgeschlossen werden kann (und wie sie sich evolutionär entwickeln kann). Zwei Leute im gleichen Zimmer, die einander z. B. aufgrund einer Trenn‐ scheibe weder akustisch noch visuell wahrnehmen können (oder nur einseitig wahrnehmen können), sind also im hier angesetzten Sinn nicht „anwesend“, zwei Leute, die über ein Telefon sicherstellen können, dass sie sich wechselseitig hören können, sind aber sehr wohl „anwesend“ (auch wenn zwischen ihnen der Atlantik liegt). Wenn man das Telefongespräch demzufolge auf der Seite der Anwesenheit verortet (wegen der Realisierung von Wahrnehmungswahrnehmung), wird man gleichwohl nicht übersehen wollen, dass in diesem besonderen Fall eben auch Erreichbarkeit im Spiel ist: Ich muss den Anderen gerade beim Telefonieren offenkundig auch erreichen können, bevor ich ihn/ sie wahrnehmen kann; solange der Telefonhörer nicht abgenommen wird (oder eine entsprechende Taste gedrückt wird), kommt definitiv keine Interaktion zustande - solange nicht wechselseitig wahrnehmbar ist, dass der Angerufene da ist, aber nicht ’rangeht. Dieser technische Vorlauf unterscheidet die Telefoninteraktion von Interaktionen, die nur auf der Grundlage verkörperter Wahrnehmung („naked senses“ sensu Goffman 1963, s. o.) zustande kommen. Wir können also den Fall der Telefoninteraktion unterscheiden von anderen Fällen von Interaktion. Wenn 216 Heiko Hausendorf <?page no="217"?> 7 Diese Form des Wiedereintritts liesse sich mit Gewinn auch für die andere Seite der Unterscheidung durchführen und durchspielen. So gibt es bekanntlich die Aufzeich‐ nung und Sendung von anwesenheitsbasierter Kommunikation (z. B. von Talkshows und/ oder „live“-Sendungen vor einem anwesenden Publikum), die zeigen, dass und wie auch auf der Seite der Erreichbarkeit Wahrnehmungswahrnehmung als gesendete Kommunikationsbedingung ins Spiel kommen kann - mit Folgen für die Ausgestaltung von Erreichbarkeit (vgl. dazu Hausendorf 2003b). wir das in den Termini der Ausgangsunterscheidung selbst umsetzen wollen, ohne dabei doch wieder auf die anderen genannten Parameter zurückzugreifen, bietet es sich an, die Unterscheidung von Anwesenheit und Erreichbarkeit auf sich selbst zu beziehen, um auf der einen Seite der Unterscheidung einen besonderen Fall (wieder) unterscheiden zu können: Abb. 5: Wiedereintritt („re-entry“) Luhmann hat diese Form des Wiedereintritts von Unterscheidungen in dem von ihnen Unterschiedenen (in Anlehnung an George Spencer Brown) als „re-entry“ populär gemacht. Wir können (und müssen) somit im Bereich der anwesen‐ heitsbasierten Kommunikation einen weiteren markierten Fall unterscheiden, bei dem Anwesenheit auf Erreichbarkeit beruht, sodass die Wahrnehmungs‐ wahrnehmung in einer für Erreichbarkeit typischen Weise hergestellt wird. 7 Damit haben wir einen Spezialfall hybrider Kommunikation, bei dem sich zwei gegenüberstehende Merkmale gewissermassen kreuzen. Am Fall des Telefonie‐ rens kann man sich gut klarmachen, was dabei passiert: Die Interaktion wird anfälliger, weil sie sich z. B. nicht mehr auf die Bordmittel der beteiligten Körper (Goffmans „naked senses“) verlassen kann, sondern auf Medientechnologien (z. B. in Form der Übertragung, der Sendung und des Empfangs elektrischer Signale) und -institutionen (z. B. eine Art Fernmeldewesen) angewiesen ist. Aber sie bleibt doch unzweifelhaft Interaktion; die Übertragung ersetzt ja 217 „Telekopräsenz“ <?page no="218"?> 8 Vgl. zum Verhältnis zu konkurrierenden Begrifflichkeiten (z. B. von „telepresence“ oder „virtual presence“) die Ausführungen bei Zhao 2003, der im Übrigen nicht systemtheo‐ retisch, aber mit Verweis auf Goffman argumentiert. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, die Entwicklung von (Ko-)Präsenzkonzepten seit und im Anschluss an Goffman im Einzelnen nachzuzeichnen, die mit neueren technologischen Entwicklungen seit einiger Zeit beträchtlich angeheizt worden ist und kaum noch überschaubar ist (vgl. aus soziologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive z. B. Knorr-Cetina 2009; Campos-Castillo und Hitlin 2013; Meyer 2014; Heintz und Tyrell 2015; Knoblauch 2017; Klemm und Staples 2018; vgl. aus linguistischer Perspektive z. B. Linz und Willis 2011 und eine Vielzahl von Reflexionen aus Anlass konkreter empirischer Untersuchungen zu Video-konferenz-basierter Interaktion: s. u. Anm. 10). nicht die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmungswahrnehmung zugunsten einer zeitlichen Aufsplittung in die Sendung und den Empfang von Signalen: Wer spricht, hört gleichzeitig zu, und wer zuhört, spricht auch dann, wenn er schweigt, ist also gleichzeitig Sender und Empfänger. Um die Besonderheit der Kommunikationsbedingung gleichwohl begrifflich festzuhalten, wollen wir, wie schon angekündigt, in Anlehnung an die Literatur von „Telekopräsenz“ sprechen (Zhao 2003). 8 Die These ist nun, dass sich genau dieser Typus hybrider Kommunikation, der auf Telekopräsenz beruht, seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie rasant verbreitet hat. Interaktion ist seither also nicht nur erschwert, verhindert und ersetzt, sondern auch weiterentwickelt worden. Sie ist vermehrt und verstärkt auch dann möglich gemacht worden, wenn die Interaktionspartner zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten und dort jeweils ‚für sich allein‘ sind. Man denke dazu vor allem an all die oben schon erwähnten, inzwischen schon längst routinisiert verwendeten Softwaretools für „Meetinglösungen“ und „Videokonferenzen“ in „kristallklarer HD-Qualität“. So ist „Zoom“ nicht nur „the leader in modern enterprise video communications“ (so die werbende - und masslos übertreibende - Selbstdarstellung), sondern zur Bezeichnung für eben einen neuen Typus von Kommunikation geworden. Unter dem Stichwort „zoom fatigue“ werden bereits erste Begleiterscheinungen dieser Kommunika‐ tion kritisch diskutiert (https: / / news.stanford.edu/ 2021/ 02/ 23/ four-causes-zoo m-fatigue-solutions/ ). Diese neuen Formen der Emulierung von Anwesenheit lassen es - wie vor Jahren schon einmal mit der flächendeckenden Verbreitung des Telefons in jedem Haushalt - vermehrt erlebbar werden, dass und wie Kopräsenz übertragungstechnisch-medial hergestellt werden kann. Anders als beim Tippen und Lesen von Mitteilungen und Nachrichten kann ich durch die Übertragung von Stimme und Bild nicht nur den anderen wahrnehmen, sondern zumindest punktuell auch wahrnehmen, dass ich gerade wahrgenommen werde (s. dazu noch Abschnitt 3). Demnach haben wir es hier damit zu tun, dass 218 Heiko Hausendorf <?page no="219"?> 9 Die daraus resultierende These, dass wir es bei Telekonferenz-basierter Kommunika‐ tion mit Interaktion (im engeren Sinne) zu tun haben, kann als common sense der einschlägigen empirischen Forschung gelten. Eine Aufarbeitung des entsprechenden Forschungsstandes kann an dieser Stelle nicht geleistet werden (Hinweise dazu finden sich bei Lanwer 2021; Meier 2017; Held 2020; vgl. mit Bezug auf konversationsanalyti‐ sche Studien den Überblick bei Mlynář et al. 2018). 10 Die Daten stammen aus dem UZH-IntAkt-Korpus (s. u. Anm. 14). An dieser Stelle sei der Dozentin und den Studierenden für die Kooperation bei der Datenerhebung und das Einverständnis zur Nutzung der Daten herzlich gedankt. Die Unschärfe und die leichte Verzerrung der Abbildungen stammen von einem Bilderfilter, den Michael Obrist zum Zweck der Anonymisierung verwendet hat. Anwesenheit offenbar auch durch technische Hilfsmittel (wie schon beim Telefon) „hergestellt“ werden kann. Allerdings kommt es dabei zu spezifischen Besonderheiten: Es ist eben doch etwas anders, ob man dem Anderen direkt in die Augen oder auf einen Bildschirm bzw. in die Kameralinse des Laptops schaut. Auf diese Besonderheiten soll nun in den beiden abschliessenden Kapiteln näher eingegangen werden. 9 3 Telekopräsenz und Herstellung von Anwesenheit in der Videokonferenz Wie muss man es sich konkret vorstellen, dass Anwesenheit durch technische Hilfsmittel hergestellt wird? Wir blenden uns dazu in den Beginn einer Seminar‐ veranstaltung auf Zoom ein. Es handelt sich um die erste Sitzung des Seminars, und wir sehen die Dozentin, wie sie im Home-Office ihre Zoom-Anwendung auf dem Laptop einige Zeit vor offiziellem Sitzungsbeginn startet. Zusätzlich ist noch ein zweiter grösserer Monitor angeschlossen, der aber offenbar noch im Stand-by-Modus ist: 10 219 „Telekopräsenz“ <?page no="220"?> Abb. 6: Starten der Zoom-Anwendung, © IntAktKorpus Nach etwas mehr als einer Minute öffnet sich auf dem Laptopmonitor das Zoom-Fenster und zeigt neben dem Bild der Dozentin (oben rechts) den Namen einer weiteren Person an. Die Aufnahmefunktion von Zoom ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht aktiviert worden, so dass wir auf die Dokumentation der Szene aus der externen Kameraperspektive angewiesen sind, auf der der Bildschirm des Laptops nur sehr klein (und dunkel) erscheint, so dass das Bild der Dozentin und der Name auf dem Laptopmonitor mehr erahnt als erkannt werden können (zumal in der Reproduktion für den Druck): 220 Heiko Hausendorf <?page no="221"?> Abb. 7: Zoom-Anwendung zeigt den Namen einer Person an Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Dozentin ihren Computer (vor allem über die Maus) bedient, ohne einen Hinweis zu bekommen, dass jemand anderes in Reichweite anwesend sein könnte. Das ändert sich jetzt mit der Einblendung des Namens einer Person, wobei in diesem Stadium der Anzeige nicht klar ist, ob die fragliche Person ebenfalls vor dem eigenen Bildschirm sitzt und womöglich die Dozentin bereits wahrnehmen kann oder vielleicht ‚nur‘ die Anwendung gestartet hat, aber im Augenblick (noch) nicht den Bildschirm und das fragliche Fenster beachtet. Die Beteiligten können somit in diesem Moment (noch) nicht wahrnehmen, dass sie sich wahrnehmen, weil sie auf eine technisch-medial hergestellte Erreichbarkeit angewiesen sind. Telekopräsenz ist entsprechend (noch) nicht etabliert. Nach weiteren 5 Sekunden verändert sich das Zoom-Fenster, und anstelle des Namens wird auf dem Bildschirm das Gesicht einer Person face-to-face sichtbar: 221 „Telekopräsenz“ <?page no="222"?> 11 Die Namen wurden so anonymisiert, dass die Silbenstruktur erhalten geblieben ist. Abb. 8: Zoom zeigt Gesicht einer Person Damit wird evident, was zuvor noch fraglich war: Die weitere von Zoom angezeigte Person - wir wollen der Einfachheit halber von einem Studenten sprechen - scheint ebenso wie die Dozentin vor dem Bildschirm zu sitzen und das Zoom-Fenster zu beobachten und dies auch anzuzeigen, indem sie die eigene Kamera aktiviert, so dass das Fenster vom Namen zum Bild der Person wechselt. Es spricht aufgrund dieser Art von nahegelegter Sequentialität (Aktivieren der Kamera durch den Studenten als Reaktion auf die Sichtbarkeit der Dozentin auf dem Bildschirm und als Anzeigen der eigenen Verfügbarkeit) viel dafür, dass nunmehr eine Situation der Wahrnehmung nicht nur des Anderen, sondern auch der wechselseitigen Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens einge‐ treten und Telekopräsenz realisiert ist. Wie zur Bestätigung dieser Annahme ergreift die Dozentin fast unmittelbar nach Erscheinen des Gesichts des Stu‐ denten das Wort mit einer Begrüssung, in deren Realisierung sich das Besondere telekopräsenter Interaktion auf eine markante Weise dokumentiert: 01 HALlo anDREas? 11 Zum einen handelt es sich um das erste Element einer Paarsequenz der Begrüssung, mit deren Komplettierung durch den Angesprochenen die im Medium der visuellen Wahrnehmung hergestellte Anwesenheit eine hörbare sprachliche Manifestation finden kann und soll. Was vorher womöglich noch 222 Heiko Hausendorf <?page no="223"?> fraglich war, würde damit die verlässliche Belastbarkeit einer für gesichert gehaltenen Annahme erhalten: Die Beteiligten haben gesehen, dass sie sich gesehen haben. Zum anderen und zugleich ist aber unüberhörbar, dass die Sprecherin ihre Begrüssung mit Frageintonation ausspricht (deutliches Heben der Stimme am Äusserungsende). Die damit markierte Fraglichkeit schränkt die Belastbarkeit der Annahme wechselseitiger Wahrnehmung offenkundig ein: Es ist (für die Dozentin) im wahrsten Sinn des Wortes fraglich, ob sie tatsächlich von Wahrnehmungswahrnehmung ausgehen kann und ihr Sehen des Anderen auch vom Anderen gesehen wird (und umgekehrt). Diese Unsicherheit wird dabei nicht metakommunikativ bearbeitet, sondern lediglich über die Intonation mitkommuniziert (und ‚kontextualisiert‘). Wir sehen darin einen anschaulichen Beleg für den Beginn der Herstellung von Telekopräsenz: Die Evidenz wechsel‐ seitiger Wahrnehmung, die sich mit dem Blickkontakt und der räumlichen Nähe zwischen Personen wie selbstverständlich einstellt und sie bereits damit noch vor dem ersten Wortwechsel zu Anwesenden macht, wird durch das Erfordernis technisch herzustellender Erreichbarkeit eingeschränkt und gebrochen. Diese Brechung findet in der Frageintonation der Begrüssung eine hörbare Spur. Sie gibt der Begrüssung den Charakter eines Versuches (im Sinne eines „try marker“: Moerman 1988), der womöglich auch ins Leere laufen könnte. Nachdem „Andreas“ auf diesen Versuch offenbar nicht erkennbar reagiert und jedenfalls kein zweites Element einer Begrüssung produziert, expliziert die Dozentin nach einer kurzen Schweigephase ihre Frage: 02 (2 sec.) 03 [schnell] GHÖRSCH du mich Sie wiederholt also nicht den Begrüssungsversuch, sondern thematisiert einen Aspekt der wechselseitigen auditiven Wahrnehmbarkeit. Dass diese Frage handlungslogisch sehr voraussetzungsreich ist, zeigt die für die Kommunika‐ tion kritische Situation ungewisser Wahrnehmungswahrnehmung an, die für Situationen angestrebter Telekopräsenz typisch ist. Zugleich zeigt sich, dass die visuelle Wahrnehmung aufgrund fehlenden Blickkontakts (die Beteiligten können nur auf den Bildschirm bzw. in die Kamera schauen) offenkundig nicht hinreichend belastbar ist und zugleich damit gerechnet werden muss, dass Sicht- und Hörbarkeit auseinandertreten können: Die Dozentin sieht den Anderen vor sich, kann aber nicht davon ausgehen, dass er sie auch hören kann. Trotz der vordergründigen Evidenz einer Situation von Angesicht zu Angesicht (face-to-face) kann die Wechselseitigkeit der Wahrnehmbarkeit offenbar noch nicht hinreichend verlässlich unterstellt werden, weshalb die Dozentin auf Hörbarkeit und sprachliche sowie metakommunikative Mittel setzt, um eine 223 „Telekopräsenz“ <?page no="224"?> Situation von Telekopräsenz sicherzustellen - oder aber festzustellen, dass sie offenbar (noch) nicht oder zumindest (noch) nicht in der gewünschten Eindeutigkeit gegeben ist. In dieser Situation vergehen weitere ca. 20 Sekunden, bevor die Dozentin erneut das Wort ergreift und ihre auf zwei Redeeinheiten verteilte erste Äusse‐ rung wiederholt: 04 (20 sec.) 05 [schnell] hallo anDREas GHÖRSCH du mich? Sie scheint also zunächst zu warten, ob sich das Problem der Erreichbarkeit von selbst löst, und unternimmt dann einen weiteren Versuch, die wechselseitige Wahrnehmbarkeit sprachlich sicherzustellen. Damit wird offenkundig, dass sie eine Situation von Telekopräsenz anstrebt, mit der damit einhergehenden Verlässlichkeit des Beginns der Kommunikation. Fast im direkten Anschluss an diese Frage springt der Zoom-Bildschirm vom Gesicht zurück zum Namen des Studenten, was die Dozentin mit einem Ausruf der Überraschung quittiert: 06 OH 07 [leise] glaub irgendöppis funktioniärt NÖD hä Sehr anschaulich manifestiert sich im Wechsel von (versuchter) Begrüssung und Sicherstellung wechselseitiger Wahrnehmbarkeit mit hoher konditioneller Relevanz zur Interjektion als Ausdruck von Expressivität das (vorläufige) Schei‐ tern des Versuchs, Anwesenheit (d. h. Wahrnehmungswahrnehmung) durch Erreichbarkeit sicherzustellen, was im Anschluss dann auch situationsreflexiv kommentiert wird. Nach einem kurzen Moment, in dem die Dozentin und der Student offenbar ihre Zoom-Einstellungen verändern, erscheint ein neues Zoom-Bild, das u. a. wieder das Gesicht des Studenten zeigt. Daraufhin startet die Dozentin einen neuen Versuch, mit dem sie sich direkt an den Studenten wendet: 08 funktionierts JETZT andreas? Anstelle einer weiteren Begrüssung thematisiert die Dozentin mit dieser Frage nicht die wechselseitige Wahrnehmbarkeit („Hörst Du mich? “), sondern das ‚Funktionieren‘. In diesem sprachlichen Krisenmanagement zeigt sich anschau‐ lich der Übergang von Anwesenheit und Wahrnehmungswahrnehmung zu Erreichbarkeit: Nicht nur thematisiert das ‚Funktionieren‘ offenkundig die für die wechselseitige Erreichbarkeit in Anspruch genommene Technologie; die Frage nach dem Funktionieren setzt handlungslogisch - auf leicht paradoxe Weise - voraus, dass Anwesenheit bereits sichergestellt ist und ‚es‘ somit schon 224 Heiko Hausendorf <?page no="225"?> ‚funktioniert‘. Nachdem diese Frage zunächst unbeantwortet bleibt, wird sodann wieder die Wahrnehmbarkeit erfragt: 09 Doz: GHÖRSCH du mich? Diese neuerliche Frage wird (endlich) beantwortet: 10 Stud: ja kann dich hören 11 Doz: okay SUper Daran schliesst sich dann eine Thematisierung der technischen Probleme an, aber es ist klar, dass mit der Antwort von Andreas in Z. 10 Telekopräsenz in der für die Beteiligten offenkundig notwendigen und hinreichenden Evidenz hergestellt ist. Die ersten hier gerafft kommentierten ca. zwei Minuten der Aufnahme zeigen, dass Telekopräsenz auch im Fall der Videokonferenz tatsächlich auf Wahrnehmungswahrnehmung beruht und dabei zugleich auf technische Lö‐ sungen des Problems der Erreichbarkeit angewiesen ist. Zumal in einer Si‐ tuation, in der sich die Routinen der Herstellung von Anwesenheit unter der Bedingung videokonferenzbasierter Erreichbarkeit noch nicht eingespielt haben, kann man sehen, dass und wie Sprache als Ressource einspringt, um Wahrnehmungswahrnehmung in dem für die Beteiligten notwendigen Ausmass sicherzustellen. Das zeigt sich schliesslich auch im Fortgang der Vorbereitung des Sitzungsbeginns. Nach etwas mehr als drei Minuten startet die Dozentin die Aufzeichnungs‐ funktion von Zoom, sodass wir zusätzlich zum Bild der im Home-Office der Dozentin aufgebauten Kamera den typischen Videokonferenz-Bildschirm („talking heads“: Licoppe und Morel 2012) zu sehen bekommen, wie er durch die zoom-eigene Aufnahmefunktion erzeugt wird: Abb. 3.4: Zoom-Aufnahmefunktion wird gestartet 12 Doz: ich muss noch AUFzeichnen 225 „Telekopräsenz“ <?page no="226"?> Die Sitzung selbst ist noch nicht eröffnet, und die Dozentin fährt in ihrer Unter‐ haltung mit „Andreas“ fort (oben links in der Ecke mit Kopf und einem Teil des Oberkörpers sichtbar). Dabei sind inzwischen mindestens zwei weitere Studie‐ rende ‚dabei‘, ohne dass sie eigens begrüsst worden sind oder sich sonst wie zu Wort gemeldet haben. Offenbar geht die Dozentin davon aus, dass die Probleme wechselseitiger Erreichbarkeit für alle auf Zoom sichtbaren Studierenden gelöst sind, so dass von einer Situation auszugehen ist, die der allmählichen Füllung des Seminarraums mit teilweise unfokussierter Interaktion entspricht. Dabei erlaubt der Zoom-Bildschirm noch mindestens zwei weitere Beobachtungen: Während zwei Studierende mit dem Einschalten der Kamera Telekopräsenz gewählt haben, ist der Teilnahmestatus bei weiteren Studierenden unklar, weil sie die eigene Kamera ausgeschaltet haben und entweder ein Foto anstelle des Kamerabildes zeigen oder das von Zoom vorgesehene Platzhalterbild. Es kommt hinzu, dass man auch nicht wissen kann, was die anderen Zoom-Teilnehmenden gerade sehen, weil nicht transparent ist, welche Einstellungen sie auf ihren eigenen Bildschirmen gewählt haben. Das zeigt sehr anschaulich, wie unter Bedingungen von Telekopräsenz Anwesenheit tatsächlich „gewählt“, d. h. aus- oder angeschaltet und manipuliert werden kann (was sonst so nicht möglich ist) und wie hypothetisch die Wahrnehmungswahrnehmung dadurch wird. Die andere Beobachtung betrifft die Sichtbarkeit des Raumes der Dozierenden: Während die von uns aufgestellte Kamera einen Teil des Home-Office zeigt, zeigt der Zoom-Bildschirm eine Ansicht des Deutschen Seminars der Universität Zürich als Hintergrund. Das Home-Office ragt damit definitiv nicht in die kom‐ munikative Zone der Telekopräsenz. Anders gesagt: Unter Telekopräsenten löst sich der Interaktionsraum vom jeweiligen Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsraum der Beteiligten ab zugunsten des für alle sichtbaren Arrange‐ ments der Bilder der eigenen Aufzeichnungskamera auf dem Zoom-Fenster. Nur was über die Aufzeichnungskameras auf den einzelnen Bildern als Hintergrund sichtbar bleibt bzw. sichtbar wird, ragt in die telekopräsente kommunikative Zone. Das kann, muss aber nicht ein Teil des jeweils eigenen Handlungsraums der Beteiligten sein. Erst als sich wenig später eine weitere Studentin ‚zuschaltet‘, d. h. ihre Auf‐ zeichnungskamera anschaltet, mit einigem Aufwand justiert, so dass sie besser ins Bild kommt, und ein ostentatives Lächeln zur Schau stellt (also die anderen Beteiligten sozusagen ‚anlächelt‘), begrüsst die Dozentin die Studierenden als Kollektiv: 226 Heiko Hausendorf <?page no="227"?> Abb. 10a und 10b: Begrüssung der Studierenden 13 Doz: HALlo zuSAMmen. Im gut hörbaren Gegensatz zur ersten Begrüssung von Andreas wird dieses erste Element einer Begrüssungssequenz nicht mit Frageintonation ausgesprochen, sondern in eher beiläufigem Tonfall als klare Bestätigung und sprachliche Verfestigung der Situation von Telekopräsenz. Wie zur Bestätigung löst sie bei einer der schon zuvor zugeschalteten Beteiligten ein gut sichtbares Lächeln und eine Geste des Handhebens als zweites Element der Begrüssungspaarsequenz aus: Abb. 11 (identisch mit 10b): Begrüssungspaarsequenz mit Geste auf Zoom Das Beispiel zeigt, wie unter diesen Bedingungen, d. h. durch das Ausnutzen der Kamerafunktion, Telekopräsenz hergestellt werden kann und dass sich 227 „Telekopräsenz“ <?page no="228"?> die Beteiligten - in unterschiedlichen Graden - an der Demonstration von Anwesenheit beteiligen, was dann von der Dozentin noch einmal durch Zurück‐ grüssen und -lächeln bestätigt wird: Abb. 12: Zurückgrüssen auf Zoom Auf diese Weise kommt es zu typischen Ritualen der Anwesenheitsvergewisse‐ rung zwischen einzelnen Beteiligten, die an die technischen Bedingungen der wechselseitigen Erreichbarkeit angepasst sind und die wechselseitige Wahrneh‐ mung unübersehbar machen. Da der offizielle Sitzungsbeginn offenbar noch nicht ansteht, ergibt sich eine längere Schweigephase mit nicht-fokussierter Interaktion, an der man ablesen kann, welche Freiräume die telekopräsente Situation für die Anwesenden bereithält. Z. B. ist es für die Beteiligten nicht sichtbar, was und wohin genau geschaut wird: Abb. 13: Dozentin blendet Zoom-Fenster aus Dass die Dozentin, wie Abb. 3.8 zeigt, in diesem Moment die anderen Beteiligten nicht visuell wahrnehmen kann, weil sie auf ein anderes Fenster gewechselt ist, wird auf dem für alle zugänglichen Zoom-Bildschirm nicht sichtbar. Es könnte entsprechend auch für die anderen Beteiligten gelten. Die affordances der Zoom-Plattform erlauben also offenbar besondere Formen nicht-fokussierter 228 Heiko Hausendorf <?page no="229"?> 12 Diese zweite Aufnahme entspricht dem, was die Studentin in ihrem Zoom-Fenster sieht, während die mit der entsprechenden Zoomfunktion gestartete Aufnahme z. B. nicht die Namen der Teilnehmer*innen anzeigt und auch die möglichen „Reaktionen“ (wie Emoticons) nicht mit aufzeichnet. Interaktion, in der die Evidenz der Telekopräsenz zumindest durch und für einzelne Teilnehmer*innen deutlich heruntergefahren wird. Nicht unähnlich der Situation im sich allmählich füllenden Seminarraum oder Hörsaal (vgl. dazu Hausendorf 2020) ergibt sich eine Wartesituation, die Raum lässt für selbstbezogene und für die Anderen nicht sichtbare Aktivitäten, darunter auch das Wählen von Abwesenheit durch das Nicht-Einschalten der Kamera: Abb. 14: Wartesituation mit an- und abwesenden Studierenden Inzwischen hat noch eine weitere Teilnehmerin (auf unsere Bitte und Verabre‐ dung) die Aufnahme ihres Zoom-Bildschirms gestartet, so dass im Standbild ein weiteres Zoom-Fenster sichtbar wird. Dieses zeigt die typische Oberfläche mit den Zoom-affordances, und es zeigt, dass zwei Studierende ihre Kamera ausge‐ schaltet haben, so dass die Namen eingeblendet werden und der Teilnahmestatus unklar bleibt. 12 Dass man nicht nur Anwesenheit (z. B. durch Mimik und Gestik), sondern auch Abwesenheit zeigen kann, belegt ein Student, der nicht die Kamera ausschaltet (und seinen Status damit offenlässt), sondern seinen Platz vor der Kamera und damit vor dem Bildschirm bei angeschalteter Kamera verlässt: 229 „Telekopräsenz“ <?page no="230"?> Abb. 15a und 15b: Wählen von Abwesenheit vor laufender Kamera, © IntAkt-Korpus In der Folge erscheint ein leeres Bild, das auf den ersten Blick ‚keinen Sinn macht‘, aber eben die eigene - temporäre - Abwesenheit für die Anderen unübersehbar macht (ähnlich einem leeren Stuhl, der eben noch besetzt war). Nach nunmehr fast 6.5 Minuten erscheint ein weiteres Zoom-Fenster auf unseren Standbildern: 230 Heiko Hausendorf <?page no="231"?> Abb. 16: Weiteres Zoom-Fenster Die verschiedenen Fenster, die durch die Aufnahmen erzeugt werden, unter‐ scheiden sich u. a. durch die Anordnung und Anzahl der einzelnen Bilder. Damit wird deutlich, dass man nicht davon ausgehen kann, dass alle Beteiligten in ihrem Zoom-Fenster das Gleiche (in der gleichen Anordnung) sehen. Wie schon illustriert worden ist, kann nicht einmal umstandslos davon ausgegangen werden, dass die Beteiligten überhaupt das Zoom-Fenster auf ihrem jeweiligen Bildschirm im Vordergrund geöffnet haben. Der Status von Telekopräsenz auf Zoom ist also prinzipiell fragil und (stör)anfällig. Die Beteiligten können (bis auf Weiteres) so tun, als seien die Anderen telekopräsent, aber diese Default-An‐ nahme kann sich schnell als trügerisch erweisen. Wie auch ansonsten in der Interaktion reicht die Unterstellbarkeit eines Minimums geteilter Aufmerksam‐ keit und Wahrnehmungswahrnehmung aus, um weiterfahren zu können. Das gilt insbesondere für den Zustand der nicht-fokussierten Interaktion. Dieser Zustand wird aufgehoben, wenn die Dozentin nach etwa 9 Minuten zum offiziellen Sitzungsbeginn übergeht: 231 „Telekopräsenz“ <?page no="232"?> 13 Die Dozentin markiert mit dem Wechsel vom Dialekt („ghörsch mich“) zum Standard‐ deutschen zugleich den Übergang von der Vergewisserung über die wechselseitige Wahrnehmung hin zur offiziellen Sitzungseröffnung. Das passiert in unseren Daten häufiger (Hinweis von Johanna Jud). Abb. 17: Offizieller Sitzungsbeginn 01 DOZ: äh ja es ist viertel NACH, 13 02 ähm (.) es ist aber noch so dass wir glaub ich(.) äh heute sind wir glaub ich etwas sechs_und_ZWANzig, 03 ich weiss nicht vielleicht wart ich noch ganz zwei miNUten, 04 äh guck noch schnell in die MAILS (.) ob da leute (---) sich abmelden oder so etwas, 05 (6.0) 06 glaub NICHT; 07 (3.0) 08 sonst genau (---) würde ich vielleicht (--) JETZT (.) anfangen, 09 hehe geNAU, 10 ähm herzlich willkommen zu diesem äh semiNAR, 11 nicht äh MENSCH nicht_mensch interaktion, 12 °h ÄHM hÖrt ihr mich alle gut, 232 Heiko Hausendorf <?page no="233"?> 13 (1.0) 14 äh genau aso ähm äh ähm genau he aso man kann ähm NICKen oder; 15 ÄHM ah da kommt noch jemand; 16 oder man kann hier eine reaktion äh: MACHen, 17 SO; 18 geNAU dann äh (--) wahrscheinlich ah äh äh äh (.) äh genau (.) einige machen_s schon, In dieser Eröffnungssequenz zeigt sich, dass die Dozentin wie schon bei ihrer ersten Kollektivbegrüssung (s. o.) wie selbstverständlich und bis auf Weiteres von technisch hergestellter Wahrnehmungswahrnehmung ausgeht, sodass ge‐ hört werden kann, was sie sagt. Weitergehende Evidenz gibt es dafür zunächst nicht: Abb. 18: „Gesichterwand“, Z. 007 Wenn man die Bilder durchgeht, sieht man ein sehr heterogenes Szenario: Einige Teilnehmer*innen haben ihre Kameras nach wie vor ausgeschaltet. Mimik, Blickrichtung und Kopfrichtung variieren je nach Teilnehmer*in stark. Eine Teilnehmerin scheint mit einer nicht im Bild sichtbaren weiteren Person in ihrem Handlungsraum beschäftigt (zweite Reihe von oben, Bild ganz rechts), 233 „Telekopräsenz“ <?page no="234"?> andere Teilnehmer*innen schauen nicht in Richtung Bildschirm oder Kamera, während wieder andere ostentativ in Richtung Bildschirm zu schauen scheinen. Auffällig ist, dass die Dozentin nach ihrer performativen Begrüssung (Z. 10 bis 11) eine Rückfrage stellt, die an ihre ersten Fragen ganz zu Beginn erinnert, aber davon markant abweicht: „Hört Ihr mich alle gut? “, Z. 12. Fraglich ist nicht mehr die prinzipielle Hörbarkeit, sondern nur noch die Qualität der Hörbarkeit. Der Fokus richtet sich also auf technische Bedingungen der technischen Erreich‐ barkeit und setzt die Etablierung von Telekopräsenz bereits voraus. Zugleich ermöglicht und suggeriert diese Frage Spielräume für das Aufzeigen von Anwe‐ senheit durch Responsivität. Im vorliegenden Fall geschieht das vor allem durch vereinzeltes Nicken, dessen Wahrnehmung von der Dozentin im Anschluss wiederum explizit bestätigt wird (Z. 14). Situationsreflexive Kommentare wie diese belegen, dass sich die Situation der Telekopräsenz offenbar noch nicht von selbst versteht, sondern kommentiert und eingeübt werden muss. Dazu passt auch, dass die Dozentin dann zusätzlich noch auf die zoom-typischen affordances (Gibson 1977) für Responsivität aufmerksam macht. All dies dient dazu, Evidenz für eine Situation der Wahrnehmungswahrnehmung zu schaffen und nicht ‚gegen eine Wand‘ zu sprechen. Es reicht also offenbar nicht aus, gehört zu werden. Stattdessen wird dazu eingeladen und aufgefordert, dass das wechselseitige Gehört-Werden selbst wahrnehmbar wird. In unserer Termino‐ logie ist das ein anschaulicher Beleg dafür, dass die videokonferenzbasierte Kommunikation im vorliegenden Fall tatsächlich auf Kopräsenz beruht, also Interaktion realisiert - wenngleich in einer auf Erreichbarkeit beruhenden Form. Eben dafür steht nach unserem Verständnis der Begriff der Telekopräsenz. Wenn es dafür noch eines Beleges bedurft hätte, liefert ihn die Dozentin in Z. 15, wenn sie darauf hinweist, dass offenbar gerade noch jemand „kommt“, nachdem sich ein weiteres Bild auftut: 234 Heiko Hausendorf <?page no="235"?> Abb. 19a und 19b: Jemand kommt dazu Die Dozentin zeigt damit an, dass sie aufmerksam registriert, was sich auf dem Zoom-Bildschirm tut und dass sie das Einschalten der Kamera zugleich als eine Art ‚Eintritt‘ in einen virtuellen Seminarraum behandelt („ah da kommt noch jemand“), der aufmerksam wahrgenommen und auch kommentiert wird. Wer sich auf Zoom dazuschaltet, ist nicht nur ein weiterer Zuschauer, sondern wird als Anwesende*r behandelt, die/ der damit rechnen muss, dass ihre/ seine 235 „Telekopräsenz“ <?page no="236"?> Wahrnehmung des Geschehens selbst wahrgenommen - und kommentiert - wird. 4 Ausblick: Telekopräsenz als Kommunikationsbedingung im Wandel Einer der augenfälligen sozialen Effekte der COVID-19-Pandemie ist die mit dem Virus voranschreitende Verbreitung von dem, was wir hier mit Telekopräsenz bezeichnen und abstrakt als eine Form der „Kreuzung“ von Anwesenheit und Erreichbarkeit eingeführt und soeben am Beispiel des Beginns einer Seminar‐ sitzung auf Zoom illustriert haben (s. o. Abschnitt 2 u. 3). Ihre erste Welle der Verbreitung hat diese Kommunikationsbedingung mit der Allgegenwart des Telefons gefunden. Viel spricht dafür, dass wir gerade - befeuert durch die Pandemie - eine zweite Welle der Verbreitung von Telekopräsenz mit der Nutzung des Internets und mobiler Endgeräte für „Video-“ bzw. „Webkon‐ ferenzen“ und „Video-“ bzw. „Bildtelefonie“ erleben, auch wenn die dafür notwendige Technologie schon länger entwickelt und auch verbreitet worden ist (siehe Abschnitt 1). Was aber ist das Neue und wo liegen die möglicher‐ weise auch längerfristig relevanten Veränderungen, die mit dieser Technologie einhergehen? Alles andere als neu ist ja gerade die zugrundeliegende Kommu‐ nikationsbedingung von Telekopräsenz. Viele der jetzt verbreiteten Tipps aus der Ratgeberliteratur scheinen zudem wie selbstverständlich von einem Mythos der Ursprünglichkeit des natürlichen Gesprächs, in unserer Terminologie: von einem Anwesenheits-Mythos auszugehen. Ausgehend von diesem Mythos lässt sich dann etwa kritisch feststellen, dass in Videokonferenzen die Wahrnehmung eingeschränkt und zugleich stark fokussiert, Blickkontakt nicht möglich und der Sprecherwechsel erschwert seien (vgl. z. B. Benini 2021). Das alles ist nicht ganz falsch, aber doch sehr oberflächlich. Auch im Gespräch unter unmittelbar Anwesenden ragt z. B. nicht alles automatisch in die kommunikative Zone, was für die Beteiligten sinnlich wahrnehmbar ist, sondern nur ein kleiner Ausschnitt wird gewissermassen in seiner Wahrnehmbarkeit systematisch wahrnehmbar gemacht (Hausendorf 2003a); der Blickkontakt ist seit jeher sehr viel stärker regelbasiert und kontrolliert, als uns das bewusst ist - wie man heute mit Verfahren des mobilen Eye-Tracking auch gut dokumentieren kann (Brône und Oben 2018). Und das, was wir schliesslich über den Sprecherwechsel aus der Konversationsanalyse wissen (Sacks et al. 1974), stammt originär aus der Beschäftigung und Konfrontation mit Telefongesprächen, also aus der Beschäftigung mit Telekopräsenz! Vieles von dem, was jetzt als „künstlich“, „belastend“ oder „erschwerend“ mit Blick auf das Zoomen ins Feld geführt wird, 236 Heiko Hausendorf <?page no="237"?> ist also gar nichts Neues (wenn man davon absieht, dass es sich häufig nicht um eine One-to-one-, sondern um eine One-to-many-Konstellation handelt), oder es lebt ohnehin nur von der Hypostasierung eines Ur- und Reinzustandes „natürlicher“ Kommunikation, den es nie gegeben hat. Es braucht deshalb den Hinweis, dass die auf Anwesenheit beruhende Interaktion kein Wohlfühlsetting, sondern ein durch und durch strukturiertes, regel- und gesetzmässig ablaufendes Geschehen ist, das an die Beteiligten sys‐ tematische Anforderungen stellt, darunter auch eine nicht zu unterschätzende Körperdisziplin. So abstrakt und abgehoben das klingen mag: Anwesenheit war und ist (schon immer) eine kommunikative Hervorbringung, die nicht einfach gegeben und da ist, sondern auf der gemeinsamen Herstellung und Darstellung der Teilnehmenden beruht. Man musste, vereinfacht gesagt, schon immer zeigen, dass man auch anwesend ist (siehe Abschnitt 1). Weil das so ist, ist Interaktion wandel- und entwickelbar, d. h. mit dem Entstehen neuartiger Technologien auch über den Kreis des Hier und Jetzt ausdehnbar, aber auch viel robuster und anpassungsfähiger an interaktionsfeindliche Umwelten, in denen z. B. die menschliche Sinneswahrnehmung massiv eingeschränkt ist. Wir wissen z. B., dass Interaktion auch unter Anwesenden möglich ist, die weder hören noch sehen (aber dafür womöglich ganz andere Sensorien für die Interaktion zugänglich machen). Abstrakter formuliert: Interaktion ist eine robuste Sozial‐ form, die sich den Bedingungen, unter denen sie zustande kommen kann, nicht nur anpasst, sondern diese Bedingungen von Fall zu Fall auch reproduzierend gestaltet. Anwesenheit ist also eine Konstruktion und als solche im Erleben der Beteiligten graduierbar: Man kann sich z. B. sprachlich durch das Ausnutzen des Sequentialitätsprinzips verbaler Interaktion (Hausendorf 2007) - etwa innerhalb von „Paarsequenzen“ (wie Frage-Antwort-Sequenzen) und durch unscheinbare Rückmeldesignale (wie das nicht nur am Telefon unverzichtbare „hm“) - Gewissheit darüber verschaffen, dass man gerade gehört (und gesehen) wird bzw. dass man selbst gerade zuhört und ‚dabei‘ ist. Es ist vielleicht genau das, was wir gerade massenhaft erleben auf Plattformen wie Zoom oder Teams: eine nicht nur technische, sondern auch sprachliche Amalgamierung von Erreichbarkeit und Anwesenheit zugunsten von Telekopräsenz (s. o. Abschnitt 2). Anders als beim Telefonieren sind davon nicht nur die auf Hörbarkeit bezo‐ genen Erscheinungsformen der Kommunikation betroffen, also insbesondere die Stimmen, sondern einbezogen sind jetzt auch die Sichtbarkeit insbesondere der Gesichter der Beteiligten und sogar die Lesbarkeit von Text. So ist es z. B. ohne Weiteres möglich, das Schreiben und Lesen von Mitteilungen einzu‐ beziehen. Damit wird nicht nur ein weiteres („Chat“-)Tool neben anderen aus‐ genutzt, sondern Telekopräsenz mit Lesbarkeit vermittelt. Zwar ist Lesbarkeit 237 „Telekopräsenz“ <?page no="238"?> mit der Flüchtigkeit elektronischer Kommunikation schon länger auf dem Weg zu einer „quasi-synchron“ hergestellten Kommunikationsbedingung (Dürscheid 2005). Jedoch markiert das Schreiben und Lesen unter medial Anwesenden eine neue Qualität, so sehr sich die Nutzer und Nutzerinnen mit dieser Innovation noch schwer tun mögen (indem sie z. B. die auf Zoom mitbereitgestellte „Chat“-Funktion zu ignorieren oder zu unterdrücken versuchen). So gesehen ergeben sich bei Videokonferenzen eben nicht nur die bekannten Be- und Einschränkungen (zu denen das Blickkontaktdilemma gehört: vgl. mit weiteren Hinweisen Held 2019: 172 ff.), sondern auch neue Ressourcen. Wie schon erwähnt rücken die Gesichter näher, was so etwas wie expressive Mimik erlaubt und fördert. Angesichts einer Vielfalt sichtbarer Räumlichkeiten stellt sich schliesslich die Frage nach dem gemeinsamen Interaktionsraum neu. So haben wir in der Beispielanalyse sehen können, dass der von unserer Kamera aufgezeich‐ nete Home-Office-Raum der Dozentin für die Zoom-Teilnehmenden gar nicht sichtbar ist und es mit den neben- und untereinander angeordneten kleinen Monitoren der Kameraufzeichnungen der Anwesenden zu einer Vielzahl von sichtbaren Räumen in Form von Bildschirmhintergründen kommt. Der von den Anwesenden geteilte Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsraum ist also nicht der jeweilige Raum der Beteiligten, in dem sie vor ihrem Bildschirm und der Kamera sitzen, sondern das auf dem Zoom-Bildschirm arrangierte Tableau mit übertragenen Bildern (auf denen die Einzelräume ausschnitthaft sichtbar, aber nicht automatisch auch für die Interaktion relevant werden). Auch hier ist freilich zu bedenken, dass schon in der auf Kopräsenz beruhenden Interaktion der Raum als geteilter Raum nicht einfach mit dem Sich-Treffen und Beieinander-Sein gegeben ist, sondern in dem, was für die Interaktion gerade relevant sein soll, von den Beteiligten „hergestellt“ werden muss: Der Interaktionsraum „ist“ nicht, sondern „ereignet sich“, wie es bei E. Fischer-Lichte heisst (Fischer-Lichte 2006: 20). Das gemeinsame Hier der Anwesenden ist, im konversationsanalytischen Jargon, ein „interactional achievement“, das auf Situierungen beruht, die laufend im Vollzug der Interaktion erbracht werden müssen (Hausendorf und Schmitt 2018) - und in der Regel sehr unscheinbar und unauffällig im Medium z. B. der Deixis erfolgen. Die Interaktion löst sich auf diese Weise als ein selbstreferentiell-autopoietisch operierender Prozess von externen Bedingungen ab: In und mit Interaktion wird ausgewählt, was gerade relevant sein soll (Hausendorf 2003a; Hausendorf 2013). Mit dem Übergang von Kopräsenz zu Telekopräsenz fällt also nicht einfach der geteilte Interak‐ tionsraum weg, sondern es verändern und verlagern sich die Möglichkeiten seiner Herstellung. So ist z. B. der gebaute und mobiliar gestaltete Raum als 238 Heiko Hausendorf <?page no="239"?> „Interaktionsarchitektur“ unter Anwesenden eine starke Ressource, auf die die Beteiligten bei der Schaffung eines gemeinsamen Hier zurückgreifen - etwa wenn sie zusammen an einem Tisch in einem Zimmer Platz nehmen (Hausen‐ dorf et al. 2016). Diese Ressource, die weitgehend körperlich durch Verfahren der Navigation und Positionierung erschlossen wird (also mit humanspezifischer Motorik und Sensorik zu leisten ist), fällt unter telekopräsent Anwesenden weg. Die Herstellung des Interaktionsraums ist auf mehr als verkörperte Motorik und Sensorik angewiesen, eben auf Kameras und Mikrofone, häufig auch auf explizite sprachliche Instruktionen und Kommentare. An die Stelle gebauter und möblierter Interaktionsarchitektur(en) treten die „affordances“ (Gibson 1977) der Videokonferenzplattformen. Damit ragen dann auch Aspekte von (auch und gerade privater) Räumlichkeit (im Sinne des „Wohnens“ und des „Zuhauses“) in die kommunikative Zone, d. h. werden mehr oder weniger schwer vermeidbar und deshalb erwartbar mitwahrgenommen und damit zum Interaktionsraum. Viel spricht dafür, dass wir hier erst und noch am Anfang einer Entwicklung stehen, die das eigene Wohnen mehr und mehr zum „natürlichen Zuhause“ (Goffman 1964) von Telekopräsenz umgestalten wird („smart home“), so dass wir, um telekopräsent zu sein, z. B. nicht mehr darauf angewiesen sein werden, ein Endgerät mit Internetzugang auf- und anzustellen, auf dessen beschränkte Reichweite(n) wir angewiesen sind. Bis es so weit ist, werden wir wohl noch eine Weile damit leben müssen, uns wechselseitig darauf hinzuweisen, dass das Mikrofon nicht angeschaltet, das Kamerabild eingefroren oder die Stimme zu leise ist. Fast keine der vielen telekopräsent abgehaltenen Lehrveranstaltungen, die wir seit Beginn der Pan‐ demie zu Forschungszwecken aufgezeichnet haben (s. u. Anm. 14), kommt entsprechend ohne situationsreflexive sprachliche Metakommentare aus („Hört mich jemand? “), die als Krisenmanagement einspringen, wenn es mit der Herstellung des gemeinsamen hier von Fall zu Fall noch etwas holpert und stolpert und die Unterstellbarkeit eines reibungslosen Funktionierens der neuen Techniken der Situierung offenbar noch nicht gegeben ist (s. zur Illustrierung o. Abschnitt 3). Aber klar ist auch, dass wir es hier mit Übergangsphänomenen zu tun haben, wohingegen sich deutlich abzeichnet, dass die auf Telekopräsenz beruhende Kommunikation mit und durch Sprache so schnell nicht aus unserem Alltag verschwinden wird. Ob und wie das neben der Kommunikation und mit ihr auch die Sprache selbst verändern wird, ist im Moment noch nicht abzusehen, muss uns aber auch nicht weiter kümmern: Die Sprache ist als 239 „Telekopräsenz“ <?page no="240"?> 14 Im vorliegenden Beitrag wird eine Diskussion aufgenommen, die mich seit vielen Semestern mit meiner Zürcher Kollegin Christa Dürscheid über viele Ganggespräche verbindet. Sie kreist um den Versuch, den Veränderungen der mündlichen wie schriftli‐ chen Kommunikation in elektronischen Umgebungen konzeptionell gerecht zu werden. Einen institutionellen Rahmen für diese Diskussion bildet die Forschung zum Zusam‐ menhang von Sprache und Architektur am Universitären Forschungsschwerpunkt Sprache und Raum der Universität Zürich (UFSP SpuR: www.spur.uzh.ch). Aus diesem Netzwerk ist auch das SNF Projekt „Interaktion und Architektur“ (IntAkt: www.ds.uzh .ch/ de/ projekte/ intakt) hervorgegangen, innerhalb dessen das Projektteam seit dem FS 2020 die Auswirkungen der Pandemie auf den Lehrbetrieb (den Übergang von Kontaktzu Fernlehre) dokumentiert und analysiert hat. Das Zürcher IntAkt-Korpus liefert die Daten, auf die ich mich in diesem Beitrag beziehen werde und aus deren gemeinsamer Analyse die vorzustellende Konzeption entstanden ist. Kenan Hochuli, Johanna Jud und Alexandra Zoller danke ich entsprechend für zahlreiche Diskussionen, Anregungen und gemeinsame Datensitzungen. Den (system)theoretischen Hintergrund habe ich immer wieder mit Johanna Jud und Tilmann Sutter besprochen, wofür an dieser Stelle ebenfalls gedankt sei. Michael Obrist hat die Anonymisierung der Abbildungen besorgt. Hiloko Kato und den Herausgeber: innen dieses Bandes danke ich für die genaue Lektüre und eine Reihe wertvoller Überarbeitungshinweise. Medium nicht weniger robust und anpassungsfähig als die Interaktion, in der sie ihr natürliches Zuhause hat. 14 Literatur Baecker, Dirk (2020). Soziologie 4.0 und ihre Vorläufer: Eine Skizze. In: Sabine Maasen/ Jan-Hendrik Passoth (Hrsg.). Soziologie des Digitalen - Digitale Soziologie? 1. Auf‐ lage. Baden Baden: Nomos (Soziale Welt. Sonderband, 23), 17-45. Benini, Sandro (2021). Die grosse Meetingmüdigkeit. In: Tages-Anzeiger, 10.03.2021 (Mittwoch), 27. Brône, Geert/ Oben, Bert (Hrsg.) (2018). Eye-tracking in interaction. Studies on the role of eye gaze in dialogue. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing Company (= Advances in interaction studies (AIS) 10). Campos-Castillo, Celeste/ Hitlin, Steven (2013). Copresence: Revisiting a Building Block for Social Interaction Theories. In: Sociological Theory 31 (2), 168-192. Dürscheid, Christa (2005). Medien, Kommunikationsformen, kommunikative Gattungen. In: Linguistik online 22. Dürscheid, Christa (2012). 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Der Artikel plädiert daher für eine linguistische Meinungsforschung, die sich u. a. folgenden Fragen widmen sollte: Wie werden Meinungen (von wem und in welcher Weise) kommunikativ überhaupt ins Spiel gebracht, wie wird um sie gerungen und was hat das für Folgen - sowohl für die soziale Positionierung der beteiligten Akteure als auch für weitere Formen und Verläufe von Anschlusskommunikation? Wie werden Meinungen interaktiv oder diskursiv gebildet, ausgetauscht und modifiziert oder veränderten Umständen angepasst? Welche Rolle spielen dabei Medien, Gattungen und Stile ebenso wie diverse Meinungsmuster (z. B. Topoi)? Gibt es Indikatoren, an denen Meinungen erkannt und festgemacht werden können? 1 Vorbemerkung Sich mit neuen und neusten Forschungsergebnissen an eine breite Öffentlichkeit zu wenden, ist in der Linguistik keineswegs selbstverständlich. Selbst wenn es sich - wie beim Buch Schreiben digital (Dürscheid/ Frick 2016) - um ein Thema handelt, das manche und manchen umtreibt. Mit dem Untertitel Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert wird zudem angesprochen, was heute <?page no="246"?> 2 Das betrifft u. a. gleichermaßen die „Laienlinguistik“ (Antos 1996, Hoffmeister et al. 2021, Hoffmeister 2021), die „Spracheinstellungsforschung“ (Soukup 2019) und die „Sprachideologieforschung“ (Spitzmüller 2013, 2015, 2019, B. Busch 2019). viele bewegt, irritiert oder gar ängstigt: Es geht um Formen und Folgen digitaler Schriftlichkeit (Dürscheid 2020, Androutsopoulos/ F. Busch 2020). Konkret: Was passiert, wenn sich Emoijs oder Inflektive per Internet auf die gesamte Schriftlichkeit ausbreiten? Oder: Was, wenn digitale Kommunikation den immer wieder beschworenen Sprachverfall begünstigt oder gar befeuert? Die beiden Autorinnen tun solche Ängste nicht ab, sondern greifen sie auf: a. Wie wird das digitale Schreiben in der Öffentlichkeit bewertet, welche Be‐ fürchtungen gibt es diesbezüglich? b. Welche Rückschlüsse werden in Bezug auf den Zustand der deutschen Sprache gezogen? c. Was entgegnet die Wissenschaft auf die Äußerungen sprachbesorgter Bürger*innen und Journalist*innen? (Dürscheid/ Frick 2016: 101-102). In solchen Fragen spiegelt sich ein „partizipatives Wissenschaftsverständnis“ (Antos 2021b) wider, das darauf abzielt, für linguistische Argumente und Er‐ kenntnisse zu werben (Dürscheid 2016, Dürscheid/ Brommer 2019). Die zitierten Fragen knüpfen zudem an eine Linguistik an, die „Sprache und Kommunikation im Urteil der Öffentlichkeit“ (Antos et al. 2019, Hennig/ Niemann 2022) zu einem eigenen Gegenstand des Faches gemacht hat. 2 Dazu gehört auch, was die breite Öffentlichkeit interessiert: Was macht einen „guten Text“ mit einer „guten Rechtschreibung“ aus (Dürscheid/ Brommer 2019)? Oder: Welche graphischen Zeichen, insbesondere welche Schrifttypen, sind in welchen Texten angemessen oder eher deplatziert (Spitzmüller 2013, Dürscheid/ Siever 2017, Bonderer/ Dür‐ scheid 2019)? In einer sich weithin deskriptiv verstehenden Linguistik haben solche Fragen noch immer einen grenzüberschreitenden Charakter und sind daher alles andere als selbstverständlich. Obendrein belegen sie, was für Christa Dürscheid offenbar besonders zählt: Sie nimmt die ‚öffentliche Meinung‘ ernst, konfrontiert sie aber zugleich einfühlsam mit linguistischen Forschungen und Erkenntnissen! 2 „Ihre Meinung bitte! “ In Kommentaren, Diskursen oder in der so genannten ‚öffentlichen Meinung‘ geht es heute um die mitunter vordergründig aufgeworfene Frage, ob und welche Meinungen überhaupt ernst genommen werden und welche inten‐ dierten oder zugeschriebenen Folgen sie haben. Vordergründig geht es bei 246 Gerd Antos <?page no="247"?> Meinungen um fragliche Einstellungen zu propositionalen ‚Inhalten‘ sowie um Bewertungen dieser Inhalte gegenüber einer medialen Öffentlichkeit (Antos 2019, Hauser/ Opiłowski/ Wyss 2019). Vor allem aber geht es bei Meinungen um eine diskursive Positionierung, in der (inszenierte) Selbstbilder ebenso zum Ausdruck gebracht werden können wie Bekundungen der eigenen Identität. Was das Haben oder das Äußern von Meinungen sozial und mitunter auch politisch folgenreich macht, ist die in ihnen zum Ausdruck kommende Selbst‐ ermächtigung einerseits und das, was in einer Kultur oder in einem Kontext kommunikativ zählt oder umstritten ist. Daher wird um Meinungen gerungen, gebuhlt oder gekämpft. Im Privaten wie in (sozialen) Medien, der Werbung oder in der Politik. Für die Wirtschaft sind Meinungen zudem ein ‚Frühwarnsystem‘ für sich verändernde Bedürfnisse und Indikatoren neuer Trends. Daher finden sich z. B. in Hotels, bei Ärzt*innen, generell bei Dienstleistungen, Kauf- oder Telefonberatungen heute ganz selbstverständlich Hinweise wie „Ihre Meinung ist uns wichtig“ oder „Wir freuen uns auf Ihre Meinung“! Was wie eine demons‐ trative Hochschätzung von Kund*innen und Klient*innen klingt, entpuppt sich als ein Marketing-Instrument, das anzeigt, mit welchen konsumorientierten Einstellungen und emotionalen Bewertungen zu welchen Themen zu rechnen ist. Nicht nur beim Kaufen oder Verkaufen gilt: Wer Meinungen kennt und sie in sein bzw. in ihr Kalkül mit einbezieht, verschafft sich Vorteile, bisweilen auch kommunikative wie kollektive Macht. Deshalb verstecken oder kaschieren Menschen bisweilen ihre Meinungen bzw. halten damit ‚hinter dem Berg‘. Hinzu kommt: Einfach oder gar direkt nach bestimmten Meinungen zu fragen, gilt in vielen Kulturen und Kontexten als taktlos oder sogar als Tabubruch (vgl. ‚Gretchenfrage‘ politische Ansichten etc.). Höflichkeit spielt dabei ebenso eine gewisse Rolle wie Angst vor Blamage oder (politisch motivierten) Sanktionen (vgl. Schlobinski 2020). Umso überraschender erscheint heute die offene Propagierung ‚persönlicher Meinungen‘ in sozialen Netzwerken - angefangen von Kommentaren und Bewertungen zu geposteten Meinungen bis hin zur demonstrativen Übernahme von Propaganda oder Desinformation (Lamberty/ Nocun 2020). Als Mittel der Skandalisierung (Pörksen/ Detel 2012), des Mobbings (Marx 2017a) oder des Hate Speech (Marx 2017b) ist das vor allem in sozialen Netzwerken zu findende stolze Präsentieren von Meinungen inzwischen zu einem weithin diskutierten Politikum geworden (Pörksen 2018). Welche Rolle im Übrigen das Berücksichtigen von ‚persönlichen‘ Meinungen in der digitalen Kommunikation spielt, zeigt sich am sogenannten ‚Targeted 247 Meinung <?page no="248"?> 3 Dazu gehört neben der Selbstverwirklichung auch die individuelle wie kollektive Selbsttäuschung (Antos, Fix/ Radeiski 2014). 4 Vgl. den Artikel aus der Süddeutschen Zeitung „Pegasus und Überwachung: Die gefährlichste Waffe unserer Zeit“ (Mascolo 2022). 5 „Auf Kommunikation und Sprache bezogene Folk concepts, […] sind oft eingebunden in positionsgebundene, interessegeleitete und durch Machtverhältnisse geprägte kom‐ munikative Praktiken und daher gekennzeichnet durch ideologische Verkürzungen, Verzerrungen und Bewertungen.“ (Habscheid/ Hrncal 2021: 447) Advertising‘, bei dem Verbraucher*innen, aber auch Wähler ‚personalisiert‘, d. h. mit Bezug auf ihre Meinungen angesprochen werden (u. a. durch Social Bots oder durch Sprachassistenten bzw. Roboter, vgl. Antos 2017, Brommer/ Dürscheid 2021). Bekannt ist in diesem Zusammenhang, dass Algorithmen - etwa bei Suchmaschinen - darauf trainiert sind, auf Meinungen der User möglichst wunschgemäß einzugehen. Darin unterscheiden sich Roboter von realen Diskursen: Denn Meinungen werden diskutiert, kritisiert, karikiert oder konterkariert. Manche werden medial ausgeblendet, marginalisiert oder einseitig favorisiert. ‚Herrschende Meinungen‘ werden ‚abweichenden‘ Meinungen gegenübergestellt (in der Justiz, aber auch in den Wissenschaften). Und: Für bestimmte Meinungen wird mitunter sehr aufwendig geworben und demonstriert - in den Medien, aber auch gelegentlich auf der Straße. Jedenfalls so lange in einer Gesellschaft ‚Meinungsfreiheit‘ und ‚Meinungsvielfalt‘ herrschen und ein ‚Meinungsstreit‘ offen ausgetragen werden kann. Das ist alles andere als selbstverständlich: Als Symbole diskursiver Selbstermächtigung 3 werden Meinungen daher von kommerziell und politisch Mächtigen nicht nur diskreditiert, zensiert oder unterdrückt, sondern heute auch digital mit höchster Perfektion überwacht. 4 Kurzum: In dem folk concept ‚Meinung‘ spiegeln sich offenbar „positionsge‐ bundene, interessegeleitete und durch Machtverhältnisse geprägte kommuni‐ kative Praktiken“ wider (Habscheid/ Hrncal 2021: 447). 5 3 Ein phänomenologischer Rundblick Wer wissen will, warum ausgerechnet Meinungen ein zentrales kommunika‐ tives Machtmittel sind, muss seine phänomenologische Suche dort ansetzen, wo sie diskursiv in Erscheinung treten. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht scheinen sich dabei folgende Fragen aufzudrängen: • Was wird im Alltag überhaupt unter ‚Meinung‘ verstanden? Oder unter ‚eine Meinung äußern‘, ‚jemandem die Meinung sagen‘ oder seine ‚Meinung verbieten‘? 248 Gerd Antos <?page no="249"?> • Was wird (von wem) als ‚Meinung‘ explizit deklariert oder zitiert? Wem werden Meinungen aus welchen Gründen überhaupt zu- oder abgespro‐ chen? • Welche Rolle spielen offensive vertretene, verdeckte oder abgestrittene Meinungen für den Ablauf und die Dynamik des jeweiligen Kommunikati‐ onsgeschehens? Wie wird auf das Äußern oder Zuschreiben von Meinungen reagiert? • Welche persönlichen oder sozial relevanten Wirkungen und Folgen hat die diskursive Positionierung von Meinungen bzw. deren womöglich umstrit‐ tene Zuschreibung in bestimmten Formen sprachlicher Kommunikation? Diese Fragen können auch so zusammengefasst werden: Welche Rolle spielen überhaupt Meinungen in welchen Diskursen und welchen Gattungen? Wo werden sie erwartet, geduldet, skandalisiert, karikiert oder verboten? Und: Welche Wirkungen und Folgewirkungen haben Meinungen? Faktisch, unter‐ stellte oder befürchtete Wirkungen? Für den laufenden Diskurs, für die kom‐ munikativen Akteure oder für ihr soziales Umfeld? Solche Fragen sind nicht nur für die Linguistik, sondern auch für die Werbung, Wirtschaft, Politik und für (soziale) Medien interessant. Zusammen mit der Geschichtswissenschaft, der Politologie, Soziologie oder der Psychologie geht es auch in der Linguistik um soziale, kulturelle, kommerzielle und politische Folgewirkungen ihrer Verbreitung. Anknüpfend daran schälen sich für eine linguistische Meinungsforschung vor allem folgende vier Schwerpunkte heraus: • Wie werden Meinungen (von wem und in welcher Weise) kommunikativ überhaupt ins Spiel gebracht, wie wird um sie gerungen und was hat das für Folgen - sowohl für die soziale Positionierung der beteiligten Akteure als auch für weitere Formen und Verläufe von Anschlusskommunikation? • Wie werden Meinungen interaktiv oder diskursiv gebildet, ausgetauscht und modifiziert oder veränderten Umständen angepasst? • Welche Rolle spielen dabei Medien, Gattungen und Stile ebenso wie spre‐ cherische (z. B. Lautstärke), schriftliche (‚Gendern‘) oder rhetorische Mei‐ nungsmuster (Topoi)? • Gibt es Indikatoren, an denen Meinungen erkannt und festgemacht werden können? Welche Rolle spielen dabei Schlagwörter, Anspielungen auf be‐ kannte Meinungen, Topoi, Narrative, bestimmte Metaphern oder Vorur‐ teile? Und welche Rolle spielen (z. B. fachsprachliche) Stile oder andere Hin‐ weise auf Denkstile (Fleck 1983 [1929], Fleck 2012 [1935] - von dogmatisch motivierten Glaubenssystemen und Ideologien einmal ganz abgesehen? 249 Meinung <?page no="250"?> 6 Auch wenn es in konkreten Fällen umstritten ist, wie das diskursive Phänomen ‚Meinung‘ von z. B. Tatsachenbehauptungen zu unterscheiden ist, muss betont werden: Meinungen kann man nur zu fraglichen und daher diskutierbaren Aussagen haben. Das Äußern von mathematischen oder naturwissenschaftlich unbestreitbaren Fakten kann nicht ernsthaft als ‚eigene Meinung‘ und daher auch nicht als eine diskursive Positionierung reklamiert werden. Umso erstaunlicher sind Verschwörungstheorien im Stile der Flachwelttheorie. Hier werden einerseits wissenschaftlich kontrollierte Fakten als fraglich oder zweifelhaft hingestellt und andererseits absurde Meinungen als Fakten behauptet. Diese Schwerpunkte machen schon deutlich, dass ‚Meinung‘ ein Begriff ist, der gleichsam zwei Welten miteinander verbindet: Auf der einen Seite bezeichnen sogenannte ‚Meinungen‘ bestimmte diskursiv relevante Einstellungen von kommunikativen Akteuren zu bestimmten Themen. Das ist die Welt der Kom‐ munikation. Auf der anderen Seite erzeugen Meinungen (geäußerte, verschwie‐ gene oder zugeschriebene) soziale Wirklichkeiten und sind darüber hinaus Symbole verbaler Selbstermächtigung. Daher werden sie bejubelt, bekämpft und überwacht. Das ist die Welt kultureller, kommerzieller und politischer (auch militärischer) Interessen. 4 Was ist überhaupt eine Meinung? Unter dem Begriff ‚Meinung‘ wird traditionell etwas recht Unterschiedliches verstanden. Neben der ‚Lehrmeinung‘ wird vor allem die ‚öffentlichen Meinung‘ von der ‚persönlichen Meinung‘ unterschieden: Umgangssprachlich, in der Sozialpsychologie und in einigen weiteren Wissenschaften versteht man unter Meinung eine von direkter Betroffenheit, von individu‐ ellen Wertvorstellungen, Geschmack und/ oder Gefühlen geprägte Einstel‐ lung eines Menschen gegenüber einem bestimmten Gegenstand. In Ausdrü‐ cken und Redewendungen wie ‚Meinungsfreiheit‘, ‚Meinungsaustausch‘, ‚eine Meinung äußern‘ und ‚jemandem die Meinung sagen‘ wird deutlich, dass in demselben Sinne auch einzelne Aussagen als ‚Meinung‘ bezeichnet werden können. (Wikipedia o.D. c; Herv. G.A.) In dieser als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu verwendenden Defi‐ nition werden zunächst folgende Bedeutungsnuancen betont: • Mit ‚Meinung‘ wird eine diskursiv relevante Einstellung zum Ausdruck gebracht. 6 • Sie kann sehr unterschiedlich motiviert sein. Sie umfasst z. B. expressive und emotionale Aspekte („direkte Betroffenheit“ „Gefühle“), axiologisch zu 250 Gerd Antos <?page no="251"?> 7 Staffeldt unterscheidet drei familienbildende Typen von perlokutionäre Effekten: emo‐ tionale (ausgelöst werden Gefühle, Emotionen, Empfindungen etc.), motivationale verstehende „Wertvorstellungen“, aber auch ästhetische Einstellungen von kommunikativen Akteuren. • Eine Meinung kann sich propositional in einer „einzelne[n] Aussage“ oder in anderen Sprachformen manifestieren: Zum Beispiel in Schlagzeilen oder Schlagwörtern, in zitierten ‚Narrativen‘, aber auch in längeren Texten. • Entscheidend für das Verständnis und die Relevanz von ‚Meinung‘ scheint zu sein, welche Einstellung zu welchem Thema oder zu welchem diskur‐ siven ‚Inhalt‘ verhandelt wird und welche sozialen Positionierungen damit verbunden werden. Darüber hinaus gibt es noch eine weitere Gebrauchsweise von ‚Meinung‘: In „einer verbreiteten philosophischen Begriffsverwendung ist das Meinen ein Fürwahrhalten, dem sowohl subjektiv als auch objektiv eine hinreichende Begründung fehlt. Dadurch unterscheidet sich das Meinen vom Glauben und vom Wissen“ (Wikipedia o. D. a). Wer in diesem Sinne eine Meinung äußert, unterstellt zumindest ein gewisses Maß an „Fürwahrhalten“ - was heute mitunter so weit gehen kann, dass der persönlichen Meinung Vorrang vor Fakten eingeräumt wird. Hinter einem solchen Verständnis versteckt sich ein interessanter Gebrauchs- und Wertewandel von ‚Meinung‘. ‚Eine Meinung haben‘ bzw. ‚eine Meinung äußern‘ - etwa in sozialen Netzwerken - gilt als ein zentrales Mittel zur Generierung von medialer Aufmerksamkeit und sozialer Macht. Die Wahrneh‐ mung von Meinungen bemisst sich zunehmend danach, welche Resonanz sie z. B. in Medien auszulösen imstande ist. Zum Beispiel, ob und welche An‐ schlusskommunikation (Kommentare, Präzisierungen oder Richtigstellungen) sie provozieren kann und welche sonstigen Folgen Meinungen haben können. Damit kommen wir auf einen weiteren nicht unwichtigen Punkt: In den zitierten Definitionen wird bestenfalls am Rande zwischen ‚Meinung‘ und dem (öffentlichen) Äußern von Meinungen unterschieden. Es ist ein Unterschied, ob man nur eine bestimmte Meinung hat - etwa gegen Diktatoren, Autokraten oder gegen die gegenwärtige Einkommensverteilung - oder ob man sich auch (klar) dazu äußert. Neben moralisch-ethischen Aspekten unterliegt das Äußern von Meinungen bekanntlich bestimmten rechtlichen Restriktionen, etwa wenn Meinungen den Tatbestand einer Beleidigung (vgl. § 185 StGB) oder einer Verleumdung ( § 186 StGB) erfüllen (vgl. Staffeldt 2009: 146). Denn bekannt ist: Das Äußern einer Meinung kann einen erwartbaren „perlokutionären Effekt“ auslösen (Staffeldt 2009: 148). 7 Von bestimmten Meinungen ausgelöste perloku‐ 251 Meinung <?page no="252"?> (ausgelöst werden Handlungsabsichten) und epistemische (ausgelöst werden Überzeu‐ gungen, ein bestimmter Glaube, dass es sich so-oder-so verhält) (Staffeldt 2009: 150). 8 Das erklärt, warum Neo-Nazis Drohungen hinter einem Topos wie z. B. Jedem das Seine (vgl. das suum cuique aus dem antiken Rechtsverständnis) verstecken können. Bekanntlich hat diese Formel als höhnische Begrüßung der Gefangenen am Eingangstor zum KZ Buchenwald gestanden. tionäre Effekte können dabei sehr wohl eine unterschiedliche Stärke und sogar eine gewisse Inkubationszeit haben, bis sie ‚richtig‘ wirken. Und sie können sogar Rückwirkungen auf Sprecher*innen oder Schreiber*innen ausüben. Denn wir können mit unseren Meinungen nicht nur Kommunikationspartner*innen quälen, peinigen oder plagen, sondern auch uns selbst treffen oder sogar innerlich anhaltende Beunruhigungen auslösen (vgl. Staffeldt 2009: 151 f.). Das Problem für eine linguistische Analyse von Meinungen: Die durch bestimmte Meinungen ausgelösten perlokutionären Effekte können sowohl auf Konventionen als auch auf kausal zu begründenden Wirkungen beruhen - oder auf beidem (vgl. Staffeldt 2009: 147). Das erklärt, warum es mitunter schwer ist, strategisch ‚geschickt‘ formulierte Meinungen rein juristisch zu sanktionieren, obwohl ein zu erwartender kausaler Wirkungszusammenhang kaum zu leugnen ist. 8 Damit wird ein weiterer Aspekt von Meinung deutlich: Diskursive Positio‐ nierungen werden mitunter von bestimmten Personen sogar dann eingefordert, wenn diese sich nicht oder nicht klar genug gegen z. B. Übergriffigkeiten, Gewalt, Ungerechtigkeiten oder gegen Diktaturen positionieren oder gar nur ‚betreten schweigen‘. Zudem gilt als ‚Banause‘, ‚lebensfremd‘ oder als ‚unge‐ bildet‘, wer z. B. keine Meinung zu aktuellen Diskursen oder Kontroversen hat. Fazit: Unter ‚Meinung‘ wird gemeinhin eine geäußerte oder zugeschriebene Einstellung zu bestimmten kontroversen Themen oder diskursiven ‚Inhalten‘ verstanden, für deren persönliche, soziale oder politische Wirkungen und Folgen ein kommunikativer Akteur verantwortlich gemacht werden kann. Insofern sind Meinungen diskursive Beiträge, die kulturell oder in bestimmten Kontexten einerseits bestimmten Erwartungen und andererseits bestimmten Restriktionen bzw. Sanktionierungen unterliegen. Meinungen sind aber auch Formen rhetorischer Selbstermächtigung mit z.T. unabsehbaren Folgen (vgl. Antos 2021b). Deshalb werden sie manipuliert, bekämpft, gesteuert und/ oder kontrolliert. 252 Gerd Antos <?page no="253"?> 9 „Jedes denkende Individuum hat also als Mitglied irgendeiner Gesellschaft seine eigene Wirklichkeit, in der und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil einander widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit. Und verborgen eine abergläubisch-schicksalsvolle, das eigene Ich zur Ausnahme machende, persönliche Wirklichkeit.“ (Fleck 1983 [1929]: 48) 5 Funktionen von Meinungen Welche Funktionen Meinungen haben können, hängt grundsätzlich vom histo‐ rischen, kulturellen oder vom kontextuellen Umfeld ihrer Manifestation und Verbreitung ab. Dennoch schälen sich darüber hinaus sechs zentrale Funktionen für das Phänomen ‚Meinung‘ heraus: • Soziale Restriktionen: Was ist tabuisiert? Wer darf überhaupt eine Meinung haben und sie unter welchen Umständen auch äußern? Wessen Meinung zählt oder wird gemäß bestimmter Interpretations-Traditionen weithin auch wahr- oder ernstgenommen? • Bekanntheitsgrad: Meinungen müssen in bestimmten Diskursen oder in Medien so aufmerksamkeitserzeugend bekannt oder so spektakulär neu sein, dass über sie überhaupt diskutiert, gerungen oder gestritten werden kann. • Diskursive Positionierung: Meinungen (oder was dafür gehalten wird) haben die kommunikativ relevante Funktion, Diskurse ganz maßgeblich zu beein‐ flussen. D.h.: Erst im Prinzip fragliche oder unterschiedliche Positionen machen aus beliebigen Kommunikationsangeboten echte Diskurse, die durch Emotionen, Kontroversen oder sonstige Reaktionsweisen begleitet werden. • Erkenntnisfunktion: Meinungen sind gleichermaßen Kristallisationskerne und Resonanzkörper von individuellen oder kollektiven Wirklichkeits‐ konstruktionen. 9 • Selbstermächtigung: Meinungen gelten als Symbole diskursiver und sozialer Macht! Insofern werden Meinungen auch als Formen verbaler Selbster‐ mächtigung wahrgenommen, bewundert, bekämpft und mitunter auch verfolgt. • Macht-Funktion: Für das Äußern, aber auch für das (unterstellte) Haben einer Meinung, wird man verantwortlich gemacht! Insbesondere Meinungs‐ macher*innen oder jene, die sie verbreiten! Diese Macht-Funktion erklärt, warum auf bestimmte Meinungen (‚Gotteslästerung‘ oder Kritik an Herr‐ schenden) mit sozialer Degradierung, Verfolgung oder sogar mit Hinrich‐ tungen reagiert wird. 253 Meinung <?page no="254"?> 10 Vgl. Feilke: „Sprachliche Ausdrücke und Ausdrucksformen werden - ontogenetisch wie soziogenetisch - im Prozess der Kommunikation hervorgebracht. Zugleich ermög‐ lichen diese im Gebrauch bestimmten Ausdrücke die wechselseitige Orientierung der Handelnden auf sozial relevante Denkschemata und Handlungsweisen. […] Nur dort, wo wir uns sprachlich auf vorgängiges Sprechen zurückbeziehen, gibt es Aussicht auf Verständigung“ (Feilke 1996: 9). 11 Wer bei seiner Meinungsbildung auf ‚Gemeinplätze‘ zurückgreift, muss damit rechnen, dass ihnen wie etwa bei bestimmten bekannten Wendungen ein negatives Image zuge‐ schrieben wird: „Phraseme orientieren uns; sie transportieren über lange Zeit hinweg Meinungen, Erkenntnisse, Einsichten. Dadurch erschweren sie auf der einen Seite das Selberdenken. Wir kauen relativ schlichte Allerweltsweisheiten nach; mitunter stagnieren wir halsstarrig im Althergebrachten. Auf der anderen Seite werden aber auch all die Ideen transportiert, die unser Denken, Fühlen und Sein weiterbringen“ (Donalies 2009: 54). 6 Meinungsbildung 6.1 Traditionen der Meinungsbildung Gängige Meinungen werden nicht nur kommunikativ repetiert und zitiert, sondern können als soziales Wissen über diskursive Positionierungen auch kulturell konserviert und tradiert werden. Sie bieten sich damit als Kristallisati‐ onspunkte für eine Meinungsbildung an. Dieser Rückbezug auf ein „vorgängiges Sprechen“ 10 fällt Sprecher*innen und Schreiber*innen umso leichter, je salienter eine sprachliche Prägung (vgl. Feilke 1994, 1996) erscheint. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass bei der (vor allem argumentativen bzw. rhetorischen) Meinungsbildung gerne auf Metaphern (vgl. Lakoff/ Johnson 2000), auf Sprich‐ wörter (vgl. Mieder 1977, Lewandowska/ Antos 2019), ‚Geflügelte Worte‘ oder auf Phraseme 11 zurückgegriffen wird. Eine nicht unwichtige Rolle scheint dabei nicht nur ihre „sprachliche Vorgeformtheit“ (Stein/ Stumpf 2019) zu spielen. Maßgeblich sind ferner drei weitere Gründe: • Aufgrund ihrer „formelhaften Prägung“ (Feilke 1994, 1996) sind die ge‐ nannten Sprachformen vergleichsweise leicht wahrnehmbar und damit leichter zu memorieren. • Als kognitive Modelle zur schnellen und selektiven Meinungsbildung eignen sie sich auch zur sozialen Bewertung von kollektivem Wissen. • Je häufiger die genannten Sprachformen gebraucht werden, umso mehr wächst auch ihre sprachlich-rhetorische Selbstüberzeugungskraft (vgl. Antos 2021b), womöglich bis hin zu einem Punkt, wo sie in das kulturelle Gedächtnis oder in die Mentalität einer Kultur eingehen (vgl. Hermanns 2012, Kreuz/ Mroczynski 2016). 254 Gerd Antos <?page no="255"?> 12 „Wenn Sinnformeln für die Betroffenen schön sind, kognitiv einleuchten, emotional passen und appellativ vernünftig, entwickeln sie eine eigene, fast hypnotische Kraft: Wenn eine Formel Anklang findet und im Glaubensnetz einmal als gültig integriert wird, fällt es uns schwer, uns ihr wieder zu entziehen. […] Wenn wir sie einmal akzeptieren und erfahren haben, dass wir damit Seiendes verstehen können, dass sie für uns also Sinn und Verständnis in einer Weise schafft, in der sowohl unsere Wertvorstellungen als auch unsere Interessen aufgehoben und zugleich verwirklichbar erscheinen, dann entwickelt die Sinnformel durch ihren Erfolg eine Zwanghaftigkeit, sie wird in unserem Weltverständnis unverzichtbar, ja Teil unserer Identität. Wir können sie nicht ohne weiteres preisgeben, ohne schwere Störungen in unserem gesamten“ (Geideck/ Liebert 2003: 9). Traditionell gelten Topoi (vgl. Kienpointner 1992) oder tradierte Sinnformeln (vgl. Geideck/ Liebert 2003) 12 ebenfalls als Mittel einer (rhetorisch motivierten) Meinungsbildung. Sie sind funktional durchaus Schlag- und Schlüsselwörtern (vgl. Hermanns 1994, Niehr 2014) oder Slogans (vgl. Janich 2010: 169-170) ähnlich, da sich mit ihnen schnell und wirkungsvoll bestimmte Wissens-Frames ‚triggern‘ lassen. Mitunter verdichten sich erfolgreiche Strategien der Mei‐ nungsbildungen dann so weit, dass sie traditionsbildend für ganze Kulturen und Diskurse werden. 6.2 Meinungen in Interaktionen Befreit man sich vom „Logozentrismus in der Geschichte der Sprachwissen‐ schaft“ (Dürscheid 2016: 15), dann sind es zunächst (Alltags-)Gespräche, in denen Meinungen nicht nur geäußert, sondern interaktiv auch gebildet, ja regelrecht ‚ausgehandelt‘ werden. Ausgehend von Redeerläuterungen, Rede‐ kommentierungen und Redebewertungen (vgl. Habscheid 2003: 147) werden in Interaktionen diskursive Positionen mitunter kooperativ erzeugt, modifiziert oder verworfen. Im Vordergrund stehen dabei interaktive Aushandlungspro‐ zesse, die u. a. zeigen, wie Meinungsbildung lokal erzeugt werden kann. Ein Ansatzpunkt sind dabei Positionen und kommunikative Haltungen, die vor allem in der Gesprächsbzw. Konversationsanalyse und Soziolinguistik als Stance diskutiert werden: Unter dem Terminus des Stancetaking werden in verschiedenen linguistischen Diszi‐ plinen die kommunikativen/ sprachlichen Verfahren gefasst, mit denen AkteurInnen anzeigen, welche Position sie zu Geäußertem einnehmen […] Stance bzw. kommuni‐ kative Haltung ist damit ein inhärent sprachreflexives Konzept. Zu unterscheiden ist zwischen affektiver Stance (die die emotionale Haltung gegenüber Geäußertem anzeigt) und epistemischer Stance (die den Grad der Gewissheit, die Geäußertem beigemessen wird, anzeigt) […] Gemeinsam ist beiden Stance-Typen, dass durch sie 255 Meinung <?page no="256"?> Bewertungen von Geäußertem vollzogen werden, das Stancetaking also immer auf ein Evaluationsobjekt abzielt. (F. Busch 2021: 149) Solche Bewertungen von kommunikativen Akteuren zu dem interaktiv Geäu‐ ßerten können weiter daraufhin analysiert werden, ob sich daraus Meinungen bilden, die für den weiteren Verlauf einer Interaktion Folgen haben und daher relevant sind. Vor diesem Hintergrund bieten sich für eine linguistische Mei‐ nungsforschung viele entsprechende Daten aus aufgezeichneten Interaktionen an - aus Face-to-Face-Gesprächen, Diskussionen in bestimmten Massenmedien ebenso wie z. B. aus längeren SMS-, E-Mail- oder WhatsApp-Sequenzen (vgl. Imo 2015, Bonderer/ Dürscheid 2019). 6.3 Argumentationen und Pseudo-Argumentationen Wie schon hervorgehoben, können Meinungsmacher*innen für ihre Meinungen verantwortlich gemacht werden - sei es zu Recht oder nur vorgeschoben. Gleiches gilt für jene, die sich bestimmte Meinungen zu eigen machen oder sie verbreiten. D.h., das ehrliche Äußern oder Zitieren von Meinungen er‐ scheint vielen daher mindestens als heikel und hinsichtlich seiner nicht immer vollständig abschätzbaren Folgen bisweilen auch riskant. Daher ist es nicht unüblich, sich hinter vorgeschobenen Zitaten, ‚geflügelten Worten‘ oder sich hinter als bekannt unterstellten Meinungen zu ‚verstecken‘. Dahinter steht das Wissen, dass mit Meinungen sowohl diskursive wie auch soziale Macht ausgeübt werden kann. Mitunter auch, dass mit Meinungen an bestehenden Machtverhältnissen gerüttelt werden wird oder dass dies andere womöglich befürchten oder so sehen. Um diesen Eindruck zumindest dem äußeren Anschein nach entgegenzu‐ wirken, gibt es verschiedene Strategien, um Meinungen imagewahrend bis sozialverträglich erscheinen zu lassen: Neben Gleichnissen oder Erzählungen sind es vor allem Argumentationen. Sie sind Formen nicht nur fakten- und vernunftbasierter Kommunikation, sondern vertrauen darauf, dass Kommuni‐ kationspartner*innen in der Lage sind, aus (selektiv präsupponierten) Prämissen selbst Schlüsse zu ziehen. Dabei kann offen bleiben, ob und inwieweit Rezi‐ pient*innen die ihnen nahegelegten Schlussfolgerungen auch akzeptieren, sie als Meinungen explizit ratifizieren oder doch nur stillschweigend akzeptieren. Allerdings haben Argumentationen noch einen weiteren Nachteil: Ausge‐ rechnet Argumentieren erscheint vielen wie ein Kampf mit ‚Siegern‘ und ‚Verlierern‘. In der Tat gehört zu den sozial relevanten Folgen von Argumenta‐ tionen, dass mit ihnen neue soziale Wirklichkeiten erzeugt und durchgesetzt werden. Kein Wunder, dass mit dem Bilden, Äußern oder Verbreiten von Meinungen nicht nur eine diskursive, sondern nolens volens auch eine soziale 256 Gerd Antos <?page no="257"?> 13 Richtige Schlüsse aus Prämisse zu ziehen, ist weder logisch noch kommunikativ völlig ‚selbstverständlich‘. Seit Grice (Rolf 1994) hat sich in der Linguistik daraus eine eigene inferentielle Pragmatik (Rolf 2013) entwickelt, die neben Prämissen und Schlussregeln insbesondere verschiedenartige Muster und Mechanismen von Schlussfolgerungen analysiert. 14 Hierzu ein Beispiel aus dem Pandemie-Jahr 2020: Der damalige Direktor des Nationalen Instituts für Infektionskrankheiten in den USA, Anthony Fauci, hatte die Weltpresse vor einem noch nicht getesteten Medikament gegen das Corona-Virus gewarnt. Das hielt den damaligen US-Präsidenten nicht davon ab, sich vor laufenden Kameras für eben dieses Mittel stark zu machen. Sein Argument: „Ich habe ein gutes Gefühl damit. Das ist alles nur ein Gefühl. Sie wissen, ich bin ein schlauer Typ. Ich habe ein gutes Gefühl. Sie werden das noch früh genug sehen“ (O. A. 2020). 15 Unter emotional reasoning liegt nach dem kognitiven Verhaltenspsychologen Aaron T. Beck eine kognitive Verzerrung vor, die so zusammengefasst werden kann: „Eine Person, die einer emotionalen Schlussfolgerung unterliegt, hinterfragt aufgrund des Bestätigungsfehlers und der damit einhergehenden Selbsttäuschung die getätigte An‐ nahme nicht und ignoriert Evidenzen, welche gegen die getätigte Annahme sprechen. Durch den Mangel an Evidenz werden andere kognitive Verzerrungen weiter verstärkt“ (Wikipedia o. D. b). Selbstermächtigung verbunden wird, die ihrerseits zu Gegenreaktionen führen kann! Dennoch überwiegt in modernen Kulturen die Überzeugung, auf die Macht von argumentativen Schlussfolgerungen zu setzen, 13 der man sich als nur schwer entziehen kann. Damit wird auch der Anschein vermieden, Meinungen würden diktiert oder manipulativ ‚untergejubelt‘ werden. Stattdessen wird für alle Beteiligten gesichtswahrend signalisiert, dass Meinungen allein durch die Kraft des besseren Arguments geteilt werden können. Gerade diese Vorteile verführen jedoch dazu, unter dem Deckmantel von Argumentationen insgeheim zu manipulieren. Das beginnt damit, dass Prä‐ missen so selektiv in den Diskurs eingeführt werden, dass daraus verzerrte Schlussfolgerungen nahegelegt werden. Begünstigt werden solche rhetorische Strategien vor allem dann, wenn in Argumentationen Gefühle angesprochen werden. Mehr noch: Werden Gefühle als letzte Instanz für das Akzeptieren und Verbreiten von Meinungen suggeriert, 14 dann wird auch einem inzwischen grassierenden Gefühlsfundamentalismus Vorschub geleistet (Antos 2021a). Solche Formen der Pseudo-Argumentation bedienen sich eines manipula‐ tiven Musters, das der kognitive Verhaltenspsychologe Aaron T. Beck als emotionale Beweisführung (emotional reasoning) bezeichnet hat. Diese liegt vor, wenn Gefühle sowohl als Prämissen als auch als Schlussfolgerungen behauptet werden (Uhlmann 2017). Obwohl diese „Beweisführung“ 15 auf einem Trug‐ schluss beruht, können damit erfolgreiche manipulative Wirkungen erzeugt 257 Meinung <?page no="258"?> 16 „Die emotionale Beweisführung halte ich inzwischen für den wichtigsten Mechanismus der Bewegung, weil Gefühle über soziale Medien ansteckend wirken können. Denn genau dafür wurden soziale Medien gebaut, die virale Verbreitung des ‚Engagements‘, wie man die meist emotional gefärbte Beteiligung am Netzgetöse bezeichnet. Wenn man Angst hat, existiert definitiv ein Grund, um Angst zu haben. Wenn man spürt, da sei etwas faul, dann ist etwas faul. Wenn man sich wütend fühlt, dann ist das der Beweis dafür, dass etwas schiefläuft und jemand verantwortlich sein muss.“ (Lobo 2020) 17 Deutlich wird das bereits in sprachlicher Hinsicht: So finden sich im Digitalen Wör‐ terbuch der deutschen Sprache (DWDS) 300 Zusammensetzungen mit Selbst*. Dazu zählen Wörter wie Selbstverwirklichung, Selbstsicherheit, Selbstbestärkung, Selbstfür‐ sorge, Selbstoptimierung, Selbstermächtigung, Selbstverliebtheit, Selbstverklärung bis hin zu Selbstverherrlichung oder Selbsttäuschung. Diesen Hinweis verdanke ich Sven Staf‐ feldt. werden. 16 In diesem Sinne können pseudo-argumentative Manipulationsformen wie Werbung oder Propaganda ebenso wie die klassische oder modern-mediale Rhetorik als Praktiken verstanden werden, in denen die Bildung von Meinungen und Gegenmeinungen unter dem Anschein von Argumentationen behandelt wird. Oder aus einer anderen Perspektive formuliert: Pseudo-Argumentationen können als evolutionäre Reaktionsformen auf ein fakten- und vernunftba‐ sierte Argumentieren aufgefasst werden, das dann natürlich seinerseits auf ein gefühlsfundamentalistisches ‚Argumentieren‘ entsprechend aufklärerisch reagieren kann. 7 ‚Eigene Meinung‘ In Diskursen, aber auch darüber hinaus wird gerne betont: Jemand habe zu einem bestimmten Thema eine ‚eigene Meinung‘ (entwickelt)! Was hat es mit dieser (zumeist positiven) Zuschreibung oder Selbstzuschreibung eigentlich auf sich? D.h.: Worin unterscheidet sich eine Meinung von einer ‚persönlichen‘ oder ‚eigenen‘ Meinung? Was sich dazu schon jenseits korpusanalytischer Analysen sagen lässt: Mit der sprachlichen Fokussierung auf ein die eigene Subjektivität betonendes ‚Selbst‘ 17 kommt zum Ausdruck, dass es bei der expliziten Beto‐ nung von eigenen Meinungen nicht nur um eine Selbstermächtigung, sondern auch um die Präsentation von bevorzugten Selbstbildern und Identitäten in diskursiv-sozialen Kontexten geht (Spitzmüller 2013: 346, Klug 2021). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn in der aktuellen Sozio‐ logie zunehmend auf Formen subjektivierungsbezogener Selbstbezüglichkeit verwiesen wird (vgl. Reckwitz 2021). Rezente Buchtitel wie Das unternehme‐ rische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform (Bröckling 2013) oder Das hybride Subjekt (Reckwitz 2020 [2006]) belegen diesen Trend. Der Soziologe Andreas Reckwitz versteht darunter, „dass das Subjekt ein spezifisches Ver‐ 258 Gerd Antos <?page no="259"?> 18 Ergänzend dazu bemerkt Niemann: „Nachdem das Subjekt im Poststrukturalismus schillernd für ‚tot‘ erklärt wurde, wendet man sich mittlerweile wieder vermehrt dieser Kategorie zu, wenngleich dabei die poststrukturalistische Kritik am ‚autonomen Subjekt‘ durchaus ernstgenommen wird und man deshalb ‚dezentrierte‘ Konzepte von Subjektivität vertritt“ (Niemann 2020a: 151). 19 „Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben derart viele Menschen derart viele Details über sich verfolgt, festgehalten und vor einem derart großen Publikum verbreitet. Die Auswirkungen so ungeheurer Mengen von Mikroerzählungen aller Art und zu allen Themen sind längst sichtbar“ (Floridi 2015: 90). hältnis zu sich selbst herstellt, das heißt in sich selbst bestimmte Effekte erzielt“ (Reckwitz 2020 [2006]: 72). Solche „Selbsttechnologien“ ermöglichen „Individuen […], mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen“ (Foucault 1984: 35-36). Eine Konsequenz dieser Beziehung zu sich selbst: „Das einzelne Individuum darf demnach als „Unternehmer[] seiner selbst“ verstanden werden. […] Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass beim Selbst-Management das betrof‐ fene Individuum ganzheitlich und mit all seinen - beruflichen wie privaten - Facetten involviert ist“ (Niemann 2020a: 154). Ein solches Selbst-Management offenbart und verstärkt ein „Hyperbewusstsein von sich selbst“ (Floridi 2015: 90) und damit z.T. sehr direkt auch die Relevanz, die Meinungen zugeschrieben wird. 18 Woher kommt dieses sich besonders in ‚eigenen Meinungen‘ manifestierende „Hyperbewusstsein von sich selbst“? Der Medienphilosoph Luciano Floridi verweist in diesem Zusammenhang auf selbstreflexiv zurückwirkende „Mikro‐ erzählungen“, mit denen Menschen heute ihr soziales Selbst zum Ausdruck bringen können - nicht zuletzt in sozialen Netzwerken. 19 Von dieser durch mediale Selbsttechnologien verstärkten Konfrontation mit eigenen und beob‐ achteten Mikroerzählungen dürfte auch die Selbst-Positionierung durch eine explizit betonte ‚eigene Meinungen‘ profitieren. Zumindest deuten solche Hin‐ weise darauf hin, warum ‚eigene Meinungen‘ in spätmodernen Digitalkulturen so demonstrativ geschätzt werden. Sie machen deutlich, dass es in vielen Bereichen der Kommunikation nicht nur um faktenbasierte Informationen geht, sondern um Wirklichkeitskonstruktionen, die erst durch das Selbst-Manage‐ ment von Subjekten erzeugt sowie diskursiv und sozial durchgesetzt werden. 259 Meinung <?page no="260"?> 20 Demokratien werden plötzlich als ‚Diktaturen‘ bezeichnet, der menschengemachte Klimawandel mutiert zu einem bloßen Wetterwechsel oder eine weltweite Pandemie zu einer ganz normalen Krankheit. Was Orwell mit seinem „Newspeak“ karikiert, ist längst zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Sprachkampf um die ‚richtige Sprache‘ geworden. 8 Meinung und Sprachideologie Mit dem Aufkommen des Christentums, vor allem aber seit der Reformation und der Gegenreformation, begann der Aufstieg religiös motivierter persönli‐ cher Bekenntnisse. Damit verbunden war die Erkenntnis, dass das Bekunden von eigenen Überzeugungen mit z.T. lebensgefährlichen Risiken verbunden sein konnte (Galilei, Kepler, Giordano Bruno). Aber auch nach der Säkularisie‐ rung blieb es riskant, eine eigene, von Autoritäten unabhängige Meinung zu haben oder sie gar öffentlich zu äußern. Als Symbole diskursiver Macht mit weitreichenden sozialen und politischen Folgen gelten Meinungen seitdem nicht nur als bekämpfte Formen rhetorischer Selbstermächtigung, sondern als Ausdruck ideologisch motivierter Einstellungen. Deutlich wird dies, wenn sich an Meinungen, Zustimmung und Proteste entzünden, die Hass und Hetze oder Verfolgung und Tod nach sich ziehen können. Daher haben in vielen Kulturen und Kontexten Meinungen ein Doppelgesicht: Einerseits gehört es zur Logik von Meinungen, dass sie bezweifelt, kritisiert oder auch verspottet und bekämpft werden. Das verführt aber andererseits auch dazu, dass sie als eine nicht zu übersehene Selbstermächtigung begrüßt, gefeiert oder bejubelt werden, wenn sie sich in einer (Sub-)Kultur durchgesetzt haben. Vor diesem Hintergrund stellen sich für eine linguistische Meinungsfor‐ schung folgende Fragen: Welche Meinungen werden aus welchen Gründen bevorzugt geteilt, mitunter häufiger zitiert oder sind Gegenstand von weiteren Diskussionen und Kontroversen? Mehr noch: Welchen Meinungen wird in Diskursen und darüber hinaus aus welchen Gründen am ehesten geglaubt? Spätestens seit Orwells Roman 1984 wächst das öffentliche Bewusstsein, dass Meinungen bereits mit und durch eine kontrollierte Sprache beeinflusst und manipuliert werden können. Daher wird auch versucht, Einfluss auf die Semantik und auf die rhetorische Selbstüberzeugungskraft (Antos 2021b) von Schlüsselwörtern und Narrativen zu nehmen. Begleitet wird dies mitunter durch „Sprachkämpfe“ (Lobin 2021) um eine angeblich „richtige Sprache“ (Gardt 2018, Niehr/ Reissen-Kosch 2018). 20 Damit gerät ins Blickfeld, was aus diskursiven Positionierungen folgen kann - eine soziale Positionierung mittels Sprache: 260 Gerd Antos <?page no="261"?> Soziale Positionierung mittels Sprache - allgemeiner: Vergemeinschaftung durch Sprache - ist also deshalb möglich, weil Sprache bzw. Formen des Sprachgebrauchs mit Werten, Einstellungen, Modellen verkoppelt sind - mit anderen Worten: weil es Sprachideologien gibt. Sprachideologien sind somit genauso grundlegend für soziales sprachliches Handeln, wie es Reflexivität für Sprache ist. (Spitzmüller 2019: 27) Sprachideologien können nach B. Busch (2019: 108) „als Bündel von mehr oder weniger verfestigten Meinungen“ aufgefasst werden, „mit denen Sprechende ihre Wahrnehmung und Repräsentation von Sprache(n) und Sprachgebrauch rationalisieren und begründen“. Insofern ist nicht verwunderlich, wenn sprach‐ ideologisch aufgeheizte Schlag- und Schlüsselworte, Metaphern, Vorurteilen oder Topoi einen so hohen Grad von rhetorischer bis persuasiver Selbstüber‐ zeugungskraft erlangen, dass sie die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen oder manipulieren. D.h. auch: Meinungen müssen nicht immer begründet, nicht einmal explizit geäußert werden. Mitunter reicht schon eine bestimmte sprachideologisch motivierte Sprach-, Stil- oder Medienwahl (vgl. Spitzmüller 2005), um rhetorisch gewünschte Wirkungen erzielen zu können. Mitunter auch eine angeblich ‚falsche Wortwahl‘! 9 Linguistische Meinungsforschung In diesem Artikel wurde versucht, für eine linguistische Meinungsforschung zu werben. Vieles konnte in diesem Kontext nicht oder nur am Rande angesprochen werden: Was an Meinungen ist im Hinblick auf welche Kriterien, Funktionen oder Folgen sprachwissenschaftlich vor allem interessant? Was sollte im Hin‐ blick auf Daten, Methoden, Theorien oder mit Blick auf den Kampf um Mei‐ nungen in der Öffentlichkeit prioritär erforscht werden? Welche Rolle spielen semiotische, sprachliche bzw. multimodale Resonanzformen für das Bilden und Durchsetzen von Meinungen? Woher rührt die rhetorische Selbstüberzeugungs‐ kraft von bestimmten Worten, Wendungen, Gattungen, Stilen und Medien? Welche Rolle spielen sozial etablierte Denkstile (z. B. kommerzielle Interessen, Esoterik, politische ‚Überzeugungen‘ und Diskurstraditionen) einerseits und ganze Meinungssysteme (Religionen, Ideologien, Mentalitäten) andererseits. Schließlich: Welche Rolle spielen heute Medien, u. a. für die Verbreitung und Wirkung von Meinungen? Solche Fragen müssen mit Blick auf mögliche empirische Designs für eine linguistische Meinungsforschung konkretisiert werden: 261 Meinung <?page no="262"?> • Häufigkeit: In welchen Medien, Gattungen und Stilen kommen Meinungs‐ äußerungen vermehrt und in welchen semiotischen Manifestationsformen vor (Dürscheid 2016, Spitzmüller 2013, Dürscheid/ Siever 2017)? • Reichweite: Welche Meinungen werden in welchen Medien wie weit ver‐ breitet? • Wirksamkeit: Wie weit beeinflussen Meinungen Diskussions-Moden, Denk‐ stile und Denkkollektive zu bestimmten Zeiten (und Sub-)Kulturen? Wann lässt ihr rhetorischer oder sozialer Einfluss nach oder wie und warum verändert er sich? • Resonanz: Welche Meinungen haben welche Resonanz und breiten sich aus welchen rhetorischen und/ oder sozialen Gründen unterschiedlich schnell oder auch nachhaltig aus? Ansatzpunkte für eine sprachwissenschaftliche Meinungsforschung könnten im Übrigen Kontroversen sein, mit denen sich die deutschsprachige Linguistik immer wieder konfrontiert sieht. Also mit Kontroversen um die sogenannte ‚richtige Sprache‘, um ‚Sprachkämpfe‘, um das ‚Gendern‘ (F. Busch 2020), um die digitale Schriftlichkeit (Dürscheid 2020, Dürscheid/ Frick 2016, Dürscheid/ Siever 2017) oder wenn es um die Rolle von Medien geht (Schlobinski 2020, Brommer/ Dürscheid 2021). 10 Zusammenfassung und Ausblick Meinungen sind bedeutsam sowohl für das Funktionieren von Diskursen als auch für den Kampf um die ‚öffentliche Meinung‘. Mit ‚eigenen‘ oder zitierten Meinungen beziehen wir einerseits inhaltliche Stellung zu Gegenständen, Sach‐ verhalten oder Tätigkeiten und andererseits zum sozialen, kulturellen oder politischen Umfeld, in denen Diskurse angesiedelt sind oder auf sie wirken. Als diskursive Positionierung haben Meinungen darüber hinaus noch eine soziale Komponente: Mit Meinungen verbunden werden Formen diskursiver Selbstermächtigung, in denen ein bestimmtes Selbstbild oder eine Identität zum Ausdruck gebracht werden kann. Daher entzünden sich an Meinungen Kritik und Kämpfe um die Verbreitung und Durchsetzung von bestimmten, mitunter auch sprachideologisch geprägten Wirklichkeitskonstruktionen. Für Mächtige gelten Meinungen daher auch als ‚bedrohlich‘. In Meinungen spiegeln sich „positionsgebundene, interessegeleitete und durch Machtverhältnisse geprägte kommunikative Praktiken“ wider (Hab‐ scheid/ Hrncal 2021: 447). Grund genug, dieses Phänomen etwas näher in das Blickfeld zu rücken. Auch und nicht zuletzt in der Linguistik: Was verbinden wir eigentlich mit dem folk concept ‚Meinung‘? Warum kämpfen wir überhaupt 262 Gerd Antos <?page no="263"?> 21 Vgl. Heinemann (1998), Dabrowska-Burkhardt (1999) 22 Vgl. das ‚Fürwahrhalten‘ von Meinungen gegenüber dem Glauben und Wissen. mit Meinungen um Meinungen? Und: Welche Folgen hat das diskursive Positio‐ nieren von Meinungen einerseits für die kommunikativen Akteure und anderer‐ seits für die symbolisch und kommunikativ geprägte Macht in (Sub-)Kulturen? Für die linguistische Erforschung von Meinungen sind darüber hinaus fol‐ gende Fragen einschlägig: Welche sprachideologisch ‚infizierten‘ Formen bieten sich einerseits als Kristallisationspunkte, andererseits als Resonanzkörper zur Bildung und Verbreitung von Meinungen an? Man denke nur an Schlag- oder Schlüsselwörter, Stereotype, 21 Vorurteile, Sprichwörter, aber auch bestimmte Narrative, Denkstile und Ideologien. Wie werden Meinungen ‚ausgehandelt‘, modifiziert und sowohl lokal-interaktiv als auch rhetorisch-medial im sozialen Umfeld durchgesetzt? Und: Wie werden Meinungen repetiert, variiert, tradiert oder auch sprachlich neu kontextualisiert? Eine daran ansetzende linguistische Meinungsforschung hätte Schnittstellen einerseits zur Sprachgeschichte, Soziolinguistik, Pragmatik (Argumentations‐ theorie), Rhetorik, Spracheinstellungsforschung oder zur Laienlinguistik und Sprachideologieforschung sowie andererseits zur philosophischen Erkenntnis‐ theorie, 22 Soziologie, Politologie und zu den Medien- und Kommunikationswis‐ senschaften. Wer wie die Jubilarin Interessen und Befürchtungen von Bürger*innen sowie von Medien aufgreift und diese ernst nimmt (Roth/ Dürscheid 2010, Dürscheid 2020), wird auch an dem Phänomen ‚Meinung‘ nicht vorbeikommen. Denn Meinungen sind Symbole kommunikativer wie sozial relevanter Macht. Meinungsäußerungen werden einerseits überwacht und zensiert; Meinungs‐ macher*innen eingeschüchtert und verfolgt. Andererseits sind Meinungen die kultur-evolutionär erfolgreichste Strategie kommunikativer sowie eman‐ zipativer Selbstermächtigung. Nicht zuletzt deshalb scheint es für eine auf Außenwirkung bedachte (angewandte) Linguistik naheliegend zu sein, sich der Erforschung von Meinungen als sozial relevante Formen der diskursiven Positionierung zu widmen. 263 Meinung <?page no="264"?> Literatur Androutsopoulos, Jannis/ Busch, Florian (Hrsg.) (2020). Register des Graphischen. Varia‐ tion, Interaktion und Reflexion in der digitalen Schriftlichkeit. Berlin: de Gruyter. Antos, Gerd (1996). Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationspro‐ blemen im Alltag. Am Beispiel von Sprachratgebern und Kommunikationstrainings. Tübingen: Niemeyer. Antos, Gerd (2017). Wenn Roboter „mitreden“… Brauchen wir eine Disruptions-For‐ schung in der Linguistik? Zeitschrift für germanistische Linguistik 45 (3), 359-385. Antos, Gerd (2019). Medien, Wahrnehmung, Öffentlichkeit. 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Zweig (TU Kaiserslautern) Abstract: In diesem Beitrag wird am Beispiel des sogenannten „E-Raters“ dargelegt, wie automatisierte Aufsatzbewertungssysteme funktionieren und wo ihre Grenzen, aber auch ihre Chancen, liegen. Aus der Perspektive eines semiotisch-kulturwissenschaftlichen Textbegriffs sowie einer an Austin und den späten Wittgenstein anschließenden Auffassung sprach‐ lichen Handelns wird gezeigt, dass das Vorhersagen einer Aufsatzbewer‐ tung, welches der E-Rater leistet, gänzlich anderen Gelingensbedingungen unterliegt als das Bewerten selbst. Der E-Rater ist nicht dazu geeignet, kulturellen Sinn zu erfassen: Er analysiert Kohäsion ohne Kohärenz und scheidet schon von daher als alleinige Bewertungsinstanz für Aufsätze aus. Gleichwohl gehen wir der Frage nach, ob er unter bestimmten Umständen als Korrektiv in den Bewertungsprozess integriert werden könnte. 1 Einleitung Aufsätze sind komplexe Zeichengebilde, die kulturell und sozial verankert sind. In ihnen spiegeln sich gesellschaftliche Gepflogenheiten und soziokultureller Wandel wider. Wichtig sind sie unter anderem in der schulischen und hochschu‐ lischen Bildung sowie im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs. In Auf‐ sätzen vertreten Menschen ihre Standpunkte, wägen Argumente ab, entfalten eigene Ideen. Entsprechend anspruchsvoll und zeitaufwendig ist es, Aufsätze zu korrigieren, denn diese lassen sich nicht nach einem vorgegebenen Schema bewerten; sie können nicht einfach nach den Kategorien ‚richtig‘ und ‚falsch‘ benotet werden. In unserer ökonomisierten Welt wird gerade die sogenannte künstliche Intelligenz (KI) aber gerne eingesetzt, um Zeit einzusparen, und dies <?page no="272"?> 1 Das Thema steht nicht nur deshalb mit der Jubilarin Christa Dürscheid in Verbindung, weil es weitreichende sprach- und schreibdidaktische, bildungspolitische und damit anwendungsbezogene Implikationen hat, die sie bekanntlich in vielen anderen Kon‐ texten erforscht hat. Zu ihr passend scheint es auch noch aus einem anderen Grund: AES-Systeme und ihre vermeintliche Attraktivität stellen eine wirkliche Herausforde‐ rung für alle dar, denen die grundlegende kulturelle Verankerung von Zeichenprozessen und die Verteidigung hermeneutischer Interpretationsverfahren ebenso am Herzen liegen wie begriffliche Klarheit und die Redlichkeit wissenschaftlicher Begründungen. All dies trifft auf die Jubilarin in besonderer Weise zu. Der vorliegende Aufsatz ist die erste Publikation einer Kooperation zwischen der germanistischen Sprachwissenschaft in Landau und der Sozioinformatik in Kaiserslautern. Bei dieser Kooperation geht es darum, den konkreten Einsatz von KI aus soziokultureller Perspektive zu beschreiben und kritisch zu reflektieren. ist auch die Grundidee automatisierter Aufsatzbewertungssysteme (Automated Essay Scoring, AES), die den Zweck erfüllen sollen, Aufsätze maschinell zu benoten oder zumindest bei ihrer Bewertung und Benotung zu helfen. Ein bekanntes System dieser Art ist der „E-Rater“, der Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist. Verfechter des E-Raters verweisen auf die guten Quoten bei der Notenvorhersage. Kritikerinnen konnten zeigen, dass sich der E-Rater durch Nonsenstexte austricksen lässt, solange diese in hinreichender Quantität be‐ stimmte Textmerkmale aufweisen, auf die der E-Rater seine Bewertung stützt (vgl. Perelman 2020). Zudem wurde kritisiert, dass der E-Rater ein Lehren und Lernen nur für die Prüfung („teaching to the test“) begünstigt und damit pädagogisch sowie bildungspolitisch fragwürdig ist. An diese Kritik anknüpfend und über sie hinausgehend, soll in diesem Beitrag 1 gezeigt werden, dass automatisierte Aufsatzbewertungssysteme wie der E-Rater zwar statistische „Symptome“ (vgl. Keller 2018: 155-168) erfassen, aber nicht in der Lage sind, Kriterien zur Qualitätsbewertung anzuwenden. Sta‐ tistische Symptome können zwar dazu dienen, mit gewisser Wahrscheinlichkeit menschliche Bewertungen vorherzusagen; sie sie sind aber weder notwendig noch hinreichend dafür, einen guten Aufsatz als solchen zu identifizieren. Sie können daher nicht als Gründe für eine Bewertung angeführt werden. Unser Hauptargument ist ein sprechakttheoretisches: ‚Die Bewertung eines Aufsatzes vorhersagen‘ ist eine ganz andere Art von Sprachhandlung als ‚einen Aufsatz bewerten‘. Diese beiden Handlungstypen unterliegen sehr verschiedenen Gelin‐ gensbedingungen und verlangen dementsprechend unterschiedliche Arten der Rechtfertigung. Zudem liegt der Anwendung des E-Raters auf frei geschriebene, kreative Texte eine Paradoxie zugrunde: Die Vorhersage von Bewertungen durch den E-Rater stützt sich einerseits auf bereits erfolgte menschliche Be‐ wertungen, und sie muss sich auf solche stützen, da der E-Rater sprachlich Sinnvolles nicht von Unsinn unterscheiden, d. h. kulturell konstituierte, wan‐ 272 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="273"?> 2 Im Folgenden zitiert als „Patent“ mit Angabe der Spaltenzahl. delbare und flexible Bedeutungen sprachlicher Zeichen nicht erfassen kann. Andererseits werden genau diese menschlichen Bewertungen von den Verfech‐ terinnnen des E-Raters paradoxerweise als subjektiv und potenziell inkonsistent abgewertet. Nachdem wir im zweiten Abschnitt Idee und Funktionsweise des E-Raters darstellen, wird im dritten die bisherige Kritik am E-Rater erörtert, gewürdigt und eingeordnet. Während die bereits publizierten kritischen Arbeiten vor allem die ‚Austricksbarkeit‘ des E-Raters sowie seine pädagogischen und bildungspo‐ litischen Implikationen beleuchten, wird im vorliegenden Artikel (Abschnitt 4 und 5) erstmals eine sowohl sprechakttheoretische als auch semiotisch-sprach‐ philosophische Kritik entfaltet. 2 Idee und Funktionsweise des E-Raters Eine allgemeine Charakterisierung von AES-Anwendungen formuliert Balfour (2013: 42): „To summarize, most AES applications build statistical models to predict human-assigned scores using features of essays that have been deter‐ mined empirically or statistically to correlate with the ways humans rate those essays.“ Diese Charakterisierung macht bereits deutlich, dass das Kerngeschäft von AES in der Vorhersage (prediction) von Notengebungen besteht. Dies gilt auch für den E-Rater, für den 2002 ein Patent angemeldet wurde (Burstein et al. 2002 2 ). Dieser funktioniert, auch wenn er seitdem einige Verfeinerungen und Aktualisierungen erlebt hat (vgl. Burstein et al. 2013a), noch heute nach dem damals patentierten Verfahren und wird z. B. in den USA im Bildungsbereich eingesetzt (Anson und Perelman 2017); auch bei TOEFL-Tests z. B. findet er Anwendung (Rupp et al. 2019). Es handelt sich um ein automatisiertes System zur Bewertung und Benotung von Aufsätzen, das morpho-syntaktische, lexikalische und angeblich sogar ‚rhetorische‘ Eigenschaften erfassen soll. Das System dient dem Zweck, Benotungen menschlicher Prüfer („human graders“) zu ersetzen (Patent, Spalte 1). Als Motivation, den E-Rater zu nutzen, wird als erstes die Zeitersparnis ins Feld geführt, denn „essay grading requires a significant number of work-hours, especially compared to machine-graded multiple choice questions“ (Patent, 1). Menschliche Prüferinnen orientierten sich an Beurteilungsrastern („scoring rubrics“), die die Aufsatzqualität bzw. die individuelle Kompetenz der zu Prüfenden auf jedem Notenlevel („score level“) beschreiben. Beim akademischen Test GMAT etwa gibt es eine Bewertungsskala („scoring range“) von 0 bis 6, auf deren höchstem Level 6 die Schreibkompe‐ 273 Ohne Sinn <?page no="274"?> tenz wie folgt charakterisiert wird: „develops ideas cogently, organizes them logically, and connects them with clear transitions“ (Patent, 1). Im Patent werden menschliche Bewertungen, bei denen diese Kriterien angewandt werden, als subjektiv und potenziell inkonsistent charakterisiert, wogegen der E-Rater eine größere Objektivität verspreche (Patent, 1). Die Grundlage für die Berech‐ nungen des E-Raters bilden jedoch die bisherigen menschlichen Bewertungen. Der generelle Ansatz des Systems besteht nun darin zu prüfen, welche Merkmale Aufsätzen, die zuvor von Menschen positiv bewertet wurden, gemeinsam sind. Technisch gesehen beinhaltet der E-Rater eine Kombination aus kuratierten Regeln, sogenannten Expertensystemen, und einer erlernten Komponente zur Vorhersage von Aufsatznoten. Im Patent wird das maschinelle Lernen zur Notenvorhersage für zwei Arten von Aufsätzen beschrieben, “argument essays” und “issue essays”, wobei wir uns hier auf die Ersteren konzentrieren. In diesen wird den Schülerinnen ein Argument vorgelegt, und sie werden aufgefordert, dieses zu analysieren. Der Benotungsprozess basiert auf einer elektronischen Version des Aufsatzes. Diese elektronische Version wird von einem Parser gelesen, der die einzelnen Wörter Wortkategorien zuordnet und auch größere syntaktische Strukturen wie Infinitivsätze oder Relativsätze identifiziert. Ein weiteres Expertensystem versucht, den Anfang und das Ende von Argumenten zu identifizieren, indem es nach einer Liste von Schlüsselwörtern sucht, wie Z. B.: otherwise, conversely oder notwithstanding (Patent, 11), und entdeckt damit beispielsweise kontrastierende Argumente. Diese Heuristik annotiert den Text und unterteilt ihn in Argumente, die auf bestimmten Wörtern und Phrasen basieren. Die Aufteilung des Textes und der Text als Ganzes bilden dann die Grundlage für weitere Berechnungen, die alle sehr einfacher Natur sind, z. B. wird die Gesamtzahl der Infinitivkonstruktionen ermittelt. Am Ende führt die Analyse jedes Aufsatzes zu vier Teilergebnissen, aus denen dann die Note berechnet wird. Das erste Teilergebnis enthält nur zwei Zahlen: die Gesamtzahl der Modalverben (wie can, must, will) sowie den Anteil der complement clauses pro Satz. Die zweite Ergebnismenge soll die rhetorische Struktur messen; sie hängt davon ab, was durch den E-Rater als Argument identifiziert wurde, und enthält vier Zahlen, u. a. das Gesamtvorkommen von Konjunktivformen von Modalverben (would, could, should) im letzten Absatz des jeweiligen Aufsatzes - vermutlich, weil angenommen wird bzw. eruiert wurde, dass dieser letzte Absatz naturgemäß eine argumentative Zusammenfassung der Ergebnisse enthält bzw. enthalten sollte. Die dritte Ergebnismenge liefert einen gewichteten Wert für Wörter in Abhängigkeit von ihrer Salienz. Die Salienz eines Wortes in einem zu prüfenden Aufsatz wird gewichtet mit der inversen Häufigkeit dieses Wortes im jeweilig 274 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="275"?> zu betrachtenden Textkorpus, z. B. aller Essays mit einer bestimmten Note. So wird jedes Wort, das in direktem Zusammenhang mit der im Aufsatz zu beantwortenden Frage steht, in einem zu beurteilenden Dokument sehr häufig vorkommen, aber gleichzeitig ist seine Salienz sehr niedrig, da es in allen Do‐ kumenten auftritt. Technisch gesehen basiert die dritte Ergebnismenge auf dem Produkt aus der Token-Frequenz des jeweiligen Wortes in einem Dokument und seiner inversen Token-Frequenz in allen Dokumenten. Dies ergibt eine lange Zahlenliste für jeden einzelnen Aufsatz. Das Gleiche wird für die Verkettung aller Aufsätze gemacht, die mit einer 1 bewertet wurden, für die Verkettung aller Aufsätze, die mit einer 2 bewertet wurden, und so weiter. Im letzten Schritt wird die gewichtete Wortliste mit der gewichteten Wortliste für Aufsätze aus jeder der sechs verschiedenen Kategorien bzw. Notenstufen (levels) verglichen (s. Abb. 1). Das Ergebnis dieser dritten Analyse ist die Note der Aufsatzsammlung, die dem untersuchten Aufsatz in Bezug auf dieses Ähnlichkeitsmaß am nächsten kommt. Das heißt, wenn z. B. in Kategorie 6, also auf dem Notenlevel 6, einige ansonsten seltene Wörter in vielen Aufsätzen verwendet werden und der neue Aufsatz dies ebenfalls tut, während andere, ansonsten häufigere Wörter von Aufsätzen in dieser Kategorie und im neuen Aufsatz nicht so häufig verwendet werden, ist es wahrscheinlicher, dass der Aufsatz der Kategorie 6 zugeordnet wird als irgendeiner anderen. Grade 1 Grade 2 Grade 3 Grade 4 Grade 5 Grade 6 electric* 0.00001 0.00003 0.00002 0.00005 0.00007. 0.00012 Signal* 0.00000 0.00002 0.00004 0.00010 0.00017 0.00020 byte 0.00003 0.00002 0.00005 0.00008 0.00015 0.00019 … electric* 0.00002 signal* 0.00002 byte 0.00003 … b) Word frequency list To be graded a) Word frequency list c) Cosine similarity between weighted frequency lists grade 1 2 3 4 5 6 To be graded 0.8 0.85 0.7 0.3 0.01 0 Abb. 1: Benotungsansatz des E-Raters auf Basis von Worthäufigkeitslisten (3. Zahl, die berechnet wird). 275 Ohne Sinn <?page no="276"?> Abbildung 1 veranschaulicht den gerade beschriebenen Sachverhalt, also den Benotungsansatz des E-Raters auf Basis von Worthäufigkeitslisten, der zum dritten genannten Ergebnis führt. Die Abbildung ist wie folgt zu lesen: a) Die von Menschen benoteten Aufsätze werden nach Noten sortiert. Über alle Aufsätze mit der gleichen Note hinweg werden die Worthäufigkeiten ermittelt, wobei Wörter in manchen Fällen auf einen Grundbestandteil zurückgeführt werden (‚stemming‘). So werden beispielsweise Wörter wie electrical und electricity als electric* gezählt. Für jedes Wort werden alle Vorkommen in den Aufsätzen der gleichen Note gezählt. b) Das Gleiche wird für den vom System zu bewertenden Aufsatz gemacht. Alle Wörter aller Wortlisten werden dann mit der inversen Häufigkeit des auf den ‚Stamm‘ zurückgeführten Wortes in allen Texten gewichtet. c) Zuletzt werden dann die resultierenden Zahlenfolgen aller Aufsätze mit der Note 1, die aller Aufsätze mit der Note 2 usw. durch ein vektorbasiertes Ähnlichkeitsmaß mit der Zahlenfolge des zu benotenden Aufsatzes verglichen. Der höchste Wert bestimmt das Ergebnis der dritten Zahl im Benotungsansatz des E-Raters. Es fehlen einige Details im Patenttext, um genau verstehen zu können, wie das zugrunde liegende Lexikon aufgebaut ist: Basiert es ausschließlich auf allen Wörtern, die in mindestens einem Aufsatz enthalten sind? Oder handelt es sich um ein größeres, von Menschen erstelltes Lexikon? Das Handbook of Automated Essay Evaluation von 2013 liefert diesbezüglich den - allerdings recht vage und knapp formulierten - Hinweis, dass das E-Rater-Lexikon, zumindest seit diesem späteren Entwicklungsstand, mit Korpora, die aus Milliarden von Wort-Tokens bestünden, trainiert werde, „including well-edited text and noisy essay data” (Burstein et al. 2013a, 59). Zudem: Was passiert mit Wörtern, die Tippfehler enthalten oder Verschrif‐ tungsvarianten im orthografisch zulässigen Spielraum? Werden diese womög‐ lich als sehr seltene Wörter gezählt und erhalten dementsprechend ein hohes Gewicht? Entscheidungen und Unterschiede dieser Art würden die Ähnlich‐ keitswerte stark beeinflussen. Während das Patent auch hierzu keine Informa‐ tionen enthält, heißt es im AEE-Handbuch, dass Wörter mit Tippfehlern vom E-Rater mithilfe von statistischen und regel-basierten Methoden als fehlerhaft (und nicht als seltene Wörter) kategorisiert werden und unter die Klasse „errors in writing mechanics (e.g., spelling)“ (Burstein et al. 2013a: 59) fallen. „Keyboard-banging essays“ mit „gibberish text“ (z. B. gsdhkgh) werden ebenfalls vom E-Rater erkannt und nicht benotet, da sie als „off-topic“-Aufsatz zählen (62). Für das vierte Ergebnis wird das zum dritten beschriebene Verfahren in ähnlicher Weise für die Wörter in den einzelnen ‚Argumenten‘, die durch die Heuristik identifiziert wurden, durchgeführt, d. h. jedem ‚Argument‘ wird eine 276 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="277"?> 3 Zwei Zahlen aus der ersten Analyse, vier aus der zweiten, jeweils eine aus den letzten beiden Analysen. 4 Wie genau dieser Abstand gemessen wird, ist nicht Teil der Beschreibung des Patents. 5 Im Handbook of AEE führen Burstein et al. (2013a: 60) aus, dass spezialisiertes, themenspezifisches Vokabular auch vorab - durch Menschen - als charakteristisch für besser bewertete Aufsätze ermittelt würde, es sich also nicht um eine rein quantitative Vorgehensweise handele. Hierdurch kommt zwar in der Tat eine menschliche Katego‐ risierung (themenspezifisches Vokabular) ins Spiel, die als solche nicht quantitativ sein kann, sondern eine semantische Eigenschaft zuschreibt; was aber nichts daran ändert, Note zugewiesen, indem die Wortverwendung mit Argumenten aus Aufsätzen der verschiedenen Kategorien verglichen wird. Alle diese Noten für die ‚Argu‐ mente‘ werden dann auf eine im Patent nicht detailliert beschriebene Art und Weise gemittelt, um die letzte Zahl zu bilden. Das gesamte Verfahren wird nun auf 250 bis 300 bereits von Menschen benotete Aufsätze angewendet (vgl. auch Burstein et al. 2013a: 61) - damit sind die acht resultierenden Zahlen 3 und die jeweils erteilte Note bekannt. Diese Zahlen sind die Eingabe für eine lineare Regression, die eine sehr einfache und verbreitete Methode aus dem maschinellen Lernen darstellt. Die Methode findet die Gewichte für jede der Eingaben, sodass die vorhergesagte Note aus einer linearen Gleichung, die auf den Eingaben basiert, nicht zu weit von der tatsächlichen Note entfernt ist, gemittelt über alle 250 bis 300 Datenpunkte. 4 Die resultierende Formel wird dann für alle neu zu bewertenden Aufsätze verwendet. Zusammengefasst macht der E-Rater also Folgendes: • Basierend auf einer Menge von 250 bis 300 Aufsätzen, die von Menschen benotet wurden, lernt er, welche der leicht identifizierbaren syntaktischen Merkmale, wie z. B. die Anzahl der modalen Hilfsverben, am stärksten mit einer guten bzw. schlechten Note assoziiert sind. • Es lernt auch, welche Wörter in Bezug auf die gegebene Frage im Text ins‐ gesamt und in den einzelnen Argumenten am häufigsten bzw. am wenigsten verwendet werden. Dies wird durch eine Heuristik auf Basis einer Liste von Schlüsselwörtern ermittelt. Es vergleicht diese Werte mit Essays jeder Notenstufe und findet dann die Notenstufe, in der die korrespondierenden Werte am ähnlichsten sind. • Am Ende werden die acht Zahlen durch eine einfache Formel miteinander verrechnet und ergeben damit die vorhergesagte Note. Es kann somit festgestellt werden, dass der E-Rater nicht in der Lage ist, Textkohärenz, logische Argumente und die Sinnhaftigkeit ihrer Verknüpfung zu erkennen. Er kann letztlich nur Einzelwörter 5 und einfache syntaktische 277 Ohne Sinn <?page no="278"?> dass die Sinnhaftigkeit und Richtigkeit der Verwendung dieser Ausdrücke durch den E-Rater nicht geprüft werden kann, ihr Vorkommen also in diesem Sinne auf dem Symptom-Status verbleibt. Strukturen zählen sowie herausfinden, welche Anzahl dieser Strukturen oft mit einer hohen oder niedrigen Note, die menschliche Gutachter geben, verbunden sind. 3 Kritik am E-Rater Im Patent heißt es immer wieder, dass das E-Rater-System Aufsätze automa‐ tisch nach Merkmalen bewerte, die die von menschlichen Bewerterinnen ver‐ wendeten holistischen 6-Punkte-Rubrics widerspiegeln („automatically rates essays using features that reflect the 6-point holistic rubrics used by human raters“, Patent, 3). Nach einer solchen Einteilung wäre ein Aufsatz die Bestnote 6 wert, wenn er Ideen schlüssig entwickelt, sie logisch organisiert und sie mit klaren Übergängen verbindet (Patent, 1). Die Patentinhaber stützen ihre Quantifizierung dieser Merkmale auf die Identifizierung verschiedener Wörter, die zur Strukturierung von Argumenten verwendet werden können. Allerdings sind weder diese Wortlisten vollständig noch ist die Identifikation von bloßen Wörtern ein Ersatz für die semantische Analyse der Argumentstruktur. Ob die verwendeten Heuristiken die Subtexte, die jeweils ein Argument enthalten, korrekt identifizieren oder nicht, ist keineswegs gesichert. Die logische Strin‐ genz der Argumente wird durch das maschinelle Lernen nicht erfasst. Es wird weder gemessen, ob die Ideen kohärent entwickelt sind - dies gestehen auch die Erfinder des E-Raters zu (Burstein et al. 2013b) -, noch wird ihre Organisation inhaltlich bewertet. Der zweite Vektor, der die ‚rhetorische Struktur‘ repräsentieren soll, stellt lediglich eine Zählung einfacher syntaktischer Eigenschaften des Textes dar, z. B. der Gesamthäufigkeit der Argumententwicklung unter Verwendung von believe words, basierend auf einer Heuristik zur Identifizierung von Argumenten anhand von Schlüsselwörtern. Auch hier werden nicht die rhetorischen Fähig‐ keiten der Schülerinnen quantifiziert. Die Quantifizierung basiert auf syntakti‐ schen Strukturen, nicht auf einer semantischen und pragmatischen Analyse des Textes. Perelman (2020: o.S.) formuliert es so: „Testing companies freely use the term artificial intelligence, but most of the systems appear to produce a holistic score largely through summing weighted proxies.“ Um dies zu belegen, baute Perelman einen Textgenerator namens BABEL, der grammatisch korrekte, aber semantisch unsinnige Texte erzeugt. Zum Beispiel 278 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="279"?> 6 Hier sollte jedoch nicht vergessen werden, dass erfolgreiche KandidatInnen auch bei menschlichen Bewertern durchaus in Erwägung ziehen, was diese ‚hören wollen‘ könnten (zum Beispiel in ideologischer Hinsicht). diesen, der - laut Anson und Perelman 2017: 281 - vom E-Rater mit der Bestnote 6 ‚bewertet‘ wurde: Careers with corroboration has not, and in all likelihood never will be compassionate, gratuitous, and disciplinary. Mankind will always proclaim noesis; many for a trope but a few on executioner. A quantity of vocation lies in the study of reality as well as the area of semantics. Why is imaginativeness so pulverous to happenstance? The reply to this query is that knowledge is vehemently and boisterously contemporary. Perelmann wies nach, dass selbst mit dem neuesten E-Rater-System einige ‚Texte‘ dieser Art die Bestnote erhalten (vgl. Perelman 2020). Diese Befunde werden oft benutzt, um zu belegen, dass Studierende in der Lage sind, „für den Test zu lernen“ (learning to the test), z. B. indem sie seltene Wörter in ihren Aufsatz einbauen, egal ob diese nun passen oder nicht. Es ist also recht einfach möglich, den E-Rater auszutricksen: Schülerinnen und Schüler können speziell für den Test trainiert werden: Was will der ‚Lehrer‘ E-Rater hören? Schüler können Listen von speziellen ‚cue words‘ auswendig lernen; man kann ihnen beibringen, spezielle syntaktische Strukturen unabhängig von ihrer semantischen Qualität und Passung zu verwenden. Das Auswendiglernen und Verwenden von cue words (als Qualitätssymptomen) bedeutet selbstredend nicht, dass jemand weiß, wie man sinnvolle Aufsätze schreibt, d. h. solche, die von anderen Menschen inhaltlich verstanden werden können. Aber das ist für das System des „teaching to the test“ (vgl. Anson und Perelman 2017: 282 f.) ohnehin nicht relevant, da ein AES-System nicht erfassen kann, ob ein Text sinnvoll ist oder nicht. So kann eine selbsterfüllende Prophezeiung eintreten: Es ist möglich, dass die Vorhersagen eine immer größere Präzision erreichen, während die Texte immer sinnloser werden, da ein sinnvoller Zusammenhang kein Bewertungskriterium mehr darstellt (vgl. Anson und Perelman 2017: 283). Würde man den E-Rater tatsächlich als Ersatz für menschliche Aufsatzbewer‐ tungen verwenden, wie es die Verfasser des Patents in Aussicht stellen, dann wäre es im Grunde auch ehrlich und transparent, ganz offiziell nur das Wissen über die erwarteten Proxys zu testen und damit das ‚teaching to the test‘ explizit zu machen. 6 Da die Lern- und Demonstrationskompetenz eines jeden Schülers aber gerade darin besteht bzw. bestehen soll, Texte zu schreiben, die für andere Menschen inhaltlich verständlich, im besten Fall sogar anregend sind, und der E-Rater nicht für Situationen geschaffen wurde, in denen ein menschliches Feedback 279 Ohne Sinn <?page no="280"?> benötigt wird, ist der alleinige Einsatz eines solchen Systems aus didaktischen Gründen bereits ausgeschlossen. Dies mag sich in Zukunft ändern, aber mit Systemen wie dem obigen, das nur auf Korrelationen von Vokabular und syntaktischen Strukturen mit Noten basiert, ist es nicht zu leisten. Es kann in solchen Situationen daher bestenfalls als ‚zweite Meinung‘, zusätzlich zu der einer menschlichen Gutachterin herangezogen werden (vgl. hierzu unten Abschnitt 5.3). Aber selbst wenn das System keine didaktisch sinnvolle Rückmeldung geben kann, ist auch die Genauigkeit der Benotungsvorhersage zu beachten: Eine Studie in Deutschland und der Schweiz zeigte für zwei verschiedene Arten von Aufgaben in zwei Ländern, dass der E-Rater, wenn er für die Aufgaben spezifisch trainiert wird, zwischen 13-42 % absolute Übereinstimmung erreicht, d. h. er trifft in diesem Prozentbereich auf einer 0-5-Punkte-Skala exakt die gleiche Note (Rupp et al. 2019). Darüber hinaus liegt die Abweichung der Note um nicht mehr als einen Punkt auf der 0-5-Punkteskala bei bis zu 99 % (zwischen 73,8 % und 99,4 %, Tabelle 5, Rupp et al. 2019). Damit war die Übereinstimmung zwischen menschlichen Bewertern zwar deutlich höher als die zwischen dem System und menschlichen Bewertern, aber nach Einschätzung der Autoren bewegte sich letztere ebenfalls in einem akzeptablen Bereich. Andere Studien zum E-Rater zeigen ähnliche Genauigkeitswerte oder noch etwas bessere (vgl. Meyer et al. 2020: 4), sodass die Akzeptanz für die Nutzung in den letzten Jahren gestiegen ist. Im Folgenden werden wir argumentieren, dass die Ergebnisse, die ein System wie der E-Rater liefert, auch bei hundert‐ prozentiger Übereinstimmung qualitativ nicht dasselbe darstellen wie eine Aufsatzbewertung, sondern etwas kategorial und qualitativ (vgl. Becker 2021: 9-30) anderes. Es handelt sich nicht einmal um eine Aufsatzbenotung, sondern ausschließlich um die Vorhersage einer solchen. Um die Tragweite dieses Unter‐ schieds zu verdeutlichen, holen wir in den folgenden beiden Abschnitten etwas weiter aus. In Abschnitt 4 legen wir dar, was aus semiotisch-sprachphilosophi‐ scher Perspektive unter einem Aufsatz zu verstehen ist und welche Rolle die kulturelle Verankerung dabei spielt. Danach gelangen wir in Abschnitt 5 zu un‐ serem Kernargument, indem wir aus sprechakttheoretischer Perspektive erör‐ tern, welche Charakteristika das Bewerten eines Aufsatzes aufweist. Hier geht es uns nicht darum, die Leistungsfähigkeit des E-Raters als Vorhersage-Instrument in Abrede zu stellen; vielmehr wollen wir die Grenzen seiner Einsetzbarkeit ausloten: Unter welchen Bedingungen ist ein solches System unterstützend einsetzbar, und welche Anforderungen des sozialen Prozesses kann es nicht erfüllen? Um hier zu einer möglichst robusten und fairen Einschätzung gelangen 280 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="281"?> zu können, gehen wir von einem bestmöglichen Szenario für den Einsatz eines E-Rater-Systems aus: a. Das System wird jeweils basierend auf 250 bis 300 Aufsätzen trainiert, die von Menschen bewertet wurden. b. Die Schüler nehmen an, dass ihr Aufsatz von einem menschlichen Bewerter benotet werden könnte - sie müssen also einen verständlichen Aufsatz schreiben (kein learning to the test). 4 Aufsätze als kulturell verankerte Zeichengebilde Nach dem Menschenbild, das wir voraussetzen, wollen Schüler und Studierende als menschliche, soziale Wesen ihre Erkenntnisse mit anderen Menschen teilen. Sie wollen nicht für eine Maschine schreiben, die sie nicht verstehen kann. In diesem Sinne ist der Wunsch, Zuhörer oder Leserinnen zu haben, eine treibende Kraft für die Kommunikation. Oder um es von der anderen Seite her zu formulieren: Die Lehrenden wollen den Schülerinnen helfen, ihr Schreiben so zu gestalten, dass andere Menschen es gut verstehen und gerne lesen; sie wollen Schüler haben, die so schreiben, als hätten sie Leser. Dann aber muss das Bewertungsverfahren so gestaltet werden, dass die Schüler davon ausgehen können, (auch) von einem Menschen bewertet zu werden, da sie sonst nur lernen, mit der Maschine so zu kommunizieren, dass diese eine gute Bewertung abgibt. Da die Maschine nicht simuliert, ob und wie ein Mensch den Text liest und versteht, kann sie ihn nicht so bewerten, wie es ein menschlicher Leser tun würde. Aus linguistischer und philosophischer Sicht lässt sich die Notwendigkeit einer menschlichen Aufsatzbewertung auch noch darüber hinaus gut begründen und legitimieren. Die Proxys des E-Raters suggerieren, dass eine Sprache nur eine Menge von Wortformen oder Vokabeln ist, die schematisch zu syntakti‐ schen Strukturen kombiniert werden können. Bedeutung und Sinn bleiben buchstäblich außen vor und sind für den E-Rater in keiner Weise fassbar. Nach einer linguistischen Theorie, die Saussure’sche und pragmatische Perspektiven miteinander verbindet (vgl. Schneider 2008 und 2015), ist eine Sprache jedoch gerade nicht nur eine Menge von Vokabeln, sondern ein flexibles Netzwerk von einfachen und komplexen sprachlichen Zeichen, d. h. von Wörtern und anderen Lexemen, die in unbegrenzten syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen diskursiv verwendet werden können. Kein sprachliches Zeichen hat seine Bedeutung ‚von Natur aus‘; kein sprachliches Zeichen hat eine feste, kontextunabhängige Bedeutung. Vielmehr erhalten sprachliche Zeichen ihre Bedeutungen erst im sozial geteilten, variablen Gebrauch. Dieser theoretische 281 Ohne Sinn <?page no="282"?> Rahmen kann die Vielfalt der menschlichen Sprachen sowie den ständigen Wandel und die Innovationskraft von Sprachen erklären, aber auch die intrin‐ sische Verbindung zwischen Sprache und Kultur. Wenngleich es keine feste, unveränderliche, objektive Bedeutung gibt, garantiert die grundlegende Sozia‐ lität bzw. Konventionalität von Sprache, dass Zeichenbedeutungen nicht völlig individuell und subjektiv sind, sondern in der menschlichen Interaktion implizit ausgehandelt und übertragen werden. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Philosophischen Untersuchungen eine Konzeption von Sprache entwickelt, die unser oben vorausgesetztes Bild vom Menschen als einem zeichenmachenden, sozialen Wesen stark unterstützt. Er argumentierte, dass eine Privatsprache, d. h. eine Sprache, die prinzipiell nur von einer einzigen Person verstanden werden kann, logisch unmöglich ist (Wittgenstein 1984: §§ 243ff.). Umgekehrt zeigte Wittgenstein, dass sprachlicher Sinn und Bedeutung - und damit auch Qualitätskriterien von Aufsätzen (! ) - immer gesellschaftlich konstituiert sind. Zeichenbedeutungen können nicht unabhängig von einem gesellschaftlich geteilten Gebrauch erzeugt und etabliert werden. Es bedarf immer mindestens eines anderen Zeichenbenutzers, der als Korrektiv fungiert, um eine intersubjektive Bedeutung herzustellen, aufrecht‐ zuerhalten und zu stabilisieren; andernfalls wäre es nicht möglich, dazwischen zu unterscheiden, ob man einer Regel folgt oder ob man nur glaubt, einer Regel zu folgen. Die Ausdrücke einer Regel folgen und einer Regel zu folgen glauben fielen semantisch ununterscheidbar zusammen (Wittgenstein 1984: § 202; vgl. hierzu auch Schneider 2008: 42-72). Wittgensteins und Saussures Argumente machen deutlich, dass sich Zeichen im dialektischen Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft, von Zeichen‐ gebrauch und System immer wieder neu bewähren müssen. Das heißt, Zeichen sind einerseits veränderlich und variabel, andererseits gesellschaftlich und kul‐ turell verankert - und auch das Erlernen von Zeichen ist so verankert. Während viele Menschen von dem naiven Glauben ausgehen, dass insbesondere bildhafte Zeichen ‚natürlich‘ verstanden werden könnten, weil wir die Ähnlichkeiten zwischen ihnen und der ‚Realität‘ sähen, weisen Goodman und Elgin (1988: 116) darauf hin, dass auch der Erwerb bzw. das Erlenen von Bildkompetenz/ Bildver‐ stehen ein kulturell geprägter Prozess ist: In einer Kultur findet das Lernen, Bilder zu verstehen, oft im Zusammenhang mit dem Lernen über andere Dinge und Fakten statt; unser Zeichenwissen ist mit unserem Weltwissen untrennbar verbunden: The child who learns to differentiate horses from zebras by looking at their pictures learns simultaneously to differentiate horse pictures from zebra pictures. The student 282 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="283"?> 7 Zum Begriff ‚Freund‘ in Facebook vgl. Dürscheid und Brommer 2015. who learns to recognize diseased organs by studying a medical text is also learning to interpret medical illustrations. (Goodman und Elgin 1988: 116) Am Beispiel von bildlichen Zeichen weisen der Autor und die Autorin darauf hin, dass auch „Fähigkeiten zweiter Ordnung“ („second-order skills“), die nicht angeboren sind und nicht „von Grund auf erlernt werden müssen“, uns befä‐ higen, „unsere Interpretationsfähigkeiten zu modifizieren und zu erweitern und so Bilder in Systemen zu verstehen, die mit denen verwandt sind, die wir kennen“ (Goodman und Elgin 1988: 116; übersetzt von uns, JGS und KAZ). Dies gilt natürlich nicht nur für Bilder, sondern auch für andere Arten von Zeichen, insbesondere für Wörter und andere sprachliche Ausdrücke. Um neue Zeichen zu verstehen, müssen wir sie in kulturell erlernte Systeme, die wir bereits kennen, einordnen oder zumindest in Beziehung zu ihnen setzen: To understand a newspaper article, for example, we need to classify it as a news report, a feature, a column, or an editorial. […] And we need to know the systems of alternatives to which its terms belong. (Goodman und Elgin 1988: 119; kursiv von uns, JGS und KAZ) Was bedeutet und impliziert es, „die Systeme von Alternativen zu kennen“? Goodman und Elgin veranschaulichen die Relevanz dieser Idee anhand des folgenden Beispiels: Was bedeutet es, ein anderes Land eine ‚befreundete Macht‘ („friendly power“) zu nennen? Wen schließen wir mit diesem Ausdruck aus? Nur jene Länder, die uns feindlich gegenüberstehen? Oder auch solche, die uns nicht aktiv unterstützen (Goodman und Elgin 1988: 119)? Mit Saussure gesprochen ist hier das semiotische ‚Prinzip der Differenz‘ am Werk: Um die Bedeutung eines Wortes oder einer Phrase zu verstehen, muss man die Unterschiede oder Oppositionen erfassen, in denen es verwendet wird: Was meinen wir nicht mit dem betreffenden Wort? Was sind die Alternativen? Was sind die Bedeutungsnuancen zwischen dem verwendeten Wort und einem anderen? Was sind zum Beispiel die Unterschiede zwischen friendly, allied und amicable in diesem politischen Kontext? Was sind die Unterschiede zwischen einem Freund im Allgemeinen, einem Freund in einer politischen Partei, einem Freund in den sozialen Medien usw.? 7 Although we do not ordinarily deliberate about them, appreciation of such matters forms the background against which our reading of the news makes sense. (Goodman und Elgin 1988: 119) 283 Ohne Sinn <?page no="284"?> 8 Wer beispielsweise von ‚colored people‘ spricht oder schreibt, zeigt damit unweiger‐ lich an, dass er oder sie mit dem aktuellen Diskurs nicht vertraut ist, in dem der Ausdruck People of Color eindeutig bevorzugt wird - aus guten Gründen, wenn man die rassistische Geschichte des Ausdrucks colored in diesem Zusammenhang reflek‐ tiert. Vgl. https: / / www.chicagotribune.com/ columns/ dahleen-glanton/ ct-dahleen-gla nton-colored-email-reading-list-20200304-utx7geiwm5hupa3t7w6xr3xqn4-story.html (Zuletzt abgerufen am 30.01.2022). Das Verständnis des kulturellen Gebrauchs und der Nuancen verschiedener Wörter ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis von geschriebenen Texten wie auch von mündlichen Dialogen. Nur Zeichennutzerinnen, die die jeweiligen Praxisgemeinschaften kennen, verstehen die kulturell relevanten cue words einschließlich der damit verbundenen Assoziationen. Die Entscheidung, im amerikanischen Englisch den Ausdruck Black people oder Blacks oder African Americans oder People of Color oder ‚colored people‘ zu verwenden, kann viel über die politische Haltung des Autors, die politische Ausrichtung eines Textes, aber auch über aktuelle politische Debatten aussagen. Das Framing, die Assoziationen und der Begriffsumfang sind jeweils unterschiedlich, je nachdem, welcher Ausdruck verwendet wird. 8 Das Wissen um Alternativen (z. B. die Verwendung der Worte friendly, friend, Blacks, Afro Americans, People of Color) ist kulturell eingebettet, kulturell gelernt, kulturell veränderbar. Nur auf der Basis solchen kulturellen Wissens können wir das Neue verstehen und das Bewährte sinnvoll und innovativ weiterführen. Wenn wir also verstehen, dass Zeichen ihre Bedeutung nie inhärent ‚besitzen‘, sondern Bedeutungen in ihrem Verhältnis zur Welt gemeinsam konstruiert werden, dann wird deutlich, dass die Qualität von Aufsätzen und die Quali‐ tätskriterien für Aufsätze letztlich auch von einer sozialen Übereinkunft und einer Verankerung des Zeichengebrauchs in der jeweiligen kulturellen Praxis, also im Kollektiv, abhängen. Angemessene Aufsatzbewertungen sind nur mög‐ lich, wenn immer wieder überprüft wird, wie sich sprachliche Ausdrücke in der kulturellen Praxis verhalten. Daraus folgt, dass AES-Systeme immer auf gesellschaftlich gewonnene Qualitätskriterien angewiesen bleiben werden, die naturgemäß einem permanenten Wandel unterliegen. Vor diesem Hintergrund können Aufsätze nun als komplexe Zeichengebilde definiert werden, die kul‐ turell verankert und inferentiell gestützt werden. Mit inferentiell gestützt ist gemeint, dass die Verwendung von Konzepten und Propositionen immer logisch abhängig ist von der Verwendung anderer Konzepte und Propositionen durch andere Zeichenbenutzerinnen derselben Gemeinschaft (vgl. Brandom 2000). 284 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="285"?> 9 Natürlich könnte man hier einwenden, dass auch DeepL technisch gesehen eine Übersetzungsvorhersage erzeugt. Der Unterschied besteht aber de facto darin, dass hier ein Produkt entsteht, das genauso wie eine menschliche Übersetzung beurteilt werden kann und bei dem der kulturelle Umstand wie gesagt implizit mitübersetzt wurde. 5 Eine Bewertungsvorhersage ist keine Bewertung Wie oben argumentiert, ist unser kulturelles Wissen, welches das Verstehen von kulturellen Artefakten einschließt, „eine komplexe Konstellation von er‐ worbenen Fähigkeiten“ (Goodman und Elgin 1988: 114; Übersetzung von uns, JGS und KAZ). Folglich ist auch das Verstehen von Aufsätzen und anderen Texten kulturell eingebettet und abhängig von einem solchen Wissen. Da diese Kulturabhängigkeit von Aufsätzen in mancher Hinsicht fast selbst‐ verständlich erscheint, muten die jüngsten Fortschritte von automatischen Übersetzungsprogrammen wie DeepL erstaunlich an. Woran liegt es, dass DeepL Übersetzungen produzieren kann, die bis zu einem gewissen Grad auch erfahrene menschliche Übersetzer beeindrucken können? Der Dienst bringt Co nvolutional Neural Networks (CNN) zum Einsatz, wie sie in der Bilderkennung üblich sind. Der Vorteil besteht darin, dass - anders als bei sogenannten rekurrenten neuronalen Netzen - alle Wörter gleichzeitig übersetzt werden und bereits auf optimierte Bibliotheken für die Berechnung zurückgegriffen werden kann (vgl. Merkert 2017). Im Falle von DeepL wurden die CNN mit dem assoziierten Linguee-System trainiert, das DeepL schon vorab als Suchmaschine für Übersetzungen angeboten hatte und damit extrem umfangreiche, qualitativ sehr hochwertige Trainingsdaten sammeln konnte (Schmalz 2018: 200). Die Firma gründet ihren Erfolg unter anderem darauf, dass sie aus ihrer Unter‐ nehmensvorgeschichte heraus Zugriff auf „Milliarden qualitativ hochwertiger Übersetzungen“ hat (Schmalz 2018: 203). Der grundlegende qualitative Unterschied zum E-Rater besteht darin, dass DeepL etwas kategorial Gleiches produziert wie ein menschlicher Übersetzer: nämlich ein sprachliches Produkt, das nach den gleichen Kriterien wie eine menschliche Übersetzung bewertet werden kann. Hier wird sozusagen die kulturelle Einbettung bzw. der kulturelle Umstand mitübersetzt: Durch die große Menge an ausgewerteten menschlichen Übersetzungen werden implizit auch die Kriterien miterfasst, an denen sich Menschen beim Übersetzen effektiv orientieren, wodurch z. B. menschliche Intentionalität und Geschmack sowie auch der ‚Zeitgeist‘ mitsamt seinen fluiden, sich gruppenspezifisch ausdifferen‐ zierenden Konventionen zum Ausdruck kommen. Der E-Rater hingegen macht eine Bewertungsvorhersage, genauer gesagt eine Notenvorhersage 9 , anhand von Indizes oder Symptomen. Aus der Perspektive 285 Ohne Sinn <?page no="286"?> Der E-Rater dagegen orientiert sich bei seiner Notenvorhersage nicht an Kriterien, sondern nur an Symptomen, auf deren Grundlage sich die Qualität der Bewertung und Benotung gerade nicht beurteilen lässt, sondern lediglich die Präzision der Vorhersage im Vergleich zu einer menschlichen Bewertung. 10 Vordergründig könnte man Austin Argumentation so verstehen, dass er die Unter‐ scheidung zwischen Performativa und Konstativa aufgibt, indem er sie durch die Unterscheidung zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten ersetzt, bei der der Begriff des illokutionären Akts den performativen Aspekt von Sprachhandlungen erfasst. Bezieht man allerdings das Faktum ein, dass Austin die Unterscheidung von Performativa und Konstativa immer wieder aufgriff, obwohl er die Dichotomie zwischen beiden längst ‚dekonstruiert‘ hatte, dann gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass ihm der Begriff des Performativen wichtig blieb. Auch wenn letztlich alle Sprechhandlungen performativ sind, gibt es doch solche, bei denen das Performative stärker hervortritt als bei anderen. der Sprechakttheorie ist die Vorhersage einer Bewertung und Note jedoch, wie wir im Folgenden zeigen werden, etwas kategorial anderes als eine Bewertung selbst. 5.1 Der Grundgedanke der Sprechakttheorie Die Sprechakttheorie wurde von John L. Austin in seinen Harvard-Vorlesungen 1955 entwickelt und postum unter dem Titel How to Do Things with Words ver‐ öffentlicht (Austin 1975 [1962]). In Alltagssituationen betrachten wir Sprechen und Handeln oft als Gegensätze. Aber für Austin bedeutet Sprechen in vielen - genauer betrachtet: sogar in den allermeisten - Fällen, etwas zu tun, nämlich Sprechakte zu vollziehen. Wenn ich sage: „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen Queen Elizabeth“, dann vollziehe ich den Sprechakt der Schiffstaufe, sofern die Umstände passen und ich dazu berechtigt bin. Wenn Kinder eine solche Schiffstaufe nachspielen, wird dies also nicht die gleichen Konsequenzen haben. Nur wenn eine Reihe von Gelingensbedingungen („felicity conditions“) erfüllt ist, kann der Sprechakt laut Austin erfolgreich sein. Austin nennt Äußerungen dieser Art performative Äußerungen oder - in einer veränderten Perspektive - illokutionäre Akte. 10 Auch ein Richterurteil ist eine solche performative Äuße‐ rung. Wenn das Gericht legitimiert ist, das Verfahren korrekt und vollständig durchgeführt wird, dann gilt das Urteil mit allen seinen Konsequenzen. Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, ob das Urteil angemessen und gerecht war. Alle diese Aspekte werden von Austin berücksichtigt. Die konkreten Gelingensbedingungen von Sprechakten sind sehr unter‐ schiedlich und hängen von der jeweiligen Art des Sprechakts ab. Zu diesen Unterschieden gehört auch, ob ein Sprechakt eine Rechtfertigung benötigt und warum eine solche Rechtfertigung notwendig ist. In diesem Sinne wollen wir 286 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="287"?> nun die Gelingensbedingungen des Bewertens und des Benotens unter die Lupe nehmen. 5.2 Gelingensbedingungen des Bewertens und Benotens von Aufsätzen Unsere Annahme lautet, dass eine Aufsatzbewertung eine Begründung ent‐ halten muss, vorzugsweise sogar eine explizite. Aber wie können wir be‐ gründen, warum sie eine (qualitative) Begründung enthalten muss? Warum ist eine Vorhersage hier nicht ausreichend? Warum kann sie nicht an die Stelle der Begründung treten bzw. als Rechtfertigung der Bewertung dienen? Wie im letzten Abschnitt besprochen, wird Bedeutung ständig vom Kollektiv, also von einer Gemeinschaft von Zeichenbenutzerinnen, neu ausgehandelt. Wie können wir nun dieses Kollektiv in den Bewertungsprozess einbeziehen? Unsere Diskussion der Argumentation von Goodman und Elgin hat gezeigt, dass Aufsatzbewertungen nur aus dem Wissen um die Verankerung und Bewährung des Zeichengebrauchs legitimiert werden können. Das Vorhandensein dieses Wissens ist also eine der Gelingensbedingungen der Aufsatzbewertung, denn nur auf dieser Basis kann eine angemessene qualitative Begründung für eine Bewertung erfolgen. Und nur eine solche Rechtfertigung bietet die Möglichkeit zu überprüfen, ob z. B. eine Bewertung intersubjektiv legitimiert oder zumindest legitimierbar und nicht willkürlich ist. Im Hinblick auf Gelingensbedingungen stellen sich nun die Fragen, a) welche Verfahren hier genau zu wählen sind, und b) welche Personen zu diesen Verfahren passen und daher autorisiert werden sollten. In wissenschaftlichen und pädagogischen Kontexten setzen wir dazu Expertinnen ein: also Personen, die wir als Gutachter autorisieren, weil wir glauben, dass sie lange genug Teil des Kollektivs sind, um für dieses sprechen zu können, oder genauer: um fundierte Begründungen liefern zu können, die dann wiederum intersubjektiv überprüfbar sind (z. B. durch andere Experten). Im Folgenden gehen wir die sechs Gelingensbedingungen von Austin (1975 [1962]: 14-18 und 25-46) im Detail durch und wenden sie systematisch auf die Bewertung/ Benotung von Aufsätzen an: A 1: Ein Sprechakt kann überhaupt nur dann vollzogen werden, wenn es einen entsprechenden konventionellen Ablauf gibt, bei dem bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Worte äußern. Im Fall der Aufsatzbe‐ wertung und -benotung ist dies ein Verfahren, das eine genaue Lektüre des eingereichten Aufsatzes und eine Zuordnung des Aufsatzes zu einem Noten‐ level nach Kriterien im Rahmen des zugrunde liegenden Benotungsschemas erfordert. Die zentrale sprachliche Handlung, bei der Aufsatzbewertung nor‐ 287 Ohne Sinn <?page no="288"?> malerweise eine schriftliche Handlung, hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem Richterspruch und lässt sich so in eine explizit performative Form bringen (vgl. Austin 1975 [1962]: 69): ‚Hiermit benote/ bewerte ich den vorliegenden Aufsatz mit der Note x.‘ Zu einer Aufsatzbewertung gehört wie erwähnt auch, dass Notengebung durch den Gutachter/ Prüfer begründet wird oder zumindest auf Nachfrage begründet werden kann. A 2: Die jeweiligen Personen, Gegenstände und Umstände müssen zu der vorzunehmenden Sprechhandlung passen; sie müssen autorisiert und qualifi‐ ziert sein. In unserem Fall sind dies die vom Kollektiv eingesetzten Experten. B 1 und B 2: Alle beteiligten Personen müssen den Vorgang korrekt und vollständig durchführen. In unserem Fall bedeutet dies, dass auf der Grundlage des jeweiligen Aufsatzes und mit Hilfe transparenter Kriterien eine eindeutige Zuordnung zu einer der vorgesehenen Kategorien erfolgen muss. Zur Korrekt‐ heit und Vollständigkeit des Verfahrens gehört beispielsweise auch, dass so gut wie möglich geprüft wird, ob der eingereichte bzw. abgegebene Aufsatz ‚gültig‘ ist, d. h. dass es sich beispielsweise nicht um ein Plagiat handelt. Wenn eine oder mehrere der Bedingungen A 1 bis B 2 nicht erfüllt sind, dann kommt der Sprechakt der Aufsatzbewertung nicht zustande. Es kann auch passieren, dass eine solche Bewertung im Nachhinein nichtig ist, z. B. weil sich der Aufsatz erst später als Plagiat herausstellt. Aber selbst wenn die Bewertung zustande gekommen und damit gültig ist, kann sie noch auf zwei weitere Arten scheitern. Da diese Bedingungen also von einer kategorial anderen Art sind, führt Austin sie hier nicht mit dem dritten Buchstaben des lateinischen Alphabets fort, sondern mit einem griechischen Gamma. Γ 1: Der Sprechakt darf nicht unglaubwürdig oder unaufrichtig sein. Denn er soll auch ein ‚Signal‘ (vgl. Spence 1973) an den jeweiligen Verfasser sein sowie gegebenenfalls auch an potenzielle künftige Arbeitgeber, wie seine Leistung von einer Expertin im Hinblick auf die angestrebte Qualifikation und eventuell auch im Hinblick auf seine weitere berufliche Entwicklung bzw. seine Karriere‐ chancen eingeschätzt wird. Wenn die Begutachtung nicht nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt, ist diese Bedingung nicht erfüllt. Wir sehen deutlich, dass gerade hier die ethisch-moralische Dimension der Benotung betroffen ist. Γ 2: Alle Beteiligten müssen sich auch im Nachhinein so verhalten, dass es zu dem jeweiligen abgeschlossenen Sprechakt passt. Wenn man z. B. eine sehr gute Note gegeben hat, ist es nicht angemessen, den Schüler anschließend zu tadeln. Ebenso unangemessen wäre es, wenn ein Gutachter seine Bewertung im Nachhinein in Zweifel zieht. Hier sehen wir übrigens, wie eng Γ 1 und Γ 2 zusammenhängen können. 288 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="289"?> 11 Absolut sicher ist dies nicht, denn aufgrund der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit menschlicher Kommunikation gibt Austin nur notwendige, nicht aber hinreichende Gelingensbedingungen an. Wenn alle sechs Bedingungen erfüllt sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die Bewertung als Sprechakt erfolgreich war. 11 Darüber hinaus kann sich aber natürlich noch die Frage stellen, ob sie fair, angemessen etc. war. Wenn eine Note aus nicht formalen, sondern inhaltlichen Gründen angefochten wird, kann es sinnvoll sein, zusätzliche Gutachterinnen hinzuzuziehen. Die Frage, wie viele herangezogen werden, hängt im Allgemeinen sehr stark von der Art des Bewertungsverfahrens ab. Im Gegensatz zum beschriebenen Verfahren der Aufsatzbeurteilung und Benotung können die Symptome, die der E-Rater identifiziert und dann für seine Vorhersagen verwendet, niemals als Begründung für Benotungen herangezogen werden. Es handelt sich eben nicht um Kriterien, sondern um Symptome (vgl. Keller 2018: 155-168) oder - hier annähernd synonym - um Indizien. Die Begründung ist jedoch der wichtigste Faktor im Verfahren der Aufsatzbe‐ wertung, das aus Benotung und Begründung besteht. Die Begründung dient dazu, das Verfahren für die Zukunft zu stabilisieren; nur so können hier die Gelingensbedingungen aufrechterhalten werden. Das Verfahren muss in der entsprechenden kulturellen Praxis verankert bleiben. Wesentlich ist, dass die Kriterien, die einen guten Aufsatz ausmachen, im Bewertungsverfahren explizit berücksichtigt bleiben und deren Zusammen‐ schau zur Festlegung einer Note führt, denn nur so kann eine nachvollziehbare und adäquate Begründung gegeben werden. Solche Kriterien sind: Insbeson‐ dere Kohärenz, argumentative Plausibilität, Wahrheitsgehalt, Originalität und Ästhetik. Wie BABEL zeigt, kann der E-Rater keinen dieser Aspekte erfassen, sondern nur syntaktische Kohäsion und Oberflächenaspekte des Wortschatzes berücksichtigen. Er analysiert Kohäsion ohne Kohärenz, Symptome, aber keine Kriterien. Maschinelles Lernen kann nicht zwischen rationalen und sinnlosen Schlussfolgerungen unterscheiden (Elgin 1988: 108 f.; Anson und Perelman 2017: 279); AES-Systeme können nicht zwischen den Zeilen lesen, sie erfassen keine Anspielungen und Ironie, sie sind nicht in der Lage, komplexe neuartige Metaphern und Humor zu würdigen (Balfour 2013: 42). 5.3 Können Vorhersagen hier dennoch eine sinnvolle Rolle spielen? Wie wir aufgezeigt haben, ist die Benotung ein völlig anderer Sprechakt als die Notenvorhersage. Streng genommen kann der E-Rater auch nicht den Sprechakt der Vorhersage vollziehen - denn „Maschinen sind keine Akteure“ (Becker 2021: 19) -, aber immerhin kann er eine solche Vorhersage unter 289 Ohne Sinn <?page no="290"?> 12 Die Tatsache, dass es natürlich auch sehr schlechte und schlampige Gutachter gibt, lässt sich nicht als prinzipieller Einwand gegen das Verfahren der Einsetzung von sozial legitimierten Gutachtern anführen. Umständen leistungsgleich subsituieren (vgl. Janich 2015: 314; Becker 2021: 182, FN 28). Hier schließt sich nun folgende Frage an: Können solche automatisierten Notenvorhersagen im Prozess der Benotung und Bewertung eines Aufsatzes trotz allem hilfreich sein? Eine Vorhersage ist dann erfolgreich, wenn sie statistisch möglichst genau eintritt. Diese statistische Genauigkeit muss sich in vielen Fällen bewähren, damit man sagen kann, dass die Vorhersage überhaupt tragfähig sein könnte. Offensichtlich ist dies beim E-Rater der Fall, sodass seine Vorhersagen, wenn sie richtig eingesetzt werden, vielleicht doch einen Wert für das Verfahren haben. Bei aller Vorsicht könnte der E-Rater hier vielleicht helfen, heuristisch die ‚Ausreißer‘ in einer großen Menge von zu bewertenden Aufsätzen herauszufil‐ tern: Diejenigen Aufsätze, bei denen die menschliche Bewertung signifikant von der des E-Raters abweicht, könnten besondere Aufmerksamkeit verdienen. Sie könnten entweder tatsächlich besonders gut sein, obwohl sie die statisti‐ schen Symptome nicht aufweisen. Umgekehrt könnte das Vorhandensein der statistischen Symptome aber auch darauf hindeuten, dass ein menschlicher Bewerter einen Aufsatz zu negativ oder zu positiv bewertet haben könnte. Ein automatisierter Vergleich der Aufsätze hinsichtlich der genannten Symptome kann nicht feststellen, ob der jeweilige ‚Ausreißer‘ durch die Besonderheit des Aufsatzes oder durch die Besonderheit des Gutachtens bzw. des Gutachters verursacht wurde. Dies wiederum kann nur durch das Urteil eines menschlichen Mitglieds des jeweiligen Kollektivs verifiziert werden, da die Vorhersagen des E-Raters auf der Annahme einer ‚Normalität‘ der zu bewertenden Aufsätze beruhen. Selbst wenn der E-Rater also mit Bedacht als nützliches Werkzeug eingesetzt werden könnte, würde ihn das - und dies ist der entscheidende Punkt - keineswegs dazu befähigen oder ihm die Befugnis geben, selbst eine Bewertung vorzunehmen, d. h. den Sprechakt der Benotung mit allen Konsequenzen durchzuführen. Wie wir oben argumentiert haben, sind dazu nur Personen in der Lage, denen diese Kompetenz vom jeweiligen Kollektiv aufgrund von Qualifikationen oder anderen Vorleistungen zuerkannt wurde. 12 Auch hier wieder ein klarer Unterschied zu einer Übersetzung durch ein System wie DeepL: Wenn die Übersetzung überzeugt, spielt es in gewisser Hinsicht keine Rolle, wie sie zustande gekommen ist. Wichtig ist allerdings in vielen Fällen, dass die Übersetzung am Ende wiederum von einem Menschen verantwortet 290 Jan Georg Schneider, Katharina A. Zweig <?page no="291"?> wird, denn dies hat mit der Übernahme von Rechtfertigungspflicht zu tun und gehört u. a. zum Sprachspiel von Buchübersetzungen durch Verlage. Glücklicherweise kann auch beim E-Rater immer ein Vergleich zwischen der realen Bewertung durch einen Menschen und der automatisierten Vorhersage durchgeführt werden. Letztere bleibt immer auf solche Vergleiche angewiesen, da die Vorhersage des E-Raters ja nicht auf den Qualitätskriterien beruht, an denen sich Menschen bei der Bewertung eines Aufsatzes sinnvollerweise orientieren. Ohne menschliche Bewerterinnen und Benoter gibt es also bisher keine Möglichkeit, eine Begründung für die jeweilige Benotung zu geben, und wie wir argumentiert haben, muss eine Aufsatzbewertung immer intersubjektiv legitimierbar sein. Darüber hinaus würde ein sinnvoller Einsatz des E-Raters unserer Ansicht nach folgende methodische Voraussetzungen erfordern, die wir bereits am Ende von Abschnitt 3 angeführt haben und hier um einen dritten Punkt ergänzen: a. Das System müsste für jede Testfrage separat trainiert werden, basierend auf 250 bis 300 Aufsätzen, die von menschlichen Gutachtern bewertet wurden, wobei die Austin’schen Gelingensbedingungen einzuhalten sind. b. Die Schülerinnen und Schüler müssten davon ausgehen können, dass ihr Aufsatz von Menschen benotet wird - sie müssen also wissen, dass es darauf ankommt, einen sinnvollen Aufsatz schreiben. c. Der E-Rater wird nur als eine Art Abweichungsmaß, Aufmerksamkeits‐ lenker und mögliches Korrektiv zur Ergänzung menschlicher Bewertungen verwendet; er soll menschliche Gutachter unterstützen, kann und darf diese aber in keinem Fall vollständig ersetzen. Insgesamt muss immer bedacht und angemessen berücksichtigt werden, dass eine solche Software massive ökonomische Anreize der Zeit- und Personalein‐ sparung schafft - es ist daher ethisch und politisch zu reflektieren, welche Konsequenzen dies haben kann (vgl. hierzu Zweig 2018 und Zweig et al. 2021). Je mehr die Bewerterinnen unter zeitlichem und ökonomischem Druck stehen, desto mehr wird die ‚Aufrichtigkeitsbedingung‘ (Γ 1) herausgefordert und gegebenenfalls gefährdet: Ehrliche ‚Signale‘ können auf Dauer nur gegeben werden, wenn beide Seiten die Ehrlichkeit nachweisen müssen und überprüfen können. Dazu muss einerseits sichergestellt werden, dass der Gutachter auf Nachfrage eine Notenbegründung liefert; andererseits muss so gut wie möglich verhindert werden, dass mit Plagiaten oder unsinnigen Texten gute Noten erzielt werden können. Für die Zukunft bleibt die Frage, ob der E-Rater so überzeugend werden könnte wie etwa DeepL, wenn er den Bewertungsprozess selbst erlernen würde, 291 Ohne Sinn <?page no="292"?> indem er massenhaft mit menschlichen Textbewertungen von Schüleraufsätzen versorgt wird. Dies würde allerdings voraussetzen, dass diese Textbewertungen während des maschinellen Lernprozesses des E-Raters mit den entsprechenden Aufsätzen verbunden werden. Dann könnte der E-Rater vielleicht eine textuelle Bewertung erzeugen, die genau auf einen konkreten neuen Aufsatz bezogen und abgestimmt wäre und sich dann vielleicht sogar - wie DeepL - einer „leistungsgleichen Substitution“ (Becker 2021: 182, FN 268) annähern könnte. Aber ist ein solcher Prozess der Aufsatzbewertung überhaupt technisch möglich, wenn man bedenkt, dass die inhaltliche Beziehung zwischen Aufsatz und Bewertungstext viel komplexer und ‚loser‘ ist als die zwischen einem Text und seiner Übersetzung? Und selbst wenn es möglich wäre, könnten wir auf menschliche Gutachter nicht verzichten, denn nur sie könnten auf Nachfrage die Begründung weiter erläutern und die Verantwortung für die Bewertung der Aufsätze übernehmen. Literatur Anson, Chris M. und Les Perelman (2017). Machines can evaluate writing well. In Cherryl E. Ball und Drew M. Loewe (Hrsg.): Bad Ideas About Writing, 278-286. Morgantown/ WV: West Virginia University Libraries. Digital Publishing Institute (open access textbook). textbooks.lib.wvu.edu/ badideas/ badideasaboutwriting-book. pdf (Zuletzt aufgerufen am: 24.07.2021). Austin, John L. (1975). How To Do Things With Words. 2. Aufl. Oxford: Oxford University Press [1. Aufl. 1962]. Balfour, Stephen P. (2013). Assessing Writing in MOOCs: Automated Essay Scoring and Calibrated Peer Review™. Research und practise in assessment 8, 40-48. Becker, Ralf (2021). Qualitätsunterschiede. Kulturphänomenologie als kritische Theorie. Hamburg: Meiner. 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Ein Blick auf die didaktische Literatur stößt auf erstaunliche Diskrepanzen: Zwar finden sich im Hinblick auf den ‚Deutsch‐als‐Fremd‐ sprache‘‐Unterricht vielfältige Unterrichtsmaterialien; im Hinblick auf den muttersprachlichen Deutschunterricht ist dies jedoch erstaunlicherweise keineswegs der Fall - und das trotz der positiven Einstellung vieler Lehrkräfte und auch mancher SchülerInnen. Der Beitrag will diesem Widerspruch nachgehen und greift in diesem Kontext auf Ergebnisse eines soeben abgeschlossenen DFG‐Projekts zum Umgang Jugendlicher mit sprachlicher Höflichkeit zurück. 1 Konjunktur der Höflichkeit in öffentlichen Debatten und Beratungsbedarf In der medialen Öffentlichkeit spielt das Thema Höflichkeit immer wieder eine bedeutsame Rolle, besonders in Zeiten neuer soziokultureller Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche (vgl. Macho 2002). Vor allem werden (oft nur vermeintliche) Verstöße gegen Umgangsformen kritisiert, und ein allgemeiner Niedergang von ‚gutem Benehmen‘ wird beklagt. Aus vielen Stellungnahmen und Leserbriefen sowie aus kulturkritischen Publikationen (z. B. Gärtner/ Roth 2013, Mießgang 2013) spricht eine Verunsicherung über einen Wandel von früher selbstverständlichen Etiketteregeln des gesellschaftlichen Umgangs. Das korrekte Verhalten in privaten und beruflichen Situationen, im Inland und Ausland, im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch, im persönlichen <?page no="296"?> Gespräch oder in der medienvermittelten Kommunikation, die Verwendung angebrachter Gruß‐, Abschieds‐ und Anredeformen stehen zur Debatte. Daraus resultiert ein Orientierungsbedarf, der sich in der Nachfrage nach Ratgeberliteratur niederschlägt. Gültige Verhaltensstandards sind gefragt, wenn man die eigene Reputation und den kommunikativen Erfolg im jeweiligen Kontext nicht gefährden möchte. Rufe nach einem ‚neuen Knigge‘ werden laut. Höflichkeit wird in solcher Ratgeberliteratur mit der Beachtung aufge‐ stellter Etiketteregeln identifiziert und oft auf ein Inventar rezeptologischer Handlungsanweisungen reduziert: z. B. „Straßenwörter“ zu vermeiden und die „Zauberwörter“ bitte und danke zu nutzen (so Hanisch 2020). Allerdings wird Knigge zu Unrecht als Säulenheiliger der guten Umgangs‐ formen zitiert: Eine genauere Lektüre des Knigge‐Textes zeigt, dass Höflichkeit im Umgang mit Mitmenschen sich gerade nicht auf eine Sammlung allgemeiner Verhaltensanweisungen reduzieren lässt und dass sie eine große Bedeutung für die Organisation des sozialen Lebens hat. Man kann Höflichkeit auch als Verhaltensdisposition, als Einstellung beschreiben, die der Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kooperieren, zugrunde liegt. Und hier wird es auch wissenschaftlich interessant: Höflichkeit ist dann ein Begriff, der deskriptiv verwendet werden kann, also nicht mehr, um zu sagen, was man in bestimmten Situationen tun sollte, sondern um zu beschreiben, was Menschen in bestimmten kommunikativen Kontexten tun, warum sie es tun bzw. welche sozialen Funk‐ tionen dieses Verhalten hat. Darum sollte es bei einer linguistischen Auseinan‐ dersetzung mit dem Phänomen gehen (vgl. Ehrhardt/ Neuland 2021). In jüngster Zeit hat Höflichkeit im Rahmen zunehmender privater wie beruflicher Mobilität und Interkulturalität besondere Aktualität erlangt: Unter der Bezeichnung soft skill ist die Fähigkeit des freundlichen Umgangs z. B. mit Kunden in betrieblichem und wirtschaftlichem Umgang, zumal mit Personen aus anderen Kulturen und in der Internetkommunikation, gefragt. Immer wieder bietet auch das vermeintlich schlechte Benehmen Jugendlicher einen Anlass zur Kritik, sei es in der Familie oder in der Schule. So werden z. B. Rufe nach einem Schimpfwortverbot und nach neuen Kopfnoten in der Tagespresse laut. 2 Höflichkeit im linguistischen Aufschwung Die Höflichkeitsforschung weist im deutschsprachigen Raum noch keine allzu lange Tradition auf. Eine systematische linguistische Forschung setzte erst mit der Auseinandersetzung mit den Beiträgen der US‐amerikanischen Klassiker (v. a. Lakoff 1973, Leech 1983, Brown/ Levinson 1987) und mit dem universal‐ 296 Eva Neuland <?page no="297"?> pragmatischen Ansatz vergleichender Studien (v. a. das CCSAR‐Projekt von Blum‐Kulka/ House/ Kasper 1989) ein. Schließlich haben die von Watts/ Ide/ Eh‐ lich veröffentlichten Beiträge einer einschlägigen IVG‐Sektion (Politeness in Language, deutsch 1992, zweite Auflage 2005) die deutschsprachige Forschung in einem internationalen und interdisziplinären Kontext bereichert (vgl. Neu‐ land 2018). Seit dieser Zeit steht die sprachliche Höflichkeit im Fokus der linguistischen (Sozio)Pragmatik und fehlt in keiner Einführung mehr. Sammelbände wie der von Lüger (Höflichkeitsstile, 2001, zweite Auflage 2002), Ehrhardt/ Neu‐ land/ Yamashita (2011) und Ehrhardt / Neuland (2017) bieten deutschsprachige Überblicke über die internationale Forschung; eine erste aktuelle Einführung wurde vorgelegt (Ehrhardt/ Neuland 2021). Die internationale Fachdiskussion boomt, wie eine Auswahl aktueller Monographien (u. a. Held 1995, Eelen 2001, Bonacchi 2013) und Sammelbände (z.B: Kadar/ Haugh 2013) zeigt. Folgende Schwerpunkte und Desiderate der linguistischen Höflichkeitsfor‐ schung bilden sich aktuell heraus (vgl. auch Neuland 2018) und können hier nur kurz erwähnt werden: • Die Kritik und Weiterentwicklung von Goffmans Face‐Konzept, das im Paradigma von Brown/ Levinson eine bedeutsame Rolle spielt. Für ein umfassenderes Verständnis von face und facework, v. a. von medialen Kon‐ struktionen und multimodalen Selbstdarstellungen, plädiert insbesondere Held (2017). • Ein umfassenderes Facework‐Konzept kann mit dem von Locher/ Watts (2008, auch Locher 2017) vertretenen Konzept von Beziehungsarbeit, rela‐ tional work, in der Interpersonellen Pragmatik verbunden werden. Es ist bezeichnend, dass die Weiterentwicklung der Höflichkeitsforschung nach der universalpragmatisch‐kontrastiven Gründungsphase seit der Jahrtau‐ sendwende, angeregt durch Publikationen von Eelen (2001) und Watts (2003), eine diskursive Wende durchläuft. Viele Studien fokussieren den Beziehungsaspekt, betonen die soziale und situative Variabilität von Höf‐ lichkeit und betrachten diese als in sozialen Gruppen (ko)konstruiertes, emergentes Phänomen (vg. Ehrhardt/ Neuland 2021, Lochner 2017). • Gegenüber den wissenschaftlichen Modellbildungen rücken auch die first‐ order politeness, damit auch metasprachliche Daten in der Empirie, wieder stärker in den Blickpunkt. • In diesem Zusammenhang ist eine Revision der funktionalen Einschrän‐ kung des Politeness‐Konzepts als strategisches Mittel der Konfliktvermei‐ dung zu beobachten. Für den Einbezug eines breiteren Spektrums basaler Funktionen der sozialen Organisation und der Pflege sozialer Beziehungen 297 Sprachliche Höflichkeit <?page no="298"?> sprechen sich viele HöflichkeitsforscherInnen aus (u. a. Kotthoff 2003, Held 2017, Ehrhardt/ Neuland 2021). • Dementsprechend ist die verstärkte Hinwendung zur Unhöflichkeitsfor‐ schung in interaktiven Kontexten (Culpeper 1996, Bousfield/ Culpeper 2998, Bousfield/ Locher 2008) aufschlussreich. • Wenn auch das Verhältnis von Grammatik und Pragmatik noch genauer zu klären bleibt, wird doch ganz überwiegend die Ansicht geteilt, dass es keine ‚Höflichkeitssprache‘ gibt (Watts 2003, Lüger 2011). Vielmehr spielen prag‐ matische Faktoren von Kotext und Kontext, Erwartungen der Interaktanten im Hinblick auf die Beziehungsgestaltung u. a. eine wichtige Rolle. Das von Lüger (2002) eingebrachte Stilkonzept ist in diesem Zusammenhang weiter zu prüfen. • Insgesamt bleibt das Theorie‐Empirie‐Verhältnis in der linguistischen Höf‐ lichkeitsforschung noch sehr unausgewogen. Notwendig ist eine Verbrei‐ terung der empirischen Basis durch Forschungen zu natürlichen Kommu‐ nikationssituationen in verschiedenen Textsorten des mündlichen und schriftlichen sowie medienvermittelten Sprachgebrauchs (u. a. Lenk/ Suo‐ mela Härmä 2014) sowie zur Metapragmatik von Höflichkeitsdiskursen (Held 2017, Neuland/ Könning/ Wessels 2020). • Die stärkere Berücksichtigung intrakultureller Unterschiede und von Di‐ versität und Kulturspezifik bildet ein wichtiges Desiderat der linguistischen Höflichkeitsforschung. • Unzureichend gelöst scheinen häufig noch kulturkontrastive Studien im Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit, nachdem sich die Problematik der Sprechakttaxonomien (CCSAR‐Projekt von Blum‐Kulka u. a. 1989) heraus‐ gestellt hat. • Bleibt schließlich die Erweiterung der Anwendungsfelder der Höflichkeits‐ forschung: Nach der Berücksichtigung der Internetkommunikation und der Interkulturellen Kommunikation bilden der Fremdsprachenerwerb und der mutter‐ wie fremdsprachliche Unterricht noch unzureichend erforschte Anwendungsfelder. Dies soll an dieser Stelle vertieft und veranschaulicht werden. Dabei wird die These vertreten, dass die sprachliche Höflichkeit in Sprachdidaktik und Sprach‐ unterricht - im Unterschied zur lebhaften öffentlichen Diskussion und inten‐ siven sprachwissenschaftlichen Forschung - bedauerlicherweise keine Rolle spielt. Dazu sollen exemplarisch Beispiele aus didaktischer Fachliteratur, steu‐ ernden Rahmenvorgaben und Lehrwerken für den Deutsch‐als‐Fremdsprache‐ und den muttersprachlichen Unterricht analysiert werden. Zuvor aber sei ein Blick auf die Rolle von sprachlicher Höflichkeit in der Schule geworfen. 298 Eva Neuland <?page no="299"?> 3 Empirische Einblicke in den Umgang mit Höflichkeit in der Schule Die Annahme, dass Höflichkeit heute keinen besonderen Stellenwert mehr für die schulische Erziehung von Kindern und Jugendlichen hat, mag zunächst erstaunen. Höflichkeit, zumal die kodifizierte, ist schließlich ein im Sozialis‐ ationsprozess erlernbares Verhalten, und in der Familienerziehung wird im Allgemeinen viel Wert darauf gelegt, wie die Nachfrage nach ‚Benimmkursen‘ für Kinder (‚Knigge für Kids‘) und die Ratgeberliteratur zeigt. In der traditio‐ nellen Schulerziehung und auch Sprachlehre wurde der Höflichkeitserziehung noch eine besondere Bedeutung zugeschrieben, wie es sich in den ‚Kopfnoten‘ (‚Betragen‘) niederschlug. Die ersatzlose Streichung dieser Kopfnoten zeigt aber an, dass sie nicht mehr als geeigneter Indikator für Höflichkeit angesehen werden. Mit diesen Vorstellungen hat jedoch die antibürgerliche Höflichkeitskritik im 20. Jahrhundert gründlich aufgeräumt: Radikale Kritik erfuhren Höflichkeits‐ erziehung und formales Höflichkeitsverhalten durch die antiautoritären Bewe‐ gungen der 1960er und 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. Höflichkeitsnormen galten als aufoktroyierte Autorität; ein „Ende der Höflichkeit“ wurde propa‐ giert (Kerbs/ Müller 1970); bildungsbürgerliche Konventionen sollten in ihrer herrschaftsstabilisierenden und ‐verschleiernden Funktion entlarvt werden. Die Anreden: Herr Lehrer, Frau Lehrerin galten als ebenso verpönt wie manch andere Verhaltensweisen, die als Rituale einer überkommenen Unterwürfigkeit verstanden wurden, z. B. der Knicks bei Mädchen und der Diener bei Jungen. Inzwischen werden ältere SchülerInnen gesiezt, ein Aufstehen bei Schüleräuße‐ rungen ist nicht mehr erforderlich. Welche Bedeutung hat Höflichkeit für Jugendliche heute? Kennen Schü‐ lerInnen überhaupt noch Ausdrucksweisen sprachlicher Höflichkeit? Wie schätzen Lehrkräfte heute die Höflichkeit ihrer SchülerInnen ein? Dazu sei ein genauerer Blick in die aktuelle schulische Wirklichkeit geworfen, wie sie sich in den Daten unserer Studie zum Umgang mit Höflichkeit bei Jugendlichen (Neuland/ Könning/ Wessels 2020) zeigt. So ist es doch zunächst erstaunlich, dass SchülerInnen sprachliche Höflich‐ keit heute mit hoher Zustimmung (auf einer Skala von +3 bis ‐3) für wichtig und auch für gebildet erachten und nicht als unecht, spießig und überflüssig ansehen, wie es vielleicht in früheren Jugendgenerationen, v. a. der antiautoritären Zeit, der Fall gewesen sein mag (S. 46). 299 Sprachliche Höflichkeit <?page no="300"?> Kategorien Rang M SD wichtig 1 2,2 0,98 gebildet 2 1,48 1,43 unecht 3 -0,51 1,7 spießig 4 -0,99 1,71 überflüssig 5 -1,2 1,82 Tab. 1: Wie beurteilst du sprachliche Höflichkeit [N = 1085] Sodann ist hervorzuheben, dass sich SchülerInnen und Lehrkräfte in der Ein‐ schätzung der Bedeutsamkeit von Höflichkeit kaum unterscheiden: Höflichkeit wird in beiden Probandengruppen mit Respekt und gutem Benehmen gleich‐ gesetzt. Einer gewählten Ausdrucksweise wird sogar von den SchülerInnen hochsignifikant eine größere Rolle zugeschrieben als von den Lehrkräften. Die Kategorie Etikette steht an letzter Stelle der Auswahlantworten; der Begriff ist den SchülerInnen oft unbekannt (S. 44). Kategorie Schüler Lehrkräfte Sig. M SD M SD Respekt 2,62 0,71 2.4 1.55 .68 Gutes Benehmen 2.45 0.81 2.14 1.59 .016* Gewählte Ausdrucksweise 1.94 1.15 1.04 1.5 <.001** Etikette 1.61 1.29 -0.07 1.9 <.001** Tab. 2: Was bedeutet „Höflichkeit“ für dich/ Sie? - Vergleich Schüler [N = 1078] und Lehr‐ kräfte [N = 16] (M = Mittelwert auf einer Skala von ‐3 (Ablehnung) bis +3 (Zustimmung); SD = Standardabweichung (Maß für die durchschnittliche Streuung um den Mittelwert); Sig = Signifikanzniveau des Vergleichs der unabhängigen Stichproben (t‐Test), wobei die mit Sternchen gekennzeichneten Werte (*) signifikante bzw. hochsignifikante (**) Mittelwertunterschiede kennzeichnen). Neben den allgemeinen Fragen wurden die Jugendlichen aber auch nach konkreten Erscheinungsweisen (sprachlicher) Höflichkeit befragt. Die freien Angaben zeigen deutlich, dass die SchülerInnen genaue Vorstellungen von einer Vielzahl höflicher Verhaltensweisen haben. Nach der Häufigkeit der Nennungen 300 Eva Neuland <?page no="301"?> werden objekt‐ und metasprachlich angeführt: das Siezen, Danken, Fragen und Bitten, Begrüßen und Verabschieden, aber auch Konjunktivverwendung, Entschuldigen und nach dem Befinden Fragen. Die folgende Wordle‐Darstellung veranschaulicht Beispiele, die jeweils mehr als 15 Nennungen aufweisen (S. 50): Abb. 1: Gib bitte ein Beispiel für sprachliche Höflichkeit. - Beispielangaben ab 15 Nennungen (in Originalverschriftung) Vergleicht man damit die Erwartungen von Lehrkräften an höfliche Ausdrucks‐ weisen von SchülerInnen, so fällt doch eine überraschende Übereinstimmung ins Auge: Vorstellungen von Jugendlichen und Erwartungen von Lehrkräften decken sich weitgehend in dem, was gemeinhin unter konventioneller Höflich‐ keit verstanden wird (S. 54): 301 Sprachliche Höflichkeit <?page no="302"?> Abb.2: Welche sprachlichen Äußerungsformen von Höflichkeit erwarten Sie bei Schüle‐ rinnen und Schülern (ab 2 Nennungen) [N = 153] Aufschlussreich sind schließlich die Einschätzungen der Jugendlichen von Höflichkeit bei verschiedenen Personengruppen: Eltern (2.1), jedoch weniger Lehrkräfte (Mittelwert von +3 bis ‐3: 1.82), werden als besonders höflich emp‐ funden. Auch sich selbst weisen die Jugendlichen positive Höflichkeitswerte zu (1.69) - im Gegensatz zu MitschülerInnen, die die niedrigsten Werte erhalten (0.53). Lehrkräfte beurteilen die sprachliche Höflichkeit der Jugendlichen wie folgt (S. 58): Strategien Rang M SD in Bezug auf die Kommunikation mit Lehrkräften? 1 1,67 1,41 in Bezug auf die Kommunikation der Jugendlichen unterein‐ ander? 2 0,27 1,64 Tab. 3: Wie beurteilen Sie persönlich sprachliche Höflichkeit bei Jugendlichen … [N = 169] 302 Eva Neuland <?page no="303"?> Entgegen den landläufigen Meinungen werden SchülerInnen gegenüber Lehr‐ kräften außerhalb des Unterrichts nach der Wahrnehmung von Lehrkräften als höflicher als im Unterricht eingeschätzt (S. 59). Das mag daran liegen, dass im Unterricht die Mitschüler als Publikum wirken, vor dem man sich durch Unhöflichkeit produzieren kann. Dennoch sind Lehrkräfte zu 75 % der Ansicht, dass sich das Höflichkeitsver‐ halten der SchülerInnen gegenüber der Vergangenheit im Allgemeinen negativ entwickelt hat: Kategorie Rang Antworten % der Fälle abs. % Ton ist rauer geworden (z. B. Zunahme von Belei‐ digungen) 1 28 27,5 21,71 Schüler sind respekt‐ und distanzloser geworden 2 22 21,6 17,05 Sprachverhalten hat sich verändert (z. B. Unhöfli‐ ches wird nicht mehr als solches wahrgenommen) 22 21,6 17,05 Türen werden nicht aufgehalten 4 3 2,9 2,33 Lehrer werden seltener gegrüßt 3 2,9 2,33 Sonstiges 24 23,5 18,61 Gesamt 102 100 79,09 Tab. 4: Hat sich Ihrer Ansicht nach das Höflichkeitsverhalten der SuS in der Vergangen‐ heit geändert? Wenn ja, in welcher Hinsicht [N = 129] (S. 128) Zur Veranschaulichung sind einige Beispieläußerungen angeführt (S. 127): Es wird schnell beleidigt, geschlagen, Beleidigungen gehen häufig unter die Gürtel‐ linie. Türen werden nicht aufgehalten, SuS missachten gezielt die Regeln, man wird als Lehrer schnell beschimpft (Lehrerin, Gesamtschule, 0-5 Dienstjahre) Die Höflichkeit gegenüber Lehrkräften hat ein wenig nachgelassen, die Höflichkeit der SuS untereinander stärker (Lehrer, Gesamtschule, 0-5 Dienstjahre). Damit erhalten wir einen unerwarteten Widerspruch zwischen der Einschät‐ zung der Bedeutung von Höflichkeit bei SchülerInnen und Lehrkräften und der Beurteilung des tatsächlichen Höflichkeitsverhaltens der Jugendlichen als mangelhaft seitens der Lehrkräfte, zumal solchen, die noch nicht über langjäh‐ rige Berufspraxis verfügen, während die Jugendlichen selbst sich durchaus als höflich betrachten. Dies bezieht sich wohlgemeint auf die Ebene der first‐order 303 Sprachliche Höflichkeit <?page no="304"?> politeness. Theoretisch ist nun genauer anzunehmen, dass im Hinblick auf die second‐order politeness zwei unterschiedliche Konzepte von Höflichkeit bei Jugendlichen und bei Lehrkräften vorliegen. Dies bestätigt unsere Studie im Weiteren, worauf hier nur hingewiesen werden kann: Das Verständnis der Lehrkräfte ist stark an die konventionellen Vorstellungen von Höflichkeit gebunden, das von Jugendlichen ist besonders durch eine Adressatendifferen‐ zierung geprägt und umfasst auch Formen von mock politeness, einer Form von Scherzkommunikation vor allem in der jugendlichen Peergruppe. In jedem Fall zeigen die Daten, wie wichtig das Thema Höflichkeit für die Aktantengruppen in der Schule ist. Es läge nahe, dies auch im Unterricht zu thematisieren. 4 Höflichkeit in Rahmenvorgaben und Lehrwerken für den Deutschunterricht Eine Recherche in aktuellen Richtlinien und Lehrplänen am Beispiel von NRW kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass der Ausdruck Höflichkeit nicht vorkommt. Das gilt für den allgemeinen Präambeltext wie für konkrete Ziele und Aufgaben des Faches Deutsch, und zwar für alle Schulformen und Schulstufen. Neuerdings gibt es aber eine Ausnahme: Im neuen Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium NRW (für G 9 ab 2019/ 20) taucht der Ausdruck Höflichkeit im Abschnitt: Kompetenzerwartungen und inhaltliche Schwerpunkte bis zum Ende der Erprobungsstufe im Inhaltsfeld 3, Kommunikation, auf: Kommunikationskonventionen: Gesprächsregeln, Höflichkeit (S. 20). Man fragt sich allerdings, was die Verfasser mit einer solchen ‚En‐passant‐Er‐ wähnung‘, ohne weitere Konkretionen und Kontexte unter Kompetenzerwar‐ tungen subsumiert, erreichen wollten. Auch in den Kompetenzbeschreibungen der Bildungsstandards (2020: 205) am Ende des mittleren (2003) und des höheren Schulabschlusses (2012) findet Höflichkeit keine Erwähnung. Die Vermittlung der Kompetenzen in den In‐ haltsfeldern Sprache und Kommunikation liegt auf der Ausbildung der Analy‐ sekompetenz, auf der Einübung der Schriftsprache und dem Kennenlernen wissenschaftlicher Ansätze auf der gymnasialen Oberstufe. Es ist von umfas‐ sender Handlungskompetenz, speziell kommunikativer Kompetenz die Rede - als gehöre ein höflicher, respektvoller Umgang nicht dazu. Selbst bei der aktuell häufig berufenen interkulturellen Kompetenz oder der „Gestaltung und Reflexion der Vielgestaltigkeit von Kultur und Lebenswirklichkeit“, wie es in den Aufgaben und Zielen des Faches in NRW heißt (KLP GY 2013: 9), bleibt die Chance ungenutzt, auf die kulturelle Diversität von Höflichkeit zu verweisen und sie im Unterricht im Kontext von Mehrsprachigkeit zu thematisieren. 304 Eva Neuland <?page no="305"?> 4.1 Muttersprachlicher Deutschunterricht im Bereich der Allgemeinbildung Betrachten wir zunächst einige aktuelle und weit verbreitete Lehrwerke für den muttersprachlichen Deutschunterricht. Eine entsprechende Recherche unter den Stichwörtern Höflichkeit und Respekt ist leider wenig ergiebig und kommt zu dem Schluss, dass Höflichkeit nur in ihrer konventionellen Form und allenfalls für die Mittelstufe ein Thema ist. In fast allen neueren Lehrwerken wird sie im Rahmen der Gesprächserziehung mit den Gesprächsregeln eingeführt (u. a. Deutschbuch von Cornelsen, deutsch kompakt von Klett, P.A.U.L D. von Schrödel). In der Logik der Progression wird die Gesprächserziehung dann so fortge‐ führt, dass in den Klassen 6 und 7 differenziert wird, vor allem „adressatenge‐ recht [zu] sprechen“ (Deutschbuch 7), oder dass auch unterschiedliche Hand‐ lungsformen und Textsorten behandelt werden, wie „argumentieren“, „einen Standpunkt vertreten“, „eine Diskussion leiten“ (P.A.U.L D). Im 8. Jahrgang finden sich dann vereinzelt etwas umfangreichere Einheiten (Wortstark 8 von Schrödel, Deutschbuch 8). Im letztgenannten Lehrwerk finden wir auf den zwei Seiten der Lerneinheit Sprachliche Höflichkeit das Beispiel eines Beschwerde‐ briefes an eine Klassenlehrerin wegen zu vieler Hausaufgaben (2012: 237): Abb. 3: Beispiel von Beschwerdebriefen aus: Wortstark 8 (2012: 237) Ein nicht nur in diesem Beispiel auftretendes Problem ist die Konstruktion von jugendsprachlichen Texten, die in den seltensten Fällen einem Originalton nahekommt. Derartig unglaubwürdige Übertreibungen unterschätzen jedoch 305 Sprachliche Höflichkeit <?page no="306"?> die Differenzierungsfähigkeit von Jugendlichen, die - unseren Erhebungen nach - sehr wohl konventionelle Höflichkeit und ihren Anwendungsbereich kennen, und verlieren damit ihren Lernwert. Ein aufschlussreiches Beispiel für die Vermeidung des Ausdrucks Höflichkeit findet sich schließlich im Deutschbuch 8 (2006) in einem Kapitel: Anstand und Würde - Vom Umgang mit Wertbegriffen. Dabei werden zwar die Ausdrücke Rücksicht und Verantwortungsbewusstsein aufgeführt, Höflichkeit und Respekt jedoch vermieden (S. 89ff.). 4.2 Sprachunterricht im Bereich der Berufsbildung Ein besonderer Blick sei mit der beruflichen Bildung auf eine Schulform im dualen Ausbildungssystem geworfen, die ein Fach Deutsch eigentlich nicht kennt und stattdessen ein Fach Kommunikation/ Sprache eingeführt hat. Durch die Nähe zu Ausbildungsbetrieben gekennzeichnet, soll der Unterricht auch weniger allgemeinbildend als berufsvorbereitend wirken. In diesem Kontext wird höfliche Kommunikation besonders wichtig genommen; diese Überschrift taucht in fast allen Lehrwerken auf (u. a. deutsch kompetent von Klett). Ziele und Aufgabenformate sind recht unterschiedlich: So soll in deutsch kompe‐ tent ein „Höflichkeitsbarometer“ den Höflichkeitsgrad von Aussagen (von +5: verbindlich, sehr höflich, nett über 0: distanziert, höflich bis -5: distanzlos, unhöflich, formal messen (2005: 87 f.). Damit wird zwar einer Graduierung von Höflichkeit Rechnung getragen, doch bleiben die Situations- und Adressaten‐ kontextuierungen unberücksichtigt. Grundsätzlich wirken die Analogien mit Distanzverhalten verwirrend, und die Gleichsetzung von Höflichkeit mit der Vermeidung von Grobheiten ist schlicht reduktionistisch. Wenn dazu aufgefordert wird: Entscheiden Sie anhand des Höflichkeitsbarometers, wie das jeweilige Verhalten in den folgenden Situationen einzuschätzen ist. A Der 18jährige Sascha zu einem 35jährigen Kollegen, der ihn einarbeitet: „Ist es ok, wenn ich du zu dir sage? “, wird bei den SchülerInnen der falsche Eindruck erweckt, Höflichkeit kontext‐ unabhängig klassifizieren zu können. Höflichkeit wird als Merkmal der „Ausbildungsreife“ eingeführt (so z. B. in Deutsch Kombi plus für die 9 Klasse, 2013): In einer Lerneinheit Höflichkeit macht Schule zu Beginn des Bandes soll das im Anschluss an vier Fotos mit problematischen Sprechsituationen von der Lerngruppe selbst diskutiert werden: 306 Eva Neuland <?page no="307"?> Gute Umgangsformen und Höflichkeit werden als wichtige Merkmale der Ausbil‐ dungsreife angesehen. Tauscht euch darüber aus, wie das zu erklären ist. (S. 6) In einer der folgenden Aufgaben soll am Beispiel von ‚Critical Incidents‘ über vorgeschlagene Äußerungen diskutiert werden: […] 3. An der Kasse im Supermarkt ist jemand dabei, sich vorzudrängeln. Was sagst Du zu ihm? a. Hallo, Sie haben’s wohl besonders eilig? b. He, Alter, ich glaub’s nicht! Schnell ab nach hinten, sonst …! c. Entschuldigen Sie, das Ende der Schlange ist hier. (S. 8) Mit gleichem Aufgabenformat sollen die zwischenzeitlich eingeführten sprach‐ lichen Mittel Modalverben und Konjunktiv eingeübt werden: 1. Ein Mitschüler hat aus Versehen die Tür offen gelassen. Was sagst du zu ihm? a. Schon mal gemerkt, dass es hier zieht? b. Ob Du vielleicht die Güte hättest und die Tür schließen würdest? c. Würdest Du bitte die Tür schließen? (S. 14) Und schließlich werden in einer Aufgabe freie Formulierungen gesucht: Du sitzt im Ruhebereich eines Zuges. Ein Jugendlicher telefoniert sehr lange und sehr laut. Es geht um berufliche Dinge. Du willst lesen und fühlst Dich gestört. Was sagst du zu dem ‚Dauertelefonierer‘? (S. 15) 4.3 Deutsch‐als‐Fremdsprache‐Unterricht Betrachten wir zunächst auch hier die Leitlinien in Rahmenvorgaben: Profile Deutsch/ Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen (GER). Der GER/ Profile Deutsch greift die interkulturelle Kommunikation als Schlüsselbegriff auf (vgl. dazu Neuland 2010). In einem Abschnitt zu kulturspezifischen Aspekten im Re‐ ferenzrahmen wird die Bedeutung der kulturellen Adäquatheit von Äußerungs‐ formen, insbesondere sog. ‚Alltagsroutinen‘ wie Begrüßen und Verabschieden, Bedanken, Hilfe Anbieten hervorgehoben. Dabei werden Skalierungen der so‐ ziolinguistischen Angemessenheit vorgenommen, in denen auch die Höflichkeit berücksichtigt wird, Z. B.: • A1: Kann sehr kurze Kontaktgespräche bewältigen, indem er/ sie häufig ge‐ bräuchliche Höflichkeitsformeln der Begrüßung und Anrede benutzt, bitte und danke sagt, 307 Sprachliche Höflichkeit <?page no="308"?> • B1: Ist sich der wichtigsten Höflichkeitskonventionen bewusst und handelt entsprechend, • B2: Kann sich in formellem und informellem Stil überzeugend, klar und höflich ausdrücken, wie es für die jeweilige Situation und die betreffenden Personen angemessen ist. Profile Deutsch (2005) konzentriert sich - wie der Referenzrahmen - auf die Be‐ schreibung von effektiven kommunikativen Aktivitäten. In den Kernbeschrei‐ bungen der relevanten Rubriken Interaktion mündlich bzw. Interaktion schriftlich ist allerdings von Höflichkeit keine Rede mehr, bis auf die denkwürdige Aus‐ nahme: • A2: Interaktion mündlich: Kann in verschiedenen alltäglichen Situationen einfache Formen des Grüßens, Anredens, von Bitten, Entschuldigungen, und des Dankens anwenden. Darunter: Kann im Restaurant die Bedienung höflich rufen und um einen Aschenbecher bitten. Dieses Beispiel ist wirklich „von gestern“! Dennoch wird dem Thema Höflichkeit im DaF‐Unterricht weit mehr Auf‐ merksamkeit zuteil als im muttersprachlichen Deutschunterricht, wobei der Aspekt des Spracherwerbs und die Gefahr, sich unangemessen zu äußern und Stereotypen zu folgen, eine Rolle spielen dürften. Der Schwerpunkt liegt wie‐ derum im Bereich der Mündlichkeit, und zwar speziell der Gesprächskompetenz, wie schon die frühe Publikation von Erndl (1998) zeigt. Wenden wir uns nun einer DaF‐Lehrwerkanalyse zu, so findet sich das Thema sprachliche Höflichkeit oft auch unter Stichwörtern wie Etikette, Sprachkonven‐ tionen, Menschliches - allzu Menschliches oder auch Benimm dich. Die meisten Lehrwerkeinheiten orientieren sich an der frühen kontrastiven Pragmatik und an Kultur‐Kontrast‐Modellen nach dem Prinzip: „Hier bei uns sagt man y - in der Zielkultur sagt man x“. In einigen Lehrwerken wird ein Repertoire von Routineformeln als Redemittel angeboten, darunter Anrede‐, Begrüßungs‐ und Verabschiedungsformeln, die den LernerInnen eine erste Orientierung ermöglichen. Die darüberhinausgehende didaktische Vermittlung von Höflich‐ keitsstilen als Bestandteil der Alltagskommunikation in einer Fremdsprache ist damit allerdings noch nicht erreicht. Dazu bedarf es auch konkreter Situations‐ kontexte und spezifischer AdressatInnen sowie einer Auswahl verschiedener stilistischer Mittel in der Zielsprache, die den LernerInnen erst einen Ermes‐ sensspielraum und eine Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen (vgl. dazu Ehrhardt/ Neuland 2009: 20 ff.). Dies sei an einem Beispiel aus einem Lehrwerk veranschaulicht: In Stufen 3 (1989) wird in vorgeblich eindeutiger tabellarischer Kontrastierung angeführt, 308 Eva Neuland <?page no="309"?> wie man „hier“ und „bei uns“ sagt - ohne Bezug zum jeweiligen Interaktionskon‐ text, zur Kommunikationssituation und zur Partnerorientierung im konkreten Fall. Abb. 4: Stufen 3 (1989: 121) In einer Analyse von DaF‐Lehrwerken hat Neuland (2010) nach Entwicklungs‐ tendenzen in der Behandlung von sprachlicher Höflichkeit gefragt. Dabei ging es um die folgenden Lehrwerke aus verschiedenen Generationen: • Lehrwerke der ersten Generation (1980-1990): - Sprachbrücke - Stufen • Lehrwerke der zweiten Generation (1990-2000): - Sichtwechsel neu 3 - Themen neu 3 • Lehrwerke der dritten Generation (2000-2010): - studio d - optimal - Berliner Platz 309 Sprachliche Höflichkeit <?page no="310"?> Zusammenfassend können folgende Tendenzen als Ergebnisse der stichproben‐ haften Analyse festgehalten werden: Lehrwerke der ersten Generation (1980-1990) enthalten eine ertragreiche Ausbeute eigenständiger Unterrichtseinheiten, für die hier das Beispiel Höf‐ lichkeit und Etikette im Lehrwerk Stufen (1989: 112 ff.) im Umfang von ca. zehn Druckseiten angeführt werden soll. Zehn Aufgaben sind den Aspekten Wortschatz, Wortbildung und Redemittel gewidmet, eine umfangreiche Aufgabe dem Informationsaustausch und drei Aufgaben der Grammatik mit dem Schwer‐ punkt Konjunktiv II. Für die Einübung von Redemitteln werden u. a. Multiple‐Choice‐Aufgaben präsentiert, deren Auswahlantworten nicht gerade wirklichkeitsnah sind: Abb. 5: Stufen 3 (1989: 116) Wie auch schon das in Abschnitt 2.2 aus diesem Lehrwerk angeführte Beispiel zum Informationsaustausch zeigte, liegt vielen Aufgaben eine Orientierung an der damals vorherrschenden kontrastiven Grammatik und mithin an einem bipolaren Kultur‐Kontrast‐ Modell zugrunde, das in tabellarischer Auflistung zwischen „hier“ und „bei uns“ unterscheidet. Auch im Lehrwerk Sprachbrücke 1 (1987) findet sich ein eigenständiges Kapitel Menschliches - Allzumenschliches, in dem sich einige Aufgaben zur Höflichkeit finden, Z. B.: Höflich - aber unverständlich (A1), Höflich oder unhöflich? (A3), Höflich sein = lügen? (B1). Es geht weiterhin um Wahrheiten - nicht ausgesprochen (B3), auch beim Schimpfen (B5), womit auf das ethische Problem von Höflichkeit und Wahrhaftigkeit angespielt wird. 310 Eva Neuland <?page no="311"?> Abb. 6: Sprachbrücke 1 (1987: 196) In der folgenden Generation, für die hier die beiden Lehrwerke Themen neu 3 (1992) sowie Sichtwechsel neu 3 (1996) stehen, sucht man vergeblich nach eigenständigen Lehreinheiten. Themen neu 3 bietet zwar ein Kapitel „Sprach‐ liche Konventionen“, in dem u. a. Anredeformen behandelt sowie Rollenspiele mit Hilfe von Redemitteln durchgeführt werden sollen. Daneben geht es aber auch um „Männer‐ und Frauensprache“ und um „Sprache der Gefühle“, so dass sich der Eindruck eines Gemischtwarenladens einstellt. In einer Aufgabe sollen vorgegebene Äußerungen im Hinblick auf Höflichkeitsgrade eingesetzt werden, allerdings ohne Berücksichtigung von Adressaten und Situationstypen, Z. B.: • Dürfte ich bitte mal das Salz haben? • Das Salz! • Ich brauche mal das Salz. (71) Im Lehrwerk Sichtwechsel neu 3 stoßen wir in einem Unterkapitel auf das Stichwort höflich mit der Aufgabenstellung, in vorgegebenen Situationen er‐ wartungsgemäße und zugleich höfliche Antworten zu formulieren (87), ohne dass weitere Begründungen und Reflexionen angeregt werden. Wie geht nun die Entwicklung nach der Jahrhundertwende weiter? Dazu lässt sich überblicksartig festhalten, dass die Tendenz zur Integration des Themas weiter zuzunehmen scheint. Im Lehrwerk Berliner Platz 3 (2004) finden wir in einem Kapitel über Jung und Alt das Unterkapitel Im Alltag. Darin gibt 311 Sprachliche Höflichkeit <?page no="312"?> es eine Aufgabe: „Fragen besonders höflich formulieren“, die mit Hilfe einer vorgegebenen Liste mit Redemitteln gelöst werden soll. In einem Abschnitt über Essgewohnheiten finden sich Beispiele für das Komplimentieren (z. B. „Mensch, ich habe gar nicht gewusst, dass du so gut kochen kannst? “) immerhin in dialogischer Einbettung („Ach, weißt du, ich koche einfach gern“), die von den LernerInnen zu rekonstruieren ist (30). Ähnliche disparate Beispiele finden wir in den Lehrwerken Aspekte (2007) und Optimal (2004/ 05). Betrachten wir nun zum Abschluss das Lehrwerk studio d (2007) mit Beispielen aus einem Kapitel „Peinlich‐Peinlich“, das aufschlussreich für die künftige interkulturelle Entwicklung von Lehrwerken erscheint. Nach einer Einleitung über Pleiten, Pech und Pannen (Abschnitt 1) wird gefragt Was sagt der ‚Knigge‘? (Abschnitt 2). Leider beschränken sich die Ausführungen auf allge‐ meines Verhalten, und die darauf bezogene sprachliche Übung (Nebensätze mit obwohl) ist nicht sonderlich eng mit dem Inhalt verbunden. Im nächsten Schritt geht es um „Knigge international“ (Abschnitt 3), wobei u. a. Smalltalk‐Regeln für Andere Länder, andere Sitten? nach dem Arm‐Zonen‐Modell des Biologen Desmond Morris angeführt werden, z. B. sei alles Private in Ellenbogenländern ein treffendes Smalltalk‐Thema, während in Fingerspitzen‐Staaten Gespräche über das Privatleben teilweise tabu seien (2007: 125). Insgesamt ergibt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen den mutter‐ und den fremdsprachlichen Lehrwerken im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Lernziel sprachliche Höflichkeit zugeschrieben wird. Zwar tritt bei den DaF‐Lehrwerken der Aspekt des Spracherwerbs hinzu, doch erscheint Höflich‐ keit insgesamt zumeist als selbstverständlicher Teil der kommunikativen und der interkulturellen Kompetenz. Zudem wird immer wieder auf den Einbezug der Eigenerfahrung in der Ausgangskultur verwiesen. Generell bleibt aber der Schwerpunkt auf der konventionellen Höflichkeit beschränkt. 5 Reflektierte Höflichkeit als Leerstelle Greifen wir am Ende auf das Stufenmodell der Höflichkeit zurück, wie es von Haferland und Paul in ihrer Theorie der Höflichkeit unterschieden wird (1996): Sie differenzieren zwischen einer elementaren, einer kodifizierten und einer reflektierten Höflichkeit, die in modernen komplexen Gesellschaften auch gleichzeitig nebeneinander existieren können. Die Stufe der kodifizierten Höflichkeit fällt weitgehend mit dem zusammen, was gemeinhin mit dem Begriff der Etikette bezeichnet wird und in sozial strati‐ fizierten Gesellschaften für die Aufrechterhaltung der sozialen Struktur wichtig ist. Erst die reflektierte Höflichkeit gilt einem Partner als Individuum und nicht 312 Eva Neuland <?page no="313"?> als sozialem Status; es geht um mehr als um die Befolgung standardisierter Handlungsabläufe. Sie geht merklich über das hinaus, was erwartet werden kann, und ist deshalb freiwillig und bedarf einer bestimmten Initiative. Sie wird nicht ex negativo erkennbar, sondern fällt positiv auf. Wo sie nicht vorliegt, wird kein Mangel erkennbar. In diesem Sinne enthält sie einen Surplus, der nicht von Verhaltenskodizes gefordert und stattdessen vom Partner auf sich selbst bezogen und als Beziehungsindex verbucht wird. (1996: 31). Reflektierte Höflichkeit umfasst bewusste Entscheidungen auf der Grundlage sprachlich‐kommunikativen Wissens und ist daher Teil der kommunikativen und der interkulturellen Kompetenz. Ein solches Verständnis kann didak‐ tisch‐methodisch umgesetzt werden, indem Aufgaben auf die Varianz und Komplexität sprachlicher Höflichkeit und auf die Differenzierung von Höflich‐ keitsstilen aufmerksam machen. Fragen wir uns am Ende, warum eine so erhebliche Diskrepanz zwischen der Relevanz, die dem höflichen Umgang miteinander in der Praxis des allgemeinbil‐ denden Deutschunterrichts zugewiesen wird und der Nicht‐Berücksichtigung oder gar Vermeidung in den Rahmenvorgaben und Lehrwerken für den Unter‐ richt im allgemeinbildenden Schulwesen zu konstatieren ist. Es ergeben sich folgende offene Fragen und Hypothesen für künftige Forschungen: • Könnte diesem Befund vielleicht eine kulturkritische Einschätzung nahe‐ liegen: Ist Höflichkeit etwa nicht mehr zeitgemäß genug, eine veraltete Tugend, die vermeintlich nicht mehr in ein modernes Weltbild passt? • Wenn sich die Schule dafür nicht verantwortlich erklärt, woher sollen Kinder und Jugendliche auch im allgemeinbildenden Schulwesen dann das lernen, was Lehrkräfte und später Arbeitgeber von ihnen erwarten? Die Studie von Protsch und Solga (2015) belegt nachdrücklich, wie bedeutsam z. B. angemessene Grußformen in der Personaleinstellung gegenüber den fachlichen Leistungen sind. • Setzt sich hier vielleicht aus der Sicht der Schule ein pädagogischer Zweck‐ optimismus durch, dass Höflichkeit und Respekt sich von selbst entwickeln oder durch das Elternhaus vermittelt würden? • Auch könnte noch ein fehlender bzw. nicht erkannter Fachbezug eine Rolle spielen: Wird Höflichkeit vielleicht nur als eine allgemeine Tugend angesehen, die in den ehemaligen ‚Kopfnoten‘ Ausdruck fände, nicht aber in einem Fach, noch zudem mit wissenschaftspropädeutischem Anspruch zu berücksichtigen wäre? 313 Sprachliche Höflichkeit <?page no="314"?> • Oder liegt am Ende ein Missverständnis vor, indem Höflichkeit als alltags‐ sprachlicher Begriff mit der Etikette der Ratgeberliteratur verwechselt wird und der Unterricht nicht mit ‚Benimmkursen‘ gleichgesetzt werden soll? Literatur Blum‐Kulka, Shoshana/ Juliane House/ Gabriele Kasper (Hrsg.) (1989). Cross‐cultural pragmatics: Requests and apologies. Norwood. Bonacchi, Silvia (2013). (Un)Höflichkeit. Eine kulturologische Analyse Deutsch-Italie‐ nisch-Polnisch. Frankfurt/ M.: Bousfield, David/ Culpeper, Jonathan (2008). Impoliteness: Eclecticism and diaspora. An introduction to the special edition. Journal of Politeness Research 4 (2), 161-168. Bousfield, David/ Locher, Miriam (Hrsg.) (2008). Impoliteness in language. Studies on its interplay with power in theory and practice. Berlin, New York. Brown, Penelope/ Stephen C. Levinson (1987). Politeness: some universals in language usage. Cambridge. Culpeper, Jonathan (2011). Impoliteness. Using Language to Cause Offence. Cambridge. Eelen, Gino (2001). A critique of politeness theories. Manchester. Ehrhardt, Claus/ Neuland, Eva (2021). Sprachliche Höflichkeit. Tübingen. Ehrhardt, Claus/ Neuland, Eva (Hrsg.) (2017). Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktu‐ elle und künftige Perspektiven. Tübingen. Ehrhardt, Claus/ Neuland, Eva (Hrsg.) (2009). Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF‐Unterricht. Frankfurt/ M. Ehrhardt, Claus/ Neuland, Eva/ Yamashita, Hitoshi (Hrsg.) (2011). Sprachliche Höflichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz. Frankfurt/ M. Erndl, Rudolf (1998). Höflichkeit im Deutschen. Konzeption zur Integration einer zen‐ tralen Gesprächskompetenz im Deutsch als Fremdsprache‐Unterricht. Regensburg. Gärtner, Stefan/ Roth, Jürgen (2013). Benehmt Euch! Ein Pamphlet. Köln. Haferland, Harald/ Paul, Ingwer (1996). Höflichkeit. Osnabrücker Beiträge zur Sprach‐ theorie (OBST) 52. Hanisch, Horst (2014). Der Jugend‐Knigge 2100: Knigge für junge Leute und Berufsein‐ steiger - Vom ersten Eindruck bis zu modernen Umgangsformen. 3. Aufl. Norderstedt. Held, Gudrun (1995). Verbale Höflichkeit. 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Gudula Mebus, Andreas Pauldrach, Marlene Rall/ Dietmar Rösler. Stuttgart. Studio B1 (2007). Studio d B1. Bearb v. Hermann Funk, Christina Kuhn, Silke Demme u. a. Berlin: Cornelsen Stufen (1989). Stufen. Kolleg Deutsch als Fremdsprache. Bearb. v. Anne/ Klaus Vorder‐ wülbecke. München Wortstark 8 (2012). hrsg.v. August Busse/ Ingrid Hintz. Hannover 316 Eva Neuland <?page no="317"?> Die Brückenbauerin Christa Dürscheid und die Medien Urs Bühler (Neue Zürcher Zeitung) Wir Medienschaffende fördern den Wissenstransfer, und gleichzeitig emp‐ fangen wir ihn. Also sind wir angewiesen auf Erkenntnisse, die den akademi‐ schen Zirkel verlassen, so dass wir sie unserer Leserschaft vermitteln können. Der Typus von Forscherinnen und Forschern, der sich im Elfenbeinturm einmauert, ist uns insofern ein Graus - und fast schon berufsschädigend. Umso dankbarer sind wir für ausgewiesene Fachleute wie Christa Dürscheid als lebendigen Gegenentwurf: Sie trug substanzielle Ergebnisse ihrer Arbeit immer wieder aus eigenem Antrieb an die Öffentlichkeit, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Sie fand damit ein breites Medienecho, von der Pendlerzeitung bis zur NZZ. Dass Christa Dürscheid vor dem Hintergrund des Wissenstransfers ein Glücksfall für Journalistinnen und Journalisten ist, durfte ich in meiner Lauf‐ bahn auf der NZZ-Redaktion wiederholt erfahren. Wer sich hierzulande gerne vertieft mit der deutschen Alltagssprache auseinandersetzt, wollte und konnte an ihr kaum vorbeikommen. Das erste Mal hatten wir vor 16 Jahren miteinander zu tun, gleich zweimal im selben Jahr: Zunächst ging es um einen Schreibwett‐ bewerb, in dessen Jury sie wirkte, unter anderen mit dem Literaturprofessor Peter von Matt. Als ich just diese beiden 15 Jahre später als Moderator eines NZZ-live-Anlasses im Kulturhaus Kosmos begrüssen durfte, schloss sich ein Kreis. Darauf kommen wir später noch zurück. Beim zweiten „Fall“, der uns 2005 zusammenführte, ging es um einen um‐ strittenen Entscheid des Zürcher Bildungsrats. Er wollte die Rolle des Standard‐ deutschen im Unterricht zulasten des Dialekts stärken, und das ging ihr damals zu wenig weit: Dürscheid äusserte sich in einer Einschätzung dahingehend, dass die Standardsprache sogar in allen Lehrer-Schüler-Situationen einzusetzen wäre, auch nach Schulschluss oder im Pausenhof, um die Kluft zwischen Unterrichts- und Privatsprache zu verringern. Mit so einer Meinung holt man <?page no="318"?> sich hierzulande kaum speziell viel Applaus. Doch sie hatte schon damals keine Furcht vor polarisierenden Äusserungen, die sie mit ihrer gewinnenden Art einzubringen wusste. Seither haben sich unsere Berufswege immer wieder gekreuzt, was sich meinerseits in rund einem Dutzend Artikeln niederschlug - und 2009 in meiner Moderation der Diskussionsrunde „Wahl der Wörter, Wahl der Waffen? “. Diese begleitete ein von Dürscheid organisiertes Symposium, und ich erinnere mich an eine sehr lebhafte Debatte, an der unter anderen die streitbare Historikerin Regula Stämpfli teilnahm. Es ging um den Einsatz der Sprache in der Politik - ganz konkret: Der direkte Bezug zum Alltag ist bekanntlich ein Schwerpunkt ihrer Arbeit. Dass ihre besondere Aufmerksamkeit bei der Sprachanwendung junger Menschen liegt, bildet eine weitere Schnittstelle mit meinen Interessen‐ sgebieten. Einmal zitierte ich sie im Titel eines längeren Interviews zu Jugendsprache mit der Aussage: „Es zeichnet sich kein Sprachverfall ab.“ Zwar bin ich mir selbst nicht ganz so sicher, ob die Jugend heutzutage tatsächlich so souverän mit sämtlichen Sprachregistern umzugehen weiss, wie die Professorin es ihr zu attestieren pflegt. Aber sie griff ihre Feststellung natürlich nicht aus der Luft, sondern unterfütterte sie mit empirischen Daten. So untersuchte sie mit ihrem Team beispielsweise rund 1500 Texte aus Schule und Freizeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kanton Zürich. Mit grossem Interesse verfolgte ich auch ihre mit innovativen Ansätzen bewerkstelligten Studien zu informellen Formen wie SMS und E-Mail. Damit leistete sie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Mechanismen heutiger Sprachentwicklung. Schon früh erkannte sie beispielsweise, dass Emoticons mehr als nur Spielerei sind. Und sie ist nie verlegen um erquickliche Beispiele dafür, wie kreativ Jugendliche mit Sprache umzugehen wissen. Mit ebenso viel Überzeugungskraft wendet sie sich gegen die verbreitete Meinung, die sogenannte heutige Jugend sei schreibfaul. Hier und dort war ich ihr mit journalistischen Mitteln gerne behilflich, Da‐ tenmaterial für solche Studien zu sammeln. So wollten die Universitäten Zürich und Neuenburg 2009 für eine internationale Studie 30000 SMS auf sprachliche Eigenarten hin untersuchen, namentlich auf genretypische Kurzformen, und baten die Bevölkerung um Originalnachrichten aus den Mobiltelefonspeichern. In einem kleinen NZZ-Beitrag unter dem Titel „Gn8-Kuss im Dienst der Forschung“ leitete ich diesen „Spendenaufruf “ an unsere Leserschaft weiter. Ebenso prägend und verdienstvoll ist Christa Dürscheids Einsatz für die Akzeptanz regionaler Besonderheiten im deutschen Sprachraum, wobei sie die Ausarbeitung einer Variantengrammatik als Leiterin eines trinationalen 318 Urs Bühler <?page no="319"?> Forschungsteams vorantrieb. „Es gibt nicht nur das Deutsch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, liess sie sich in den Medien zitieren - auch wenn das in Deutschland viele dächten (und auch hierzulande, wie man anfügen kann). Gerne verwies sie auf ein Schlüsselerlebnis aus der Zeit, als sie vor Jahrzehnten in die Schweiz gekommen war und ihre Kinder einen Elternbrief aus der Schule mitgebracht hatten mit dem Satz: „Bereits liegt in den Alpen Schnee“. Sie wunderte sich, denn in Deutschland hiesse das: „In den Alpen liegt bereits Schnee“. Diese persönliche Erfahrung hat ihr Forschungsinteresse in diesem Bereich geweckt, dem sie dann mit umso mehr Verve folgte. Dass Christa Dürscheid nicht müde wird, das allgemeine Sprachbewusstsein in unserer Alpenrepublik zu loben (und deutlich über jenes in Deutschland zu heben), ist Balsam für die zu Selbstzweifeln neigende Schweizer Seele. Und die Faszination der Professorin für die Eigenheiten der hiesigen Standardsprache war auch im eingangs erwähnten NZZ-Publikumsanlass im Kulturhaus Kosmos spürbar, den ich dem Thema „Helvetismen“ widmete. Es war der 27. Februar 2020 - der Tag, bevor der Bund seine einschneidenden Corona-Massnahmen verkündete. Sie hatte sich ziemlich spontan bereit erklärt, mir als Gesprächspart‐ nerin auf der Bühne zur Verfügung zu stehen. Der Saal war voll, die Stimmung ausgezeichnet - und Christa Dürscheids Auftritt so erfrischend, kompetent und gleichzeitig geerdet, wie ich sie in den 15 Jahren zuvor kennen und schätzen gelernt hatte. 319 Die Brückenbauerin <?page no="321"?> Herausgeber: innen und Beiträger: innen Herausgeber: innen Sarah Brommer ist seit 2021 Professorin für Angewandte Linguistik mit Schwerpunkt Textproduktionsforschung an der Universität Bremen. Nach dem Studium (Deutsche Sprachwissenschaft, Neuere deutsche Literaturwissen‐ schaft, Neuere und neuste Geschichte) in Freiburg arbeitete sie von 2007 bis 2020 an der Universität Zürich, u. a. im Forschungsprojekt „Schreibkompetenz und neue Medien“ von Christa Dürscheid und als Assistentin an deren Lehrstuhl. Sie promovierte 2017 zu sprachlichen Mustern in wissenschaftlichen Texten. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Schreibforschung, Schreibdidaktik, Sprachnor‐ menforschung, Medienlinguistik sowie Wissenschaftslinguistik. Kersten Sven Roth ist seit 2019 Professor für Germanistische Linguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er hat Germanistik, Politikwissen‐ schaft und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg studiert und wurde dort 2003 im Fach Deutsche Philologie/ Sprachwissenschaft promoviert. Er war von 2007 bis 2014 Assistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich am Lehrstuhl von Christa Dürscheid und wurde dort 2013 in Germanistischer Linguistik habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Polito-, Diskurs- und Medienlinguistik sowie Sprachkritik und Rhetorik. Jürgen Spitzmüller ist seit 2015 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien, Institut für Sprachwissenschaft. Er hat Germanistik und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg studiert und wurde dort 2004 im Fach Deutsche Philologie/ Sprachwissenschaft promoviert. Er war 2004 bis 2015 Assistent und Oberassistent am Deutschen Seminar der Univer‐ sität Zürich (u. a. am Lehrstuhl von Christa Dürscheid) und wurde dort 2013 in Germanistischer Linguistik habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind kritische Soziolinguistik, Diskurstheorie, Sprachreflexivität, Sprachideologien, soziale Positionierung und multimodale Kommunikation. <?page no="322"?> Beiträger: innen Gerd Antos war von 1993 bis 2015 Professor für Germanistische Sprachwis‐ senschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er war von 1998 bis 2002 Präsident der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL). Seine aktuellen Arbeitsgebiete sind Laien-Experten-Kommunikation, Wissenskom‐ munikation, Verständlichkeitsforschung, Rhetorik und sprachliche (Selbst-)Ma‐ nipulation. Noah Bubenhofer ist seit 2019 Professor für Deutsche Sprachwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Nach der Promotion war er an der Universität Heidelberg, am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, an der TU Dresden und der ZHAW Winterthur tätig, bevor er sich an der Universität Zürich habilitierte. Seine Forschungsgebiete liegen in den Bereichen Semantik und Pragmatik in Kultur und Gesellschaft, so treibt er etwa Methoden einer sozial- und kulturwissenschaftlich interessierten Korpuslinguistik voran und untersucht damit Diskurse und sprachliche Praktiken. Urs Bühler arbeitete nach seinem Studium der Kunstgeschichte zunächst als Deutschlehrer, bevor er parallel zu seiner Unterrichtstätigkeit in den Journa‐ lismus einstieg. Inzwischen wirkt seit zwanzig Jahren im Haus NZZ: Er war lange Lokal-, dann Filmredaktor im Feuilleton, seit 2022 ist er für die NZZ am Sonntag tätig. Er hat in diversen Gefässen über tausend Kolumnen und Glossen geschrieben, viele davon über kulinarische oder sprachliche Fragen. Stephan Elspaß ist seit 2012 Universitätsprofessor für Germanistische Lingu‐ istik an der Universität Salzburg. Er wurde an der Universität Bonn promoviert und war zwischenzeitlich an verschiedenen Universitäten in England tätig. Es folgte die Habilitation an der Universität Münster, bevor er 2004 den Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Augsburg übernahm. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Grammatik des Deutschen, der Sozio- und Variationslinguistik, der Phraseologie sowie der neueren Sprachge‐ schichte des Deutschen. Heiko Hausendorf hat seit 2007 den Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissen‐ schaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich inne. Nach der Promotion und Habilitation an der Universität Bielefeld folgten Vertretungs-, Gast- und ordentliche Professuren an den Universitäten Dortmund, Wien und Bayreuth. Seine Forschungsschwerpunkte sind gesprochene und geschriebene Sprache. In aktuellen Projekten beschäftigt er sich mit den Themen Interaktion und Architektur. 322 Herausgeber: innen und Beiträger: innen <?page no="323"?> Martin Neef ist seit 2006 Universitätsprofessor für Germanistische Linguistik an der TU Braunschweig. Davor war er an der Universität zu Köln tätig, wo er auch promovierte und sich habilitierte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Theorien des Sprachsystems (Phonologie, Morphologie, Syntax) und des Schriftsystems. Er ist Autor von rund 50 Aufsätzen, etwa ebenso vielen kürzeren Texten und Mitherausgeber von zwölf Sammelbänden. Von 2008-2015 war er General Editor der Zeitschrift Written Language and Literacy. Eva Neuland war vor ihrer Emeritierung als Universitätsprofessorin für Germanistik/ Didaktik an der Bergischen Universität Wuppertal tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziolinguistik, Sprachdidaktik, Jugendsprach- und Höflichkeitsforschung, Gesprächs- und Textlinguistik sowie interkulturelle Kommunikation. Ulrich Schmitz war von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2013 Professor für Germanistik/ Linguistik und Sprachdidaktik an der Universität Duisburg-Essen (ehem. Universität Essen). Er war zwanzig Jahre Mitglied des Beirats der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen insbesondere in der Soziolinguistik und Medienlinguistik. Jan Georg Schneider ist seit 2010 Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Er studierte Philosophie und Germanistik, promovierte 2001 und habilitierte sich 2007. Lehrtätigkeiten führten ihn an die Universitäten in Aachen, Münster, Namur, Leiden, Maastricht und Paris. Im September 2021 wurde er für drei Jahre zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Semiotik gewählt. Guido Seiler ist seit 2019 Professor für Germanische Philologie an der Uni‐ versität Zürich. Nach der Promotion in Zürich folgten Forschungs- und Lehr‐ aufenthalte an den Universitäten Stanford, Konstanz und Manchester. Nach seiner Habilitation hatte er Professuren in Freiburg (Breisgau) und München inne. Seine Arbeitsschwerpunkte sind historische Linguistik, Dialektologie und Sprachkontakt, die er mit typologischen und grammatiktheoretischen Perspek‐ tiven verbindet. Elisabeth Stark hat seit 2008 einen Lehrstuhl für Romanische Sprachwissen‐ schaft an der Universität Zürich (UZH) inne, nachdem sie zuvor Ordentliche Professorin für Romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin war. Sie hat an der LMU München promoviert und sich ebenda habilitiert. Ihre Forschungsinteressen liegen in der vergleichenden Morphosyntax der romanischen Sprachen sowie in der Mikrovariation des Französischen (v. a. 323 Herausgeber: innen und Beiträger: innen <?page no="324"?> registerspezifische Variation). Derzeit ist sie Prorektorin Forschung an der Universität Zürich. Livia Sutter hat Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Politik‐ wissenschaft in Zürich und Heidelberg studiert und arbeitet als Wissenschaft‐ liche Mitarbeiterin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW). Ihre Dissertation schreibt sie im Bereich Kulturlinguistik, Textsorten‐ geschichte und Stilistik an der Universität Zürich. Crispin Thurlow ist seit 2014 Professor für Language and Communication am Institut für Englische Sprachen und Literaturen der Universität Bern. Zuvor hatte er eine Professur an der University of Washington inne. Er ist Mitglied im Editorial Board mehrerer soziolinguistischer Fachzeitschriften wie Discourse, Context & Media, Language@Internet, Language in Society, Critical Discourse Studies und Visual Communication. Er beschäftigt sich mit Fragen der Soziolinguistik, Diskurslinguistik, Linguistischen Anthropologie und Kul‐ turwissenschaften. Manabu Watanabe ist seit 2018 Professor am Deutschen Seminar der Meiji Universität in Tokio/ Japan. Er studierte Germanistik an der Universität Tokyo und war von 1996-1997 Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; es folgten Professuren an verschiedenen Universitäten Japans. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ge‐ schichte der deutschen Sprachwissenschaft, Phraseologieforschung, Soziolin‐ guistik und linguistische Stilistik. Katharina A. Zweig ist seit 2012 Professorin für Informatik an der TU Kaisers‐ lautern. Zuvor war sie an der Universität Tübingen, der ELTE University in Budapest/ Ungarn sowie an der Universität Heidelberg tätig. An der TU Kaisers‐ lautern leitet sie das Algorithm Accountability Lab und gestaltete federführend den damals deutschlandweit einmaligen Studiengang Sozioinformatik, der die Auswirkung der Digitalisierung auf Individuum, Organisation und Gesellschaft untersucht. In ihren aktuellen Projekten arbeitet sie in interdisziplinären Teams an verschiedenen Fragen rund um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Data Science. 324 Herausgeber: innen und Beiträger: innen <?page no="325"?> TÜBINGER BEITRÄGE ZUR LINGUISTIK (TBL) Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ linguistik-kat/ linguistikreihen-kat? ___store=narr_starter_de 553 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachvergleich und Übersetzung Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen | XXIX. Romanistisches Kolloquium 2017, 436 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6982-0 554 Tanja Anstatt, Anja Gattnar, Christina Clasmeier (Hrsg.) Slavic Languages in Psycholinguistics Chances and Challenges for Empirical and Experimental Research 2016, 315 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6969-1 555 Gaios Tsutsunashvili Adjektivischer Bedeutungswandel: Deutsch - Georgisch Eine gebrauchstheoretische Untersuchung mit strukturalistischen Ansätzen 2015, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6994-3 556 Barbara Lux Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen Eine kontrastive Untersuchung phonologischer und grammatischer Aspekte 2016, 377 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6999-8 557 Benjamin Stoltenburg Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache 2016, 363 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8056-6 558 Lingyan Qian Sprachenlernen im Tandem Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem 2016, 366 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8057-3 559 Tingxiao Lei Definitheit im Deutschen und im Chinesischen 2017, 228 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8092-4 560 Fabienne Scheer Deutsch in Luxemburg Positionen, Funktionen und Bewertungen der deutschen Sprache 2017, 416 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8097-9 561 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin- Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX 2017, 427 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8104-4 <?page no="326"?> 562 Martina Zimmermann Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz 2017, 304 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8144-0 563 Philip Hausenblas Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen 2018, 256 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8155-6 564 Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Akten der Tagung Französische Sprachgeschichte an der Ludwig-Maximilians- Universität München (13. - 16. Oktober 2016) 2018, 558 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8118-1 565 Vincent Balnat L’appellativisation du prénom Étude contrastive allemand-français 2018, 298 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8185-3 566 Silvia Natale Informationsorganisation und makrostrukturelle Planung in Erzählungen Italienisch und Französisch im Vergleich unter Berücksichtigung bilingualer SprecherInnen 2018, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8209-6 567 Ilona Schulze Bilder - Schilder - Sprache Empirische Studien zur Text-Bild-Semiotik im öffentlichen Raum 2019, 227 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-8298-0 568 Julia Moira Radtke Sich einen Namen machen Onymische Formen im Szenegraffiti 2020, 407 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8330-7 571 Melanie Kunkel Kundenbeschwerden im Web 2.0 Eine korpusbasierte Untersuchung zur Pragmatik von Beschwerden im Deutschen und Italienischen 2020, 304 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8364-2 573 Mario Franco Barros Neue Medien und Text: Privatbrief und private E-Mail im Vergleich 2020, ca. 750 Seiten €[D] 119,90 ISBN 978-3-8233-8377-2 574 Sofiana Lindemann Special Indefinites in Sentence and Discourse 2020, 250 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8381-9 575 Junjie Meng Aufgaben in Übersetzungslehrbüchern Eine qualitative und quantitative Untersuchung ausgewählter deutschchinesischer Übersetzungslehrbücher 2020, 206 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-8382-6 <?page no="327"?> 576 Anne-Laure Daux-Combaudon, Anne Larrory- Wunder Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / aspects syntaxiques, sémantiques et textuels 2020, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8386-4 577 Bettina Eiber Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache Ein französisch-italienischer Vergleich 2020, 473 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8407-6 578 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8418-2 579 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 274 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8420-5 580 Claudia Schweitzer Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. 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Die Beiträge leuchten die Schnittstellen zwischen den institutionell verfestigten Disziplinen aus und diskutieren, wo sinnvolle Grenzüberschreitungen und Brückenschläge nötig sind, um starre „Denkstile“ (Ludwik Fleck) aufzubrechen, disziplinäre Gewissheiten zu hinterfragen und mögliche neue Gegenstandsbestimmungen vorzunehmen. ISBN 978-3-8233-8518-9