Deutsche und italienische Verwaltungssprache im digitalen Zeitalter
Textlinguistische Untersuchungen zu kommunikativen Praktiken der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz
1128
2022
978-3-8233-9522-5
978-3-8233-8522-6
Gunter Narr Verlag
Alessandra Alghisi
10.24053/9783823395225
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Bürgernähe, Verständlichkeit, Transparenz und Digitalisierung sind Prinzipien, nach denen öffentliche Verwaltungen heute ihre Tätigkeiten auszurichten versuchen. Der Band untersucht Dokumente von Schweizer Behörden auf Deutsch und Italienisch. Er fokussiert die kommunikativen Aufgaben der Verwaltungen im komplexen Umfeld von Rechtsetzung und Politik und arbeitet den allgemein als unbefriedigend bezeichneten Forschungsstand auf. Thematisch liegt der Schwerpunkt auf der Einbürgerung in der Schweiz, einem Vorgang, der verschiedene Verwaltungsebenen berührt. Der Band ermittelt relevante Texte und Textsorten in ihren Relationen und Vernetzungen. Er leistet einen wichtigen Beitrag zu intra- und interlingualen Vergleichen von Texten, die das öffentliche Leben und den Alltag von Bürgerinnen und Bürgern mitbestimmen, deren systematische Erforschung bisher jedoch nur in geringem Maße erfolgt ist.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8522-6 Europäische Studien zur Textlinguistik 22 Europäische Studien zur Textlinguistik Bürgernähe, Verständlichkeit, Transparenz und Digitalisierung sind Prinzipien, nach denen öffentliche Verwaltungen heute ihre Tätigkeiten auszurichten versuchen. Der Band untersucht Dokumente von Schweizer Behörden auf Deutsch und Italienisch. Er fokussiert die kommunikativen Aufgaben der Verwaltungen im komplexen Umfeld von Rechtsetzung und Politik und arbeitet den allgemein als unbefriedigend bezeichneten Forschungsstand auf. Thematisch liegt der Schwerpunkt auf der Einbürgerung in der Schweiz, einem Vorgang, der verschiedene Verwaltungsebenen berührt. Der Band ermittelt relevante Texte und Textsorten in ihren Relationen und Vernetzungen. Er leistet einen wichtigen Beitrag zu intra- und interlingualen Vergleichen von Texten, die das öffentliche Leben und den Alltag von Bürgerinnen und Bürgern mitbestimmen, deren systematische Erforschung bisher jedoch nur in geringem Maße erfolgt ist. Deutsche und italienische Verwaltungssprache Alessandra Alghisi Deutsche und italienische Verwaltungssprache im digitalen Zeitalter Textlinguistische Untersuchungen zu kommunikativen Praktiken der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz Alessandra Alghisi <?page no="1"?> Deutsche und italienische Verwaltungssprache im digitalen Zeitalter <?page no="2"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Steffen Pappert (Duisburg-Essen) Nina-Maria Klug (Vechta) Georg Weidacher (Graz) Band 22 <?page no="3"?> Alessandra Alghisi Deutsche und italienische Verwaltungssprache im digitalen Zeitalter Textlinguistische Untersuchungen zu kommunikativen Praktiken der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz <?page no="4"?> Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Alessandra Alghisi Département de langue et de littérature allemandes Faculté des lettres / UNI-Bastions 5 rue De-Candolle CH-1211 Genève 4 https: / / orcid.org/ 0000-0001-7429-7052 DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783823395225 © 2022 · Alessandra Alghisi Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-8522-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9522-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0359-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 I 15 1 17 1.1 17 1.2 23 1.2.1 25 1.2.2 73 1.2.3 84 2 87 2.1 87 2.2 95 3 105 3.1 105 3.2 114 3.3 126 3.3.1 126 3.3.2 132 3.4 136 3.4.1 136 3.4.2 146 3.5 167 3.5.1 167 3.5.2 173 3.5.3 180 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze zur Erforschung der Verwaltungssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung in die Verwaltungssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Verwaltung als gesellschaftliche Institution . . . . . Der Begriff Verwaltungssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwaltungssprache als Sprachvarietät . . . . . . . . . . . . . Verwaltungssprache als Menge sprachlicher Mittel . . . Verwaltungssprache als konkreter Sprachgebrauch in Ämtern und Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textlinguistische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textsorten der Verwaltung, des Rechtswesens und der Politik in der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik . . . . . . . . . . Bürgernähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expertenkultur, Transparenz und Bürgernähe . . . . . . . . . . . . . Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Erforschung der Verständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . Verständlichkeit der Rechts- und Verwaltungssprache Sprachpolitische Wege zur bürgernahen Rechts- und Verwaltungssprache in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textoptimierung im Internet-Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textoptimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E-Government . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 189 1 191 1.1 191 1.2 196 1.2.1 196 1.2.2 198 1.2.3 208 1.3 212 2 227 2.1 227 2.2 228 2.3 233 2.3.1 233 2.3.2 235 2.3.3 236 2.3.4 236 2.4 242 2.4.1 242 2.4.2 252 2.5 267 2.6 281 3 285 3.1 285 3.2 293 3.3 298 3.4 300 3.4.1 300 3.4.2 301 3.4.3 303 3.4.4 303 II Empirische Studien: Die Einbürgerung in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches zur Korpuszusammenstellung . . . . . . . . . . . . . . Das konkrete Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Varietäten Schweizer Hochdeutsch und italiano elvetico . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subkorpora der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Dimensionen der Textbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) . . . . . . . Struktur des Subkorpus 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt der Korpustexte und deren Hauptfunktion . . . . . . . . . . Situativer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezipient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medialität: Materialität und Zeichenart . . . . . . . . . . . . . Geltungsdauer, Herstellungsaufwand, Publikationsort Analyse der textinternen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung makrostruktureller Merkmale der Korpustexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung mikrostruktureller Merkmale einiger Korpustexte, die Textfamilien bilden . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich mit den italienischen Versionen . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur des Subkorpus 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textsorten und Subthemen im Subkorpus 2 . . . . . . . . . . . . . . . Hauptfunktion der Korpustexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situativer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezipient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medialität: Materialität und Zeichenart . . . . . . . . . . . . . Geltungsdauer, Herstellungsaufwand, Publikationsort 6 Inhalt <?page no="7"?> 3.5 309 3.5.1 309 3.6 333 3.7 345 3.8 352 4 355 4.1 355 4.2 358 4.2.1 358 4.2.2 364 4.3 376 4.3.1 376 4.3.2 392 4.4 395 4.5 413 5 417 5.1 417 5.2 418 5.3 426 5.3.1 426 5.3.2 431 5.4 449 5.5 461 6 465 6.1 465 6.2 469 473 Analyse der textinternen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung der makro- und mikrostrukturellen Merkmale ausgewählter Korpustexte . . . . . . . . . . . . . . . Textfamilien und Textfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich mit den italienischen Versionen . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Kanton Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanton Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadt Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der textinternen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanton Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadt Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textfamilien und Textfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale von 1994 (Kanton Tessin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Kanton Tessin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur des Subkorpus 4, Textfunktionen und situative Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der textinternen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normativ-performative Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informative Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Studien im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte, Textsorten und Textvernetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Intra- und interlinguale Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 479 481 493 535 539 543 545 Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Korpustexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Dank Das vorliegende Buch stellt eine geringfügig überarbeitete Version meiner Doktorarbeit dar, die ich im Frühjahrssemester 2021 an der Faculté des lettres der Université de Genève verteidigt habe. Die Arbeit ist in einem multikultu‐ rellen, mehrsprachigen Kontext entstanden. Zu ihrer Realisierung haben viele Personen und Institutionen beigetragen. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meine Dankbarkeit ausdrücken. Zuerst bedanke ich mich beim Schweizer National Fonds SNF für die groß‐ zügige finanzielle Unterstützung, die mir ermöglicht hat, an der Université de Genève zu studieren und meine Promotionsschrift zu publizieren. Was die Publikation angeht, danke ich PD Dr. Steffen Pappert, PD Dr. Nina-Maria Klug und Dr. Georg Weidacher für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe Europäische Studien zur Textlinguistik, Tillmann Bub und Mareike Wagner für die Betreuung von Seiten des Narr-Verlags. Ich danke ferner dem Genfer Département de langue et de littérature alle‐ mandes und der Conférence des Universités de Suisse occidentale CUSO, die meine Teilnahme an den Veranstaltungen des Programme doctoral en langue et littérature allemandes gefördert haben. Meinen besonderen Dank möchte ich an Prof. Kirsten Adamzik aussprechen, die meine Arbeit gründlich betreut und sorgfältig durchgesehen hat. Sie hat mir wertvolle theoretische und methodologische Ausrichtungen zum Aufbau meiner Dissertation gegeben und mir beigebracht, immer Phänomene von verschiedenen Perspektiven her zu betrachten sowie auf verschiedenen Abs‐ traktionsebenen zu denken. Mes remerciements vont également au prof. Laurent Gajo pour sa disponibi‐ lité en tant que co-directeur de thèse. Überaus dankbar bin ich ferner den folgenden Professoren, die ständig meinen akademischen Werdegang unterstützt und Interesse an meiner Arbeit gezeigt haben: Prof. Dorothee Heller und Prof. Gabriella Carobbio der Università degli Studi di Bergamo; Prof. Alessandra Lombardi der Università Cattolica del Sacro Cuore in Brescia; Prof. Jan Engberg der Aarhus Universitet. Mein herzlicher Dank geht auch an: • Prof. Iwar Werlen, Prof. Daniel Elmiger, Dr. Eva Schaeffer-Lacroix, Dr. Verena Tunger und Étienne Ailloud, mit denen ich am Forschungsprojekt des SNF (Projekt N° 143585) in Bern und Genf zusammengearbeitet habe; • alle Kolleginnen und Kollegen des deutschen Departements in Genf; insbe‐ sondere danke ich Nelly und Mateusz, mit denen ich das Interesse an der deutschen Sprachwissenschaft und das Büro 110 geteilt habe; <?page no="10"?> • alle Kolleginnen und Kollegen der germanistischen Institute in Brescia und Bergamo; sehr herzlich danke ich insbesondere Carla, Claudia, Hans, Petra und Valerio, mit denen ich sehr angenehme Momente verbracht habe; • Verena Ehrich, die mir in den ersten Monaten meines Genfer Aufenthalts viel geholfen hat. Un remerciement particulier va aux amis qui m’ont accompagnée tout au long de mon aventure genevoise et qui m’ont constamment témoigné leur affection : Christina, Jeanne et Igor, Karin. Merci de tout cœur ! Infine, ringrazio di cuore tutte le persone che da sempre mi vogliono bene e mi sono vicine: i miei genitori, Camilla e Giovanni; le mie sorelle, Elisa e Stefania; i miei suoceri, Rita e Antonio; i miei cognati, Cristian, Davide, Sarah e Dario; il mio nipotino Jacopo; i miei amici, Caterina, Cesare, Jacopo, Sonja e Valentina; e, last but not least, Damiano, che crede sempre in me. 10 Dank <?page no="11"?> 1 Projekt N° 143585 des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaft‐ lichen Forschung SNF. Vgl. https: / / www.unige.ch/ lettres/ alman/ fr/ recherche/ sprachpo litik/ ; 11.09.2020. Einleitung Gegenstand dieser Dissertation ist die deutsche und italienische Verwaltungs‐ sprache im digitalen Zeitalter. Im Mittelpunkt stehen die kommunikativen Praktiken der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz. Mit dem Ausdruck kommunikative Praktiken sind hier in Anlehnung an Stein (2011: 10) allgemein „mündlichkeits- und schriftlichkeitsgeprägte kommunikative Handlungen“ ge‐ meint, die in öffentlichen Institutionen ausgeführt werden. Die Arbeit wurde im Rahmen des inzwischen abgeschlossenen Forschungs‐ projekts „Sprachpolitik und Sprachgebrauch in der mehrsprachigen Schweiz: Personenbezeichnungen in der Behördensprache“ konzipiert und verfasst, das 2013-2016 an der Université de Genève durchgeführt wurde. 1 Im Genfer Projekt ging es darum, zu untersuchen, wie sich das Thema der geschlechtergerechten Sprache in der mehrsprachigen Schweizer Behördensprache im Verlauf der Zeit entwickelt und welche Auswirkungen es gezeitigt hat, namentlich auf Textsowie auf Diskursebene (Elmiger/ Tunger/ Scha‐ effer-Lacroix 2017: 5). Dabei lag der Schwerpunkt auf der Umsetzung sprachpolitischer Empfehlungen in der Schweizer Verwaltungssprache. Die Verwaltungssprache entspricht einem Begriff, der im Allgemeinen vor allem in der Öffentlichkeit negative Assoziationen hervorruft. Darauf hat die lin‐ guistische Forschung einen eher beschränkten Blickwinkel. In den letzten 30-40 Jahren wurden nur wenige prototypische Erscheinungsformen der Sprache der Verwaltung (Formulare einerseits, direkt an Bürger gerichtete Schreiben bzw. Bescheide andererseits) in den Blick genommen. Im Vordergrund standen Fragen der (Schwer-)Verständlichkeit und Ansätze der Textoptimierung, die an Textprodukten und Phänomenen der sprachlichen Oberfläche interessiert waren. Auf die Tatsache, dass es an umfassenden empirischen Studien mangelt - besonders an Studien, die das Text(sorten)repertoire der öffentlichen Verwal‐ tungen fokussieren -, wurde Anfang des 21. Jahrhunderts und auch im letzten Jahrzehnt wiederholt hingewiesen (vgl. etwa Becker-Mrotzek/ Scherner 2000; Fluck 2008; Müller 2017). 2008 merkt Fluck z. B. an: <?page no="12"?> Eigentlich wissen wir über die Verwaltungssprache immer noch zu wenig, da umfas‐ sendere Untersuchungen bisher fehl[en] (Fluck 2008: 117). Sechs Jahre später findet sich dieselbe Einschätzung bei Heinrich: Leider gibt es außer vielen Beispielssammlungen und aus Erfahrung heraus zusam‐ mengestellten Merkmalslisten für typische Besonderheiten der Verwaltungssprache kaum empirisches Material (Heinrich 2014: 49 f.). Dass wir es hier also mit einem Forschungsdesiderat zu tun haben, wurde im Laufe der Jahre mehrmals nicht nur mit Bezug auf den deutschsprachigen Raum, sondern auch mit Blick auf den italienischsprachigen betont. In Hinblick auf den Kulturraum Italiens schreibt Viale 2008: Non mi risulta che sia ancora stata tracciata, se non una tipologia (termine ‚im‐ pegnativo‘, se si tiene conto del dibattito sulla ‚texthtsorten‘ [sic] all’interno della linguistica testuale), almeno una tassonomia, un banale elenco delle forme testuali che i dipendenti pubblici utilizzano nel proprio lavoro (Viale 2008: 97). Die Notwendigkeit, diese Forschungslücke zu füllen, nicht zuletzt weil ein solches Unterfangen zur Überwindung der nun überall thematisierten Verständlichkeits‐ probleme bzw. Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Behörden und Bürgern beitragen könnte, wird heute immer noch zur Sprache gebracht. Löffler (2016: 109) hebt dabei z. B. hervor, dass die „Funktionalität der Verwaltungssprache […] betont werden“ müsse und dass zur „Förderung der Verständigung […] die Bürger über die elementaren Merkmale und Funktionsweisen dieses Stiles besser informiert sein“ müssten (dazu vgl. auch Efing 2020: 293). Dies sei gegenüber den gängigen sprachkritisch-sprachpflegerischen Untersuchungen auszubauen. Meine Dissertation gehört in den Rahmen der hier beschriebenen Lage bzw. setzt daran an. Ziel ist es, die kommunikativen Aufgaben zu beschreiben, an denen die Schweizer öffentliche Verwaltung beteiligt ist; die Texte und Text‐ sorten zu fokussieren, mit denen die Verwaltung gewöhnlich umgeht. Die Arbeit zielt also darauf ab, einerseits einen Überblick über die Texte zu bieten, mit denen es die Behörden gewöhnlich zu tun haben; andererseits das Augenmerk darauf zu richten, wie verschiedene behördliche Instanzen zusammenarbeiten. Theo‐ retisches Instrumentarium und Analyseraster bietet in diesem Zusammenhang die Textlinguistik an. Deren Entwicklungen der letzten Jahr(zehnt)e wird in dieser Dissertation Rechnung getragen. Dabei geht es in erster Linie um eine Abkehr von den klassifikatorischen Ansätzen, die die Frühzeit der Textlinguistik bestimmt - und auch die Forschung zur Verwaltungssprache charakterisiert (vgl. etwa das oben erwähnte Zitat von Viale) - haben; solche Ansätze haben allgemein theoretisch fundierte möglichst saubere Typologien angestrebt. In 12 Einleitung <?page no="13"?> den Fokus rückt nun eine Perspektive, die den Akzent auf Intertextualität und Textrelationen legt bzw. sie als Ausgangspunkt für Untersuchungen nimmt. Im Vordergrund stehen nun „Ensembles von Textsorten“, „die auch für soziale Praxen relevant sind“ (Adamzik 2016c: 332; vgl. auch Adamzik 2018b: 277). Diese Perspektive prägt die Auswertungen der vorliegenden Arbeit. Letztere rekonstruiert einerseits die im öffentlichen Leben gängigen Textvernetzungen. Damit verflochten ist andererseits auch die (text)linguistische Analyse der einzelnen Texte, aus denen sich die mehrdimensionalen Textnetze zusammen‐ setzen. Dabei liegt der Fokus darauf, wie dieselben Inhalte in thematisch ähnlichen Texten erscheinen bzw. versprachlicht werden. Damit gekoppelt ist der Versuch, ermittelte textuelle / sprachliche Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede zu erklären, bzw. zu begründen, wovon (besonders von welchen textexternen Faktoren, etwa Produzent, Rezipient, Medium, Funktion) abhängt, was benutzt wird. Berücksichtigt werden Texte in den schweizerischen Amtssprachen Deutsch und Italienisch. Ausgangspunkt für die Zusammenstellung des Korpus, das für die Erfüllung des Forschungszweckes nötig ist, stellen die Webseiten der Schweizer Behörden dar. Diese sind der zentrale Ort, wo die Verwaltungskom‐ munikation im digitalen Zeitalter verläuft. Die Arbeit gliedert sich in zwei Haupteile, einen theoretischen (Teil I) und einen empirischen (Teil II). Im theoretischen Teil, der aus drei Kapiteln besteht, werden die für diese Untersuchung relevanten theoretischen Studien präsentiert und erörtert. Das Kapitel 1 (Teil I) gibt Überlegungen zum Begriff Verwaltungssprache wieder und einen Überblick über Ansätze der Fachsprachen‐ forschung und der Varietätenlinguistik. Das Kapitel 2 (Teil I) befasst sich mit textsortenlinguistischen Fragen und berichtet über die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik. Im Kapitel 3 (Teil I) steht der Begriff der Bürgernähe im Mittelpunkt. Dort werden Theorien der Verständlichkeitsforschung und der Textoptimierung behandelt sowie Informationen zum politischen System der Schweiz und zum Funktionieren der Verwaltung in verwaltungswissenschaft‐ licher Perspektive, zur Schweizer Sprachpolitik und zu den Digitalisierungsbe‐ mühungen des Landes im Rahmen des E-Government gegeben. Im empirischen Teil (Teil II), der sich aus 6 Kapiteln zusammensetzt, werden die Ergebnisse der empirischen Analysen besprochen. Das Kapitel 1 (Teil II) beschäftigt sich mit methodischen Fragen. Die Kapitel 2-5 (Teil II) präsentieren die eigentlichen lin‐ guistischen Analysen. Das Kapitel 6 fasst die Ergebnisse der Studien zusammen. Die vorliegende Untersuchung ist im Rahmen der Textlinguistik und der Fachsprachenforschung anzusiedeln. Da sie zwei verschiedene Sprachen - Deutsch und Italienisch - betrachtet und miteinander vergleicht, versteht sie sich auch als Beitrag zur Sprachkomparatistik und kontrastiven Textologie. 13 Einleitung <?page no="15"?> I Ansätze zur Erforschung der Verwaltungssprache <?page no="17"?> 2 Die Gegenüberstellung öffentlich vs. privat entspricht heute in kapitalistischen Gesell‐ schaften einer Vereinfachung. Es ist nämlich immer schwieriger geworden, „den Staat gegenüber dem privaten Bereich trennscharf abzugrenzen“ (Ladner 2013: 13). 1 Einführung in die Verwaltungssprache Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Verwaltungssprache ruft eine Reihe von theoretischen Überlegungen hervor, denen ich mich hier um‐ fassend widmen möchte. Ziel dieses Kapitels ist es, in einen vielschichtigen Gegenstand einzuführen und einen Überblick über verschiedene Aspekte zu geben, die dann an anderen Stellen vertieft werden. In diesem Sinne geht es hier darum, einen ersten Eindruck über den Themenkomplex dieser Arbeit zu vermitteln. Ausgegangen wird zunächst vom Determinans des im Vordergrund stehenden und mit dem Grundwort Sprache gebildeten Kompositums: dem Begriff Verwaltung. 1.1 Öffentliche Verwaltung als gesellschaftliche Institution Ist alltagssprachlich von Verwaltung die Rede, denkt man in erster Linie an die verschiedenen Behörden eines Staates, die mit administrierenden Aufgaben betraut sind. Hier spricht man normalerweise von öffentlicher Verwaltung, wobei das Attribut öffentlich dem Konzept einer privaten etwa einer betriebli‐ chen oder Unternehmensverwaltung entgegensteht (vgl. „Verwaltung“ in Duden 2010). 2 Verwaltungen sind nämlich auch im nicht-öffentlichen Bereich, z. B. im Produktions- und Dienstleistungssektor, vorhanden. Im wissenschaftlichen bzw. soziologischen Kontext versteht man allgemein unter Verwaltung die überwachende, disponierende Tätigkeit im Umgang mit Gütern, Tätigkeiten und Leistungen, die nach vorgefaßten Regeln geplant [ist] und stetig abläuft (Fuchs- Heinritz et al. 1978: 838). Der Begriff verweist sowohl auf eine Handlungsform, „die im Rahmen vorge‐ gebener Entscheidungen bestimmte Lebensgebiete ordnet und gestaltet“ als auch auf die „diese Tätigkeit ausübenden Einrichtungen“ (vgl. „Verwaltung“ in Duden 2010). In dieser Arbeit liegt das Augenmerk allein auf der staatlichen Verwaltung, die sich dadurch auszeichnet, dass dort „die Verwaltungsprinzipien am deutlichsten ausgeprägt sind“ (Becker-Mrotzek/ Scherner 2000: 632). <?page no="18"?> 3 Für einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff (öffentliche) Verwaltung vgl. Sechi (2003: 15 ff.). Siehe auch Rehbein (1998: 661). In der (verwaltungs)wissenschaftlichen Literatur findet sich keine einheit‐ liche Definition von dem, was mit öffentlicher Verwaltung gemeint ist. 3 Was aber allen Ansätzen gemeinsam ist und nahe liegt, ist, dass „es sich [dabei] vorwiegend um die vollziehende Gewalt des Staates handelt“ (Ladner 2013: 13; Hervorhebungen A.A.). Diese etwas abstrakte Bestimmung weist darauf hin, dass es in jedem demokratischen Rechtsstaat bestimmte Organe gibt, denen zusteht, in der Praxis zu verwirklichen, was in der das gesellschaftliche Zusammenleben regulierenden Rechtsordnung festgelegt wird. Wir haben es dabei zu tun mit dem Bereich der Umsetzung von Entscheidungen, die auf die Lösung von gesellschaftlichen Problemlagen gerichtet sind, im Rahmen von durch Persuasion gekennzeichneten politischen Debatten getroffen werden und sich tatsächlich in der Verabschiedung von Regeln bzw. Rechtsnormen niederschlagen. Bei der Verwaltung geht es großenteils um die „konkretisie‐ rende Anwendung von Gesetzestexten; andererseits werden neue Gesetzestexte u. a. von Ministerialbeamten für die Parlamente als Gesetzgeber vorbereitet“ (Polenz III; 1999: 489). In dieser Hinsicht ist die Verwaltungstätigkeit stark an das Recht gebunden; sie entspricht in der Tat einem „vielfältig[en] Handeln“ (Lienhard 2013: 239), das sowohl die Politikvorbereitung als auch den Gesetzes‐ vollzug und die Rechtsanwendung sowie die sekundäre Rechtsetzung und die verwaltungsinterne Rechtsprechung umfasst (vgl. ebd.). Einbezogen werden ins Verwaltungshandeln also auch Gestaltungs- und Normierungsaufgaben, „sodass auch die der Gewaltenteilungslehre Montesquieus folgenden Versuche, die Verwaltung als nicht politischen Teil der Exekutive zu bezeichnen, den Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Verwaltung nicht gerecht werden“ (Ladner 2013: 13). Im Vordergrund steht dabei die enge Verbindung, die zwischen Exekutive einerseits und Legislative sowie Judikative andererseits besteht, bzw. das komplexe Verhältnis zwischen Verwaltung, Recht und Politik, das alle öffentlichen Lebensgebiete in immer komplizierteren Gesellschaften prägt. Diese Verschränkung fasst Nussbaumer besonders gut zusammen, wenn er mit Blick auf das Rechtswesen sagt, dass es ein Bereich mit unscharfen Rändern und scharfen Bezügen zu andern Domänen [ist]: Zu nennen ist die Verwaltung […], die in einem Rechtsstaat in ihrer Tätigkeit stark rechtlich geprägt ist, in spezifischer Weise Recht anwendet und Gesetze und Verordnungen vorbereitet und für sich selber macht. […] Zu nennen ist die Politik, 18 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="19"?> 4 Steger (1989: 125 f.) spricht diesbezüglich von „integrative[r] Inbezugsetzung der Institutionen-Komplexe: Recht/ Verwaltung/ Politik […] mit ihren Organisationen in den arbeitsteiligen (demokratisch-rechtsstaatlichen) Großgesellschaften“. Vgl. dazu auch I.1.2.1. 5 Rehbein unterscheidet dabei zwischen Institut und Institution der Verwaltung und betont, dass „in Behörden und Ämtern […] sich die Institute zu Institutionen mit staatlicher Bindung verselbständigt [haben]“ (Rehbein 1998: 661 f.; Hervorhebungen im Original). 6 Vgl. auch Ehlich/ Rehbein (1980: 338). 7 Rehbein (1998: 661) schlägt vor, Ämter und Behörden als funktionale Handlungskom‐ plexe zu betrachten, „die mittels eines je spezifischen Ensembles mentaler, aktionaler, interaktionaler Handlungen ihren Zweck realisieren“. 8 Rehbein hebt hier hervor, dass Behörden aus Ämtern und Dienststellen bestehen, und spricht von „Subinstitutionen“ (Rehbein 1998: 662; Hervorhebung im Original). insbesondere mit dem parlamentarischen Verfahren, das juristische Normtexte her‐ vorbringt (Nussbaumer 2009a: 2134; Hervorhenungen im Original). 4 Öffentliche Verwaltungen bilden Institutionen der Gesellschaft. 5 Dabei han‐ delt es sich um „gesellschaftliche Apparate, mit denen komplexe Gruppen von Handlungen in einer zweckeffektiven Weise für die Reproduktion einer Gesellschaft prozessiert werden“ (Ehlich/ Rehbein 1994: 318). 6 Wir haben es zu tun mit „spezifische[n] Ensembles von Formen“ (ebd.), mit bestimmten gesellschaftlichen Handlungsräumen, die andere Handlungsräume gleichzeitig einschließen (vgl. ebd.: 319). Institutionen haben „unterschiedliche Reichweiten“ und betreffen „unterschiedliche Mitglieder einer Gesellschaft in unterschied‐ licher Weise“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Sie zeichnen sich durch be‐ stimmte Gebäude und Geräte aus, die „institutionsspezifische Verdinglichungen“ (ebd.; Hervorhebungen im Original) darstellen, und durch ein „spezifisches Personal“ (ebd.). Ehlich/ Rehbein unterscheiden in diesem Kontext zwischen Agenten und Klienten einer Institution. Agenten sind Personen, die in der Institution entsprechend den institutionellen Zwecken handeln. Klienten sind das Objekt institutionsspezifischer Tätigkeiten. Agenten und Klienten stehen gewisse Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die „spezifischen mentalen Dimensionen“ bzw. „spezifischen Formen des Wissens“ entsprechen und allge‐ mein das „institutionsspezifische Aktantenwissen“ konstituieren (ebd.: 320). Die Verwaltung gliedert sich in eine Reihe von Einrichtungen, 7 die unter‐ schiedlichen rechtlichen Status haben, 8 auf verschiedenen geografisch-politi‐ schen Ebenen angesiedelt sind und denen unterschiedliche Kompetenzbereiche zugeschrieben werden. In zunehmend spezialisierten Gesellschaften kann man von einer „multiplen Differenzierung der Behörden nach Aufgabenbereichen“ (Rehbein 1998: 662) sprechen, die mit politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen 19 1.1 Öffentliche Verwaltung als gesellschaftliche Institution <?page no="20"?> 9 Otto (1981: 57) weist diesbezüglich auf die „verfassungsrechtliche Zuständigkeitsvertei‐ lung in der Bundesrepublik“ Deutschland hin. Er unterscheidet „die drei Gewalten“ (Ge‐ setzgebung, Gesetzesvollzug und Rechtsprechung); „die hoheitlichen Ebenen“ (Bund, Länder und kommunale Körperschaften); „die fachlich gegliederten Geschäftsbereiche (Ministerien, Ressorts)“; und „die nach Instanzen und Gebietsteilen gegliederten Be‐ hörden“. 10 Vgl. dazu auch Rehbein (1998: 662) und Becker-Mrotzek (1999: 1392). und wissenschaftlichen Prozessen zusammenhängen. Im Mittelpunkt steht also „keine einheitliche Institution“ (Becker-Mrotzek/ Scherner 2000: 632), sondern die öffentliche Verwaltung ist „Bestandteil der je unterschiedlichen Behörden“ (ebd.). Alle Bestandteile sind „bezogen […] auf den jeweiligen Zweck der zugehörigen Institution“ (ebd.). 9 Agenten der Verwaltung sind Verwaltungsangehörige bzw. solche Akteure, die „administrative Aufgaben für die Institution wahrnehmen“ (ebd.); bei den Klienten handelt es sich um Bürger, die vom Verwaltungshandeln betroffen sind und aus eigenem Interesse oder in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht in Kontakt mit Verwaltungen kommen. Die Ziele der Verwaltungsmitarbeiter und der Bürger fasst Stickel (1981: 292 f.) zusammen wie folgt: Handlungsziele der Verwaltung sind: - Leistungen des Bürgers, vor allem Steuern und andere Abgaben - Verhalten des Bürgers: Beachtung von Normvorschriften und entsprechende Ver‐ haltenskorrekturen (z. B. im Straßenverkehr, beim Hausbau, beim Umzug, bei der Gewerbeausübung u. a.). Ziele des Bürgers sind: - Leistungen der Verwaltung (des Staats) wie Wohngeld, Sozialhilfe, Zuweisung einer Wohnung u. a. - Genehmigung der Verwaltung für Vorhaben einzelner Bürger oder Gruppen (z. B. Firmengründung, Waffenkauf, Autofahren, Hausbau, Demonstrationen u. a.). 10 Allgemeinfunktionen jeder Verwaltung sind dabei das Planen und das Überwa‐ chen. Wie bereits angeführt, muss man einerseits bestimmen, wie gewisse institutionelle Ziele verfolgt bzw. verwirklicht werden sollen. Andererseits prüft man nach, ob die Ziele tatsächlich erreicht worden sind. Dies bringt es mit sich, dass eine große Menge an Informationen gesammelt und bear‐ beitet wird. Kern des Verwaltungshandelns ist somit die Bearbeitung von Wissen über gesellschaftliche Sachverhalte (vgl. Becker-Mrotzek 1999: 1392 und 1398 ff.; Becker-Mrotzek/ Scherner 2000: 633 f.). Dabei spielt Sprache in den zwei Modalitäten schriftlich / mündlich eine zentrale Rolle. Sie erweist sich 20 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="21"?> 11 Vgl. u. a. Otto (1978: 6), der Sprache als das „Handwerkzeug der Verwaltung“ bezeichnet; Wagner (1981: 238), die betont, dass „Verwaltungshandeln […] sprachlich vermitteltes Handeln ist und […] sich in Schriftstücken und Akten nieder[schlägt]“. Sprache sei „das wichtigste Instrument der Verwaltung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Typische Verwaltungsarbeit ist Schreibtischarbeit, Umgang mit Texten, schriftliche und münd‐ liche Kommunikation“; Lambertz (1999: 145), der von Sprache in der Verwaltung als „Zugangsinstrumentarium zum politischen Gemeinleben“ spricht. 12 Vgl. dazu auch Fluck (2008: 122), der mit Bezug auf Verwaltung anmerkt, dass es ohne Sprache nicht gehe „- und in den meisten Fällen auch nicht ohne schriftlich fixierte Sprache“. Siehe auch Fisch/ Margies (2014: 12). Zur Frage der (sprachlichen) Archivie‐ rung von Wissensinhalten vgl. Adamzik (2016c: 162). Auf die wichtige Bedeutung, die auch mündliche Sprache beim Verwaltungshandeln hat bzw. auf die Tatsache, dass mündliche Formen dabei ebenfalls erforderlich sind, weisen u. a. Rehbein (1998: 670 ff.), Becker-Mrotzek (1999: 1392 und 1398 ff.), Becker-Mrotzek/ Scherner (2000: 633 f.) und Hohenstein/ Rehbein (2009: 2153 ff.) hin. 13 Vgl. auch Steger (1989: 125 f.), der Institutionen „als idealtypische sprachfundierte Komplexe“ bezeichnet. als wichtiges Handlungsmittel und ist somit von besonderer Relevanz. 11 Das, was Cortelazzo (2010b) mit Bezug auf das Rechtswesen feststellt, nämlich dass Sprache grundlegender Bestandteil des Rechts ist, lässt sich demnach auch auf die Verwaltung übertragen: Tuttavia c’è una caratteristica più astratta che differenzia il linguaggio giuridico da altri ambiti settoriali: nel campo giuridico la lingua non è solamente uno strumento per esporre, argomentare, narrare, descrivere; è un elemento costitutivo del diritto (Cortelazzo 2010b). In unseren schriftbasierten Gesellschaften kommt insbesondere Schrifttexten eine große Bedeutung zu. Diese haben eine dominierende Rolle, „denn sie bilden nach wie vor den wichtigsten Wissensspeicher“ (Becker-Mrotzek/ Scherner 2000: 633). 12 Texte sind überdies in der Verwaltung insofern wichtig, als sie die Grundlage darstellen, auf der die Institution selber beruht. Steger (1988: 299 f.) spricht in diesem Zusammenhang von „auf Sprache gegründeten gesell‐ schaftlichen Institutionen im engeren Sinn (Staat, Verwaltung (arbeitsteilige) Wirtschaft) […], deren Kern eine Rechtsordnung ist“. 13 Demnach entsprechen Institutionen sozialen Konstrukten, „die durch sprachliche, genauer gesagt: de‐ klaratorische Akte hervorgebracht werden“ (Adamzik 2018b: 103). In ihnen wird die soziale Wirklichkeit konstruiert bzw. durch sprachliches Handeln werden „verbindliche soziale Tatsachen geschaffen“ (ebd.: 188; Hervorhebungen im Original): Recht wird gesetzt (Parlament / Legislative), gesprochen (Gerichte / Judikative) und umgesetzt (Verwaltung / Exekutive). 21 1.1 Öffentliche Verwaltung als gesellschaftliche Institution <?page no="22"?> 14 Vgl. auch Busse (1992: 115): „Texte [sind] in vielfacher Weise nicht nur institutionell gebunden […], sondern [haben] sogar selbst so etwas wie die Funktion einer gesell‐ schaftlichen ‚Institution‘“. Kritisch dazu Ehlich/ Rehbein (1994: 308), die demgegenüber Institutionen als „Formen gesellschaftlicher Vermittlung“ betrachten; im Unterschied zu einer „maximalistischen Institutionsauffassung“ (ebd.), die Sprache selbst als Institution versteht, schlagen sie daher vor, „die Gesellschaftlichkeit von Sprache als solche als ei‐ genes Objekt zu behandeln“ und ihre Rolle in Institutionen „spezifisch zu untersuchen“ (ebd.). 15 Vgl. auch Busse (1999: 1387 f.): „Der Begriff ‚Institutionalität‘ mit Bezug auf Gesetzes‐ texte und Gesetzesbegriffe meint gerade die[.] Einbindung in institutionelle Deutungs- und Arbeitsrahmen, die dem einzelnen Gesetzesanwender (entgegen der fachintern gerne gepflegten rechtstheoretischen Fiktion) in der Praxis nur wenig echten semanti‐ schen (Interpretations- und Anwendungs-) Spielraum lassen“. Auch Busse (2000: 665) hebt hervor, dass „Texte das zentrale Rückgrat einer gesellschaftlichen Institution bilden, die ohne diese Texte nicht gedacht werden kann, schlicht nicht existent wäre“. Für ihn kann man nicht nur von „Sprache in Institutionen“ (Busse 1999: 1382) sprechen, sondern auch von „Sprache als Institution“ (ebd.; Hervorhebung im Original). In dieser Hinsicht können Texte „selbst zur Institution werden“ (Busse 2000: 664; Hervorhebung im Original); es kann demnach auch von „Texten als Institution“ (ebd.: 665; Hervorhebung im Original) die Rede sein. 14 Verwaltungsarbeit ist also überwiegend sprachliche Arbeit bzw. Arbeit, die „mit, an und mittels Texten“ (Busse 2000: 664) erfolgt. Was Busse mit Bezug auf das Recht meint, gilt zugleich für die Verwaltung: Auch in diesem Kontext handelt es sich um einen „Vertextungsprozeß“ (ebd.), der „aus Texten über verschiedene Zwischenstufen (mit Beteiligung von Texten) wieder Texte macht“ (ebd.). Dabei kommen Texte nach vorher festgelegten Reihenfolgen vor: Die Bearbeitung von Wissen bzw. Informationen geschieht nach vorgegebenen, institutionsspezifischen Bearbeitungsverfahren (vgl. Becker-Mrotzek/ Scherner 2000: 634). Sprache ist „in repetitiven Abläufen organisiert, die durch die institutionsspezifischen Zwecke gesteuert werden“ (Ehlich/ Rehbein 1980: 342). Das wichtigste konstitutive Merkmal der Verwaltung ist mithin ihre „Verfah‐ rensfestigkeit“ (Steger 1989: 126 f.; Hervorhebung A.A.). Dementsprechend er‐ weist sich die Festlegung auf Verfahrensabläufe bzw. die Einhaltung bestimmter Verfahren im Rahmen der Verwaltung als die einzige Dimension, nach der dort Wahrheit formal festgestellt werden kann (vgl. Steger 1988: 300 und 1989: 127). 15 Damit geht einher, dass die verwendete Sprache „verfahrensfest“ (vgl. ebd.) gemacht werden muss. Dies bedeutet, dass in jeder Verfahrensstufe eines institutionellen Handlungskomplexes und unter allen dabei mitwirkenden Rechts- und Verwaltungstexten der sprachlich formale Bezug 22 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="23"?> 16 Vgl. Nussbaumer (2009a: 2135), der von „einer große[n] Strenge in der Einhaltung von Verfahrensregeln und in der Wahrung von Formen“ spricht. Dasselbe betont auch von Polenz (Polenz III; 1999: 485): „Das Gebot der Verfahrensfestigkeit erfordert feste Verfahrensordnungen und Aktantenrollen, möglichst genaues, variantenintolerantes Zitieren, ritualisierte, repetitive Handlungsschemata mit festen Formeln und wider‐ spruchfreiem Textzusammenhang, umfassende Klassifizierung mit der Folge extrem weiter Allgemeinbegriffe“. Dazu vgl. ferner Adamzik: „Als Verwaltungsangestellte müssen sie aber ‚den Dienstweg einhalten‘, d. h. den festgelegten Verfahrensvor‐ schriften folgen und die darin festgelegten Begriffe sowie die spezialisierten Formulare benutzen, denn in pragmatischen Ad-hoc-Lösungen steckt ja immer die Gefahr der Willkür. Das führt dann auch zu einer großen Trägheit des ganzen Apparats. Dem steht entgegen, dass Entscheidungen schnell fallen sollen“ (Adamzik 2018b: 118 Hervorhe‐ bungen im Original gelöscht). 17 Vgl. Adamzik: „Bei diesen Institutionen, Rollen und Verfahren [gemeint ist hier alles, was besonders mit Gesetzgebung und politischer Willensbildung zu tun hat] handelt es sich um Größen, die in Metatexten explizit reguliert sind und damit am ehesten gewissen Wertvorstellungen fach(sprach)lichen Handelns erfüllen. Entsprechendes gilt für die Verwaltung, die Exekutive, die man ohnehin nur schwer von der Politik abgrenzen kann“ (Adamzik 2018b: 281; Hervorhebungen im Original gelöscht). durch wörtliches Zitat, enge Paraphrasierung (vgl. z. B. die Formularbücher) oder Querverweis möglichst direkt gehalten [wird], auch wenn dies der Maxime der ‚Kürze‘ entgegensteht, umständlich ist und ästhetisch nicht befriedigt (Steger 1989: 127). 16 In diesem Zusammenhang geraten besonders Metakommunikation und die ausgeprägte Intertextualität (vgl. I.2.2) von Verwaltungstexten in den Blick. Die eine drückt sich nicht zuletzt in der Vielzahl an Metatexten (vgl. I.3.4.2) mit verbindlichen Normen und Vorgaben aus, die von der starken Orientierung institutioneller Texte an bestimmten Mustern zeugen (vgl. Nussbaumer 2009a: 2134 f.). 17 Die andere besteht u. a. darin, dass einer endgültigen Textversion häufig mehrere Fassungen vorausgehen, die von verschiedenen Akteuren bzw. Agenten bearbeitet werden. Dabei kann man mit Becker-Mrotzek (1999: 1395) sagen, dass Verwaltungstexte bearbeitungssensitive Texte sind, die einen „kooperativen Formulierungsprozeß“ (ebd.) und im Allgemeinen Arbeitstei‐ lung (vgl. Nussbaumer 2009a: 2135) verlangen. 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache Mit den vorangehenden Ausführungen zur Rolle der Sprache in der Verwaltung tritt das zweite Element der hier im Mittelpunkt stehenden Wortbildung in den Fokus. Durch die Fokussierung auf den Kopf rückt nun das ganze Kompositum 23 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="24"?> 18 Zur Korpuslinguistik vgl. die Ausführungen in Adamzik (2018b: 79 f.). ins Blickfeld: Es ist die Sprache der Verwaltung bzw. die Verwaltungs‐ sprache, um die es in diesem Abschnitt geht. Meine Überlegungen setzen an der linguistischen Definition von Verwal‐ tungssprache an, die sich im HSK 14.2 zu den Fachsprachen befindet: Verwaltungssprache ist wegen seiner Zusammensetzung ein mehrdeutiger Begriff, der in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen verschiedene Bedeutungen hat. Er nimmt einmal Bezug auf das abstrakte System der (Fach-) Sprache für die Verwaltung, d. h. auf die allgemeinen Prinzipien von Verwaltungsäußerungen. Verwaltungssprache erfaßt aber auch die konkreten Äußerungen, die durch und in Verwaltungen hervorgebracht werden. Damit verweist er auf die Wirklichkeit der Sprachverwendung und erfaßt so alle empirischen Äußerungen von Verwaltungen. […] Unter Verwaltungssprache wird […] im folgenden eine spezifische Auswahl sprachlicher Mittel verstanden, derer sich die Verwaltung für die Realisierung ihrer Zwecke bedient (Becker-Mrotzek 1999: 1391; Kursiv im Original; Fettdruck A.A.). In dieser Begriffsbestimmung fasst Becker-Mrotzek verschiedene Sichtweisen zusammen, die sich auf den Ausdruck Verwaltungssprache anwenden lassen. Dabei geht es um die verschiedenen Auffassungen, die die Diskussion in der Fachsprachenforschung prägen. Sie entsprechen Schwerpunksetzungen, die auf verschiedenen Abstraktionsebenen liegen und sich nur analytisch voneinander abgrenzen lassen: I. Verwaltungssprache ist ein (Sub-)System innerhalb einer Gesamtsprache. Es handelt sich um eine Sprachvarietät, insbesondere um eine Fachsprache; II. Verwaltungssprache bezeichnet die parole, den konkreten Sprachge‐ brauch, von Verwaltungsakteuren in Verwaltungen. Wir haben es zu tun mit empirischen Äußerungen, die bestimmten Kategorien entsprechend zur Erstellung von Korpora für die linguistische Analyse zusammenge‐ stellt werden können. 18 III. Verwaltungssprache besteht in einer charakteristischen Auswahl aus den sprachlichen Möglichkeiten eines Systems. In diesem Sinne liegt der Akzent auf einer Menge stilistischer Merkmale, die funktional sind; d. h. die zur Erfüllung der Zwecke der Verwaltung dienen. Im Folgenden werden diese Sichtweisen näher behandelt bzw. miteinander in Verbindung gebracht und aufeinander bezogen. 24 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="25"?> 19 Der Frankfurter Journalist Karl Korn fasst Verwaltung als das repräsentative „Struktur‐ element der modernen Welt“ (Korn 2 1962; zitiert nach Asmuth 2012: 1436) auf. Sein Buch reiht sich in die Tradition der Sprachkritik ein (vgl. ebd.), wobei seine Kritik an der Verwaltungssprache der „Abwehr eines Angriffs“ (Knoop 1998: 869) entspricht, der „die Menschen zu Massen summiert, also abstrakte Größen für die Statistik herrichtet“ (ebd.). In diesem Kontext ist Korns Sprachkritik i. Allg. als Kulturkritik zu verstehen. Wagner distanziert sich von diesem Ansatz, indem sie die Verwaltungssprache nicht „unter ästhetischen und sprachpflegerischen Aspekten bewertet“ (Wagner 1970: 10). Vgl. auch I.3.2. 20 Dass sich viele mit Wagners Studie auseinandergesetzt haben, stellt schon Ende der 1980er Jahre Fuchs-Khakhar (1987: 66) fest: „Doch daß 1972 eine 2. Auflage ihrer Darstellung und 1976 ein weiterer Aufsatz erschienen, zeigt auch, daß ihr Ansatz breites Interesse fand“. 21 Verbreitet hat sich der Ausdruck besonders in Buchtiteln (vgl. Asmuth 2012: 1417). 1.2.1 Verwaltungssprache als Sprachvarietät Wie oben angeführt, ist Sprache ein „hochentwickeltes Instrument“ (Otto 1978: 11) der Verwaltung. Es gibt in Verwaltungen ein reales Sprachverhalten, das man empirisch ermitteln und beschreiben kann. Dies hat in den 1970er Jahren Wagner unternommen, die eine Auswahl aus Verwaltungen stammender Texte auf ihre sprachlichen „Sonderformen“ (Wagner 1970: 10) untersuchte. Zur Bezeichnung ihres Untersuchungsgegenstandes bzw. des sprachlichen Wirklichkeitsausschnittes, auf den sie ihr Augenmerk richtete, benutzte die Autorin den Ausdruck Verwaltungssprache. Dabei nahm sie auf Karl Korns kultur- und gesellschaftskritisches Buch „Sprache in der verwalteten Welt“ (1959) Bezug, von dessen Ansatz sie sich absetzte. 19 Ihre Monographie, die die erste „umfangreichere Analyse eines Corpus aus Verwaltungstexten“ (Heinrich 2014: 49 f.) darstellt und in nahezu allen (sprach)wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema zitiert wird, 20 trug bei zur Verbreitung des Kompositums in den heute allgemein vorherrschenden und schon genannten Lesarten. 21 Im 19. Jahrhundert bezeichnete das Wort stattdessen überwiegend „die in einem Land regierende, auch für anderssprachige Bewohner im Verkehr mit Ämtern verbindliche Sprache“ (Asmuth 2012: 1417), wobei es besonders in „von einer fremden Macht besetze[n] Gebiete[n]“ (ebd.) gängig war. Wenn man die Sonderformen bzw. Besonderheiten eines bestimmten Sprach‐ gebrauchs fokussiert, bedeutet das, dass man sich um den Begriff Varietät herum bewegt und damit operiert. Was mit diesem Begriff gemeint wird, ist allerdings in der Forschung umstritten. Varietät ist bisher in der Linguistik schlecht definiert (vgl. Adamzik 2018b: 52), wie auch Berruto feststellt: 25 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="26"?> 22 Die Kategorie diaphasisch wurde verschieden rezipiert und umgedeutet. Für einen Überblick über die Interpretationen dieses „Chamäleon-Faktors“ vgl. Adamzik (2018b: 63 f.). Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Begriff fasst die Autorin zusammen wie folgt: „Konstatieren lässt sich also ein Übergang von stilistisch über situativ zu funktional. Das ist insofern erstaunlich, als man Stilschichten in der Regel mit dem Formalitätsgrad der Situation in Verbindung bringt, nicht mit Funktionen“ (ebd.; Hervorhebungen im Original gelöscht). Dass die diversen Interpretationen von diaphasisch verschiedene Dimensionen vermischen, die gewöhnlich getrennt behandelt werden, merkt die Autorin an einer späteren Stelle an: „Die Textlinguistik folgt demselben Schema [wie die Gesprächsanalyse] und grenzt auf jeden Fall Funktion, Thema/ Inhalt und Situation als unterschiedliche außersprachlichen [sic] Dimensionen voneinander ab“ (Adamzik 2018b: 64; Hervorhebung im Original gelöscht). Für eine tiefergehende Behandlung des Modellvorschlags von Coseriu sowie seine Rezeption in der Forschung vgl. ebenfalls Adamzik (2018b). Obwohl es sich um einen der Kardinaltermini der Soziolinguistik handelt, ist es schwierig, eine eindeutige und allseits befriedigende Definition des Varietätsbegriffs zu geben (Berruto 2004: 189). Berrutos Ausführungen zu Sprachvarietät lehnen sich an ein bekanntes Modell an, das besonders einflussreich war. Es handelt sich dabei um den Ansatz von Coseriu zur Systematisierung des Varietätenspektrums. Im Anschluss an die Überlegungen des norwegischen Linguisten Leiv Flydal (1951) führt Coseriu den Begriff funktionelle Sprache ein und rechnet mit drei Variationsdimensi‐ onen, nach denen sprachliche Formen geordnet werden können: diatopische (geographische Variation), diastratische (soziale Variation) und diaphasische (situationsbedingte, stilistische Variation) Dimension. 22 Dabei geht es um au‐ ßersprachliche Faktoren, die in wechselseitiger Beziehung zu sprachlichen Faktoren stehen. Auf beiden Seiten gibt es Variablen, die Varianten einschließen. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu bemerken (a) dass es nicht ganz klar ist, welche Menge und welche Typen sprachlicher Merkmale erforderlich sind, um von einer eigenständigen Varietät zu sprechen. […] (b) dass die sozialen und/ oder situationsspezifischen Faktoren, die in signifikanter Weise mit einer gewissen Menge sprachlicher Merkmale kookkurrieren, sehr breit gespannt und mannigfaltig sind. Hinzu kommt die Tatsache, […] dass erhebliche Probleme bestehen bezüglich der genauen Abgrenzung, Einordnung und Unterscheidung von Sprachvarietäten (Berruto 2004: 189). Angesichts dieser problematischen Lage spricht sich Berruto (2004: 190) dafür aus, „Varietäten als (konventionell bestimmte, unscharf abgegrenzte) Verdich‐ tungen in einem Kontinuum zu verstehen“. Varietäten sind somit kognitive Konstrukte, „stereotype Vorstellungen von Sprechweisen“ (Adamzik 2018b: 26 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="27"?> 23 Schibboleths entsprechen Kennwörtern bzw. solchen „Sprachvarianten, die konventio‐ nell als Erkennungsmerkmale von Sprechergruppen fungieren (z. B. Grüezi, Servus, Moin-Moin)“ (Adamzik 2018b: 71; Hervorhebungen im Original). 24 Anfang der 1980er Jahre stellte Nabrings (1981: 110) fest, dass „sich immer mehr ergibt, daß eine strenge Abgrenzung der Dimensionen ohnehin undurchführbar ist und daß die Varietäten zugleich innerhalb verschiedener Dimensionen beschreibbar sind“. Dazu vgl. auch Berruto (2004: 193 f.): „Da die Dimensionen bei der Bestimmung der Varietäten oft parallel wirken, kann jede auf einer Achse identifizierte Varietät durch Projektion anderer Dimensionen auf diese Subvarietäten aufweisen (z. B. regionalunterschichtspezifisch-informelle Varietät)“. Becker (2001) hebt die Unterscheidung zwischen Sprachverhalten und Sprachbewusstsein hervor: „Es ist durchaus denkbar, daß auf der Ebene des Verhaltens fließende Übergänge vorkommen, während das Sprachbewußtsein klare Abgrenzungen vornimmt, identifizierend und typisierend vorgeht“ (Schlieben-Lange 1991: 94; zitiert nach Becker 2001: 83). 71). Dieser Perspektive schließt sich auch Adamzik an, die eine eigene Definition für Varietäten vorschlägt: Varietäten sind unscharf begrenzte Mengen von sprachlichen Varianten, die mit außersprachlichen Faktoren assoziiert sind. Sie haben eine prototypische Struktur. Im Zentrum stehen Varianten, die traditionell als Schibboleths bezeichnet werden (Adamzik 2018b: 71; Fettdruck im Original gelöscht; Hervorhebungen hier A.A.). 23 Man kann einen bestimmten außersprachlichen Faktor als dominant be‐ trachten. Dialekte können z. B. als Varietäten angesehen werden, bei denen die räumliche Dimension im Vordergrund steht. Allerdings wirken immer alle Dimensionen zusammen, sie können daher nur theoretisch gegeneinander abgegrenzt werden. Es gibt also zugleich „Korrelationen zwischen Variati‐ onsdimensionen“ (Adamzik 2018b: 66; Hervorhebungen im Original): Dialekte korrelieren [beispielshalber] mit der medialen Dimension (mündlich), sind diasituativ (nicht-formelle Situationen), diasozial (heute tendenziell niedrige Bildungsschicht und eher Ältere) und hinsichtlich des Gegenstandsbereichs (v. a. Alltagssphäre) charakterisierbar (ebd.). 24 Auch für Coseriu sind bei einer funktionellen Sprache alle Dimensionen gleich‐ zeitig mit im Spiel. Nach ihm ist der wirkliche Gegenstand der linguistischen Beschreibung […] die Varietät einer bestimmten sozialen Gruppe, in einer bestimmten Region und einer bestimmten Klasse von Situationen (Berruto 2004: 190). 27 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="28"?> 25 Vgl. Becker (2001: 77): „Sprache hat immer gleichzeitig eine historische, funktionale, gruppenbezogene und sprachräumliche Komponente“. In Anlehnung an Steger (1988) spricht Becker (2001: 77ff.) diesbezüglich von Erscheinungsformen, die von Varietäten terminologisch zu unterscheiden seien. Bei letzteren handele es sich um „Teilsysteme[.] als theoretische[.] Konstrukte[.]“, die „jeweils einer Dimension zugeordnet“ würden (ebd.: 78). Dabei werde „von anderen Dimensionen […] bei ihrer Beschreibung abstrahiert“ (ebd.). Varietäten ließen sich überdies in Varietätengruppen bündeln, die ebenfalls mithilfe der Prototypentheorie beschrieben werden könnten. „Demnach gibt es mehr oder weniger prototypische Varietäten einer Varietätengruppe“ (ebd.: 79). Erscheinungsformen entsprä‐ chen dagegen „konkreten Ausprägungen einer Einzelsprache“ und seien „als ein Punkt im Varietätenraum jeweils von allen Dimensionen bestimmt, die diesen bilden“ (ebd.). 26 Ich bin mir der kulturellen Geprägtheit sprachlicher Varietäten bewusst. In diesem Kapitel geht es jedoch grundsätzlich um öffentliche Sprache westlicher, demokratischer Staaten, ohne weitere kulturelle Unterschiede zu berücksichtigen. 27 Eine diamesische Dimension berücksichtigt Coseriu in seiner Theoretisierung nicht. Sie wurde späteren Fremd-Bearbeitungen seines Modells hinzugefügt (vgl. Adamzik 2018b). 28 Auch Lubello (2014b: 13 f.) operiert mit den hier in Frage stehenden Kategorien, verweist allerdings auf einen dominanten Faktor, indem er die Verwaltungssprache zu den „varietà diafasiche“ zählt. Dies erklärt er dadurch, dass das Typische an der Sprache der Verwaltung „un codice scritto particolare, elevato, in genere tendenzialmente conservativo nelle sue strutture“ ist. Die funktionelle Sprache entspricht demnach „eine[r] syntopische[n], synstra‐ tische[n] und symphasische[n] Sprache“ (Becker 2001: 77). 25 Auf die ursprünglich auf Coseriu zurückgehenden Kategorien greifen Lin‐ guisten im italienischsprachigen Raum zurück, wenn es darum geht, die italienische Verwaltungssprache, l’italiano burocratico (vgl. Berruto 1987) oder linguaggio amministrativo, zu charakterisieren bzw. zu definieren. 26 Cortelazzo/ Viale arbeiten z. B. mit einer diaphasischen, diastratischen und diamesischen 27 Dimension: L’italiano burocratico, dal punto di vista diafasico, appare legato a situazioni fort‐ emente formalizzate ed è di conseguenza caratterizzato da un registro molto formale e aulico; da un punto di vista diastratico questa varietà appare propria delle classi sociali alte o comunque di gruppi sociali dotati di prestigio; dal punto di vista diamesico il linguaggio burocratico si configura come una varietà prevalentemente scritta (Cortelazzo/ Viale 2006: 2113; Hervorhebungen A.A.). Die (italienische) Verwaltungssprache ist demnach eine Sprachvarietät, die durch einen höchstformellen Sprachstil gekennzeichnet, oberschichtsspezifisch ist und normalerweise in schriftlicher Form auftritt. Diese Charakterisierung nimmt Viale in seinen Studi e ricerche sul linguaggio amministrativo (2008) wieder auf. 28 Dort bezieht er sich auf die Verwaltungssprache als die „lingua che gli enti pubblici tradizionalmente usano per organizzare i propri servizi 28 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="29"?> 29 Dazu vgl. Otto (1978: 11): „Die Verwaltungssprache ist primär eine Fachsprache“; Stickel (1981: 303): „Mit ihrer komplexen Personalstruktur und der strengen Organisation der internen Arbeitsabläufe, erfüllt die Verwaltung die wesentlichen Voraussetzungen für eine Fachsprache“; Fisch/ Margies (2014: 9): „Verwaltungen verwenden für ihre interne wie externe Kommunikation in der Hauptsache eine eigene Fachsprache. Sie wird in diesem Buch ‚Verwaltungssprache‘ genannt“. Zur Vertiefung bzw. zum fachsprachlichen Status der Rechts- und Verwaltungssprache vgl. insbesondere I.1.2.1.3. 30 Zur Bedeutung von Arbeitsdefinitionen für die (linguistische) Forschung vgl. Adamzik: „Eine Arbeitsdefinition dient letztlich dem Zweck, eine Hypothese zu überprüfen. Sie steckt ein Forschungsprogramm ab, und ist damit prinzipiell falsifizierbar“ (Adamzik 2018b: 72; Hervorhebung im Original gelöscht). 31 Für einen Überblick über den Begriff Fachsprache und i. Allg. über den Untersuchungs‐ gegenstand der Fachsprachenforschung im deutschsprachigen Raum vgl. die Beiträge im HSK 14 (1998 und 1999). Vgl. auch die Überblicksdarstellungen von von Hahn (1983), Möhn/ Pelka (1984), Hoffmann (1985), Fluck (1996), Roelcke (2010) und Adamzik (2018b). e rivolgersi all’esterno“ (Viale 2008: 43). In Anlehnung an Berruto (1987: 21) hebt er insbesondere hervor, dass sich die Sprache der Verwaltung innerhalb einer Architektur der Varietäten des Italienischen in einer besonderen Position befindet; sie sei von der Standardbzw. Gemeinsprache ziemlich weit entfernt: L’efficace schema proposto da Berruto […] colloca la lingua della burocrazia in una posizione particolare, lontana da quell’italiano standard che caratterizza la comunicazione legata alla quotidianità dei parlanti, anche in condizioni di alta formalità (Viale 2008: 43; Hervorhebungen A.A.). Indem man zwischen einer „lingua della burocrazia“ und einem üblicherweise verwendeten „italiano standard“ unterscheidet, der die „quotidianità“, den Alltag, kennzeichnet - indem sich also die Aufmerksamkeit auf die Gegenüberstellung Verwaltungssprache-Gemeinsprache richtet - stellt man eine bestimmte Perspektive in den Vordergrund: die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Fachvs. Gemein- oder Standardsprache und somit die Betrachtung der Verwaltungssprache als Fachsprache. Darauf weist Viale ausdrücklich hin, wenn er behauptet: Non si deve […] dimenticare che la lingua dell’amministrazione è anche una lingua speciale (Viale 2008: 49; Kursiv im Original; Fettdruck A.A.). 29 Nach Hoffmanns bekannter Arbeitsdefinition 30 bezieht sich der Begriff Fach‐ sprache auf „die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständi‐ gung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten“ (Hoffmann 1976: 170/ 1985: 53, im Original zur Gänze in Fettdruck; Hervorhe‐ bungen hier A.A.). 31 Bei dieser Begriffsbestimmung stehen zwei außersprach‐ liche Faktoren im Mittelpunkt: eine gewisse Menschengruppe, die in einem 29 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="30"?> 32 Dazu vgl. Berruto (2004: 194): „Eine besondere Stellung haben auch die Sonder- und Fachsprachen […], die häufig sowohl Gruppenvarietäten sind (also auf der dias‐ tratischen Achse liegen) als auch diaphasische Varietäten“. Vgl. auch Anm. 55 in Becker (2001: 74), wo die Autorin feststellt, dass die „Zuordnung von Varietäten zur diastratischen und diaphasischen Dimension […] uneinheitlich“ ist. 33 Zum Begriff Sondersprache vgl. Nabrings (1981: 110 ff.) und Adamzik (2018b). Nabrings betont, dass die Sondersprachen „Standes-, Berufs-, Fach- und Gruppensprachen [um‐ fassen] sowie besondere Sprachformen, die bestimmten Kommunikationsbereichen zugeordnet werden“ und dass daher „eine Festlegung des Begriffs ‚Sondersprache‘ ohnehin nur Näherungswert haben kann“. bestimmten - fachlichen - Bereich handelt. Dabei macht die Menschengruppe von einer Menge sprachlicher Mittel Gebrauch, die zur Erfüllung bestimmter kommunikativer Bedürfnisse dient und somit funktional ist. Der direkte Bezug auf die soziale Dimension einerseits und den Sachbereich andererseits erklärt, warum Fachsprachen immer wieder entweder den dias‐ tratischen oder den diaphasischen Varietäten zugerechnet wurden. Dass die Erkennung eines dominanten Faktors für die Zuordnung von Fachsprachen in ein multidimensionales System umstritten war bzw. ist, drückt Nabrings (1981: 144) deutlich aus: Die Zuordnung der Fachsprachen zu der diasituativen Ebene ist durchaus nicht unproblematisch. Schon bei der diastratischen Dimension war die Rede von Berufs‐ sprachen gewesen, die gleichzeitig als Fachsprachen gelten können. Fachsprachen, verstanden als die Sprache, die Experten eines Faches untereinander benutzen, sind zugleich Gruppensprachen. Allerdings steht in den meisten Untersuchungen die Sache, das Fach, als Abgrenzungskriterium im Mittelpunkt, der Gruppencharakter von Fachsprachen wird nur als mögliches zusätzliches Merkmal angesehen. Die Be‐ rufssprachen werden mitunter aber auch gerade als die Zwischenform zwischen Fach- und Gruppensprachen bezeichnet, insofern sie die Merkmale der Gruppensprache (Exklusivität einer Gemeinschaft) und der Fachsprache im eigentlichen Sinn (Bezug auf einen Spezialsachbereich) miteinander vereinen. Auch in diesem Bereich ist die Abgrenzung also nicht eindeutig. 32 Was nun die Verwaltungssprache angeht, lässt sie sich an eine bestimmte, jedoch heterogene Berufsgruppe binden. Wie oben erwähnt (vgl. I.1.1), handelt es sich dabei um die Gruppe der Beamten und Amtsangestellten, der Leute, die in Ämtern bzw. Einrichtungen des öffentlichen Dienstes arbeiten und ihre Rolle innerhalb einer komplexen Personalstruktur ausüben. Auf die diastrati‐ sche Dimension weist Wagner (1970: 7) bei ihrem Verständnis des Ausdrucks Verwaltungssprache insofern hin, als sie damit eine „Sondersprache“ 33 meint und 30 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="31"?> von „individuelle[n] Stileigenarten der Verwaltungsangehörigen“ spricht, die „durch die Formen der Gruppensprache überlagert“ werden. Wagner deutet zugleich auf den Sachbereich der Verwaltungssprache hin, indem sie ihren funktionalen Charakter hervorhebt, der „sie als Fachsprache von der Gemeinsprache unterscheidet“ (Fuchs-Khakhar 1987: 70) bzw. „dazu berechtigt, die Verwaltungssprache als eine Sonderform der Gegenwartssprache zu betrachten“: Die Verwaltung hat für ihre Arbeit einen Sprachstil geformt, der Schriftstücke der Verwaltung gleichmäßig prägt und Besonderheiten im individuellen Stil einzelner Verfasser ausgleicht. […] Die Verwaltungssprache wird im Dienst von Beamten und Verwaltungsangestellten zur Erfüllung staatlicher Aufgaben gebraucht. Sie hat deshalb einen offiziellen, unpersönlichen und funktionalen Charakter. Ihre Sonder‐ formen sind durch Aufgaben und Zielsetzung der Verwaltung, durch rechtliche und organisatorische Voraussetzungen der Verwaltungstätigkeit und die historische Entwicklung bedingt (Wagner 1970: 97). Die Besonderheiten der Verwaltungssprache gehen also überwiegend auf die Arbeit, Aufgaben und Zielsetzung der Verwaltung zurück: Es sind daher die Funktion und besonders der Gegenstandsbereich, die die Auswahl sprachli‐ cher Mittel beeinflussen. Diese Auffassung stimmt gewissermaßen mit Stegers Ansicht (1989: 127) überein. Er nimmt an, dass die pauschal verstandene Rechts- und Verwaltungssprache (in Steger als „RVS“ abgekürzt) eine „Funk‐ tions(gruppen)-S[prache] [ist] und keine Standes-S[prache], etwa der Juristen“. Dementsprechend kenne „[k]ein einzelner und keine einzelne soziale Gruppe - auch nicht die der Juristen - […] die RVS in allen ihren Teilsystemen“. In diesem Zusammenhang stellt sich erneut die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand der Verwaltung. Wie bereits angedeutet (vgl. I.1.1), richtet sich ihr Handeln auf die konkrete Gestaltung des öffentlichen Lebens eines Staates. Wie gesagt, haben wir es dabei allerdings mit einem mehrgliedrigen Komplex zu tun, an dem eine Reihe von Institutionen beteiligt ist. Diese besitzen „als Rea‐ lisierungsformen Organisationen“ (Steger 1989: 125; Hervorhebung im Original): Regierungen und Verwaltungen, Gesetzgebungskörperschaften und Gerichte, Parteien und Verbände usw. Die Organisationen werden in den drei Gruppen gegliedert, die grob der das Staatsleben beschreibenden Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative entsprechen. Mit jeder Staatsgewalt fällt eine Unmenge von Aufgaben und Tätigkeiten zusammen, die sich auf die unterschiedlichsten Gegenstände und Bereiche anwenden lassen. Diese werden im Rahmen von Abläufen behandelt, deren Phasen und Schritte den verschie‐ denen staatlichen Organisationen obliegen. Dieselben Gegenstände werden 31 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="32"?> 34 Vgl. etwa Viale (2008: 51), der betont, dass Studien zur Verwaltungssprache zu „un ampio ventraglio di etichette“ greifen, um sich auf den eigenen Untersuchungsgegenstand zu beziehen („per riferirsi al proprio ambito di indagine“). nach bestimmten Schwerpunktsetzungen betrachtet und aus verschiedenen Sichtweisen bearbeitet; die Aufgaben einer Staatsgewalt sind mit den Aufgaben anderer Gewalten verknüpft, überschneiden sich z.T. bzw. greifen ineinander. Die traditionelle Lehre von den drei Gewalten „mit ihren streng getrennten politischen Funktionen“ stimmt also nicht „mit den wirklichen Vorgängen“ überein (Dieckmann 1975: 87). Da die Organisationen vernetzt sind und in gegenseitiger Beziehung handeln, stehen die entsprechenden „Organisationen-S[prache]n […] in übergreifenden institutionellen und kommunikativen Zusammenhängen, für die gemeinsame Grundstrukturen und Gebrauchsmaximen gelten“ (Steger 1989: 125). Die Existenz solcher Gemeinsamkeiten und Affinitäten sowie eines gemeinsamen Gegenstands‐ bereichs bzw. Handlungskontexts, den Akteure verschiedener Organisationen - Amtsangestellte, Minister, Abgeordnete, Politiker, Richter, … - teilen, erklärt, warum man sich in der sprachwissenschaftlichen Forschung dem Gegenstand Sprache / Sprachgebrauch im öffentlichen Leben verschieden annähert, diverse Sichtweisen vertritt, das einschlägige sprachliche Spektrum unterschiedlich aufteilt, sich mit verschiedenen Ausdrücken darauf bezieht und mit teilweise abweichenden Etikettierungen operiert. 34 Dieckmann hebt dies deutlich hervor, wenn er in Anlehnung an Edelman von „Sprachstilen“ spricht, die sich […] nicht auf bestimmte Institutionen aufteilen [lassen], sondern […] sich horizontal durch den gesamten institutionellen Aufbau des Staates, die politischen Organisationen und Interessengruppen [ziehen] (Dieckmann 1975: 88). In diesem Kontext lässt sich zusammenfassend sagen, dass dabei das gilt, was Löffler mit Bezug auf die deutsche Gesamtsprache allgemein anmerkt: Wie die deutsche Gemeinsprache ein Kunstprodukt ist und nicht die Sprache eines politischen und kulturellen Mittelpunktes eines Hofes oder einer Hauptstadt - so sind auch alle Einteilungsvorschläge und so genannten Definitionen zur Binnenglie‐ derung der [sic] Deutschen, allesamt an den Schreibtischen der Sprachwissenschaftler entstanden. […] Dort [bei der Sprachwirklichkeit] trifft man ein grenzenloses, nicht abgrenzbares Durcheinander an, einen großen Brei, in den man mit keinem Messer klare Schnitte einbringen oder mit terminologischen Förmchen Figuren ausstechen könnte. Sobald man ansetzt, fließt sofort alles wieder ineinander. So kommt es, dass jeder an seinem Schreibtisch den Brei etwas anders durchschneidet. Das ist nicht weiter schlimm, solange niemand behauptet, ihm sei es gelungen, klare Schnitte 32 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="33"?> 35 Zu bemerken ist dabei, dass auch das Objekt, das hier aus praktischen Gründen als öffentliches Leben bezeichnet wird, einem eher abstrakten Begriff entspricht, dessen Grenzen unscharf sind. 36 Adamzik (2018b) hebt besonders die Historizität und Kulturalität von Fächern hervor, indem sie beide Aspekte in ihre Definition von Fach einschließt: „Ein Fach ist ein Gegenstands‐ bereich, auf dessen (kommunikative) Bearbeitung unter einer bestimmten Perspektive sich in einer Gesellschaft bestimmte Menschen spezialisiert haben. Die Aufgliederung in verschiedene Fächer variiert historisch und kulturell sehr stark“. Dementsprechend wird ein Fach also „nicht durch seinen Gegenstand konstituiert […], sondern durch den systemati‐ schen Umgang mit einem Gegenstandsbereich, der nicht zuletzt in der Abgrenzung von Untersuchungsaspekten, Fragestellungen und damit Subdisziplinen besteht“ (ebd.). 37 Vgl. dazu Viale (2008: 50): „Considerare il linguaggio burocratico come lingua speciale comporta […] collocarlo in una dimensione orizzontale e in una verticale“. Siehe auch Fluck, der in Hinblick auf die Rechtssprache meint, dass sie „vielfältig gegliedert [ist], je nach Kommunikationsbereich, Kommunikationsereignis und Textsorte. Man kann daher sagen, dass es weder die Sprache des Rechts oder den juristischen Fachtext gibt, ebenso wenig wie es die Verwaltungssprache, Wirtschaftssprache oder eine einheitliche Pressesprache gibt“ (Fluck 2008: 121; Hervorhebungen im Original). anzubringen und haltbare Figuren auszustechen, dies [sic] ein allgemein akzeptiertes terminologisches System ergeben (Löffler 2005: 25). Die Übergänge zwischen den Befugnissen und Kompetenzbereichen, die den Organisationen zugeschrieben sind, sind also fließend sowie die zwischen dem Sprachverhalten bzw. Sprachvarietäten, die diese Einheiten kennzeichnen. Auf das allgemein verstandene Objekt öffentliches Leben können demnach verschie‐ dene Perspektiven vorliegen; 35 jede Perspektive entspricht einem Fach, einem Gegenstandsbereich, den eine bestimmte, darin spezialisierte Menschengruppe (kommunikativ) bearbeitet (vgl. Adamzik 2018b). 36 Ins Blickfeld tritt hier die Frage der horizontalen und vertikalen Gliederung der Disziplinen und der Sprachvarietäten gegeneinander. Die erste Dimension betrifft die Aufgliederung des Fächerspektrums bzw. die Abgrenzung der Fachsprachen. Bei der zweiten geht es um „bestimmte Schichten der Fachsprachen“ (Adamzik 2018b: 33). Beiden Gliederungstypen ist im Folgenden jeweils ein Abschnitt gewidmet. 37 Im Fokus steht selbstverständlich der Stellenwert der Verwaltungssprache, deren Auftei‐ lung noch in den 1990er Jahren „ungeklärt“ geblieben war (vgl. Fluck 1996: 75). 1.2.1.1 Horizontale Gliederung Auf eine der gängisten horizontalen Gliederungen des öffentlichen Sprachge‐ brauchs deutet u. a. Viale (2008) in seinen Studi hin. Er hebt die unscharfen Grenzen zwischen Verwaltungssprache einerseits und Rechtssprache und Sprache der Politik andererseits hervor; die drei Varietäten würden häufig miteinander verwechselt: 33 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="34"?> 38 Vgl. dazu Stickel (1981: 303): „Stabilisierend wirkt sich auf den Sprachgebrauch der Behörden bekanntlich vor allem der Sprachgebrauch der Gesetze und anderer Rechtstexte aus, die das verbale Handeln der Verwaltung verbal steuern. […] Hinter dem Sprachgebrauch der Verwaltung steht also als Leitsprache der Sprachgebrauch des Rechtswesens“. 39 Vgl. Cortelazzo/ Viale (2006: 2112): „La lingua della politica è, invece, per definizione la lingua di una parte, che si oppone alla lingua delle altre parti che vi si contrappongono nel confronto politico, oppure la lingua di una parte che, in un regime totalitario, Dal punto di vista della dimensione orizzontale occorre poi considerare a fondo il rapporto del linguaggio burocratico con altre lingue speciali affini, con le quali ha un continuo scambio e rischia spesso di essere confuso. Il linguaggio amministrativo si trova infatti a stretto contatto in primo luogo con il linguaggio giuridico, in particolare con quello dei testi normativi, e con quello politico (Viale 2008: 51; Hervorhebungen A.A.). Bei Verwaltungssprache, Rechtssprache und Sprache der Politik handle es sich um „lingue speciali affini“, um die Sprachvarietäten, die der Sprache der Verwaltung am nächsten stünden. Die Varietäten seien einander so nah, dass manche Studien die Verwaltungssprache der Rechtssprache sogar anglichen. Viale betont, dass die Unterscheidung zwischen Rechtssprache und Verwaltungssprache zwar mit dem Untergang des Obrigkeitsstaats und der Entstehung des Rechtsstaats Sinn gewinnt; jedoch sei die Wechselwirkung zwischen den Varietäten so stark, dass es problematisch sei, sie voneinander deutlich zu unterscheiden: La dialettica tra queste tre varietà di lingua è fitta e, anche volendole tenere distinte, molti problemi sorgono nelle zone di confine tra le tre varietà con aree di sovrappo‐ sizione tra i tre ambiti di discorso (Viale 2008: 54). Auch Lubello (2014b: 14) erwähnt die Verwandtschaft, die Verwaltungssprache und Rechtssprache binde und die darauf zurückzuführen sei, dass die Rechts‐ sprache die Hauptquelle („la fonte primaria“) der Verwaltungssprache dar‐ stelle. Diese betrachtet Otto als eine „Sonderform der Rechtssprache“ (1978: 11; Fettdruck im Original gelöscht), wobei er zugleich hervorhebt, dass die Rechtssprache „Skelett und Rahmen“ (ebd.) der Verwaltungssprache bildet. 38 Denselben Standpunkt vertreten Cortelazzo/ Viale (2006: 2112), die auch darauf hinweisen, dass „lingua del diritto“ und „lingua dell’amministrazione“ „stretta‐ mente imparentate tra di loro [miteinander eng verwandt]“ sind. Diese halten sie für richtige Institutionensprachen; die Sprache der Politik sehen sie zwar als ein Beispiel für öffentliche Sprache an, sprechen ihr allerdings wegen ihrer wesentlich parteiischen Natur jeden institutionellen Charakter ab, wenngleich „lingua della politica, lingua del diritto e lingua dell’amministrazione“ gewöhn‐ lich als drei Varianten des „uso della lingua nelle istituzioni“ behandelt werden. 39 34 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="35"?> sovrasta le altre parti. È, dunque, una forma di lingua per la comunicazione pubblica, non per la comunicazione istituzionale“. 40 Politik betrachtet Steger allerdings zusammen mit Recht, Verwaltung, Wirtschaft, Familie und Verwandtschaft als Institution heutiger Großgesellschaften. Sie wird der Verwaltung gleichgesetzt und nur durch einen Schrägstrich davon getrennt (vgl. „Politik/ Verwaltung“ in Steger 1989: 125; Kursiv im Original). 41 Der Begriff Politik hat „vielfältige Facetten“ (Sarcinelli/ Knaut 2016: 525). Dies führt u. a. dazu, dass „der Gegenstandsbereich, der sich im Zusammenspiel von Sprache und Politik konstituiert, oft unklar bezeichnet wird“ (Reisigl 2011: 441). In der deutschsprachigen Forschung liegen verschiedene Ausdrücke vor, die unterschiedlichen Ansichten und Bedeutungsnuancierungen gleichkommen: Sprache der Politik, Sprache in der Politik, Poli‐ tiksprache, politische (Fach)-Sprache, politischer Gebrauch der Sprache, politischer Sprachge‐ brauch usw. Zur Entwirrung des „Durcheinander[s] an unterschiedlichen Bezeichnungen des Untersuchungsobjekts“ (ebd.) wird in der deutschsprachigen Politikwissenschaft oft „auf die im Angelsächsischen mögliche terminologische Unterscheidung zurückgegriffen. Demnach lässt sich Politik in drei Gegenstandsbereiche gliedern: policy (Politikinhalte), po‐ lity (Institutionen) und politics (Prozesse)“ (Sarcinelli/ Knaut 2016: 525; Hervorhebungen im Original). Eine klare tabellarische Übersicht über diese drei Termini, die die Überlegungen und Vorschläge verschiedener Autoren zusammenbringt, bietet Reisigl (2011: 443f.). Die Verwendung des Ausdrucks Sprache der Politik widerspiegelt in dieser Arbeit nicht die Bevorzugung einer bestimmten Perspektive und erfolgt hier lediglich aus praktischen Gründen. Sie berücksichtigt daher nicht die Implikationen, die diese Bezeichnung bei manch anderen Autoren mit sich bringen könnte. Für eine umfassende Behandlung der diversen Ausdrücke vgl. etwa die Darstellungen von Schröter/ Carius (2009), Niehr (2013 sowie 2014a) und Girnth (2015). Dies ist die Perspektive, die etwa das HSK 14.2 - Fachsprachen kennzeichnet. Dort wird in einem den Institutionensprachen gewidmeten Teil zwischen der politischen Fachsprache, der juristischen Fachsprache und der Sprache der Verwal‐ tung unterschieden. Steger (1989: 125 f.) scheint hingegen die Sprache der Politik nicht zu den Institutionensprachen zu zählen, da er in einem darauf bezogenen Eintrag des 1989 erschienenen Staatslexikons nur den „Typ der Rechts- und Verwaltungs(fach)-S[prache] (RVS)“ erwähnt. 40 Manchmal werden die Rechtssprache und die Verwaltungssprache der als Oberbegriff verstandenen Sprache der Politik untergeordnet. 41 Dies geschieht z. B. in einigen typologischen Differenzierungen, die „zwischen spezifischen funktionalen Handlungszusammenhängen, Kommunikationsbereichen, ‚Inter‐ aktionsrahmen‘, ‚Interaktionskonstellationen‘ bzw. ‚Sprachfeldern‘ innerhalb der ‚Sphäre‘ der Politik bzw. des Politischen“ (Reisigl 2011: 455) unterscheiden. Über eine Auswahl solcher Versuche, die sich ab den 1960er Jahren im deutsch‐ sprachigen Sprachraum abzuzeichnen beginnen und die Reisigl (ebd.) unter dem Stichwort „funktionale feldtypologische Annäherung“ an die Sprache der Politik auffasst, gibt die folgende Tabelle (Tab. I.1.1) einen allgemeinen Überblick: 35 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="36"?> Edelman (1964) Dieck‐ mann (1975) Bergsdorf (1983) Grünert (1983) Strauß (1986) Klein (1991) Girnth (1996) Reisigl (2011) language styles Sprach‐ stile Sprach‐ felder Sprach‐ spiele Sprachspiele Interakt‐ ionsrahmen Handlungsfelder Handlungsfelder • horatory language • Sprache der Überre‐ dung • Sprache der politi‐ schen Pro‐ paganda • Infor‐ mativpersua‐ sives Sprach‐ spiel • Öffentlichpolitische Meinungs‐ bildung • Politische Willensbil‐ dung • Öffentlich-poli‐ tische Mei‐ nungsbildung • Öffentliche po‐ litische Mei‐ nungs-, Einstel‐ lungs- und Willensbildung • Meinungs- und Wil‐ lensbildung in Institu‐ tionen • Zwischenpar‐ teiliche Mei‐ nungs-, Einstel‐ lungs- und Willensbildung • Innerpar‐ teiliche Willensbil‐ dung • Innerparteiliche Willensbildung • Innerparteiliche Meinungs-, Ein‐ stellungs- und Willensbildung • Politische Werbung • Politische Werbung • Politische Wer‐ bung • Politische Wer‐ bung • Sprache der politi‐ schen Er‐ ziehung • Politische Bildung • bargai‐ ning lang‐ uage • Sprache der Ver‐ • Sprache der Ver‐ handlung • Instru‐ mentalbegeh‐ 36 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="37"?> hand‐ lung rendes Sprach‐ spiel • legal language • Sprache des Ge‐ setzes • Sprache der Gesetz‐ gebung und Recht‐ sprechung • Regula‐ tives Sprach‐ spiel • Gesetzge‐ bung • Gesetzgebungs‐ verfahren • Gesetzgebungs‐ verfahren • adminis‐ trative language • Sprache der Ver‐ waltung • Sprache der Ver‐ waltung • Politische Exe‐ kutive/ Vollzie‐ hung und Ad‐ ministration • Zwischenstaat‐ liche bzw. inter‐ nationale Bezie‐ hungsgestaltung • Integra‐ tives Sprach‐ spiel • Politische Kon‐ trolle und poli‐ tischer Protest Tab. I.1.1: Typologische Differenzierungen des Kommunikationsbereichs Politik im Vergleich 37 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="38"?> 42 In diesem Abschnitt (I.1.2.1.1) gilt es hauptsächlich, zu betonen, dass die Rechtsbzw. Verwaltungssprache (häufig) als Unterkategorie der Sprache der Politik betrachtet wird. Den Bedeutungen der Begriffe, die die verschiedenen Autoren verwenden, sowie den genauen Entsprechungen zwischen Ausdrücken bzw. Kategorien wird daher nicht weiter nachgegangen. 43 Vgl. Adamzik (2018b: 283 f.). Vgl. auch Sarcinelli/ Knaut (2016: 526 f.), die die Rolle der Medien und der Parteien als Politikvermittlungsinstanzen hervorheben. Genaue Erläuterungen der von den verschiedenen Autoren benutzten Begriffe finden sich in den inzwischen zahlreich gewordenen linguistischen Darstel‐ lungen zum Thema Politik (vgl. z. B. Reisigl 2011, Kuße 2012, Niehr 2014b oder Girnth 2015). 42 In ihnen wird u. a. präzisiert, dass der Ausdruck Sprachspiel bei Grünert eine leicht andere Bedeutung hat als bei Strauß. Bei letzterem ist ein Sprachspiel „der konkrete Ort, in dem bestimmte Interaktionen mit be‐ stimmten Interaktionspartnern, die bestimmte Rollen, ein bestimmtes Wissen, bestimmte Aufgaben und Interesse haben, stattfinden“ (Strauß 1986: 5). Nach Grünert sind dagegen Sprachspiele „‚Denk-, Sprach- und Handlungsstruk‐ turen‘ (Grünert 1984: 31), die nicht - wie bei Strauß (1984/ 85) - eine bestimmte gesellschaftlich-historische Konstellation widerspiegeln“ (Girnth 2015: 47). Ein Interaktionsrahmen ist nach Klein (1991: 247) ein Komplex, innerhalb dessen „das funktionale Zusammenspiel der Textsorten untersucht wird“. Handlungsfelder bilden bei Girnth (2015: 45) „den äußeren Handlungsrahmen bzw. die kommunikativ-institutionellen Voraussetzungen für die politische Sprachverwendung und lassen sich als Kombination aus Sach- und Hand‐ lungsbereich beschreiben“. Eine etwas andere Typologisierung des Politischen schlägt Kuße (2012: 138 f.) vor, der zwischen drei „institutionelle[n] Kommunikations‐ bereiche[n]“ unterscheidet: primäre offizielle Institutionen der Politik (Re‐ gierung, Ämter, Parlament, Ausschüsse, Gremien, Parteien); politische Bewegungen (Bürgerbewegungen, Nichtregierungsorganisationen); Medien (Printmedien, Rundfunk, Fernsehen, Neue Medien). Dabei handelt es sich um Bereiche, die „miteinander verbunden sind, diskursive Netzwerke bilden und in diesen Netzwerken miteinander interagieren“. Demnach versteht Kuße seine Klassifizierung lediglich als „grobe Orientierung“. Bemerkenswert ist hier, dass er den Schwerpunkt nicht auf die funktionale Dimension legt, sondern auf die Akteure, die in der Politik handeln, wobei auch die Rolle der Normalbürger und der Medien bei der Mitgestaltung des öffentlichen Lebens hervorgehoben wird. 43 Mit dem von Kuße benutzten Begriff Kommunikationsbereich arbeitete insbesondere die Tradition der Funktionalstilistik, der eigentlich die Einfüh‐ 38 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="39"?> 44 Vgl. etwa die Definition von funktionalem Stil nach Riesel (1963: 10; hier zitiert nach Becker 2001: 54; Fettdruck im Original gelöscht): „Unter dem funktionalen Stil verstehen wir die historisch veränderliche, funktional und expressiv bedingte Verwendungsweise der Sprache auf einem bestimmten Gebiet menschlicher Tätigkeit, objektiv verwirklicht durch eine zweckentsprechend ausgewählte und gesetzmäßig geordnete Gesamtheit lexischer, grammatischer und phonetischer Mittel“. 45 Der Geschichte der Funktionalstilistik geht Becker (2001: 54 ff.) kurz nach. Sie weist auf die Unterschiede in den verschiedenen Traditionssträngen hin. Diese betreffen u. a. auch die Anzahl der unterschiedenen Bereiche und Funktionalstile: „Dennoch besteht keine Einigkeit darüber, welche und wieviele Funktionalstile existieren“ (ebd.: 55). 46 Zur Rolle der Funktionalstilistik in der sprachwissenschaftlichen Forschung vgl. Na‐ brings (1981) und Adamzik (2016c und 2018b). Zur Bedeutung und Rezeption des Begriffs Kommunikationsbereich vgl. (ebd.). Für einen Überblick über diverse Subdiffe‐ renzierungen der gesellschaftlichen Kommunikation vgl. Adamzik (2016c; bes. Tabelle 4.1, S. 132), Fluck (1996: 72 ff.) und Löffler (2016: 107 f.). 47 Mit Bezug auf die verfahrensbestimmten Interaktionsrahmen betont Adamzik (2018b: 281), dass man dabei „am ehesten von einer politikspezifischen Fachsprache sprechen“ kann. rung dieser Kategorie in die Sprachwissenschaft zu verdanken ist. In dieser Forschungstradition entspricht ein Kommunikationsbereich einem Funktions‐ bereich, der durch gewisse „soziale[.] und interaktionale[.] Beziehungen“ (Löffler 2016: 95; Hervorhebungen im Original gelöscht) gekennzeichnet ist. Funktionalität bezieht sich in diesem Zusammenhang „ausschließlich auf gesell‐ schaftliche Verhältnisse und nicht auf neutrale Gegenstände oder individuelle Absichten“ (ebd.). Jedem Funktionsbereich werden „bestimmte sprachliche Erscheinungs- oder Existenzformen zugeordnet“, nämlich die Funktionalstile (ebd.; Hervorhebungen im Original gelöscht). 44 Einen Funktionsbereich bzw. -stil bildet in der Funktionalstilistik der in dieser Arbeit im Mittelpunkt ste‐ hende Gegenstand Sprache im öffentlichen Leben. Dafür liegen verschiedene Bezeichnungen vor - u. a. öffentlicher Verkehr (Havranek und Riesel); Direktive, Verwaltung/ Amtsverkehr (Fleischer/ Michel) - und es wurden verschiedenartige Untergliederungen vorgenommen. 45 Als Beispiel wird hier die auf die 1970er Jahre zurückgehende Gliederung von Ischreyt angeführt, der die politische Fach‐ sprache in vier Funktionsbereiche mit entsprechenden funktionellen Sprachen teilt: Verwaltung und Organisation (Geschäftssprache und Umgangssprache); Gesetzgebung und Verträge - internationaler Verkehr (Geschäftssprache); Pro‐ paganda - politische Meinungsbildung (Umgangssprache); Politikwissenschaft (Wissenschaftssprache) (vgl. dazu Fluck 1996: 77 f.). 46 In den typologisch orientierten Überblicken über die Sprache der Politik werden die Rechtssprache und die Verwaltungssprache mit der institutionellen Dimension von Politik gleichgesetzt, die sich in der Anlehnung an regulierten Verfahren niederschlägt (vgl. I.1.1): 47 39 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="40"?> 48 Dieckmann (1975: 50 ff.) nimmt dabei eine weitere bzw. eine andere Differenzierung vor, indem er zwischen der Fachsprache eines Sachgebiets und der Fachsprache des verwalteten Sachgebiets (als „Sondersprache der politischen Experten des jeweiligen Sachgebiets“) unterscheidet. Wichtig ist hier zu betonen, dass es sich beim Sprachge‐ brauch in der Politik „immer um die Regelung irgendwelcher Sachbereiche“ handelt, „sofern es nicht ganz allgemein um die Prinzipien solcher Regelungen geht“ (Adamzik 2018b: 188). Die Institutionalität von Politik manifestiert sich in Verfahren, z. B. Gesetzgebungs‐ verfahren mit fester Schrittfolge und geregelten Relationen zwischen Textsorten (Ge‐ setzentwurf, Ausschussbericht, Experten-Gutachten etc.) und Interaktionsformaten (Plenardebatte, Ausschusssitzung, Hearing, etc.) (Klein 2009: 2113; Hervorhebung im Original). Die Sprache der Politik im engeren Sinn, die gemeinsprachlichen Vorstellungen entspricht, wonach Politik grundsätzlich in der Auseinandersetzung zwischen Parteien besteht, zeichnet sich hingegen durch ihren persuasiven Charakter aus: Die Abhängigkeit politischer Entscheidungen von der Zustimmungsbereitschaft an‐ derer hat auf allen Ebenen der Politik eine Präferenz für Persuasivität zur Folge. Sie dominiert die meisten politischen Interaktionstypen und Textsorten und prägt deren Lexik und Sprechhandlungsstruktur (Klein 2009: 2113). Durch Persuasion besonders geprägt ist das Ideologievokabular. Dies stellt einen der vier Sektoren dar, in die Klein (1989) die politische Lexik teilt. Das Ideologievokabular entspricht „jene[m] Bereich des Wortschatzes, mit Hilfe dessen politische Gruppen ihre Interpretationen und Bewertungen der politischsozialen Welt, ihre Grundsätze und Prioritäten kundgeben“ (Reisigl 2011: 456) - Beispiele dafür: Nation, parlamentarische Demokratie, Freiheit. Das Instituti‐ onsvokabular besteht in Bezeichnungen für politische Organisationen und Rollen, in „kodifizierte[n] Normierungen politisch institutionellen Handelns […] sowie [in] politik-spezifische[n] Bezeichnungen für politisches Handeln“ (Reisigl 2011: 456) - Beispiele: Gesetz, Entscheidung, Anhörung. Das Ressortvo‐ kabular ist dagegen das Vokabular, das „auf die einzelnen politischen Ressorts (Wirtschaft, Sozialpolitik, Finanzen, Umwelt usw.)“ (ebd.) bezogen ist. 48 Schließ‐ lich zählt zum politischen Wortschatz das allgemeine Interaktionsvokabular, das „von allgemeinsprachlichen Bezeichnungen für menschliche Interaktion durchzogen [ist], die weder ressortspezifisch noch ideologiesprachlich“ (ebd.) sind - Beispiele: Plan, verhandeln. Die Unterscheidung zwischen einer durch Persuasivität gekennzeichneten politischen und einer ‚neutraleren‘, institutionellen bzw. öffentlichen Kommu‐ 40 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="41"?> nikation nimmt man auch in interner bzw. verwaltungswissenschaftlicher Perspektive vor. Allerdings wird zugleich auf die Schwierigkeiten hingewiesen, beide Kommunikationsformen voneinander abzugrenzen: Es ist offensichtlich, dass die Kommunikation der politischen Parteien und ihrer Mit‐ glieder zur öffentlichen Debatte beiträgt und dass die Aktivitäten der institutionellen Machtzentren wie der Regierung einen äusserst politischen Charakter aufweisen. Dennoch scheint es aus verschiedenen Gründen zweckmässig, die Kommunikation der politischen Parteien von derjenigen der öffentlichen Institutionen und Organisa‐ tionen zu unterscheiden. Ein erster Unterschied zeigt sich darin, dass die öffentlichen Institutionen und Organisationen Regeln und Beschränkungen unterstellt sind, die für die politischen Parteien nicht gelten. Zweitens hat eine politische Partei im Vergleich zur Regierung oder einer Verwaltung völlig andere Ziele und Handlungsfreiheit - zum Beispiel bei der Wahl von Botschaften. Schliesslich - und dies ist der wohl wichtigste Grund - darf die öffentliche Kommunikation keine persönlichen oder parteibezogenen Interessen unterstützen, da sie sonst die Demokratie verfälschen würde. […] Die Unterscheidung zwischen politischer und öffentlicher Kommunikation ist wichtig. Dennoch gilt es zu beachten, dass naturgemäss auch die öffentliche Kom‐ munikation Informationen politischen Charakters enthält und dass diese politische Komponente nicht bei jedem Kommunikationstyp gleich ausgeprägt ist (Pasquier 2013: 407). Demnach könnte man öffentliche Kommunikationstypen nach der politischen Ausprägung differenzieren, die sie aufweisen. Eine Übersicht über solche Typen liefert die folgende Abbildung (Abb. I.1.1) aus verwaltungswissenschaftlicher Literatur (vgl. Pasquier 2013: 415): 41 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="42"?> Abb. I.1.1: Die Kommunikationstypen und ihr politischer Charakter (Pasquier 2013: 415) 42 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="43"?> 49 Alle Hervorhebungen in der Tabelle stammen von mir. Von der Vielfalt an Perspektiven, die für die Sprachverwendung im öffentlichen Leben vorhanden und auf unterschiedlich große Weltausschnitte bezogen sind, zeugt besonders gut das in den 1980er Jahren erschienene Buch Die Sprache des Rechts und der Verwaltung (1981). Dabei handelt es sich um die Akten eines Kolloquiums über Normen der Gesetzes- und Verwaltungssprache, an dem Experten verschiedener Domänen (Linguisten, Juristen usw.) teilnahmen. Zu betonen ist hier, dass die Autoren des Bandes allgemein mit denselben Ausdrü‐ cken operieren, die allerdings mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancierungen assoziiert werden. Die Autoren legen demnach den von ihnen verwendeten Begriffen ein verschiedenes Verständnis zugrunde und untergliedern denselben Gegenstandsbereich unterschiedlich. Die Beiträge sind entsprechend einer groben Aufteilung geordnet, wonach sie entweder dem Begriff Rechtssprache oder Verwaltungssprache oder Formularsprache zugeschrieben werden. Die drei Wörter werden unter der Oberkategorie öffentliche Fachsprachen eingeordnet. Einige Ausdrücke und Begriffsbestimmungen, die sich bei den einzelnen Ver‐ fassern im Band finden, sind zur Illustration in der Tabelle (Tab. I.1.2) unten zusammengestellt: 49 43 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="44"?> Radtke Daum Fotheringham Oksaar Nüssler Diederich Grosse ‚Gesetzes‐ sprache‘ und ‚Verwaltungs‐ sprache‘ ver‐ wende ich hier als Gattungsbe‐ zeichnungen für eine ganze Reihe von Spielarten, die sich zwar bei aller struktu‐ rellen Verwandt‐ schaft durch be‐ stimmte Elemente unter‐ scheiden, […]. Diese Struktur‐ verwandtschaft scheint mir durch den Ort vorgegeben zu sein, an dem diese Sprachver‐ wendungs‐ weisen ent‐ standen sind und sich dort […] fortentwickeln. Auch diesen ‚Ort‘ könnte man entsprechend differenzieren Richtig ist es wohl, die ge‐ samte Sprache des Rechtsle‐ bens als eine, und zwar nur eine Fachsprache anzusehen, mag man sie nun - am einfachsten und wohl am besten - Rechtssprache […] oder Ge‐ setzes- und Amtssprache oder juristischadministrative Sprache oder Amtsdeutsch […] oder Ge‐ richts- und Be‐ hördentermi‐ nologie oder Rechts- und Verwaltungs‐ sprache nennen. Etwas zu eng er‐ scheint demge‐ genüber der Ter‐ minus ‚Gesetzes- und Verwaltungs‐ Wie das Thema des Kolloquiums besagt, sollen der Untersuchung nicht die ge‐ samte Rechts‐ sprache, son‐ dern nur zwei ihrer Erschei‐ nungsformen, die Gesetzes‐ sprache und die Verwaltungs‐ sprache, zu‐ grundegelegt werden. (S. 100) Es entsteht zu‐ nächst die Frage, warum gerade die Gesetzes- und Verwal‐ tungssprache - damit meine ich die Sprache der Legislative, Ju‐ dikative und Exekutive, ohne weitere Un‐ terscheidungen vorzunehmen - stets Zielscheibe der Kritik ge‐ wesen ist. (S. 171) Die Gesetzes- und Verwal‐ tungssprache ist die Fach‐ sprache der drei Staatsgewalten (Legislative, Exe‐ kutive, Judika‐ tive). […] Man täte den Gesetz‐ gebern und den Ämtern unrecht, wollte man leugnen, daß die Merkmale der ‚Behörden‐ sprache‘ - hier verstanden als eine Art Oberbe‐ griff für ‚Ge‐ setzes- und Verwaltungs‐ sprache‘ - längst auch in halböffentlichen und privaten Be‐ reichen sichtbar werden. (S. 214f.) Man sollte zur heutigen Ver‐ waltungs‐ sprache noch sagen, daß es nicht mehr die Rechtssprache ist, sondern ganz allgemein die Vorschriften‐ sprache, die die Sprache der be‐ hördlichen Texte und Vor‐ drucke beein‐ flußt. (S. 233) Die Sprache des Rechts und der Verwaltung sind nicht klar voneinander ab‐ zugrenzen; denn sie haben eine große gemein‐ same Schnitt‐ menge, und sie berühren sich häufig. Das ist verständlich - schließlich ruht die Arbeit der öf‐ fentlichen Ver‐ waltung auf der Gesetzgebung, die sie zu wahren und praktisch anzuwenden hat. Am Beginn der historischen Ent‐ wicklung sind vermutlich beide Gebiete mitein‐ ander identisch gewesen, und es hat sich die Sprache der Verwaltung erst allmählich aus 44 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="45"?> nach Ämtern, Behörden, Ge‐ richtssälen usw., die aber wie‐ derum vergleich‐ bare Strukturen aufweisen und sich - global gesehen - im bü‐ rokratischen System wieder‐ finden. Einfach gesagt, könnte man also von der ‚Sprache der Bürokratie‘ reden. Man müßte dann aber auch einen pejo‐ rativen Unterton in Kauf nehmen. (S. 70) sprache‘, weil er weite Felder des Rechtslebens wie Gerichtswesen, Anwaltschaft und Notariat außer Acht läßt. (S. 84) der Rechts‐ sprache heraus‐ geschält, diese erweitert und schließlich […] in vielen Bereichen ihre Eigenstän‐ digkeit ge‐ funden. (S. 268) Tab. I.1.2: Begriffe, die auf die Sprachverwendung im öffentlichen Leben bezogen sind, im Vergleich 45 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="46"?> In ihrem Forschungsüberblick über die Verwaltungssprache merkt Fuchs- Khakhar (1987) an, wie vielfältig in Einzelstudien verwendete Begriffe bzw. Begriffsbestimmungen sind und wie sehr sie voneinander abweichen können: In ihnen [vielen Untersuchungen] wird zusammenfassend von der ‚Rechts- und Verwaltungssprache‘ gesprochen, oder die Verwaltungssprache wird als Teil der Rechtssprache angesehen. In anderen Abhandlungen wird die Gesetzessprache in Zusammenhang mit der Verwaltungssprache gebracht (Fuchs-Khakhar 1987: 2). In diesem Kontext liefert die Autorin zugleich ihre eigenen Begriffsdefinitionen bzw. sie sagt aus, was sie in ihrer Arbeit mit den benutzten Begriffen meint: Dabei verstehe ich ‚Rechtssprache‘ als Oberbegriff, mit dem alle Sprachvarianten von Texten mit rechtlicher Bedeutung bezeichnet werden. Unter diesen interessieren hier die ‚Verwaltungssprache‘, die die Texte der staatlichen Behörden prägt und die ‚Gesetzessprache‘, in der Gesetze und Verordnungen verfaßt sind (ebd.). Manchmal wird nicht ausdrücklich gesagt, was man unter bestimmten Begriffen versteht. Damit geht folglich eine gewisse Unschärfe bei der Begriffsinterpreta‐ tion einher. Dies ist etwa der Fall bei Ebert (2011a), der in seinem Aufsatz Sprache, Recht und Verwaltung zwischen unterschiedlichen Ausdrücken alterniert. So benutzt er anscheinend synonym: „Rechts- und Verwaltungssprache“ (S. 95, 96, 100, 101), „Verwaltungssprache“ (S. 95, 96, 101), „Rechtssprache“ (S. 97), „Gesetzes- und Verwaltungssprache“ (S. 100). Daraus resultiert eine gewisse Unbestimmtheit, die bei genauerem Hinsehen Verständnisprobleme bewirken könnte. Man könnte sich nämlich fragen, ob der Autor mit Variation in der Ver‐ wendung der Ausdrücke auch eine verändertere Ausdrucksabsicht verbindet. Den Eindruck einer unscharfen Abgrenzung zwischen Sprachvarietäten erweckt schließlich auch das Metzler Lexikon Sprache (Glück 2010), schlägt man in den einschlägigen Einträgen nach, die dort verzeichnet sind. Verwaltungs‐ sprache wird zum einen als Synonym für Behördensprache betrachtet; zum anderen wird sie als „Spezialfall der Amtssprache, der Geschäftssprache und der Staatssprache im Unterschied zur Gerichtssprache“ (ebd.: 754) definiert. Unter den im Lexikon erwähnten Ausdrücken fallen Behördensprache und Amtssprache besonders auf. Denn es sind die Bezeichnungen, die man häufig heranzieht, um sich alltagssprachlich auf die ‚Verwaltungssprache‘ zu beziehen. 1.2.1.2 Verwaltungssprache und Alltag Während das Wort Verwaltungssprache als festes Kompositum in der Lingu‐ istik vorkommt, ist es in gemeinsprachlichen Wörterbüchern - sowohl in Online-Versionen als auch in gedruckten Fassungen - nicht verzeichnet. Das 46 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="47"?> 50 Vgl. http: / / www.duden.de/ ueber_duden; 07.01.2020. Vgl. dazu Adamzik/ Alghisi (2017: 45). 51 Gülich (1981: 322) betont, dass die Kritik an der Verwaltungssprache seit langer Zeit „äußerst populär“ ist. Auf den stereotypen Charakter der Behauptung, die Rechts- und Verwaltungssprache sei schwerverständlich, legt Warnke besonderen Nachdruck (vgl. Warnke 2001 und 2005). Zu diesem Thema vgl. I.3.3. Deutsche Universalwörterbuch des Dudens, der „verlässliche[n] Instanz für alle Themen rund um die deutsche Sprache und Rechtschreibung“, 50 enthält z. B. Verwaltungssprache nicht als Lemma. Aufgeführt sind dort vielmehr andere verwandte Bezeichnungen mit derselben oder ähnlicher Bedeutung. Dazu zählt das Wort Behördensprache, das durch Amtssprache erläutert wird. Betrachtet man die Lesarten, die letzterem Lemma zugeordnet werden, bemerkt man, dass hier zwischen zwei Bedeutungsvarianten unterschieden wird. Auf der einen Seite lässt sich Amtssprache im sprachpolitischen Sinn als die „offizielle Sprache eines Staates“ bzw. die „Sprache der Gesetzgebung“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch 8 2015) verstehen, die teilweise in der Verfassung eines Staates festgelegt wird. Auf der anderen meint man damit die „Sprache der Verwaltung, der Behörden“. Bemerkenswert ist nun, dass diese zweite Definition markiert ist. Durch die Kennzeichnung „oft abwertend“ wird im Wörterbuch hervorgehoben, dass der Begriff Amtssprache im Sinne von behördlichem Sprachgebrauch in der Regel negativ konnotiert ist. Wenn man das hier in Frage stehende Wort benutzt, bezieht man sich also einerseits auf die sprachlichen Mittel, die üblicherweise in den Behörden gebraucht werden; andererseits teilt man gleichzeitig ein gewisses Weltwissen bzw. weitverbreitete Stereotype über dieses sprachliche Handeln mit. Nämlich die Tatsache, dass die Sprache der Verwaltung Verständ‐ nisprobleme für Bürger bereitet bzw. dass sie für schwer lesbar gehalten wird und somit oft „nicht im demokratischen Sinne zugänglich und handhabbar“ (Hohenstein/ Rehbein 2009: 2152) ist. Den schlechten Ruf, eine Barriere für den Durchschnittsmenschen darzustellen und Kommunikationskonflikte zu verursachen (vgl. I.1.2.1.3), hat Verwaltungssprache seit geraumer Zeit. 51 Im Rahmen des Abbaus der absolutistischen Herrschaft, der Verbreitung aufklä‐ rerischer Prinzipien wie der „Verständlichkeit für alle“ (vgl. Polenz III; 1999: 485) und im Kontext der „zunehmenden Selbstorganisation der Gesellschaft im Industriezeitalter“ (ebd.) sowie ihrer allmählichen Demokratisierung wurde die Sprache der Regierenden, die bis zum späten 18. Jahrhundert als Kanzleistil bekannt war und in höfischen Kanzleien „eine deutliche Distanz zwischen Obrigkeit und Untertan“ geschaffen hatte (vgl. Wagner 1970: 104), immer wieder 47 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="48"?> 52 Unter Kanzlei versteht Sowinski (1998: 882) „alle Einrichtungen der Administration, Justiz und amtlichen (fürstlichen, staatlichen, juristischen, kirchlichen, kommunalen) Verwaltung“. Er definiert Kanzleistil als „die Gesamtheit der sprachstilistischen Eigen‐ heiten, die im Bereich der Kanzleien […] bei den dort anfallenden Formulierungen erforderlich werden und vorkommen“. Dabei betont er, dass der Begriff Kanzleistil „sowohl als Sach(bereichs)begriff als auch als [negativ konnotierter] Wertungsbegriff verwendet [wird]“ (ebd.): „Mit dem wachsenden Interesse breiterer Volksschichten an öffentlichen und politischen Angelegenheiten, wie es durch demokratisches Denken sowie durch die Zunahme an Zeitungen im 19. Jh. gefördert wird, gerät auch der veraltet wirkende K[anzleistil] immer häufiger in die Kritik der Stillehrer, die hierin den Gipfel einer unnatürlichen Sprache sehen“ (ebd.: 886). Vgl. dazu auch Asmuth (2012). 53 Die Diskussion über die Sprache und die typische Ausdruckweise der Verwaltung ging im Laufe des 20. Jahrhunderts Hand in Hand mit der Entwicklung verschiedener Sichtweisen auf die Verwaltungsarbeit und mit dem Aufeinanderfolgen diverser Kon‐ zeptionen über das Verwaltungshandeln und das Verhältnis zwischen Behörden und Bürgern. Es geht dabei insbesondere um den Wandel von Bürokratie über Management zum Paradigma der Governance (vgl. Fluck 2010; Hablützel 2013 und Adamzik 2016a). Zu diesen Themen siehe insbesondere I.3.1. 54 Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Gesellschaft für deutsche Sprache durchgeführt hat, hat im Jahr 2008 ergeben, dass die Frage nach der Verständlichkeit amtlicher Schreiben „ein Thema von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung“ (Eichhoff-Cyrus/ Antos/ Schulz 2009: 13) ist. Zu ähnlichen Ergebnissen ist man 2019 in einer jüngsten Umfrage der deut‐ schen Bundesregierung gekommen (vgl. https: / / www.zeit.de/ news/ 2019-12/ 06/ behoe rden-haben-nachholbedarf-beim-thema-verstaendlichkeit; 20.12.2019; zur Vertiefung vgl. Kühnhenrich/ Michalik 2020). in Frage gestellt. 52 Besonders im Laufe des 19. Jahrhunderts, als immer weitere Bevölkerungskreise ins Verwaltungshandeln einbezogen wurden, breitete sich die Kritik an der Schwerfälligkeit der Verwaltungssprache und ihrer allgemein unterstellten mangelnden Bürgernähe sowie an ihrer Verwendung als Macht‐ instrument aus. Diese Kritik erlebte dann einen großen Aufschwung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Korns Werk erschien (vgl. I.1.2.1). Das Buch löste „mit [sein]em kulturkritischen Impetus eine lebhafte, letztlich fruchtbare Debatte“ (Knoop 1998: 870) aus, die im Zeichen von Begriffen wie Sprachkultur, Sprachpflege und Sprachkritik stand (vgl. Kalverkämper 1998: 52; Oksaar 1998: 805 und Janich/ Rhein 2010). Solche Begriffe und die damit verbun‐ denen Implikationen sind heute immer noch aktuell und in der öffentlichen Meinung - und nicht nur unter Sprachexperten - sehr präsent. 53 Die Frage der umständlichen Verwaltungssprache hat also in der Öffentlich‐ keit von ihrer Brisanz nichts verloren. 54 Dies zeigt sich etwa in der breiten Re‐ sonanz, die sie immer wieder in den Medien hat. Das lässt sich am Beispiel der 48 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="49"?> 55 Dabei handelt es sich um einen in journalistischer Unabhängigkeit auftretenden Auslandssender Deutschlands, der spezifische Sendungen an Deutschlehrende und -lernende richtet. Vgl. http: / / www.dw.com/ de/ unternehmen/ profil/ s-30626; 06.12.2016. 56 Vgl. Otto (1978: 12): „Wenn die Amtssprache auch zunächst Fachsprache ist, so sind doch von ihren Aussagen die Bürger unmittelbar ‚betroffen‘“. Im Hinblick auf die Rechtswelt merkt Nussbaumer (1997: 1 f.) an: „An dieser Institution [dem Rechtswesen] partizipieren wir alle tagtäglich und meist, ohne uns dessen bewusst zu sein: Wir schliessen Rechtsgeschäfte ab, indem wir etwas kaufen oder uns in ein öffentliches Verkehrsmittel setzen; wir nehmen Rechte wahr, indem wir an politischen Wahlen und Abstimmungen teilnehmen, unserem Kind unentgeltliche Schulbildung zuteil werden lassen oder unsere Meinung zur Lage der Nation kundtun; wir kommen Verpflichtungen nach, indem wir vor der roten Ampel stehen bleiben oder unsern Müll nur in die dafür vorgesehenen Behälter entsorgen“. Deutschen Welle (DW) 55 gut erläutern. In den letzten Jahren hat sich der Sender mehrmals mit der in Ämtern gebrauchten Sprache beschäftigt. Das Thema wurde u. a. in zwei Folgen der für Deutschlerner konzipierten Podcast-Reihe „Alltagsdeutsch“ behandelt. Die Wahl, die Frage der Schwerverständlichkeit der Verwaltungssprache in den Rahmen eines der Alltagssprache gewidmeten Programms zu stellen, lässt sich dadurch rechtfertigen, dass der Alltag der Mitglieder demokratischer Gesellschaften stark von Handeln und Sprache der Verwaltung geprägt ist und dass davon tatsächlich alle betroffen sind. Die Verwaltung erstreckt sich auf immer mehr Lebensbereiche, so daß jeder Bürger mit mehreren Teilgebieten der öffentlichen Ordnung mehr oder weniger zu tun hat (Polenz III; 1999: 489). Wie Serianni betont, geht es dabei um aspetti essenziali della vita di un cittadino: la sua attività lavorativa (dall’assunzione al pensionamento), i suoi guadagni, la sua salute (Serianni 2003: 140). In diesem Zusammenhang gehört also die Sprache der Verwaltung zum sprachlichen Leben jedes Einzelnen und sei es nur dadurch, daß er amtliche Hinweisschilder, Bekanntmachungen oder Vordrucke liest (Wagner 1970: 7). 56 Dies erklärt nicht zuletzt, wieso die Verwaltungssprache ständig allgemeines öffentliches Interesse erregt und „immer wieder zu Kritik geführt hat und auch weiterhin führt“ (Fluck 2010: 151). Denn „es geht alles nur noch bürokratisch zu“ (Radtke 1981b: 78). Alltag und Verwaltung werden in der Funktionalstilistik als zwei auf der‐ selben Ebene angesiedelte, aber getrennte Kategorien bzw. Funktionsbereiche betrachtet (vgl. I.1.2.1.1). An diese Einteilung lehnt sich Löffler in seiner ein‐ flussreichen Einführung in die Sprachvarietäten des Deutschen an (Löffler 49 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="50"?> 57 Adamzik (2016a: 226; Hervorhebung im Original gelöscht) betont in diesem Zusam‐ menhang, dass es „im Rahmen der Unterscheidung verschiedener Welten […] um deren Wirklichkeitsstatus [geht], in der Funktionalstilistik dagegen um sprachlich-stilistische Aspekte“. Vgl. auch Adamzik (2018b: 99 ff.). 58 Vgl. dazu die Ausführungen in Becker (2001: 99): „Die alltägliche Wirklichkeit gilt als oberste Wirklichkeit, die für alle Menschen in einer Gesellschaft verbindlich, unhinterfragt und Grundlage der normalen, lebensnotwendigen Kommunikation ist“. Siehe außerdem Keppler (2016: 565): „Der Alltag wird so als jener Realitätsbereich menschlicher Gesellschaften kenntlich, dem eine tragende Bedeutung für alle weiteren Formen des Denkens, Handelns und Erlebens zukommt“. 5 2016: 94 ff.). Dort rechnet er mit den Dimensionen Alltag - und der damit verbundenen Alltagssprache - und öffentlicher Verkehr - in Verbindung mit Verwaltungssprache. Er weist jedoch auf die Wechselwirkung zwischen den Sprachvarietäten hin: Dieser Sprach- und Funktionsbereich [die Verwaltungssprache] vermischt sich fast übergangslos mit Alltagssprache, Fach- und Wissenschaftssprache (Löffler 5 2016: 109). Eine andere Perspektive, die die Komplexität des Alltags und das Ineinander‐ greifen zwischen dieser Dimension und öffentlicher Verwaltung tiefergehend zu erfassen versucht, stellen die Ausführungen der Autoren dar, die die Sozial‐ phänomenologie von Schütz bzw. den dort entwickelten Begriff Welt wieder aufnehmen und daran ansetzen. Unter Welt versteht Schütz - dessen Werk sich in die Tradition der Phänomenologie Husserls stellt und durch die „Auseinan‐ dersetzung mit Max Webers Soziologie des Verstehens“ (vgl. Becker 2001: 97) charakterisiert - „nicht ontologische Gegebenheiten“ (Schwitalla 1976: 25), son‐ dern „Weisen der Erfahrung der Wirklichkeit“ (ebd.). Schütz spricht dabei von finite provinces of meaning, von geschlossenen Sinnbereichen (vgl. Becker 2001: 99 f.). 57 Er unterscheidet zwischen verschiedenen Welten (Welt der Träume, der imaginären Vorstellungen und der Phantasie - wie die Welt der Kunst - Welt der religiösen Erfahrung, Welt der wissenschaftlichen Kontemplation, Spielwelt des Kindes, Welt des Wahnsinns), die der „Welt des Wirkens im alltäglichen Leben“ (Schütz 1945/ 1971: 266 f.) untergeordnet sind. Letztere bilde den „Archetyp unserer Erfahrung der Wirklichkeit; alle anderen Sinnbereiche dürfen als von ihr abgeleitet angesehen werden“ (ebd.). Die Lebenswelt des Alltags definieren Berger/ Luckmann, die die Theorien von Schütz ausgebaut haben, als die Wirklichkeit, „die dem Verstand des gesellschaftlichen Normalverbrauchers zugänglich ist“ (Berger/ Luckmann 1980: 21). 58 Den Welt-Begriff zieht Schwitalla (1976) für seine Abgrenzung zwischen alltäglicher, wissenschaftlicher und poetischer Sprache heran. Der Autor weist darauf hin, dass für die verschiedenen Welten verschiedene Regeln der Referenz 50 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="51"?> 59 Die funktional-zweckhafte Leistung der Inhaltssysteme stellt eine der drei Dimensionen dar, auf deren Grundlage Steger (1988) die deutsche Sprache gliedert. Bei den anderen Dimensionen handelt es sich um den historischen Zeitpunkt und die soziale (sozialräumliche bzw. sozietäre) Reichweite der Ausdruckssysteme. Den verschiedenen Dimen‐ sionen lassen sich Teilsysteme des Deutschen (d. h. Varietäten) zuordnen. Mehr dazu in Becker (2001), die eine detaillierte Darstellung der Theorien Stegers liefert. 60 Für eine ausführlichere Behandlung des Begriffs Alltag vgl. Adamzik (2016a, 2016c, 2018b). und der Prädikation gelten (vgl. Schwitalla 1976: 30 ff. und Becker 2001: 101). In diesem Kontext kommt er zu dem Schluss, dass [d]er nicht alltagsprachliche Gebrauch von Sprache […] nur in speziell gekennzeichneten kommunikativen Situationen vor[kommt]. Die äußere Gestalt dieser nicht alltagssprach‐ lichen Sprechweisen ist der Alltagssprache entliehen oder baut auf ihr auf (wissen‐ schaftliche Termini, poetische Wortschöpfungen). Die verständnisleitenden Regeln ihrer semantischen und pragmatischen Bedeutung sind gekennzeichnet durch eine bestimmte Weise des Hinsehens auf die Dinge, von denen die Rede ist (Schwitalla 1976: 38). Auf Welten nimmt auch Steger (1988) Bezug. Nach ihm sind diese „der Ausgangspunkt der Unterscheidung verschiedener Kommunikationsbereiche“ (Becker 2001: 97). Jedem Kommunikationsbereich entspricht jeweils ein Se‐ mantiksystem in der Dimension funktional-zweckhafte Leistung, das durch semantische bzw. strukturelle Prinzipien bestimmt ist. Der Alltagssemantik, der biographisch und motivational ein Primat zukommt (vgl. Steger 1988: 298 und Becker 2001: 87 ff.), „stehen die Institutionen/ fach/ semantiken, Technik/ fach/ semantiken, Wissenschafts/ fach/ semantiken, Literatursemantiken und Religions- und Ideologiesemantiken gegenüber“ (Becker 2001: 67; Hervorhebungen A.A.). 59 Alltagswelt heißt bei Adamzik (vgl. 2016a und 2016c) Standardwelt. Dabei ist für die Autorin treffender, den Ausdruck im Plural - also Standardwelten - zu benutzen. Damit wird hervorgehoben, dass „das, was für den Durchschnittsmen‐ schen normal und unfraglich gültig ist, von Gesellschaft zu Gesellschaft variiert“ (Adamzik 2016a: 228). Der Zusammenhang zwischen Alltag und Verwaltung zeichnet sich insofern ab, als die Alltagswelt das für alle als fraglos Reale umfasst. Zu diesem ‚Realen‘ zählen nicht nur selbstverständlich die Medien, sondern alle Kommunikationsbereiche [- darunter auch die Verwaltung -], denn bei diesen geht es um eine Gliederung von Handlungsbereichen innerhalb gegebener Standardwelten. Was deren Zugänglichkeit betrifft, so ist mit einer Skala zu rechnen, die von hochvertrautem bis zu unvertrautem Wissen reicht (vgl. Schütz/ Luckmann 1979: 175) (Adamzik 2016a: 229; Hervorhebung im Original gelöscht). 60 51 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="52"?> 61 Von den genannten Ausdrücken treten - neben Verwaltungssprache - auch Bürokraten-, Verwaltungsdeutsch, Behörden-, Verwaltungschinesisch und Bürokratenspeak im Duden nicht als eigenständige Stichwörter auf. 62 Es gibt auch Publikationen im scherzhaften Ton, die für Unterhaltungszwecke die typischen stilistischen Merkmale der Verwaltungssprache ins Visier nehmen. Vgl. z. B. Beamten- Deutsch. Eichborns boshafter Sprachführer durch das Kauderwelsch der Bürokratie; Raum‐ übergreifendes Großgrün: Der kleine Übersetzungshelfer für Beamtendeutsch; Langenscheidt Unwörterbuch Behördisch. In den genannten „Alltagsdeutsch“-Episoden aus der DW rückt das Ärgernis des Durchschnittsbürgers über die Verwaltungssprache ins Blickfeld, indem man auf die Existenz pejorativer Ausdrücke wie Fachchinesisch und Amts‐ schimmel aber auch Verwaltungsdeutsch oder des in diesem Abschnitt schon erwähnten Ausdrucks Amtssprache verweist. Dieses Lemma hängt im Duden u. a. mit dem Wort Amtsdeutsch zusammen, das als Erläuterung des Begriffs Amtssprache auftritt und dem im Wörterbucheintrag zu Amtssprache das Attribut trocken vorausgestellt wird. Dabei handelt es sich um ein Adjektiv, das in der Regel negativ besetzt ist, wenn es auf Sprachliches bezogen ist. Tatsächlich gibt es eine ganze Palette deutschsprachiger Bezeichnungen, die eine ablehnende Haltung gegenüber dem Bezeichneten - der Verwaltungssprache - unterstellen bzw. ausdrücken. Zu den Appellativa, die geprägt wurden, um sich auf das sprachliche Handeln der Verwaltungen zu beziehen und die gewisse abwertende Konnotationen hervorrufen, zählen Beamten-, Behörden-, Bürokraten-, Kanzleideutsch; Behörden-, Verwaltungschinesisch; Bürokratenspeak, bürokratisch (vgl. Polenz III; 1999: 490; Ebert 2010; Fluck 2008: 117, 2010: 150). Solche Ausdrücke sind nicht nur in Wörterbüchern enthalten, 61 sie kommen auch in anderen Text‐ sorten vor. In Sprachratgebern und Stilfibeln greift man z. B. häufig darauf zu, wenn es darum geht, gewisse sprachliche Mittel oder stilistische Elemente auf den Index zu setzen. Im Duden Richtiges und gutes Deutsch (2011), der sich als „Sprachratgeber für sprachliche Zweifelsfälle“ versteht, ist beispielsweise vom Papierdeutsch die Rede. Das Wort, dem die in Klammer gesetzten Ausdrücke Amtsdeutsch und Kanzleideutsch gleichstehen, wird dort als „tadelnde[…] Bezeichnung für einen gespreizten, umständlichen, wenig lebendigen [Schreib]stil“ definiert. Dieser Erläuterung folgt eine Auflistung der Merkmale, die normalerweise von „Sprach‐ pflegern“ stigmatisiert werden: substantivische Fügungen, Substantivierungen, Präpositionen und das Passiv. 62 Abwertende Wörter gibt es auch in anderen Sprachen, denn eine kom‐ plexe Ausdrucksweise hat seit jeher das Verwaltungshandeln nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern überall charakterisiert. Fluck (2010: 149) spricht hierzu von einem „europäische[n] Problem“. Wenn er die Maßnahmen beschreibt, die getroffen werden, um der schwerverständlichen Verwaltungs‐ 52 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="53"?> 63 Der Ausdruck ist besonders in den Medien gebräuchlich. Vgl. z. B. http: / / www.corriere. it/ speciali/ burocratese.shtml; http: / / www.internazionale.it/ tag/ burocratese; http: / / ww w.repubblica.it/ cultura/ 2013/ 06/ 28/ news/ torna_burocratese-61998398/ ; 11.07.2016. 64 Das Wort erscheint zum ersten Mal im Wörterbuch Zingarelli von 1979 (vgl. Lubello 2014a: 227). Das entsprechende englischsprachige Wort bureaucratese geht stattdessen schon auf die 1930er Jahre zurück. 65 Im Hinblick auf die Griceschen Konversationsmaximen betont Adamzik (2016a: 233 f.), dass die „Mächtigen […] grundsätzlich im Verdacht [stehen], gegen die Maximen zu verstoßen […]. Während für Politik und Wirtschaft Verstöße gegen die Maxime der Qualität im Vordergrund stehen (fehlende Glaubwürdigkeit bzw. Manipulations‐ verdacht), ist es bei der Wissenschaft und der Verwaltung die Maxime der Modalität (mangelnde Verständlichkeit). Bei der Verwaltung gesellt sich dazu der Verdacht, dass viel zu viele (Quantität) und irrelevante (Relation) Informationen gegeben bzw. einge‐ fordert werden“. Wichter (1994) spricht in diesem Kontext von bestrittener Vertikalität: „Die bestrittene Vertikalität entspricht der (wechselseitigen) Unterstellung, dass sich die Kommunikationspartner nicht am Kooperationsprinzip orientieren“ (Adamzik 2018b: 119; Hervorhebungen im Original gelöscht). Vgl. dazu I.3. sprache entgegenzuwirken, weist er darauf hin, dass das Phänomen „über Europa hinaus“ (ebd.: 150; Hervorhebungen A.A.) verbreitet ist. Im italienischsprachigen Raum ist diesbezüglich das negativ konnotierte Wort burocratese gängig, 63 das ab Ende der 1970er Jahre verzeichnet wird. 64 Damit bezeichnet man lo stile comunicativo e il linguaggio inutilmente complicato utilizzati da amministra‐ zioni e istituzioni pubbliche nelle comunicazioni (prevalentemente scritte) connesse allo svolgimento dei loro compiti (Proietti 2010). Bei dieser aus einem Universallexikon stammenden Definition kommt das schlechte Image, das der Verwaltungssprache anhaftet, besonders durch das Attribut inutilmente complicato zum Vorschein. Dadurch fasst man pointiert das Argument zusammen, das im Mittelpunkt aller aus der Sprachkritik resultie‐ renden Anstrengungen zur Änderung der Verwaltungssprache steht und einer mala-fide-Haltung entspricht (vgl. Adamzik 2018b: 240). Die Überzeugung nämlich, dass Ehrfurcht vor Amtshierarchien, eine Sprachenauffassung, die Sprache als Herrschaftsinstrument ansieht, und / oder Inkompetenz das Han‐ deln behördlicher Mitarbeiter leiten. Und dass es in der Tat für Produzenten von Verwaltungstexten möglich ist, sich in einem deutlicheren Stil auszudrücken, der das unterstellte (sprachliche) Vorwissen eines Laien-Publikums berück‐ sichtigt bzw. an den Wissensvoraussetzungen der Adressaten ansetzt, ohne Rechtssicherheit zu gefährden und verwaltungssprachliche Rechtförmlichkeit sowie Sachlichkeit zu vernachlässigen. 65 Leitmotiv und Schlagwort eines sol‐ chen Gesichtspunktes bzw. solcher Reformierungsbemühungen wird in diesem 53 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="54"?> 66 Antiburocratese ist u. a. der Titel eines digitalen Wörterbuches des Verlags Zanichelli, das Beispiele für burocratese sammelt und entsprechende verständlichere bzw. geläu‐ figere Alternativen vorschlägt. Vgl. http: / / dizionaripiu.zanichelli.it/ antiburocratese/ ; 11.07.2016. 67 Das Wort erscheint im Titel des Buchs La burolingua quotidiana, das 1968 veröffentlicht wurde. 68 Es handelt sich um den Text Per ora sommersi dall’antilingua, der 1965 in der Zeitung Il Giorno erschien und dann 1980 in der Sammlung Una pietra sopra wieder publiziert wurde. 69 Calvinos Beispiel ist inzwischen paradigmatisch geworden und kommt in nahezu allen italienischen Studien vor, die das Problem der schwerverständlichen Verwaltungs‐ sprache thematisieren. Vgl. z. B. Viale (2008) und Lubello (2014b). 70 Vgl. http: / / www.treccani.it/ lingua_italiana/ speciali/ burosauro/ mainSpeciale.html; 18.04.2015. Zusammenhang der Ausdruck antiburocratese, der durch das Präfix anti explizit dem burocratese gegenübersteht und es zu bekämpfen versucht. 66 Mit der Verwaltungssprache und ihrer ‚unnötigen Kompliziertheit‘ haben sich in Italien auch berühmte Autoren auseinandergesetzt. Emblematisch sind dabei die Beiträge von Cesare Garelli und Italo Calvino, die in den 1960er Jahren sogar Ausdrücke prägten, um das zu benennen, was heute unter burocratese zu verstehen ist. Garelli sprach von burolingua 67 und nahm den journalistischen Stil und die Zeitungssprache besonders ins Visier. Die Schöpfung antilingua benutzte Calvino zum ersten Mal in einem Zeitungsartikel, 68 wo er eine Parodie der Besonderheiten der Sprache der Verwaltung präsentierte. Dort stellte der Autor zwei erfundene Berichte derselben fiktiven Begebenheit gegenüber. Den einen legte er in den Mund der Person, die die Episode erlebt hätte. Bei dem anderen handelte es sich um die vermeintlich offizielle Verschriftlichung des entsprechenden Ereignisses durch einen Amtsangestellten. Mit diesem Beispiel wollte der Schriftsteller zeigen, dass es für die Verwaltung typisch war, durch eine klare, verständliche Sprache ausgedrückte Wiedergaben von Vorkommnissen in umständlichere, abstraktere und dunklere Erzählungen zu übersetzen. 69 Ein weiterer Autor, der in den 1960er Jahren das hier im Mittel‐ punkt stehende Thema ansprach, ist schließlich der Schriftsteller Silvano Amb‐ rogi. Er führte das Wort burosauri ein, das er als Titel einer Kömodie verwendete. Damit fokussierte der Autor die Aufmerksamkeit auf das (sprachliche) Handeln der Verwaltungsleute: Diese seien wie Dinosaurier, denn sie benutzten Formeln und Ausdrücke, die nicht so häufig oder aus der Alltagssprache verschwunden seien und daher parlano e scrivono in modo complicato e autoreferenziale, ostacolando lo scambio trasparente tra Stato e cittadino. 70 54 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="55"?> 71 Vgl. I.3. 72 Die Internetseite zum Amtsdeutsch wurde im Juli 2016 besucht. Sie ist heute ( Januar 2020) nicht mehr vorhanden. Das Thema Qualität der Behördensprache ist allerdings immer noch zentral und wird nun in einem neuen Internettext behandelt, dessen Titel „Sprachpolitik“ lautet (vgl. https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ de/ home/ regierungsunterstu etzung/ sprachen/ sprachpolitik.html; 03.01.2020). Vgl. I.3.4. 73 Vgl. Lala (2014: 245); Lubello (2014b: 10); Sellmänn (2014: 182 ff.); Löffler (2016: 109), der im Rahmen einer Bekleidungsmetapher, die die Anpassungsfähigkeit der Rechts- und Verwaltungssprache an die Kontextbedingungen hervorhebt, behauptet: „In den Internet-Auftritten versuchen die Behörden […] zunehmend in sprachlichem ‚casual wear‘ zu erscheinen“. Auf die Rolle der Digitalisierung im öffentlichen Sektor hatte Grosse (1981: 270) schon in den 1980er Jahren weitblickend aufmerksam gemacht: „In der jüngsten Zeit bahnt sich besonders im Verwaltungssektor eine grundlegende Änderung an, deren Entwicklung, soweit sie bereits um sich gegriffen hat, wohl erst am Beginn steht und in ihrem Umfang und in ihren Konsequenzen noch gar nicht abzuschätzen ist: das ist die nichtnumerische Datenverarbeitung durch den Computer“. Wie schon angedeutet, hat die Kritik an der Sprache der Verwaltung zu Reformbewegungen geführt. Zu betonen ist dabei, dass die meisten Initiativen vom Zentrum - von Regierungen und Verwaltungen selbst - ausgegangen sind. Dass eine einfache, unmittelbare, transparente Verwaltungssprache von grundlegender Bedeutung ist, vor allem deswegen, weil dies die direkte Teil‐ nahme am öffentlichen Leben und die Ausübung der Rechte seitens der Bürger gewährleistet, ist also mit der Zeit nicht nur Linguisten und Intellektuellen bewusst geworden, sondern auch allgemein Verwaltungen. Diese haben dem Thema allmählich immer größere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Frage liegt z. B. den in dieser Hinsicht vorbildlichen Schweizer Behörden besonders am Herzen (vgl. Antos 2008: 15; Adamzik/ Alghisi 2017 und Adamzik 2018a). 71 Das zeigt sich u. a. auf einer Webseite der Schweizer Bundeskanzlei (vgl. auch Lala 2014: 246 f.), die dem „Amtsdeutsch“, „burocratese“ oder - auf Französisch - „jargon administratif “ gewidmet ist. 72 Auf dieser Seite distanziert man sich von einer „unverständlich[en]“, „hölzern[en]“, „gestelzt[en]“, „herablassend[en]“, „intransparenten“ Behördensprache und man drückt die Absicht der Schweizer Verwaltung aus, einem solchen „Beamtendeutsch“ „entgegenzuwirken“ bzw. das „Idealziel einer verständlichen Sprache umzusetzen“. Zu den wichtigsten Maßnahmen - rechtlichen Vorgaben, Handbüchern und Leitfäden zum ver‐ ständlichen Schreiben sowie Fortbildungskursen für Amtsangestellte - die in diesem Sinne getroffen wurden, führen dann die zahlreichen Links. In diesem Zusammenhang ist ferner die Rolle der Digitalisierung hervorzuheben, die sich nach einigen Sprachwissenschaftlern 73 auf die Verwaltungssprache positiv (in Richtung Klarheit und Einfachheit) ausgewirkt hat (vgl. dazu I.3.5). 55 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="56"?> 74 Damit ist in diesem Abschnitt allgemein die Sprache der staatlichen Institutionen ohne irgendwelche spezifischen Bedeutungsnuancierungen gemeint. 75 Für eine umfassendere Darstellung der Vorschläge vgl. u. a. Göpferich (1995), Fluck (1996) und Simonnæs (2005). 1.2.1.3 Vertikale Gliederung Die Bezugnahme auf die (Schwer-)Verständlichkeit behördlichen Sprachhan‐ delns führt zur Frage der vertikalen Gliederung der Rechts- und Verwaltungs‐ sprache, 74 die nun in den Fokus kommt. Spricht man von vertikaler Schichtung, bezieht man sich in erster Linie auf die „innere[.] Untergliederung der Fachsprachen, die als Charakteristikum von Fachsprachen in hochentwickelten industriellen Gesellschaften angesehen werden kann“ (Nabrings 1981: 146). Zur Beschreibung dieser „Unterformen der Fachsprache“ (ebd.: 147; Hervorhebung A.A.) wurden in der Forschung unterschiedliche Einteilungsvorschläge entwickelt. Sie gehen von verschie‐ denen Standpunkten aus und operieren mit innersprachlichen bzw. stilistischen und / oder kommunikativ-pragmatischen Kriterien. Einen sehr knappen Über‐ blick darüber bietet Kalverkämper: 75 [Es] sind, als Abstraktion, schon ab Mitte der sechziger Jahre Modelle entworfen worden, allerdings als zweidimensionale, kreisförmige Wortschatz-Modelle, die sektoral (Kurt Baldinger in den fünfziger Jahren), dann relational (Werner Reinhardt, Mitte der sechziger Jahre), und schließlich, als bislang letztes Angebot funktional (Klaus Heller zu Beginn der siebziger Jahre) angelegt sind […]. Die pragmatisch orientierten Versuche (z. B. v. Hahn, Anfang der achtziger Jahre) sind als dreidi‐ mensionale Kuben mit Schichten gestaltet (Kalverkämper 1998: 50; Hervorhebungen im Original gelöscht; Fettdruck A.A.). Ein Versuch, der eine „größere Breitenwirkung für modellbewußte Analysen […] für sich geltend machen“ könne (ebd.), ist das „vierdimensional ausgerich‐ tete […] Fünfschichtenmodell von Hoffmann“ (ebd.; Hervorhebung im Original gelöscht). Bei den vier Dimensionen, aus denen sich die Schichtung ergibt, handelt es sich um 1. Abstraktionsstufe, 2. äußere Sprachform, 3. Milieu und 4. Teilnehmer an der Kommunikation (vgl. Hoffmann 1985: 64 ff.). Anhand dieser Kriterien ließen sich folgende Schichten unterscheiden, bei denen das Abstraktionsniveau graduell abnehme: 1. Sprache der theoretischen Grundla‐ genwissenschaften, 2. Sprache der experimentellen Wissenschaften, 3. Sprache der angewandten Wissenschaften und der Technik, 4. Sprache der materiellen Produktion und 5. Sprache der Konsumtion (vgl. ebd.). Hoffmanns Modell entsprechend betrifft die vertikale Gliederung den Grad an Abstraktion und Fach(sprach)lichkeit, den Fachsprachen bzw. Fachkom‐ 56 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="57"?> 76 Vgl. dazu Kalverkämper (1998: 50): Die vertikale Schichtung „zeigt sich an der sprach‐ lichen Auswahl (Stilistik) sowie an den pragmatischen Einsatz-Umständen fachsprach‐ licher Kommunikation“. 77 Es sei bemerkt, dass sowohl Ischreyts als auch Hoffmanns Gliederungen besonders auf den Bereich von Naturwissenschaften und Technik bezogen sind (vgl. Roelcke 2014: 160 f.). Es geht dabei überwiegend um die „Unterscheidung der Bereiche Forschung, Herstellung und Vertrieb“ (Becker 2001: 9). Vgl. dazu Adamzik (2018b: 182): „Es ist unmittelbar ersichtlich, dass sich solche Modelle besonders gut (oder vielleicht eher: allein) für Techniksprachen eignen. Denn nur diese umfassen die ganze Breite dessen, was ein (gegenstandskonstituiertes) Fach ausmachen kann, da hier Handwerk und Wissenschaft sozusagen zusammengewachsen sind“. munikation aufweisen. Dieser zeigt sich sowohl stilistisch als auch auf einer pragmatischen Ebene. D.h. er betrifft die Auswahl sprachlicher - oder anderer zeichnerischer - Mittel und die damit streng festgelegten Bedeutungen sowie die Wissensbestände, die in einer bestimmten Kommunikationssituation und bei bzw. von den Teilnehmern vorausgesetzt werden. 76 Fachsprachen im engeren Sinn bzw. prototypische Vorstellungen davon sind natürlich durch den höchsten fachsprachlichen Grad gekennzeichnet und entsprechen - geht man von her‐ kömmlichen Fachsprache-Definitionen aus - den Kommunikationsmitteln, die Experten untereinander benutzen. Letzteren stehen Laien gegenüber, wobei sich hier eine allgemeine Grobaufteilung bzw. Dichotomie abzeichnet, die zwischen fachinterner und fachexterner Kommunikation unterscheidet. Fachsprachen im engen Sinn fallen somit mit der Fachsprachenschicht zusammen, die Ischreyt (1965: 43 ff.) in seinem Modellvorschlag als „wissen‐ schaftliche Fachsprache“ bezeichnet. Seine pragmatisch-orientierte Einteilung, die Kalverkämper im oben erwähnten Aufsatz übersieht, die aber besonders einflussreich war und häufig erwähnt wird, rechnet mit drei Stufen der Fachsprache: Neben der wissenschaftlichen Fachsprache, seien auch die Werk‐ stattsprache und die Verkäufersprache zuzurechnen. Die wissenschaftliche Fachsprache entspricht dem Phänomen, „auf das man den Begriff Fachsprache zuweilen einzuengen geneigt ist, da sie die ‚strengste Form der Fachsprache‘ (Fluck 1976: 21) bildet und am stärksten von der Gemeinsprache abweicht“ (Nabrings 1981: 147 f.). Die Werkstattsprache stellt die Fortsetzung der ehe‐ maligen Handwerkersprache dar, „d.h. die im unmittelbaren Situationszusam‐ menhang mit dem Arbeitsvorgang stehende Sprache“ (ebd.: 146), die „bei der Arbeit an der Maschine, im Labor, im Büro usw. benutzt [wird] und […] daher Züge der Alltags- oder Umgangssprache und auch der Gruppensprachen [trägt]“ (ebd.). Bei der Verkäufersprache handelt es sich schließlich um die „von Fachleuten entwickelte Sprache, mit der sie sich über das Fachgebiet mit Laien verständigen“ (ebd.: 158). 77 Es geht dabei um die Sprache bei der Experten- 57 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="58"?> 78 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von Möhn, dem in den 1970er Jahren die Einführung der Bezeichnungstriade fachintern, interfachlich, fachextern zu verdanken ist: „Sein Aufsatz Formen der fachexternen Kommunikation. Linguistische Ana‐ lyse und fachdidaktische Vermittlung (Möhn 1979) hat zahlreiche Arbeiten zur Vermittlung unter dem Stichwort fachexterne Kommunikation angeregt, die sich unter verschiedenen Fragestellungen und Schwerpunkten mit der Vermittlung zwischen Fach und Alltag befassen“ (Becker 2001: 7; Hervorhebungen im Original). Oksaar (1989) benutzt dabei andere Bezeichnungen. Sie erwähnt drei Hauptkategorien: „innerfachlich“, die die Au‐ torin mit einer „reine[n] Theoriesprache“ und mit einer „fachliche[n] Umgangssprache, Werkstattsprache“ gleichsetzt; „überfachlich“, die auf die Kommunikation „zwischen einzelnen Fächern“ bezogen ist; „außerfachlich“, die der „Verteilersprache, Sprache zwischen Fachleuten und Laien“ entspricht (Oksaar 1989: 222; Hervorhebungen im Original gelöscht). Für eine genauere Aufteilung verweist Oksaar dann auf die Arbeit bzw. Ausführungen von Hoffmann. Mit Bezug auf die Gliederung Experte vs. Laie unterscheidet hingegen Roelcke (2014) in seinem Konzept einer fachsprachlichen Gesamttypologie zwischen „fünf Typen vertikaler fachlicher Kommunikation“ (Roelcke 2014: 164 f.): Kommunikation unter Experten ein und desselben Faches; Kommunikation unter Laien in einem bestimmten Sachbereich; Kommunikation zwischen Experten verschiedener Ebenen oder Bereiche eines bestimmten Faches; Kommunikation zwischen Experten eines bestimmten Faches und Laien im entsprechenden Sachbereich; Kommunikation zwischen Experten eines Faches und Experten eines anderen Faches. 79 Vgl. Fluck (1996: 160): „Mit der Frage nach dem Verhältnis von Fach- und Gemein‐ sprache sowie den wechselseitigen Beziehungen beider Sprachsysteme berühren wir ein zentrales Thema fachsprachlicher Forschung“. 80 Fluck (1996: 12) merkt eben an, dass die „Besonderheit der Fachsprachen […] einmal in ihrem speziellen, auf die Bedürfnisse des jeweiligen Faches abgestimmten Wortschatz [liegt]. […] Zum anderen liegt ihre Besonderheit in der Gebrauchsfrequenz bestimmter […] grammatischer (morphologischer, syntaktischer) Mittel“. Siehe auch Fluck (2000: 92): „Bei aller Textorientierung der Fachsprachenlinguistik ist der Fachwortschatz immer noch jener Bestandteil, dem als Informationsträger im Fachtext eine zentrale Rolle zukommt“. Laien-Kommunikation, die „eine der zentralen Schnittstellen zwischen Fach- und Gemeinsprache“ ist (Fluck 2000: 91). 78 Gerade im Rahmen der Frage des Verhältnisses zwischen Fachsprache und Gemeinsprache wurden die verschiedenen Gliederungsvorschläge auf der vertikalen Ebene vorgenommen. Das Thema hat in der Forschung die Diskussion lange dominiert, 79 die - da die Lexik den Kern fachsprachlicher Varietäten bildet - 80 überwiegend die Grenzen zwischen fachlichem und ge‐ meinsprachlichem Wortschatz betroffen hat. Die anfängliche Vorstellung einer Polarisierung zwischen Fachsprache und Gemeinsprache (1960er und 1970er Jahre), bei der die beiden ‚Sprachen‘ einander gegenübergestellt wurden (vgl. Hoffmann 1998a: 158), hat allmählich der Auffassung einer „gleitenden Skala zwischen verschiedenen Codes“ (ebd.: 163) den Vortritt gelassen. Sprachwissen‐ schaftler sind zu dem Schluss gekommen, dass 58 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="59"?> 81 Vgl. Fluck (1996: 197): „Die lexikographische Frage, wann ein Wort als gemeinsprachlich und wann als fachsprachlich anzusehen ist, läßt sich […] nicht lösen, dazu ist das Verhältnis von Fach- und Gemeinsprache zu komplex“. 82 Vgl. auch Adamzik (2018b: 88): „Es gibt […] zwischen den verschiedene Schichten auf der vertikalen Ebene nur fließende Übergänge“. 83 Die Debatte über das Verhältnis von Fachsprache und Gemeinsprache ist vielschichtig und artikuliert sich in einer Reihe von Beiträgen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst wurden und verschiedene Sichtweisen zum Thema Ausdruck verliehen haben. Mit den obigen Ausführungen habe ich mir lediglich zum Ziel gesetzt, einen allgemeinen Eindruck von der Diskussion zu geben. Für eine detaillierte Behandlung vgl. z. B. Hoffmann (1998a) und Simonnæs (2005: 24 ff.). die Komplexität der sprachlichen Kommunikation in der modernen Gesellschaft […] eine Trennung von ‚Umgangssprache‘ und ‚Fachsprache‘ als diskrete Varietäten nicht zu[läßt] (Schefe 1975: 20). 81 Ende der 1990er Jahre stellte Hoffmann fest: Je mehr man über das Verhältnis von Fachsprachen und Gemeinsprache liest und nachdenkt, desto klarer wird einem, daß es sich hier um eine stark reduzierte, überwiegend linguistische Begrifflichkeit handelt. […] Es ist dann - nicht nur am Wortschatz - leichter zu zeigen, wie sich Fachkommunikation und Alltagskommuni‐ kation auf allen sprachlichen Ebenen und darüber hinaus im gesamten sprachlichen (und nichtsprachlichen) Handeln von Personen und Gruppen auf sehr natürliche Weise durchdringen (Hoffmann 1998a: 166). Heute herrscht also Einigkeit darüber, dass es sich bei Fach- und Gemeinsprache um einen gleitenden Übergang handelt (vgl. Simonnæs 2005: 28). 82 Ihr Verhältnis muss „prinzipiell als interdependent angesehen werden […]. D.h. Fachspra‐ chen bauen auf der Gemeinsprache auf und die Gemeinsprache wird von den Fachsprachen beeinflusst“ (Fluck 2000: 91; Hervorhebung A.A.): Grundsätzlich bilden also Fach- und Gemeinsprache kein gegensätzliches Paar, sie liegen nur auf verschiedenen Ebenen. Sie unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Allgemeinverständlichkeit, das heißt auf der semantischen Ebene, und der Zahl ihrer Benutzer, während sie in formaler Hinsicht weitgehend übereinstimmen. Unter‐ schiedlich ist auch ihre Funktion, die zur Herausbildung bestimmter Stilmittel führt. Dennoch sind beide interdependent; sie sind aufeinander bezogen und durchdringen sich wechselseitig (Fluck 1996: 176). 83 Mit der geschilderten neuen Auffassung hängt die Infragestellung der Di‐ chotomie Experte vs. Laie bzw. die „Aufhebung der […] Gegensatzrelation Laienschaft - Fachlichkeit“ (Becker 2001: 52) zusammen. Die Übergänge zwi‐ schen Fachleuten und Laien erweisen sich als immer fließender, zumal 59 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="60"?> 84 Die Bildungsexpansion und „die immense Erleichterung der technischen Verbreitung des Wissens durch elektronische Medien“ (Adamzik 2004b: 15) machen die „Relativität der Unterscheidung von Experten und Laien“ (ebd.: 26) immer offenkundiger. In diesem Zusammenhang kritisiert Adamzik (2018b: 184) Roelckes jüngste vertikale Einteilung, die erneut auf dem Gegensatz Experte vs. Laie beruht (vgl. Roelcke 2014): „Da der Gegen‐ satz Experte vs. Laie alles andere als scharf ist und zunehmend verwischt […], außerdem viele Texte mehrfachadressiert sind, könnte man darin eher einen Rückschritt sehen, der neueren Entwicklungen (Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, Einfluss der Fachsprache auf die Gemeinsprache, Bildungsexpansion) gerade nicht gerecht wird“. [a]ußerhalb ihres eigenen engen Feldes […] Fachleute Laien mit dem sprachlichen Normalwissen des Alltags [sind] (Becker 2001: 89). Die Grenzverwischung zeichnet sich umso mehr in unserem Zeitalter ab, das durch Wissensexplosion und Informationsflut gekennzeichnet ist: 84 [I]n modernen Gesellschaften [sind] die Schranken, die den Zugang zum Exper‐ tenwissen regeln, gering […] und die normalen Übermittlungsroutinen [können] überspielt werden […], so daß auch Laien im Alltag mit Expertenwissen in Berührung kommen […]. Mit Überspielung und überspielen von Übermittlungsroutinen ist hier weder der fachexterne Vermittlungsprozeß selbst noch das Resultat oder gar der Erfolg des Vermittlungsprozesses gemeint, sondern die verschiedenen Umstände, unter denen die normalen Übermittlungsroutinen, also die Weitergabe von Experten‐ wissen an Inhaber bzw. Erwerber von Berufsrollen, quasi umgangen werden (Becker 2001: 106; Kursiv im Original gelöscht; Fettdruck A.A.). Beckers Begriff der Überspielung von Übermittlungsroutinen passt besonders gut zur Beschreibung der Rechts- und Verwaltungssprache. Wie bereits angeführt (vgl. I.1.2.1.2), weist diese direkte Bezüge zum Alltag der Bürger auf, von denen häufig aktive Teilnahme und gewisse Handlungen verlangt werden. Damit verbunden ist die Tatsache, dass die Rechts- und Verwaltungssprache von der Gemeinsprache besonders stark durchdrungen wird. Ihre Anlehnung an die Gemeinbzw. Alltagssprache lässt sich dadurch erklären, daß Gesetze und Urteile sich an die Allgemeinheit richten, denn ‚Gesetz ist jede Rechtsnorm, d. h. jede hoheitliche Anordnung, die für eine unbestimmte Vielzahl von Personen allgemein verbindliche Regelungen enthält‘. [Gründe für die Nähe zwischen beiden Sprachvarietäten] liegen […] aber auch darin, ‚daß das Rechtsdenken in beson‐ ders weitem Umfang an die allgemein erfahrbaren Gegebenheiten des menschlichen Daseins anknüpft und in weiten Bereichen auf Beschreibung der natürlichen ‚vor‐ rechtlichen‘ Beziehungen und Handlungen der Menschen angewiesen ist.‘ (Oksaar 1989: 223). 60 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="61"?> 85 Wagner schränkt ihre Ausführungen auf die Verwaltungssprache ein. Ihre Überlegung lässt sich aber auf die Rechts- und Verwaltungssprache im Allgemeinen anwenden. 86 Vgl. Wagner (1970: 101): Die „Bedeutung [der Rechts- und Verwaltungssprache] für die Allgemeinsprache steigt, da sich die Verwaltungstätigkeit auf immer weitere Lebensbereiche ausdehnt und praktisch jeder Bürger damit in Berührung kommt“. Siehe Dieckmann (1976: 89): „Als das besondere Problem der Sprache des Gesetzes und der Gesetzesanwendung wird ihre Nähe zur Gemeinsprache angesehen. Die Verbindung zwischen der natürlichen Gebrauchssprache und der juristischen Fach‐ sprache ist enger als in anderen Fachgebieten; […] die Rechtsanwendung [geht] immer von konkreten menschlichen Beziehungen und Handlungen aus, die in normaler Sprache ausgedrückt werden, um sie dann mit der Beschreibung des Gesetzestextes zu vergleichen und im Falle der Übereinstimmung die Anwendung der Gesetzesvor‐ schrift zu verfügen“. Vgl. zu diesem Punkt zusammenfassend Oksaar (1989: 224), die von „Wechselwirkung“ zwischen Alltags- und Rechtssprache spricht: „‚Einerseits erscheinen die umgangssprachlichen Begriffe in der Rechtssprache wieder, bzw. wird ein Teil davon zu juristischen Begriffen präzisiert, oder ein noch kleinerer Teil davon neu formuliert …. [sic], andererseits fließen manche neu geprägten Gesetzesausdrücke in die Alltagssprache zurück‘“. Vgl. auch Mortara Garavelli (2001: 8; Hervorhebung im Original): „il linguaggio giuridico è distinto ma non ‚separato da quello comune‘“. In diesem Zusammenhang ist auch der Beitrag zu erwähnen, den die Rechts- und Verwaltungssprache zur Entwicklung des Standarddeutschen geleistet hat. Vgl. Grosse (1981: 268 f.) und I.3.2. Gleichzeitig lehnt sich ihrerseits die Alltagssprache an die Rechts- und Verwal‐ tungssprache an: Gerade der schreibungewohnte Bürger bemüht sich bei bestimmten Anlässen, Wörter und Stileigenarten der Verwaltungssprache zu übernehmen, um seiner eigenen Sprache eine offizielle und gehobene Form zu geben. Auch Begriffe, die die [Rechtsund] Verwaltungssprache gebildet hat, übernimmt die Allgemeinsprache […]. Ebenso gehen Abkürzungen in die Allgemeinsprache über (Wagner 1970: 101). 85 Die Grenzen der Rechts- und Verwaltungssprache sind also besonders un‐ scharf. Mit den Worten von Serianni (2003: 122) zu sprechen: A differenza di altri linguaggi settoriali, la lingua del diritto non ha confini precisi. Vi rientra tutto ciò che può avere interesse per la vita associata degli uomini. 86 In diesem Kontext spielen die Medien eine zentrale Rolle. Sie sind „der wichtigste ‚Verteiler‘ von Fachvokabular an die Gemeinsprache“ (Burger 1990: 261). Radtke (1981b: 75) spricht hierbei von „multiplikatorische[m] Effekt“: 61 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="62"?> 87 Lubello (2014b: 96 f.) merkt an, dass der Einfluss der Verwaltungssprache auf die journalistische Sprache schon auf das 19. Jahrhundert zurückgeht: „L’incidenza del linguaggio burocratico su quello dei giornali è riscontrabile già nella stampa periodica dell’Ottocento […]. Non sono solo termini isolati dell’uso burocratico a essere recepiti nella stampa e da lì diffusi nella lingua comune, ma anche numerose espressioni, sintagmi e formule stereotipate“. 88 Vgl. Becker-Mrotzek (1999: 1396): „Während bei anderen Fachsprachen ‚das Spezialvo‐ kabular jeweils ein primäres Merkmal der betreffenden Fachsprache [bildet]‘, benutzt die Verwaltungssprache ‚weitgehend den allgemeinsprachlichen Wortschatz‘ (Fluck 1991, 72)“. 89 Müller-Tochtermanns Typologisierung wird hier nach Dieckmann (1975: 90 f.) und Radtke (1981b: 76 f.) wiedergegeben. [D]iese [die Medien] werfen bürokratischen Sprachgebrauch massenhaft aus, und die ständige unterschwellige Berieselung macht ihn uns schließlich vertraut und zum festen Bestandteil der aktiven Sprachkompetenz (Radtke 1981b: 75). 87 Das enge Verhältnis von Rechts- und Verwaltungssprache einerseits und All‐ tagssprache andererseits schlägt sich selbstverständlich besonders im Wort‐ schatz nieder: Die Rechtssprache […] unterscheidet sich von mancher anderen Fachsprache durch die […] Tatsache, daß sie Ausdrücke enthält, die der Form nach mit denen der Alltagssprache übereinstimmen, semantisch jedoch von ihr abweichen (Oksaar 1989: 223). 88 Solchen „Ausdrücken“ trägt Müller-Tochtermann (1959) in seiner Einteilung der juristischen Begriffe Rechnung. 89 Er ordnet sie der Kategorie der be‐ stimmten Rechtsbegriffe zu, die „aus der Gemeinsprache [stammen], […] aber für den fachsprachlichen Gebrauch im engeren oder weiteren Sinne oder auch im Widerspruch zur gemeinsprachlichen Bedeutung genau definiert [werden]“ (Dieckmann 1975: 90 f.). Als Beispiele dafür können Ausdrücke wie Kauf und Tausch, Besitz und Eigentum, Übertretung, Vergehen und Verbrechen, Diebstahl, Raub, Totschlag und Mord angeführt werden. Bestimmten Rechtsbe‐ griffen stehen unbestimmte Rechtsbegriffe gegenüber. Diese sind „Wörter und Wendungen wie ‚unzüchtig‘, ‚gute Sitten‘, ‚Treu und Glauben‘, ‚allgemeines religiöses Empfinden‘ usw., deren Rechtsinhalt je nach Einzelfall und den allgemeinen Wertvorstellungen der Zeit differenziert und konkretisiert werden muß“ (Radtke 1981b: 76). Dabei geht der Richter „über den Gesetzestext hinaus und holt sich Rat in der Alltagssprache“ (Dieckmann 1975: 90). Müller- Tochtermann unterscheidet dann noch zwei Begriffskategorien: natürliche und rechtswissenschaftliche Begriffe. Natürliche Begriffe entsprechen Wörtern - wie etwa Verwandtschaftsbezeichnungen, „die direkt aus der Gemeinsprache in 62 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="63"?> 90 Vgl. Otto (1978: 11; Hervorhebung im Original gelöscht): „Das Grundgebot für jede Fachsprache ist die Präzision, also die Klarheit, Eindeutigkeit und Vollständigkeit des Ausdrucks“. 91 Kritisch zu den Merkmalen, die gewöhnlich mit Fachsprachen assoziiert werden, ist Adamzik (2018b: 89). Mit Bezug auf Grices Konversationsmaximen meint sie, dass sich Leute „immer an den Maximen Ökonomie, Effizienz, Klarheit usw. [orientieren]. Maximale Präzision und Explizitheit sind tatsächlich nur in besonderen Fällen effi‐ zient bzw. situativ angemessen“. Insofern bezieht die Autorin Präzision besonders Gesetzestexte übernommen werden, ohne durch Definition fachsprachliche Geltung zu bekommen“ (Dieckmann 1975: 90). Im Rahmen eines Gesetzestextes verlieren diese Ausdrücke ihre „Gefühlsmomente und Nebenbedeutungen“ (Radtke 1981b: 76), werden aber dort eindeutig benutzt. Rechtswissenschaftliche Begriffe sind schließlich „alle Neubildungen der juristischen Fachsprache, meist Komposita […], die aus Elementen der natürlichen Sprache gebildet sind, aber nur fachsprachliche Bedeutung haben“ (Dieckmann 1975: 91). Zu dieser Gruppe zählen Wörter wie Willenserklärung oder Rechtsverhältnis, die „der Gemeinsprache am fernsten [stehen] und […] in der Regel genau definiert [sind]“ (ebd.). Wegen der komplexen Beziehung bzw. Verflechtung von Rechtswesen / Ver‐ waltung und Alltag war und ist sogar der fachsprachliche Status der Rechts- und Verwaltungssprache bzw. ihre Fachsprachlichkeit überhaupt eigentlich nicht überall unumstritten. Da „Fachsprachlichkeit […] sich am deutlichsten an der Verwendung von Begriffen [zeigt], die außerhalb der Fachsprache nicht zum üblichen Sprachreservoir gehören“ (Heinrich 2014: 58), rechnen manche Sprachwissenschaftler die Rechts- und Verwaltungssprache - aufgrund ihrer starken Gebundenheit an die Alltagssprache - nicht den Fachsprachen zu. In ihrer Übersicht über die deutschsprachige Literatur zur Rechtssprache betont Simonnæs (2005: 47) etwa, dass das „Bestehen der Rechtssprache als einer eigenen Fachsprache […] nicht von Anfang an auf der Hand [lag]“. Die Autorin weist darauf hin, dass „sich erst in den 70er Jahren die Auffassung durchgesetzt [hat], dass die Rechtssprache eine Fachsprache ist“. In diesem Kontext erwähnt Simonnæs u. a. Busse, der „aufgrund der teilweisen Überschneidung des Wort‐ schatzes in Rechtssprache und der so genannten Gemeinsprache […] nicht bereit [ist], die Rechtssprache als Fachsprache im engeren Sinne aufzufassen“ (ebd.). Die Unschärfe und Vagheit, die mit gewissen rechtlichen Begriffen (wie z. B. Müller-Tochtermanns unbestimmte Begriffe) einhergeht, widerspricht grundsätzlich dem Gebot der Präzision, die als typisches Merkmal für Fach‐ sprachen angesehen wird. 90 Der Tatsache, dass sich Fachlichkeit „insbesondere im Bemühen um eine möglichst hohe Genauigkeit und Eindeutigkeit bei der Darstellung von Fachinformation [äußert]“ (Fluck 2000: 103), 91 stehen die 63 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="64"?> auf gewisse „normierte Termini“, die „nur für bestimmte Bereiche charakteristisch [sind], und zwar für Objekte, die der Mensch selbst hervorgebracht hat“. Das gelte „besonders für technische Objekte, insofern sie schon nach einem standardisierten Verfahren (industrielle Produktion) entstehen“. Dass „das Eineindeutigkeitspostulat der Terminologielehre in der Praxis der Fachsprachen nicht eingehalten wird“, ist inzwischen auch in der Fachsprachenforschung i. Allg. immer evidenter geworden. Vgl. Becker (2001: 93): „Sie [die Fachsprachenforschung] geht, so Uwe Geist, nach wie vor von einem Wissenschaftsverständnis aus, ‚das gerne mit den Stichworten Ökonomie, Präzision und Eindeutigkeit umrissen wird‘, dagegen rücken in der neuen Einstellung zu Wissenschaftlichkeit ‚Stichworte wie Komplexität, Unsicherheit und Mehrdeutig‐ keit in den Brennpunkt des Interesses‘ (Geist 1992, 243[…]) […]. In verschiedenen Fachsprachen lassen sich […] Polysemie und Synonymie nachweisen“. Becker (2001: 94 f.) betont zugleich, dass Eindeutigkeit der Tendenz in den Fachsemantiken entspricht, „kommunikative Eindeutigkeit herzustellen, wobei verschiedene Verfahren [darunter die terminologische Normierung] zur Verfügung stehen“; und dass „Fachsprachen Wort- und Terminologiesprachen [sind] im Unterschied zur Alltagssprache, in der die Genauigkeitsregulierung in den Kontext verlagert ist“. Allgemein und zusammenfas‐ send könnte man sagen, dass die Fachsprachenlinguistik „zu einer homogenisierenden und zugleich idealisierenden Sicht auf Fachsprachen“ tendiert, wobei „etwa der Fach‐ wortschatz wie eine existierende Menge von explizit und präzise definierten Begriffen präsentiert“ wird (Adamzik 2018b: 210; Hervorhebungen im Original gelöscht). 92 Zur Frage der Präzision vs. Vagheit bzw. Bestimmtheit vs. Unbestimmtheit und strate‐ gische semantische Offenheit im Rechtswesen vgl. Busse (1999: 1383 f.). Vgl. ferner die Beiträge in Bhatia/ Engberg/ Gotti/ Heller (2005). Hierzu gehört ein Aufsatz von Nussbaumer, der schon im Titel auf die „(gute) Vagheit“ verweist, die Gesetzestexte „zum Atmen“ brauchen. In einem anderen Beitrag betont Nussbaumer (2007b: 57; Hervorhebungen im Original gelöscht), dass juristische Normen „manchmal maximal bestimmt und manchmal eher offen, flexibel und für den Einzelfall ‚dehnbar‘ sein“ müssen. Vgl. dazu auch u. a. Heller (2004), Engberg (2007) und Gualdo (2009). Besonderheiten der Rechts- und Verwaltungssprache gegenüber. Von letzterer wird zwar Präzision, Effizienz und Verständlichkeit verlangt und erwartet“, man „vergißt [aller‐ dings] leicht, daß sie [die Rechts- und Verwaltungssprache] mit der nicht präzisen und mehrdeutigen Alltagssprache verbunden ist und daß auch ‚die Sprache, derer sich das Gesetz bedient, unscharf ist‘ (Oksaar 1989: 224 f.). 92 In der Tradition der Funktionalstilistik werden Fachsprachen und Rechts- und Verwaltungssprache separat behandelt: Wissenschaft und die damit ver‐ bundene Wissenschafts-/ Fachsprache auf der einen Seite und Amtsverkehr und die Instruktionssprache auf der anderen stellten zwei verschiedene Funktions‐ bereiche bzw. Funktionalstile dar. An eine solche Einteilung schließt sich Löffler (2016: 94 ff.) an. Er unterscheidet zwischen „Wissenschafts- und Fachsprachen“ einerseits und der „Sprache des öffentlichen Verkehrs (Verwaltungssprache)“ andererseits (vgl. ebd.: 103 f.). In Stegers Modell der Semantiksysteme (vgl. 64 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="65"?> I.1.2.1.2) bilden Institutionensemantiken zwar ein bestimmtes System für sich, das von Technik- und Wissenschaftssemantiken abweicht, die drei Gruppen werden aber alle der Oberkategorie der Fachsemantiken zugeordnet. Dabei unterscheiden sich die Fachsemantik-Gruppen voneinander durch die Kriterien, die eingesetzt werden, um ‚Wahrheit‘ festzustellen. Wird in den Wissenschaften „Wahrheit durch sprachliche Argumentation (und wiederholbares Experiment in den Naturwissenschaften) ‚inhaltlich‘ erkannt und beschreibbar“ (Steger 1988: 300), spielt bei den Institutionen die „sprachlich stabilisierte Verfahrens‐ gerechtheit“ (ebd.; Sperrung im Original gelöscht) die wichtigere Rolle (vgl. I.1.1), „während Meßfestigkeit und Reproduktionsfähigkeit Maßstäbe für die Technik zu sein scheinen“ (ebd.; Sperrungen im Original gelöscht). Auch Busse benutzt den Ausdruck Institutionensprache und betont die Wichtigkeit der Verfahrensabläufe. Im Gegensatz zu Steger vermeidet er aber, Institutionenspra‐ chen unter dem Begriff Fachsprache zu subsumieren: Diese Komplexität zeigt vielleicht anschaulich, weshalb ich zögere, die Institutionen‐ sprache des Rechts und innerhalb ihrer die Gesetzessprache als eine ‚Fachsprache‘ in der üblichen Definition dieses Terminus zu bezeichnen; der Ausdruck Institutionen‐ sprache ist sicherlich der treffendere linguistische Terminus, Fachsprache wäre dann terminologisch nicht mit Institutionensprache identisch, obwohl sich zwischen beiden Sprachtypen gerade am Beispiel der Rechtssprache z. T. erhebliche Überschneidungen ergeben. Man kann das interpretationsrelevante Wissen bei der Gesetzessprache umgangssprachlich zwar durchaus als ‚Fachwissen‘ im weiteren Sinne bezeichnen, doch muß man dabei bewußt halten, daß es sich hier doch um ein sehr spezielles, durch institutionelle Regeln und Verfahrensabläufe, durch die Existenz einer Auslegungsdogmatik und von obergerichtlichen Normierungsinstanzen, von Institu‐ tionen wie der ‚hM‘ [herrschende Meinung] und rechtssoziologischen Faktoren usw. determiniertes Wissen handelt (Busse 1999: 1387; Kursiv im Original; Fettdruck A.A.). Die Tatsache, dass die Rechts- und Verwaltungssprache oft einer besonderen Ka‐ tegorie zugeschrieben wird, dass sie häufig von anderen Fachsprachen getrennt betrachtet wird, hängt also mit dem andauernden Austausch zwischen Experten und Laien zusammen, der diese ‚Sprache‘ und den entsprechenden Gegenstandsbereich besonders kennzeichnet. Wie bereits angeführt, ist es eine Varietät, mit der Sprachteilhaber unfreiwillig in Kontakt kommen, und zwar in der Regel in eher unangenehmen Lebenssituationen, in denen sie den Experten in gewissem Maße ausgeliefert sind. Für einzelne der vielen Sachfächer gilt das viel weniger: Mit den meisten Fachgebieten muss man sich (nach dem Schulbesuch) nicht beschäftigen, und wer das doch tut, den leitet eher persönliches Interesse und er kann auf viele 65 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="66"?> 93 Bei Vermittlung handelt es sich um den „an Laien gerichtete[n] Transfer von Wissens‐ beständen aus der wissenschaftlichen Welt in die Alltagswelt. Diese Wissensbestände gehören zum Expertenwissen […], das nicht routinemäßig an Laien vermittelt wird. Daher werden bei diesem Transfer die normalen institutionellen Übermittlungsrou‐ tinen überspielt […]. Die Vermittlungssituation ist zusätzlich dadurch gekennzeichnet, daß sie von Experten eines Faches oder anderen Personen getragen wird, die im Vergleich zu den Adressaten, den Laien, über einen (fachlichen) Wissensvorsprung verfügen“ (Becker 2001: 105 f.). Nach Becker ist die Vermittlung zwischen Fachwissen und dem Alltag eine Form vom Lehr-Lern-Diskurs im Sinne Ehlichs (vgl. ebd.: 113). gut aufbereitete, nämlich populärwissenschaftliche Präsentationen zurückgreifen (Adamzik 2018b: 49; Hervorhebungen A.A.). Bei der Rechts- und Verwaltungssprache werden Übermittlungsroutinen über‐ spielt (vgl. oben), da „lebenspraktisch Relevantes in Theoriebereichen verwaltet wird (z. B. in Institutionen der Verwaltung, […] oder im Gesundheitssystem)“ (Becker 2001: 107). Dabei haben wir es zu tun mit „Teilwelten, in denen es geregelte Vermittlungsprozesse 93 in die Alltagswelt gibt“ (ebd.; Her‐ vorhebungen A.A.). Dem hier im Mittelpunkt stehenden Überspielungstyp setzt Becker (ebd.: 106 ff.) zwei andere Formen der Überspielung von Über‐ mittlungsroutinen gegenüber. Bei der einen geht es um Überspielungen der Übermittlungsroutinen, „wenn Bestandteile von Theorien lebenspraktisch relevant werden“ (ebd.: 107). Dies könne der Fall sein, „wenn in Theorien entstandene Gegenstände in den Alltag gelangen, weil sie dort verwendet werden (technische Gegenstände) oder theoretisch erforschte Bereiche im Alltag relevant werden, beispielsweise weil sie problematisch oder politisch umstritten sind (z. B. Kernenergie, Umweltprobleme)“ (ebd.). Bei der anderen Überspielungsform handelt es sich um Vermittlungsprozesse, „die zunächst unabhängig von Anwendungen im Alltag sind und stärker durch die Rezept‐ ionsinteressen der Laien initiiert sind“ (ebd.: 108). Hier geht es also um Formen der Popularisierung von wissenschaftlichen Inhalten im engeren Sinne. Wäh‐ rend der letzte Typ der Überspielung dadurch gekennzeichnet ist, dass die Rezeption freiwillig ist (vgl. ebd.), ist sie bei den ersten zwei Typen und den entsprechenden Bereichen „nur bedingt freiwillig oder sogar unfreiwillig, da sie [die Kommunikationsbereiche] sich aufgrund ihrer lebenspraktischen Relevanz bzw. ihrer Anbindung an Institutionen im Status dem Kernbereich des Alltägli‐ chen (Ernährung, Wohnen etc.) annähern“ (ebd.: 107). Engberg (2017) nimmt zum Thema fachexterner Kommunikation eine feinere Differenzierung vor und unterscheidet mit Blick auf die Rechts- und Verwaltungskommunikation zwischen informationsorientiertem und verhaltensbeeinflussendem Wissens‐ transfer. Den ersten Transferstyp setzt er der Popularisierung stricto sensu 66 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="67"?> 94 Engberg (2017) und Luttermann/ Engberg (2018) lehnen sich dabei an Preite (2012, 2013) an. Die Autorin, die bei der Rechts- und Verwaltungssprache von „divulgazione non scientifica“ (‚nicht-wissenschaftliche Wissensvermittlung‘; Preite 2012: 167) spricht, weist auf deren Rolle bei dem Abbau emotionaler Hürden gegenüber juristischen Institutionen hin: „la divulgazione giuridica, ben lungi dal suscitare interesse e curiosità, viene avvicinata unicamente nel caso in cui il cittadino si trovi ad avere a che fare col mondo del diritto e della giustizia per necessità./ Di conseguenza, la divulgazione giuridica si prefigge una doppia finalità: da un lato la semplificazione dei contenuti e dei termini giuridici e dall’altro la mitigazione del sentimento di estraneità, se non di ostilità, che il discorso del diritto tradizionalmente suscita nel cittadino“ (Preite 2013: 258). gleich. Diese zeichne sich dadurch aus, dass „der Sender dem Empfänger Einsicht in einen juristischen Sachverhalt verschaffen möchte“ (Engberg 2017: 127). Bei der verhaltensbeeinflussenden Wissensvermittlung gehe es stattdessen nicht um eine gewünschte Beeinflussung der politischen Haltung der Empfänger, sondern eher darum, dass sie sinnvoll agieren und dabei auch tatsächlich ihre Rechte wahrnemen (Engberg 2017: 130 f.). In diesem Fall hat der Wissenstransfer in erster Linie einen praktischen Nutzen: Es kommt hier darauf an, „den Rezipienten zum Handeln im Rahmen seiner Rechte zu befähigen“ (Alghisi 2018: 194). Zugleich trägt die Vermittlung von Wissensinhalten dazu bei, „die Verfremdung und Animosität (Vorbehalte, Ängste) gegenüber dem Rechtssystem abzubauen“ (Luttermann/ Engberg 2018: 89; vgl. auch Engberg 2017). 94 Dies hat zur Folge, dass mehr Vertrauen gegen‐ über dem demokratischen Rechtsstaat bei den Bürgern geschaffen und dessen Legitimität gefördert wird. Innerhalb des Rechtswesens und der Verwaltung steht also allgemein die „Entwicklung einer ‚Fachmann-Laie-Varietät‘“ (Nabrings 1981: 158) im Vorder‐ grund. Steger spricht in diesem Kontext von einer „Vermittlungsvariante RVS [Rechts- und Verwaltungssprache] (V)“ (Steger 1989: 127; Fettdruck A.A.). Sie steht „der institutionellen Fach-S. RVS (F)“ gegenüber und soll „- v. a. mündlich - eine Brücke zur ‚Parallelsphäre‘ der Alltagspraxis und -sprache der Gesellschaft herstellen“. Diese Variante ist „nicht selbst Alltags-S., sondern behält wesent‐ liche begriffliche Elemente der RVS (F) bei, weil auf dieser verbindliches insti‐ tutionelles Handeln beruht“. In dieser Hinsicht könnte man im Idealfall Stegers Fachsprache RVS der wissenschaftlichen Fachsprache in Ischreyts Typologisie‐ rung gleichstellen. Sie entspräche den sprachlichen Mitteln, mittels deren man sich besonders in den Disziplinen Rechtswissenschaft, Verwaltungswissenschaft (oder auch Politikwissenschaft) ausdrückt, diese beschäftigen sich überwiegend mit abstrakteren Theorien, Regelungsprinzipien, Doktrinen. Die Fachsprache RVS ließe sich somit auf Stegers Kommunikationsbereich der theoretischen 67 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="68"?> Wissenschaften beziehen. Letztere weisen alle bestimmte Fachwörter auf, haben allerdings die alltägliche Wissenschaftssprache gemeinsam (vgl. Hoffmann 1985 und Ehlich 1999). Die Vermittlungsvariante RVS stünde hingegen auf der Ebene der Verkäufersprache Ischreyts, d. h. einer Menge sprachlicher Elemente, die im Verhältnis zwischen Behördenangestellten und Bürgern bzw. zwischen Kommunikationsteilnehmern herangezogen werden, bei denen ein mehr oder weniger großes Wissensgefälle besteht. In diesem Zusammenhang steht die Verständlichkeits-Problematik wieder im Fokus; d. h. das Problem der Unverständlichkeit von Fach- und Wissenschaftssprachen, das auftaucht, wenn Fachleute und Laien miteinander interagieren (vgl. dazu I.3.3). Es sind besonders die Bereiche der Sprache der staatlichen Institutionen, der Medizin sowie der Gebrauchsanweisungen von technischen Geräten, die Verständlichkeitsstudien verschiedener Art fokussiert haben. Mit den Worten von Hoffmann: Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit haben […] Verstehens- und Verständigungspro‐ bleme der Bürger im Kontakt mit staatlichen Institutionen, bei Rechtsstreitigkeiten, beim Gespräch mit dem Arzt sowie beim Kauf von Industriewaren gestanden. Die un‐ tersuchten Fachtextsorten reichen von der Steuererklärung und anderen Formularen über Gesetzestexte und Verträge bis zum Beipackzettel und zur Bedienungsanleitung (Hoffmann 1998a: 165; Hervorhebungen im Original). Heute stellt das Problemfeld einen der Bereiche dar, bei denen die Fachsprachen‐ forschung breite Anwendung findet. Es entspricht tatsächlich dem „Hauptanlass für die Beschäftigung mit fachsprachlichen Varietäten“ (ebd.). Auf die Entwick‐ lung und Rolle der Verständlichkeitsfrage weist Kalverkämper (1998a) hin. Er hebt hervor, dass erst mit der stabilen Etablierung der Fachsprachenforschung und dem Erkennen der mit Fachkommunikation gekoppelten gesellschaftlich relevanten Konflikte die Verständlichkeitsforschung, und in ihrer Weiterentwicklung: die Analysen um hoch‐ aktuelle Reizbegriffe wie ,Technical Writing‘ / ,Technische Kommunikation‘ (vgl. Krings 1996; Göpferich 1997) […], ,Interkulturelles Verstehen‘, ,Texte-Optimierung‘ […] und ,Informations-Haftpflicht‘ (inzwischen neben der Produkt- oder Materialsowie der Konstruktions- oder Fertigungs-Haftpflicht; vgl. z. B. Schuldt 1992) in der wissenschaftlichen Diskussion aufgekommen sind und dann auch als weiterführende Erkenntnisse prosperiert haben (Kalverkämper 1998a: 12). Die verschiedenen Ansätze zur Textoptimierung einerseits und die auf die Ausbildung der Schreibkompetenz im fachlichen und wissenschaftlichen Kon‐ text abzielende Schreibforschung andererseits sind zwei wichtige Forschungs‐ 68 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="69"?> 95 Zur Anwendungsorientierung in der Fachsprachenforschung vgl. Fluck (2000: 102 ff.) und Adamzik (2018b). Detailliertere Ausführungen zur Verständlichkeits-Problematik und zu den unterschiedlichen Anleitungen für eine verständliche Sprache finden sich in I.3.3. 96 Innerhalb der REI gibt es seit 2014 das OIIFI (Osservatorio dell’italiano istituzionale fuori d’Italia). Dabei handelt es sich um eine Arbeitsgruppe, die zwei permanente Hauptauf‐ träge hat: Einerseits überwacht sie die Rolle und Qualität der italienischen Rechts- und Verwaltungssprache (italiano istituzionale) in den Gebieten, wo das Italienische außerhalb Italiens Amtssprache ist. Andererseits dient sie zu einer Art Plattform, wo man sich über terminologische und allgemein sprachliche Problemfälle und Schwierigkeiten austauschen kann. Vgl. https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ it/ home/ documentazione/ lingue/ conferenze-e-se minari/ rete-per-l-eccellenza-dell-italiano-istituzionale.html; 07.01.2020. zweige, die von Studien zur Verständlichkeit hergerührt haben. Beide Bereiche gehören in den Rahmen einer Perspektive, die neben deskriptiven auch bewer‐ tende Aussagen zulässt und die „charakteristisch für die Angewandte Linguistik und […] sich auch in anleitenden Publikationen nieder[schlägt]“ (Adamzik 2018b: 81; Hervorhebungen im Original gelöscht). 95 In die Abfassung von anleitenden Publikationen für eine zeitgemäße, ad‐ ressatenorientierte und verständliche Sprache sind etwa unterschiedliche in‐ terdisziplinäre Projekte gemündet, die sich durch die Zusammenarbeit von Angewandter Sprachwissenschaft auf der einen Seite, Politik, Verwaltung und Recht auf der anderen auszeichnen (vgl. I.1.2.1.2). Erwähnenswert ist in Deutschland das Vorhaben der Universität und der Stadt Bochum, aus dem IDEMA (Internet-Dienst für eine moderne Amtssprache) entstanden ist. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk, dessen Mitglieder eine Datenbank mit Mus‐ tertexten nutzen und mit einem elektronischen Wörterbuch ihre Texte selbst überarbeiten können (vgl. Blaha 2010; Fluck/ Blaha 2010 und Blaha/ Wilhelm 2011). Ein ähnliches Werkzeug ist die in Italien konzipierte REI (Rete per l’eccel‐ lenza dell’italiano istituzionale), deren ursprüngliches Ziel es war, „diejenigen, die Verwaltungstexte in europäischem und nationalem Umfeld verfassen, zu vereinen, um Ressourcen, Ergebnisse und Problemlösungen bei der Bildung neuer Terminologien zu teilen“ (Cortelazzo 2010a: 110). In jüngerer Zeit hat die REI auch die Frage „eine[r] Verwaltungskommunikation in einem klaren, verständlichen, für jeden zugänglichen und vor allem qualitativ angebrachten Italienisch“ (ebd.) thematisiert. 96 Fast ausschließlich mit Verständlichkeitsproblemen und Verbesserung als prototypisch geltender Formulare und Behördenschreiben hat sich die sprachwissenschaftliche Forschung beschäftigt, die die Verwaltungssprache als Sprache der Regierung und Ämter bzw. der Exekutive allgemein fokussiert hat (vgl. Grosse/ Mentrup 1980). Tatsächlich entspricht die Sprache der Verwaltung 69 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="70"?> 97 Ischreyt selbst ordnet allerdings sowohl der Verwaltung als auch der Gesetzgebung dieselbe funktionelle Sprache zu, nämlich die Geschäftssprache. einer von der Linguistik eher vernachlässigten Varietät, der im Laufe der Jahre - im Vergleich zur Sprache des Rechts, der Politik oder der Medien - relativ wenige linguistische Arbeiten gewidmet wurden. Die Bevorzugung weniger Themen, die die Forschung zur Verwaltungs‐ sprache charakterisiert, zeugt davon, dass eine gewisse Perspektive dort dominiert bzw. dass der Akzent überwiegend auf die Betrachtung der Ver‐ waltungssprache als Vermittlungssprache bzw. als Verkäufersprache im Sinne Ischreyts gelegt wurde. Nur auf diese Schicht wird die Varietät manchmal eingeschränkt. Der Unterschied zwischen Rechts- und Verwaltungssprache ließe sich dementsprechend darauf zurückführen, dass die Rechtssprache - anders als die Verwaltungssprache - mit den zwei übrigen Fachsprachen- Schichten zusammenfiele, die Ischreyt als wissenschaftliche Fachsprache bzw. Werkstattsprache bezeichnet. 97 Dies ist etwa die Sichtweise, die von Polenz (Polenz III; 1999: 489) zu vertreten scheint. Er behauptet, dass die Verwaltungs‐ sprache „ein Vermittlungsbereich zwischen Rechts- und Gemeinsprache“ ist. Dem Standpunkt schließt sich anscheinend auch Sellmänn (2014: 178) an. Sie meint nämlich, dass „die Verwaltungssprache vor allem der Kommunikation der Verwaltungen mit den Bürgerinnen und Bürgern [dient], die ‚Nichtfachleute‘ sind“, und dass sie daher „keine Fachsprache sein [kann und darf]“. Die Autorin schreibt ihr allerdings fachsprachlichen Charakter zu, indem sie dann behauptet, dass „die Verwaltungssprache als Fachsprache des Rechts den rechtlichen Be‐ griffssystemen sehr nahe“ steht. Sellmänn kommt dann zu dem Schluss, dass „die Verwaltungssprache […] eine Sondersprache [ist], die sowohl aus Elementen der Rechtssprache als auch solchen der Alltagssprache besteht, und dass ihre Aufgabe es ist, „die Schnittstelle zw. Gesetzgeber und Norm-Adressaten durch verständliche und klare Sprache auszufüllen“. Auch Lubello (2014a: 225) stellt für die Sprache der Verwaltung die Ebene der Verkäufersprache in den Vordergrund. In Anlehnung an Berruto (1987) unterscheidet er zwischen Fachsprachen stricto sensu und lato sensu. Aufgrund ihrer Heterogenität und der Tatsache, dass manchmal auch Laien davon Gebrauch machen können bzw. müssen, sei die Verwaltungssprache nicht den Fachsprachen stricto sensu zuzuordnen. Diese Unterscheidung nimmt Viale (2008: 49 f.) teilweise wieder auf. Er merkt an, dass sich die Verwaltungssprache auf halbem Weg („a metà strada“) befindet. Als Erklärung dafür führt er die Existenz nur eines kleinen Anteils an deutlich verwaltungssprachlicher Lexik („lessico specialistico ben definito“) an (vgl. dazu I.1.2.2). 70 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="71"?> 98 Vgl. z. B. Viales Definition von Verwaltungssprache, die in I.1.2.1 wiedergegeben wird (Viale 2008: 43). 99 Auch das Metzler Lexikon Sprache (Glück 2010: 754) unterscheidet zwischen einer inneren und einer äußeren Verwaltungssprache. Die innere Verwaltungssprache ist diejenige Sprache, die „innerhalb einer Administration bzw. zwischen verschiedenen Einrichtungen einer Administration verwendet wird […] (z. B. Dt. in Deutschland)“. Die äußere Ver‐ waltungssprache entspricht derjenigen Sprache, die „von den Behörden im äußeren Dienstverkehr mit den Bürgern verwendet werden […] muss“. Verwaltungssprache wird überwiegend im sprachpolitischen Sinn verstanden, wobei sich der Ausdruck als Synonym für Amtssprache ansehen lässt (vgl. I.1.2.1.2). Dem Wort Amtssprache werden im entspre‐ chenden Eintrag zwei Lesarten zugeordnet. Zum einen wird zwischen externer Amts‐ sprache („zwischen Staatsorganen im internationalen Verkehr“) und interner Amtssprache („innere Verwaltungssprache“) unterschieden; zum anderen entspricht Amtssprache der „Fachsprache(n) von öffentl. Behörden und Gerichten, die oftmals als Instrument von Autorität und Herrschaft empfunden wird (werden) und dem Leitbild von demokrat., bürgerfreundl. und effizienter Justiz und Verwaltung widerspricht“. Im Allgemeinen lässt sich jedoch sagen, dass die meisten Sprachwissen‐ schaftler auf die doppelseitige Natur der Verwaltungssprache hinweisen. 98 Dabei geht es eben um „die zwei Seiten der Verwaltung, die verwaltungsin‐ terne und die öffentliche Seite“ (Fluck 1996: 74 und 2010: 151). Becker- Mrotzek (1999: 1396) spricht diesbezüglich von „explizit zweifache[r] Zweck‐ setzung“ der Sprache der Verwaltung, wonach sie „einerseits eine Fachsprache für die Agenten der Institution Verwaltung; andererseits […] das zentrale Mittel für die Kommunikation mit dem Bürger [ist]“. Die wichtigste Differenzierung ist somit diejenige, die „sich an der Person des Adressaten ausrichtet“ (Daum 1981: 95; Kursiv im Original; Fettdruck A.A.): Als Fachsprache der Bürokratie ist sie [die Sprache der Verwaltung] funktionsgerecht, weil ihre präzisen und genormten Begriffe, die Genauigkeit ihrer Verknüpfung und die ökonomische Reduktion der sprachlichen Mittel Reflexe der Erfordernisse rationaler und rationeller Verwaltung sind. Wäre sie eine rein behördeninterne Fachsprache, so müßte sie wie jede andere Fachsprache behandelt werden, von der keine allgemeine Verständlichkeit erwartet wird und an die man keine moralischen oder ästhetischen Maßstäbe anlegt. Wenn sie dennoch von der Gesellschaft mit Ärger, Spott und Mißvergnügen verfolgt wird, so liegt das daran, daß sie eben nicht nur Aufgaben in der internen Kommuni‐ kation der Exekutive erfüllen muß, sondern ihre Sprachformen sich auch an den Bürger richten, der sich dem Polizisten, dem Regierungsrat am Finanzamt, dem Zollbeamten gegenübersieht, Formulare auszufüllen oder einer Vorladung zu folgen hat (Dieckmann 1976: 93; Hervorhebungen A.A.). 99 71 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="72"?> 100 Baumann (2008: 35), der sich mit einer „auf die Bürger der Gesellschaft gerichtete[n] öf‐ fentliche[n] Verwaltungskommunikation“ befasst, betont, dass die „über Jahrhunderte gewachsene Verständlichkeit erschwerende Dissonanz zwischen der hohen Fachlich‐ keit einerseits und der kommunikativen Nicht-Gerichtetheit der Verwaltungssprache auf die Adressatenspezifik andererseits […] im Vergleich mit anderen Fachsprachen eine der zentralen kommunikativ-kognitiven Besonderheiten dar[stellt]“. 101 Fuchs-Khakhar (1987: 44) merkt an, dass Ottos Aufgliederung „am umfassendsten [ist] und […] als grundlegend gelten [kann]“. Dies habe zur Folge, dass „andere Autoren immer wieder auf seine Systematik der Rechts- und Verwaltungssprache zurück[greifen]“. Vgl. auch Oksaar (1989: 226), Steger (1989: 127), Simonnæs (2005: 51 f.) und Nussbaumer (2009a: 2133). Da „das sprachliche Handeln nach außen, die Kommunikation mit den Bürgern zu den wichtigsten Aufgaben der öffentlichen Verwaltung gehört“, sind also „die Vorteile, die ihre Fachsprache für die Verständigung unter Fachleuten hat, […] Nachteile für die Betroffenen“ (Stickel 1981: 303). Otto (1981: 45) spricht in diesem Zusammenhang von der „Paradoxie einer Fachsprache“ und verweist dabei auf die Tatsache, dass man eine Fachsprache hat, „die zugleich Gemeinsprache ist“ (Hervorhebung im Original gelöscht). 100 Für den Gesamt- Komplex Rechts- und Verwaltungssprache schlägt er eine Einteilung vor, die in der Forschung eine breite Rezeption erfahren hat. 101 Seine Systematik der Rechts- und Verwaltungssprache besteht aus fünf Schichten, die sich aufgrund von „Quelle, Inhalt und Informationszweck“ (Otto 1978: 11 und 1981: 51) voneinander unterscheiden lassen: 1. Gesetzessprache, 2. Urteils- und Bescheid‐ sprache, 3. Wissenschafts- und Gutachtensprache, 4. Sprache des behördlichen Schriftverkehrs (mit fachkundigen Empfängern oder mit dem fachunkundigen Bürger), 5. Verwaltungsjargon. Hinzu kommen noch die Sprache der behördlichen Öffentlichkeitsarbeit und die Sprache des mündlichen Verkehrs (etwa im Fall von Verhandlungsterminen oder Beratungsgesprächen). Das Sprachschichten- Modell betrachtet Otto (1981: 52) als „eine Treppe“, auf der „man von der höchsten fachsprachlichen Intensität der Wissenschaftssprache Stufe für Stufe hinabsteigt bis an die bequeme Verkehrsfläche der Gemeinsprache“ (Hervor‐ hebungen im Original gelöscht). Insofern lässt sich sein Modell als vertikale Darstellung verstehen. Indem Otto zwischen verschiedenen Verwendungszu‐ sammenhängen der Sprache im öffentlichen Bereich differenziert (vgl. Becker- Mrotzek 1999: 1395), indem er etwa Schichten 2 und 4 mit der „Amtssprache (Beamtensprache, Amtsdeutsch im Sinne dieses Büchleins)“ (Otto 1978: 12; Hervorhebungen im Original gelöscht) - also mit der Verwaltungssprache im 72 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="73"?> 102 Otto (1978: 12) erwähnt auch die Kanzleisprache - von ihm auch Kanzleistil genannt. Damit meint er „gewisse Eigenheiten vor allem aus der Sprachschicht Nr. 4, die sich von alters her in den Kanzleien (Schreibstuben, Geschäftsstellen) entwickelt haben“. 103 In dieser Hinsicht hebt Adamzik (2018b: 183) hervor, dass auch die „Differenzierung einer horizontalen von einer vertikalen Gliederung […] grundsätzlich außerordentlich problematisch [ist]“. 104 Bei dieser Darstellung handelt es sich um eine verknappende Bearbeitung der Originalbeiträge. Die Auflistungen der Originaltexte wurden direkt in der Tabelle wiedergegeben und die meisten Ausdrücke, die verwaltungssprachliche Merkmale bezeichnen, von den Quellen her ohne Veränderungen übernommen. Dabei wurden die Merkmale/ Kategorien bzw. Auflistungspunkte, die miteinander korrespondieren, nebeneinander gestellt. Unterschied zur Rechtssprache - assoziiert, bezieht er aber auch eine horizontale Perspektive mit ein. 102 Er kombiniert also beide Sichtweisen miteinander. 103 1.2.2 Verwaltungssprache als Menge sprachlicher Mittel Wenn man nun die sprachlichen Mittel fokussiert, die als typisch für die Ver‐ waltungssprache gelten, dann lassen sich neben der Lexik Merkmale auflisten, die hauptsächlich der Morphosyntax zuzuordnen sind. Dabei steht der Begriff Selektion (vgl. Hoffmann 1998b: 416) im Vordergrund. Es geht nämlich um „die Auswahl bestimmter Konstruktionen und Formen aus einer größeren Menge im System angelegter Möglichkeiten“ und um „auffällige Häufigkeit in der Fachkommunikation“ (ebd.). Bei der Selektion handelt es sich also um „ein überwiegend quantitatives Merkmal, das allerdings oft funktional, z. B. als sprachlicher Ausdruck von Gütemerkmalen wie Präzision, Eindeutigkeit, Folgerichtigkeit, Explizität, Ökonomie usw., interpretiert wird“ (ebd.; Hervor‐ hebungen im Original gelöscht). Einen Überblick über die Eigenschaften, die in der linguistischen Literatur als typisch verwaltungssprachlich betrachtet werden, bietet die folgende Tabelle (Tab. I.1.3), die vier verschiedene Beiträge zusammenbringt: 104 73 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="74"?> Wagner (1970: S. 97ff.) Becker-Mrotzek (1999: S. 1396f.) Fluck (2008: S. 118ff.) Hohenstein/ Rehbein (2009: S. 2162f.) • nominaler, abstrakter, un‐ persönlicher Stil; Genau‐ igkeit, Klarheit und Ob‐ jektivität; Formeln und formelhafte Wendungen • hohe Informationsdichte; in‐ haltliche Genauigkeit; Ein‐ deutigkeit; Sachbezogenheit; Unpersönlichkeit • Unpersönlichkeit • sprachliche Formeln • Typenhaftigkeit • Verfahrenstechnische Flos‐ keln • Mischung aus persönlichem Stil und behördlichem Ver‐ kündigungsstil • Versachlichung, geringe An‐ zahl personaler Subjekte; Fehlen des direkten Impera‐ tivs; passivische Sätze; no‐ mina agentis • nicht-personale Subjekte mit Tätigkeitsverben • Auslassung des Imperativs • Passivkonstruktionen • Vollständigkeit und Genau‐ igkeiten; Attribute; spezifi‐ zierende Wortzusammenset‐ zungen • partizipiale und substantivi‐ sche Attribute mit Klammer‐ bildung • attributive Partizipialkonst‐ ruktionen • adjektivische bzw. adver‐ biale Verwendung zeitlicher, örtlicher, relationaler oder sonstiger Bestimmungen • gedrängter und inhaltsrei‐ cher Stil; kurze Sätze • kurze, wenig gestaffelte Sätze, allerdings unter Ver‐ wendung längerer Wörter • überlange Hauptsätze • Komprimierungen (Aufla‐ dung von Einfachsätzen durch nominale Ketten, Prä‐ positionalphrasen …) • formelhafte und komplexe Präpositionalphrasen • Ketten von Nomina, Präpo‐ sitionalphrasen und Genitiv- Attributen 74 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="75"?> • nominale Satzglieder als wichtigste Träger der In‐ halte; verbale Satzglieder als semantisch leere Elemente • Vorgangsgefüge • Funktionsverben • Funktionsverbgefüge • Zentralität der Substantive • Nominalisierungen • Nominalisierung sowie At‐ tribuierung / Adverbialisie‐ rung • Komposition / Zusammen‐ setzung von Nomina; no‐ minalisierte passivähnliche Konstruktionen • Fachwörter und Sachbe‐ zeichnungen • Fachbegriffe • Abkürzungen • juristische Fachterminologie • rechtssprachliche Formulie‐ rungen • wenige Kunstwörter • Wortbildung: Ableitungen auf -ung und Zusammenset‐ zungen • Vielzahl spezifischer Adjek‐ tive, häufig mit den Suf‐ fixen -lich, -gemäß, -bar und -mäßig • Adverbien aus Substantiv und adjektivischem Fle‐ xions-/ Derivationsmor‐ phem • vorformulierte Schematexte und Formulare • behördentypische Begrün‐ dungen und Erläuterungen • belehrender Charakter • Obrigkeitsstil 75 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="76"?> • Einschränkung des Hand‐ lungsspielraums • Unklarheiten bei festste‐ henden Formulierungen Tab. I.1.3: Typische Merkmale der deutschen Verwaltungssprache 76 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="77"?> 105 Zur Bedeutung von Korpusuntersuchungen in der Fachsprachenforschung und zum Problem der praktischen Undurchführbarkeit von systematischen, forschungsrele‐ vanten Analysen großer Datenmengen vgl. Adamzik (2018b: 72). 106 Eine ausführlichere Beschreibung der „Institutionensprache in Ämtern und Behörden“ vom Gesichtspunkt der Funktionalen Pragmatik findet sich in Rehbein (1998). 107 Zu den typischen Merkmalen von Fachsprachen im Allgemeinen vgl. die Beiträge von Baumann, Fraas und Hoffmann im HSK 14.1 - Fachsprachen; Fluck (2000: 92 ff.), Löffler (2016: 105), Adamzik (2018b: 78). Nur im Fall von Wagner handelt es sich um eine der Verwaltungssprache ge‐ widmete Spezialuntersuchung, die korpusbasiert ist. Sie umfasst eine Samm‐ lung von 1.000 Sätzen, die aus Verwaltungsvorschriften, Verwaltungsakten, Schriftverkehr und informativen Schriften entnommen wurden. Die anderen Beiträge entsprechen Abschnitten in Überblicksdarstellungen zur Sprache der Verwaltung. 105 Die Arbeiten sind im Allgemeinen aufeinander bezogen. Becker- Mrotzek und Fluck lehnen sich explizit an die Ergebnisse von Wagner an. Hohenstein/ Rehbein operieren dagegen mit Begriffen, die in den Rahmen der Sprachtheorie der Funktionalen Pragmatik gehören. 106 Was Becker-Mrotzek 1999 mit Bezug auf Arbeiten zur Verwaltungssprache allgemein feststellt, lässt sich auch auf die hier im Mittelpunkt stehenden Darstellungen übertragen: Bei den Charakteristika der geschriebenen Verwaltungssprache bestehen relativ große Übereinstimmungen bei den Beschreibungen; […]. Zu bedenken ist, daß sich die Analysen überwiegend auf lexikalische und syntaktische Phänomene beziehen und in der Regel entweder nicht zwischen verschiedenen Textarten unterscheiden oder aber sich nur auf eine Textart (Formulare, […]) beziehen (Becker-Mrotzek 1999: 1396). Die Beiträge, die in der Tabelle oben zusammengestellt werden, listen Charak‐ teristika der Verwaltungssprache pauschal auf. Im Großen und Ganzen stimmen sie miteinander überein. Divergenz besteht nur mit Bezug auf Satzlänge. Zählen Wagner und Becker-Mrotzek kurze Sätze zur Charakteristik der Sprache der Verwaltung, spricht Fluck von „überlangen Hauptsätzen“. Allen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie einen gedrängten, komprimierten Stil als verwaltungs‐ typisch betrachten. Dementsprechend werden Informationen und Inhalte be‐ sonders über Nomina vermittelt. Nominalstil ist übrigens eines der Merkmale, die als typisch für Fachsprachen im Allgemeinen angesehen werden. Insofern fallen die hier aufgelisteten Charakteristika der Verwaltungssprache (Nomina‐ lisierungen, passive und unpersönliche Formen, Funktionsverbgefüge …) mit den allgemeinen Eigenschaften der Fachsprachen zusammen. 107 Übereinstimmungen liegen selbstverständlich besonders nahe, wenn man Beschreibungen der Verwaltungssprache mit Darstellungen von Charakteris‐ 77 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="78"?> 108 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Fuchs-Khakhar (1987: 38 ff.). Weiterführende Literatur zum Thema findet sich in Nussbaumer (1997) und Bungarten/ Engberg (2003). tika der Rechtssprache vergleicht. Eine gute Übersicht über solche Merkmale bietet Nussbaumer (2009a), der Eigenheiten von Gesetzestexten aufzählt. Aller‐ dings weist er darauf hin, dass je nach Stufe des Gesetzesrechts […] diese im Einzelnen zu differenzieren [wären] […]. Auf der anderen Seite gelten diese Charakteristika - wegen der starken Intertextualität - in Teilen auch für andere Rechtstextsorten und für benachbarte Texte, namentlich Verwaltungstexte (Nussbaumer 2009a: 2136). Nussbaumers Ausführungen betreffen Gesetzestexte, lassen sich aber auch auf Rechts- und Verwaltungstexte im Allgemeinen beziehen. Zusammengefasst werden sie unten in der Tabelle (Tab. I.1.4): 108 Nussbaumer (2009a: S. 2137ff.) Lexikalisch-semantische Aspekte: • Juristische Fachlexik und je nach Gegenstand außerjuristische Fachlexik • Archaismen • Latinismen • Fachsemantische Verwendung gemeinsprachlicher Lexik • Mehrgliedrige Komposita und Tendenz zu längeren Wörtern, fachspezifische Ableitungen und mehrwortige Ausdrücke • Bildung von Kurzwörtern und Abkürzungen • Feste Wortverbindungen (idiomatische Wendungen, Phraseologismen), Formeln • Rhetorisch-Figürliches (Reim, Stabreim, Paarformeln) • Konventionalisierte Metaphern und Metaphernfelder Grammatische Aspekte: • Konditionalgefüge, bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge • Zeitloses Präsens • Fehlen des grammatischen Artikels • Modalität (Zwingendes im Indikativ vorgetragen) • Formen der Verdichtung, Komprimierung, Kondensierung. Variationen des No‐ minalstils (Nominalphrasen mit komplexen Attribuierungen; genitivisch und prä‐ positional verknüpfte Substantivketten); Bildungen mit …freundlich, …feindlich, …fähig, …pflichtig • Funktionsverbgefüge • Falsche Beziehungen zwischen attributivem Adjektiv und dem Bezugswort des substantivischen Kompositums • Agensschwund, Passiv und Passiv-Alternativen 78 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="79"?> 109 Vgl. I.1.2.1.2 und Pörschke (2015), der schon im Titel seiner Arbeit auf die intra- und interlingualen Aspekte der Verwaltungssprache im internationalen Vergleich verweist. Textuelle Aspekte: • Aufbau nach festen Mustern • Strenge Gliederung • Aufzählungen (mit Buchstaben, Ziffern) im graphischen Stil • Aufzählende Reihen innerhalb einfacherer Sätze • Herstellung der Textkohäsion durch identische Ausdrücke (Wortwiederholungen) • Aneinanderreihung von textgrammatisch autonomen Minitexten; Kontextualisie‐ rung (mittels Deiktika) über die Artikelgrenze hinaus ist unüblich • Eigenartige metatextuelle Sprachhandlungen (Legaldefinitionen und Verweise) • Rahmensatzkonstruktionen mit eingeschobener Reihung von abhängigen Neben‐ sätzen Tab. I.1.4: Typische Merkmale der deutschen Rechtssprache Gemeinsamkeiten bestehen nicht nur intrasprachlich zwischen den typischen Eigenschaften der verschiedenen Fachsprachen - wobei es feststeht, dass die Grenzen zwischen den fachsprachlichen Varietäten unscharf sind (vgl. I.1.2.1). Es gibt auch intersprachliche Charakteristika, die entsprechende Varietäten verschiedener Sprachen gemeinsam haben und also über Einzelsprachen hin‐ ausgehen. Mit Bezug auf die Verwaltungssprache weist Fluck (2010: 150 f.) etwa auf die „die Einzelsprachen übergreifenden Strukturen der Verwaltungssprache“ hin, wozu er „Unpersönlichkeit“, „Obrigkeitsstil und belehrende[n] Charakter“, „Einschränkung des Handlungsspielraums des Rezipienten“ und „häufige No‐ minalisierungen (Hauptwortstil)“ zählt. 109 Auch Rehbein (1999) betont im Hinblick auf die Institutionensprache die Existenz unterschiedlicher Ähnlichkeiten zwischen Sprachgemeinschaften. Er setzt allerdings den Akzent auf den unterschiedlichen Charakter verschiedener sprach-kultureller Traditionen: Als Institutionen haben [Ämter und Behörden] in den einzelnen europäischen Natio‐ nalstaaten ihre spezifische Tradition mit je eigenständigen Fachkommunikationen ausgebildet, die ebensowenig eins zu eins aufeinander abbildbar sind wie die Ver‐ waltungsstrukturen selbst - auch wenn sich die speziellen Aufgabenbereiche der Fachkommunikation einander annähern (Rehbein 1999: 671; Hervorhebungen im Original gelöscht). Zwischensprachliche Annäherungen zeigen sich beim Vergleich zwischen deut‐ scher einerseits und italienischer Rechtssprache und Verwaltungssprache ande‐ rerseits. Eine knappe Darstellung der typischen Merkmale der italienischen 79 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="80"?> 110 Für eine umfassende Auseinandersetzung mit der italienischen Rechtssprache vgl. Mortara Garavelli (2001). Vgl. auch Cavagnoli/ Woelk (2004), Cavagnoli (2007) und Gualdo/ Telve (2012). 111 Für weitere Darstellungen der Merkmale der italienischen Verwaltungssprache vgl. Serianni (2003), Raso (2005), Trifone (2009), Cortelazzo (2010b), Proietti (2010). Rechtssprache findet sich im an Studierende gerichteten Lehrbuch von Seri‐ anni (2003), der sich mit der Schriftsprache beschäftigt. Die von ihm erwähnten Eigenschaften der Sprache des Rechts werden im Folgenden wiedergegeben (Tab. I.1.5): 110 Serianni (2003) Terminologia giuridica (S. 126ff.): • Tecnicismi specifici • Tecnicismi collaterali: a. Nomi generali b. Tecnicismi collaterali di uso stabile e insostituibili c. Tecnicismi collaterali dettati da esigenze di decoro espressivo o dall’ossequio alla tradizione d. Tecnicismi collaterali morfo-sintattici, per esempio locuzioni preposizionali preferite a preposizioni più semplici di uso più corrente Latinismi e forestierismi (S. 132ff.): • Parole e singole frasi in latino • Parole in inglese Grammatica e sintassi (S. 134ff.): • Uso dell’imperfetto narrativo, tipicamente per ricostruire un fatto • Frequente uso del congiuntivo nelle subordinate, là dove l’italiano corrente, parlato e scritto, preferisce l’indicativo • Uso frequente del participio presente con valore verbale • Frequente anteposizione del participio passato • Omissione dell’articolo, dovuta, per esempio, al carattere tecnico di una locuzione o all’appartenenza a sintagmi con valore avverbiale Tab. I.1.5: Typische Merkmale der italienischen Rechtssprache Zur italienischen Verwaltungssprache sind insbesondere die Ausführungen zu erwähnen, die aus den Monografien von Viale (2008) und Lubello (2014b) stammen (Tab. I.1.6): 111 80 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="81"?> Viale (2008) Lubello (2014b) Le peculiarità del lessico (S. 55ff.): Il lessico burocratico (S. 52ff.): • Lessico legato a esigenze referenziali di carattere tecnico: lessico tecnico burocratico, lessico giuridico, lessico tecnico lingua speciale 1, lessico tec‐ nico lingua speciale 2, lessico tecnico lingua speciale 3, lessico tecnico lingua speciale x • Scelte retoriche e di registro formale: termini tecnici non necessari, pseudotecnicismi, tecnicismi collaterali, locu‐ zioni tipiche stereotipate, scelte lessi‐ cali paludate, arcaismi • Uso di forestierismi, abbreviazioni, sigle e acronimi • Tecnicismi stretti • Altri tecnicismi: tecnicismi giuridicoamministrativi, tecnicismi derivanti da altri linguaggi speciali, tecnicismi col‐ laterali o pseudotecnicismi • Aulicismi e sinonimi elevati al posto di parole di uso comune; formule anafo‐ riche e cataforiche desuete • Genericismi o parole astratte • Arcaismi lessicali, forme dotte non più in uso o desuete • Forestierismi: latinismi, anglicismi • Sintagmi e locuzioni tipiche, stereoti‐ pate, collocazioni speciali • (Ab)uso di abbreviazioni, sigle, acro‐ nimi • Formazione delle parole: deverbali a suffissazione zero, verbi denomi‐ nali (dimissionare, ospedalizzare, dis‐ dettare), aggettivi in -ale sul modello dell’inglese, astratti in -zione, agget‐ tivi sostantivati, suffissi latineggianti in -ario, forme ellittiche di sostantivi giustapposti senza preposizione La complessità morfo-sintattica (S. 59ff.): Elementi di morfosintassi (S. 48ff.): • Frequente ricorso all’ipotassi • Abituale ricorso alla nominalizzazione • Alta frequenza della diatesi passiva e delle forme impersonali • Uso del futuro deontico • Predilezione per certi modi verbali come il gerundio e il participio pres‐ ente • Reggenza multipla del verbo • Presenza di arcaismi morfologici, enc‐ lisi, verbi fraseologici • Periodi lunghi, complessi, ricchi di subordinate (spesso implicite), con molti incisi e frasi relative • Nominalizzazioni, costruzioni con verbo generico + sostantivo, strutture pleonastiche • Struttura impersonale e costruzione passiva • Enclisi pronominale del tipo affittasi • Arcaismi morfologici • Strutture preposizionali libresche o in disuso • Vitalità del participio presente con va‐ lore verbale • Uso frequentissimo del participio pas‐ sato • (Ab)uso del gerundio • Futuro deontico o iussivo • Estensione dell’uso dell’infinito come imperativo generico in avvisi e istru‐ zioni 81 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="82"?> 112 Die Unterscheidung entspricht hier einer groben, zusammenfassenden Vereinfachung der vorhandenen lexikalischen Typologien. Bei näherer Betrachtung stellt man schnell fest, dass es (kleine) Unterschiede gibt mit Bezug auf die Art und Weise, wie die verschiedenen Autoren die Lexik der Rechtsbzw. Verwaltungssprache aufgliedern (vgl. oben Serianni 2003, Viale 2008 und Lubello 2014b; vgl. auch Mortara Garavelli 2001 und Trifone 2009). • Imperfetto narrativo usato al posto del passato prossimo se si indica un’azione puntuale • Tendenza alla frase negativa con lo scopo di attenuare un’espressione o di mitigare l’effetto di un’imposizione, di un divieto • Frequenti inversioni dell’ordine nor‐ male delle parole • Imperfetta saturazione delle valenze verbali e reggenze verbali non con‐ formi allo standard Aspetti legati alle testualità (S. 61): I caratteri della testualità (S. 58f.): • Scorretta organizzazione delle infor‐ mazioni • Ordine sequenziale del contenuto, con concentrazione delle informazioni e loro gerarchizzazione dal generale al particolare, e la messa in evidenza del verbo reggente (decreta, stabilisce, in‐ forma) • Struttura del testo chiara e riconosci‐ bile, anche con il ricorso a elementi tipografici, alla paragrafatura, a strut‐ ture a lista, tabelle e grafici • Uso abbondante di connettivi testuali e deittici, anche arcaici • Uso di numerosi elementi anaforici e cataforici, anche con formule obsolete • Coniunctio relativa • Formule cristallizzate di apertura e chi‐ usura, con moduli fissi di allocuzione Tab. I.1.6: Typische Merkmale der italienischen Verwaltungssprache Bemerkenswert ist hier die lexikalische Unterscheidung zwischen tecnicismi stretti / specifici und tecnicismi collaterali / pseudotecnicismi, die in den meisten Studien zur italienischen Rechtssprache und zur Verwaltungssprache vorgenommen wird. 112 Die tecnicismi stretti bezeichnen Ausdrücke, die aus „necessità referenziale“ (Lubello 2014b: 54) benutzt werden. Es handelt sich um spezifische Fachwörter, die nötig sind, um sich auf gewisse Sachverhalte ein‐ deutig zu beziehen (z. B. protocollare). Die pseudotecnicismi verweisen dagegen 82 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="83"?> 113 Dies gilt insofern, als die Fachlexik bei der Kennzeichnung von Fachsprachen eine wichtige Rolle spielt: „Die Spezifik der Fachsprachen äußert sich besonders deutlich in ihren Wortschätzen, wo sich jede von ihnen eine mehr oder weniger eigenständige Terminologie geschaffen hat, die zu einem Teilsystem des lexikalischen Gesamtsystems der jeweiligen Sprache geworden ist“ (Hoffmann 1998b: 416). auf „termini che potrebbero anche essere sostituiti da altre parole più comuni senza che il messaggio subisca alcuna dispersione di significato“ (Trifone 2009: 223). Dabei geht es um gemeinsprachliche Wörter, die im Alltag weniger häufig auftreten und die man in der Rechts- und Verwaltungssprache aufgrund ihrer ‚technischen Konnotation‘ (vgl. Mortara Garavelli 2001: 16) bevorzugt (z. B. ac‐ cusare un dolore). Sie werden lediglich verwendet, um Texten fachsprachlichen, technischen, formellen Schein zu verleihen. Besonders solche (überflüssigen) Ausdrücke sind die Zielscheibe der Kritik an der Schwer-Verständlichkeit der Rechts- und Verwaltungssprache. Gerade auf ihre Aufhebung setzen die meisten Arbeiten zur Optimierung von rechts- und verwaltungssprachlichen Texten (vgl. I.1.2.1.2 und I.3.5). Alle Arbeiten zur Rechtssprache und zur Verwaltungssprache stimmen darin überein, dass beide Sprachvarietäten in aller Regel die meisten tecnicismi stretti teilen: La stretta vicinanza tra il linguaggio giuridico e quello burocratico fa sì che in parecchi casi il tecnicismo sia condiviso da entrambi gli ambiti senza variazioni di significato (Trifone 2009: 222). Auf die Existenz eines kleinen Kerns von tecnicismi stretti, die als bloß verwal‐ tungssprachlich - und nicht rechtssprachlich - anzusehen wären, verweisen sowohl Viale (2008: 57 f.) als auch Lubello (2014b: 53 f.). Viale spricht von Wörtern „del linguaggio burocratico stricto sensu“ und betont, dass diese Aus‐ drücke zwar zur Rechtssprache zugleich gehören, dass es allerdings auch rein verwaltungssprachliche Fachwörter („termini tecnici puramente burocratici“) gibt, „che non hanno riscontro nel linguaggio giuridico“ (die in der Lexik der Sprache des Rechts nicht vorhanden sind). Lubello unterscheidet dabei zwischen „tecnicismi stretti“ (rein verwaltungssprachlich, wie etwa protocollare) einerseits und „tecnicismi giuridico-amministrativi“ (rechts- und verwaltungs‐ sprachlich, z. B. istanza) andererseits. Die Bemühungen um eine Unterscheidung zwischen verwaltungssprachli‐ cher und rechtssprachlicher Lexik deuten darauf, dass man eine gewisse Eigen‐ ständigkeit der Verwaltungssprache gegenüber der Rechtssprache anerkennt und als relevant ansieht. 113 Die Frage des Verhältnisses zwischen diesen 83 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="84"?> 114 Wie sich aus den Ausführungen dieses und besonders der Abschnitte zu den horizon‐ talen und vertikalen Gliederungen entnehmen lässt, betrifft die Frage der Eigenstän‐ digkeit der Verwaltungssprache nicht nur ihr Verhältnis zur Rechtssprache, sondern auch zur Alltagssprache. Vgl. dazu auch Grosse (1981: 268), Fuchs-Khakhar (1987: 70), Heinrich (2014: 49), Löffler (2016: 108). Varietäten 114 wurde bei den vorangehenden Ausführungen zur horizontalen und vertikalen Gliederung der Sprachvarietäten behandelt (vgl. I.1.2.1.1 und I.1.2.1.3). Daraus zieht der nächste Abschnitt eine Bilanz. 1.2.3 Verwaltungssprache als konkreter Sprachgebrauch in Ämtern und Behörden Da „die Reflexion auf das Sprachsystem und auf die Sprachverwendung zur Voraussetzung der Kommunikation“ (Schwitalla 1976: 27) in der Wissenschaft gehört, hat sich dieses Kapitel als Ziel gesetzt, die in der Forschung vorhandenen Definitionen der Begriffe zu berücksichtigen, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen. Im Zentrum des Interesses stand der Begriff Verwaltungs‐ sprache. Überwiegend bin ich nach einem semasiologischen Ansatz vorge‐ gangen: Ich habe an signifiants, wie etwa Verwaltungssprache, angesetzt und festgestellt, welche signifiés ihnen zugeordnet werden. Eine onomasiologische Perspektive ist auch mit ins Spiel gekommen: Ich habe nämlich z. B. betrachtet, wie der Weltausschnitt, den ich allgemein bzw. abstrakt als Sprache / Sprach‐ gebrauch im öffentlichen Leben bezeichnet habe, von den diversen Autoren angesehen und gegliedert wird. Aus der Durchsicht der Literatur hat sich ergeben, dass die wissenschaftliche Forschung zu dem hier im Mittelpunkt stehenden Bereich äußerst heterogen ist. Es liegt in der Tat eine unzählbare Menge an Studien vor, für die man sagen könnte, dass sie sich mit der öffentlichen Sprache beschäftigen. Sprache im öf‐ fentlichen Leben ist tatsächlich ein vielschichtiges Gebilde, das unterschiedliche Gegenstandsbereiche betrifft und an denen verschiedene Akteure teilnehmen. Dieses Gebilde kann man nach unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten: Man kann an bestimmten Produzenten- oder Rezipientengruppen (Berufsgruppen, Funktionsgruppen, …) ansetzen, an Texten und Textsorten (Gesetze, Gerichts‐ urteile, Bescheide …), an Kommunikationsformen (Formulare, Webauftritte …) usw. Geklärt werden muss von Anfang an, mit welchen Etiketten man operiert bzw. worauf diese bezogen sind, was damit gemeint ist. Wichtig ist also, dass man den eigenen Untersuchungen (Arbeits-)Definitionen vorausschickt. Neben Verwaltungssprache ist Rechtssprache eine der Etikettierungen, die in diesem Zusammenhang bzw. im Hinblick auf die öffentliche Sprache am 84 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="85"?> 115 Vgl. Adamzik (2018b: 164; Kursiv im Original), die in Anlehnung an Kalverkämper betont, „dass bereits die Bestimmung von Fach eine perspektivische ist, weil Fächer nicht vorgegebenen Wirklichkeitsbereichen entsprechen, sondern zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und in Bezug auf den jeweils erreichten Stand von Arbeitsteilung und Diskussion in konkreten Gesellschaften zu bestimmten Zwecken gesetzte Einheiten sind“. gebräuchlichsten sind. Die Verwendung bzw. die Existenz zwei verschiedener Begriffe deutet darauf hin, dass man Unterschiede in der Wirklichkeit sieht, die man für relevant hält und die dazu veranlassen, aufgrund von gewissen Kriterien eine Unterscheidung zwischen zwei Sprachvarietäten vorzunehmen. Dabei lassen sich sowohl sprachliche als auch außersprachliche Kategorien heranziehen. Betrachtet man nun die sprachlichen Mittel (lexikalisch und grammatisch), die gewöhnlich - in den verschiedenen Studien - mit der Rechtssprache einerseits und der Verwaltungssprache andererseits assoziiert sind, stellt sich heraus, dass sich typische sprachliche Elemente der einen Varietät grundsätzlich nicht von denen der anderen differenzieren lassen. Sprachmittel spielen daher bei der Unterscheidung kaum eine Rolle. Geht man über zu den außersprachlichen Faktoren, stellt man fest, dass Verwaltungssprache den Leuten zugeschrieben wird, die in Ämtern arbeiten und deren besonderer Sprachgebrauch durch die Besonderheiten ihrer Tätigkeit motiviert ist. Rechtssprache ist hingegen mit den Aufgaben der Abgeordneten im Parlament und der Richter und An‐ wälte in Gerichtshöfen verbunden. Die Ausprägung von zwei verschiedenen Sprachvarietätsbezeichnungen geht somit auf die Entstehung des demokratischen Rechtsstaats zurück und lässt sich lediglich durch den Aufbau der modernen Gesellschaften sowie das Prinzip der Gewaltenteilung erklären. Demnach ent‐ spricht die Verwaltungssprache dem Sprachverhalten der Exekutive und der zu deren Ausübung befugten Organisationen, die Rechtssprache dem der Legislative und Judikative. Verwaltungssprache und Rechtssprache beruhen also auf den entsprechenden Fächern; diese sind - wie die Varietäten - Konstrukte, die „die Arbeitsteilung und die soziale Gliederung einer Gesellschaft [reflektieren], […] diese zu kategorisieren [versuchen]“ (Adamzik 2018b: 163). 115 Dabei handelt es sich allerdings um konventionelle Unterscheidungen, um abstrakte Vorstellungen, die der Komplexität der Wirklichkeit nicht vollständig gerecht werden. Wie an mehreren Stellen bereits betont, sind exekutive Einheiten zwar mit administrierenden Aufgaben beauftragt, üben aber auch rechtsetzende aus. Dasselbe bzw. das Umgekehrte trifft auf die legislativen und die rechtsausle‐ genden und -anwendenden Instanzen zu. Kategorien wie Exekutive, Legislative, Judikative, Verwaltungssprache, Rechtssprache … entsprechen also einer Idealisie‐ rung; dadurch trägt man hauptsächlich nur dem formellen bzw. offiziellen 85 1.2 Der Begriff Verwaltungssprache <?page no="86"?> 116 Im Fall der Gewaltenteilung legt eine Rechtsordnung fest, welche Aufgaben den verschie‐ denen Einheiten zustehen. Eine solche Festlegung entspricht allerdings einer Abstraktion und bleibt selbstverständlich auf einem allgemeinen Niveau. 117 Siehe auch Mortara Garavelli (2001: 7 f.; Hervorhebungen A.A.), die mit Bezug auf die Rechtssprache anmerkt: „Quando si dice ‚linguaggio giuridico o‘, con un’espressione assimilabile alla corrispondente inglese, ‚linguaggio legale‘, si ricorre a un’etichetta di estensione variabile, adattata, dai non-giuristi almeno, a un universo testuale composito, in cui si riconoscono varietà di lingua concorrenti. Fissare per ognuna i caratteri specifici ed esclusivi diventa problematico: la difficoltà di comporre una tipologia rigorosa è pari alla facilità di riconoscere provenienze e ambiti di uso coi soli mezzi dell’intuizione e della pratica“. Produzenten gewisser Tätigkeiten und sprachlicher Produkte Rechnung. 116 Wir haben es zu tun mit prototypischen Konzeptualisierungen eines mehrgliedrigen Bereichs, der durch das Zusammenspiel verschiedener Akteure, Tätigkeiten, Wissensbestände, Texte und Textsorten gekennzeichnet ist. In diesem Zusammenhang ist es wenig ergiebig bzw. sozusagen problema‐ tisch, mit feineren Gliederungen zu arbeiten bzw. sich um die Ausarbeitung einer - linguistisch fundierten - möglichst vollständigen Einteilung der Varietäten im Bereich Sprache im öffentlichen Leben zu bemühen. 117 Dieses Vorhaben ist sozusagen zum Scheitern verurteilt, weil es lediglich die jeweilige Perspektive eines Wissenschaftlers widerspiegeln kann, der auf der Basis von ihm ausge‐ wählter Kriterien den Gegenstand teilt (vgl. das Zitat von Löffler in I.1.2.1). Eine Aufgliederung in Sprachvarietäten erscheint als „sachlich unzutreffend“ (vgl. Oksaar 1989: 226) und wird daher in dieser Arbeit beiseitegelassen. Da es nicht um Abgrenzungen gehen kann (vgl. Adamzik 2016a: 237), ist auch die Frage, ob es sich bei der Rechtssprache und bei der Verwaltungssprache um zwei Fachsprachen bzw. Varietäten oder um eine handelt, die in sich heterogen ist, von untergeordneter Bedeutung. Anders gesagt: Es kann darauf keine ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ Antwort geben. In dieser Hinsicht strebe ich mit dieser Arbeit nicht danach, allgemeine Typologisierungen bzw. Differenzierungen von Sprachstilen vorzuschlagen. Vielmehr ziele ich darauf ab, den konkreten Sprachgebrauch öffentlicher Institutionen zu beschreiben. Dabei möchte ich einen Beitrag leisten, der ein besseres Verständnis der Sprache im öffentlichen Leben ermöglicht und das Text(sorten)repertoire ermittelt, „das man in beruf‐ lichen oder Funktionsrollen beherrschen muss […] oder das in bestimmten Handlungszusammenhängen anfällt“ (Adamzik 2011: 381; vgl. auch Adamzik 2018b: 277). 86 1 Einführung in die Verwaltungssprache <?page no="87"?> 2 Textlinguistische Theorie 2.1 Textsorten der Verwaltung, des Rechtswesens und der Politik in der Theorie Die Kommunikationsbereiche Verwaltung, Rechtswesen und Politik sowie die damit verbundenen Varietätenbegriffe überschneiden sich (vgl. I.1). Dabei gibt es Verschränkungen nicht nur mit Blick auf die Menge der sprachlichen Mittel allgemein, die jeweils mit den verschiedenen Varietäten in Verbindung gesetzt werden, sondern selbstverständlich auch in Bezug auf die Textsorten, die sich den Domänen zuordnen lassen. Dies liegt besonders nahe, wenn man die Versuche der Einteilung von Textsorten der drei Bereiche näher betrachtet. Bei solchen Versuchen handelt es sich in den meisten Fällen um Typologien im Sinne theoretischer Gliederungen, die aus vielerlei Per‐ spektiven unternommen werden. Im Mittelpunkt stehen abstrakt entwickelte Klassifizierungen, die deduktiven Ansätzen folgen. Sie basieren meistens nicht auf empirischen Klassifikationen als Gliederungen eines konkret vor‐ gegebenen Gegenstandsbereichs. In den folgenden Tabellen werden einige Klassifikationsversuche präsentiert. Die Tabellen bestehen jeweils aus drei Spalten. In der ersten Spalte steht der Autor, der die Klassifizierung unternommen hat. In der zweiten das Kriterium bzw. die Kriterien, die der Einteilung zugrunde liegen. Die dritte Spalte enthält die Makrokategorien bzw. die groben Texttypen, unter die die Texte und Textsorten aufgrund des Klassifikationskriteriums gruppiert werden. Die ersten zwei Tabellen enthalten die Klassifikationen, die unter dem Etikett Verwaltung bzw. Verwaltungssprache vorgenommen wurden. Die erste Tabelle (Tab. I.2.1) betrifft Studien, die auf Deutschland bezogen ist, die zweite (Tab. I.2.2) die schon erwähnte Studie von Viale (2008), die sich auf Italien bezieht: <?page no="88"?> Sprachwissenschaft - Verwaltung Autor Kriterium Kategorien/ Texttypen Wagner (1970: 11 f.) Funktion 1. Verwaltungsvorschriften 2. Verwaltungsakten 3. Allgemeinbehördlicher Schriftverkehr 4. Informative Schriften Becker- Mrotzek (1999: 1395 f.) (Teil-)Zweck 1. Wissensregulierende Texte 2. Wissensverarbeitende Texte 3. Wissensdarstellende Texte (1999: 1399) (Teil-)Zweck 1. Antragsdiskurse 2. Beratungsdiskurse 3. Widerspruchsdiskurse Rehbein (1999: 665 f.) Hauptadressat 1. institutionsinterne Textarten 2. institutionsexterne schriftliche Kommu‐ nikation 2-1 agentenadressierte klientenseitige schriftliche Kommunikation 2-2 klientenadressierte agentenseitige Textarten Becker- Mrotzek/ Scherner (2000: 634) (dominante) Funk‐ tion 1. Texte mit regulierender Funktion 2. Texte mit wissenserhebender bzw. -ver‐ mittelnder Funktion 3. Texte mit wissensbearbeitender Funktion 4. Texte mit handlungsschließender Funk‐ tion Ebert (2006: 138) Verbindlichkeits‐ grad - Geltungs‐ modus 1. verbindliche Texte 2. verbindende Texte Müller (2017: 444) Verbindlichkeits‐ grad - Geltungs‐ modus 1. Texte mit rechtlicher Verbindlichkeit 2. Texte ohne rechtliche Verbindlichkeit Tab. I.2.1: Sprachwissenschaftliche Klassifikationen der Texttypen der deutschspra‐ chigen öffentlichen Verwaltung im Vergleich In drei Fällen (Wagner, Becker-Mrotzek und Becker-Mrotzek/ Scherner) liegt die Funktion der Textsorteneinteilung zugrunde. Eng mit dieser Dimension verbunden ist das situative Kriterium Verbindlichkeitsgrad, das bei Ebert und Müller im Mittelpunkt steht. Rehbein teilt hingegen die Verwaltungstexte aufgrund der situativen Kategorie Hauptadressat. 88 2 Textlinguistische Theorie <?page no="89"?> Eine Kombination der Kriterien Funktion, Verbindlichkeitsgrad und Hauptad‐ ressat schlägt Viale mit Blick auf den italienischen Kulturraum vor: Sprachwissenschaft - Verwaltung Autor Kriterium Kategorien/ Texttypen Viale (2008: 106 ff.) Tipi testuali (im Sinne von Text‐ funktion bzw. The‐ menentfaltung) Valore giuridico (Verbindlichkeits‐ grad - Geltungs‐ modus) Destinatario (in‐ tern-extern; indivi‐ duell-kollektiv) • Tipi testuali e valore giuridico: prescri‐ zione / istruzione, esposizione / narra‐ zione / descrizione, argomentazione • Destinatario: interno / esterno; di interesse esclusivamente interno, rivolto all’interno ma con forte rilevanza esterna, rivolto all’esterno ma con forte rilevanza interna, di interesse esclusivamente esterno Tab. I.2.2: Texttypen der italienischen öffentlichen Verwaltung nach Viale (2008) Die zwei Tabellen (Tab. I.2.3 und Tab. I.2.4), die folgen, geben Studien wieder, die mit den Begriffen Rechtswesen / Rechtssprache / Rechtskommunikation operieren: Sprachwissenschaft - Rechtswesen Autor Kriterium Kategorien/ Texttypen Busse (2000: 669 ff.) Situation (traditio‐ nelle Unterbereiche des Rechts)/ Funk‐ tion 1. Textsorten mit normativer Kraft 2. Textsorten der Normtextauslegung 3. Textsorten der Rechtsprechung 4. Textsorten des Rechtsfindungsverfahrens 5. Textsorten der Rechtsbeanspruchung und Rechtsbehauptung 6. Textsorten des Rechtsvollzugs und der Rechtsdurchsetzung 7. Textsorten des Vertragswesens 8. Textsorten der Beurkundung (notarielle und amtliche Textsorten) 9. Textsorten der Rechtswissenschaft und juristischen Ausbildung Deutsch (2017: 95 f.) Produzent als Träger hoheitlicher Gewalt + Funktion und Geltungsmodus 1. hoheitlich a. regelnd (abstrakt-generell vs. kon‐ kret-individuell) b. (einen Rechtsstreit) entscheidend c. vereinbarend (konsensual) - bin‐ dend d. intern - nicht bindend 89 2.1 Textsorten der Verwaltung, des Rechtswesens und der Politik in der Theorie <?page no="90"?> 2. nicht hoheitlich a. regelnd - bindend b. entscheidend - bindend c. vereinbarend (konsensual) - bin‐ dend d. einseitig verpflichtend - bindend e. darstellend - partiell bindend f. wissenschaftlich/ auf die Lehre be‐ zogen - nicht bindend Tab. I.2.3: Sprachwissenschaftliche Klassifikationen der Texttypen des deutschspra‐ chigen Rechtswesens im Vergleich Der Ansatz Busses ist der bekannteste: Er wird in nahezu allen Studien zur deutschsprachigen Rechtskommunikation zitiert. Busse stützt sich auf ein situativfunktionales Kriterium, das auf die traditionellen Unterbereiche der Tätigkeiten im Rechtswesen (Rechtsetzung, Rechtsanwendung, Rechtsauslegung und Rechspre‐ chung) Bezug nimmt. Andreas Deutsch stellt hingegen die situative Kategorie Produzent („stammt der Text von einem hoheitlichen Emittenten oder nicht? “) in den Vordergrund, und kombiniert sie mit den Kategorien Funktion und Geltungsmodus. Sprachwissenschaft - Rechtswesen Autor Kriterium Kategorien/ Texttypen Sabatini (1999: 148 f.) Grado di vincolo interpretativo che nel testo l’emittente pone al destinatario (Grad der interpreta‐ tiven Bindung) A. Testi molto vincolanti (A.1 Testi scien‐ tifici; A.2 Testi normativi; A.3 Testi tec‐ nico-operativi) B. Testi mediamente vincolanti (B.1 Testi espositivi; B.2 Testi informativi) C. Testi poco vincolanti (C1-C2 Testi d’arte („letterari“) Mortara Ga‐ ravelli (2001: 19 ff.) „compiti fondamen‐ tali attribuibili al‐ l’uso giuridico della lingua“ (S. 22): grun‐ dlegende juristische Tätigkeiten: gestal‐ tende Tätigkeit der Rechtsetzung; theoretische Tätig‐ keit der Rechtsaus‐ legung; praktische Tätigkeit der Rechts‐ anwendung Situation (traditionelle Unterbereiche des Rechts)/ Funktion 1. testi normativi 2. testi interpretativi 3. testi applicativi 3-1 atti processuali a. provvedimenti del giudice b. atti del pubblico ministero c. atti difensivi d. atti degli ausiliari del giu‐ dice e. altri atti processuali 3-2 atti amministrativi 3-3 atti giuridici privati 90 2 Textlinguistische Theorie <?page no="91"?> Rovere (2017: 317 f.) Unmittelbare recht‐ liche Relevanz eines Texts für den Adres‐ saten/ Funktion 1. der Text hat für den Adressaten keine Rechtswirkung - informativ 2. der Text hat für den Adressaten Rechts‐ wirkung - performativ Tab. I.2.4: Sprachwissenschaftliche Klassifikationen der Texttypen des italienischspra‐ chigen Rechtswesens im Vergleich Wichtige Bezugspunkte im italienischen Sprachraum sind die Arbeiten von Sabatini und Mortara Garavelli. Sabatini führt die Kategorie ‚Grad der interpre‐ tativen Bindung‘ ein und meint damit, inwiefern der Produzent im Text die Textauslegung durch den Rezipienten steuert. Dabei unterscheidet er zwischen Texten mit stark eingeschränktem, mit mittlerem und mit großem Interpreta‐ tionsspielraum. Die Klassifikation von Mortara Garavelli basiert auf einem situativ-funktionalen Kriterium, das dem von Busse ähnlich ist. Sie bezieht sich nämlich auf die Haupttätigkeiten im Rechtswesen (Rechtsetzung, Rechtsausle‐ gung und Rechtsanwendung). Rovere arbeitet schließlich mit einer Einteilung, die Geltungsmodus und Funktion kombiniert, wobei es in erster Linie um die ‚unmittelbare rechtliche Relevanz eines Texts für den Adressaten‘ geht. Die folgende Tabelle (Tab. I.2.5) verweist auf zwei Arbeiten von Klein, bei denen von Sprache in der Politik die Rede ist: Sprachwissenschaft - Politik Autor Kriterium Kategorien/ Texttypen Klein (1999: 1371) Situation (Spezifik für den Kommuni‐ kationsbereich Po‐ litik und seine Insti‐ tutionen) 1. Textsorten, deren Konstitution aus‐ schließlich dem Bereich politischer Insti‐ tutionen vorbehalten ist, 2. Textsorten, die charakteristische Vari‐ anten genereller Textsorten sind 3. Textsorten, die mit Ausnahme des An‐ wendungsbereichs keine politikspezifi‐ schen Ausprägungsmerkmale aufweisen Klein (2000: 736 ff.) Emittent (als pri‐ märes Einteilungs‐ kriterium) + hauptsächlicher Adressat (als sekun‐ däres Kriterium) + kommunikative Grundfunktion 1. Von Volksvertretungen emittierte Text‐ sorten 1-1 außenadressiert 1-2 binnenadressiert 2. Von Regierungen emittierte Textsorten 2-1 außenpolitisch 2-2 parlamentsadressiert 2-3 verwaltungsadressiert 91 2.1 Textsorten der Verwaltung, des Rechtswesens und der Politik in der Theorie <?page no="92"?> 3. Von Parteien/ Fraktionen emittierte Text‐ sorten 3-1 außengerichtet: 3-1-1 wählergerichtet 3-1-2 parteiengerichtet 3-2 parteiintern gerichtet 3-3 fraktionsemittierte Texte 4. Von Politikern/ Politikerinnen als perso‐ nalen Repräsentanten emittierte Testsorten 4-1 schriftlich 4-2 mündlich: 4-2-1 formelle Sprechakte 4-2-2 politische Reden 5. Politikadressierte Textsorten externer Emittenten 6. Emittentenunspezifische Textsorten Tab. I.2.5: Texttypen der deutschsprachigen Politik nach Klein (1999, 2000b) Bei Klein stehen die situativen Kategorien im Vordergrund. In Klein (2000b) gilt der Emittent als primäres Einteilungskriterium. Dies wird weiter mit den Kategorien hauptsächlicher Adressat und kommunikative Grundfunktion in Ver‐ bindung gebracht. Die letzte Tabelle (Tab. I.2.6) enthält Klassifikationsversuche, die von Verwal‐ tungswissenschaftlern unternommen wurden. Dabei sind die Einteilungen auf das politische System bzw. die politische Ordnung der Schweiz bezogen: Verwaltungswissenschaft Autor Kriterium Kategorien/ Texttypen Lienhard (2013: 239 ff.) Rechtsnatur Ausprägung Wirkung Handlungsformen der Rechtsanwendung: 1. Verfügung 2. Vertrag 3. Realakt Mader (2013: 249 ff.) Zahl der Träger der illokutionären Rolle 1. einseitig 2. mehrseitig Kettiger (2016b: 594 f.) Rechtsform oder Stellung der an einem Vertrag be‐ teiligten Rechtssub‐ jekte 1. Subordinationsrechtlicher Vertrag 2. Koordinationsrechtlicher Vertrag 92 2 Textlinguistische Theorie <?page no="93"?> Lienhard (2016: 581 ff.) Klassifikation von Verfügungen nach verschiedenen Kri‐ terien 1. Adressatenkreis 2. Gegenstand 3. Wirkung auf die Adressaten 4. Partizipativer Anteil der Adressaten 5. Positionierung im Verfahren 6. Zeitliche Geltung 7. Art und Weise der Wahrnehmung der in der Verfügung festgelegten Rechte und Pflichten Stücheli-Her‐ lach et al. (2016: 249 und 255 ff.) Funktion Rechtstexte vs. informierende Texte 1. Erlasse 2. Erläuternde und begründende Texte 3. Mitteilungen für die journalistische Öf‐ fentlichkeit 4. Informationen für die breite Öffentlich‐ keit 5. Juristische Einzelakte 6. Briefe 7. Formulare Tab. I.2.6: Verwaltungswissenschaftliche Klassifikationen der Texttypen der deutschspra‐ chigen öffentlichen Verwaltung im Vergleich In drei Fällen (Lienhard 2013 und 2016; Kettiger) werden einzelne Unterbereiche bzw. Textsorten (Rechtsanwendung, Vertrag, Verfügung) fokussiert. Mader legt seiner Einteilung ein situatives Kriterium (Produzent als Träger der illokutionären Rolle) zugrunde. Stücheli-Herlach et al. stellen die Kategorie Funktion in den Vordergrund. Aus der Zusammenstellung der verschiedenen Studien ergibt sich ein viel‐ fältiges Bild. Die unterschiedlichen Klassifikationsansätze operieren bis auf einige Ausnahmen jeweils nur mit einem Einteilungskriterium. Die Klassi‐ fikationskriterien stimmen bei den verschiedenen Klassifizierungen zum Teil überein, dieselben Dimensionen werden aber oft aus verschiedenen Blickwin‐ keln betrachtet. Zu betonen ist jedenfalls, dass dieselben Textsorten je nach Klassifikationskriterium verschieden eingeordnet werden. Die Textsortenbezeichnungen liegen auf unterschiedlichen Abstrak‐ tionsebenen. Häufig bleiben sie eher abstrakt und sind nur funktional und / oder medial bestimmt. Die Textsorte, die in allen deutschsprachigen Einteilungen zur Verwaltung Erwähnung findet, ist der Verwaltungsakt. Dieser gilt gewöhnlich als prototypisch für die Verwaltungssprache (vgl. I.1.2.1.3 und Alghisi 2018: 195). Dabei handelt es sich um einen Text, wodurch ein bestimmter Sachverhalt unter den Tatbestand einer Norm subsumiert wird. Hier kommt die Textsorte nicht nur in den verwaltungsbezogenen Ty‐ 93 2.1 Textsorten der Verwaltung, des Rechtswesens und der Politik in der Theorie <?page no="94"?> pologien vor, sondern auch in denjenigen zu den Kommunikationsbereichen Rechtswesen und Politik. Dafür liegen verschiedene Bezeichnungen vor, die als äquivalent bzw. synonym anzusehen sind: Verwaltungsakt (Wagner 1970, Becker-Mrotzek 1999, Müller 2017, Deutsch 2017); Bescheid (Becker-Mrotzek 1999, Rehbein 1999, Becker-Mrotzek/ Scherner 2000, Ebert 2006, Müller 2017, Busse 2000), Verfügung (Deutsch 2017, Lienhard 2013 und 2016, Stücheli- Herlach et al. 2016), schriftliche Stellungnahme an Private und Institutionen (Klein 2000b). Eine andere Textform, die bekanntlich als verwaltungstypisch gilt, ist das Formular (vgl. I.1.2.1.3 und Alghisi 2018: 195). Dieses erscheint bis auf die Arbeit von Wagner in allen die Verwaltung fokussierenden (sprach)wissenschaftlichen Klassifikationen sowie im auf das Rechtswesen gerichteten Beitrag von Busse (2000) und im auf die Politik orientierten Aufsatz von Klein (2000b). Auch die Bezeichnungen (amtliche) Bekanntma‐ chung und / oder Mitteilung sind in den meisten verwaltungsbezogenen Typologien anzutreffen (Wagner, Rehbein, Becker-Mrotzek, Ebert, Müller, Stücheli-Herlach et al.). Sie sind überdies, was das Rechtswesen angeht, in Busse (2000) und mit Blick auf die Sprache der Politik in Klein (2000b) belegt. Andere Text-Bezeichnungen, die die verschiedenen verwaltungsbezo‐ genen Klassifizierungen gemeinsam haben, sind Merkblatt (Wagner, Rehbein, Müller; vgl. dazu Alghisi 2018: 195), Anfrage (Wagner, Rehbein, Becker- Mrotzek/ Scherner, Müller und mit Schwerpunkt Politik: Klein) und Antrag bzw. Antragsformular (Rehbein, Becker-Mrotzek/ Scherner, Müller und mit Blick auf das Rechtswesen: Busse). Auch die funktional bestimmte und sehr abstrakte Bezeichnung Information, die auf die Existenz die Bürger adressie‐ render, rein informativer Texte hinweist, ist in verschiedenen Beiträgen (Becker-Mrotzek, Ebert, Müller, Klein, Stücheli-Herlach et al.) vorhanden. Zu bemerken ist schließlich, dass die für das Rechtswesen prototypischen Normtexte, besonders die Textsorte Gesetz und Verordnung, in den meisten Typologien erwähnt werden, die den Akzent auf die Verwaltung legen (Becker-Mrotzek, Rehbein, Becker-Mrotzek/ Scherner, Mader und Stücheli- Herlach et al.), sowie in den Arbeiten, in denen das Interesse der Sprache der Politik gilt (Klein). Auch bei den italienischsprachigen Typologien werden Texte, die traditio‐ nell als prototypisch für unterschiedliche Kommunikationsbereiche angesehen werden, in einer und derselben Typologie zu einem bestimmten Kommunikati‐ onsbereich (entweder Verwaltung oder Recht oder Politik) zusammengestellt. In seiner „proposta di classificazione tipologica dei principali generi testuali della pubblica amministrazione“ erwähnt etwa Viale (2008) einerseits die Textsorten atto normativo und ordinanza, also rein rechtsbezogene Texte, andererseits 94 2 Textlinguistische Theorie <?page no="95"?> 118 Zu den Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Reflexion über das Verhältnis Sprache/ Kultur vgl. Abschnitt 9.2 Der cultural turn und die Linguistik als Kulturwis‐ senschaft in Adamzik (2016c: 356 ff.). Adamziks Standpunkt zum Thema lässt sich zusammenfassen wie folgt: „Sprachen und Varietäten − die sich nur in Gesprächen und Texten realisieren − sind per se kulturkonstitutiv“ (Adamzik 2016b: 826). lettera parte di un procedimento amministrativo (Behördenbrief), avviso al pubblico (Bekanntmachung) und modulistica (Formulare), wobei diese typische Verwaltungstexte sind. Sabatini (1999) und Mortara Garavelli (2001), deren Einteilungen das Rechtswesen fokussieren, zählen zu den Textsorten des Rechts sowohl die leggi (Gesetze), als auch die atti amministrativi (Verwaltungsakte) sowie die avvisi (Bekanntmachungen). Im Allgemeinen könnte man sagen, dass sich die hier besprochenen Eintei‐ lungen, wenngleich sie auf ähnlichen Klassifiktionskriterien beruhen und eine eher große Anzahl von Textsortenbezeichnung gemeinsam haben, schlecht auf‐ einander abbilden lassen und daher auch miteinander schwer vergleichbar sind. In diesem Zusammenhang entsprechen die Klassifikationen einfach Versuchen, „in die unüberschaubare Gesamtheit von kommunikativen Konstellationen und Situationen eine grobe Ordnung zu bringen“ (Adamzik 2016c: 134; Hervorhe‐ bungen im Original gelöscht). Im praktischen Handeln sind alle Texteinheiten aber miteinander verbunden. Der Tatsache, dass Texte und Textsorten mitein‐ ander vernetzt sind, sollte Rechnung getragen werden. Dieser Gedanke ist heute tatsächlich in der textlinguistischen Diskussion zentral und stellt eine der neueren Entwicklungen in der Disziplin dar. Ihnen ist der folgende Abschnitt gewidmet. 2.2 Die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik Die vorliegende Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass ein bestimmter Kul‐ turraum (die Schweiz) berücksichtigt und dessen Besonderheiten fokussiert werden. Dieser Ansatz steht im Einklang mit den „Konzeptionen, die die Linguistik neu als Kulturwissenschaft ausrichten wollen“ (Adamzik 2016c: 350; Hervorhebung im Original). 118 Solche Konzeptionen bestehen eben in dem erneuten Bewusstsein über „eine erst in jüngerer Zeit in das Blickfeld gerückte Dimension von Texten und Textsorten, nämlich deren Kulturbestimmtheit“ (Fix 2011: 9). Fix betont dabei: 95 2.2 Die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik <?page no="96"?> 119 Zu den neueren Arbeiten, die Hinweise auf die jüngsten Forschungsschwerpunkte in der Textlinguistik enthalten, zählen auch die Einführungen von Janich (2008b/ 2019), Gansel/ Jürgens (2009) und Brinker/ Cölfen/ Pappert (2014). Die Tatsache, dass Gemeinschaften über Textsorten als Orientierungsmuster für ihr sprachlich-kommunikatives Handeln verfügen, ist ein kulturelles Phänomen (Fix 2011: 9). Auch in der Disziplin, „die sich mit fachbezogener Sprache, mit Kommunikationim-Fach, beschäftigt“ (Kalverkämper 2016: 758), der Fachsprachenforschung also (vgl. I.1), tritt nun der Begriff Fachkulturforschung in den Vordergrund. Dieser versteht sich als global, kulturbezogen sowie interkulturell (vgl. ebd.: 766) und stellt das neue Schlüsselwort dar, nach dem Analysen durchgeführt werden (sollen). Die Bevorzugung konstruktivistisch und kulturwissenschaftlich orien‐ tierter Analyseansätze, die den Akzent auf die Beteiligtenperspektive legen, und die Erforschung von Text(sorten)vernetzungen zählen zu den jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik. Über diese bietet Adamzik eine klare Übersicht: Inzwischen haben sich die Voraussetzungen für das Reden auch über Arten von Texten gründlich geändert: Die Arbeit mit Prototypen ist an die Stelle der Suche nach strikten Taxonomien getreten […]. Statt die Sicht des außenstehenden Beobachters zu privilegieren, wird jetzt die Berücksichtigung der Beteiligtenperspektive favorisiert […], statt das Produkt und seine (formalen) Eigenschaften zu fokussieren, tritt der Umgang mit Texten als wissensgeleiteter Prozess in den Vordergrund […]. Die (eigentlich schon in den 1970er Jahren längst als verfehlt erkannte) Annahme, die Wissenschaft entspräche einer objektiven Sicht auf die Welt, ist der Einsicht gewichen, dass auch wissenschaftliche Konzepte Konstrukte darstellen und von Interessen und Fragestellungen abhängen. Schließlich hieß es von Textsorten zwar schon immer, dies seien historisch-kulturell überlieferte Einheiten; erst die Fülle der durch die neue Technologie ermöglichten Kommunikationsformen hat aber die Versuchung deutlich eingedämmt, sie doch „als gewissermaßen unveränderliche und zeitlose Wesenheiten, als Universalien und Urformen, als transhistorische Invarianten (Reisigl 2011: 437) zu rekonstruieren […]“ (Adamzik 2016c: 327; Hervorhebungen im Original). 119 Es ist insbesondere die Untersuchung der Beziehungen zwischen Texten bzw. Textsorten, die im Mittelpunkt der textlinguistischen Forschung des letzten Jahrzehnts steht. Auf ihre Bedeutung für die Text(sorten)linguistik haben v. a. Klein, Girnth und Adamzik ab den 1990er Jahren hingewiesen. In seiner 96 2 Textlinguistische Theorie <?page no="97"?> 120 Vgl. auch Adamzik (2001a: 29): „Textsortenbezogenheit und Relationen verschiedenster Art zwischen Texten sind Schlüsselkategorien bei der Beschreibung von Texten. Die Abwendung vom klassifikatorischen Ansatz hin zur Beschreibung thematisch-funktio‐ naler Zusammenhänge von Text(sort)en im Rahmen bestimmter Interaktionsbereiche bietet ein weites Feld für die weitere Forschung“. 121 Dem stellen sie einen moderaten Intertextualitätsbegriff gegenüber, der ihnen „mit traditionellen textlinguistischen Konzepten kompatibel [scheint] und […] daher auch nicht das Zeug [hat], eine theoretische Debatte im Rahmen der Linguistik auszulösen“ (Linke/ Nussbaumer 1997: 111). 122 Eine Übersicht dazu bietet Janich (2008a/ 2019), die unterschiedliche Werke zur Inter‐ textualität im Bereich sowohl der Literaturwissenschaft als auch der Linguistik zitiert. Auseinandersetzung mit den Texten im politischen Diskurs merkt Girnth (1996: 66) z. B. an, dass die funktionalen Beziehungen zwischen Texten in der Text(sorten)linguistik „ein bislang nur wenig beachtetes Phänomen“ dar‐ stellen und dass „erst die Untersuchung der Beziehungen zwischen Texten ihre den tatsächlichen kommunikativen Gegebenheiten angemessene Beschreibung ermöglicht“. Adamzik hält „das Kriterium der Einbettung von Textsorten in umfassendere kommunikative Strukturen und ihre Vernetztheit miteinander“ (Adamzik 2000b: 109) für die „wesentlichste Beschreibungskategorie, um die die Textsortenforschung dringend erweitert werden sollte“ (ebd.). 120 Dass diese Perspektive zunehmend an Bedeutung gewonnen hat bzw. gewinnt, bestätigen heute u. a. die Autoren der Neubearbeitung von Brinkers Einführung, die zu den Kapiteln vom Typ „Neuere Entwicklungen und offene Fragen“ auch eins zählen, das den „Textsortenvernetzungen“ gewidmet ist (vgl. Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014: Kap. 5.6.1). Das „uralte“ (vgl. Heinemann 1997: 22) und „für das Überleben jeder Gesell‐ schaft notwendige“ (ebd.) Phänomen der Vernetztheit von Texten wurde ab den 1970er Jahren unter den Begriff der Intertextualität gefasst. Dieser wurde 1967 von der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Literaturwis‐ senschaftlerin Kristeva (1967) formuliert, die - in Anlehnung an Bachtin - den Text als Gewirr von Stimmen anderer Texte (vgl. Heinemann 1997: 23) ansah und also so weit ging zu sagen, dass ein Text ein „mosaïque de citations“ (Kristeva 1967: 462) ist. Mit diesem Konzept, das die Intertextualität „zu einer allgemeinen und genuinen Eigenschaft von Texten“ (Heinemann 1997: 23) erhebt, sie also der Textualität gleichstellt, und das Linke/ Nussbaumer (1997) als „radikal“ 121 bezeichnen, haben sich seitdem unterschiedliche Literatur- und Sprachwissenschaftler auseinandergesetzt. 122 Für die Textlinguistik ist dabei die Auffassung von Beaugrande/ Dressler (1981) zu erwähnen. Die zwei Autoren nennen Intertextualität als eines der 97 2.2 Die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik <?page no="98"?> 123 Dem Konzept der Intertextualität als Texteigenschaft stehen Ansätze gegenüber, die die Rolle der Rezeption und der Interpretation besonders in den Vordergrund stellen. Dementsprechend konstituiert sich Intertextualität „als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht […] im und durch den Text selbst“ (Holthuis 1993: 31). Holthuis weist dennoch darauf hin, dass Texte intertextuelle Dispositionen aufweisen können, dass also „im Text bestimmte Intertextualitätssignale vorliegen, die den Rezipienten […] dazu veranlassen können, nach Relationen zu anderen Texten zu suchen“ (Holthuis 1993: 33). 124 Normalerweise spricht man bei literarischen Texten von Gattungen, bei Gebrauchs‐ texten von Textsorten. sieben Kriterien der Textualität, die alle Texte erfüllen sollen. Unter diesem Begriff verstehen sie die Abhängigkeit zwischen Produktion bzw. Rezeption eines gegebenen Textes und dem Wissen der Kommunikationsteilnehmer über andere Texte (Beaugrande/ Dressler 1981: 188). Wie Adamzik feststellt, entspricht das zwar einer weiten Auslegung des Begriffs, die sich den Theorien Kristevas annähert; das, worauf Beaugrande/ Dressler in ihren Ausführungen dann aber den Akzent legen, ist die Textsorten-Gebunden‐ heit von Einzeltexten (vgl. Adamzik 2004a: 97). Intertextualität wird also zu einem Textualitätsmerkmal, weil jeder Text auf vorgängige Muster zurückgeführt werden kann bzw. sich innerhalb konventionalisierter Muster bewegt, die die Textproduktion ebenso wie die Rezept‐ ionserwartungen steuern ( Janich 2008a: 185; Hervorhebung im Original). 123 Die Ausweitung des Intertextualitätsbegriffs auch auf das Phänomen der Textsortengeprägtheit hat dazu geführt, dass sich die Unterscheidung von zwei grundlegenden Typen der Intertextualität in der wissenschaftlichen Diskussion bewährt hat. Auf der einen Seite geht es um das Verhältnis zwischen Text und Gattung oder Textsorte; 124 hier spricht man von allge‐ meiner, paradigmatischer, globaler, textklassifizierender, texttypologisier‐ ender, typologischer oder auch generischer Intertextualität (vgl. Adamzik 2004a: 98). Auf der anderen Seite steht das Verhältnis zwischen Text und Text im Vordergrund, das als spezielle, referenzielle, syntagmatische, li‐ neare, engere, textbezogene oder thematische Intertextualität bezeichnet wird (ebd.). Beide „Globaltypen“ (Janich 2008a: 186 ff.) wurden im Rahmen ausführlicherer Systematisierungsvorschläge anderen Intertextualitätstypen gegenübergestellt bzw. sie wurden weiter spezifiziert. Zwei Ansätze, die in der Textlinguistik ein besonderes Echo gefunden haben, sind dabei die Theo‐ retisierung von Genette, der den Oberbegriff „Transtextualität“ einführt 98 2 Textlinguistische Theorie <?page no="99"?> 125 Für eine ausführliche Beschreibung dieser zwei Typologisierungsvorschläge siehe Adamzik (2004a: 99 und 2016c) und Janich (2008a: 185 ff. und 2019: 177 ff.). 126 Bei der Auslegung der Begriffe Metatextualität und kooperative Intertextualität habe ich mich an Janich (2008a: 187) orientiert. 127 Als Beispiele für systematische bzw. reguläre Text-Text-Relationen beschreibt Klein das Zusammenspiel zwischen Textsorten, die im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens, bei Wahlkampfkampagnen, bei politischen Debattenreden und mit Bezug auf eine Soap- Opera-Folge produziert werden (vgl. Klein 1991 und 2000a). 128 Vgl. Adamzik (2016c: Kap. 8). In dieser Arbeit verwende ich Textvernetzung und Textnetz i. Allg. synonymisch. 129 Janich schlägt auch ein theoretisches Modell zur Analyse von Textsorten-in-Vernetzung vor (vgl. Janich 2008a: 194 ff. und 2019: 184 ff.; 2009: 4 ff.). 130 Ein Versuch, neue Perspektiven auf Textsorten zu eröffnen, findet sich schon in Adamzik (2001a). 131 Bei der Systematisierung der Text-Relationen zieht Adamzik eine Parallele zu Kate‐ gorisierungen in der Lexikologie. Vgl. besonders Adamzik (2016c: 334 ff.): „In der und Arten von Textbezügen unter literaturwissenschaftlicher Perspektive beschreibt, und die Einteilung von Krause, der sich aus linguistischer Sicht mit intertextuellen Beziehungen beschäftigt. 125 In ihren Typologisierungen deuten sowohl Genette als auch Krause darauf hin, dass einige Beziehungen zwischen Texten sogar konstitutiv für die Text‐ sorten sein können, zu denen die Einzeltexte gehören. Die Relation Buch- Rezension, bei der die Rezension die Existenz des rezensierten Buchs voraus‐ setzt, könnte etwa auf Genettes Kategorie der Metatextualität zurückgeführt werden oder auf Krauses Typ der kooperativen Intertextualität. 126 Es ist gerade dieses Phänomen, das in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit der Textlin‐ guisten immer mehr auf sich gezogen hat und am Ende der 1990er Jahre von Klein als Textsorten-Intertextualität (vgl. Klein 2000a: 33) bezeichnet wurde. Darunter verstand der Autor die systematische Vernetztheit der Textsorten mit anderen Textsorten. 127 Um auf diese regulären Beziehungen zwischen Textsorten zu verweisen, verwendet man heute oft das Wort Textvernetzung. 128 Janich (vgl. 2008a/ 2019 und 2009), die sich in den letzten Jahren u. a. mit Unternehmenskommunikation beschäftigt hat, spricht dabei von „Textsortenin-Vernetzung“, um mit der Bindestrichschreibung die Relevanz dieser intertextuellen Beziehungen für die Textsortenbestimmung und -beschreibung unter sprachgebrauchsbezogener Per‐ spektive zu verdeutlichen ( Janich 2008a: 194). 129 In Anlehnung an Kleins Ausführungen hat Adamzik vor kurzer Zeit (vgl. Adamzik 2011; 2016c und 2018b) versucht, 130 „die Aspekte zu systematisieren, unter denen man Texte verknüpfen kann“ (Adamzik 2016c: 335). 131 Wie in der 99 2.2 Die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik <?page no="100"?> Lexikologie gibt es […] ein außerordentlich differenziertes Kategoriensystem für Relationen zwischen Ausdrücken […]. Für Relationen zwischen Texten greift man teilweise analogisch auf solche Kategorien zurück“. (vgl. ebd.: 335 f.; Hervorhebung im Original gelöscht). Einen anderen Systematisierungsversuch, der Relationen zwischen Texten betrifft, stellt die Reihentheorie von Wichter (2005a und 2005b) dar. Wichter geht es darum, „die Vernetzung von Texten und Gesprächen in ihrem zeitlichen Ablauf zu modellieren, also eine Art Syntax für die intertextuelle Ebene zu entwerfen“ (Adamzik 2018b: 266). Auf die Komplexität seines Modells weist Adamzik hin: „Die Arbeiten von Wichter sind sehr materialreich und von dem Bemühen um eine systematische und saubere Analyse (mit Ansätzen zur Formalisierung) geprägt, die alle möglichen Konstellationen umfasst. Sie münden in eine Typologie von Reihen. Ihre Lektüre ist nicht zuletzt wegen vieler neuer Termini sehr anspruchsvoll“ (ebd.: 267). 132 Vgl. auch den Begriff von genre chains in Fairclough (2003) und Swales (2004). Linguistik üblich, unterscheidet auch die Autorin zwischen einer paradigma‐ tischen und einer syntagmatischen Achse. Zu einem Paradigma auf der Text‐ sortenebene gehören Textsorten, die „thematisch und / oder funktional Ähnlich‐ keiten aufweisen“ (Adamzik 2011: 372) und die gegeneinander austauschbar sein könnten. Bei Gruppen inhaltlich / funktional mehr oder minder äquivalenter Texte spricht Adamzik von Textsortenfeldern (vgl. Adamzik 2011: 372; aber auch 2001a: 27 sowie 2016c: 336 und 2018b: Kap. 5). Ein Beispiel dafür stellen Artikel „aus einer Publikumszeitschrift oder einer populärwissenschaftlichen oder einer wissenschaftlichen Zeitschrift“ (Adamzik 2011: 372) dar, unter denen man auswählen könnte, wenn man sich über einen Sachverhalt informieren möchte. Texte, „die über denselben Gegenstand handeln und identische Propo‐ sitionen und Argumentationen, großenteils auch dieselben Beispiele enthalten“ (Adamzik 2018b: 270; Hervorhebungen im Original gelöscht), bilden zugleich Textsortenfamilien. Dabei handelt es sich um Textsorten mit gemeinsamem Kern: In allen Texten [etwa], mit denen man über den Tod einer Person informiert […], kommen neben einem Ausdruck für ‚sterben‘ auf jeden Fall der Name der Person sowie in der Regel die Lebensdaten vor (Adamzik 2016c: 340). Unter syntagmatischer Relation wird die Beziehung zwischen Textsorten ver‐ standen, „die in einer geordneten Folge vorkommen, bei denen die eine die andere voraussetzt“ (Adamzik 2011: 373). Zu einem bestimmten Text gibt es also Vor- und Nachtexte bzw. -textsorten (auch Prä- und Posttexte genannt). Bei Texten in solchen Beziehungen spricht man am besten von Textsortenketten (ebd.: 373 f.). 132 Prototypisch dafür sind Gesetzgebungsverfahren, wie es in Klein (1991 und 2000a) hervorgehoben wird. Gesetzgebungsverfahren sind durch fixe Ketten gekennzeichnet; bei ihnen gehören die Elemente der Kette obligatorisch zum Verfahren (vgl. Adamzik 2016c: 342). Demgegenüber stehen offenere 100 2 Textlinguistische Theorie <?page no="101"?> 133 Bei den fixen Ketten „gibt es in Metatexten explizit formulierte Regeln für die Gesamt‐ prozedur, das Muster ist reglementiert“ (Adamzik 2016c: 343; Hervorhebungen im Original gelöscht). Vgl. I.1.1. 134 Vgl. Adamzik (2016c: 344; Hervorhebung im Original gelöscht): Es „spielen […] bei ihnen [Zeitungen oder Zeitschriften] wiederkehrende Elemente und Muster eine bedeutende Rolle. Diese dienen v. a. der Orientierung, und zwar einerseits in der Menge konkurrierender Angebote - man soll eine bestimmte Zeitung, Zeitschrift, Reihe, einen Sender als Individuum sofort wiedererkennen“. 135 Beispiele für Analysen, die sich mit Diskursen befassen, finden sich in Girnth (2002 und 2015). Dort versucht der Autor, Texte des politischen Diskurses in ihrem Verhältnis zueinander zu charakterisieren. Zu erwähnen sind im Rahmen der Diskursanalyse auch die Arbeiten von Warnke (vgl. z. B. Warnke 2008) und Niehr (vgl. etwa Niehr 2013 und 2014a). Ketten, „bei denen Vor- und Nachtexte nur noch relativ stark erwartbar sind“ (ebd.: 343). 133 Andere Relationen, die Adamzik in den Vordergrund rückt, sind die der räumlichen Kontiguität, d. h. „des gemeinsamen Vorkommens von Texten in Konglomeraten wie Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehmagazinen, Internetseiten, Lexika, Schulbüchern, Märchenbüchern, also den […] Textsamm‐ lungen“ (Adamzik 2011: 375); die Relation der Formähnlichkeit, die Kommu‐ nikationsarten oder -formen betrifft und die aus einer Beteiligtenperspektive bei Sammlungen von Kommunikaten zur Orientierung dient; 134 die Relation der thematischen Ähnlichkeit, wobei man hier von Diskursen 135 als thematisch verbundenen Mengen von Texten spricht. Schließlich weist die Autorin darauf hin, dass man bei den behandelten Beziehungen „assoziativ leicht von der einen zur anderen übergehen kann“ (ebd.: 380), wodurch sich ein assoziatives Textsortennetz herausbildet. Eine Visualisierung der hier behandelten Text- Relationen bieten die folgenden Abbildungen (Abb. I.2.1 und Abb. I.2.2), die aus Adamzik (2018b: 268 und 2011: 380) stammen: 101 2.2 Die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik <?page no="102"?> Abb. I.2.1: Relationen zwischen Text(sort)en (Adamzik 2018b: 268) Abb. I.2.2: Beispiel für ein Textsortennetz (Adamzik 2011: 380) 102 2 Textlinguistische Theorie <?page no="103"?> Zum Abschluss dieses Abschnittes sei hier ein Resümee aus Fix (2011: 43) wiedergegeben, das die theoretischen Entwicklungen bei der Erforschung des Phänomens Intertextualität gut zusammenfasst: Vorschläge aus jüngster Zeit, die für die Linguistik einen engen Intertextualitätsbegriff anmahnen (nur Text-Text und Text-Textsorte-Beziehungen, bei Heinemann 1997 sogar nur Text-Textsorte-Beziehungen) greifen zu kurz. Sie haben nur eine Seite, den methodischen Nutzen (Brauchbarkeit für Analysen) im Blick. Wenn man die andere Seite in den Blick nehmen und theoretisch an das Phänomen Text herangehen, wenn man sich mit Textualität auseinandersetzen will und gar vorhat, semiotische Textbeziehungen zu betrachten, dann braucht man den Blick auf Text-Textwelt- Beziehungen (alles ist Text). Beides sollte im Bewusstsein sein: Erstens: Alles ist Text und steht miteinander in Beziehung. Zweitens: Texte stehen in konkret fassbaren Bezügen zu anderen Texten und zu Textmustern. Und drittens sollte man sich dessen bewusst sein, dass sich mit den Möglichkeiten digitaler Kodierung neue Begriffe von Text und von Intertextualität herausgebildet haben, an denen man bei der Diskussion von Textualität und Intertextualität nicht mehr vorbeigehen kann (Fix 2011: 43). 103 2.2 Die jüngsten Entwicklungen in der Textlinguistik <?page no="105"?> 136 Für eine Reflexion über die Ausdrücke Wissens- und Informationsgesellschaft vgl. Adamzik (2018b: 113). Die Autorin weist z. B. darauf hin, dass der Begriff Informations- oder Wissensgesellschaft „zunächst einen Typ von Volkswirtschaften kennzeichnen sollte und nicht etwa […] auf einen bestimmten Lebensstil abheben oder die große Masse verfügbarer Informationen und deren leichte Zugänglichkeit durch die digitale Technik fokussieren würde“. 137 Adamzik (2018b: 142) beschreibt dies wie folgt: „Das gesamtgesellschaftlich verfügbare Wissen ist […] so immens und unüberschaubar, dass jedes Ich davon nur einen sehr kleinen Teil in seine Reichweite bringen kann“. Dazu vgl. auch Becker (2001: 101): „Es ist ein Grundzug der modernen Welt, daß die Diskrepanz zwischen dem Wissen eines einzelnen und dem insgesamt verfügbaren Wissen enorm ist und stetig zunimmt“. 3 Bürgernähe 3.1 Expertenkultur, Transparenz und Bürgernähe Wissensexplosion und Informationsflut sind typische Merkmale unserer Zeit. Zur Charakterisierung unseres Gesellschaftstyps sind unter (Sozial-)Wissen‐ schaftlern Bezeichnungen wie Experten-, Informations- oder Wissensgesellschaft gängig. 136 Jäger (1996) spricht dabei von Expertenkultur und verbindet diesen Begriff mit einem Prozess der „Verwissenschaftlichung unserer Zivilisation“ ( Jäger 1996: 69). Damit meint er die Aufspaltung des Allgemeinwissens in verschiedene Versionen und die Ausbildung verschiedener Gebiete mit abge‐ grenztem Sonderwissen, zu dem nur noch Experten Zugang haben (ebd.: 70). 137 Im Mittelpunkt stehe also eine „Dispersion des Wissens“ (ebd.: 72), das mit einer „Dispersion der Sprache“ (ebd.) bzw. einer „Pluralisierung von Sprachspielen“ (ebd.: 69) einhergehe. Die Verwissenschaftlichung der Expertenkultur bringe zugleich einen „Prozeß der Babylonisierung der Sprachkultur“ (ebd.: 72) mit sich bzw. eine „innere funktionale Mehrsprachigkeit“, die Anforderungen stelle, „wie sie sonst nur im internationalen Raum grenzüberschreitender Kommunikation üblich sind“ (ebd.). Der Autor betont somit, dass die Expertenkultur durch eine Kommunikationskrise gekennzeichnet ist, die einer „Transparenzkrise des Expertenwissens“ (ebd.: 69; Hervorhebungen A.A.) entspricht. Denn gerade hochgradig arbeitsteilige, demokratische Wissens-Gesellschaften [sind] darauf angewiesen, daß das zugleich intransparente und lebenswichtige Expertenwissens auf einem sowohl sachangemessenen als auch allgemeinverständlichen Niveau in die Prozesse demokratischer Willensbildung, d. h. in die praktische Vernunft anstehender <?page no="106"?> 138 Vgl. auch Oksaar (1998: 801; Hervorhebungen im Original): „Auf allen Gebieten des öf‐ fentlichen Lebens können Kommunikationsschwierigkeiten und Kommunikationslücken entstehen, u. a. aus folgendem Grund: Immer weniger Menschen wissen immer mehr von immer weniger Sachen, die aber immer mehr Menschen angehen. Zwar brauchen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft alle nicht alles zu verstehen, aber wo das Alltagsleben der Bürger von verschiedenen technisch-wissenschaftlichen Prozessen und Resultaten betroffen wird, sind Information und Verständigung notwendig“. 139 Gerade auf der Grundlage solcher Ausführungen wurde anfangs der 2000er Jahre das Projekt einer Transferwissenschaft unternommen (vgl. Antos/ Wichter 2001), mit dem Ziel, „eine transdisziplinäre Anstrengung zur Erforschung des Wissenstransfers zu fordern“ (Antos/ Pfänder 2001: 15). Die Transferwissenschaft sollte „Bedingungen, Prinzipien, Formen, Strategien sowie Probleme und Erfolgschancen des Metawissens über Wissen [erforschen] zum Zwecke einer nicht eingeschränkten Verfügbarkeit von (Sonder-)Wissen für alle potenziell an Wissen Interessierten“ (ebd.: 5). Richtungsentscheidungen über die technische, ökologische und kulturelle Gestaltung der gemeinsamen Lebenswelt eingeht ( Jäger 1996: 73). Jäger stellt in diesem Kontext fest, dass parallel zur enormen Ausweitung der technischen Kapazitäten zur Speicherung, zur Verarbeitung und zum Transport handlungsrelevanten Wissens die Transparenz der […] informationellen Umwelt abgenommen bzw. deren Undurchschaubarkeit zugenommen [hat] (ebd.: 74). 138 Thematisiert werden dabei die für Fachsprachen charakteristische Span‐ nung zwischen der Anforderung der Sachangemessenheit und der (Allge‐ mein-)Verständlichkeit (vgl. z. B. Biere 1991: 2 und 1998: 403; Busse 1999: 1383; Klein 2014: 19); sowie die Frage des Transfers von Wissensinhalten zwischen Experten und Laien (vgl. I.1.2.1.3). Zwar sind in der Wissensgesellschaft die Grenzen zwischen Expertentum und Laienschaft immer fließender geworden, eben deswegen aber, und mit Blick auf den herrschenden Vertrauensverlust gegenüber Fachpersonen (vgl. Wichters Begriff der bestrittenen Vertikalität; vgl. I.1.2.1.2), gewinnen Fragen, die das Thema des „Zugangs zu Wissen“ (vgl. Antos/ Wichter 2001) fokus‐ sieren, immer mehr an Bedeutung. Antos/ Pfänder (2001) führen den Kern der Wissens(transfer)problematik auf das Problem eines „Mangel[s] an transferier‐ barem Metawissen“ zurück. Einen solchen Mangel bezeichnen sie als „Opazität von Wissen“ (ebd.: 6; Hervorhebungen A.A.): Mit wachsendem Wissen sinkt […] das ‚zuhandene‘ Metawissen über das ‚vorhandene‘ Wissen (Antos/ Pfänder 2001: 4). Die Opazität des Wissens ist der blinde Fleck der heutigen Informations- und Wissensgesellschaft (ebd.: 6). 139 106 3 Bürgernähe <?page no="107"?> 140 Vgl. http: / / www.treccani.it/ enciclopedia/ trasparenza-amministrativa/ ; 30.01.2017. 141 Vgl. http: / / www.treccani.it/ enciclopedia/ trasparenza-amministrativa/ ; 30.01.2017: „La trasparenza delinea la comprensibilità dell’azione dei soggetti pubblici sotto diversi profili, quali la semplicità e la pubblicità (conoscibilità), in modo da consentire la conoscenza reale dell’attività amministrativa e di effettuare il controllo sulla stessa“. 142 Die Information der Bevölkerung durch die Behörden wird auch im Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (RVOG) vom 21. März 1997 (vgl. z. B. Art. 10, 11, 34 und 40) und in der damit zusammenhängenden Ausführungsverordnung (Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November 1998, RVOV; vgl. Art. 23) angesprochen. Vgl. dazu I.3.4. Wie bereits angeführt (vgl. I.1.2.1.2 und I.1.2.1.3) und auch aus dem Zitat von Jäger (vgl. oben) hervorgeht, ist der „Prozess der Intransparentwerdung von akkumuliertem Wissen“ (Antos/ Pfänder 2001: 6) besonders problematisch im öffentlichen Bereich, d. h. im Bereich der Politik, des Rechtswesens und der Ver‐ waltung. Kommunikation und Information sind nämlich „die Grundkategorien der westlichen Demokratie-Auffassung“ ( Jäger 1996: 67), die „jene diskursive Meinungsbildung [ermöglichen], auf der demokratische Entscheidungs- und Handlungsvollzüge aufruhen“ (ebd.). Werden Wissensinhalte im öffentlichen Leben intransparent, wird Demokratie bis in ihre Grundfesten erschüttert. Transparenz ist heute einer der Grundsätze, nach denen sich die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung im westlichen Rechtsstaat richtet. Das Prinzip ist gewöhnlich rechtlich verankert. In der Rechtsordnung Italiens gehört z. B. das Transparenzgebot zu den „principi generali attinenti alle modalità di svol‐ gimento del rapporto tra pubblica amministrazione e privati-cittadini“ (vgl. Art. 1, Gesetz 241/ 1990). 140 Dabei handelt es sich in erster Linie um die dem Bürger zu gewährleistende Zugänglichkeit zu den Dokumenten, die die öffentliche Verwaltung bei der Stellungnahme zu einem bestimmten Fall herangezogen hat. Es geht also um das Akteneinsichtsrecht. Überdies betrifft Transparenz allgemeiner das Recht des Bürgers darauf, Zugang zu Informationen und Texten der Behörden zu haben. Wir haben es zu tun mit einer Form demokratischer Kontrolle zur Verhinderung von Machtmissbrauch und Korruption, da Akteure zur Rechenschaft über ihr Handeln verpflichtet sind. 141 Transparenz ist mit der Möglichkeit der rechtlichten Überprüfung verbunden und bedeutet also allgemein, dass das Verwaltungshandeln von allen Akteuren des öffentlichen Lebens - Institutionen und Bürgern - durchschaubar und nachvollziehbar sein soll. Das Zugangsrecht und die „Information der Öffentlichkeit“ 142 regelt im schweizerischen Rechtssystem das Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 über das Öffentlichkeitsprinzip in der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz, BGÖ). Dem‐ gemäß kann die Öffentlichkeit über die Strukturen und den modus operandi der 107 3.1 Expertenkultur, Transparenz und Bürgernähe <?page no="108"?> 143 Das Öffentlichkeitsprinzip betrifft hier die Dokumente auf Bundesebene. Was den Zugang zu amtlichen Dokumenten kantonaler Behörden angeht, sollte man sich auf die in den jeweiligen Kantonen geltende Gesetzgebung beziehen. 144 Die deutsche Bestimmung lehnt sich an eine europäische Richtlinie an, die 1993 das Transparenzgebot für Klauseln in Kaufverträgen festlegte (vgl. Schwintowski 2008: 156). Behörden informiert werden, indem ihr Zugang zu „amtlichen Dokumenten“ gewährleistet wird (Art. 1). Darunter ist nach Art. 5 jede Information zu verstehen, die auf einem beliebigen Informationsträger aufgezeichnet ist; sich im Besitz einer Behörde befindet, von der sie stammt oder der sie mitgeteilt worden ist; und die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe betrifft (Auszeichnung im Original gelöscht). Auch elektronisch verwaltete Informationen dürfen als amtlich gelten; Doku‐ mente, die kommerziellen Zwecken dienen, nicht fertig sind oder für den persönlichen Gebrauch vorgesehen sind, fallen hingegen nicht unter die gesetz‐ liche Definition. Zur Bestimmung des Begriffs amtliches Produkt tragen also pragmatische Kriterien bei: Produzent oder Rezipient soll eine Behörde sein; der Text soll einer öffentlichen Aufgabe entsprechen. Transparenz bzw. das Öffentlichkeitsprinzip schreibt Art. 6 des Bundesgesetzes ausdrücklich fest: Er anerkennt das Recht jeder Person, amtliche Dokumente einzusehen und von den Behörden Auskünfte über den Inhalt amtlicher Dokumente zu erhalten. 143 In den abstrakt formulierten Gesetzen zur Transparenz ist der Begriff Zugang an erster Stelle im Sinne eines physischen Zugangs zu interpretieren: Dem Bürger soll man zunächst garantieren, dass er Texte in seine Wahrnehmungs‐ reichweite bringen kann. Dass er zugleich in die Lage versetzt werden soll, Texte zu rezipieren und zu verstehen - sie also in seine Rezeptions- und Verstehensreichweite zu bringen (vgl. Adamzik 2016c: 238 f.) - gehört auch ins Transparenzgebot, stellt jedoch eine weitere (komplexere) Facette der Anforderung dar, die eine Reihe schwieriger zu beantwortender Fragen aufwirft (vgl. I.1.2.1.2; I.1.2.1.3; I.3.3). Zur Unschärfe, die das Transparenzprinzip selbst charakterisiert, äußert sich Lerch (2004c). Er bezieht seine Ausführungen allerdings nicht auf die Verwaltungstransparenz, sondern auf das Recht der Allgemeinen Geschäftsbe‐ dingungen (AGB). Lerch betont, dass das Transparenzgebot zwar im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ausdrücklich geregelt wird, 144 weist zugleich darauf hin, dass Transparenz ein „schillernder Begriff“ ist (ebd.: 244 f.; Her‐ 108 3 Bürgernähe <?page no="109"?> 145 Das Prinzip der Transparenz bzw. die Informationsrechte schrieb man allerdings zum ersten Mal im 18. Jahrhundert gesetzlich fest. Das erste Informationsfreiheitsgesetz erschien 1766 in Schweden (vgl. Stürmer/ Myrach 2016). 146 Gängig ist auch der Ausdruck Bürgerfreundlichkeit. vorhebungen A.A.). Besonders wenn es um die Anforderung geht, die AGB eines Vertrags in die Verstehensreichweite eines Kunden zu bringen, tauchen die meisten Probleme auf: Ähnlich vage wie der Begriff der Transparenz selbst bleiben auch die Kriterien des Transparenzgebots. Während zwar Einigkeit darüber besteht, dass Maßstab der Transparenz das ‚Verständnis des rechtsunkundigen Durchschnittskunden‘ sei, ist mehr als umstritten, in welchem Umfang sich der Inhalt einer Regelung dem Durchschnittskunden erschließen muss, von welchen Umständen dieses Verständnis‐ vermögen beeinflusst wird und wieweit sich der Durchschnittskunde bemühen muss, die Bedeutung einer Regelung zu verstehen (Lerch 2004c: 245 f.) Lerchs Argumentation zielt auf die Betonung der „Intransparenz des Transpa‐ renzgebots“ (vgl. den Titel seines Aufsatzes, S. 239) ab. Der Autor stellt am Ende fest, dass das Transparenzgebot genau das nicht leisten kann und auch gar nicht soll, was fortwährend von ihm verlangt wird - nämlich eine schon vor Vertragsschluss verständliche Darstellung der Rechtslage zu geben (Lerch 2004c: 275). Er kommt somit verallgemeinernd zu dem Schluss: Als Garant für die Verständlichkeit von Rechtstexten kann und soll das Transparenz‐ gebot nicht dienen (Lerch 2004c: 283). Das Transparenzgebot begann sich abzuzeichnen in der zweiten Hälfte (vor allem in den letzten Jahrzehnten) des 20. Jahrhunderts, als das Prinzip der Orientierung an den Bedürfnissen des Kunden und der Verbraucherschutz anfingen, sich besonders stark auf das Vertragswesen und allgemein auf die Marktwirtschaft auszuwirken. 145 Im öffentlichen Bereich war - und ist noch - mit Bezug auf die Orientierung am Adressaten und seinen Wünschen von Bürgernähe die Rede, 146 in deren Zeichen die Verwaltungstätigkeit heute immer noch gestaltet wird. Typisch für die Tätigkeit der Verwaltung sind „Prozesse der Modernisierung“ (Hablützel 2013: 94), durch die den Bedürfnissen und Kommunikationszielen der jeweiligen Gesellschaft entgegengekommen wird (vgl. Fluck 2011: 175). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde das Verwaltungshandeln und seine Führung durch das Wechselspiel verschiedener Konzepte gekennzeichnet, die das be‐ 109 3.1 Expertenkultur, Transparenz und Bürgernähe <?page no="110"?> 147 Die nachfolgenden Ausführungen über den Wandel zwischen verschiedenen Verwal‐ tungskonzeptionen entstammen überwiegend aus dem Handbuch der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz (2013). Sie betreffen daher hauptsächlich das Funktionieren und die Entwicklungen der Schweizer öffentlichen Verwaltung, könnten aber bis zu einem gewissen Grad auch auf andere öffentliche Verwaltungen Westeuropas bzw. westlicher Prägung bezogen werden. hördliche Handeln zu beschreiben und gleichzeitig zu modellieren versuchten. Solche Denkmodelle strukturieren die Diskussionen zwischen Politik und Administration. Sie bestimmen weitgehend, wie die Verwaltung ihr Umfeld, sich selbst und ihre Aufgabe wahrnimmt. Sie prägen aber auch das Führungsverständnis und damit die Möglichkeiten der Verwaltung als lernfähiges System (Hablützel 2013: 94). 147 Hablützel (2013) unterscheidet zwischen drei Paradigmen, nämlich „Büro‐ kratie oder das konditionale Paradigma“ (ebd.: 95; Hervorhebung A.A.), „Ma‐ nagement oder das finale Paradigma“ (ebd.: 98; Hervorhebung A.A.) und „Governance oder das systemische Paradigma“ (ebd.: 101; Hervorhebung A.A.). Ihre Hauptcharakteristika stellt er in einer Tabelle (vgl. Tab. I.3.1 und ebd.: 104) zusammen (vgl. auch Adamzik 2016a: 231): Tab. I.3.1: Bürokratie - Management - Governance (Phasen-/ Schichtenmodell) (Hab‐ lützel 2013: 104) Der (chronologisch) ersten Phase entspricht das bürokratische Paradigma, das das Legalitätsprinzip in den Mittelpunkt stellt und auf der Überzeugung beruht, „dass staatliches Handeln ausschliesslich als Vollzug ins Recht gefasster konditionaler Regeln zu verstehen sei“ (Hablützel 2013: 95). Auf die Bürokratie 110 3 Bürgernähe <?page no="111"?> 148 Vgl. dazu auch Ladner (2013: 39), der diesbezüglich von „Personalplafonierungen, Kostenüberprüfungs- und Effizienzsteigerungsmassnahmen“ und von „Intensivierung von Auslagerungsbestrebungen und Auflösung von monopolitischen Regiebetrieben“ spricht. 149 Vgl. hierzu Kußes Typologisierung des Politischen (2012) in I.1.2.1.1. folgt die Phase des Managements, deren Kern beim Prinzip der Wirtschaft‐ lichkeit liegt. Die Schicht ist durch eine „gewisse Annäherung an das Denken und Handeln im Privatsektor“ (ebd.: 97) bzw. dadurch gekennzeichnet, dass „der Ökonomie als Wissenschaft vom Umgang mit Knappheitsphänomenen […] im öffentlichen Sektor Auftrieb verliehen“ wird (ebd.). Stichwort ist hier New Public Management (NPM; vgl. ebd.: 99). Dabei handelt es sich um ein Label, das eine Reihe von Reformen bezeichnet, die das auf Effizienz gerichtete Management auf öffentliche Organisationen anzuwenden versuchen. Anfang der 1990er Jahre zielten solche Reformen darauf ab, klassische Managementtechniken einzusetzen, wie Leistungsbewertung, Kosten- und Wertanalysen, Entscheidungsautonomie, finanzielle Anreize, Qualitätsorientierung, Rechenschaftspflicht (Accountability), Auslagerung oder Privatisierung von Diensten (Chappelet 2013: 325). 148 Das Leitmotiv der jüngsten Phase ist schließlich Partizipation. Dabei geht es um die Einsicht, dass gute Steuerung in unübersichtlichem Gelände nicht nur regel- oder zielorientiert sein darf, sondern über Bürokratie und Managerialismus hinaus die Entwicklung des Umfelds und des Gesamtsystems im Auge behalten muss (Hablützel 2013: 101). Demgemäß sollte der moderne Staat eine Moderationsrolle zwischen verschie‐ denen gesellschaftlichen Systemen und voneinander abweichenden Interessen übernehmen. Hablützel merkt an, dass das Governance-Paradigma „neuar‐ tige Elemente wie Zivilgesellschaft, Mehrebenenpolitik, Verhandlungssysteme und Netzwerke neben traditionelle staatliche Funktionen [stellt]“ (ebd.), und dass Politik „nun auch jenseits des Staates und der traditionellen Parteien statt[findet]“, zum Beispiel in sozialen Bewegungen und NGOs (ebd.). 149 Büro‐ kratie, Management und Governance als „Konzepte politischer Steuerung“ und „der Verwaltungsführung“ (ebd.: 103) schließen einander nicht aus. Sie ergänzen sich vielmehr gegenseitig. Hablützel hebt deshalb hervor: Um das Repertoire staatlichen Handelns zu erweitern, sollte man sie künftig ge‐ schickt miteinander kombinieren. […] Verwaltungen müssen lernen, in welchen Handlungsfeldern und unter welchen Umständen bürokratisch-autoritär, ziel- und 111 3.1 Expertenkultur, Transparenz und Bürgernähe <?page no="112"?> ressourcenorientiert oder kooperativ-kommunikativ geführt werden muss (Hablützel 2013: 103). Die Entwicklungen in der öffentlichen Verwaltung fokussieren auch die Aus‐ führungen von Villeneuve, der besonders die „Veränderung der Beziehungen zwischen Individuen und Organisationen“ (Villeneuve 2013: 385) in den Vorder‐ grund stellt. Der Autor weist auf das „Aufkommen einer Vielzahl von Begriffen“ hin, „mit denen die zentralen Subjekte der Staatstätigkeit bezeichnet werden“ (ebd.). Dabei handelt es sich um Rollen, in denen Akteure auftreten können. Von solchen Rollen bietet er eine Überblicksdarstellung (vgl. Tab. I.3.2 und ebd.: 396): Tab. I.3.2: Gliederung der Rollen des Akteurs (Villeneuve 2013: 396) Angeführt wird die Rolle des Verwalteten, des Benutzers, des Kunden und des Bürgers / Partners. Dabei stellt sich die Frage nach der Unterscheidung der verschiedenen Konzepte: Die wichtigste Frage ist also diejenige nach der Identifikation der verschiedenen Typen. Wie können der Verwaltete, der Benutzer, der Kunde oder der Bürger/ Kopro‐ duzent voneinander unterschieden werden? (Villeneuve 2013: 389). Wie auch Hablützel, stellt Villeneuve in diesem Zusammenhang fest, dass das Aufkommen der Rollen zwar mit Änderungen in der Verwaltungsführung und -organisation einhergegangen ist, dass aber die verschiedenen Begriffe zugleich koexistieren können: 112 3 Bürgernähe <?page no="113"?> Man hat das Auftreten des Benutzers mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der Vermehrung der Leistungen der öffentlichen Dienste in Beziehung gesetzt. Das Auftreten des Kunden wurde mit der NPM-Bewegung und der Entwicklung der Vorstellung von universellen Dienstleistungen verbunden, und schliesslich der Bürger als Koproduzent mit der jüngsten Entwicklung des Begriffs der Transparenz und der Offenheit eines netzwerkartigen Systems, das man als demokratische Dienstleistung bezeichnen könnte […]. [Es] kann deshalb erwähnt werden, dass trotz dieser histo‐ risch-institutionellen Konstruktion anerkennt [sic] werden muss, dass die Modelle sich mit der Zeit kumuliert haben. Sie haben einander nicht verdrängt, sondern ergänzt (Villeneuve 2013: 393; Hervorhebungen A.A.). Dementsprechend hebt der Autor hervor, dass jeder Akteur oft einer Mischung aus den verschiedenen Rollen entspricht. Daraus folgt, dass die Grenzen zwi‐ schen den verschiedenen Modellen als „halbdurchlässige Wände“ und die einzelnen Konzepte als „Verankerungspunkte“ anzusehen sind (ebd.: 395). Die Herausforderung für die heutige öffentliche Verwaltung sei somit, „ihren Ge‐ sprächspartner besser zu verstehen und eine Übereinstimmung mit diesem zu erlangen“ (ebd.: 397). In diesem Zusammenhang erweist sich Bürgernähe als ein allgemeiner, abstrakter Begriff, der den unterschiedlichen Entwicklungen in der Geschichte der öffentlichen Verwaltung Rechnung trägt und auf den Willen verweist, von einer für das vordemokratische Zeitalter typischen Konzeptualisierung des Adressaten als Untertanen Distanz zu nehmen (vgl. I.1.2.1.2). Bürgernähe besteht somit zwar darin, die eigenen Tätigkeiten in die Wahrnehmungs- und Verstehensreichweite des Adressaten bringen zu wollen, aber auch das Verhältnis mit ihm zu pflegen und seine Bedürfnisse in die eigene Wahrneh‐ mungs- und Verstehensreichweite zu versetzen. Neben dem Inhaltsbzw. Informationsaspekt steht nun auch der Beziehungsaspekt im Mittelpunkt (vgl. Fluck 2008 und Fisch/ Margies 2014). Berücksichtigt wird, dass Behörden „für viele Menschen eine Quelle der Verunsicherung, auch Demütigung und Angst“ (Oksaar 1998: 806) sein können und dass „auch sozialpsychologische und praktisch-organisatorische Umstände relevant“ (Fuchs-Khakhar 1987: 84) sind: ‚Bürgernähe‘ bedeutet […] nicht nur die Einforderung von verständlicher Sprache, sondern auch Aufbau und Pflege einer verständigen und umgänglichen Klientel, wes‐ halb es nun nicht mehr um Anweisungshandeln sondern um den Dialog zwischen Amt und Bürger gehen muß (Grosse 1980, 12). Die ethischen Forderungen nach verständlicher Verwaltungssprache bzw. Ansprache des Bürgers sind also gepaart mit dem Handlungsziel der Verwaltung bei ihrem notwendigerweise komplexen, 113 3.1 Expertenkultur, Transparenz und Bürgernähe <?page no="114"?> 150 Dazu vgl. die Ausführungen zur mala-fide-Haltung in I.1.2.1.2 und zum Abbau emotio‐ naler Hürden in I.1.2.1.3. Ferner vgl. Pasquier (2013), der das Sicherstellen des „Dialog[s] zwischen Institutionen und Bürgern“ (ebd.: 402; Kursiv im Original gelöscht) zu den zentralen Funktionen der Verwaltungskommunikation zählt (vgl. I.3.4). Siehe überdies Adamzik (2016a: 234) und Engberg (2017: 131) sowie Carobbio/ Engberg (2017: 43). 151 Vgl. Fisch/ Margies (2014: 10): „Verwaltungshandeln kann nur dann bürgernah sein, wenn beide Parteien eine gemeinsame Sprache sprechen“. mehrschichtigen Vorgehen, Friktionen, vor allem aber Unverständnis, Mißverständnis oder Widerständigkeit zu vermeiden (Knoop 1998: 871; Hervorhebungen A.A.). In dieser Hinsicht hängt Bürgernähe also auch mit dem Anliegen zusammen, gegen gewisse Behavioreme der Amtsangestellten - wie unhöfliches, abwei‐ sendes Verhalten - zu kämpfen (vgl. Oksaar 1998: 806) und dadurch zum Abbau der Stereotype gegen Beamte und Amtsangestellte beizutragen, die „eine undurchdringbare mentale Mauer zwischen Sender und Empfänger schaffen“ (vgl. ebd.). 150 Da Verwaltungshandeln überwiegend sprachliches Handeln ist (vgl. I.1.1), geht es beim Auftreten und der Durchsetzung von Bürgernähe aber in erster Linie um Entwicklungen in der Sprache von öffentlichen Verwaltungen. 151 Diesen Veränderungen wird in den nachfolgenden Abschnitten überblicksartig nachgegangen. 3.2 Historisches Bei seinen Ausführungen zur Geschichte der Verwaltungssprache unterscheidet Becker-Mrotzek (1999: 1392 ff.) analytisch drei Momente: I. Die Geschichte der Verwaltung (S. 1392f.) II. Die Geschichte der Verwaltungssprache (S. 1393f.) III. Die Forschungsgeschichte der Verwaltungssprache (S. 1394f.) Hierzu merkt er an, dass zu diesen Aspekten „zwar Detailuntersuchungen vor[liegen], bisher jedoch keine systematischen und umfassenden Gesamtdar‐ stellungen“ (Becker-Mrotzek 1999: 1392). Tatsächlich handelt es sich dabei um drei vielschichtige Momente, die sich gegenseitig durchdringen bzw. mitein‐ ander eng verwoben sind. Sie sauber auseinanderzuhalten oder alle Perspek‐ 114 3 Bürgernähe <?page no="115"?> 152 Im Folgenden wird ein allgemeiner Überblick über die Geschichte der Verwaltungs‐ sprache gegeben. Die Ausführungen sind auf den deutschsprachigen Raum bezogen. Be‐ rührungspunkte bestehen aber auch mit anderen kulturellen Traditionen Westeuropas, etwa mit der Geschichte der Verwaltungssprache in italienischsprachigen Gebieten. Zu historischen Aspekten der Verwaltungssprache im Deutschen vgl. ausführlich Wagner (1970), Fuchs-Khakhar (1987), Steger (1989), Becker-Mrotzek (1998), Knoop (1998), von Polenz (Polenz III; 1999), Rehbein (1999), Grönert (2002), Fluck (2011), Asmuth (2012). Für das Italienische vgl. u. a. Serianni/ Trifone (1994), Cortelazzo/ Viale (2006), Trifone (2009), Lubello (2014a und 2014b). tiven in einer einzigen Arbeit ausführlich behandeln zu wollen, kann nicht anders als in ein höchst anspruchsvolles, aufwendiges Unternehmen münden. 152 Zwei wichtige Entwicklungen, die sich auf die Geschichte der Verwal‐ tung und ihre Merkmale im deutschsprachigen Raum ausgewirkt haben, sind einerseits die Ersetzung des germanischen Stammesrechts durch das römische und die darauffolgende Verschriftlichung von Rechtsnormen; andererseits die Herausbildung der „bürgerlich-industriellen Gesellschaftsverfassung“ (Becker- Mrotzek 1999: 1392), die sich durch die Gewaltenteilung und das kapitalistische System charakterisiert. Es ist insbesondere das 19. Jahrhundert, das die bedeut‐ samsten Transformationen für die Ausformung der modernen öffentlichen Verwaltung aufweist: Erst die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsformen und die Herausbildung nationaler Einheiten (Staaten) machten moderne Verwaltungen erforderlich. Auch wenn die Wurzeln bis in das Mittelalter zurückreichen, so liegt doch die entscheidende Entwicklungsphase im deutschen Bereich in der Zeit nach 1800 (Becker-Mrotzek 1999: 1392). Zum Thema Geschichte der Verwaltungssprache weist Becker-Mrotzek (1999) in historischer Perspektive auf die verschiedenen Zwecke hin, denen die Verwaltungssprache im Laufe der Zeit gedient hat. Innerhalb der kaiserlichen, königlichen und fürstlichen Kanzleien des Mittelalters war Verwaltungssprache ein „Mittel des Interessenausgleichs“ (ebd.: 1393). Sie war in dieser Hinsicht das Instrument, um „die Machtverhältnisse innerhalb des Adels und Klerus sowie die Geschäfte des aufkommenden Bürgertums“ (ebd.) zu regeln. Gewöhnlich wird die in Kanzleien verwendete Sprache als „Vorläufer der Verwaltungs‐ sprache“ (ebd.) angesehen. Um diese Varietät zu bezeichnen, ist der Ausdruck Kanzleisprache gängig (vgl. I.1.2.1.2, besonders die Ausführungen aus Sowinski 1998). Kanzleien produzierten schriftliche Dokumente mit rechtlicher Geltung, die ab Mitte des 14. Jahrhunderts überwiegend in deutscher Sprache - also nicht mehr in Latein - verfasst wurden (vgl. Becker-Mrotzek 1999: 1393). In diesem Zusammenhang heben Sprachwissenschaftler den Beitrag hervor, 115 3.2 Historisches <?page no="116"?> 153 Vgl. dazu auch das Zitat aus Wagner (1970: 101) in I.1.2.1.3. Vgl. überdies Knoop (1998: 867): „Als ‚Kanzlei-Stil‘ hatte diese Form der Verwaltungssprache über lange Zeit hin Vorbildcharakter, weil sie zugleich die einzige veröffentlichte Form einer Gemein- oder Gebrauchssprache darstellte“. den die Verwaltungssprache im Allgemeinen zur „Bildung einer einheitlichen deutschen Sprache“ (Fluck 2011: 142) geleistet hat: Hochbedeutsam ist der Einfluß der V[erwaltungssprache] auf die Ausbildung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache und letztlich eines einheitlichen Hochdeutsch überhaupt. Auch für romanische Länder gilt, daß die Kanzleisprache ‚wesentlich dazu beitrug, die regionalgeprägte mundartnahe Kommunikation zu überwinden, den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Sprache zu beschleunigen, die Normierung des Sprachgebrauchs zu vertiefen‘. [Baumann 2008: 32] (Asmuth 2012: 1424). 153 Mit der Entwicklung des Zentralstaats wurde die Verwaltungssprache allmäh‐ lich zu einem „Herrschaftsinstrument“: Erst mit der Zunahme zentralstaatlicher Gewalten und der Ausbildung von Eingriffs‐ verwaltungen als organisatorischen Einheiten wurde die Verwaltung gegenüber größeren Bevölkerungskreisen zu einem Instrument der Machtausübung (Becker- Mrotzek 1999: 1393 f.). Heute steht Verwaltungssprache als Fachsprache im Vordergrund (vgl. I.1.2.1). Sie erweist sich in funktionaler Hinsicht als „Instrument der Verwaltung“ schlechthin: Im Laufe der weiteren Entwicklung, insbesondere im Prozeß der zunehmenden Demokratisierung bis zum Ende des 20. Jh.s, wird die Verwaltungssprache zu einem Instrument der Verwaltung ausgebaut. Sie wird zu einer Fachsprache (Becker-Mrotzek 1999: 1394). Wie es bei der Verwaltung als Institution der Fall ist, stellt das 19. Jahrhundert - aber auch die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts - einen zentralen Moment der Geschichte der Verwaltungssprache dar. Gerade in dieser Zeit setzt die reflektierende Auseinandersetzung mit den in der Verwaltung ver‐ wendeten sprachlichen Mitteln ein. Hier fangen Verwaltungssprache und ihre Erforschung also an, sich miteinander zu verflechten: Mit dem 19. Jh. beginnt eine bewußte Reflexion und Beeinflussung der Verwaltungs‐ sprache, so daß man hier den Beginn der Erforschung der Fachsprache der Verwaltung sehen kann (Becker-Mrotzek 1999: 1394). 116 3 Bürgernähe <?page no="117"?> 154 Für eine systematische Behandlung des Begriffs Sprachkritik und für einen Überblick über seine Geschichte vgl. Schiewe (2007), Kilian/ Niehr/ Schiewe (2010) und Dieckmann (2012). Nach Kilian et al. (2010: 1) ist Sprachkritik „ganz allgemein die positive wie nega‐ tive Würdigung der menschlichen Sprache und ihrer Leistungen sowie des Gebrauchs, der von ihr gemacht wird“. Eine wichtige Arbeit über die kritische Sprachbetrachtung ist von Polenz (1973). Mit Bezug auf die Beschäftigung mit der Verwaltungssprache unterscheidet Be‐ cker-Mrotzek „in grober Vereinfachung“ (ebd.) drei Phasen, die sich überlappen: Nationale Sprachpflege, Stilistisch-konservative Sprachkritik und Fachsprachen‐ forschung. Der Ausdruck Nationale Sprachpflege bezeichnet jene Tätigkeiten, die - besonders ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - auf „Eindeutschungs‐ bemühungen“ orientiert waren und nach Reinheit in der deutschen Sprache strebten. Dabei handelte es sich um eine Reflexion über die Sprache in Form einer puristischen Sprachkritik, die „eine fehlende nationale Identität durch Behauptung einer sprachlichen Einheit und Reinheit des Deutschen zu kompen‐ sieren suchte“ (Bozner Manifest 2003: 4). 154 Die puristische Sprachkritik setzte im Rahmen einer umfassenderen Behandlung der Rechts- und Verwaltungssprache ein, die auf das Zeitalter der Aufklärung zurückging. Dabei ging es in erster Linie um die Frage der Allgemeinverständlichkeit rechtlicher Texte. Mit den Worten von Fluck (2011): Die Kritik an der (schriftlichen) Verwaltungssprache im 18. Jahrhundert und ihre Reform stehen ganz im Zeichen der Aufklärung. Oberstes Ziel in jener Zeit war daher die Verständlichkeit amtlicher Texte für die Adressaten, abgehandelt unter dem Stichwort Deutlichkeit (Fluck 2011: 174; Hervorhebung im Original). Hier kann man von einer aufklärerischen Sprachkritik sprechen, die auf die „Demokratisierung des Sprachgebrauchs“ (vgl. Bozner Manifest 2003: 4) zielte. In diese Zeit gehören die Erstellung des Preußischen Allgemeinen Landrechts und die Übersetzung des Code Napoleon: Das preußische Allgemeine Landrecht (ALR) von 1794 hat mit seinen Prinzipien der Verständlichkeit für die rechtsstaatlich disziplinierten Untertanen als einsichtige Staatsbürger, zusammen mit der Übersetzung des Code Napoleon (CN) von 1809 für das ganze 19. Jh. vorbildlich gewirkt […]. Die bürgernahe Verständlichkeit wurde systematisch gefördert durch übersichtliche Textgliederung, Verkürzung und Vereinfachung des Satzbaus, Beseitigung lateinischer Ausdrücke und Verdeutschung von ‚Fremdwörtern‘ (Polenz III; 1999: 486; Kursiv im Original; Sperrungen im Original gelöscht). 117 3.2 Historisches <?page no="118"?> Im 19. Jahrhundert stand Verständlichkeit im Mittelpunkt der Debatte zur Rechts- und Verwaltungssprache. Kritisiert wurde an der Sprachvarietät „ihre Weitschweifigkeit, Umständlichkeit, Gespreiztheit und unschöne Diktion“ (Knoop 1998: 868). Dabei wurde besonders den ästhetischen Kategorien des Schönen und Unschönen viel Bedeutung beigemessen (vgl. Klein 2014: 17). Im Vergleich zum vorangehenden Jahrhundert ging es nicht wesentlich um völlig neue Stilfragen, sondern um neue Perspektivierungen und wechselnde Schwerpunktsetzungen (z. B. Umgang mit Fremdwörtern, Detailkritik) (Fluck 2011: 162). „Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der richtigen Schreibart und Sprachrichtigkeit“ (Fluck 2011: 174 f.) fand daher „vor dem Hintergrund der Ent‐ wicklung einer einheitlichen deutschen Sprache“ (ebd.) statt. In diesem Kontext ist die Rolle des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins zu erwähnen, der 1885 mit dem Ziel gegründet wurde, „die zahlreichen Fremdwörter aus der Verwaltungs‐ sprache zu verbannen“ (Becker-Mrotzek 1999: 1394). Der Sprachverein, der Sprachpflege trieb, legte seiner Tätigkeit keine „wissenschaftliche Forschung i.e.S.“ (Becker-Mrotzek 1999: 1394) zugrunde. Dabei muss betont werden, dass eine auf Beschreibung orientierte sprachwissenschaftliche Forschung im mo‐ dernen Sinn erst im Laufe des 19. Jahrhunderts sich zu entwickeln begann und dass jede frühere Betrachtung der Sprache aus einer Mischung verschiedener - aus heutiger Perspektive - linguistischer und nicht-linguistischer Ansätze und Methoden bestand. Diesbezüglich merken Kilian/ Niehr/ Schiewe (2010) an: Die Trennung zwischen deskriptiven und (im weitesten Sinne) normativen Aussagen, also die Unterscheidung zwischen dem Beschreiben und Erklären von Sprachregula‐ ritäten als sprachwissenschaftlicher Tätigkeit und der Bewertung dieser Regularitäten als sprachkritischer Tätigkeit, war der Sprachreflexion bis zum beginnenden 19. Jahr‐ hundert nicht geläufig (Kilian/ Niehr/ Schiewe 2010: 13). Erst im 19. Jahrhundert fing die Sprachwissenschaft an, sich als beschreibende Tätigkeit durchzusetzen, während man der Sprachkritik bewertende Aufgaben zuschrieb. Die stilistisch-konservative Sprachkritik prägt die 1950er und 1960er Jahre. Sie wird als eine „Weiterentwicklung der Sprachpflege“ (Becker-Mrotzek 1999: 1394) betrachtet, die sich durch eine „ablehnende Haltung gegenüber der Verwaltungssprache“ auszeichnete. Dabei handelte es sich in erster Linie um eine moralische Sprachkritik, die kulturelle und ethische Werte aufgrund eines ‚Sprachmissbrauchs‘ durch die Natio‐ nalsozialisten bedroht sah und diese Werte […] durch Stigmatisierung bestimmter 118 3 Bürgernähe <?page no="119"?> 155 Klein (2014: 18; Hervorhebung im Original gelöscht) bezeichnet Korns Kritik als eine „Fundamentalkritik an dem kognitiven Modus, in dem Verwaltung mit der Welt umgeht“. 156 Hier sei bemerkt, dass die Aufgabe der Linguistik - einer prototypischen Vorstellung entsprechend - zwar in der Beschreibung und nicht in der Bewertung der Sprache besteht, dass sich die beiden Tätigkeiten aber nicht klar voneinander trennen lassen (vgl. dazu Adamzik/ Alghisi 2017). 157 Vgl. Klein (2014: 18; Hervorhebungen im Original gelöscht): „Es wird […] hervor‐ gehoben, dass die viel gescholtenen Nominalisierungen, Funktionsverbgefüge und Ähnliches, wenn auch nicht in jedem Einzelfall, so doch im Prinzip funktional sinn‐ Sprachformen als ‚unmenschlich‘ wiederzugewinnen suchte (Sternberger, Storz, Süs‐ kind, Korn) (Bozner Manifest 2003: 4). Kritik an der Verwaltungssprache entsprach somit - wie bei der von K. Korn geübten Kritik - einer „Abwehr eines Angriffs […], der die Menschen zu Massen summiert[e], also abstrakte Größen für die Statistik herrichtet[e]“ (Knoop 1998: 869) (vgl. I.1.2.1). 155 Neue Perspektiven entwickelten sich ab den 1960er Jahren. Dabei spielten die Überlegungen von P. von Polenz eine wichtige Rolle. Der Autor wendet[e] sich gegen die kulturkritische Ausrichtung der Sprachkritik, die von der Verwaltungsterminologie den reinen Ausdruck der Humanität einfordert[e] (Knoop 1998: 870). Von Polenz sprach sich dafür aus, dass „die Sprachwissenschaft - wie die Sprachkritik - nach Ursachen der Sprachformen und nach Zusammenhängen mit außersprachlichen Einflüssen forschen soll“ (Fuchs-Khakhar 1987: 26). Er hob aber hervor, dass bei der Linguistik „im Unterschied zur Sprachkritik […] nicht gewertet werden [soll]“ (Fuchs-Khakhar 1987: 26; Hervorhebungen A.A.). 156 Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Verwaltungssprache somit zum Gegenstand linguistisch fundierter Analysen. Dabei übernahm die Sprachwissenschaft eine Aufgabe, die „bisher an sprachpflegerischen Zielen orientiert war“ (Fuchs-Khakhar 1987: 25). Ins Blickfeld rückte nun die Funktio‐ nalität der Sprache der Verwaltung: Die Merkmale, die die Sprachpfleger verwerfen, beurteilen die Sprachwissenschaftler als positiv oder sehen sie zumindest als berechtigt an. Diese gegensätzliche Einschät‐ zung ergibt sich daraus, daß sie Texte an ihrer Zweckmäßigkeit messen. Den Sprach‐ formen der Gebrauchstexte wird deshalb unabhängig von literarischen Sprachformen eine eigene Berechtigung zugestanden (Fuchs-Khakhar 1987: 29). 157 119 3.2 Historisches <?page no="120"?> volle, differenzierende und bereichernde Ausdrucksmittel seien: ‚Funktional‘ das heißt zunächst: der Spezifik der behördlichen Welterfassung angemessen“. Damit kommen wir zur letzten Phase der Forschungsgeschichte der Verwal‐ tungssprache, die der Fachsprachenforschung gleichkommt. In diesem Zu‐ sammenhang stimmen Entwicklungen bei der Betrachtung der Verwaltungs‐ sprache mit Phasen in der Erforschung der Fachsprachen überein (vgl. etwa den Wandel von der Analyse lexikalischer Einheiten über die Beschreibung syntaktischer Phänomene und die Auseinandersetzung mit Texten bis zur Betrachtung von Fachkommunikation als komplexem Vorgang). Der Schwer‐ punkt der wissenschaftlichen Diskussion liegt zur Zeit auf der Problematik der Vermittlung zwischen verschiedenen Varietäten/ Semantiken/ Kommuni‐ kationsbereichen (vgl. I.1.2.1.3): Mit der Aufhebung d[es] Ein-Sprachen-Ziels für die gesamte Verständigung muß aber nun die Aufgabe gelöst werden, wie diese Fachsprache vermittelt werden kann. Denn die Klientel soll das Verwaltungshandeln verstehen können bzw. muß ihrerseits sich verständlich machen können. Ziel dieser Umsetzung ist es also, die Verbindung zum allgemeiner orientierten Verständnis zu leisten bzw. umgekehrt dieses für das Ver‐ waltungshandeln umzusetzen, ohne daß die Legitimität des Sachbezugs aufgegeben wird (Knoop 1998: 870; Hervorhebung A.A.). Es ist folglich immer noch die Verständlichkeitsfrage, die im Fokus steht. Die Bestimmung des Grads der (Allgemein-)Verständlichkeit eines Ausdrucks entspricht einer metakommunikativen Tätigkeit, die man in Anlehnung an Dieckmann (2012) dem Begriff der Sprachkritik im weiteren Sinn unter‐ ordnen könnte. Dementsprechend gelten alle Bewertungen im Umkreis der vielfältigen sprachbezogenen Aktivitäten, die unter Oberbegriffen wie Sprachpolitik, Spracharbeit, Sprachpflege, Sprachlehre, Sprachkultur/ Sprachkultivierung, Sprachlenkung, Sprachnormierung zusammengefasst werden, als Sprachkritik und die jeweiligen Akteure als Sprachkritiker (Dieckmann 2012: 3; Hervorhebungen im Original). Mit dem Begriff Sprachkritik im weiten Verständnis verbunden sind also nach Dieckmann „Bereiche metasprachlichen Kommunizierens“ (ebd.) verschiedener Art, die immer Bewertungen einschließen: alltägliche Kommunikationssitua‐ tionen, in denen linguistische Aspekte thematisiert und bewertet werden; primärer Spracherwerb der Kinder in der Familie; Sprachunterricht in der Schule; Sprach- und Kommunikationsschulung in Volkshochschulen; Ratgeber‐ literatur (Wörterbücher, Grammatiken, Stilistiken usw.) kommerzieller Verlage; 120 3 Bürgernähe <?page no="121"?> 158 Die erste - ältere - Phase der Frauenbewegung geht auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als Frauen anfingen, um ökonomische, politische und sozio-kulturelle Gleich‐ berechtigung zu kämpfen (vgl. Eichhoff-Cyrus 2004b und Elmiger 2008: 34 f.). 159 Vgl. dazu Elmiger (2008: 35 f.): „La critique féministe pourrait […] se résumer de la manière suivante: la langue - sa description et son emploi - trahit une vision masculine du monde; de ce fait, elle ne se prête qu’imparfaitement à rendre compte de la présence de femmes et de l’expression de leur vécu. De manière générale, les femmes ne sont pas visibles ou présentes dans la langue et dans la communication; elles sont relayées au second plan ou elles n’apparaissent pas comme individus indépendants, mais comme femmes dépendantes - d’un père ou d’un mari. Lorsqu’elles sont présentes dans le langage, les femmes sont souvent discriminées par des structures péjoratives ou sexistes“. 160 Zu Sprachfeminismus und feministischer Linguistik vgl. etwa Hellinger (2000) sowie die Beiträge in Adam, Eva und die Sprache (Eichhoff-Cyrus 2004a). Eine aktuellere Bestandaufnahme der Forschung, die sich mit Sprache und Geschlecht befasst, findet sich in Günthner/ Hüpper/ Spieß (2012). Günthner/ Hüpper/ Spieß stellen die von ihnen herausgegebenen Beiträge in den Rahmen des umfassenderen Begriffs Genderlinguistik und betonen, dass es sich dabei um eine Perspektive handelt, „die innerhalb der vorhandenen Forschungsteilbereiche zur Geltung kommt oder auch Verknüpfungen zwischen den Teilbereichen herstellt“. Demnach sei „Genderlinguistik Sprachkritik; sie ist auf spezifische Weise der Soziolinguistik verhaftet, wobei sie in diesem Rahmen durch ihre Anliegen sowohl theoretische als auch methodische Fragestellungen modi‐ fiziert oder weiterentwickelt hat. Sie hat sich in jüngerer Zeit gerade im Kontext der Gesprächsforschung und Konversationsanalyse und später im Rahmen der kritischen Diskursanalyse etabliert, in Ansätzen kommen genderlinguistische Fragestellungen Sprachberatung (Dudenredaktion, Gesellschaft für deutsche Sprache usw.); sprachpolitische Maßnahmen durch staatliche Instanzen. Auch Wimmer (2016) weist auf die „zahlreiche Diskursfelder“ hin, „in denen Sprachkritik eine Rolle spielt“: Politik, Verwaltung, Fachsprachen, Sprache und Recht, Finanzen, Wirtschaft, Gesund‐ heit, Gleichberechtigung und Diskriminierung (Wimmer 2016: 627). In den Rahmen der Diskursfelder Gleichberechtigung und Diskriminierung gehört etwa die Reflexion der feministischen Sprachkritik und des For‐ schungsbereichs der Feministischen Linguistik. Diese entwickelten sich in den USA im Zusammenhang mit der Neuen Frauenbewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 158 In der Bundesrepublik Deutschland trieben ab den 1970er Jahren vor allem die Arbeiten von Luise Pusch, Senta Trömel- Plötz und Marlis Hellinger die Diskussion an. Ausgangspunkt der Reflexion war die Überzeugung, dass Sprache von männlichem Denken geprägt sei und dass sich Frauendiskriminierung auch in der Sprache und im Sprachgebrauch zeige. 159 Die feministische Sprachkritik setzt sich mit Fragen zum Thema Sprache der Frauen und Sprache und Geschlecht auseinander. 160 Grob gesagt, 121 3.2 Historisches <?page no="122"?> aber auch im Bereich der Diskursemantik vor sowie in den Debatten um Sprachverän‐ derungen und Sprachwandelerscheinungen, in Untersuchungen zur political correctness sowie im Kontext des Zusammenhangs von Sprache und Institutionen“ (ebd. 2012: 13 f.; Hervorhebungen im Original). Kritisch gegenüber feministischer Sprachkritik sind u. a. Kilian/ Niehr/ Schiewe (2010: 31 f.) und Heringer/ Wimmer (2015: 182 ff.). 161 Elmiger (2008: 37) unterscheidet diesbezüglich zwischen drei Ebenen der Kritik: „Nous distinguons ici entre trois niveaux de critique: 1) le niveau du système de la langue et de sa mise en pratique dans la parole: l’objet de la critique est le système de la langue, son fonctionnement, ses régularités et asymétries. Cela concerne également les ressources pragmatiques et stylistiques mises en œuvre dans l’utilisation des ressources linguistiques. 2) le niveau de la description du système: comment et par qui est codifié le langage (p. ex. dans les dictionnaires, les grammaires, les manuels scolaires)? Quels sont les principes épistémologiques et méthodologiques de la description? Ces descriptions sont-elles empreintes d’un regard androcentrique susceptible de défavoriser la présence des femmes dans le langage? 3) le niveau des interactions et de la parole féminine et masculine: le femmes parlent-elle ou écrivent-elles différemment que les hommes - et si oui, ces différences sont-elles absolues ou graduelles? Quel poids la variable sexe at-elle à côté d’autres variables telles que l’âge, la position hiérarchique, etc.? “. 162 Es liegen zahlreiche Studien vor, die das Thema generische Maskulinaformen von verschiedenen Perspektiven her und mit Bezug auf unterschiedliche Sprachräume fokussieren. Vgl. dazu u. a. Josef Klein (2004), Steiger/ Irmen (2011) und die Arbeiten von Elmiger (2000, 2013, 2014, 2015) sowie Elmiger/ Tunger/ Alghisi (2014). Für den italienischsprachigen Raum sind besonders die Arbeiten von Cecilia Robustelli (vgl. etwa 2012a, 2012b) zu erwähnen. geht es dabei auf der einen Seite um die Beschäftigung mit der „Sprache, die Frauen sprechen“ (Eichhoff-Cyrus 2004b: 196), also um Unterschiede im Sprachgebrauch und Kommunikationsverhalten von Frauen und Männern. Auf der anderen Seite handelt es sich zugleich um die Förderung einer „den Frauen gemäße[n] Sprache“ (ebd.). 161 Angestrebt wird die Gleichbehandlung der Frauen in der Gesellschaft und insbesondere im Berufsleben, die sich auch durch einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch verwirklichen ließe. Dieser entspreche einerseits der Vermeidung sexistischer Repräsentationen (wie etwa gewisse Geschlechtsrollenzuweisungen), andrerseits der Aufhebung eines androzentrischen Sprachgebrauchs, der sich durch die Verwendung von Personenbezeichnungen im generischen Maskulinum auszeichne. 162 Das sprachfeministische Anliegen wirkte sich besonders auf sprachpoli‐ tischer Ebene aus und führte zur Formulierung von Empfehlungen. Diese haben vor allem im Bereich Verwaltungssprache, Stellenausschreibungen und Prüfungsordnungen Anwendung gefunden. Sprachpolitische Empfehlungen zur Durchsetzung geschlechtergerechter Sprache zielen auf die „Beseitigung sprachlicher Asymmetrien in System und Gebrauch“ (Günthner/ Hüpper/ Spieß 2012: 12) ab. In diesem Zusammenhang wurde lange debattiert, „ob Beidnen‐ 122 3 Bürgernähe <?page no="123"?> 163 Für einen allgemeinen Überblick über die verschiedenen Etappen, die in der Schweiz zur Durchsetzung des Prinzips der Gleichbehandlung der Geschlechter in der Behör‐ densprache geführt haben, vgl. Elmiger (2000, 2009, 2011, 2013), Elmiger/ Wyss (2000), Schiedt/ Kamber (2004), Adamzik/ Alghisi (2015, 2017). Für einen Überblick über die Umsetzung des Gebots bzw. über die konkrete Praxis in den Schweizer Behörden vgl. die Ergebnisse des Forschungsprojekts der Universität Genf 2013-2016 (Elmiger/ Schaeffer- Lacroix/ Tunger 2017; Elmiger/ Tunger/ Schaeffer-Lacroix 2017). 164 Vgl. Hellinger (2000), die allerdings von dieser Zuordnung Distanz nimmt. 165 Ausführlicher zur Political Correctness im deutschsprachigen Raum sind die Darstel‐ lungen von Arne Hoffmann (1996), Germann (2007) und Elsner-Petri (2015). 166 Die deutsche Leichte-Sprache-Bewegung hat ihre Wurzel in der amerikanischen Em‐ powerment-Bewegung People First, die „sich als Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten in den 70er Jahren organisierte“ (Bock 2015: 117). Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Einfacher und Leichter Sprache und zum Phänomen Leichte Sprache allgemein vgl. insbesondere die Arbeiten von Bock (2014, 2015, 2018, 2019), Bock/ Fix/ Lange (2017) und Bock/ Antos (2019). nungen, Neutralisierungen oder das Generische Femininum, Binnen-I oder Neutrum-Formen […] geeigneter seien, die Asymmetrien zu beseitigen“ (ebd.). 163 Mit sprachlich zu vollziehender Antidiskriminierung verknüpft ist überdies die auch aus den USA stammende Bewegung der Political Correctness - abgekürzt PC. Sie betrachten einige Autoren als eine Art Oberkategorie, der auch der Sprachfeminismus zuzuordnen wäre. 164 Dabei handelt es sich um einen zeitweise inflationär gebrauchten Begriff, der von semantischer Vagheit geprägt ist und deshalb auch als Bezeichnung für ganz vielfältige Phänomene und Haltungen dient (Kilian/ Niehr/ Schiewe 2010: 30). Gemeinsamer Nenner dieser „vielfältige[n] Phänomene“ ist eine besondere Sen‐ sibilisierung gegenüber Minderheiten. Im Vordergrund steht die Vermeidung bestimmter Wörter bzw. diskriminierender Ausdruckweisen, die sich auf die ethnische Herkunft, das Geschlecht, die Position in der Gesellschaft oder auf körperlich-geistige Eigenschaften des Menschen beziehen (Wimmer 2016: 627). 165 An den Bedürfnissen von Menschen mit körperlich-geistigen Behinderungen orientiert sich die ebenfalls aus den USA kommende Bewegung der Barriere‐ freien Kommunikation. Diese geht von der Forderung aus, dass „bestimmte Nutzergruppen ein einklagbares Recht auf adressatenangemessene Kommuni‐ kation haben (müssen)“ (Antos 2008: 16). Barrierefreie Kommunikation schlägt sich u. a. in der Verwendung einer Einfachen oder Leichten Sprache 166 nieder, die die Verständlichkeit rechtlicher und politischer Texte fördern und damit die 123 3.2 Historisches <?page no="124"?> 167 Mit Bezug auf die barrierefreie Kommunikation schlägt Schubert (2016) einen Sys‐ tematisierungsversuch vor. Dabei unterscheidet er zwischen sechs Barrierentypen: Sinnesbarrieren, Fachbarrieren, Kulturbarrieren, Kognitionsbarrieren, Sprachbarrieren, Fachsprachenbarrieren. Er identifiziert „eine Reihe optimierter Kommunikationsmittel“ (ebd.: 20), die im deutschen Sprachraum dazu dienen, solche Barrieren abzubauen. Es geht um einfache Sprache, bürgernahe Sprache, Leichte Sprache, regulierte Sprache, Plan‐ sprache, Gebärdensprache, gelenkte Fachkommunikation, textarme Bildkommunikation. Merkwürdig ist dabei, dass Schubert den Begriff bürgernahe Sprache von den anderen Sprachformen abgrenzt, ihn dann sehr allgemein als „ein durch Schreibempfehlungen vereinfachtes Deutsch für den schriftlichen Gebrauch“ (ebd.: 22) beschreibt, das von Behördenmitarbeitern zur Kommunikation mit den Bürgern eingesetzt werde. 168 Zur laienlinguistischen Sprachkritik vgl. ausführlich Kilian/ Niehr/ Schiewe (2010, Kap. 3). Vgl. dazu auch die Ausführungen in Adamzik/ Alghisi (2015 und 2017). politische Partizipation von Personen mit ‚Lernschwierigkeiten‘ ermöglichen sollte. 167 Die Kritik an der unverständlichen Rechts- und Verwaltungssprache, an der sexistischen oder der politisch inkorrekten Sprache steht im Zentrum der Aktivitäten der Sprachkritik im engeren Sinn nach Dieckmann (2012). Darunter versteht der Autor die sprachliche Reflexion derjenigen Akteure, die gewöhnlich als Laien-Linguisten bezeichnet werden (vgl. Antos 1996). 168 Zu den typischen Merkmalen der Sprachkritik im engeren Sinn zählt Dieckmann in Anlehnung an Bär (2002) die Tatsache, dass es sich dabei um eine „rein metasprachliche[.] Tätigkeit“ (Dieckmann 2012: 5) handelt, die Bewertung im Sinn einer negativen Bewertung („etwas wird bemängelt“; vgl. ebd.) in den Vordergrund rückt. Überdies zeichnet sich die Sprachkritik im engeren Sinn bzw. Laien-Linguistik durch ihren ausgeprägten öffentlichen Charakter aus. Diese Art der Sprachkritik wendet sich nämlich an die Massenöffentlichkeit und wird daher veröffentlicht. Zu den typischen Publikationsformen bzw. Textsorten gehören Sprachglossen in der Presse sowie Sammlungen von Glossen in Form von Wörterbüchern (vgl. Dieckmann 2012: 6). Wimmer (2016: 629) weist dabei auf eine „feuilletonistische Sprachkritik“ hin, zu deren Hauptvertretern er D. E. Zimmer, T. Steinfeld und B. Sick zählt. Er bezieht sich zugleich auf eine „populäre Sprachkritik“ (ebd.: 628), die normativ ist und auf eine Einwirkung auf den Sprachgebrauch, z. B. im Sinne einer Sprachpflege, [zielt,] die sich an jeweils üblichen Korrektheitsnormen und mehr oder weniger zeit- und anwendungsbezogenen Stilvorstellungen orientiert (vgl. Greule und Ahlvers-Liebel 1986) (Wimmer 2016: 628). Bei dieser praxisorientierten Sprachpflege spielen „Sprachratgeber für die Allgemeinheit (vgl. Eisenberg 2007) oder auch für bestimmte Berufsgruppen wie etwa Journalisten (vgl. z. B. Schneider 2005)“ (Wimmer 2016: 628) eine wichtige 124 3 Bürgernähe <?page no="125"?> 169 Für eine ausführliche Behandlung der linguistisch begründeten Sprachkritik vgl. Kilian/ Niehr/ Schiewe (2010). Rolle. Besonders mit Bezug auf die Ratgeberliteratur hebt Dieckmann (2012: 6) hervor, dass dabei die Grenzen zwischen Sprachkritik im engeren Sinn und anderen metasprachlichen Aktivitäten (vgl. oben) offen sind. Der laienlinguistischen Sprachkritik stellen manche Autoren eine linguisti‐ sche Sprachkritik gegenüber, die „in einem anwendungsbezogenen Bereich der Sprachwissenschaft anzusiedeln ist“ (Bozner Manifest 2003: 3) und „die im Sprachgebrauch zu konstatierenden Normen (und ihren Wandel) kritisch zu reflektieren“ (ebd.: 3) hat. Diese Spielart der Sprachkritik, die sich in einer frühen Phase besonders auf die Arbeit von Hans Jürgen Heringer („kommuni‐ kative Ethik“), Rainer Wimmer („Analyse von Kommunikationskonflikten“) und Werner Holly („reflektierter passiver Sprachgebrauch“) zurückführen lässt, versteht sich als linguistisch begründet und sollte somit „wissenschaftliche Ansprüche“ erfüllen. 169 Als Abschluss dieses Abschnitts und Zusammenfassung obiger Darlegungen zu den zentralen Etappen der Geschichte der Rechts- und Verwaltungssprache bietet sich ein Abschnitt aus Steger (1989: 126) an, der im Folgenden vollständig wiedergegeben wird: Die in Recht […] und Verwaltung verwendete S[prache] beruht historisch (1) auf der Rezeption des römischen Rechts und ihren sprachlichen Folgen, u. a. der Schriftlichkeit der Gesetze; (2) auf der Ausbildung von dt. Kanzleisprachen seit dem Spätmittelalter; (3) auf der Durchsetzung des Nationalgedankens seit dem 18. Jh.; die lat. Rechts-S. wird durch eine deutsche ersetzt, mit Verschärfung des 19. Jh. in der Maxime der ‚Sprachreinheit‘; (4) auf später ergänzten Prinzipien der Gesetzgebung und Verwaltung und der dafür zu wählenden Sprachform. Grundvorgaben sind: ‚Würde‘ und ‚Zweckmäßigkeit‘ / ‚Effizienz‘, zu erreichen durch die sprachlichen Ma‐ ximen der ‚Sprachrichtigkeit‘, der ‚Bestimmtheit/ Deutlichkeit/ Klarheit‘, der ‚Kürze‘ und der ‚Rücksichtnahme auf den bereits üblichen Sprachgebrauch in der (regionalen) Verwaltungssprache‘. (5) Im Gebiet des Dt. Reiches wurden Gedanken der Romantik, vor allem F. C. v. Savignys, über juristische Arbeit an Rechtsbegriffen wirksam und führten zu einem neuen Begriffsapparat und zu einem an Kant geschulten Denk- und Sprachduktus. (6) Eine alte Maxime ‚Sprachverständlichkeit für alle‘ (Maßstab: Fassungskraft des ‚gemeinen Volkes‘, später: des durchschnittlichen Gebildeten) wurde meist fiktiv (teilweise bis heute) beibehalten, aber z. B. schon von Savigny und der Historischen Rechtsschule in Frage gestellt und auf den Institutionen-Bereich selbst beschränkt. 125 3.2 Historisches <?page no="126"?> 170 Leserlichkeit (eng. legibility) bezeichnet „die Qualität der graphischen und typographi‐ schen Gestaltung von Texten“ (Göpferich 2008: 291). Danach sind „Faktoren, die einen Einfluss auf die Leserlichkeit eines Textes haben, […] beispielsweise die Schriftart, die Schriftgröße, der Schriftschnitt, die Zeilenlängen, der Zeilenumbruch, die Wortab‐ stände, der Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund sowie die Druckqualität“ (ebd.). 171 Vgl. Biere (1998: 405), der mit Bezug auf Fachtexte allgemein anmerkt: „[D]ie Verständ‐ lichkeit eines gegebenen Fachtextes [kann] nur unter Bezug auf die jeweils intendierten Adressaten beurteilt werden. Schwerverständlichkeit kann demnach nicht als Merkmal von Fachtexten schlechthin betrachtet werden“. 3.3 Verständlichkeit Stegers Zitat schließt bei der Hervorhebung der Rolle, die das Verständlichkeits‐ prinzip bei der Reflexion über die Rechts- und Verwaltungssprache gespielt hat. Auch der Begriff Verständlichkeit stand im Laufe des 20. Jahrhunderts als solcher im Mittelpunkt wissenschaftlicher Betrachtung. Er wurde zum Gegenstand zahlreicher, unterschiedlichen Disziplinen angehörender Studien. Die wichtigsten Erkenntnisse, zu denen man in der Forschung gelangt ist, werden nun in sehr groben Zügen umrissen. 3.3.1 Zur Erforschung der Verständlichkeit Der Begriff Verständlichkeit wird gewöhnlich auf „eine bestimmte Eigenschaft eines Textes oder einer Rede“ (Herrmann 2009: 1093), auf ein „Textqualitäts‐ merkmal“ (vgl. Göpferich 2008: 291), bezogen. Gemeint wird damit einerseits die über die Sinnesorgane aufgenommene physische Eigenschaft eines sprach‐ lichen Produkts (etwa die Leserlichkeit 170 eines Textes oder die akustische Verständlichkeit einer Rede); andererseits geht es bei Verständlichkeit um die „Erfaßbarkeit des Textsinns“ (Herrmann 2009: 1094). Dementsprechend gilt ein Text als verständlich, „wenn wir die Informationen mühelos und leicht aufnehmen und verarbeiten können“ (ebd.). Bei der Verständlichkeit handelt es sich um eine Relation: „Verständlich oder unverständlich oder schwer verständlich ist etwas (x) immer nur für jemanden (y)“ (Nussbaumer 1995: 90). 171 Dies bedeutet, dass Verständlichkeit zwar an den jeweiligen Text gebunden [ist], […] aber andererseits nur in Bezug auf die jeweiligen Rezipienten ermittelt werden [kann]. Deren Vorwissen, ihre Fähigkeiten, ihre Rezeptionsziele und die Rezeptionssituation spielen für die Verständlichkeit eine entscheidende Rolle (Herrmann 2009: 1094). Die Orientierung auf den Rezipienten hin erfolgte in der Verständlichkeitsfor‐ schung besonders unter dem Einfluss der kognitivistischen Reflexion der 1960er 126 3 Bürgernähe <?page no="127"?> 172 Es sei allerdings bemerkt, dass die Lesbarkeitsforschung heute eher als Vorstufe der regelrechten Verständlichkeitsforschung betrachtet wird (vgl. Biere 1991: 6 und Göpferich 2008: 291 f.). 173 Das sogenannte Karlsruher Verständlichkeitskonzept Göpferichs, das die verschie‐ denen Ansätze in sich integriert und sich als kommunikationsorientiert-integrativer Bezugsrahmen für die Bewertung der Verständlichkeit von Texten versteht, bezieht sich hauptsächlich auf technische Dokumentation und wird daher hier nicht behandelt. Mit Bezug auf ihr Modell betont Göpferich: „In die Modellentwicklung fließen Erkennt‐ nisse aus der Kognitionswissenschaft (Schema-Theorie und mentale Modelle), der Instruktionspsychologie (die vier instruktionspsychologischen Dimensionen als grober Ausgangspunkt), der Sprachwissenschaft (Stilistik, Textlinguistik, Sprachpsychologie, Fachsprachenforschung/ Terminologielehre) sowie der Kommunikationstheorie und der Semiotik (Kommunikationsmodell, Zeichenbegriff) ein“ (Göpferich 2008: 296). Zur Vertiefung vgl. Göpferich (1998, 2002, 2006, 2008). Ebenso nicht berücksichtigt sind hier die Weiterentwicklungen im Bereich der kognitiven Linguistik (vgl. Rickheit/ Strohner 1989; Strohner 2006; Rickheit/ Weiss/ Eikmeyer 2010). Jahre (siehe unten). Einige Autoren (wie z. B. Biere 1991) betonen zugleich die Bedeutung der Hermeneutik - im 19. Jahrhundert von Schleiermacher als ‚Kunst des Verstehens‘ definiert - für die Erforschung der Sprachverständlichkeit: Biere stellt fest, daß zwei grundlegende Einsichten der Hermeneutik auch für die Ver‐ ständlichkeitsforschung gelten: ‚(1) Aussagen über die Verständlichkeit eines Textes sind nicht möglich ohne Bezug auf verstehende, d. h. auslegende oder interpretierende Aktivitäten des individuellen Rezipienten und (2) das Verständlich(er)-Machen von Texten muß als Erklärungsbzw. als Lehr-Lern-Situation vorgestellt werden, in der auf das beim Rezipienten schon vorhandene Wissen Bezug genommen werden muß‘ (Ballot 2001: 35) (Hermann 2009: 1096; Hervorhebung im Original gelöscht). Anfangs standen allerdings andere Perspektiven im Mittelpunkt der wissen‐ schaftlichen Diskussion. Grob und vereinfacht zusammengefasst, lassen sich mit Bezug auf die Entwicklungen in der Verständlichkeitsforschung vier zentrale - sich teilweise überlappende bzw. nebeneinander existierende - Momente bzw. Theoriebereiche oder Ansätze unterscheiden: I. Lesbarkeitsforschung 172 II. Instruktionspsychologische Ansätze der Textverarbeitung III. Kognitionswissenschaftliche Verständlichkeitsforschung IV. Linguistische Verständlichkeitsforschung. 173 Die Lesbarkeitsforschung (eng. readability) wurde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts im anglo-amerikanischen Raum konzipiert. Sie fokussiert den Text als Produkt und berücksichtigt dessen objektiv feststellbare Merkmale. Im Vordergrund stehen Variablen wie Wortlänge (z. B. Anzahl der Silben 127 3.3 Verständlichkeit <?page no="128"?> 174 http: / / fleschindex.de/ ; 12.04.2017. 175 https: / / www.psychometrica.de/ lix.html; 12.04.2017. 176 http: / / www.corrige.it/ leggibilita/ lindice-gulpease/ ; 12.04.2017. 177 Vgl. außerdem Biere (1995: 159): „Durch möglichst kurze Wörter und Sätze kann weder ein optimales Textverständnis garantiert werden, noch kann damit den vielfältigen Formen und Funktionen von Texten in unterschiedlichen Kommunikationssituationen angemessen Rechnung getragen werden“. Siehe auch Lerch (2004c: 254), der den praktischen Nutzen der Lesbarkeitsforschung in Frage stellt. pro Wort), Satzlänge (etwa Anzahl der Wörter pro Satz) oder die allgemeine Vorkommenshäufigkeit der Wörter, die im Text erscheinen. Zur Messung der jeweils für relevant gehaltenen Werte sind in unterschiedlichen Kontexten und für verschiedene Sprachen Lesbarkeitsformeln entwickelt worden. Erwähnt seien hier als Beispiel die bekannte Reading-Ease-Formel von Flesch, 174 der Lix-Index, 175 die Wiener Sachtextformel (Bamberger/ Vanecek 1984) oder der Gulpease-Index (auf die italienische Sprache bezogen). 176 Die quantitativ erfass‐ baren Eigenschaften werden mit qualitativen Merkmalen wie Wortschwierigkeit oder Satzschwierigkeit in Beziehung gesetzt. In dieser Hinsicht wird der Grad der Verständlichkeit eines Textes „als objektiv meßbare Einheit vorgestellt“ (Biere 1991: 6). An der Lesbarkeitsforschung wurde von verschiedener Seite besonders kri‐ tisiert, dass sie ausschließlich die formale Textoberfläche in den Blick nehme, wobei „die Art der Präsentation, die Strukturierung der Inhalte ebenso wie die Voraussetzungen der Rezipienten unberücksichtigt bleiben“ (Herrmann 2009: 1097). Biere stellt diesbezüglich fest: Lesbarkeitsformeln sind zwar problemlos anwendbar, sie erfassen jedoch nur relativ oberflächliche Textmerkmale und geben keine spezifischeren Hinweis [sic] für die Optimierung der Textgestaltung. Da sie die Ebene der kognitiven Textgliederung und den Bezug auf den Verstehensprozeß des Lesers nicht berücksichtigen, bleiben sie theoretisch unfruchtbar (Biere 1991: 7). 177 Die wohl bekanntesten instruktionspsychologischen Modelle zur Erklärung der Textverständlichkeit sind das Hamburger Verständlichkeitskonzept der Psychologen Langer, Schulz von Thun und Tausch und das Verständlich‐ keitsmodell Groebens. Bei dem ersteren geht es um ein „empirisch-induktiv entwickeltes Modell zur Beurteilung von Texten“ (Herrmann 2009: 1097), das auf die 1970er Jahre zurückgeht. Im Mittelpunkt stehen Verständlichkeitsdimensi‐ onen, die durch ein Rating-Verfahren gewonnen wurden, an dem ‚Experten‘ teilnahmen. Gemäß dem Modell handelt es sich bei den Dimensionen, die die Verständlichkeit eines Textes beeinflussen, um Einfachheit, Gliederung / Ord‐ nung, Kürze und anregende Zusätze. 128 3 Bürgernähe <?page no="129"?> 178 Vgl. dazu Herrmann (2009: 1099): „Göpferich kritisiert, daß auch dieses Modell [das Modell Groebens] Textsorte, Textfunktion und Adressaten nicht berücksichtige, auch wenn es theoretisch anspruchsvoller sei als das Modell von Langer et al.“. Wie im Fall der Lesbarkeitsforschung geriet auch die Verständlichkeitskon‐ zeption von Langer et al. zunehmend in die Kritik. Getadelt wurden das Fehlen einer theoretischen Basis und eine allzu starke Textorientierung, die nicht die kognitiven Verarbeitungsprozesse des Adressaten in Betracht ziehe. Dennoch fand das Hamburger Modell wegen Anschaulichkeit und direkter Anwendbarkeit große Verbreitung: Die praktische Zielsetzung des Konzepts der Verständlichkeitsdimensionen liegt darin, lehr- und lernbare Verfahren der Textoptimierung zur Verfügung zu stellen. In entsprechenden Lernprogrammen lernt der Leser und potentielle Autor, vorgegebene Texte in einzelnen Dimensionen zu verbessern und schließlich selbst verständliche(re) Texte zu verfassen (Biere 1991: 7). Anspruchsvoller war das theoretisch-deduktive Verständlichkeitsmodell Groebens, das ebenfalls gegen Ende der 1970er Jahre erarbeitet wurde. Groe‐ bens Modell stützt sich u. a. auf die Subsumtionstheorie Ausubels: Danach fördert es das Verstehen, wenn neue Informationen in ein bereits vorhandenes Ordnungssystem eingefügt werden können (Herrmann 2009: 1098). In diesem Kontext erweisen sich Vorstrukturierungen, die sogenannten Ad‐ vanced Organizers, als wichtige Hilfsmittel zur Aktivierung bereits vorhan‐ denen Wissens. Groeben bringt in seinem Konzept verschiedene theoretische Ansätze (klassische kognitivistische Lern- und Instruktionspsychologie, aber auch konstruktivistische kognitionstheoretische Grundlagen) zusammen, „aus denen jeweils Teilaspekte für eine theoretische Explikation des Konstrukts ‚Verständlichkeit‘ gewonnen werden können“ (Biere 1991: 8). In den Vorder‐ grund rückt ein Modell der Leser-Text-Interaktion, „das die wechselseitige Beeinflussung von Lesermerkmalen und Textmerkmalen thematisiert“ (ebd.). Trotz der Kombination mehrerer Perspektiven und der Hinwendung zur Leser- Rolle bleibe Groebens Konzeption nach einigen Autoren immer noch stark textorientiert (vgl. etwa Göpferich 2008). 178 Wie oben angeführt, trat die Leser-Rolle besonders infolge der Entwicklungen der Kognitionswissenschaften in den Fokus. Die Modelle und Theorien der Kognitionspsychologie zum Verstehen leisteten in den 1970er und 1980er Jahren einen großen Beitrag zur Verständlichkeitsreflexion. Sie stellen heute 129 3.3 Verständlichkeit <?page no="130"?> 179 Diesbezüglich weist Lerch auf die Folgen hin, die solche Entwicklungen für die Fokussierung auf die sprachliche Dimension sowie die praktische Anwendung der For‐ schungserkenntnisse hatten: „Der Versuch, die kognitionswissenschaftlichen Modell‐ bildungen durchgängig auf den Problemhorizont der Textverständlichkeit zu beziehen, hat […] dazu geführt, dass die Konturen eines eigenständigen Forschungsbereichs ‚Verständlichkeit‘ immer stärker verschwimmen: Verständlichkeitsforschung scheint in der grundlagentheoretischen Thematisierung des Textverstehens, des Behaltens und der Wiedergabe von Texten aufzugehen“ (Lerch 2004c: 263; vgl. auch 2008: 67). 180 Vgl. Herrmann (2009: 1096; Hervorhebungen im Original): „Im Sinne des kognitiven Konstruktivismus geht man davon aus, daß bei Lesern nicht nur bottom-up-Prozesse ablaufen, also Textdaten verarbeitet werden, sondern ebenso top-down-Prozesse, bei denen Vorwissen die Verarbeitung eines Textes steuert, die Leser den Sinn aktiv schaffen und beispielsweise Informationen einfügen, die nicht im Text stehen“. eine Art Grundlagenforschung zum Thema Verständlichkeit dar. 179 Dabei lassen sich zwei Theoriebereiche grob unterscheiden: schema-theoretische Modelle und propositionale / mentale Modelle. Bei der Schematheorie wird Textverar‐ beitung (Verstehen) in der Regel als Wechselspiel von internalisierten, in Form von Schemata reprä‐ sentierten Wissensstrukturen des Rezipienten und im zu verstehenden Text exter‐ nalisierten Wissensstrukturen (des Produzenten) aufgefaßt, als Wechselspiel von schemageleiteten (‚top-down‘) und datengeleiteten (‚bottom-up‘) Prozessen (Biere 1991: 5; Hervorhebungen A.A.). 180 Zu den propositionalen Modellen gehört etwa das Konzept von Kintsch und Van Dijk. Die Autoren nehmen an, dass „die Textoberfläche in einer Liste von ‚Propositionen‘, die die Bedeutung eines Textes repräsentieren, dargestellt wird“ (Biere 1991: 5). In diesem Zusammenhang sprechen sie von zyklischer Textverarbeitung, wobei sie zeigen, wie die Propositionen eines Textes in aufeinander folgenden Zyklen in Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis auf Kohärenz überprüft werden. Kohärenzlücken erhöhen den Aufwand für die Verarbeitung eines Textes. Sie werden entweder durch Infe‐ renzen, also Schlußfolgerungen auf Grundlage allgemeinen Weltwissens oder durch Rückgriffe auf bereits verarbeitete und im Langzeitgedächtnis gespeicherte Textteile geschlossen (Herrmann 2009: 1099 f.). Mentale Modelle wie das Christmanns weisen gewöhnlich auf zwei Ebenen hin, die sich im Verarbeitungsprozess eines Textes aufeinander auswirken: Die eine Ebene sind die propositionalen, sprachlichen Strukturen, die andere Ebene bildhafte Darstellungen des Inhaltes, die mentalen Modelle (Herrmann 2009: 1100). 130 3 Bürgernähe <?page no="131"?> 181 Vgl. Biere (1991: 2): „[W]ie man […] Texte so gestalten kann, daß ein konkreter Partner oder eine mehr oder weniger spezifische Gruppe von Adressaten das, was zu sagen ist (Sachangemessenheit) auch (richtig) versteht (Adressatenangemessenheit), ist eine der Kernfragen einer praktisch orientierten Verständlichkeitsforschung“. In der Linguistik setzte die wissenschaftliche Auseinandersetzung ab Ende der 1970er Jahre an, wobei Sprachverständlichkeit besonders als Thema ange‐ wandter Forschung ins Zentrum des Interesses rückte (vgl. I.1.2.1.3). Auf theore‐ tischer Ebene leistete die Sprachwissenschaft insofern einen wichtigen Beitrag zur Verständlichkeitsdiskussion, als sie sprachtheoretisch eine „unhinterfragte Grundannahme der psychologischen Verständlichkeitsforschung“ (Biere 1991: 9) problematisierte; nämlich die Annahme, „daß jeder Text beliebig umformu‐ liert werden könne, ohne daß dies den Inhalt des Ausgangstexts tangiere“ (ebd.). In diesem Kontext wiesen Linguisten darauf hin, dass die Funktion eines Textes häufig eng mit bestimmten Sprachformen zusammenhängt, die genau dieser Funktion adäquat sind, so dass der Spielraum für Veränderungen, die einen Text verständlicher machen sollten, beschränkt sein könnte. Heringer und Biere sprechen dabei vom Dilemma der Verständlichkeit, da der Autor auch die Funktion und Sachangemessenheit eines Textes mitbedenken müsse. […] Eine verständliche Variante eines Textes enthalte unter Umständen nicht mehr die gleichen Informationen und könne damit auch seine Funktion ändern (Herrmann 2009: 1101). 181 Dementsprechend betont Biere in Anlehnung an Heringer (1979), dass das Verständlicher-Machen so etwas wie eine Gratwanderung zwischen zwei konfligierenden Maximen [ist]: (1) Sage, was zu sagen ist und (2) Rede bzw. schreibe so, daß dein Partner dich versteht […], zwischen Wahrheit/ Wahrhaftigkeit, Relevanz, Informativität auf der einen und Klarheit, Einfachheit, Verständlichkeit auf der anderen Seite (Biere 1991: 9; Hervorhebungen A.A.). Von einem Dilemma, aber in methodologischer Hinsicht, spricht auch Lerch (2004c, 2008), wenn er die Ergebnisse der Verständlichkeitsforschung kritisch erörtert. Dabei weist er auf die Schwäche sowohl kognitionsals auch instruk‐ tionspsychologischer Verständlichkeitsmodelle hin und stellt den Beitrag der Linguistik in Frage. Seine Ausführungen gehören in den Rahmen einer Reflexion über die Verständlichkeit der Rechtstexte: Methodologisch ist […] folgendes Dilemma zu konstruieren: In den Fällen, in denen Textmerkmalsbeschreibungen relativ präzise, ausdifferenziert und potentiell erklä‐ 131 3.3 Verständlichkeit <?page no="132"?> 182 Vgl. auch Lerch (2008: 69). 183 Vgl. auch die Podiumsdiskussion Kann man Gesetze verständlich machen? in Haß-Zum‐ kehr (2002: 366 ff.). rungskräftig sind, sind sie unökonomisch, in den Fällen, in denen sie ökonomisch sind, sind sie unpräzise. Die Sprachwissenschaft kann derzeit daher nur einen begrenzten Beitrag leisten, wenn es darum geht festzustellen, warum Texte verständ‐ lich sind und warum nicht, abgesehen davon, dass es noch völlig ungewiss ist, ob und inwieweit die vorwiegend anhand alltagssprachlichen Texten gewonnenen Erkenntnisse der Verständlichkeitsforschung überhaupt auf Rechtstexte angewandt werden können, deren Charakteristika noch weitgehend unerforscht sind (Lerch 2004c: 267; Hervorhebungen A.A.). 182 3.3.2 Verständlichkeit der Rechts- und Verwaltungssprache Vom Dilemma der Verständlichkeit besonders betroffen ist eben die Sprache des Rechts und der Verwaltung. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass nur be‐ stimmte funktionale Sprach- und Textformen in juristischen Texten normative Funktionen erfüllen. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise bei Gesetzestexten „aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen nicht jede Optimierungsstra‐ tegie des Verständlichermachens anwendbar ist, sondern nur eine beschränkte Auswahl“ (Lötscher 1995: 125; Hervorhebungen im Original gelöscht). Um die Frage der Verständlichkeit der Rechtsbzw. Gesetzestexte herum hat sich eine facettenreiche Debatte entwickelt, deren Schwerpunkte hier kurz skizziert werden. Einen guten Überblick über die verschiedenen diskursiven Positionen bietet ein Beitrag von Nussbaumer aus 2004. Dieser findet sich in einem von Lerch herausgegebenen Sammelband (2004a), der „eine[r] der jüngsten Dokumentationen [der] Haltungsunterschiede“ (Engberg 2008: 76) ent‐ spricht. 183 Nussbaumer unterscheidet grundlegend zwischen drei Standpunkten: Schwärmer, Skeptiker und skeptische Schwärmer. Schwärmer sind diejenigen, die an der Allgemeinverständlichkeit der Rechtstexte festhalten. Sie halten das Ziel allgemein verständlicher Gesetze für nachvollziehbar und fordern dementsprechend Allgemeinverständlichkeit im Recht, da sie ein wichtiges Bürgerrecht im demokratischen Staat darstelle. Ein Vertreter dieser Position ist etwa Wolfgang Klein, dessen Meinung sich schon aus dem Beitragstitel „Ein Gemeinwesen, in dem das Volk herrscht, darf nicht von Gesetzen beherrscht werden, die das Volk nicht versteht“ (Klein 2004) in Lerchs Band ablesen lässt. Schwärmer bilden eigentlich eine Minderheit (vgl. Antos 2008: 10), zahlreicher sind die skeptischen Stimmen. Skeptiker nehmen an, dass die Allgemeinver‐ 132 3 Bürgernähe <?page no="133"?> 184 Vgl. auch Lerch (2008: 57): „Die Allgemeinverständlichkeit des Rechtsdiskurses ist und bleibt […] eine unerreichbare Vorstellung“. ständlichkeit in der juristischen Fachsprache nicht erreichbar sei. Mit Blick auf die historische Entwicklung der Diskussion stellt Lerch z. B. fest: Drei Jahrhunderte sind vergangen, seit sich die Aufklärung angeschickt hat, uns ver‐ ständliche Gesetze zu bescheren. Drei Anläufe hat es seither gegeben, die deutschen Gesetze verständlicher zu machen. Drei deutsche Gemeinwesen sind daran geschei‐ tert: Aufgeklärter Absolutismus, konstitutionelle Monarchie und parlamentarische Demokratie haben es allesamt nicht vermocht, das Gesetz auch denen verständlich zu machen, die nach den Gesetzen zu leben verpflichtet sind (Lerch 2004b: 236). Die Gesetze als Gemeingut aller - das bleibt wohl nicht mehr als ein schöner Traum (ebd.: 237). 184 Um ihre These zu belegen, weisen die Skeptiker auf „die bisherige Folgenlosig‐ keit aller […] Versuche“ (Antos 2008: 10) hin, Gesetze verständlicher zu machen. Diesbezüglich betont Lerch pointiert: „Wenn so viel Therapie fehlschlägt, muss die Diagnose fraglich werden“ (Lerch 2004b: 237; vgl. auch Lerch 2008: 55). Dabei werden besonders die Bemühungen der „linguistische[n] Sprachpflege des Rechts“ (vgl. Grewendorf 2000) angeprangert (vgl. I.3.2). Sprachkritik dieser Art wird für mangelhaft gehalten, weil sie in der Regel fixiert ist auf das einzelne Wort oder die einzelne Satzkonstruktion und weil sie die Dimension des Textes, des Kontextes, des funktionalen Zusammen‐ hangs, der Textsorte usw. nicht oder nur mangelhaft in Rechnung stellt (Nussbaumer 2007b: 47). Ein typisches Beispiel für solche mangelhafte Sprachkritik, die häufig als bloße Kosmetik (vgl. Nussbaumer 1995 und Hauck 2002) herabgestuft wird, sei der in Deutschland verbreitete Ratgeber Fingerzeige für die Gesetzes- und Amtssprache (1998), der von der Gesellschaft für deutsche Sprache im Einvernehmen mit dem deutschen Bundesministerium des Innern und dem Bundesministerium der Justiz herausgegeben wurde und in 11 Auflagen erschienen ist. Nach der Meinung der Kritiker dieses Kompendiums vereinige er „alle bekannten Ressentiments gegenüber legistischen Texten“ (Warnke 2001: 197) und er sei „Ausdruck des gesellschaftlich gefestigten Stereotyps vom unnötig kompli‐ ziert formulierten Recht, von den überspannten Ausdrucksweisen und der verschleiernden Hermetik“ (ebd.). Die Fingerzeige seien „wissenschaftlich völlig unfundiert“ (Lerch 2004b: 233), nicht zuletzt weil darin die „Erkenntnisse der Verständlichkeitsforschung kaum Niederschlag gefunden haben“ (ebd.: 235). 133 3.3 Verständlichkeit <?page no="134"?> 185 Dem Chor der Skeptiker ist auch die Stimme von D. Busse (1992) zuzuordnen. Die Argumente der Skeptiker stützen sich auf die Tatsache, dass Gesetzestexte „Mittel komplexer Entscheidungsvorgänge“ (Lerch 2008: 70) sind, deren Bedeu‐ tung sich „in gesteuerten Auslegungsverfahren als Arbeit an und mit Sprache“ (ebd.; Hervorhebung A.A.) entfaltet. Diese wird von institutionsspezifischen Be‐ dingungen bestimmt. Gesetzestexte sind also „in ein[.] weit ausgreifende[s] Netz intertextueller Relationen“ (ebd.: 71) zu anderen Texten eingebettet (vgl. I.1.1). Dabei führe eine Überarbeitung in Richtung einer allgemein verständlichen Textfassung zu nichts anderem als zu einer Version, die „diesem institutionell gebundenen Textverstehen nicht gerecht“ (ebd.: 74) würde: Unverständlich sind die Texte in der Regel nicht deshalb, weil sie - wie freilich häufig - sprachliche Formen verletzen, sondern weil sie genau das, was der Laie von ihnen erwartet, nämlich ‚eindeutig‘ im Sinne einer einzigen Deutungsmöglichkeit zu sein, strukturbedingt nicht sind, oft gar nicht sein wollen, jedenfalls nicht sein können. Rechtstexte sind mitnichten letzte, präzise Antworten oder Weisungen, sondern zeitbezogene Angebote an die Deutungskultur (Ogorek 2004: 299). Ogorek merkt in diesem Zusammenhang an, dass „das Ergebnis des sprachlichen Schliffs“ für Laien „sogar irreführend“ sein kann, weil [ihnen] suggeriert wird, dass sie nun zumindest ‚(teil-)versteh[en]‘ (Lasser [2000]). Tatsächlich aber wird nach linguistischer Bearbeitung die rechtliche Botschaft nicht, auch nicht teilweise, besser verstanden, sondern nur flotter gelesen, was etwas ganz anderes ist (Ogorek 2004: 299 f.; Hervorhebungen im Original gelöscht). 185 Eine weniger radikale Position nehmen skeptische Schwärmer ein, denen Nussbaumer selbst angehört. Nach ihm sollte man mit Bezug auf die Verständ‐ lichkeit von Gesetzen „nach der Mitte zwischen Skepsis und Schwärmerei als Lösungsweg“ (Engberg 2008: 78) suchen. Das heißt: die Skeptiker vom hohen Ross herunterholen und den Schwärmern die Augen öffnen für das, worum es wirklich geht; von den Skeptikern den Blick für die Realität lernen und von den Schwärmen das feu sacré für eine Sache, die umso wichtiger wird, je realistischer man sie sieht. Kurzum: skeptischer Schwärmer werden. Und dann mutig reinfassen in den Sprachteig der Gesetze (Nussbaumer 2004: 295). Einen Mittelweg in diesem Zusammenhang zu finden, bedeute also, dass man sich mit Blick auf die Mehrfachadressierung von Gesetzen zwar bewusst sei, dass der erste Adressat dabei Juristen seien (vgl. Nussbaumer 1995: 92); man versuche aber zugleich, das Ideal der Allgemeinverständlichkeit hochzuhalten 134 3 Bürgernähe <?page no="135"?> 186 Vgl. dazu auch die Position von Cornu (2004: 68): „La compréhension du droit est un objectif inaccessible, mais toutes les énergies doivent y tendre malgré tout. C’est la philosophie prométhéenne du ‚ Quand même ‘“. 187 Vgl. auch Lerch (2008: 76). 188 Diese Meinung vertritt auch Engberg (vgl. z. B. 2008), der sich explizit an Nussbaumer und seine Kompromisslösung anlehnt. Engberg kommt zu dem Schluss: „Das Ziel der Formulierung [der Gesetze] wäre somit nicht, dass der Empfänger die konkrete Entwicklungsmöglichkeit [eines Begriffs] ersehen kann, sondern dass der Empfänger erkennt, dass der Begriff genau an einer bestimmten Stelle voraussichtlich entwickelt wird“ (Engberg 2008: 92). (vgl. Nussbaumer 2007b: 49 f.). 186 Konkret heiße das, dass man eine „Kultur eines verständlichen Rechts“ (Nussbaumer 2004: 295; Hervorhebungen A.A.) fördere. Man begebe sich also an die Verständlichkeitsarbeit bei Gesetzen (vgl. Nussbaumer 2007a und 2007b). Dabei gehe es in erster Linie um die Verständlichkeit für Juristen: Wenn wir wirklich wählen müssen zwischen Gesetzen, die gut für Juristen sind, und solchen, die gut für Laien sind, aber schlecht für Juristen, dann [sollten wir uns] für Gesetze [aussprechen], die gut für Juristen sind, denn das hohe Gut der Rechtssicherheit ist nicht gewährleistet, wenn die Bürger ihre Gesetze lesen und verstehen können, es ist aber gefährdet, wenn die primären Rechtsanwender, die Juristen, die Gesetze nicht verstehen können (Nussbaumer 1995: 93). 187 Gleichzeitig handle es sich allerdings auch um das Prinzip der Verständlichkeit für Laien. Denn „[d]er Jurist wird jederzeit mehr aus einer Bestimmung heraus‐ lesen können als der Laie, dennoch soll auch der Laie etwas verstehen können“ (Nussbaumer 2007a: 29). 188 Leitsatz sei somit Differenzierung, wobei die normierende oder die informative Funktion der Normtexte jeweils bzw. je nach Perspektive in den Vordergrund rücke. Differenzierung bedeute auch, dass man unterscheiden müsse zwischen Vorschriften, die primär Fachleute adressieren und Normen, die Normalbürger direkt betreffen. In diesem Zusammenhang entspreche die Arbeit an der Verständlichkeit von Gesetzen einer Tätigkeit, die nicht nur in die sprachliche Oberfläche eingreife, sondern auf verschiedenen Ebenen erfolge und mehrere Faktoren (außersprachlich - wie z. B. die Haltung der Gesetzesverfasser -, rechtsetzungstechnisch, sprachlich, sprachenrechtlich, publikationsrechtlich, publikationstechnisch) berücksichtige (vgl. dazu Nuss‐ baumer 2007a, 2007b und 2008). Wichtig sei jedenfalls dabei, dass man vermeid‐ bare Barrieren entferne (vgl. Antos 2008: 18) und optimal durchgestaltete und formulierte Texte produziere. Dies lasse sich nicht zuletzt verwirklichen, indem man zumindest offensichtliche verständlichkeitserschwerende Elemente beseitige: 135 3.3 Verständlichkeit <?page no="136"?> 189 Zu den skeptischen Schwärmern könnte man auch Luttermann zählen. Die Autorin hat ein Rechtslinguistisches Verständlichkeitsmodell entwickelt, dessen Ziel es ist, „Sprach‐ gebrauch in Gesetzestexten auf Verständlichkeit für Adressaten zu untersuchen“ (Luttermann 2010: 150). Das Modell umfasst vier Analyseschritte, die die Perspektive sowohl der Rechtsexperten als auch der -laien ermitteln sollen: Es geht um das Theorie-, Empirie-, Ergebnis- und Vergleichsmuster. Das Verständlichkeitsmodell Luttermanns ist somit mehrperspektivisch angelegt und soll „Verständnisleistungen von Laien im Umgang mit der Gesetzessprache“ (ebd.: 156) zeigen. Es legt überdies Problemlagen offen, „die durch fachsprachlich-juristische Verwendung alltäglicher Ausdrücke ent‐ stehen und sprachlicher Verbesserungen im interdisziplinären Kontext bedürfen […]. Methodisch leitet der handlungstheoretische Ansatz, wonach Lexeme im interaktiven Aushandlungsprozess erst Bedeutung erlangen. Im Grunde steht die Realisierung der sprachdemokratischen Idee. Sie wirkt im Prinzip des Empfängerhorizonts in Form der Sach- und Adressatenangemessenheit“ (ebd.). In der Regel kann und muß allerdings auch auf allgemeine Prinzipien verständnis‐ fördernder Textgestaltung zurückgegriffen werden, wie sie bereits aus der Tradition der Rhetorik und Stilistik, insbesondere aber aus der neueren Verständlichkeitsfor‐ schung abgeleitet werden können. Letztere hat eine Reihe von Gestaltungstechniken vorgeschlagen, die größtenteils auch bei der Gestaltung von Fachtexten Anwendung finden können (Biere 1998: 406; Hervorhebungen A.A.). Im Allgemeinen sei das Ziel, eine „der Verständlichkeit verpflichtete Gesetzge‐ bung“ durchzusetzen, die „die verständige Richterin von jener Müh [entlastet], von der sie sie entlasten kann, und […] ihren Kopf frei für die Müh macht, die diejenige ihrer Profession ist“ (Nussbaumer 2004: 294). Nach der Meinung der skeptischen Schwärmer gibt es also mit Bezug auf die (Schwer-)Verständlichkeit der Rechts- und Verwaltungssprache durchaus Alternativen, die man begehen könnte und die in einigen Ländern teilweise schon begangen worden sind. 189 Zu den Ländern, die in dieser Hinsicht ‚fortgeschritten‘ sind, gehört etwa die Schweiz (vgl. I.1.2.1.2). 3.4 Sprachpolitische Wege zur bürgernahen Rechts- und Verwaltungssprache in der Schweiz 3.4.1 Schweiz Bevor ich zu den ‚Alternativen‘ bzw. den sprachpolitischen Maßnahmen über‐ gehe, die auf die Verbesserung der Schweizer Rechts- und Verwaltungssprache gerichtet sind, gebe ich zunächst einige landeskundliche Informationen wieder, die für ein umfassenderes Verständnis der schweizerischen Sprachpolitik und 136 3 Bürgernähe <?page no="137"?> kommunikativen Praktiken unentbehrlich sind. Der Fokus liegt hier auf der Erläuterung einiger Begriffe, durch die sich das politische System der Schweiz in groben Zügen beschreiben lässt: I. Föderalismus II. Direkte Demokratie III. Konkordanz, Kompromiss und Kollegialität IV. Mehrsprachigkeit V. Behördenkommunikation Föderalismus Die Schweiz ist seit 1848 ein föderalistischer Staat. Politisch lassen sich drei Ebenen unterscheiden: der Bund, der Kanton und die Gemeinde. Es gibt einen Bund, 26 Kantone und zurzeit (Stand: 2019) 2212 Gemeinden. Jeder politischen Ebene obliegen bestimmte Kompetenzen und Aufgaben. Die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben ist gemäß Art. 5a der Bundesverfassung (BV) von 1999 durch das Subsidiaritätsprinzip geprägt: Das Prinzip kann sowohl horizontal als auch vertikal ausgelegt werden: In seiner hori‐ zontalen Dimension fragt es danach, welche Aufgaben die öffentliche Hand tatsächlich erfüllen muss und soll. Es fordert, dass soweit möglich grundsätzlich alle Aufgaben von privater Hand zu erfüllen sind und dass der Staat nur dort eingreifen soll, wo dies sachlich begründet sei. Das Subsidiaritätsprinzip hat auch eine vertikale Komponente, welche die Ebene der Leistungserbringung innerhalb des staatlichen Gefüges betrifft. Hier verlangt das Prinzip, dass Aufgaben auf möglichst tiefer staatlicher Ebene erfüllt werden und dass nur in begrenzten Fällen ein übergeordnetes Gemeinwesen eingreift (Steiner/ Kaiser 2013: 151; Hervorhebungen im Original). Der vertikalen Subsidiarität entsprechend wird also die obere Ebene nur dann mit einer Aufgabe betraut, wenn die untere Ebene dazu als ungeeignet erscheint. Der Föderalismus baut auf der Idee einer „unaufhebbare[n] Vielfalt“ (Schweizer/ Zelger 2009) auf, die zugleich eine „Einheit“ bildet. Dabei sind die politisch und rechtlich selbstständig bleibenden Kleinordnungen in die Gesamtordnung integriert; gleichzeitig sind sie mit dieser gleichrangig. Auf Bundesebene besteht das Schweizer Parlament aus einer Grossen Kammer, dem Nationalrat, wo Volksvertreter sitzen; und einer Kleinen Kammer, dem Ständerat, an dem Kantonsvertreter teilnehmen. Jede Kammer verfügt über neun parlamentarische Kommissionen, die sich bestimmten Sach‐ bereichen widmen. Die Kommissionen beraten alle Sachgeschäfte vor und verfolgen die gesellschaftliche und politische Entwicklung in ihren Bereichen. Der Nationalrat und der Ständerat bilden zusammen die Vereinigte Bundes‐ 137 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="138"?> 190 Diesem Modell entsprechend verfügt eine Einheit „über einen grösseren Spielraum bezüglich der Nutzung der Ressourcen, die ihm in Form eines Globalbudgets zugeteilt werden“ (Varone 2013: 117). Hier sei bemerkt, dass neue Modelle zur Führung der Ver‐ waltungseinheiten inzwischen konzipiert und eingeführt worden sind. Man vgl. etwa das Neue Führungsmodell für die Bundesverwaltung (NFB), die einer Weiterentwicklung des Systems mit FLAG entspricht und ab 2017 zu dessen Überwindung geführt hat. Für weitere Informationen vgl. https: / / www.efd.admin.ch/ efd/ de/ home/ themen/ finanzpoli tik/ neues-fuehrungsmodell-fuer-die-bundesverwaltung--nfb-.html; 09.01.2020. versammlung, die insgesamt 246 - alle vier Jahre vom Volk gewählte - Abgeordnete (200 im Nationalrat, 46 im Ständerat) zählt. Eine Besonderheit der Schweiz ist dabei das Milizsystem. Demgemäß haben die Abgeordneten einen ‚gewöhnlichen‘ Hauptberuf und üben ihr Mandat im öffentlichen Bereich ehren- oder nebenamtlich (mit Entschädigung) aus. Es gibt also kein Berufs-, sondern ein Milizparlament. Das System beruht auf der Überzeugung, dass die Parlamentarier auf diese Weise besser in der Bevölkerung verwurzelt und deren Bedürfnissen näher seien. Die Exekutive steht dem Bundesrat (Schweizer Regierung) zu, der sich aus 7 Bundesräten (Regierungsmitglieder) zusammensetzt. Jeder Bundesrat ist Vorsteher eines Departements. Es gibt überdies die Funktion des Bundes‐ präsidenten, die jedes Jahr vom Parlament einem der Regierungsmitglieder zugewiesen wird, wobei konventionell alle Bundesräte dieses Amt der Reihe nach ausüben. Der Bundespräsident hat überwiegend repräsentative Aufgaben und präsidiert die Sitzungen des Bundesrates. Die sieben Departemente bilden zusammen mit der Bundeskanzlei die Bundesverwaltung. Die Organisation und Funktionsweise der Exekutive regelt das Regierungs- und Verwaltungsorga‐ nisationgesetz (RVOG), das im Zuge von Modernisierungsreformen 1997 in Kraft trat (vgl. I.3.1). Dezentralisierung und Privatisierung prägen die Struktur der heutigen Bundesverwaltung. Diese lässt sich anhand eines Vier-Kreise-Modells be‐ schreiben: Zum ersten Kreis gehören Organisationseinheiten, die primär polit[ische] Steu‐ erungs- und Koordinationsleistungen erbringen (Generalsekretariate, Querschnitt‐ sämter), und alle Verwaltungsstellen der zentralen Bundesverwaltung, die nicht nach dem Steuerungsmodell ‚Führen mit Leistungsauftrag und Globalbudget‘ (Flag) [190] geführt werden (Bundesämter). Den zweiten Kreis bilden die Flag-Ämter (z. B. MeteoSchweiz, swisstopo; 2012 rund 20 Ämter), die sich gemäss den Ideen der wirkungsorientierten Verwaltungsführung stärker an den Bedürfnissen ihrer Kunden orientieren und über mehr operative Freiheiten verfügen. Der dritte Kreis umfasst Betriebe und Anstalten im Eigentum des Bundes (z. B. ETH, Swissmedic). Sie 138 3 Bürgernähe <?page no="139"?> basieren auf Spezialgesetzen und unterliegen öffentl[lichem] Recht, unterstehen aber nicht dem Finanzhaushaltsgesetz des Bundes. Im vierten Kreis sind gemischt‐ wirtschaftl[iche] Unternehmen oder spezialgesetzlich geregelte Aktiengesellschaften angesiedelt, welche Aufgaben des Bundes erfüllen (SBB, Post, Swisscom) (Germann/ Ladner 2014). Je mehr man sich vom Zentrum, d. h. vom ersten Kreis, entfernt, desto mehr hat man Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Die autonomeren öffentlichen Organisationen werden auch als Agency bezeichnet. Eine Agency ist „eine öffentliche Einheit, die bei der Ausübung der ihr zugewiesenen Aufgaben über eine gewisse Autonomie verfügt“ (Pasquier/ Fivat 2013: 183). Die verschiedenen Agencies unterscheiden sich voneinander also im Hinblick auf Autonomie, Rechtsform und Aufgaben. Einen Überblick darüber bietet die folgende Tabelle (Tab. I.3.3) aus Pasquier/ Fivat (2013: 192), die die verschiedenen Agency-Typen mit dem Vier-Kreise-Modell in Beziehung setzt: Tab. I.3.3: Die Agencies der Bundesverwaltung (Pasquier/ Fivat 2013: 192) Über eine gewisse Autonomie verfügen auch die Kantone und Gemeinden (vgl. Art. 3, 47, 50 der BV). Jeder Kanton besitzt ein Parlament, eine Regierung, eigene Gerichte und eine eigene Verfassung. Landesweit können die Organisa‐ tionsformen der Kantone stark voneinander abweichen; auch die Gemeinden weisen verschiedene Strukturen auf. Die Kantone regeln die Aufgabenteilung 139 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="140"?> 191 Auf Kantonsebene gibt es auch die Gesetzesinitiative, wobei die Bürger das Recht haben, eine Gesetzesänderung vorzuschlagen. zwischen sich und den Gemeinden, wobei unterschiedliche Dezentralisierungs‐ formen vorliegen können. Man kann sich also in Richtung einer Kantonalisie‐ rung oder gegen Formen der Kommunalisierung bewegen. Der kantonalen Ebene kommt eine Scharnierfunktion zwischen den Gemeinden und dem Bund zu (vgl. Koller 2013: 128). Das Verhältnis zwischen letzterem und der Kantonsebene wurde in den 1990er Jahren im Rahmen der Reform des Neuen Finanzausgleichs zwischen Bund und Kantonen (NFA) reglementiert, der eine Aufgabenentflechtung, eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Kan‐ tonen mit horizontalem Lastenausgleich sowie einen neuen Ressourcenausgleich durch den Bund vorsah (Finanzausgleich). Der NFA wurde 2004 in einer Volksabstim‐ mung deutlich angenommen und trat 2008 in Kraft (Germann/ Ladner 2014). Der Judikative gehören auf Bundesebene vier Eidgenössische Gerichte an. Das Bundesgericht ist die oberste rechtsprechende Instanz; die anderen drei erstinstanzlichen Gerichte sind das Bundestrafgericht, das Bundesverwaltungs‐ gericht und schließlich das Bundespatentgericht. Direkte Demokratie Der Ausdruck Direkte Demokratie verweist auf eine Demokratieform, bei der die Bürger direkt in die Politik eingreifen. Neben dem Wahlrecht be‐ sitzen Stimmberechtigte zugleich Volksrechte, die ihnen ermöglichen, „in polit[ischen] Sachfragen abschliessend mitzubestimmen“ (Gross 2014). Auf Bundesebene schließen die schweizerischen Volksrechte das obligatorische Verfassungsreferendum (seit 1848), das fakultative Gesetzesreferendum (seit 1874), die Verfassungsinitiative (seit 1891) und das Staatsvertragsreferendum (seit 1921) ein. Das obligatorische Verfassungsreferendum erfolgt jedes Mal, wenn die Verfassung durch das Parlament geändert wird. Obligatorisch ist das Referendum auch, wenn es um den Beitritt der Schweiz zu gewissen internationalen Organisationen geht. Das fakultative Gesetzesreferendum findet statt, wenn die Bürger verlangen, dass ein von der Bundesversammlung verabschiedetes Gesetz dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird. Dabei han‐ delt es sich um ein aufhebendes Referendum: Die Bürger können ein neues Gesetz stoppen und haben also ein Vetorecht. Mit der Verfassungsinitiative (auch: Volksinitiative) besteht für die Bürger die Möglichkeit, Vorschläge zur Änderung oder Erweiterung der Verfassung zu machen. 191 Damit eine Volksinitiative zustande kommt, muss man innerhalb von 18 Monaten 100000 Unterschriften sammeln. Der Volksinitiative können die Behörden einen Ge‐ 140 3 Bürgernähe <?page no="141"?> genvorschlag gegenüberstellen. Der Bundesrat und das Parlament nehmen jedes Mal Stellung zu einer Volksinitiative, indem sie deren Annahme oder Ablehnung empfehlen. Gegen gewisse Staatsverträge können die Bürger ein fakultatives Staatsvertragsreferendum ergreifen. Durchschnittlich üben die Schweizer Bürger ihre Volksrechte viermal pro Jahr aus, wobei jeweils mehrere politische Geschäfte zur Entscheidung stehen. Konkordanz, Kompromiss und Kollegialität Volksabstimmungen sind ein wichtiger Pfeiler der Schweizer Demokratie, die auf einer Kultur des Konsenses aufbaut. Da unerwünschte Verfassungs- und Gesetzesänderungen durch die Instrumente der direkten Demokratie einfach zum Scheitern gebracht werden können, versucht man in der Regel, frühzeitig breite Unterstützung zu finden. Dies bedeutet u. a., dass man nach Kompro‐ missen und harmonischen Lösungen sucht und dass gegenseitige Ansprüche berücksichtigt werden. In diesen Kontext gehört der Begriff Konkordanzde‐ mokratie, mit dem das schweizerische politische System beschrieben wird: In der K[onkordanzdemokratie] tritt im Gegensatz zur Konkurrenzdemokratie nicht das Mehrheitsprinzip als zentraler Entscheidungsmechanismus des polit[ischen] Systems in Erscheinung, sondern das gütl[iche] Einvernehmen und breit abgestützte Kompromisslösungen. Alle wichtigen polit[ischen] Parteien werden in die Entschei‐ dungsfindung einbezogen und bei der Vergabe von polit[ischen] Ämtern sowie Führungspositionen in Verwaltung, Armee und Justiz ungefähr im Verhältnis zu ihrer Stärke berücksichtigt (Morandi 2016). Konkordanz heißt also, dass die wichtigsten politischen Parteien in der Regie‐ rung vertreten sind. Mit der Konkordanzdemokratie eng verbunden ist das Vernehmlassungsverfahren. Dabei handelt es sich um ein institutionelles Instrument, das es ermöglicht, zu einer Vorlage Stellung zu nehmen, bevor sie im Parlament beraten wird. In diesem Kontext holt die Regierung die verschiedenen Meinungen und Haltungen von Parteien und allen interessierten Kreisen zu einem bestimmten Geschäft ein. Im Zusammenhang mit dem System der Konkordanz steht schließlich das Kollegialprinzip, das im Art. 12 des RVOG festgehalten ist. Dementsprechend ist die Schweizer Regierung eine Kollegialbehörde: Entscheide werden vom Bundesrat als Kollegium getroffen und die verschiedenen Regierungsmitglieder sind verpflichtet, in der Kommunikation gegen außen die Entscheide des Kollegiums zu vertreten, auch wenn diese nicht mit der eigenen Meinung oder der Position der eigenen Partei übereinstimmen. 141 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="142"?> 192 Die Erwähnung und Festlegung der Amtsbzw. Landessprachen eines Staates auf Verfassungsebene ist keine Selbstverständlichkeit. Zur (symbolischen) Bedeutung, die der Sprachenartikel in der Schweizer Bundesverfassung hat, vgl. Widmer et al. (2004: 404 ff.): „Die vier Landessprachen werden bereits in Artikel 4 nBV [neue Bundesverfas‐ sung] (‚Landessprachen‘), [sic] in einem eigenen Verfassungsartikel aufgezählt. Damit erhalten die Landessprachen einen prominenten Platz unter den ersten 6 Artikeln der neuen Bundesverfassung, die ‚allgemeine Bestimmungen‘ beinhalten und Zusammen‐ setzung, Zweck, Kantonssouveränität, Landessprachen, Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns und individuelle sowie gesellschaftliche Verantwortung festlegen“. 193 Die Standard-Varietät des Rätoromanischen, die die eidgenössischen und kantonalen Behörden im Verkehr mit Bürgern rätoromanischer Sprache nutzen, heißt Rumantsch Grischun (RG). RG wurde 1982 vom Züricher Professor Heinrich Schmid entwickelt und als gemeinsame, schriftliche Sprache für die rätoromanisch sprechenden Gemeinden eingeführt. Eine der treibenden Kräfte hinter der Entwicklung von RG war die Lia Rumantscha. Die Organisation mit Sitz in Chur (Graubünden) setzt sich in der Schweiz für die Erhaltung und Förderung des Rätoromanischen ein. 194 Quelle: Bundesamt für Statistik. Vgl. https: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ de/ home/ statistike n/ bevoelkerung/ sprachen-religionen/ sprachen.html; 06.10.2020. 195 Quelle: Der Bund kurz erklärt (Buku) (BK 2019: 8). Mehrsprachigkeit Die Schweiz ist bekanntlich ein mehrsprachiges Land. Dabei kann man von einer territorialen, einer institutionellen und einer individuellen Mehrsprachigkeit sprechen. Die territoriale Mehrsprachigkeit betrifft die Tatsache, dass die Identität der Schweiz nicht auf einer einzigen sondern auf mehreren Sprachen aufbaut, dass aber in den vier Schweizer Sprachgebieten in der Regel nur eine Sprache offiziell ist (Territorialitätsprinzip). Die institutionelle Mehrspra‐ chigkeit bezieht sich darauf, dass die Bundesverfassung vier Landessprachen anerkennt, nämlich Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch (vgl. Art. 4 BV). 192 Die ersten drei sind Amtssprachen des Bundes, das Rätoroma‐ nische ist Amtssprache des Bundes im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache (vgl. Art. 70 Abs. 1 BV). In dieser Hinsicht wird Rätoromanisch häufig als Teilamtssprache oder relative Amtssprache des Bundes betrachtet (vgl. Schweizer/ Baumann/ Scheffler 2011b: 19). 193 Auf kantonaler Ebene sind nur vier Kantone offiziell mehrsprachig: Bern (Deutsch/ Französisch), Frei‐ burg (Französisch/ Deutsch), Wallis (Französisch/ Deutsch) und Graubünden (Deutsch/ Romanisch/ Italienisch). Einen Überblick über die Sprachgruppen der Schweiz geben das folgende Balkendiagramm (Abb. I.3.1) 194 sowie die Abbildung (Abb. I.3.2): 195 142 3 Bürgernähe <?page no="143"?> Abb. I.3.1: Als Hauptsprachen genannte Sprachen im Jahr 2018 (Quelle: BFS) Abb. I.3.2: Landessprachen der Schweiz Durch „Mehrfachnennungen möglich“ weist das Bild darauf hin, dass viele Leute angeben, mehr als eine Sprache als Hauptsprache zu haben. Dabei kann es sich um die Landessprachen oder aber auch um andere (Migrations-)Sprachen (wie etwa Englisch, Portugiesisch, Spanisch, Albanisch, Serbisch, Kroatisch) handeln. 143 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="144"?> 196 Aus einer Studie über die Sprachkompetenzen der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz, die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP 56) „Sprachenviel‐ falt und Sprachkompetenz in der Schweiz“ durchgeführt wurde, hat sich ergeben, dass 87 % der Schweizer Einwohner mindestens eine, im Durchschnitt zwei Fremdsprachen kennen (vgl. Werlen 2008). Zum NFP, dessen Ziel es war, die wissenschaftlichen Grundlagen für die Sprachpolitik der Schweiz zu legen, vgl. http: / / www.nfp56.ch/ d.cf m? Slanguage=d&kati=; 18.05.2017. 197 Zum Verhältnis zwischen schweizerdeutschen Ortsdialekten (‚Schwyzertütsch‘) und Schweizer Standarddeutsch vgl. II.1.2.2.1. Bei der individuellen Mehrsprachigkeit geht es darum, dass die einzelnen Individuen oft vielsprachig sind: 196 Zwar sind die meisten Schweizer immer noch von Haus aus einsprachig, auch wenn viele Sprachwissenschafter die doppelte Kompetenz in Standarddeutsch (Schrift‐ sprache) und Schweizerdeutsch (Umgangssprache) als eine Form von Zweisprachig‐ keit betrachten. Dennoch sind Kenntnisse in mehreren Sprachen weit verbreitet. Diese sind einerseits das Resultat eines mehrsprachigen Alltags, etwa im dreispra‐ chigen K[anton] Graubünden, in extremer Weise im rätorom[anischen] Sprachgebiet, dann an der d[eutsch]-franz[ösischen] Sprachgrenze (besonders in den institutionell zweisprachigen K[antonen] Wallis, Freiburg und Bern, namentlich in Biel, Freiburg, Murten und deren Umgebung) sowie in Fam[ilien] von Einwanderern und Binnen‐ wanderern (Lüdi 2013). Die Sprachen und ihre Varietäten nehmen innerhalb einer Gemeinschaft ver‐ schiedene Funktionen ein und der Status der Sprachen, besonders der Dialekte im Vergleich zu den Standardvarietäten, kann landesweit unterschiedlich sein: [D]ie koexistierenden Varietäten [üben] in der Regel unterschiedl[iche] Funktionen aus. Beinahe prototypisch ist die ‚mediale‘ Diglossie zwischen schweizerd[eutschen] Ortsdialekten für die mündl[iche] Kommunikation und Standarddeutsch als Schrift‐ sprache. Diglossisch ist auch das Verhältnis zwischen ‚Dialetto‘ und Italienisch in der Südschweiz; von einer Quadriglossie könnte man im rätorom[anischen] Sprachgebiet reden (Regionalsprache, Rumantsch Grischun, Bündnerdeutsch, Standarddeutsch) […]. Die Aufteilung der Funktionen kann, muss aber nicht mit Prestigeunterschieden einhergehen: ‚Schwyzertütsch‘ ist trotz der geringeren kommunikativen Reichweite wohl nicht weniger prestigeträchtig als Standarddeutsch. Im Tessin ist der Dialekt die Sprache der Vertrautheit, hat aber in der Öffentlichkeit geringeres Ansehen. Prestige und Akzeptanz in der Bevölkerung sind hingegen im Fall der übergeord‐ neten Standardvarietät Rumantsch Grischun trotz der grösseren Reichweite (und der Verwendung durch den Bund) zweifellos geringer als jene der rätorom[anischen] Regionalvarietäten (Lüdi 2013). 197 144 3 Bürgernähe <?page no="145"?> 198 Vgl. dazu https: / / www.admin.ch/ gov/ de/ start/ bundesrat/ aufgaben-des-bundesrates/ in formation-und-kommunikation.html? lang=de; 15.05.2017. Behördenkommunikation und Öffentlichkeitsarbeit Zugleich in den drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch sind die Bundesbehörden verpflichtet zu kommunizieren, wenn sich ihre Kommuni‐ kation nach außen wendet (vgl. Publikationsgesetz von 2004, besonders Art. 14 und Sprachengesetz von 2007, Art. 9-13). Die an die Öffentlichkeit gerichtete Kommunikation ist dem Prinzip der Transparenz untergeordnet und ist heute in der Schweizer behördlichen Praxis von großer Bedeutung: Die Verwaltungskommunikation wird inzwischen als eine zentrale Staatsfunktion verstanden, über die administrative Prozesse vorbereitet, gesteuert, durchgesetzt und gerechtfertigt werden. Sie stellt eine spezifische Form sozialer Interaktion dar, durch die eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Akteure in Kontakt zueinander gebracht werden (Czerwick 1998: 489; Hervorhebungen im Original). Grob gesehen, entspricht die Kommunikation der Verwaltung und der öffentli‐ chen Organisationen einer Makrofunktion, die in ‚Subfunktionen‘ gegliedert werden könnte. Pasquier (2013: 401 ff.) unterscheidet dabei zwischen zentralen und ergänzenden Funktionen der öffentlichen Kommunikation im engeren Sinne. Diese werden oft gleichzeitig erfüllt. Zu den zentralen zählen a) Informa‐ tion der Öffentlichkeit, b) Begründung und Erklärung von Entscheiden, c) Vertei‐ digung der Werte und Förderung verantwortlichen Verhaltens, d) Sicherstellung des Dialogs zwischen Institutionen und Bürgern. Ergänzende Funktionen sind a) das angemessene Empfangen der Anfragen der Bürger, b) das Zuhören gegenüber Informationen bzw. Anliegen, die von der Öffentlichkeit stammen, c) das Fördern der Legitimität der Organisation und ihrer Tätigkeit und d) das Stärken des sozialen Zusammenhalts (dazu vgl. I.3.1). All diese Funktionen stehen im Dienste einer freien Willens- und Meinungs‐ bildung. Denn [e]rst wenn dieser Beitrag erbracht ist, werden sich auch die Voraussetzungen für eine breitere öffentliche Akzeptanz von Verwaltungen und ihren administrativen Akten verbessern (Czerwick 1998: 494). Information und Kommunikation zählen gemäß dem RVOG zu den Aufgaben des Bundesrates. 198 Festgelegt ist, dass der Bundesrat „die Information der Bundesversammlung, der Kantone und der Öffentlichkeit“ gewährleistet (Art. 10) und „die Beziehungen zur Öffentlichkeit“ pflegt (Art. 11). Eine wichtige Rolle spielt dabei der Bundesratssprecher, der der Bundeskanzlei angehört. 145 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="146"?> 199 Die Prinzipien, die das Handeln der Informationskonferenz prägen, werden im Leitbild der Konferenz der Informationsdienste (KID 2015) beschrieben. Der Bundesratssprecher kümmert sich darum, nach jeder Bundesratssitzung die Medien und die Bevölkerung über die Entscheide der Regierung zu infor‐ mieren. In seiner Verantwortung liegt zugleich die allgemeine Koordination der Kommunikation zwischen dem Bundesrat und den Departementen. Zu diesem Zweck leitet er die Konferenz der Informationsdienste (KID), die sich aus dem Bundesratssprecher und den Verantwortlichen für die Informa‐ tion in den Departementen zusammensetzt. Die Informationskonferenz bietet die Gelegenheit, sich mit Informationsproblemen innerhalb der Exekutive zu beschäftigen. 199 Deren interne und externe kommunikative Tätigkeiten koordi‐ niert insgesamt die vom Bundeskanzler geführte Bundeskanzlei, die als eine Art „Scharnier zwischen Regierung, Verwaltung, Parlament und Bevölkerung“ fungiert (BK 2019: 74). 3.4.2 Sprachpolitik Der Umgang mit der Schweizer Mehrsprachigkeit einerseits und die Auseinan‐ dersetzung mit der Information und Kommunikation der Behörden andererseits sind Gegenstand der Sprachpolitik der Schweiz. Der Begriff, der darauf hinweist, dass die Sprache selbst zum Thema politischen Handelns wird, kann in zweierlei Hinsicht verstanden werden: als Sprachenfrage und als Sprachbeein‐ flussung. Als Sprachenfrage kann die Sprachpolitik pluralistisch, durch ein im Prinzip gleichberechtigtes Nebeneinander mehrerer S[pra‐ chen] innerhalb eines Staates, gelöst werden oder zentralistisch, im Sinne der Durchsetzung einer einheitlichen S[prache] im gesamten Staatsgebiet (‚National- Sprache‘). Klassisches Beispiel hierfür ist die französische Sprachpolitik. Der S[pra‐ chen]pluralismus beruht rechtlich entweder auf dem ‚Territorialprinzip‘ (Aufteilung des Staatsgebiets in mehrere, jeweils einsprachige Gebiete, z. B. in der Schweiz) oder dem ‚Personalprinzip‘ (Aufteilung der Bevölkerung in Sprachgruppen mit jeweils eigenen Rechten, z. B. Südtirol) (Bergsdorf 1989: 130). Bei der Sprachbeeinflussung geht es um die Anstrengungen amtlicher oder mit hoher politischer Autorität versehener Institu‐ tionen, Einfluß auf den Sprachgebrauch und seine Veränderungen zu nehmen […]. Hierzu gehören die staatlichen Vorgaben für den muttersprachlichen Unterricht in der Schule (z. B. Orthographie) ebenso wie die Terminologienormung oder die politische 146 3 Bürgernähe <?page no="147"?> 200 Der Ausdruck Erlass bezieht sich in der Schweiz auf jedweden normativen Text. In der mehrsprachigen Online-Datenbank TERMDAT der Bundesverwaltung findet sich für das Wort die folgende Erläuterung: „Verbindliche Anordnung, die rechtsetzende oder andere allgemeingültige Regeln umfasst (z. B. Gesetz, Verordnung) oder Rechte und Pflichten von Einzelnen oder einen spezifischen Sachverhalt regelt (z. B. Verfügung) und die von einer dazu ermächtigten Behörde (z. B. Bundesversammlung, Bundesrat) beschlossen wird“ (vgl. https: / / www.termdat.bk.admin.ch/ Search/ Search/ language=d e; 22.05.2017). In dieser Arbeit wird der Ausdruck in der schweizerischen Lesart verwendet. Zu TERMDAT vgl. auch II.1.3. Namensgebung (z. B. Bundesrepublik Deutschland oder Konrad-Adenauer-Brücke (Bergsdorf 1989: 131). In diesem zweiten Sinn kann Sprachpolitik u. a. mit Sprachpflege überein‐ stimmen, wobei die Grenzen zwischen den zwei Begriffen in der Tat fließend sind (vgl. Haarmann 2012). 3.4.2.1 Sprachenpolitik bzw. Sprachenfrage Neben der Bundesverfassung wird die Sprachenfrage der Schweiz besonders durch die folgenden Normtexte geregelt: • Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (Sprachengesetz, SpG) von 2007; • Verordnung über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (Sprachenverordnung, SpV) von 2010; • Verordnung über die Sprachdienste der Bundesverwaltung (Sprachdienstever‐ ordnung, SpDV) von 2012; • Weisungen des Bundesrates zur Förderung der Mehrsprachigkeit in der Bun‐ desverwaltung (Mehrsprachigkeitsweisungen) von 2014. Den Rahmen setzt natürlich das Sprachengesetz, das 2010 in Kraft trat. Die anderen Erlasse 200 entsprechen Ausführungsbestimmungen. Das Gesetz bezieht sich auf vier Gegenstandsbereiche (vgl. Art. 1). Es handelt sich um a. den Gebrauch der Amtssprachen durch die Bundesbehörden und im Verkehr mit ihnen; b. die Förderung der Verständigung und des Austausches zwischen den Sprachge‐ meinschaften; c. die Unterstützung der mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben; d. die Unterstützung von Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zu‐ gunsten des Rätoromanischen und des Italienischen. 147 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="148"?> Mit diesem rechtlichen Instrument verfolgt die Schweiz allgemein das Ziel, die institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit des Landes zu unterstützen und insbesondere die Landessprachen Italienisch und Rätoromanisch zu fördern (vgl. Art. 2). Zuständig für diese Zielerreichung sind vor allem die Bundeskanzlei, das Bundesamt für Kultur sowie das Eidgenössische Personalamt und der vom Bundesrat ernannte und dem Finanzdepartement zugeordnete Delegierte des Bundes für Mehrsprachigkeit. Diese vier Akteurgruppen müssen ihre Res‐ sourcen und Bemühungen aufeinander abstimmen, um die Chancengleichheit für die verschiedensprachigen Bundesangestellten sicherzustellen und eine angemessene Vertretung der Sprachgemeinschaften in der Bundesverwaltung zu gewährleisten (vgl. besonders Art. 6, 9 und 20 SpG): [T]he Confederation is obliged to ensure an adequate representation of the national language communities in the public services. Furthermore, it is the legal duty of the Confederation to promote its employees’ language competences. The implementation of these language policy measures is the responsibility of the administrative units who are supervised by the Federal Delegate for Plurilingualism (Christopher/ Zurbriggen 2017: 74 f.). Der gesetzliche Rahmen ist somit durch den Begriff der repräsentativen Ver‐ waltung (representative bureaucracy) geprägt. Dieses Konzept geht auf die Überlegungen des Soziologen Donald Kingsley zurück: [B]ureaucracies, to be democratic, must be representative of the groups they serve (Kingsley 1944: 305). Demgemäß entspreche das staatliche Handeln am ehesten dem Gemeinwohl, wenn die Zusammensetzung des behördlichen Personals am besten die tatsäch‐ lichen gesellschaftlichen Verhältnisse spiegele. Eine repräsentativ zusammenge‐ setzte Verwaltung wirke symbolisch und gelte als Zeichen für die Anerkennung der verschiedenen sozialen Gruppen und ihrer Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft (vgl. Kübler 2013: 77). Gleichzeitig stelle sie eine wichtige Voraus‐ setzung für die Akzeptanz der Behörden in den verschiedenen Sprachregionen dar (vgl. ebd.: 90). Die Berücksichtigung der Vielfalt bringt allerdings mit sich, dass man in der Lage sein muss, den Differenzen gerecht zu werden. Heute spricht man hierzu von Diversity Management: Eine repräsentative Verwaltung muss auch in der Lage sein, mit der sozialen Vielfalt ihrer Angestellten angemessen umzugehen. Sie muss nicht nur Angehörige verschie‐ 148 3 Bürgernähe <?page no="149"?> dener Gruppen rekrutieren, sondern auch Unterschiede in deren Werthaltungen und Ansichten akzeptieren und sogar fördern (Kübler 2013: 78). Den Umgang mit den sprachlich-kulturellen Unterschieden innerhalb der Schweizer Behörden reglementieren eher ausführlich die Sprachenverord‐ nung und die diese ergänzenden Mehrsprachigkeitsweisungen. Was die Frage der Vertretung der verschiedenen Sprachgruppen im Verwaltungsper‐ sonal angeht, legen die Erlasstexte die Prozentsätze fest, nach denen die sprach‐ lichen Gemeinschaften in der Bundesverwaltung repräsentiert werden müssen. Die Werte lehnen sich offensichtlich an die Verteilung der Landessprachen in der Bevölkerung an (vgl. Art. 7 SpV): 1 Bei der Vertretung der Sprachgemeinschaften in den Verwaltungseinheiten […] sind folgende Bandbreiten anzustreben: a. Deutsch: 68,5-70,5 % b. Französisch: 21,5-23,5 % c. Italienisch: 6,5-8,5 % d. Rätoromanisch: 0,5-1,0 %. Was die Sprachen betrifft, die in den Verwaltungseinheiten benutzt werden, wird die sprachliche Autonomie der Mitarbeiter bei ihren alltäglichen Tätigkeiten anerkannt. Die Verwaltungsleute können also wählen, in welcher der drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch sie arbeiten möchten, und sie dürfen bei der Rekrutierung oder bei ihren Karriereaussichten aufgrund der Sprachzugehörigkeit nicht diskriminiert werden (vgl. Art. 6 SpV): 1 Die Arbeitgeber des Personals der Verwaltungseinheiten […] stellen sicher, dass die Angestellten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgemeinschaft nicht benachteiligt werden. 2 Sie stellen insbesondere sicher, dass alle Angestellten, unabhängig davon, welcher Sprachgemeinschaft sie angehören: a. wahlweise auf Deutsch, Französisch oder Italienisch arbeiten können, sofern nicht wichtige Gründe die Arbeit in einer anderen als der gewählten Sprache erfordern; b. ihren Qualifikationen entsprechend gleichermassen am Entscheidungsprozess teilnehmen können; c. die gleichen Entwicklungs- und Aufstiegschancen haben. In diesem Zusammenhang muss die sprachliche Ausbildung der Bundes‐ angestellten unterstützt und gefördert werden. Die Behörden müssen also dafür sorgen, dass Sprachkurse, Lehrmaterialien und im Allgemeinen Mittel zur Aneignung der Sprachkenntnisse von den Landessprachen zur Verfügung stehen. Im Mittelpunkt stehen insbesondere die sprachlichen Kompetenzen 149 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="150"?> bzw. die individuelle Mehrsprachigkeit der Vorgesetzten und allgemein der Verwaltungsmitglieder, die eine Kaderfunktion ausüben. Man siehe Art. 8 der SpV: 1 Die Arbeitgeber […] sorgen dafür, dass: a. jede und jeder Angestellte über die für die Ausübung der Funktion erforderlichen mündlichen und schriftlichen Kenntnisse einer zweiten Amtssprache verfügt; […] 2 Die Arbeitgeber bieten ihren Angestellten Sprachkurse in Deutsch, Französisch und Italienisch an. 3 Erfüllt ein Kadermitglied bei seiner Anstellung die sprachlichen Anforderungen nicht, so ergreift der Arbeitgeber innert eines Jahres die zur Verbesserung der Sprachkenntnisse notwendigen Massnahmen. Die Sprachenverordnung, die 2014 teilrevidiert wurde, und die Mehrsprachig‐ keitsweisungen, die 2014 erschienen, lassen sich als Reaktion darauf interpre‐ tieren, dass Ende der 2000er Jahre die Verhältnisse zwischen den Sprachge‐ meinschaften in den Bundesbehörden trotz der legistischen Bestimmungen der vorangehenden Zeit, besonders des Sprachengesetzes, unausgeglichen waren. Allerseits wurde auf die Vorherrschaft des Deutschen in der Bundesverwal‐ tung zuungunsten der anderen Amtssprachen hingewiesen. Noch 2013 stellte Kübler zur Vertretung der Sprachgruppen fest: Seit 1996 publiziert das Eidg. Personalamt alle vier Jahre einen Evaluationsbericht zum Stand der Dinge bezüglich Förderung der Mehrsprachigkeit in der Bundesverwaltung. Die bisherigen Analysen zeigen auf, dass die Verteilung der Muttersprachen in der Bundesverwaltung den jeweiligen Referenzwerten ziemlich gut entspricht, nicht nur beim Bundespersonal insgesamt, sondern auch auf der Ebene der Leitungsfunktionen. Detaillierte Analysen kamen allerdings zum Schluss, dass die Deutschschweizer in verschiedenen Schlüsselfunktionen klar übervertreten sind […]. Die Überrepräsen‐ tierung von Deutschsprachigen in Kaderfunktionen geht in der Regel zulasten der Italienischsprachigen (Kübler 2013: 83 f.). Das Ungleichgewicht betraf auch die sprachliche Autonomie der Verwaltungs‐ angehörigen: Bisherige Untersuchungen tendierten jeweils zur Feststellung, dass Deutsch und Französisch tatsächlich als Arbeitssprachen Verwendung finden, während das Italie‐ nische eine ‚sehr untergeordnete Rolle‘ spielt (Klöti 1972: 95) […]. Angehörige der Sprachminderheiten sehen sich oft dazu veranlasst, in ihrer mündli‐ chen und schriftlichen Kommunikation das Deutsche zu benutzen […]. 150 3 Bürgernähe <?page no="151"?> 201 Für eine aktualisierte und detailliertere Übersicht über die Sprachkompetenzen der Verwaltungsmitarbeiter vgl. Christopher/ Zurbriggen (2017). 202 Vgl. https: / / www.plurilingua.admin.ch/ plurilingua/ de/ home/ netzwerk/ capito--co mprendere-l-italiano-in-svizzera.html; 10.01.2020. 203 Vgl. https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ de/ home/ bk/ organisation-der-bundeskanzlei/ ueberde partementale-gremien/ konferenz-der-sprachdienste-der-bundesverwaltung-kosd.html; 10.01.2020. 204 Es gibt auch Sprachdienste des Parlaments und der Eidgenössischen Gerichte. 205 Vgl. Mader (2013: 256): „Die legislatorischen Vorarbeiten werden in den meisten Fällen im Wesentlichen durch die Verwaltung geleistet. Obwohl ihre Zuständig‐ keit für den Erlass rechtsetzender Normen beschränkt ist, kommt ihr bei der Rechtsetzung eine ganz zentrale Rolle zu […]. Sie klärt den Rechtsetzungsbedarf ab, erarbeitet die normativen Inhalte und befasst sich mit der Ausgestaltung und Formulierung der rechtsetzenden Normen“. 206 Der Ausdruck Amtssprachenpolitik war in der hier umrissenen Bedeutung auf der Webseite der Bundeskanzlei anzutreffen. Inzwischen ist die Webseite relauncht worden und der Ausdruck ist nun dort nicht mehr vorhanden. Die Sprachautonomie der Mitarbeitenden in der Bundesverwaltung ist also nicht generell gewährleistet (Kübler 2013: 87 f.). 201 Unter den Amtssprachen des Bundes war und ist es immer noch besonders das Italienische, das unterrepräsentiert ist. Dies hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich die Initiativen zu dessen Förderung innerhalb der Bundesverwaltung vervielfacht haben. Erwähnenswert ist etwa das Projekt „Capito? Comprendere l’italiano in Svizzera“, das 2015 lanciert wurde mit dem Ziel, „zur Umsetzung der Strategie der gegenseitigen Verständigung“ beizutragen. 202 Das Projekt ist Teil eines Partnernetzwerkes der Bundesver‐ waltung, das durch die Zusammenarbeit zwischen verschieneden Akteuren darauf abzielt, die Mehrsprachigkeit in den föderalistischen Institutionen zu verwirklichen. Zum Netzwerk gehört auch die Konferenz der Sprachdienste (KOSD), die Ende 2013 gegründet wurde. 203 Die Sprachdienste - beson‐ ders diejenigen der Bundesverwaltung (d. h. der Bundesämter sowie der Generalsekretariate der Departemente) 204 - stellen eine wichtige Instanz in Hinblick auf die schweizerische institutionelle Mehrsprachigkeit dar. Da sie die meisten Rechtstexte erarbeiten, 205 haben sie bei der Umsetzung der sogenannten Schweizer „Amtssprachenpolitik“ eine zentrale Rolle. Mit diesem Begriff wird auf die Bestimmungen verwiesen, die festlegen, welche Sprachen die staatlichen Einrichtungen verwenden müssen, wenn sie sich an die Öffentlichkeit wenden. 206 Im Art. 5 des Sprachengesetzes wird etwa bestimmt, dass die Behörden die Schweizer Amtssprachen in ihren Standardformen benutzen. Art. 6 setzt fest, dass die Bürger in der Amtssprache ihrer Wahl mit den Bundesbehörden kommunizieren können 151 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="152"?> 207 In dieser Hinsicht sind die Unterstützung der institutionellen Mehrsprachigkeit und die Förderung der Sprachkompetenzen der einzelnen Bundesangestellten zwei Ziele, die Hand in Hand gehen bzw. letzteres Ziel dient zur Verwirklichung des ersteren. 208 Es liegen auch wenige Ausnahmen vor: Auf Übersetzungen in die Amtssprachen kann verzichtet werden, wenn die Bestimmungen, die in den Texten enthalten sind, nicht unmittelbar verpflichtend sind und wenn die Texte ausschließlich in der Originalsprache verwendet werden. Beschlüsse und Mitteilungen der Verwaltung können „nur in der Amtssprache des betroffenen Sprachgebietes veröffentlicht werden, sofern sie von ausschliesslich lokaler Bedeutung sind“ (vgl. Art. 14 des Publikationsgesetzes). und dass die Behörden ihrerseits gehalten sind, in der Amtssprache zu antworten, in der sie angesprochen werden. 207 Art. 10 regelt die Sprachen, in denen die Texte des Bundes veröffentlicht werden. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Normtexte (Erlasse), die in den Sammlungen des Bundesrechts (Amtliche Sammlung: AS und Systematische Sammlung: SR) und im Bundesblatt (BBl) erscheinen und die die amtlichen Texte im engeren Sinn darstellen (vgl. dazu Adamzik/ Alghisi 2017: 56). Diese Texte sind gleichzeitig in Deutsch, Französisch und Italienisch zu publizieren, 208 in gleicher Weise verbindlich und können bei der Gesetzesauslegung zugleich herangezogen werden. Bei eventuellen sprachlichen Unterschieden zwischen den verschiedenen Versionen soll man die Fassung bevorzugen, die am besten dem ‚Willen des Gesetzgebers‘ entspricht, unabhängig davon, ob es sich dabei um das Original oder eine Übersetzung handelt (vgl. dazu Cottier 2010: 109). Inhalt, Merkmale und Erscheinungsformen der Publikationsgefäße AS, SR, BBl regeln das Publikationsgesetz (PublG) von 2004 und die entspre‐ chende Publikationsverordnung (PublV). Beide Erlasse hat man in letzter Zeit geändert, wobei das Gesetz 2014 teilrevidiert, während die Publikati‐ onsverordnung einer Totalrevision unterzogen wurde. Bei den revidierten Bestimmungen, die 2016 in Kraft traten, ging es hauptsächlich um einen Primatwechsel, nämlich den Übergang der rechtlichen Maßgeblichkeit von der gedruckten auf die elektronische Publikation. D.h. aufgehoben wurde u. a. Art. 9 des Gesetzes von 2004, wonach die in der gedruckten Ausgabe der AS erscheinende Fassung von Erlassen und von Verträgen zwischen Bund und Kantonen maßgebend war. An seine Stelle traten Art. 1a, wo von einer „öffentlich zugänglichen Online-Plattform (Publikationsplattform)“ die Rede ist, die von der Bundeskanzlei geführt wird (Art. 19b); und Art. 15, der lautet: 2 Die auf der Publikationsplattform veröffentlichte Fassung ist massgebend. Es ist nun also die digitale Version eines Dokumentes, die rechtsverbindlich ist. Andere gesetzliche Änderungen betrafen den Status des Rätoromanischen 152 3 Bürgernähe <?page no="153"?> 209 Es gibt tatsächlich einen Sprachdienst auch für das Englische, obwohl dies keine Amtssprache ist. Damit wird der Bedeutung des Englischen als Lingua Franca im internationalen Verkehr Rechnung getragen. Das Publikationsgesetz legt fest, dass „auf der Publikationsplattform veröffentlichte Texte von besonderer Tragweite oder internationalem Interesse […] in weiteren Sprachen, insbesondere in Englisch, veröf‐ fentlicht werden [können]“ (vgl. Art. 14 PublG). Die englischsprachigen Fassungen sind allerdings nicht rechtsverbindlich. 210 Die Sektion Terminologie betreut die Datenbank TERMDAT (vgl. II.1.3). 211 Zur Geschichte der VIRK vgl. Nussbaumer (2007b und 2008). als Publikationssprache: Bei der Bestimmung zu den Sprachen der Veröffentli‐ chungen kam im revidierten Erlass ein Absatz zu Rätoromanisch hinzu (vgl. Art. 14 Abs. 5 PublG). Dieser lehnt sich an Art. 11 des Sprachengesetzes an, der festlegt, dass Texte „von besonderer Tragweite sowie die Unterlagen für eidgenössische Wahlen und Abstimmungen“ auch in Rätoromanisch publiziert werden müssen. Was mit „Texte von besonderer Tragweite“ gemeint ist, wird nicht präzise erklärt. Es ist die Bundeskanzlei, die „nach Anhörung der Standes‐ kanzlei des Kantons Graubünden und der interessierten Bundesstellen“ diese Texte bestimmt. Gemäß dem Sprachengesetz müssen Drucksachen, Interne‐ teinstiegsseiten, Gebäudebeschriftungen, persönliche Ausweise und Formulare der Bundesbehörden in den vier Amtssprachen, also auch in Rätoromanisch, erscheinen (vgl. Art. 12 SpG). Im Kontext einer mehrsprachigen Rechtsetzung und Gesetzgebung sind die departementalen Sprachdienste vor allem für die Übersetzungsarbeiten zuständig. Koordiniert werden ihre Tätigkeiten von den zentralen Sprach‐ diensten der Bundeskanzlei. Diese bestehen gemäß Art. 3 der Sprachdienste‐ verordnung aus je eine[r] Einheit für Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch, Englisch [209] und Terminologie [210] , je geleitet von einer verantwortlichen Person. Die Sektionen Deutsch und Französisch der zentralen Sprachdienste nehmen an der verwaltungsinternen Redaktionskommission (VIRK) teil. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinäres Gremium, das Sprachspezialisten der Bundeskanzlei und Juristen des Fachbereichs Rechtsetzungsbegleitung des Bundesamtes für Justiz umfasst. Die VIRK, die in den 1970er Jahren eingerichtet wurde, hat heute einen festen Platz im Gesetzgebungsverfahren und ist somit institutionalisiert worden. 211 Ihr müssen sämtliche Entwürfe von Verfassungs‐ bestimmungen, Gesetzen und Verordnungen zur redaktionellen Prüfung vorgelegt werden. Kontrolliert werden die Texte im Hinblick auf ihre Sachsowie Adressatenangemessenheit, Kohärenz und sprachliche Richtigkeit, d. h. mit einem Wort: auf ihre Verständlichkeit (vgl. Art 2 des Reglements über 153 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="154"?> die verwaltungsinterne Redaktionskommission, R-VIRK). In dieser Hinsicht stellt die Einrichtung einer verwaltungsinternen Redaktionskommission eine der Alternativen dar, die in der Schweiz herangezogen werden, um Rechtstexte allgemein zugänglich zu machen (vgl. I.3.3.2). In der Rechtsetzungspraxis der Bundesverwaltung ist es üblich, dass ein Erlassentwurf vom jeweils federführenden Amt in deutscher Sprache ausge‐ arbeitet und anschließend ins Französische übersetzt wird (vgl. unten). Gele‐ gentlich ist die Originalsprache Französisch. Dies ist der Fall vor allem bei internationalen Rechtstexten - aufgrund des Status des Französischen als Arbeitssprache in der Diplomatie. Es besteht auch die Möglichkeit, dass einige Bestimmungen eines und desselben Entwurfes auf Deutsch und andere in französischer Sprache verfasst werden (vgl. unten). Auf Italienisch werden erste Erlassentwürfe praktisch fast nie redigiert. Ausnahmen sind Staatsverträge mit Italien sowie Erlasse und Mitteilungen, die direkt an den Kanton Tessin gerichtet sind: Dafür wird eben das Italienische in der Regel benutzt. Eine Untersuchung über die Originalsprache der Erlasse des Bundes für die Zeit 1998-2008 hat ergeben, dass rund 80 Prozent der Texte auf Deutsch erarbeitet wurden, knapp 19 % auf Französisch und weniger als 2 Prozent auf Italienisch. Man vgl. die tabellarische Zusammensetzung der Ergebnisse aus Kübler (vgl. Tab. I.3.4 und Kübler 2013: 88): Tab. I.3.4: Originalsprache der Erlasse des Bundes in %, nach rechtlicher Kategorie (1998-2008) (Kübler 2013: 88) Wenn der (deutsche) Entwurf und seine (französische) Übersetzung parat sind, wird eine erste Ämterkonsultation eröffnet. Daran beteiligen sich neben dem fe‐ derführenden Amt und eventuell weiteren interessierten Verwaltungseinheiten der Rechtsdienst der Bundeskanzlei, die VIRK und die italienische Sektion der 154 3 Bürgernähe <?page no="155"?> 212 Hier ist zu bemerken, dass manchmal nur eine einfache Redaktion durchgeführt wird. D.h. nur die Originalfassung (meist Deutsch) wird der Kontrolle der VIRK unterzogen. Dies ist oft der Fall etwa bei nebensächlichen Verordnungen. Eher kritisch zur Koredaktion in ihrer heutigen Form ist Albrecht (2001), der deren Schwäche von einer Insider-Perspektive her betont. zentralen Sprachdienste. Zu den Aufgaben der VIRK gehört die Überprüfung der inhaltlichen und formalen Übereinstimmung der Texte in der deutschen und der französischen Fassung (vgl. Art 2 R-VIRK). In diesem Fall spricht man von Koredaktion (fr. Corédaction; vgl. Art. 3 R-VIRK): Bei der Corédaction werden Textentwürfe in (mindestens zwei) verschiedenen Sprachen gleichzeitig überarbeitet. Meist liegen ein deutscher Entwurf und eine Übersetzung ins Französische vor. Dieses Verfahren ist mit den Weisungen über die Verwaltungsinterne Redaktionskommission für Verfassungsartikel, Bundesgesetze und wichtige Verordnungen institutionalisiert worden (Albrecht 2001: 104; Hervor‐ hebung im Original). 212 Sehr selten erfolgt die Textproduktion - und die entsprechende Überprüfung - in der Form einer parallelen Redaktion (fr. Rédaction parallèle): Eine noch radikaler mehrsprachige Form der Textproduktion ist die Rédaction paral‐ lèle, bei der bereits die Textentwürfe zweisprachig erarbeitet werden (Albrecht 2001: 104; Hervorhebung im Original). Der Koredaktion liegt die Idee zugrunde, dass Texte gleichzeitig auf Deutsch und Französisch entstehen sollen. Damit ließe sich die Gleichstellung beider Versionen gewährleisten: Die Kommission [d. h. die VIRK] arbeitet bei Gesetzesentwürfen und Entwürfen wichtiger Verordnungen zweisprachig, in einer sog. Koredaktion zugleich am deut‐ schen und französischen Text. Dies soll natürlich die Parallelität der Sprachfassungen sicherstellen. Zugleich soll damit aber verhindert werden, dass eine Sprachfassung nach Übersetzung aus der anderen ‚riecht‘. Die Idee ist, dass ein und derselbe normative Gehalt zugleich in zwei Sprachen ‚gedacht‘ und gefasst wird (Nussbaumer 2007b: 60; Hervorhebung im Original). Das Italienische bildet hingegen einen Fall für sich. Besonders wegen Mangel an für das Italienische zuständigen Übersetzern wird die italienische Version rechtlicher, in den amtlichen Sammlungen zu publizierender Texte nicht in den Departementen bearbeitet. Vielmehr ist es der italienische Sprachdienst der 155 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="156"?> 213 Die Divisione italiana dei Servizi linguistici centrali (Abteilung Italienisch der zen‐ tralen Sprachdienste, ZSD-I) ist aus der Segreteria per la Svizzera italiana (SSI) (Sekretariat für die italienischsprachige Schweiz) entstanden, das 1917 gegründet wurde. Sie stellt den ältesten Sprachdienst der Bundesverwaltung dar. Vgl. https : / / www.bk.admin.ch/ bk/ it/ home/ documentazione/ lingue/ conferenze-e-seminari/ 100-a nni-della-divisione-italiana-della-cancelleria-federale.html; 10.01.2020. 214 Einen Überblick über die Fragen, die die VIRK an den Text stellt, bietet Höfler (2015: 23). 215 Zum KAV und seiner Funktion vgl. die Beschreibung, die sich auf der Webseite der Bundeskanzlei findet: „Das Kompetenzzentrum Amtliche Veröffentlichungen (KAV) be‐ treibt die Bundesrechtsplattform auf admin.ch. Es unterstützt die Bundesämter bei der Bereitstellung der Texte, die im Bundesblatt (BBl) oder in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts (AS) veröffentlicht werden sollen, und führt die Systematische Rechts‐ sammlung (SR) nach“ (https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ de/ home/ bk/ organisation-der-bun deskanzlei/ kompetenzzentrum-amtliche-veroeffentlichungen-kav.html; 10.01.2020). Bundeskanzlei, der den ganzen Textentstehungsprozess betreut und die Qualität der Texte sicherstellt (vgl. Art 12 SpDV). 213 Die VIRK nimmt zum Erlassentwurf Stellung. Dabei antwortet sie auf gewisse inhaltliche und formale Fragen an den Text. Vgl. z.B.: • „Ist jede Bestimmung verständlich formuliert? “, • „Wird die Terminologie einheitlich verwendet und ist sie üblich? “, • „Wirft der Vergleich der beiden Sprachfassung [sic] materielle Fragen auf ? “ usw. 214 Beim nachfolgenden Suivi bespricht die VIRK ihre Stellungnahme mit dem federführenden Amt. Dieses, das im ganzen Prozess jederzeit die Textherrschaft behält, passt den Entwurf den konkreten Vorschlägen der Kommission an. Später findet eine Vernehmlassung statt, wobei alle am Erlasstext interessierten Akteure - verwaltungsintern sowie -extern und auf den verschiedenen politi‐ schen Ebenen - Kommentare und Änderungsvorschläge machen können (vgl. I.3.4.1). Es folgt eine zweite Ämterkonsultation, in der das zuständige Bundesamt die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens berücksichtigt und der VIRK den Entwurf nochmals vorlegt. Mit dem Ende dieser Phase ist die Arbeit der VIRK abgeschlossen. Der Text wird ab diesem Punkt während des sogenannten Circuit einer weiteren sprachlichen / gesetzestechnischen Qualitätskontrolle durch die Rechts- und Sprachdienste der Bundeskanzlei und durch das Kompe‐ tenzzentrum Amtliche Veröffentlichungen (KAV) 215 unterzogen. Schließlich ent‐ scheidet der Bundesrat über den Erlassentwurf. Nach dem Bundesratsbeschluss 156 3 Bürgernähe <?page no="157"?> 216 Die obigen Ausführungen entsprechen einer vereinfachten Darstellung des Schweizer Rechtsetzungsprozesses. Ausgelassen wurde hier z. B. die Phase des Mitberichts. Im Fall von Divergenzen zwischen dem federführenden Amt und der VIRK kann letztere nämlich „einen ‚Mitbericht‘ der Bundeskanzlei oder des Bundesamtes für Justiz anstrengen, das heisst darauf hinwirken, dass die redaktionelle Qualität eines Entwurfs zum Gegenstand der [für den Beschluss über den Rechtstext zuständigen] Regierungs‐ sitzung gemacht wird“ (Nussbaumer 2007b: 61). Die mehrsprachige Redaktion der Erlasstexte ist in der Tat ein komplexer, mehrstufiger Prozess, der von vielen Variablen (darunter der intertextuelle Status des Erlasses und seine Reichweite) abhängt. Vgl. dazu ausführlich Bratschi/ Nussbaumer (2017). 217 Vgl. https: / / www.parlament.ch/ de/ organe/ kommissionen/ weitere-kommissionen/ kom mission-redk; 29.05.2017. fügt das federführende Amt die Entscheide der Regierung in den Text ein. Nach dieser Bearbeitung kann der Entwurf veröffentlicht werden. 216 Nach der Präparationsphase setzt das parlamentarische Verfahren ein (vgl. Schweizer/ Baumann/ Scheffler 2011b). Hier kommt die Redaktionskommis‐ sion der eidgenössischen Räte (REDK), eine ständige Kommission beider Parlamentskammern, ins Spiel. Ihr obliegen eine letzte redaktionelle Kontrolle und die Überprüfung der Übereinstimmung zwischen den Sprachfassungen, nachdem der Erlass in den Räten beraten worden ist. Für jede Kammer gibt es je drei Subkommissionen für die Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch. Der Rechtsdienst und die Sprachdienste der Bundeskanzlei können während der Arbeit der Kommission, die eine Art Fortsetzung der Arbeit der VIRK darstellt, zur Beratung hinzugezogen werden. Die REDK legt die endgültige Fassung der Erlasstexte für die Schlussabstimmung im Parlament fest. 217 3.4.2.2 Sprachpolitik bzw. Sprachbeeinflussung Im Großen und Ganzen lässt sich die Tätigkeit der beiden Redaktionskommis‐ sionen als Engagement für ein verständliches Recht einerseits und für ein mehrsprachiges Recht andererseits zusammenfassen. Gerade bei der Suche nach effizienteren Wegen zur Erreichung dieser Ziele wurde die VIRK ins Leben gerufen. Zugrunde lag die Idee, dass eine wirksame Arbeit an der Qualität der mehrsprachigen Erlasstexte früh im Rechtsetzungsverfahren ansetzen muss und dass das Gebot der Verständlichkeit eine „Anwältin“ (vgl. Nussbaumer 2008) braucht, die die Perspektive der künftigen Leser der Gesetzestexte schon während des Prozesses der Produktion dieser Texte vertritt: [Die parlamentarische Redaktionskommission hatte] die Einsetzung der verwaltungs‐ internen Redaktionskommission in den 1970er Jahren gefordert […] - aus der 157 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="158"?> 218 Zum Zeitpunkt der Gründung der VIRK existierte in Deutschland schon der Re‐ daktionsstab der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), der für die sprachliche Prüfung der Gesetzes- und Verordnungstexte zuständig war. Es handelte sich damals um eine 50-Prozent-Stelle beim Deutschen Bundestag. Die Stelle wurde Anfang der 2000er Jahre in einen 100-Prozent-Posten umgewandelt und ist bis heute geblieben. Im Laufe der Jahre wurde allerdings die begrenzte Wirksamkeit des Redaktionsstabs immer wieder betont. Diese ließ sich dadurch erklären, dass der Stab über beschränkte Ressourcen (menschlich und materiell) verfügte, eher spät im Gesetzgebungsverfahren eingesetzt wurde und nicht verbindlich war (vgl. Lerch 2004b: 232 ff. und 2008: 76). 2007 wurde das Projekt Verständliche Gesetze initiiert, mit dem Ziel, den Redaktionsstab auszubauen. Vorbild waren dabei u. a. die Schweizer Redaktionskommissionen: „Ironischerweise verweist man […] in Deutschland immer wieder neidvoll auf die Schweiz und ihren gut ausgebauten Dienst für die redaktionelle Begleitung von Rechtssetzungsvorhaben“ (Nussbaumer 2007b: 45). Das deutsche Projekt hat 2009 zur Errichtung des Redaktionsstabs Rechtsprache der Lex Lingua Gesellschaft für Rechts- und Fachsprache mbH geführt, der zusammen mit dem Sprachbüro des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz die Arbeit des Redaktionsstabs der GfdS unterstützt, wobei er in einer früheren (der ministeriellen) Phase des Gesetzgebungsprozesses eingesetzt wird. Vgl. http: / / www.bmjv.de/ DE/ Themen/ RechtssetzungBuerokratieabbau/ Sprachberatung/ S prachberatung_node.html; 30.05.2017. Vgl. auch Thieme/ Raff (2017). Erkenntnis heraus, dass Redaktion am Ende des parlamentarischen Verfahrens hoff‐ nungslos zu spät kommt (Nussbaumer 2007b: 61). 218 Die beiden Prinzipien der Verständlichkeit und der institutionellen Mehr‐ sprachigkeit sind miteinander verwoben und profitieren gegenseitig vonein‐ ander. Auf der einen Seite liegt im Bewusstsein der Verfasser, dass Texte klar sein müssen, nicht zuletzt weil sie sofort übersetzt und also einer weiteren Textarbeit unterzogen werden; auf der anderen Seite ermöglicht die Auseinandersetzung mit den Texten durch die Übersetzer, eventuelle undurchsichtige Textstellen zu entdecken. Überdies erweist sich die Exis‐ tenz unterschiedlicher Sprachfassungen desselben Textes als Ressource bei der Rechtsauslegung: Bei Zweifelsfällen kann der Vergleich zwischen ver‐ schiedenen Versionen nämlich helfen, eine bestimmte Interpretation zu bevorzugen und infolgedessen die Lösung eines Problemfalls zu finden (vgl. I.3.4.2.1). In dieser Hinsicht wird immer wieder betont, dass eine mehrspra‐ chige Rechtsetzung und Gesetzgebung einen hohen Gewinn brächten. Man 158 3 Bürgernähe <?page no="159"?> 219 Die Vor- und Nachteile einer mehrsprachigen Gesetzesredaktion standen 2001 im Mittelpunkt der Tagung Mehrsprachige Gesetzesredaktion: Last oder Gewinn? der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung. Zum Tagungsthema äußerten sich Vertreter verschiedener Disziplinen bzw. Perspektiven. Aus der Tagung hat sich er‐ geben, dass Mehrsprachigkeit sowohl Last als auch Gewinn sein könne. Vgl. Mader (2001: 10): „Die Frage ruft nach einer differenzierten Antwort, wobei an der Tagung selbst die Meinung dominierte, die mehrsprachige Gesetzesredaktion sei - über ihre staatspolitische Bedeutung hinaus - für die Gesetzgebungsarbeit insgesamt ein Gewinn: sie führt dazu, dass der Formulierung von Erlasstexten generell mehr Beachtung geschenkt wird, und hilft, inhaltliche Unklarheiten und Inkongruenzen rechtzeitig zu entdecken. Andererseits kann sie aber auch zusätzliche - und min‐ destens zum Teil willkommene - Auslegungsmöglichkeiten schaffen“. Dazu vgl. auch Schnyder (2001: 44; Hervorhebung im Original): „Die Mehrsprachigkeit stellt insofern eine Last dar, als bei der Auslegung eben nicht nur ein Text berücksichtigt werden darf. Das bedeutet aber gerade auch Hilfe, weil durch die Mehrsprachigkeit der wahre Sinn einer Norm besser erkannt werden kann. Ja, gelegentlich bildet die in der Fassung einer Sprache vom Wortlaut der anderen Sprache abweichende Formulierung geradezu den Schlüssel zur Lösung eines Auslegungsproblems. […] Wo immer die Tragweite einer Bestimmung nicht auf Anhieb erkannt wird, kann sehr oft die Lektüre des anderssprachigen Textes jeden Zweifel beheben“. Zu den Chancen und Risiken der mehrsprachigen Rechtsetzung vgl. außerdem Bratschi/ Nussbaumer (2017). 220 Hier schlägt Nussbaumer eine Brücke zur heiklen Frage der Mehrsprachigkeit in der Rechtsetzung und Gesetzgebung der Europäischen Union. Dazu liegt eine reiche Literatur vor: beispielsweise Kelz (2002), Müller/ Burr (2004), Els (2005), Ammon (2006). Für einen Überblick über die Amtssprachen der EU (z.Z. 24 Sprachen) vgl. http: / / www .europarl.europa.eu/ factsheets/ de/ sheet/ 142/ language-policy; 13.01.2020. vergleiche dazu Nussbaumer, der seine Überlegungen in den Rahmen des Verfahrens der Koredaktion stellt: 219 Oft kommt es vor, dass beim Abgleichen der […] Sprachfassungen, gleichsam aus der unvermeidlichen Spannung zwischen den Sprachfassungen heraus, plötzlich Fragen an die Interpretation des Textes auftauchen, die sich bei einsprachiger Redaktion gar nicht gestellt hätten […]. Selbst wenn Gesetzestexte ‚nur‘ übersetzt und nicht koredigiert werden, kann dies ein Gewinn für das Recht sein: Es gibt kaum eine intensivere Auseinandersetzung und Hinterfragung eines Textes als die Übersetzung (Nussbaumer 2007b: 60). Dazu [zum Klärungsprozess beim Abfassen eines Textes] braucht es nicht einmal Koredaktion, das könnte auch die ‚blosse‘ nachträgliche Übersetzung leisten: Es gibt ja keine intensivere Auseinandersetzung mit einem Text als wenn man ihn übersetzen muss. […] Mehrsprachiges Recht hat alle Chancen, klareres, verständlicheres Recht zu sein. Armselig ein Gemeinwesen, das diese Chance nicht zu nutzen weiss. Weiss es die Europäische Union? (Nussbaumer 2007a: 40). 220 159 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="160"?> Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen mehrsprachiger Gesetzge‐ bung und Gesetzestexten hoher Qualität. Ersterer ist im Grunde zu verdanken, dass die Schweizer Rechts- und Verwaltungssprache heute als vorbildlich gilt (vgl. I.1.2.1.2 und I.3.3.2). Die Qualität der Erlasstexte bzw. die Forderung nach verständlichen Behördentexten sind in der Schweiz rechtlich verankert. Dabei kommt wieder das Sprachengesetz in den Fokus. Art. 7, der den Titel „Verständlichkeit“ trägt, lautet: 1 Die Bundesbehörden bemühen sich um eine sachgerechte, klare und bürgerfreundliche Sprache und achten auf geschlechtergerechte Formulierungen. 2 Der Bundesrat trifft die notwendigen Massnahmen; er sorgt insbesondere für die Aus- und Weiterbildung des Personals und für die nötigen Hilfsmittel (Hervorhe‐ bungen A.A.). Auch in der Sprachenverordnung findet sich eine Bestimmung, die den Aus‐ druck „Verständlichkeit“ als Rubrum enthält (vgl. Art. 2): 1 Die amtlichen Publikationen und die weiteren für die Öffentlichkeit bestimmten Texte des Bundes sind in allen Amtssprachen sachgerecht, klar und bürgerfreundlich sowie nach den Grundsätzen der sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter zu formulieren. 2 Die Einheiten der Bundesverwaltung treffen die organisatorischen Massnahmen, die notwendig sind, damit die redaktionelle und formale Qualität der Texte gewährleistet ist. Die Bundeskanzlei legt die redaktionellen und formalen Qualitätsstandards in Weisungen fest (Hervorhebungen A.A.). Sowohl das Sprachengesetz als auch die Sprachenverordnung weisen auf die Rolle der Exekutive bzw. der Bundeskanzlei hin als Garanten für verständliche bzw. bürgernahe Texte des Bundes. Dies betont auch die Organisationsverord‐ nung für die Bundeskanzlei (OV-BK) von 2008. Dort wird vorgeschrieben, dass die Bundeskanzlei insgesamt die Koordination der Redaktion der Erlasstexte übernimmt. Der Organisationsverordnung entsprechend ist sie für die „Qualität der zur Veröffentlichung bestimmten Texte und weiterer wichtiger Texte“ (vgl. Art. 3) verantwortlich und insbesondere für die „Qualität der Rechtsetzung des Bundes“ (vgl. Art. 4). Die Bundeskanzlei muss also dafür sorgen, dass die Erlasse des Bundes in allen Amtssprachen inhaltlich und formal übereinstimmen, sach- und adressatengerecht, kohärent und für die Bürgerinnen und Bürger verständlich sind (Art. 4; Hervorhebungen A.A.). 160 3 Bürgernähe <?page no="161"?> 221 Nussbaumer weist auf die politische Dimension hin, die die Sprachbeeinflussung prägt bzw. mit der Spracharbeit an (rechtlichen) Texten einhergeht: „Die Behauptung ist nun, dass die Sprache von Gesetzestexten an sich etwas Politisches ist und die Arbeit an dieser Sprache (Gesetzesredaktion) mithin eine politische: seien das die generellen Bemühungen um Verständlichkeit; der tabulose redaktionelle Eingriff, der immer auch ans Materielle rührt; die bewusste Wahl und Abwahl von Bezeichnungen und damit der Positionsbezug in Wortkämpfen; oder der Einsatz für eine geschlechtergerechte Gesetzessprache“ (Nussbaumer 2002: 181). Wie bereits angeführt (vgl. I.3.4.2.1), erledigt die Bundeskanzlei diese Aufgabe vor allem durch die zentralen Sprachdienste, deren Haupttätigkeit eben die Textoptimierung ist: Den Schwerpunkt der deutschen Sektion der Sprachdienste bildet die Textoptimie‐ rung, und dies hauptsächlich an Erlasstexten (Nussbaumer 2000: 196; Hervorhebung im Original gelöscht). Wie aus dem Sprachengesetz und der -verordnung hervorgeht, ist die Bundes‐ kanzlei zugleich für die Festlegung sprachlicher Qualitätsstandards zuständig. Insofern hat sie eine sprachpolitische Funktion, weil sie den Sprachgebrauch der Bundesbehörden zu steuern und somit zu beeinflussen versucht: Einerseits erlässt die Bundeskanzlei Sprachnormen, die eine einheitliche Praxis bei den Sprachdienstleistungen der Bundesverwaltung sicherstellen sollen (vgl. Absatz 1.1 der Weisungen der Bundeskanzlei über die Sprachdienstleistungen, Sprachweisungen von 2017); andererseits überprüft sie die Normenorientierung bzw. ihre Einhaltung. 221 Sprachregelungen kommen in Metatexten, etwa in Schreibanleitungen und Leitfäden, zum Ausdruck. Diese sollen in erster Linie einen einheitlichen Sprachgebrauch innerhalb eines und desselben Textes und in den Exemplaren derselben Textsorte nach dem Motto ‚Gleiches muss gleich benannt werden‘ gewährleisten. Deren Erarbeitung betreuen wieder die zentralen Sprachdienste, die ihre Erfahrungen bei der Spracharbeit an Texten sammeln und in Spezial- Kodizes festschreiben: 161 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="162"?> 222 Die Einführung von Hilfsmitteln für die Textredaktion war eng mit dem Bedürfnis verbunden, innerhalb der Sprachdienste der Bundesverwaltung Kompetenzen und Erfahrungen auszutauschen und die Praxis bei der Arbeit an Texten zu vereinheitlichen bzw. zu standardisieren, da der Umfang der behördlichen Texte und die Anzahl der Leute, die daran arbeiteten, im Lauf der Jahre erheblich gestiegen waren: „Oggi l’aumento costante del volume di testi pubblicati e del numero di persone che se ne occupano anche nella fase finale della pubblicazione ha reso necessario l’elaborazione di strumenti di riferimento per condividere determinate competenze e, soprattutto, per uniformare alcuni aspetti dell’uso della lingua“ (Egger 2011: 41). 223 Es gibt Normen, die eher präzise sind. Dies bedeutet, dass es dabei leicht ist, mit Blick auf einen als gültig erklärten Kodex die Frage nach richtig oder falsch zu beantworten (vgl. etwa orthographische Regeln). Umgekehrt ist es bei offeneren Normen wie denjenigen, die stilistische Güte und Angemessenheit betreffen (vgl. etwa das Gebot der Verständlichkeit), ausgesprochen schwierig, festzustellen, ob eine gewisse Vorgabe (wie: man soll den Text einfach formulieren) in einem Text eingehalten wird oder nicht. Zur Reichweite, Verbindlichkeit und Präzision von Normen vgl. Adamzik/ Alghisi (2015 und 2017). 224 Egger (2011) merkt an, dass die zwingenden Vorgaben eine doppelte Legitimation haben: Normativ, weil sie für die Bundesbehörden verbindlich sind; prozedural, weil sie bestimmte Verfahren für die Redaktion von amtlichen Texten festlegen, die eingehalten werden müssen (vgl. Egger 2011: 44). Es geht […] darum, das Tätigkeitsfeld […] - die alltägliche Textoptimierungpraxis [sic] - ein Stück weit überzuführen in das Tätigkeitsfeld […] der Angewandten Linguistik (Nussbaumer 2000: 196). 222 Es bestehen Metatexte unterschiedlicher Reichweite: Sie können für verschie‐ dene politische Ebenen gelten und eine oder mehrere Textsorten fokussieren bzw. textsortenunspezifisch sein. Sprachliche Vorgaben können verschiedene Sprachebenen (lexikalisch, syntaktisch, textuell) betreffen und in mehr oder weniger offenen Normen bestehen. Auch der Verbindlichkeitsgrad der Normen variiert. 223 Die Sprachweisungen der Bundeskanzlei legen fest, dass redaktionelle und formale Vorgaben unabhängig vom Textproduzenten für die Texte der AS, SR und des BBl „zwingend zu beachten“ sind. Damit umreißen sie das Feld der Texte, die am strengsten sprachlich geregelt sind und die am sorgfältigsten kontrolliert werden: Es geht eben um das reiche Repertoire der Texte und Textsorten, die im Bundesblatt und in den Sammlungen des Bundesrechts publiziert werden und die die amtlichen Texte schlechthin bilden (vgl. I.3.4.2.1). Darauf folgt eine nach Amtssprache unterschiedene Auflistung der „zwingenden Vorgaben“, 224 der sich eine Liste anderer nicht zwingender Leitfäden und Hilfsmittel - einschließlich Dokumente für das Rätoromanische und für das Englische - anschließt (vgl. Absätze 2.3 und 2.4 der Sprachweisungen 2017 und Tab. I.3.5): 162 3 Bürgernähe <?page no="163"?> 225 Einige Instrumente sind allerdings nur verwaltungsintern zugänglich, z. B. der soge‐ nannte, in den Sprachweisungen erwähnte Roter Ordner, der Richtlinien für Bundes‐ ratsgeschäfte enthält. Deutsch Italienisch „Zwingende Vorgaben“: „vincolanti“: • Gesetzestechnische Richtlinien; • Direttive di tecnica legislativa; • Schreibweisungen. Weisungen der Bundeskanzlei zur Schreibung und zu Formulierungen in den deutschspra‐ chigen amtlichen Texten des Bundes; • Istruzioni della Cancelleria federale per la redazione dei testi ufficiali in italiano; • Rechtschreibung. Leitfaden zur deut‐ schen Rechtschreibung; --- • Botschaftsleitfaden. Leitfaden zum Verfassen von Botschaften des Bundes‐ rates (Botschaftsschemas und Regeln für die formale Textgestaltung) • Guida alla redazione dei messaggi del Consiglio federale (schemi per mes‐ saggi e regole formali) „weitere Leitfäden und Hilfsmittel“: „altre guide e promemoria“: • zum geschlechtergerechten Formu‐ lieren; • zur Gestaltung und zur Formulierung von Erlasstexten; • zur Rechtschreibung in rätoromani‐ schen Texten; • zur Rechtschreibung und zur Formulie‐ rungsweise in englischen Texten; • zu Fragen der allgemeinen und der mehrsprachigen Terminologie • sul pari trattamento linguistico di donna e uomo; • sulla presentazione e formulazione degli atti normativi; • sull’ortografia in romancio; • sull’ortografia e la formulazione di testi in inglese; • sulle questioni riguardanti la termino‐ logia plurilingue o generale Tab. I.3.5: Hilfsmittel für Textredaktion: Zwingende Vorgaben Die Sprachweisungen tragen der Vielfalt der Sprachkodizes, die für Verwal‐ tungsmitarbeiter zur Verfügung stehen, nur teilweise Rechnung. Einen tiefer‐ gehenden Einblick darin gewinnt man, wenn man die verschiedenen Sprach‐ versionen der Webseite der Bundeskanzlei besucht. Folgt man etwa dem Pfad Startseite>Dokumentation>Sprachen>Hilfsmittel für Textredaktion und Überset‐ zung, gelangt man zu einer Seite, die eine Übersicht über die Hilfsmittel für die Redaktion von deutschsprachigen Texten und für die Übersetzung der Texte ins Deutsche bietet. 225 Die Inhalte dieser Seite sind in 5 Rubriken eingeteilt. Unter jeder Rubrik finden sich Verlinkungen, die entweder zu Metatexten, Mus‐ tertexten, Dokumentvorlagen, Mustersammlungen der Bundeskanzlei direkt 163 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="164"?> 226 Vgl. https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ de/ home/ dokumentation/ sprachen/ hilfsmittel-textr edaktion.html; 13.01.2020. führen oder zu anderen Seiten der Schweizer Behörden bzw. zu verwaltungsex‐ ternen Webauftritten. Diese anderen Webseiten enthalten ihrerseits Leitfäden, die von weiteren Einheiten der Bundesverwaltung (wie etwa dem Bundesamt für Justiz, BJ) herausgegeben werden, oder können digitalen Wörterbüchern bzw. Glossaren entsprechen. Zur Illustration sind hier die Rubriken und die damit verbundenen Links in einer Tabelle (Tab. I.3.6) zusammengestellt: 226 Rubrik Verlinkungen Verfassen von Texten allgemein Schreibweisungen Leitfaden zur deutschen Rechtschreibung Leitfaden zum geschlechtergerechten For‐ mulieren Empfehlungen für den Umgang mit An‐ glizismen Übersetzung und Terminologie Checkliste für Auftraggeberinnen und Auftraggeber TERMDAT IATE (Terminologiedatenbank der Spra‐ chendienste der EU) Gesetzesredaktion Gesetzestechnische Richtlinien (GTR) Formale Aspekte bei der Übernahme von EU-Recht Dokumentation zur Rechtsetzungsbeglei‐ tung Botschaften, Berichte, Stellungnahmen Leitfaden für Botschaften des Bundesrates Dokumentation zur Rechtsetzungsbeglei‐ tung Weitere Hilfsmittel Merkblatt Behördenbriefe Liste der Staatenbezeichnungen (EDA, unter "Dokumente") Diplomatische Korrespondenz (EDA, nur Intranet) Protokoll im Schriftverkehr (EDA, nur In‐ tranet) Tab. I.3.6: Hilfsmittel für Textredaktion und Übersetzung auf der Webseite der Bundes‐ kanzlei Die tabellarische Zusammenstellung legt sofort nahe, dass es nicht leicht ist, einen vollständigen Überblick über die für die behördlichen Sprachdienstleis‐ 164 3 Bürgernähe <?page no="165"?> 227 https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ de/ home/ dokumentation/ begleitende-rechtssetzung/ dok umentation-rechtsetzungsbegleitung.html; 13.01.2020. 228 Siehe etwa die Textmustersammlung Omnia, die nur für das Italienische verfügbar ist. Vgl. dazu Egger (2011). tungen relevanten Metatexte zu gewinnen, zumal dieselben Dokumente inner‐ halb eines und desselben Webauftrittes (etwa die Website der Bundeskanzlei) mehrmals vorkommen können bzw. verschiedenen Kategorien bzw. Rubriken gleichzeitig zugeordnet werden. Der Pfad Startseite>Dokumentation>Rechtset‐ zungsbegleitung>Dokumentation zur Rechtsetzungsbegleitung führt etwa zu den‐ selben Ergebnissen wie der früher erwähnte, die Inhalte sind dort allerdings anders verteilt. 227 Hinzu kommt, dass es für die Landessprachen und für das Englische selbstverständlich verschiedene Hilfsmittel gibt 228 und dass nur we‐ nige Leitfäden in drei (oder eventuell vier bzw. fünf) Sprachfassungen vorliegen (vgl. z. B. die Gesetzestechnischen Richtlinien, den Botschaftsleitfaden oder den Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren). Auch in diesem Fall stimmen die Kodizes allerdings nur teilweise miteinander überein und weisen daher unausweichlich Anpassungen an die sprachlichen Gewohnheiten, Erwartungen bzw. Spezifika der jeweils adressierten Sprachgemeinschaft auf (vgl. Adamzik 2018a). Paradigmatisch sind in diesem Kontext die Sprachnormen, die die Verwirklichung des gesetzlich festgelegten Gebots der geschlechtergerechten Sprache (vgl. Art 7 SpG, siehe oben) betreffen. Hierzu sind die Sprachgruppen verschiedene Wege gegangen und haben sogar widersprüchliche Vorgaben formuliert. Unterschiede haben sich besonders bei der Einstellung zu bzw. Verwendung des umstrittenen generischen Maskulinums gezeigt (vgl. I.3.2). Den sprachlichen Kodizes entsprechend sind generisch gemeinte Maskulina in deutschen normativen Texten nicht erlaubt; das Gegenteil gilt für das Französische und das Italienische, für die das masculin générique bzw. maschile inclusivo die Standardform in den Erlassen darstellt: In Erlasstexten sind Doppelformen verboten. Dadurch wird das generische Masku‐ linum in beiden Sprachen [Französisch und Italienisch] zur Standardvariante, die auch für andere Texte empfohlen wird […]. Der deutsche Leitfaden setzt dagegen genau die entgegengesetzte Norm: Hier ist das generische Maskulinum verboten und als klar nicht geschlechtergerecht wird auch der Rückgriff auf Generalklauseln oder Legaldefinitionen gesetzt […]. Die Kodifizierungen haben also zu grundsätzlich unterschiedlichen Standardoptionen im Deutschen einerseits und den beiden anderen Amtssprachen andererseits geführt (Adamzik/ Alghisi 2017: 62). Die Orientierung an den Besonderheiten des sprachlich-kulturellen Bezugs‐ raums bzw. die an verschiedenen Nationen festgemachten Kultur- und Verhal‐ 165 3.4 Sprachpolitik in der Schweiz <?page no="166"?> 229 Vgl. https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ it/ home/ documentazione/ lingue/ strumenti-per-la-r edazione-e-traduzione/ banche-dati-e-glossari.html; 13.01.2020. Für eine Übersicht über die Initiativen Italiens für eine Rechts- und Verwaltungssprache hoher Qualität bzw. für ihre Vereinfachung (semplificazione) vgl. beispielsweise Piemontese (2000, 2012), Viale (2008), Trifone (2009), Cortelazzo (2010a, 2014, 2015), Lubello (2014a, 2014b). Bahnbrechend waren in den 1990er Jahren die Initiativen und die daraus stammenden Werke von S. Cassese (Codice di stile 1993) und von A. Fioritto (Manuale di stile 1993). Beide Arbeiten spielen heute noch eine zentrale Rolle und stellen im italienischen Sprachraum wichtige Bezugspunkte dar, auf die immer wieder verwiesen wird. Vor kurzer Zeit (Frühling 2020) haben die Accademia della Crusca und das italienische Ministero della Pubblica Amministrazione ein gemeinsames Projekt gestartet, das darauf abzielt, „una comunicazione corretta e chiara in ambito istituzionale“ zu untersuchen und zu fördern (vgl. https: / / accademiadellacrusca.it/ it/ contenuti/ l-accordo-tra-l-accade mia-della-crusca-e-il-ministero-della-pubblica-amministrazione/ 7872; 30.06.2020; Her‐ vorhebungen im Original gelöscht). 230 Um die Einheitlichkeit der Schweizer Verwaltung auch auf der visuellen Ebene zu fördern, gibt es seit 2007 das Handbuch Corporate Design der Schweizerischen Bundes‐ verwaltung: „Der einheitliche visuelle Auftritt soll die gemeinsame Identität der Bun‐ desverwaltung stärken, das Vertrauen in den Staat fördern sowie zur Glaubwürdigkeit und Sicherheit öffentlicher Dienstleistungen beitragen“ https: / / www.bk.admin.ch/ bk/ de/ home/ dokumentation/ cd-bund.html; 13.01.2020). tensunterschiede lassen sich aus den Webseiten der Bundeskanzlei ablesen, auf denen die redaktionellen Hilfsmittel erscheinen. Auf den italienischsprachigen Seiten ist es etwa nicht unüblich, Verweise auf italienische Projekte - wie die schon erwähnte (vgl. I.1.2.1.3), im Rahmen der italienischen Übersetzungs‐ dienste der europäischen Union entstandene Rete per l’eccellenza dell’italiano istituzionale - oder auf die Webauftritte der italienischen Behörden zu plat‐ zieren. 229 Im Allgemeinen zeichnet sich eine Spannung zwischen zwei gegensätzli‐ chen Anliegen ab. Einerseits soll die Schweizer Bundesverwaltung trotz der eigenen identitätsstiftenden Vielfalt und der Mehrsprachigkeit nach außen einheitlich auftreten. 230 Auf der anderen Seite soll sie die Sensibilitäten, herrschende diskursive Positionen und Denkweisen der verschiedenen Sprach‐ gemeinschaften berücksichtigen und die Auferlegung von Modellen seitens der Mehrheitssprachen vermeiden. Egger, Leiter der Sektion Gesetzgebung und Sprache bei der Bundeskanzlei, drückt dies deutlich aus: L’uniformità va certo perseguita, ma non a scapito delle norme elementari e degli usi specifici delle singole lingue (Egger 2011: 46; Hervorhebungen A.A.). 166 3 Bürgernähe <?page no="167"?> 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter 3.5.1 Textoptimierung Wie aus den vorangehenden Abschnitten (vgl. I.1.2.1.3 und I.3.4.2.2) schon hervorgegangen ist, kann man sich um die gute Qualität der Rechts- und Verwaltungstexte bemühen und sie in textoptimierender Absicht bearbeiten. Die Erforschung der Textoptimierung ist eng mit der Verständlichkeitsfor‐ schung verbunden. Tatsächlich entspricht Textoptimierung der „Reflexion und d[er] Anwendung einer angewandten Verständlichkeitstheorie“ (Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 641). Sie dient dem Zweck, Gebrauchstexte so umzugestalten, daß ihren Adressaten die Aufnahme und kognitive Verarbeitung (Verstehen und ggf. Behalten) sowie - bei entsprechenden Textsorten (etwa Bedienungsanleitungen) - die Anwendung oder praktische Umsetzung der Informationen aus diesen Texten erleichtert wird (Göpferich 1998: 888). Dabei handelt es sich um „eine alltägliche sprachliche Formulierungshandlung“, um ein „alltagsweltliches Problem der gesellschaftlichen, insbesondere der beruflichen Praxis“ (Antos/ Augst 1989: 2). Wie bereits angeführt (vgl. I.3.3.2), ist der Spielraum für Optimierungen bei Normtexten jedoch begrenzt. In einigen Fällen ist der Rückgriff auf bestimmte sprachliche Formen, die allgemein fremd wirken, fast unvermeidbar und der ju‐ ristische Laie muss mit Fachsprachlichem konfrontiert werden. Auf der anderen Seite ist selbst der Gebrauch alltagssprachlicher Ausdrücke in Gesetzestexten nicht unproblematisch und kann der Grund für Verständigungsdefizite sein. Denn - wie schon angedeutet (vgl. I.1.2.1.3) - [d]ie juristische und gemeinsprachliche Semantik desselben Lexems kann in fach‐ licher und nicht-fachlicher Verwendungsweise erheblich differieren. Rechtslaien verbinden einen Ausdruck regelmäßig mit aus dem Alltag bekannten Vorgängen und konventionalisierten Handlungsmustern. Dagegen denken Experten im rechts‐ sprachlichen Kommunikations- und Systembezug, wenn sie Rechtsbegriffe deuten (Luttermann 2010: 147). Darüber hinaus ist zu bemerken, dass der Begriff Laie bzw. Durchschnittsbürger ein Konstrukt ist, unter das eine extrem heterogene Adressatenschaft fällt (vgl. dazu Adamzik 2016a: 246 und Luttermann 2010: 149). Bei der Aufbereitung eines (Norm-)Textes kann es daher schwierig sein, die Merkmale der Adressaten zu antizipieren, die in einem Kontext wirklich relevant sind. Im Allgemeinen muss das Dilemma zwischen Sach- und Adressatenangemessenheit also in der Tat 167 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="168"?> 231 Damit verbunden ist somit die Frage danach, wie sehr sich ein Leser anstrengen muss, damit er den Inhalt eines Textes verstehen kann. Hierzu vgl. Lerch (2004c) und I.3.1. 232 Vgl. auch Göpferich (1998: 895), die von „Textoptimierung durch die Kombination unterschiedlicher Zeichensysteme“ spricht, und Kastberg (2005). „bestehen bleiben, wenn wir an der Identität der Inhalte in einem strengen Sinn festhalten“ (Biere 1998: 405). Dabei ist zu betonen, dass Textoptimierung häufig auch als Aufgabe des Adressaten selbst betrachtet wird. Das heißt, es wird oft vom Leser verlangt, dass er sich beim Lesen und Verstehen eines Textes so viel Mühe gibt wie möglich: Hierzu bedarf es allerdings auch seitens des Lesers eines der Komplexität des Gegen‐ standes angemessenen interpretierenden Umgangs mit dem Text (Biere 1998: 405). 231 Biere spricht von „selbstgesteuerten Verstehensbzw. Textverarbeitungsstrate‐ gien des Lesers“ (ebd.). Er hebt allerdings zugleich hervor, dass es tendenziell möglich wäre, das Dilemma zwischen Sach- und Adressatenangemessenheit aufzulösen, wenn [man] von den unterschiedlichen Funktionen etwa eines Fachzeitschriften‐ beitrags und einer entsprechenden fachjournalistischen oder populärwissenschaftli‐ chen Darstellung (z. B. in Form eines Features oder einer Reportage) ausgeh[t] (Biere 1998: 405; Hervorhebung im Original gelöscht; Fettdruck A.A.). Damit meint er, dass dem Verständlich-Machen bzw. der Textoptimierung die Kombination verschiedener Textsorten, Kommunikationsformen, Medien und Zeichensysteme zugrunde liegen soll, die einer Art Dialog zwischen den Kommunikationspartnern entspräche. 232 Dabei schlägt Biere vor, auf die Strate‐ gien zurückzugreifen, die im didaktischen Bereich etwa in Lehrtexten gängig sind: [Es gibt] eine Vielfalt mehr oder weniger didaktischer, vor allem in Lehrtexten ver‐ wendeter Gestaltungsmöglichkeiten, die den (intendierten) Haupttext als generelles Informationsangebot so belassen wie er ist, ihn aber durch bestimmte Arten von Sub‐ texten adressatenbezogen kommentieren: durch texterläuternde, -kommentierende, verständlichmachende Elemente, durch ‚Minitexte‘, die ihren Sinn in Relation zu bestimmten Teilen des Bezugstextes erhalten, während dieser umgekehrt durch die kommentierenden Elemente seinen Sinn für bestimmte Lesergruppen allererst erschließbar werden lässt: Texte zum Text, Vor-, Nach- oder Zwischentexte, das vor‐ angestellte Abstract, die ‚Vorstrukturierung‘ ebenso wie die Angabe von Lernzielen, Randglossen, Glossare, Zwischenüberschriften und -fragen, Zusammenfassungen im 168 3 Bürgernähe <?page no="169"?> Text oder am Ende des Textes, all das sind verständlichmachende Elemente, die allesamt ihre ‚Wurzel‘ in dialogischer, partnerbezogener Mündlichkeit haben. Sie sind praktisch Substitutionen mündlicher Verständigungssituationen (Biere 1995: 169; Hervorhebungen A.A.). Den „verständlichmachenden Elementen“ in der Experte-Laie-Kommunika‐ tion gilt seit einigen Jahren das Interesse der sprachwissenschaftlichen For‐ schung im europäischen Sprachraum (vgl. I.1.2.1.3). Was die fachexterne Vermittlung fachlicher Inhalte in nicht-didaktischen Kontexten angeht, sind besonders Verfahren der Popularisierung in der Presse und in Magazinen mit Fokus auf (Natur-)Wissenschaften und Technik untersucht worden (vgl. u. a. etwa Gotti 1996, 2012; Niederhauser 1997, 1999; Calsamiglia/ Van Dijk 2004; Garzone 2006; die Beiträge in Bongo/ Caliendo 2014). Für die sprachlichen Mittel, die beim fachexternen Wissenstransfer im Bereich Recht und Verwal‐ tung Anwendung finden, liegen hingegen zur Zeit verhältnismäßig weniger Studien vor (vgl. Fonsén 2008, 2014; Preite 2012, 2013; Engberg/ Luttermann 2014; Carobbio/ Engberg 2017; Heller/ Engberg 2017; die Beiträge in Engberg/ Luttermann/ Cacchiani/ Preite 2018; Engberg/ Heller 2020). In beiden Fällen bzw. in den meisten Studien stehen grundsätzlich dieselben sprachlichen Verfahren zur Vermittlung fachlichen Wissens im Vordergrund. Einige der Strategien, die gewöhnlich fokussiert werden, stellt die folgende Tabelle (Tab. I.3.7) nebeneinander: 169 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="170"?> 233 Zu den Popularisierungsverfahren zählt Niederhauser auch den Verzicht auf irgendwelche Worterklärungen, wenn die Fachwörter in einem bestimmten Kontext für „allgemein bekannt“ gehalten werden können. Vgl.: „Umgekehrt werden in populärwissenschaftlichen Artikeln Fachwörter nicht nur auf verschiedene Arten erklärt oder umschrieben. Sie können in einzelnen Fällen auch ohne Erklärung verwendet werden. Welche wissenschaftlichen Begriffe als derart gängig und allgemein bekannt angesehen werden, daß sie keiner Erklä‐ rung bedürfen, ist eine Entscheidung, die den Adressatenkreis und das damit voraussetzbare Wissen festlegt. Entsprechend ist es möglich, unerklärt verwendete Fachwörter, wie Oxid, Elektron, Ferroelektrizität, Blasenkammer, auch als Zeichen einer bestimmten Stufe der Popularisierung zu deuten“ (Niederhauser 1997: 115; Hervorhebungen im Original). Niederhauser (1997, 1999) Calsamiglia/ Van Dijk (2004) Gotti (2012) Techniken der Wissensver‐ mittlung: • Reduktion der Informations‐ fülle • Reduktion der Informations‐ dichte • Exemplifications • Descriptions (to explain un‐ known things) • Esemplificazione • Präsentation in an‐ deren Argumentationszu‐ sammenhängen Umgang mit Fachwörtern: • Erklärung von Fachwörtern durch direkte, eingehendere Definition • Denominations • Definizioni • Fachworterklärung durch Kurzdefinition und Kurzer‐ läuterung • Definitions (to explain un‐ known words) • Implizite Fachworterklärung durch entfaltende Defini‐ tionen • Umschreibendes Weglassen von Fachwörtern • Reformulations and para‐ phrases • Unerklärter Gebrauch von Fachwörtern 233 170 3 Bürgernähe <?page no="171"?> Strategien der Wissen‐ schaftsvermittlung: • Von Wissenschaft erzählen • Personalisierung von Wis‐ senschaft • Die Geschichte der For‐ schung • Auswirkungen und Nutzen einer Entdeckung • Riferimenti diretti all’esperi‐ enza dell’interlocutore • Rhetorik der Wichtigkeit • Erklärung durch Vergleiche mit Alltagserfahrungen und Alltagsvorstellungen • Exemplifications • Esemplificazione • Riferimenti diretti all’esperi‐ enza dell’interlocutore • Metaphern in der Wissen‐ schaftsberichterstattung • Metaphors • Metafore, similitudini Tab. I.3.7: Verfahren zur Wissensvermittlung im Vergleich 171 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="172"?> 234 Vgl. auch Oksaar (1989: 224; Hervorhebung A.A.): „Da die Rechtssprache nie nur in Fachkreisen allein gebraucht wird - es sei nur an die Gesetze, an das Rechtsver‐ fahren und an den Rechtsspruch erinnert, an Schriftstücke an den Bürger: Bescheide, Vorladungen, an Beratungsgespräche und an Gerichtsreportagen - muß sie häufig in einer Synthese mit der Alltagssprache verwendet werden oder in diese übersetzt werden“. Vgl. ferner Hansen-Schirra/ Neumann (2004: 168; Hervorhebung A.A.), die die Pressemitteilungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts untersuchen und dabei darauf hinweisen, dass diese „als eine Art intralinguale Übersetzung der juristischen Fachtexte [dienen] für Interessierte ohne juristische Ausbildung“. Preite spricht dabei von einer Art ‚vereinfachter Neuübersetzung des Ausgangsdiskurses, der zwar nicht buchstäblich zitiert wird, von dem man aber nicht absehen kann‘: „una sorta di ritraduzione semplificata di un discorso-fonte che non viene citato testualmente, ma dal quale non si può prescindere“ (Preite 2012: 175). Vgl. schließlich Gotti (2012: 148): „divulgazione come traduzione“ (d. h. Wissensvermittlung als Übersetzung). Sowohl die Untersuchungen, die auf die Naturwissenschaften bezogen sind, als auch die Analysen über Recht und Verwaltung heben den Prozess der Rekontextualisierung (vgl. Calsamiglia/ Van Dijk 2004: 370) hervor, der die popularisierende Wissensvermittlung prägt. Die Rekontextualisierung betrifft in erster Linie die Interaktionsteilnehmer, ihre Wissensbestände sowie ihre kommunikativen Zwecke, versteht sich aber zugleich auch als Änderung der medialen Bedingungen der kommunikativen Interaktion. Im Allgemeinen handelt es sich bei Textoptimierung im Sinne von Text- und Medienkombinationen darum, dass man intralinguale Übersetzungen vor‐ nimmt und dabei der Relation zwischen Textsorten bzw. den Textvernetzungen große Bedeutung einräumt. Es geht darum, ‚laientaugliche Übersetzungen‘ und Erklärungen anzufertigen, oder allgemeiner: Für verschiedene Adressatengruppen auch verschiedene Texte zu verfassen, die anderen Voraussetzungen, Interessen, Bedürfnissen und Erwartungen möglichst gut angepasst sind (vgl. auch Nussbaumer 2016b; Adamzik 2016a). Zugleich sind die je‐ weilige Textfunktion und der situative Kontext zu berücksichtigen (Adamzik/ Alghisi 2017: 43; Hervorhebungen A.A.). 234 Im Mittelpunkt steht die Translation der Inhalte eines Bezugstextes in einen oder mehrere Sekundärtexte, die die Merkmale der Hauptadressaten und des Mediums berücksichtigen. Damit geht häufig eine Änderung der Textfunkti‐ onen von Primär- und Zieltexten einher. Beim Verständlich-Machen können verschiedene sekundäre Akteure in‐ tervenieren, die als Vermittler fungieren. Ihrer Rolle im Rechtsbereich misst Nussbaumer große Bedeutung bei. Deren Beitrag in Richtung eines besseren Verständnisses der Rechtssprache betont er nachdrücklich an verschiedenen Stellen: 172 3 Bürgernähe <?page no="173"?> 235 Zum Vermittlungskonzept gehöre auch die Forderung, dass der Adressat mit dem Wissen um das versehen werden müsse, „was man in einem Gesetzestext finden kann und was nicht“ (Nussbaumer 2004: 295). Überdies gehe es dabei um das Bewusstsein darüber, „dass man in einem Gesetzestext eben nicht einfach die Antwort auf die Rechts‐ frage findet, die einen gerade umtreibt“ (ebd.). Wie wichtig die Vermittlungsfunktion ist, betont Nussbaumer auch in seinen Überlegungen zum Thema Gesetze in Leichter Sprache (vgl. I.3.2). Sein Standpunkt lässt sich durch einen sich im Abstract befindenden Satz gut zusammenfassen: „[Der Beitrag] zeigt die Grenzen einer Übersetzung von Gesetzen in LS auf und plädiert dafür, statt Gesetze in LS besser Texte in LS über Gesetze zur Verfügung zu stellen“ (Nussbaumer 2016b: 99; Kursiv im Original gelöscht). Vgl. auch Nussbaumer (2017: 351): „Wünschbar […] wären Texte in leichter Sprache über Gesetze“. Dringender als die Verständlichkeit der Rechtstexte ist das Verständlich-Machen des Rechts, und weit wichtiger als die Allgemeinverständlichkeit von Gesetzestexten ist die Verbesserung der Verständigung im Rechtsbereich, in der Rechtsauskunft, beim Anwalt, vor Gericht. […] Ein Gesetz für Nicht-Juristen neben einem für Juristen ist nicht sinnvoll, sinnvoll aber sind Texte und Instanzen, die zwischen dem Gesetz und seinen nichtjuristischen Benutzern vermitteln (Nussbaumer 1995: 95 ff.). Die Diskussionen um die Adressaten kennen selten mehr als das Traumpaar von der Expertin und dem Laien; dabei gibt es doch noch einige Leute dazwischen. Und vergessen geht, was heutzutage immer wichtiger wird, die Arbeit der Vermittlung und der Vermittler (Nussbaumer 2004: 295). 235 Bei den Vermittlern von Recht handelt sich es sich um verschiedenartige Akteure, nämlich private Rechtsberater, Angestellte von Verbänden und Interes‐ senorganisationen, aber auch um Journalisten und natürlich um Verwaltungs‐ angestellte (vgl. Nussbaumer 2007b: 51). In diesem Kontext kommt die Vermitt‐ lungsfunktion moderner Verwaltungen erneut in den Fokus (vgl. I.1.2.1.3). Zur Bewältigung ihrer Aufgaben machen diese heute massiv von digitalen Medien bzw. Onlinemedien Gebrauch. 3.5.2 Digitalisierung Der unbestimmte Begriff Onlinemedium gehört selbstverständlich in den Rahmen der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologie Internet, deren erste Entwicklungen auf die Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück‐ gehen. Zu den bekanntesten und bedeutendsten Diensten, Funktionen bzw. Modi (vgl. Gassner 2012: 410), die das Internet bietet, gehört natürlich die Hypertextplattform World Wide Web (WWW). Diese wurde in den 1990er Jahren von Tim Berners-Lee und Robert Caillau an dem in Genf ansässigen Kern‐ 173 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="174"?> 236 Es gibt heute auch die Ausdrücke Web 3.0 und Web 4.0, die Weiterentwicklungen von Web 2.0 bezeichnen sollten. Der Begriff Web 3.0, der 2006 vom Web-Designer Jeffrey Zeldman eingeführt wurde, ist unter den Spezialisten umstritten und scheint allgemeinsprachlich (noch) ungewöhnlich zu sein. Vgl. http: / / www.treccani.it/ enciclo pedia/ web-3-0_%28Lessico-del-XXI-Secolo%29/ ; 02.05.2017. Dasselbe gilt für das Wort Web 4.0, das eine Prägung letzter Zeit (Ende der 2010er Jahre) ist und sich auf Phänomene wie Internet of Things and Augmented Reality beziehen soll. 237 Vgl. dazu auch Biffi (2016: 13; Hervorhebung im Original): „Col tempo è cambiata […] la modalità di interazione con il Web da parte dei frequentatori della Rete: i contenuti non sono più soltanto subiti, ma ogni utente contribuisce a crearli e a modificarli, con un’interazione continua, che si realizza in ogni angolo virtuale, all’interno di quella che sempre più appare come una vera e propria comunità. E l’elemento costitutivo fondante di questa comunità è rappresentato proprio dalla partecipazione alla gestione globale dei contenuti della Rete, dalla socialità digitale e (digitata). Molti hanno definito questa cornice come la duepuntozerità, appoggiandosi al concetto di Web 2.0, vale a dire la filosofia web basata sull’interazione in Rete, che ha avuto ampio sviluppo a partire dal 2004 e che è concretamente riconducibile a tutti i generi del Web o applicazioni/ piattaforme che si fondano su un elevato livello di interazione: blog, forum, chat, piattaforme wiki, Facebook, Twitter, Flickr, YouTube ecc.“. forschungszentrum CERN entwickelt und basiert auf der Hypertext Markup Language (HTML). Heute sind die anderen Internet-Modi (wie etwa E-Mail, Chat, Foren, …) in der Regel in das WWW integriert, „so daß […] häufig ‚Internet‘ und ‚WWW‘ synonym verwendet werden“ (Gassner 2012: 410). Schlagwort unserer Zeit ist der Ausdruck Web 2.0, der auf den Begriff Web 1.0 verweist bzw. ihm gegenübersteht. Unter der Bezeichnung, die ab 2004 gängig wurde, versteht man alle technischen Neuerungen, Applikationen und Veröffentlichungsformen, die die Interaktion Website-User erleichtern und höhere Gestaltungs- und Kommunikationsmöglichkeiten für den Benutzer eröffnen: 236 [L’espressione] viene attribuita a tutte le applicazioni che facilitano l’interazione sitoutente rispetto al Web I.0 […] A partire dal 2004, l’etichetta ‚2.0‘ è diventata popolare, grazie soprattutto all’opera del giornalista John Battelle e dell’editore Tim O’Reilly, per descrivere tutta una serie di innovazioni comunicative e interattive, dai blog ai wiki (Tavosanis 2011: 69). 237 Zu den wichtigsten Eigenschaften des Internets zählen Multimedialität, Vernet‐ zung von Daten und Menschen und Interaktivität (vgl. Gassner 2012: 410 f.). Multimedialität heißt auf der einen Seite Multicodalität: Das Internet, v. a. das WWW, kann für die Übermittlung aller digitalen Codes genutzt werden, wodurch es zu Wechselwirkungen zwischen den Codes kommen kann, die sich gegenseitig unterstützen, verstärken, aber auch behindern können (Gassner 2012: 411). 174 3 Bürgernähe <?page no="175"?> 238 Hierzu ist zu bemerken, dass Begriffe wie Multimedialität und Multimodalität eher unscharf sind und je nach Autor, Kontext und Disziplin verschieden verstanden werden. Anders als Gassner definiert z. B. Bucher (2007: 53) Multimodalität als „de[n] Gebrauch und die Kombination verschiedener semiotischer Modi - Sprache, Design, Fotos, Film, Farbe, Geruch etc. -, wobei die verschiedenen Modi sich gegenseitig verstärken oder ergänzen können oder aber hierarchisch geordnet sind“. Für eine ausführliche Behandlung der verschiedenen Bedeutungsnuancierungen, die mit den in Fragen stehenden Ausdrücken einhergehen können, vgl. Adamzik (2016c). Auf der anderen Seite bezieht sich der Begriff Multimedialität auf die Tatsache, dass die Grenzen zwischen den traditionellen Medien (Zeitung, Fernsehen, Brief, Radio …), die bisher getrennt verwendet wurden, im WWW verschwimmen: Zum einen gibt es online verschiedene Nutzungsformen, die dem traditionellen Zeitungslesen, Fernsehen oder Briefeschreiben ähneln; zum anderen umfaßt das Internet auch Angebote von Zeitungsverlagen und Rundfunkanstalten parallel zu den klassischen Distributionswegen (Gassner 2012: 413). In diesem Zusammenhang kann man von Multimodalität und Medienkon‐ vergenz sprechen, wobei sich Internet als Hyper-Medium heraushebt (vgl. Gassner 2012: 413). 238 Das Merkmal Vernetzung bezeichnet sowohl die Verbindung der Kommuni‐ kate miteinander als auch die Verknüpfung der Menschen im global village sowie die damit zusammenhängende Herausbildung von communities. Bei dem ersten Punkt steht das Hypertext-Prinzip im Mittelpunkt. In linguistischer Perspektive sind Hypertexte nicht-linear organisierte Texte, die durch Computertechnik verwaltet werden (Storrer 2008: 318; Hervorhebungen im Original gelöscht). Nicht-Linearität und Computerverwaltung zeichnen sich als Bestimmungs‐ merkmale des Konzepts aus. In jedem Hypertext sind Daten auf mehrere Module (Seiten) verteilt, die durch im Computer gespeicherte Verknüpfungen (Links) miteinander verbunden sein können. In diesem Kontext sind Modularisierung und Verlinkung „die grundlegenden Operationen“, die die Hypertextrhetorik im Hypertext-System kennzeichnen (vgl. Gassner 2012: 415). Hypertexte er‐ weisen sich also als Netzwerke „von mehrfach durch Links untereinander verknüpften Modulen“ (Storrer 2008: 319). Mittels Links verknüpft sind auch sogenannte E-Texte. Damit bezeichnet Storrer (2008) Texte, die zwar im WWW online publiziert sind, ansonsten aber linear organisiert sind, d. h. einen eindeutigen Anfang und ein eindeutiges Ende haben und dafür gedacht sind, vom Anfang bis zum Ende gelesen zu werden. E-Texte sind häufig Parallel- oder 175 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="176"?> 239 Vgl. dazu auch Storrer (2008: 326): „In typischen Hypertexten kann es zwar eine Startseite geben, die den Ausgangspunkt der Rezeption bildet, ansonsten bleibt es den Nutzern überlassen, welche Links sie aktivieren und welche Pfade sie durch das modulare Informationsangebot wählen. […] Und es ist […] gar nicht der Sinn von Hypertexten, dass sie vollständig rezipiert werden - vielmehr unterstützt die nicht-lineare Organisationsform genau die punktuelle und selektive Lektüre einzelner Module im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung“. Vorversionen von Print-Publikationen, die vor allem die schnelle und unkomplizierte Publikationsmöglichkeit des Internets nutzen (Storrer 2008: 323). Bei der Unterscheidung zwischen Hypertexten und E-Texten spielt die Rezept‐ ionsfreiheit eine wichtige Rolle. D.h. die Freiheit des Rezipienten, den eigenen ‚Lese-Weg‘ zu bestimmen. Damit kommen wir zur dritten Eigenschaft des Internets, nämlich der Interaktivität. Interaktivität bezieht sich in erster Linie auf die Interaktion zwischen Mensch und Computer bzw. auf die Tatsache, dass der Leser - stärker als bei ‚alten‘ Medien - auf die Reihenfolge, die Dauer und das Tempo der Lektüre Einfluß nehmen kann (Gassner 2012: 418). Der Leser selbst steuert also den Rezeptionsverlauf und kann nach seinen Wünschen und Interessen entscheiden, welche Module bzw. Seiten er in welcher Reihenfolge abrufen möchte. Dabei geht es also um selektive Lektüre und um die gezielte Suche nach Informationen, wobei der Nutzer durch Such- und Navigationssoftware unterstützt wird. 239 Überdies betrifft Interaktivität die Tatsache, dass der Reaktion der Nutzer auf die Massenkommunikation immer größere Aufmerksamkeit geschenkt wird („Interaktivität als ‚Rückkanal‘“; vgl. Gassner 2012: 419; Hervorhebungen im Original gelöscht), bis man sogar zu einer „Umkehrung des Sender/ Empfänger-Verhältnisses“ kommt (vgl. ebd.). Dies bedeutet, dass Internetnutzer zwar Texte lesen, aber auch Kommentare zu diesen Texten schreiben und selbst die verschiedenen Texten miteinander verlinken. Natürlich verweist Interaktivität schließlich auch auf die Kommu‐ nikation zwischen Menschen mit Hilfe des Computers, die die technischen Entwicklungen der letzten Jahre schneller und effizienter gemacht haben. Der immer stärker interaktive Charakter von Internet wirft neue Fragen auf, die die Kohärenzherstellung bei der Produktion und Rezeption von Webseiten betreffen. Ihn müssen Versuche zur optimalen Gestaltung der Hypertexte berücksichtigen: 176 3 Bürgernähe <?page no="177"?> 240 Vgl. Bucher (2007: 74): „Nicht-lineare Kommunikationsformen erweitern […] das Verstehensproblem. Neben der Frage nach der Art des Zusammenhangs zwischen Kommunikationseinheiten konfrontieren sie sowohl die Rezipienten als auch die Produzenten zusätzlich mit der Frage, wo überhaupt Zusammenhänge hergestellt werden sollen“. 241 Man berücksichtigt also, dass „in einem Textnetz […] die Nutzenden stimmige An‐ schlüsse in allen denkbaren Abfolgen der Teile [erwarten], mit kaum vorhersehbaren Auswirkungen auf die Veränderungen des Vorwissens“ (Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 650). Die Anforderung bei der Hypertextproduktion besteht […] darin, die Inhalte in den Modulen sprachlich und inhaltlich so modular abzuhandeln, dass sie potentiell in verschiedene Lesepfade integrierbar sind (Storrer 2008: 327). 240 In diesem Kontext erweist sich Textoptimierung in erster Linie als Frage der Usability (vgl. Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 648 f.), eines Begriffs, der sich von Verständlichkeit im engeren Sinn unterscheidet und in Zeiten der Informations‐ flut besonders relevant ist. Dabei trägt man der Tatsache Rechnung: dass bei Onlinetexten von einem speziellen Verständnis von Textoptimierung ausge‐ gangen werden muss: Optimierung nicht nur im Hinblick auf ein besseres Verständnis des Textes, sondern zuerst einmal in Bezug auf mediale und technische Rahmenbe‐ dingungen der Rezeption (Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 649). 241 Usability verweist somit grundsätzlich auf die „Benutzungs- und Kommunika‐ tionsqualität einer Website“ (Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 650). Mit Blick auf dieses Merkmal weisen Antos/ Hasler/ Perrin auf zwei Optimierungskriterien hin: Scanbarkeit und Auffindbarkeit. Scanbarkeit bezieht sich auf das Wort scannen - d. h. flüchtiges Lesen. Der Begriff wurde von J. Nielsen, einem der ersten Usability-Forscher, in den 1990er Jahren eingeführt. Gut scanbare Texte sind gemäß Nielsen optisch so strukturiert, dass die wichtigen Elemente des Textes als Eyecatcher dem überfliegenden Leser die entscheidenden Informationen liefern, damit er sich packen lässt und in den Text einsteigt, d. h. zu lesen beginnt (Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 651). Bei der Scanbarkeit eines Webtextes spielen Elemente wie „Navigationsleisten, Linksystem, Seitenarchitektur, Textsortenmarkierung, Farbgebung, multimo‐ 177 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="178"?> 242 Bucher (2007) ordnet diese Elemente einer operationalen Dimension zu, die sich von einer textlichen Dimension unterscheidet und in der „ein Zeichensystem aus Über‐ schriften, Orientierungstexten, Logos, Verweisen, Beitragsankündigungen, Inhaltsver‐ zeichnissen, Frames, Links, Buttons, Typografie oder Navigationsleisten für die Kohä‐ renzsicherung non-linearer Kommunikationsangebote sorgen sollen [sic]“ (Bucher 2007: 61). 243 Vgl. auch Doretto/ Ursini (2004: 297; Hervorhebungen im Original): „[N]ella scelta delle parole che compongono un titolo o un link si deve considerare il ruolo informativo e di indirizzo che questi ‚microcontenuti‘ rivestono: nel Web il paratesto viene prima del testo“. dales Zusammenspiel etc.“ (ebd.: 650) eine wichtige Rolle. 242 Mit den Worten von Tavosanis (2011: 64): nel web svolgono un ruolo importante i microcontenuti, i quali spesso rientrano in veri e propri microgeneri. Voci di menu, titoli di pagine, bottoni per la navigazione sul sito e così via, sono tutti oggetti importanti dal punto di vista del lettore. 243 Solche Elemente werden häufig gewissen rhetorischen Strategien unterge‐ ordnet, die auch in Leitfäden zur ‚Netiquette‘ bzw. Ratgebern zur Gestaltung von WWW-Seiten zu finden sind. Die Strategien sind zwar mit den technischen Merkmalen des Internets verbunden (Bildschirm, Verfügbarkeit über eine ex‐ trem große Datenmenge …), entsprechen zugleich den traditionellen Prinzipien aus der Rhetorik brevitas, perspicuitas, dispositio, attentum parare: Zu den wichtigsten Strategien gehören: (1) Kürze: Aufgrund der schlechteren Les‐ barkeit am Bildschirm und der geringeren Aufmerksamkeit des Rezipienten wird empfohlen, daß Texte im Web nur halb so lang sein sollten wie gedruckte Texte. (2) Übersichtlichkeit: Um sich im vielbeschworenen Informationsdschungel nicht zu verirren, muß der Nutzer Angaben zur Navigationsebene erhalten. 3) Aufmerk‐ samkeitsgewinnung: Angesichts knapper Zeitressourcen ist die Aufmerksamkeit der Nutzer die wichtigste Währung im Internet, weshalb die Produzenten die ‚Aufmerk‐ samkeitsgesetze‘ beachten sollten [Wirth 2004: 145 ff.] (Gassner 2012: 415). Die verschiedenen Gestaltungsmittel - besonders die Links - lassen sich vernünftig miteinander kombinieren und in den Dienst der Wissensvermittlung stellen: Das zusätzliche Gestaltungsmittel ‚Link‘ kann sogar einen Vorteil bieten: Mit einem Hypertext kann die Heterogenität des Lesepublikums, etwa ein unterschiedlicher Wissensstand, aufgefangen werden, da der Hypertext sowohl einen groben Überblick 178 3 Bürgernähe <?page no="179"?> 244 Vgl. auch Doretto/ Ursini (2004: 288 ff.): „Da questo punto di vista una delle maggiori potenzialità dell’ipertesto è quella di poter realizzare una sintesi tra il livello sintag‐ matico e quello paradigmatico […] attraverso la visibilità che l’ipertesto offre, con l’interfaccia, del suo lato paradigmatico, ovvero dei legami intrae intertestuali. […] Le potenzialità dell’ipertesto […] consentono di pubblicare testi concisi senza rinunciare agli approfondimenti“. 245 Vgl. Doretto/ Ursini (2004: 293; Hervorhebungen im Original): „ [P]er uno scrittore del Web, quello che viene chiamato design della pagina risulta cruciale ai fini della comprensione. […] nel Web oltre ad essere funzione degli scopi di lettura e di attenzi‐ onalità, il design esplicita le modalità di interazione e determina la fruizione della base informativa“. über ein Thema bietet als auch, mit Hilfe von Links, vertiefte Informationen (Gassner 2012: 418; Hervorhebungen A.A.). 244 Dabei ist zu bemerken, dass die Qualität und Adäquatheit des Webdesigns nicht nur mit Blick auf das Angemessenheitspostulat wichtig ist, sondern dass sie zugleich zur Förderung der Glaubwürdigkeit des Emittenten und zum Vertrauensschaffen beiträgt. Den Beitrag von Design bzw. Textdesign zur Usability betont auch Bucher, der seine Überlegungen überwiegend auf eine andere Form nicht linearer Kommunikation bezieht, die Zeitung. Mit Bezug auf den Hypertext merkt der Autor an: Textdesign [kann] als Ressource verstanden werden, die Verfahren für die operatio‐ nale Ebene bereitstellt, also die Erschließbarkeit von Hypertexten sicherstellt. […] Textdesign - oder weiter gefasst: Kommunikationsdesign - kann verstanden werden, als Mittel zur Gestaltung der operationalen Ebene (Bucher 2007: 61 und 72 f.). 245 Das Kriterium Auffindbarkeit ist hingegen mit Suchmaschinen verbunden und hat es damit zu tun, inwiefern bzw. wie einfach Internet-Seiten im Netz gefunden werden (können). Diesbezüglich merken Antos/ Hasler/ Perrin an, dass sich die Optimierung, die im Zusammenhang mit der Verwendung von Suchmaschinen (Suchmaschinenoptimierung, SEO) steht, stark auf den Stil eines Webauftritts auswirken kann: [D]ies [SEO] greift ebenso stark in die Textgestaltung ein wie das Kriterium der Scanbarkeit - wenn auch weniger in die Struktur als mehr in den stilistischen Bereich (Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 652). Zugleich weisen die Autoren auf das enge Zusammenspiel hin zwischen Auf‐ findbarkeit und Scanbarkeit: 179 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="180"?> 246 An diesem Thema scheiden sich allerdings die Meinungen. Eine andere Perspektive nimmt etwa Holly (2020) ein, der den Akzent auf die „Kosten“ der Hypertexte (vgl. ebd.: 189) legt bzw. auf die Tatsache, dass die Verständlichkeitsfrage infolge der Digitalisierung eigentlich komplexer geworden ist: „Verschärft wird die Problematik noch unter den aktuellen Bedingungen der Digitalisierung, die de facto dazu führt, dass der betroffene Laie - trotz einer angeblichen Interaktivität seines Computers - sich allein mit einer Maschine herumschlagen muss, die kaum in der Lage ist, sich auf das jeweils vorliegende Kommunikationsdefizit einzustellen, zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen auf beiden Seiten und noch einmal auf Seiten eines höchst diversen und situativ breit gefächerten Nutzerspektrums selbst“ (Holly 2020: 183). Vgl. auch Bucher (2007: 74; siehe Anmerkung 240 dieser Arbeit). 247 Tavosanis merkt etwa an, dass sich das flüchtige Lesen tendenziell auf die Syntax und die Textstruktur bzw. -grammatik in Richtung einer Simplifizierung auswirken wird: „Non è illogico supporre che questa modalità di lettura, la cui diffusione è ampiamente confermata dall’esperienza personale, abbia effetti significativi sul modo in cui le persone si rapportano al linguaggio. Se gli utenti leggono parole chiave estrapolate dal contesto, i legami sintattici avranno verosimilmente un ruolo meno importante nella lettura […]. Se leggono frasi estrapolate dal contesto, l’articolazione logica del discorso avrà un ruolo meno importante nella presentazione delle informazioni“ (Tavosanis 2011: 227 f.). Vgl. auch: „Il web sembra […] il punto d’arrivo di un percorso in cui, finalmente, le informazioni possono essere liberate dai rapporti grammaticali e retorici che le tengono ‚legate‘ all’interno di un testo; i link e i motori di ricerca permettono di prelevare frammenti e disinteressarsi dell’assieme“ (ebd.: 232). Ziel der onlinegerechten Optimierung ist ja, dass User erstens die Seite überhaupt finden, d. h. anklicken, und zweitens, dass sie die Informationen auf der Seite lesen. Konkret bedeutet das, dass auf einer beliebigen Seite einer Website der Zusam‐ menhang zwischen Inhalt und möglichem Suchwort, mit dem die Seite gefunden wurde, auf Anhieb ersichtlich sein muss, damit Besucher sich überhaupt auf die Seite einlassen, d. h., die Kriterien der Auffindbarkeit und Scanbarkeit bedingen einander aufs Engste (Antos/ Hasler/ Perrin 2011: 652). 3.5.3 E-Government Besonders wenn ‚vernünftig‘ bzw. ‚optimiert‘ aufbereitet, können Webseiten eine wichtige Vermittlungsfunktion im Rechtswesen und in der Verwaltung ausüben: Mittels Webauftritten lassen sich Informationen und Inhalte leichter in die Wahrnehmungs-, Rezeptions- und Verstehensreichweite der Adressaten bringen (vgl. I.3.1). 246 Die Eigenschaften des Mediums Internet schlagen sich in der im Web verwendeten Sprache nieder, die sich zunehmend durch einen „graphischen Stil“ (vgl. Adamzik 1995a) auszeichnet. Das scheint allgemein eine Vereinfachung der Lexik und der Syntax zu bewirken. Die Art und Weise, wie Web-Nutzer ihre Rezeptionsleistung gestalten, beeinflusst also die Entwick‐ lungen der Sprache im Allgemeinen bzw. im Sinne eines Sprachwandels. 247 In 180 3 Bürgernähe <?page no="181"?> 248 Vgl. auch Lala (2014: 240): „Ultimamente, però, l’avvento delle nuove tecnologie legate ad Internet, permettendo la nascita e la diffusione di nuove forme di comunicazione e instaurando nuove regole e pratiche scrittorie, sembra aver dato un impulso in questo senso [d. h.: semplificazione del linguaggio amministrativo]“. 249 Aus jüngsten Studien hat sich ergeben, dass die Schweizer Bevölkerung in den letzten Jahren im Kontakt mit den Behörden immer häufiger auf elektronische Kanäle zurück‐ greift (vgl. eGovernment Monitor 2018; vgl. auch https: / / www.admin.ch/ gov/ de/ start/ d okumentation/ medienmitteilungen.msg-id-72763.html; 21.01.2020). 250 Vgl. http: / / www.oecd.org/ gov/ digital-government/ ; 20.01.2020. dieser Hinsicht soll das Web einen Beitrag zu einer besseren, im Sinne einer dem Durchschnittsbürger angemesseneren Rechts- und Verwaltungssprache leisten: I richiami alla semplicità rivolti alla Pubblica Amministrazione contro l’oscurità del linguaggio burocratico sembrano trovare un alleato proprio nel World Wide Web. Per le sue caratteristiche intrinseche infatti, la Rete richiede innanzitutto semplicità del lessico e della sintassi (Doretto/ Ursini 2004: 294; Kursiv im Original; Fettdruck A.A.). 248 Gleichzeitig erhöhen die Webtechnologien die Kontaktmöglichkeiten zwischen Institutionen und Bürgern und sie erleichtern den Austausch unter den Ak‐ teursgruppen. Insofern trägt die Webinfrastruktur zur Verbesserung des Bezie‐ hungsaspekts im Bereich Recht und Verwaltung bei, indem sie die Akteure ‚einander annähert‘ (vgl. I.3.1): Lo sviluppo delle reti telematiche […] rappresenta […] una opportunità di notevole valore per migliorare il rapporto con l’istituzione: la dimensione interattiva della rete rafforza i principi di dialogicità della comunicazione (Doretto/ Ursini 2004: 285 f.; Hervorhebung A.A.). 249 In diesen Zusammenhang gehört das sogenannte Digital Government oder E-Government. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das sich Ende der 1990er Jahre abgezeichnet und besonders ab der zweiten Hälfte der 2000er Jahre verstärkt hat. Laut der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) beschäftigt sich („explores“) das Digital Government damit, how governments can best use information and communication technologies (ICTs) to embrace good government principles and achieve policy goals. 250 Bei dem Digital Government oder E-Government geht es darum, wie digitale Technologien am besten ausgenutzt werden, damit sie die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit eines Staates unterstützen können. Dabei handelt es sich zum einen um die Ausbreitung von Behördenleistungen in digitalen Medien, zum anderen um die elektronische Abwicklung des Geschäftsverkehrs der 181 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="182"?> 251 Vgl. http: / / www.oecd.org/ gov/ digital-government/ open-government-data.htm; 20.01.2020. Behörden mit den Bügern (Government-to-Citizen, G2C), den Unternehmen (Government-to-Business, G2B) und mit den anderen Behörden (Government-to- Government, G2G). Stichwort ist in diesem Kontext das besonders im Rahmen des NPM zentrale Prinzip der Effizienz (vgl. I.3.1). D.h. man versucht einerseits, behördliche Dienstleistungen hoher Qualität anzubieten; andererseits bemüht man sich um administrative Entlastung bzw. darum, mithilfe von Digitalisierung Kosten abzubauen und Ressourcen sowie Prozesse zu rationalisieren. Ziel ist es, den Bedürfnissen des Bürgers entgegenzukommen, ohne dass dies einen großen Aufwand - verstanden als Zeit- und Geldinvestition sowie psychologische Belastung - für den Bürger mit sich bringt. Dabei wird „auf eine erhöhte Zufriedenheit mit dem Staat und seinen Dienstleistungen abgezielt“ (Alghisi 2018: 187). Mit E-Government eng verbunden ist der weit umfassendere Begriff Open Government. Im Mittelpunkt steht hier die Bereitstellung und Zugänglich‐ keit behördlicher Daten und Inhalte, was mit Blick auf die Tätigkeit von Regierungen und Verwaltungen für Rechenschaft und im Allgemeinen für Transparenz sorgen sollte. Dabei steckt das Gebot der Bürgernähe den allge‐ meinen Rahmen (vgl. I.3.1). Man vergleiche die Seite der OECD: What is Open Government Data? Open Government Data (OGD) is a philosophyand increasingly a set of policies - that promotes transparency, accountability and value creation by making government data available to all. Public bodies produce and commission huge quantities of data and information. By making their datasets available, public institutions become more transparent and accountable to citizens. By encouraging the use, reuse and free distribution of datasets, governments promote business creation and innovative, citizen-centric services (Hervorhebungen im Original gelöscht). 251 E- und Open Government entsprechen verschiedenen Schwerpunktsetzungen: Während bei E-Government das Mittel im Vordergrund steht - d. h. Vernetzungs‐ technologien, die bei Interaktionen zwischen Behörden und Bevölkerung Effizienz‐ gewinne ermöglichen - liegt bei Open-Government der Akzent auf dem Zweck. Letzterer schlägt sich im Anliegen der Regierung und der Verwaltung nieder, ‚sich gegenüber der Bevölkerung und der Wirtschaft [zu] öffnen‘ (Stürmer/ Myrach 2016: 214). Insofern bezeichnet Open Government ein aktives Vorgehen des Staates, der mittels Internetanwendungen der Allgemeinheit Datenbestände und Dokumente des öffentlichen Sektors […] frei zugänglich macht. Durch die Anwendung digitaler 182 3 Bürgernähe <?page no="183"?> 252 Man spricht heute dabei auch von E-Privacy. Vgl.: http: / / www.europarl.europa.eu/ new s/ de/ news-room/ 20170407STO70799/ e-privacy-besserer-schutz-der-privatsph%C3%A4 Technologien trägt somit dieses Konzept zur Umsetzung der Public Governance bei, wonach der Staat ‚durch nichthierarchische, kooperative und horizontale Formen gesellschaftlicher Selbststeuerung funktioniert‘ (Stürmer/ Myrach 2016: 214) (Alghisi 2018: 188 f.; Hervorhebungen im Original). Ein anderer Begriff, der in diesem Kontext relevant ist und mit Ebzw. Open Government eng zusammenhängt bzw. sich teilweise überschneidet, ist E-De‐ mocracy. E-Democracy bezieht sich auf die Anwendung der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) auf die demokratischen Prozesse. Ziel ist es, die aktive Teilnahme der Bürger an Entscheidungsvorgängen bzw. an dem policy making zu fördern: Con e-democracy o ‚democrazia digitale‘ […] si intende […] l’applicazione delle ICT ai processi democratici, allo scopo di implementare e rafforzare la partecipazione attiva dei cittadini ai processi di policy making. In questo caso, e-democracy può significare l’insieme di tutte le modalità digitali con le quali i cittadini possono far sentire la propria voce ai governanti e agli attori politici: la rete, quindi, apre nuove opportunità di espressione e di mobilitazione per i gruppi di opposizione (Sorice 2015; Hervorhebungen im Original). E-Democracy ist also eher auf die Partizipation der Bürger am politischen Leben bezogen, die freiwillig und spontan erfolgt; E-Government bezeichnet hingegen Top-Down-Aktionen, die die Ausübung der mit der Bürgerschaft verbundenen Rechte ermöglichen. Ein typisches Beispiel sind in diesem letzten Fall die Internet-Plattformen, die heute für das E-Voting zur Verfügung stehen: Mentre l’e-democracy fornisce canali di comunicazione, scambio e partecipazione a soggetti che si attivano in modo volontario e spontaneo, l’e-government fornisce, invece, secondo una logica top-down, input specifici promossi dalle amministrazioni e funzionali all’ottimizzazione delle attività di ‚cittadinanza‘. Una buona applicazione delle forme di e-government (e meglio ancora di open government, con espressione più estensiva) può costituire un punto di partenza necessario per implementare e promuovere forme di democrazia digitale; al tempo stesso, tuttavia, i due processi sono distinti (Sorice 2015; Hervorhebungen im Original). Die (erfolgreiche) Umsetzung von E- und Open Government-Strategien sowie von E-Democracy hängt von vielen Faktoren ab und wirft eine Reihe rechtlicher Probleme auf. Dazu gehören Fragen der Datensicherheit und des Daten‐ schutzes. 252 Damit man sich mit solchen Problemen angemessen auseinander‐ 183 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="184"?> re-f%C3%BCr-die-elektronische-kommunikation; 20.01.2020. Im September 2019 wurde in der Schweiz ein Gesetz zur elektronischen Identität verabschiedet, das die Themen‐ bereiche Sicherheit von Daten und Persönlichkeitsrechte regelt. (s. Bundesgesetz über elektronische Identifizierungsdienste, E-ID-Gesetz; vgl. https: / / www.bj.admin.ch/ bj/ de/ h ome/ staat/ gesetzgebung/ e-id.html; 20.01.2020). 253 Vgl. http: / / reports.weforum.org/ global-information-technology-report-2016/ ; 20.01.2020. setzen kann und damit E-Government funktional wirkt, ist es u. a. nötig, dass gewisse (technische) Bedingungen erfüllt werden. In diesem Kontext ist häufig von digital divide (digitale Kluft) die Rede. Darunter werden Unterschiede zwi‐ schen verschiedenen Bevölkerungsgruppen verstanden, in Hinblick sowohl auf den Zugang zu und die Nutzung von Informations- und Kommunikationstech‐ nologie als auch mit Blick auf die damit verbundenen erforderlichen Kenntnisse. In Frage kommen regionale, nationale und internationale Differenzen: L’efficacia nel grado di soddisfacimento delle necessità di cittadini e aziende è fortemente influenzata anche dal grado di digital divide […]. Questa espressione indica sia l’esclusione di cittadini e imprese dall’accesso a una connessione internet in grado di garantire determinati standard di velocità e affidabilità (latenza, qualità del servizio), sia il possesso, da parte degli utenti finali, delle conoscenze necessarie a utilizzare apparati di comunicazione fissi (computer) e mobili (smartphones e computer portatili) e il loro grado di competenza nel saper reperire, gestire, valutare e trasferire informazioni via internet (la cosiddetta alfabetizzazione informatica) (Nucciarelli 2012; Hervorhebungen im Original). Um den Stand der IKT eines Landes zu untersuchen, hat das World Economic Forum (WEF) den sogenannten Network Readiness Index (NRI) - d. h. ‚Index der Netzwerkfähigkeit‘ - entwickelt. Dabei geht es um die Einschätzung der Rolle der IKT-Technologien bei der Förderung von Wachstum und Wohlstand einer Nation: the Networked Readiness Index […] assesses the factors, policies and institutions that enable a country to fully leverage information and communication technologies (ICTs) for increased competitiveness and well-being. 253 Berücksichtigt werden hierzu vier Bereiche: Environment subindex (politische, rechtliche und wirtschaftliche Umgebung), Readiness subindex (Bereitschaft verstanden als Kombination von Infrastruktur, Bezahlbarkeit und Kompetenz), Usage subindex (Nutzung in Bevölkerung, Wirtschaft und Verwaltung) sowie Impact subindex (wirtschaftliche und soziale Einflüsse der IKT). Man kann hier von einer Art ‚Digitalisierungsranking‘ sprechen. An der Spitze der 184 3 Bürgernähe <?page no="185"?> 254 Vgl. The Global Information Technology Report 2016, herausgegeben von World Eco‐ nomic Forum (WEF)/ INSEAD/ Johnson Cornell University. Hier ist zu bemerken, dass der Entwicklungsstand bzw. die Wirtschaftskraft eines Landes nicht unbedingt den NRI widerspiegelt. Man vergleiche z. B. die Position Chinas, das sich an der 59. Stelle findet, d. h. nur vier Positionen höher als Sri Lanka (63. Position); oder Italien, das an der 45. Stelle steht (wobei sich das Land im Vergleich zu 2015 um 10 Positionen verbessert hat). 255 Bei den anderen handelt es sich um Finnland, Schweden, Norwegen, Niederlande, Vereinigtes Königreich, Luxembourg und Japan. 256 Vgl. https: / / opendata.swiss/ de/ about/ ; 20.01.2020. Zur Zeit verfügt das Portal über 6996 Datensätze (Stand: 20.01.2020). Rangliste 2016, die aus den Volkswirtschaften von 139 Ländern besteht, findet sich Singapur, während an der letzten Stelle Tschad steht. 254 Im internationalen Vergleich befindet sich die Schweiz auf Rang 7. Wie bei den anderen 10 Spitzenreitern des Digitalisierungsrankings - mit der Ausnahme der Vereinigten Staaten - 255 handelt es sich dabei um ein Land mit relativ kleiner Bevölkerungszahl, großer Verfügbarkeit ökonomischer Ressourcen und hohem Pro-Kopf-Einkommen. Die erste Schweizer Strategie für E-Government geht auf das Jahr 2007 zurück (vgl. auch Adamzik 2016a) und Digital Govern‐ ment ist in der Schweiz seit 2008 auf systematischer Basis in Betrieb (vgl. www.e-government.ch). Seit September 2013 gibt es überdies das Projekt Open Government Data Schweiz, dessen erste Strategie (OGD-Strategie) sich auf die Zeitspanne 2014-2018 erstreckt hat und das im Februar 2016 zur Einrichtung des Portals opendata.swiss geführt hat. Das Portal, das früher vom Schweizerischen Bundesarchiv und mit der Einführung der neuen Strategie (2019-2023) vom Bundesamt für Statistik betrieben wird, enthält unterschiedlichste Datensätze wie beispielsweise Krankenversicherungsprä‐ mien, Bevölkerungsstatistiken, eine Liste aller Bahnhöfe und Haltestellen des öffent‐ lichen Verkehrs oder aktuelle Wetterdaten. 256 Opendata.swiss ist ein Gemeinschaftsprojekt von Bund, Kantonen und Ge‐ meinden. Auf der Zusammenarbeit zwischen den Schweizer politischen Ebenen beruht auch die E-Government-Strategie Schweiz. Im Mittelpunkt steht dabei „einerseits die Berücksichtigung der für die dezentralisierte Staatsstruktur typischen Kompetenzaufteilung; andererseits kommt es auf die Koordination aller politischen Niveaus und die Ausrichtung ihrer Bestrebungen auf gemein‐ same Ziele an“ (Alghisi 2018: 190). Die dritte gemeinsame Schweizer Strategie wurde Ende 2019 vom Bundesrat und den Kantonsregierungen verabschiedet, trat am 01.01.2020 in Kraft und betrifft den Zeitraum 2020-2023. Begleitet wurde sie durch eine neue öffentlich-rechtliche Rahmenvereinbarung, die deren 185 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="186"?> 257 Vgl. https: / / www.easygov.swiss/ easygov/ #/ ; 23.01.2020. 258 Hierzu sei bemerkt, dass die ersten Versuche mit elektronischer Stimmabgabe für die Bundesebene schon auf das Jahr 2004 zurückgehen (vgl. Kuoni 2017). 259 Vgl. https: / / www.arbeit.swiss/ secoalv/ de/ home.html; 23.01.2020. 260 Vgl. https: / / www.egovernment.ch/ de/ umsetzung/ e-government-strategie/ ; 20.01.2020. 261 Vgl. dazu eine Medienmitteilung (MM) der Bundeskanzlei vom 12.01.2015: https: / / www.admin.ch/ gov/ de/ start/ dokumentation/ medienmitteilungen.msg-id-55860.html; 23.01.2020. Umsetzung genau festlegt und die Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen den Behörden beschreibt; ferner gibt es einen neuen Umsetzungsplan. Zu den Projekten, die im Lauf der Jahre in Gang gesetzt wurden, gehören der Betrieb eines Online-Schalters für Unternehmen (EasyGov.swiss), 257 die schweizweite elektronische Umzugsmeldung (eUmzugCH), die Ausbreitung des elektronischen Stimmkanals (Vote électronique) 258 und die Verwaltung des Web‐ portals arbeit.swiss, 259 das sich an Stellensuchende, Arbeitgeber und Arbeitsver‐ mittler richtet. Durch die neue E-Government-Strategie wird darauf abgezielt, den gängigen Wandel hin zur digitalen Verwaltung zu vervollständigen, indem man den elektronischen Kanal zukünftig so attraktiv gestalte, „dass dieser für die Bevölkerung und die Wirtschaft zur ersten Wahl wird“. 260 Dabei lautet das neue Leitmotiv bzw. „Leitbild“ „Digital First“. In diesem Kontext wird zwischen vier Handlungsfeldern unterschieden: Interaktion und Partizipation, Basisdienste und Infrastruktur, Organisation und rechtliche Grundlagen, Vertrauen und Wissen. Diesen entsprechen zwanzig Umsetzungsziele, zu denen u. a. der Ausbau von EasyGov.swiss und die landesweite Ausbreitung von eUmzugCH und E-Voting zählen. Dazu gehört auch die Verbesserung der Nutzerfreundlichkeit bzw. die Vereinfachung des Zugangs zu den elektronischen Behördenleistungen und den behördlichen Informationen für die Bevölkerung, wobei die Aktualisierung und Weiterentwicklung des Portals ch.ch (vgl. www.ch.ch) eine wichtige Rolle spielt. Dabei handelt es sich um ein Behördenportal, das seit 2005 von der Bundeskanzlei betrieben wird. ch.ch ist der „Einstiegspunkt zur offiziellen Schweiz im Web“ (BK: Geschäftsbericht ch.ch 2015: 20) bzw. ihre elektronische Visitenkarte (vgl. Zangger 2010: 96). Wie aus dem Slogan Eine Dienstleistung des Bundes, der Kantone und Gemeinden hervorgeht, übergreift es die drei Schweizer Staatsebenen und gibt in den vier Landessprachen und im Englischen Auskünfte über den Schweizer Staat, seine Behörden sowie über Behördengänge. Das Portal „übernimmt […] die Rolle einer Art Gebrauchsanweisung, die erklärt, welche Leistungen wo zu finden sind“, 261 die also zeigt, wo beispielsweise ein bestimmtes Formular bezogen werden kann. Dabei richtet sich ch.ch in erster Linie an die Wohnbevölkerung in der Schweiz, die Dienstleistungen des Staates in Anspruch nimmt oder Pflichten nachkommt (vgl. Adamzik 186 3 Bürgernähe <?page no="187"?> 262 Vgl. https: / / www.ch.ch/ de/ wahlen2019/ ; 23.01.2020. Die Seite zu den Wahlen 2015 ist inszwischen selbstverständlich nicht mehr zugänglich. 263 Vgl. https: / / www.ch.ch/ de/ demokratie/ ; 23.01.2020. 264 Vgl. https: / / www.egovernment.ch/ de/ organisation/ e-government-schweiz-kurz-erkla rt/ e-government-im-alltag/ ; 20.01.2020. 2016a: 235 f.). Angesprochen wird zugleich auch das Volk als Souverän, „das insbesondere bei Wahlen zu Wort kommt“ (ebd.: 235). Den Schweizer Wahlen und Volksabstimmungen räumt ch.ch einen großen Platz ein. Für die Erneuerung des Schweizer Parlaments in den Jahren 2015 und 2019 wurde etwa jeweils eine Wahlplattform (die Plattformen Wahlen 2015 bzw. Wahlen 2019) 262 eingerichtet, die eine breite Palette an Informationen zu den Wahlen anbot. Zu der Plattform bei den Wahlen 2015 hieß es z.B.: Wahlen 2015 war eine umfangreiche Wahlanleitung, mit Informationen zum Parla‐ ment, zeigt auf wie man kandidieren kann, soll auch die jungen Wählerinnen und Wähler für die Wahlen 2015 sensibilisieren und bietet Interaktionsmöglichkeiten zwischen Bürger und Staat (BK 2016: 8). Einige ch.ch-Seiten enthalten hauptsächlich landeskundliche Informationen und legen dar, „wie der […] Staat gegliedert ist und funktioniert, welche (Verwal‐ tungs-)Instanzen es gibt usw.“ (Adamzik 2016a: 235). Solche Seiten sind primär an die Öffentlichkeit schlechthin adressiert, die sich für den Schweizer Staat und seine Angelegenheiten interessiert und sich darüber unterrichten möchte. Ein gutes Beispiel dafür ist ein im Juni 2017 erschienenes Modul, das Informationen über die Grundsätze der Schweizer Demokratie enthält. 263 Wie sehr ihnen die Vereinfachung des bürgerlichen Umgangs mit den be‐ hördlichen Vorgängen am Herzen liegt, drücken die Schweizer Behörden an mehreren Stellen explizit aus. In einem Zeichentrickfilm, der der Präsentation des Konzepts E-Government dient, betont man etwa mithilfe einer kurzen Geschichte, die das Leben einer erfundenen Figur namens Lea erzählt, wie das Digital Government den Alltag des Bürgers positiv beeinflussen kann bzw. wie Bürger daraus Nutzen ziehen können (vgl. Abb. I.3.3): E-Government im Alltag Der kurze Animationsfilm von E-Government Schweiz zeigt, wie elektronische Behördenleistungen in verschiedenen Lebenslagen im Alltag genutzt werden können und wie sie helfen, Zeit und Aufwand bei der Abwicklung eines Behördengeschäfts zu sparen. 264 187 3.5 Textoptimierung im Internet-Zeitalter <?page no="188"?> Abb. I.3.3: E-Government im Alltag 188 3 Bürgernähe <?page no="189"?> II Empirische Studien: Die Einbürgerung in der Schweiz <?page no="191"?> 265 Vgl. https: / / ec.europa.eu/ digital-single-market/ en/ news/ ministerial-declaration-egove rnment-tallinn-declaration; 02.10.2020. 1 Methodik 1.1 Methodisches zur Korpuszusammenstellung Wie bereits betont (vgl. I.3.5.3), haben sich die technischen und sozialen Um‐ wälzungen der letzten Jahrzehnte auf die Praktiken der öffentlichen Verwaltung stark ausgewirkt. Dabei haben besonders die digitale Revolution und die Verbreitung der neuen Perspektive, wonach Transparenz zur Richtschnur des Handelns von Institutionen und Organisationen gemacht wird, eine sehr wichtige Rolle gespielt. Beide Phänomene sind miteinander verbunden bzw. ersteres hat zur Umsetzung des letzteren beigetragen: Amongst others, the digital transformation can strengthen the trust in governments that is necessary for policies to have effect: by increasing the transparency, res‐ ponsiveness, reliability, and integrity of public governance (Tallinn Declaration on eGovernment 2017: 1). 265 In diesem Zusammenhang sind behördliche Webseiten zu Schaufenstern der Institutionen geworden. Sie bieten den Bürgern Informationen sowie vielfältige Funktionen an und ermöglichen, Aufgaben bzw. Tätigkeiten zu erledigen, die sich zuvor nur am Schalter ausführen ließen. Das Medium Internet und Webauft‐ ritte erweisen sich heute somit als die primäre Quelle, aus der man gut schöpfen kann, wenn es darauf ankommt, Textmaterial für die Untersuchung des behörd‐ lichen Sprachgebrauchs und des Textuniversums im Kommunikationsbereich öffentliche Verwaltung zu sammeln. Der Rückgriff auf die Hypertexte der vielgliedrigen öffentlichen Verwaltung als Ausgangspunkt zur Erstellung eines Textkorpus bringt allerdings eine große methodische Herausforderung („methodological challenge“, vgl. Koskela 2010) mit sich. Diese lässt sich darauf zurückführen, dass Hypertexte unabgeschlossene Kommunikate sind und dass es daher besonders schwierig ist, um nicht zu sagen unmöglich, sich einen Überblick über die gesamte Anlage von Hypertexten zu verschaffen: <?page no="192"?> 266 Vgl. auch die Ausführungen in I.3.5.2. Jakobs/ Lehnen (2005) sprechen dabei von der „Schlüssellochperspektive“ von Hypertext-Nutzern, die am Bildschirm nur einen Teil des Gesamtkonstruktes sehen können. Dies erschwere „den Aufbau eines mentalen Modells des Gesamtkonstruktes (um welche Inhalte geht es, wie ist das Kommunikat als Ganzes strukturiert), der Orientierung (wo befinde ich mich), den Zugriff auf Inhalte (wo finde ich eine bestimmte Information), die Bewegung im Hypertext (wie komme ich dorthin) sowie Kohärenzbildungsprozesse (wie hängt das eine mit dem anderen zusammen)“ (ebd.: 161). 267 Zu den methodischen Problemen bei der Analyse (technisch und / oder sachlich) vernetzter Texte vgl. auch Janich (2009). Mit Bezug auf die Untersuchung von „Textsorten-in-Vernetzung“ bei der Unternehmenskommunikation betont die Autorin: „Ein grundsätzliches Problem bei Untersuchungen zu vernetzten Textsorten ist es, alle relevanten Textsorten und Texte auch wirklich vollständig zu erfassen. Gerade institutioneninterne Kommunikationsprozesse laufen häufig in so komplexer Form ab und verflechten mündliche mit schriftlichen Kommunikationsereignissen, dass es fast unmöglich erscheint, Vollständigkeit zu erreichen“ (ebd: 23; Hervorhebung im Original). Ein typischer nicht-linear organisierter Hypertext hat nicht nur kein eindeutiges Ende - in den meisten Fällen können die Nutzer gar nicht ohne weiteres entscheiden, ob sie den Hypertext komplett durchlaufen haben (Storrer 2008: 326). 266 Es stellt sich also die Problematik der Auswahl der Texte, die ins Untersu‐ chungskorpus aufzunehmen sind und der linguistischen Analyse unterzogen werden. 267 Dabei geht es um die Frage der Korpusbeschränkung („limiting the material“, vgl. Koskela 2010). Dieses Problem prägt die Diskussion in vielen Forschungszusammenhängen und in Hinblick auf unterschiedliche Forschungs‐ zwecke. Dazu zählt z. B. die linguistische Diskursanalyse, die Diskurse als inhaltlich zusammenhängende, textübergreifende Strukturen auffasst (vgl. Busse/ Teubert 2013b; vgl. auch I.2.2). Dabei ist die „Herausforderung, eine Auswahl aus der unüberschaubar großen Zahl der Texte zu treffen“ (Niehr 2014a: 32), insofern groß, als es für den Diskursanalytiker von Bedeutung ist, „ein Textkorpus zusammenstellen, das als Stichprobe für den gesamtem Diskurs gelten kann“ (ebd.: 33). Zu diesem hat der Wissenschaftler keinen Zugang, da er immer nur einen Bruchteil davon berücksichtigen kann. In diesem Zusammenhang unterscheidet die diskursanalytische Forschung in Anlehnung an Hermanns (1995) zwischen drei Korpustypen bzw. -ebenen: dem imaginären, dem virtuellen und dem konkreten Textkorpus. Das imaginäre Textkorpus bezieht sich auf den verschwundenen Teil eines Korpus, der „unwiederbringlich verloren ist, da er niemals aufgezeichnet wurde“ (Niehr 2014a: 40). Dazu zählen etwa mündliche Alltagsäußerungen, die zwar in einen Diskurs einzustufen sind, die aber nicht gespeichert wurden und daher nicht mehr zugänglich sind. Das virtuelle Textkorpus betrifft den Teil eines Korpus, der „zwar erhalten 192 1 Methodik <?page no="193"?> geblieben ist, von den Diskursforschern aus unterschiedlichen Gründen aber nicht analysiert werden kann“ (ebd.: 40). Dabei kann es sich um gespeicherte Äußerungen handeln, die aber nicht öffentlich verfügbar sind, oder um aufge‐ zeichnete Elemente, die zwar zugänglich sind, aber aus Mangel an Ressourcen nicht berücksichtigt werden können. Das konkrete Textkorpus stellt schließlich den Ausschnitt eines Diskurses dar, der der tatsächlichen Analyse unterzogen wird. In dieser Hinsicht materialisiert sich der zu untersuchende Diskurs durch die vom Diskursanalytiker zusammengestellten Texte. Der Diskurs stellt somit ein Konstrukt dar, das sich als Ergebnis eines hermeneutischen Verfahrens herausstellt. Er wird erst durch den Wissenschaftler konstituiert: „Die Konsti‐ tution des Diskurses, der das Forschungsobjekt bilden soll, setzt daher stets schon Interpretationshandlungen der Forscher voraus“ (Busse/ Teubert 2013a: 19). In diesem Kontext erweist sich die Zusammenstellung eines Korpus als „gestufter Einschränkungsprozess“ (Niehr 2014b: 132). Dabei ist es wichtig, dass man von Anfang an die Kriterien (etwa Zeitraum der Untersuchung, aufzunehmende Textsorten usw.) zur Erstellung des konkreten Textkorpus klarstellt, diese sowie das analytische Verfahren intersubjektiv nachvollziehbar macht und das Verhältnis zwischen Forschungsmethoden und -zielen reflektiert. Dieses Einschränkungsverfahren stellt Niehr (ebd.) grafisch wie folgt dar (Abb. II.1.1): Abb. II.1.1: Die Erstellung eines konkreten Textkorpus (Niehr 2014b: 132) Bei der Korpuserstellung rücken praktische Überlegungen in den Vordergrund. Dazu gehört etwa die Verfügbarkeit der Quellen, wobei die Übereinstimmung 193 1.1 Methodisches zur Korpuszusammenstellung <?page no="194"?> arbeitsökonomischer Aspekte mit der Forderung nach Repräsentanz des Text‐ korpus als Idealfall angesehen wird: „Für die Auswahl der konkret zu untersuchenden Texte sind praktische Überlegungen ausschlaggebend (Verfügbarkeit der Quellen etc.) […]. An dieser Stelle ergibt sich allerdings ein methodisches Problem. Zu fragen ist näm‐ lich, wie ein (konkretes) Textkorpus beschaffen sein muss, um den […] Gegenstand der Untersuchung angemessen zu repräsentieren. Hier ist einerseits zu berücksich‐ tigen, dass es prinzipiell in das Ermessen des Diskursforschers gestellt ist, welchen Teildiskurs er untersuchen möchte. […]. Andererseits sollte gewährleistet sein, dass der ausgewählte Teildiskurs durch das zusammengestellte konkrete Teilkorpus ange‐ messen repräsentiert wird. Hier steht der Diskursforscher grundsätzlich vor dem Problem, die gewünschte Repräsentativität des Korpus mit arbeitsökonomischen Erwägungen in Einklang zu bringen“ (Niehr 2014b: 129 f.). Der einfache Zugang zu Behördentexten durch das Internet war für die vorliegende Untersuchung ausschlaggebend. Von diesem Medium ausgehend nahm das Untersuchungskorpus Gestalt an. Als Ausgangspunkt für die Samm‐ lung der Korpustexte bot sich die deutsche Fassung der schon erwähnten Webseite ch.ch an (vgl. I.3.5.3). Nachdem der medial-situative Startpunkt für die Korpuszusammenstellung bestimmt worden war, wurde eine weitere „Ein‐ schränkung“ im Sinne Niehrs vorgenommen, und zwar eine thematische. Als Thema, in dessen Rahmen das Textkorpus eingeschränkt werden musste, bot sich das Schweizer Einbürgerungsverfahren an, das in der Schweiz auf den drei politischen Ebenen Bund, Kanton, Gemeinde erfolgt. Die ch.ch-Suchmaske diente in diesem Kontext als Tor, das Zugang zu den das Thema behandelnden behördlichen Texten bot. Dementsprechend wurde der Ausdruck Einbürgerung ins Suchfeld eingegeben; von den Suchergebnissen ausgehend wurden Texte ausgesondert. Bei der Textauswahl wurde zunächst die Perspektive der Be‐ teiligten eingenommen. Das heißt, es wurde davon ausgegangen, was die an der Kommunikation beteiligten Akteure selber zusammenstellen würden. Dieser Ansatz weicht von der Praxis der linguistischen Diskursanalyse ab. Diese setzt nämlich voraus, dass auf der Ebene von Diskursen eine Einheitenkonsti‐ tution, die den alltagsweltlichen Standpunkt mit einbezieht, nicht - oder nur begrenzt - stattfindet (vgl. dazu Busse/ Teubert 2013a: 19). Der Perspektive der Textproduzenten wurde insofern Rechnung getragen, als die verschiedenen Links nachverfolgt wurden, durch die die Emittenten die Texte zusammen‐ stellen, die in ihrer Sicht in einem bestimmten Kontext zusammenhängen. In dieser Hinsicht entsprechen die über die Infrastruktur Internet realisierbaren, 194 1 Methodik <?page no="195"?> 268 Einige Hypertext-Module habe ich durch die beiden Programme konvertiert und habe daher zwei verschiedene Konvertierungsformen erhalten. Da die Module, die aus demselben Produzenten stammen, tendenziell dasselbe Layout hatten, und da es dabei also überwiegend auf den Fließtext ankam, habe ich häufig die „Adobe-Versionen“ (also die ohne Layout) in mein Korpus aufgenommen. physischen Verlinkungen zwischen Texten der Materialisierung von akteurkonstituierten Textnetzen: Hyper-Texte im Internet sind klassische Beispiele für ein hohes Maß an Intertextua‐ lität, die für den Leser durch farbige Markierung der jeweiligen Links verdeutlicht wird. Eine derartige Verlinkung auf andere Texte interpretieren wir als inhaltliche Bezugnahme (Niehr 2014b: 121). Berücksichtigt wurden insbesondere die Inhalte und die Links, die sich in der Content-Zone der Webseiten befanden (also nicht in der Navigations-Zone bzw. den Menüleisten) und / oder den Ausdruck Einbürgerung im Datei-Namen bzw. im Linkanzeiger enthielten. Dabei wurden sowohl Hyperals auch E- Texte im Sinne Storrers (vgl. I.3.5.2) gesammelt. Beide wurden im PDF-Format archiviert. Während sich die gewöhnlich als PDF-Dateien hochgeladenen E- Texte unproblematisch speichern ließen, stellte die PDF-Konvertierung von Webseiten, die durch die HTML-Sprache strukturiert und ständig verändert bzw. aktualisiert werden, eine technische Hürde dar. Es wurde letztlich beschlossen, zusätzlich zum Programm © Adobe Acrobat auch das online frei zugängliche Tool HTM2PDF (http: / / www.htm2pdf.co.uk/ ) zu benutzen. Im Vergleich zum ersteren Programm ermöglichte dieses, das originale Layout und die originale Formatierung der Webseiten zu behalten. Weiterhin bewirkte sie weniger Kon‐ vertierungsfehler, obwohl verborgene Links in den konvertierten PDF-Dateien nicht sichtbar waren. 268 Wenngleich die institutionellen Textproduzenten die Beziehungen zwischen Texten im Netz offenbaren, kommt die Steuerung des Rezeptionsverlaufs letzt‐ endlich dem einzelnen Leser zu, der je nach seinem Vorwissen und seinen kommunikativen Bedürfnissen einige Links aktiviert und andere übersieht oder übergeht (vgl. I.3.5.2). Im Fall der behördlichen Webseiten entspricht der prototypische Rezipient dem fachunkundigen Bürger, der z. B. nach praxisori‐ entierten Informationen über ein behördliches Verfahren sucht. Dabei ist es seine eigene Perspektive, die in der kommunikativen Situation im Vordergrund steht. Gerade diese Perspektive, der Standpunkt eines Laien (im Rechts- und Verwaltungsbereich), lag am Anfang der Zusammenstellung der Korpustexte für die Untersuchung dieser Arbeit zugrunde. In dem Moment, als möglichst viele Texte systematisch gesammelt und zu Forschungszwecken archiviert wurden, 195 1.1 Methodisches zur Korpuszusammenstellung <?page no="196"?> 269 Manche Dateien - etwa einige der italienischen Übersetzungen deutschsprachiger Texte - wurden nachträglich (im Sommer 2017) bei der Systematisierungsarbeit dem Korpus hinzugefügt. Eine kleine Zahl von Texten entspricht aktualisierten Versionen einiger Korpustexte. Die neuen Fassungen wurden im Frühjahr 2018 und im Sommer 2019 gesammelt (vgl. dazu II.4 und II.5). fand aber ein Perspektivenwechsel statt und die Perspektive des unkundigen Bürgers trat zugunsten der Perspektive des Wissenschaftlers zurück. 1.2 Das konkrete Korpus 1.2.1 Einleitung Das Auswahlverfahren führte zur Sammlung von 219 PDF-Dateien, die in der letzten Woche im Februar 2017 gespeichert wurden (zeitliche Einschränkung). 269 Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den Dateien entweder um E-Texte (also digitale Versionen analoger Texte mit eindeutigem Anfang und Ende), die ursprünglich im Format PDF zur Verfügung stehen und herunterladbar sind, oder um konvertierte Webseiten. Bei letzteren entspricht jede Datei selbstver‐ ständlich nicht dem ganzen Webauftritt einer Behörde, sondern der PDF-Version einzelner Seiten bzw. einzelner Module einer Website. Es geht also um das, was durch das Herunterscrollen einer Seite am Bildschirm unmittelbar erscheint. Jede Datei wird in dieser Arbeit als eine einzelne Texteinheit angesehen. Dem‐ entsprechend ist hier mit dem Ausdruck Text eine eigenständige Datei gemeint. Die PDF-Dateien des Korpus sind unterschiedlich groß; ihr Umfang reicht von einer bzw. ein paar bis zu etwa hundert Seiten. Das Korpus bildet ein großes Netz thematisch zusammengehörender Texte. Dabei kann die Korpusarchitektur anhand unterschiedlicher Kategorien beschrieben werden. Um Löfflers Messer-Metapher nochmals zu bemühen: Wie die Sprachvarietäten entsprechen die Korpustexte einem Brei, den man unterschiedlich durchschneiden bzw. nach verschiedenen Gesichtspunkten betrachten kann (vgl. I.1.2.1). Zur groben Orientierung lassen sich die Dateien aufgrund der politischen Ebene, auf der der Textproduzent angesiedelt ist, in drei Makrogruppen teilen: Texte des Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Kantonale Texte stammen entweder vom Kanton Zürich oder vom Kanton Tessin, kommunale Texte von den Städten Zürich (Hauptstadt des Kantons Zürich), Bellinzona (Hauptstadt des Kantons Tessin) und Lugano (größte Stadt im Tessin). Eine weitere Grobaufteilung, die man vornehmen könnte, betrifft die Sprache. Texte aus dem Kanton Zürich sind auf Deutsch, da Deutsch dort die Amtssprache ist. Texte aus Tessin sind 196 1 Methodik <?page no="197"?> 270 Oft verfügt der Italienisch-Übersetzer über die französische Übersetzung des deutschen Ausgangstextes, die auch beim Übersetzungsprozess herangezogen bzw. berücksichtigt wird. Auf den sprachlichen Einfluss der französischen Versionen auf die italienischen Texte weist Ferrari bei ihrer Analyse der italienischsprachigen Medienmitteilungen der Bundesverwaltung hin: „come qua e là si può facilmente dedurre, il traduttore a volte ha a disposizione anche la versione francese“ (vgl. Ferrari 2013: 18). in Italienisch abgefasst. Was die Texte des Bundes angeht, gehören nur die deutsch- und italienischsprachigen Fassungen - und nicht die entsprechenden französischen oder die rätoromanischen Versionen - zum Korpus. Dabei sind die italienischsprachigen Bundestexte in der Regel Übersetzungen der deutsch‐ sprachigen (vgl. I.3.4.2.1). 270 Die deutschen kantonalen und kommunalen Texte einerseits und die italienischen andererseits sind hingegen als Paralleltexte anzusehen, d. h. autonome Texte, die nicht voneinander abhängig sind und zusammenhängen „by the fact that the outward circumstances of their creation are so similar as to produce comparable linguistic features“ (Hartmann 1981: 112 f.). Um einen groben Überblick über das Korpus zu geben, sei die Aufteilung nach politischer Ebene und Sprache schematisch dargestellt (Abb. II.1.2): Abb. II.1.2: Das Untersuchungskorpus, unterteilt nach politischer Ebene und Sprache 197 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="198"?> 271 Mit dem Begriff plurizentrische Sprache haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts besonders Michael Clyne und Ulrich Ammon stark auseinandergesetzt. Für einen Überblick über die Geschichte des Terminus vgl. Berruto (2011). 1.2.2 Zu den Varietäten Schweizer Hochdeutsch und italiano elvetico Die Behördentexte des Untersuchungskorpus sind also entweder in deutscher oder italienischer Sprache verfasst. Da es sich dabei um Schweizer Textprodu‐ zenten handelt, weist die Rechts- und Verwaltungssprache, die sich in den Korpustexten niederschlägt, Besonderheiten bzw. Merkmale auf, die für die schweizerischen Varietäten des Deutschen bzw. des Italienischen typisch sind. Die Rechts- und Verwaltungssprache lässt sich in dieser Hinsicht auch aus der Perspektive der geographischen Variation besonders gut charakterisieren. Oder anders gesagt: Auch die diatopische Dimension (und nicht nur die diaphasi‐ sche) ist in diesem Kontext relevant und muss in die Reflexion miteinbezogen und bei der Analyse berücksichtigt werden (vgl. Kap. I.1.2.1). Dies gilt umso mehr, als von staatlichen Instanzen stammende Schrifttexte am stärksten an der Norm der nationalen Standardsprache orientiert sind bzw. letztere dort deutlich zum Ausdruck kommt. Auf die Normeneinhaltung können staatliche Stellen nämlich bei den eigenen Texten am effektivsten einwirken: Am wirksamsten kann der Staat Normen gegenüber dem eigenen Personal (durch)setzen, wenn also staatliche Instanzen sozusagen selbst sprechen bzw. schreiben (lassen) (Adamzik/ Alghisi 2017: 39). Dementsprechend wird in den folgenden Abschnitten ein Überblick über die Standardvarietäten des Deutschen und des Italienischen der Schweiz gegeben. 1.2.2.1 Das Schweizer Hochdeutsch Die deutsche Sprache wird heute als plurizentrische Sprache bezeichnet. Der Begriff, der Ende der 1960er Jahre von Heinz Kloss geprägt wurde, beschreibt eine Sprache, die „more than one centre, i. e. several centres, each providing a national variety with its own norm“ (Clyne 1989: 358) aufweist. 271 Der Ausdruck bezieht sich in der Regel auf diejenigen Sprachen, die National- oder Amtssprachen in verschiedenen Ländern sind und die daher mehr oder weniger stark voneinander abweichende Standardvarietäten entwickelt haben. Er wird gewöhnlich für die Beschreibung von Sprachen wie dem Englischen, Französischen, Deutschen, Spanischen und Arabischen verwendet. Die Schweiz stellt eines der Zentren der deutschen Sprache dar. Bei der Charakterisierung der Lage der deutschen Sprache in diesem Land wird norma‐ 198 1 Methodik <?page no="199"?> 272 Für eine Darstellung der Merkmale des Schweizer Hochdeutschen vgl. etwa Ammon (1995). 273 Mit Bezug auf das Italienische bezeichnet Pandolfi Helvetismen als „lexemes, or some‐ times expressions, which do not seem to be used or known in Italy as Italian lexemes in their entirety (form and meaning) or, even if the form is known in ItI [Italian in Italy], in SwI [Swiss variety of Italian] it has a different meaning or viceversa“ (Pandolfi 2017: 338). Ausdrücke, die schweizerspezifische Referenten bezeichnen, definiert Pandolfi als „Absolute Helvetisms“ (ebd.). lerweise zwischen den Begriffen Schweizer Hochdeutsch und Schweizerdeutsch unterschieden. Das Schweizer Hochdeutsch ist die Standardvarietät des Deutschen in der Schweiz. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um einen exonormativen Standard - d. h. eine Standardsprache, bei der die Kodifizierung der Norm auf fremden (d. h. ausländischen) Modellen des Sprachgebrauchs beruht („it is based upon foreign models of usage“, vgl. Stewart 1968: 534) - der sich aber von den anderen Normzentren weit entfernt (vgl. Haas 2006: 1777). Das Standarddeutsch der Schweiz weist verschiedene Besonderheiten auf, die alle Ebenen der Sprache - Aussprache, Wortschatz, Schreibung, Grammatik, Phraseologie - betreffen, wobei die Eigenarten im Bereich der Lexik am auffäl‐ ligsten sind. 272 Zur deren Beschreibung hat sich der Ausdruck Helvetismus durchgesetzt. Diesen hat Haas wie folgt definiert: Unter einem Helvetismus verstehe ich sprachliche Erscheinungen, die nur in stan‐ dardsprachlichen Texten schweizerischer Herkunft verwendet werden, in unserer Standardsprache [d. h. Schweizer Hochdeutsch] aber durchaus üblich sind (Haas 2000: 99; Hervorhebung im Original). Die Helvetismen betreffen teilweise Sachverhalte (offizielle Institutionen, poli‐ tische Organe, Schultypen usw.), die nur in der Schweiz existieren, sind aber auch bei der Bezeichnung nicht-schweizerischer bzw. nicht-staatsspezifischer Referenten anzutreffen. 273 Die Bezeichnungen für Gegebenheiten, die nur in der Schweizer Eidgenossenschaft vorhanden sind, sind „oft in allen vier Lan‐ dessprachen parallel gebildet“ (Haas 2006: 1777). Dies führt dazu, dass man von einem Viersprachen-Parallelismus sprechen kann, der bei den verschiedenen Sprachen auf die „Gemeinsamkeit der außersprachlichen Realität“ zurückgeht (Lurati 2000: 190). Der Begriff Schweizerdeutsch (Schwyzertütsch) bezieht sich auf den Dialekt der Schweiz bzw. auf die Gesamtheit und Vielfalt der Schweizer Dialekte. Solche Dialekte, die zur alemannischen Dialektregion gehören, weichen stark von der Standardvarietät (das Schweizer Hochdeutsch) ab: 199 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="200"?> Die schweizerdeutschen Dialekte (Schwyzertütsch) unterscheiden sich stark von der Standardvarietät, und zwar auch vom Schweizerhochdeutschen, also der eigenen nationalen Varietät, nicht etwa nur vom deutschen Standarddeutsch. Ein Indiz dafür ist z. B., daß norddeutsche Besucher der Schweiz Schwyzertütsch nicht oder zumindest kaum verstehen, während sie beim Schweizerhochdeutschen keinerlei Verständnis‐ schwierigkeiten haben, außer bei den gelegentlich auftretenden lexikalischen Helve‐ tismen (Ammon 1995: 287; Hervorhebung im Original). Die linguistische Distanz zwischen Dialekten und Standardvarietät ist zwar verhältnismäßig größer als bei anderen nationalen Zentren der deutschen Sprache; die schweizerdeutschen Dialekte gehören allerdings von einer sozio‐ linguistischen Perspektive her auch zur deutschen Sprache und werden von der Schweizer Standardvarietät des Deutschen überdacht (vgl. Ammon 2015: 221). Bemerkenswert ist ferner, dass die verschiedenen Schweizer Dialekte einander sehr nah sind. Es besteht also in der Tat eine große Ähnlichkeit der Dialekte untereinander, wenngleich bei der Schweizer Bevölkerung die Mei‐ nung herrscht, dass die Unterscheide zwischen den Schweizer Dialekten sehr groß seien (vgl. Ammon 1995: 289). Die geringen sprachlichen Abweichungen tragen dazu bei, dass sich Schweizer aus verschiedenen Regionen gegenseitig verstehen oder dass sie leicht eine „polydialektale Verstehenskompetenz“ (ebd.: 294) entwickeln. Dies führt dazu, dass der ‚polydialektale Dialog‘ in der Schweiz die übliche Kommunikationsform über die Dialektgrenzen hinweg [ist], während vor allem in Deutschland das Umschalten auf oder die Annäherung an die Standardvarietät weit verbreitet und oft auch kaum zu umgehen ist (Ammon 1995: 294). Daraus folgt, dass sich zugleich „gewisse Tendenzen zur regionalen Vereinheit‐ lichung“ (Ammon 1995: 295) beobachten lassen. Diese zeichnen sich besonders bei wirtschaftlich stärkeren Städten oder Gebieten ab, deren Sprachgebrauch und sprachliche Modelle sich auch in den Nachbarregionen verbreiten. Das trifft beispielsweise auf den Dialekt der Stadt Zürich (Züritütsch) zu, der in der größeren Region von Zürich als eine Art Verkehrsdialekt fungiert - als ‚Dialectus francus‘, wie man in Analogiebildung zum Terminus Lingua franca sagen könnte (Ammon 1995: 295; Hervorhebungen im Original). Zur Beschreibung der Verwendung der Varietäten der deutschen Sprache in der deutschsprachigen Schweiz ist heute der Begriff mediale Diglossie gängig. Dieser bezieht sich auf „die Orientierung der Varietätenwahl hauptsächlich am Medium des Sprachgebrauchs (mündlich/ schriftlich)“ (Ammon 1995: 291). Dementsprechend ist das Schweizer Hochdeutsch überwiegend auf den schrift‐ 200 1 Methodik <?page no="201"?> 274 Zur Verbreitung des Dialekts im mündlichen Sprachgebrauch und zu den Folgen dieses Sprachverhaltens (etwa zunehmender Kompetenzverlust in der Standardsprache) vgl. Ammon (1995: 283 ff.; 2015: 220 ff.) und Pedretti (2000: 285 ff.). 275 Dies hat einige Linguisten dazu geführt, das Schweizerdeutsch als Ausbaudialekt zu bezeichnen (vgl. dazu Ammon 1995: 293 f.). lichen Sprachgebrauch beschränkt; beim mündlichen Sprachgebrauch greift man hingegen auf den Dialekt zurück. Quer zur medialen Unterscheidung ist die Differenzierung nach dem Formalitätsgrad einer Kommunikationssituation bzw. nach dem situationsbezogenen Kriterium Öffentlichkeit vs. Privatsphäre. Demnach wird in höchst formellen und öffentlichen Situationen normalerweise die Standardvarietät gesprochen, während der Dialekt in privaten, familiären und im Allgemeinen informelleren Zusammenhängen Anwendung findet. Zu den (wenigen) Kontexten, wo die Standardvarietät auch mündlich benutzt wird, gehören heute der Hochschulunterricht, der Sprachgebrauch im National- und Ständerat - und gelegentlich auch in Kantonsparlamenten - sowie die Sprache überregionaler Nachrichtensendungen. Die Belletristik und persönliche Texte (wie etwa Briefe oder Einkaufszettel) zählen stattdessen zu den Domänen, bei denen auch der Dialekt geschrieben wird. Mit solchen sprachlichen Gewohn‐ heiten bzw. dieser besonderen Sprachverwendung 274 verbunden ist die Tatsache, dass der Dialekt in der Schweiz - anders als in den übrigen deutschsprachigen Staaten - von allen Schichten der Bevölkerung gesprochen wird. Er genießt ein gewisses Prestige und trägt - im Gegensatz zu anderen Ländern, wo Dialekte eher stigmatisiert und in Verbindung mit niedrigem Bildungsniveau gebracht werden - keine soziale Markierung. Da der Dialekt für Gesprächsthemen jegli‐ cher Art und in fast allen Domänen und Situationstypen benutzt wird, verfügt er über einen umfangreichen Wortschatz, der auch Fachlexik umfasst. 275 Mit der Dialektverwendung zusammenhängend ist auch die symbolische Bedeutung, die in der Schweiz nichtstandardsprachlichen lokalen Varietäten zugeschrieben wird. Durch Dialekte kommen „das Gemeinschaftsgefühl der Deutschschweizer und […] ihre bewußtseinsmäßige Abgrenzung von den anderen deutschspra‐ chigen Ländern, vor allem von Deutschland“ zum Ausdruck (ebd.: 295). Der symbolische Wert des Schweizer Dialekts hat eine Doppelrichtung, die nach innen und nach außen wirkt: Während Schwyzertütsch innerschweizerisch hoch differenziert und dadurch ‚sym‐ bolisch als Ausdruck örtlicher Bindung und föderalistischer Vielfalt‘ erscheint (Schwarzenbach 1969: 267), wirkt es nach außen hin als ziemlich einheitliches sprachliches Nationalsymbol (Ammon 1995: 295). 201 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="202"?> 276 Zum Begriff „Svizzera italiana“ vgl. Lurati (2000). Der Autor weist auf die „Künstlichkeit des [im 18. Jh. geprägten] Begriffs“ hin, der „eine Einheit bezeichnen [sollte], die in Wirklichkeit weder im geographischen noch im historischen oder im kulturellen Sinn Die behördlichen Korpustexte sind überwiegend Schrifttexte und gehören zur öffentlichen Domäne. Demnach ist das Schweizer Hochdeutsch die Varietät, in der sie versprachlicht sind. 1.2.2.2 Das italiano elvetico Das Italienische genießt in der Schweiz einen besonderen Status, da es eine Landes- und Amtssprache und zugleich eine Minderheitssprache ist, die ge‐ schützt und gefördert werden muss (vgl. Art 22 des Sprachengesetzes SpG von 2007). Die italienische Sprache ist also zwar der deutschen Sprache juristisch gleichgestellt, hat aber als Sprache einer Minderheit faktisch eine andere Stellung (vgl. I.3.4.2.1). Obwohl diese Sprache nur von einem kleinen Teil der Be‐ völkerung gesprochen wird, entspricht sie einer vielschichtigen Realität, die sich in verschiedenen „forme di vita“ („Lebensformen“, vgl. Berruto 2012) nie‐ derschlägt. Unterschieden werden heute zumindest fünf Erscheinungsformen, die durch verschiedene soziolinguistische Bedingungen gekennzeichnet sind (vgl. Pandolfi 2017). Dabei handelt es sich um I. das Italienische als Amtssprache und Sprache der Bundesverwaltung; II. das Italienische des Kantons Tessin, das die Sprache der primären Soziali‐ sation der Mehrheit der kantonalen Bevölkerung ist. Diese Varietät stimmt zum großen Teil mit dem lombardischen Regionalitalienisch in Lautstand, Wortschatz und Satzbau überein. Überdies koexistiert sie im Kanton mit lombardisch-alpinen Dialekten, die heute noch in einigen Gebieten für die mündliche Alltagskommunikation gebräuchlich sind; III. das Italienische des Kantons Graubünden, das in den italienischspra‐ chigen Tälern Mesolcina, Calanca, Bregaglia und Poschiavo benutzt wird und auch auf kantonalem Niveau einer Minderheitssprache entspricht; IV. das Italienische der Italiener, die in die Schweiz eingewandert sind; V. das Italienische, das von Nicht-Italienischsprachigen als L2 gesprochen wird. Eine genauere Gliederung bietet Berruto (2012) an, der sich an eine frühere Aufteilung von Moretti (2005: 18) anlehnt. Im Mittelpunkt steht in diesem Fall das Territorialitätskriterium, das als Hauptkriterium für die Unterschei‐ dung der Varietäten gilt. Dementsprechend unterscheidet Berruto einerseits zwischen dem Italienischen, das in der italienischen Schweiz („Svizzera ita‐ liana“) 276 benutzt wird und andererseits dem Italienischen, das in der nicht- 202 1 Methodik <?page no="203"?> besteht“ (Lurati 2000: 179). Als Beispiel führt er die „Verschiedenheit der italienisch‐ sprachigen Bündner Täler untereinander“ (ebd.) und „die Unterschiede zum Tessin“ (ebd.) an. Auch dieser bilde in sich keine Einheit, was sich in den verschiedenen Tessiner Varietäten der italienischen Sprache widerspiegele (vgl. ebd.). italienischen Schweiz („Svizzera non italiana“) produziert wird. Diese auf einer obersten Ebene unterschiedenen Grundtypen werden sukzessive weiter aufgegliedert: Auf der unteren Abstraktionsebene wird unterschieden, ob die italienische Sprache von Muttersprachlern, also Personen, deren Sozialisation in italienischer Sprache erfolgt ist und die daher das Italienische als Erstsprache haben, oder von Nicht-Muttersprachlern verwendet wird. Solche Subgruppen werden aufgrund der Herkunft der Sprachbenutzer (Tessin, Graubünden, Italien, Schweiz, anderes) weiter differenziert. Berruto schlägt eine schematische Dar‐ stellung seiner Typologie vor (Abb. II.1.3), aus der sich elf „Lebensformen“ des Italienischen in der Schweiz feststellen ließen: Abb. II.1.3: Lebensformen des Italienischen in der Schweiz (Berruto 2012) Am relevantesten für die vorliegende Untersuchung ist die Varietät italiano amministrativo e commerciale, die von Berruto in den Mittelpunkt des Schemas (durch Fettdruck und Unterstreichung markiert) gestellt wird. Dabei handle es sich um das Italienische der Eidgenossenschaft, die offizielle Sprache der Bundesverwaltung, der Unternehmen und der Distribution. Es gehe um die Erscheinungsform des Italienischen, auf die man überall in der Schweiz treffe und die auch die anderen Erscheinungsformen präge, da sie sich mit diesen zum Teil überschneide. Diese Sprachvarietät schlage sich besonders in offiziellen Schrifttexten nieder: 203 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="204"?> 277 Der Kontakt Deutsch-Italienisch bzw. der Einfluss des Deutschen auf das Italienische, das Verhältnis Standarditalienisch-Dialekt und die Merkmale des Regionalitalienischen Tessins gehören zu den Themen, denen das besondere Interesse der italienischspra‐ chigen Schweizer Linguistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt (vgl. Moretti 2005). A metà e a cavallo fra le due ramificazioni principali, sta (7) l’italiano diciamo confederale, la lingua ufficiale dell’amministrazione federale, delle aziende, ditte e servizi a carattere nazionale, della grande distribuzione, dei trasporti urbani nelle grandi città, ecc., quello con cui chiunque può venire a contatto in tutta la Svizzera. Questa entità è presente, almeno sullo sfondo, anche in tutte le altre casistiche, quindi è trasversale; e in un certo senso è anche sovrapposta a tutte, in quanto ha la sua manifestazione più evidente nell’ufficialità scritta e nella comunicazione comunque diretta al pubblico. Nello schema proposto, questo italiano particolare sta in mezzo alle due ramificazioni principali, e su un gradino sovrastante a quello delle altre forme di vita dell’italiano in Svizzera; però è anche innestato su uno dei rami che fanno parte della ripartizione di destra dello schema, in quanto è prodotto principalmente fuori dal territorio, non è interno alla Svizzera italiana (Berruto 2012, Vortragsmanuskript; Hervorhebungen A.A.). Das Besondere an dieser Varietät ist, dass sie hauptsächlich in Texten anzu‐ treffen ist, die außerhalb der italienischen Schweiz produziert werden. Dies gilt etwa für die sprachlichen Produkte der Bundesverwaltung, deren Verwal‐ tungseinheiten gewöhnlich Sitz in Bern (also an der Grenze zwischen der deutschen und der französischen Schweiz) haben. Für diese Erscheinungsform des Italienischen war besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Ausdruck italiano federale gängig, der eben „l’italiano usato dagli organi dello stato centrale e delle amministrazioni della Confederazione“ (Biscossa 1968, zitiert nach Berruto 2012) bezeichnete. Dieser Ausdruck nahm im Laufe der Zeit eine negative Konnotation an, weil er vor allem benutzt wurde, um sich auf eine Form der italienischen Sprache zu beziehen, die unter dem starken Einfluss der anderen Amtssprachen der Schweiz (besonders des Deutschen) stand und dem einheimischen Sprachgebrauch innerhalb der italienischen Schweiz fremd war. 277 In den 1980er Jahren schlug Berruto vor, dem Begriff italiano federale den Ausdruck italiano elvetico zu bevorzugen. Damit meinte er l’italiano scritto e parlato, come vive oltre Gottardo e in particolare nella Svizzera germanofona, nella sua qualità di terza Landessprache e Amtssprache della Confede‐ razione elvetica, impiegato negli usi burocratici e amministrativi degli organi federali, negli uffici del governo centrale, nelle imprese federali (Poste, Ferrovie, ecc.), nelle banche e nell’ambiente industriale e finanziario, presso le grandi aziende 204 1 Methodik <?page no="205"?> di distribuzione commerciale, nella pubblicità, ecc., e anche come lingua parlata, all’occasione, dagli Svizzeri di lingua tedesca che sanno l’italiano e più in generale dai residenti bilingui (Berruto 1984, zitiert nach Berruto 2012, Vortragsmanuskript; Hervorhebungen A.A.). Diese Erläuterung entspricht der zum italiano amministrativo e commerciale (Punkt 7 in der Abbildung), schließt aber allgemein auch die anderen Erschei‐ nungsformen der italienischen Sprache außerhalb der italienischen Schweiz ein (vgl. Punkte 8, 9 und 10 der Abbildung). In diesem Zusammenhang weist Berruto (2012) allerdings darauf hin, dass die Beziehungen zwischen dem Grundtyp Italienisch der italienischen Schweiz (italiano della Svizzera italiana, ISI) und dem Grundtyp Italienisch der nicht-italienischen Schweiz (italiano della Svizzera non italiana; italiano elvetico, IE) unterschiedlich aufgefasst werden können. Zur Illustration seines Konzepts zieht er eine schematische Darstellung heran, die im Folgenden wiedergegeben wird (Abb. II.1.4): Abb. II.1.4: Beziehungen zwischen Italienisch der italienischen Schweiz (ISI) und Italie‐ nisch der nicht-italienischen Schweiz (IE) (Berruto 2012) Bei der Aufzeichnung A wird das Italienische der italienischen Schweiz als Untergruppe des italiano elvetico aufgefasst, das in diesem Fall die italienische Sprache auf dem ganzen Schweizer Gebiet bezeichnet. Im Fall von B entspricht das italiano elvetico umgekehrt einer Untergruppe des Italienischen der ita‐ lienischen Schweiz. Das italiano elvetico stimmt hier mit der außerhalb der italienischen Schweiz produzierten Verwaltungssprache überein, die auch Bestandteil des Italienischen der italienischen Schweiz (besonders des Tessins) ist. In C sind das italiano elvetico und das Italienische der italienischen Schweiz zwei separate Erscheinungsformen des Italienischen, die aber einen gemein‐ samen Kern haben. Dieser besteht aus der italienischen Verwaltungssprache, die außerhalb der italienischen Schweiz ihren Ursprung hat, die aber als solche auch innerhalb der italienischen Schweiz erscheint. Berruto fügt ferner hinzu, dass es eine weitere mögliche Lesart des Begriffs italiano elvetico gibt, die in dem Schema nicht berücksichtigt wird. Man könnte das italiano elvetico 205 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="206"?> 278 Für einen Überblick über die italienischsprachigen Helvetismen vgl. Pandolfi (2017). und das italiano della Svizzera italiana nämlich als deckungsgleich betrachten und ihr Verhältnis als synonymisch ansehen. Bei letzterer Auslegung des Begriffs entspricht das Attribut elvetico der Bedeutung ‚charakteristisch für die geschriebene und gesprochene Sprache in der Schweiz im Unterschied zu der Italiens‘. Dabei rückt die Ansicht in den Vordergrund, wonach auch das Italienische - wie das Deutsche - eine plurizentrische Sprache sei, die zwei Zentren, das Italienische Italiens und das der Schweiz, aufweise: In questo modo il termine ‚italiano elvetico‘ viene esteso ad intendere l’italiano della Svizzera nel suo complesso, nella prospettiva di una concezione dell’italiano come lingua debolmente pluricentrica con due varietà standard nazionali, in Italia e in Svizzera (Berruto 2012, Vortragsmanuskript). Diese Perspektive wird besonders von Pandolfi (2017) vertreten, die zu deren Unterstützung unterschiedliche Argumente angeführt hat. Dazu zählt die Tatsache, dass die italienische Schweiz eine eigene nationale und kulturelle Identität hat, die von der Identität Italiens abweicht; dass sie stark in den schweizerischen sozioökonomischen Kontext eingebunden ist, der besonders von der deutschsprachigen Schweiz geprägt wird (vgl. Lurati 2000); dass das Italienische der Schweiz die Schweizer Landesspezifika und die Besonderheiten des Schweizer politischen Systems widerspiegelt, das deutlich anders ist als dasjenige Italiens; dass die italienische Sprache der Schweiz ständig in Kontakt zu den anderen Amtssprachen (Deutsch und Französisch) steht, die sich auf ihre Spezifika auswirken: The formation of a Swiss standard may be attributed mainly to the presence of a national boundary between Italy and Switzerland delimiting two different political, institutional and social realities and to the contact with the two Swiss majority national languages (German and French). These factors lead to internal dynamics of language change and renewal in SwI, which are partly shared with restandardization phenomena of ItI […], nevertheless sometimes heading in different directions (Pan‐ dolfi 2017: 322). Sprachlich zeigen sich die Unterschiede zwischen dem Italienischen der Schweiz und dem Italiens besonders im lexikalischen Bereich (bei den sogenannten Helvetismen, vgl. oben): 278 [I]t is undeniable that the standard of SwI is different from the one in Italy (and from any single geographical variety in Italy), albeit to a limited extent and with a clear prevalence of lexical features (Pandolfi 2017: 329). 206 1 Methodik <?page no="207"?> Wie beim Schweizer Hochdeutschen handle es sich auch beim Italienischen der Schweiz um eine exonormative Standardsprache. Pandolfi weist allerdings auf einige Normierungsprozesse hin, die zurzeit in der Schweiz im Gange sind: As mentioned previously, there is no codified standard norm for SwI in the form of grammars or specific dictionaries. Nevertheless, there is some evidence of norma‐ tivization. Beside the consolidated usage in the Swiss Italian-speaking community, some Helvetisms (peculiar lexemes in use in SwI) are codified in an Italian reference dictionary […]. Furthermore, efforts are being made by the Swiss Federal Chancellery aiming at the standardization of bureaucratic and administrative language by provi‐ ding specifically designed instruments for the translation of official documents, news and official speeches into the three official languages, as prescribed by the legislation (Pandolfi 2017: 336 f.). In Hinblick auf Standardisierungsprozesse fällt hier die große Bedeutung auf, die Pandolfi den Metatexten der Bundesverwaltung (Leitfäden, Schreibwei‐ sungen usw., vgl. I.3.4.2.2) zuschreibt. Ziel dieser sprachlichen Instrumente sei es, „an institutionalized terminology for all administrative and bureaucratic procedures and translations“ (Pandolfi 2017: 337) festzulegen. Die Metatexte trugen somit zur Kodifizierung und folglich Durchsetzung einer schweizerspe‐ zifischen Standardnorm des Italienischen bei. Da sie besonders beim Übersetzen angewandt werden, erweise sich die Übersetzung als die Domäne, die bei der Sprachnormbildung eine zentrale Rolle spiele. Um Übersetzungen handelt es sich bei den italienischsprachigen Korpus‐ texten, die von föderalistischen Einheiten stammen (vgl. I.1.2.1). Sie werden ent‐ weder von den Sprachdiensten der einzelnen Departemente oder von externen Übersetzern verfasst, die im Auftrag der Bundesbehörden arbeiten. Solche sprachlichen Dienstleistungen werden von der Abteilung Italienisch der zentralen Sprachdienste koordiniert (vgl. I.3.4.2.1). Diese setzt sich zusammen aus einer Sektion Gesetzgebung und Sprache, die sich in Bern befindet, und einer Sektion Übersetzung und Redaktion mit Sitz in Bellinzona (Kanton Tessin). Von den italienischsprachigen Sprachdiensten stammen die Leitfäden, die An‐ weisungen zur Abfassung und Übersetzung behördlicher Texte enthalten und zu einheitlichen Schreibpraxen bei den italienischsprachigen Behördentexten führen sollten. In diesem Zusammenhang kann man bei den Korpustexten von einer Verschränkung der Lebensformen des Italienischen sprechen. Einer‐ seits geht es um die von Übersetzungsprozessen stark bestimmte Verwaltungs‐ sprache der Bundesbehörden, andererseits um die Verwaltungssprache der Kantonsbehörden. Beide haben einen gemeinsamen Kern bzw. beeinflussen sich gegenseitig (vgl. oben Alternative C bei Berruto 2012). Bei den Korpustexten 207 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="208"?> haben wir es somit mit dem italiano elvetico zu tun, das - sei es in übersetzten Bundestexten oder in italienischen Kantonstexten - als die italienische Verwal‐ tungssprache der Schweiz anzusehen ist. 1.2.3 Subkorpora der Untersuchung Die Einbürgerung in der Schweiz wird durch das Bürgerrechtsgesetz (BüG) geregelt, das den rechtlichen Rahmen zu Fragen in Verbindung mit Staats‐ bürgerschaft absteckt. Zur Zeit der Korpuszusammenstellung (Februar 2017) war das Bundesgesetz über den Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) vom 29. September 1952 in Kraft. Das Gesetz legt zwei Erwerbsarten des Schweizer Bürgerrechts fest. Man kann einerseits das Bür‐ gerrecht von Gesetzes wegen d.h. automatisch erhalten. Dies geschieht, wenn zumindest ein Elternteil Schweizer ist. Dabei hält man sich an das Prinzip der mütterlichen oder väterlichen Abstammung (ius sanguinis). Danach ist das Kind von Schweizer Eltern mit der Geburt Schweizer Bürger. Andererseits kann man das Schweizer Bürgerrecht durch behördlichen Beschluss erwerben. In diesem Fall ist ein administratives Verfahren vorgesehen, das mit dem Einreichen eines Gesuchs einsetzt und sich mit einem behördlichen Beschluss abschließt, wobei gewisse gesetzliche Voraussetzungen (Wohnsitzfristen und Integrationserfor‐ dernisse) erfüllt sein müssen. Hier haben wir es mit einer Einbürgerung zu tun. Gemäß dem BüG gibt es drei Einbürgerungsarten: die ordentliche Einbürgerung, die erleichterte Einbürgerung und die Wiedereinbürgerung. Die ordentliche Ein‐ bürgerung entspricht der klassischen Einbürgerungsart für Ausländer. In den Genuss einer erleichterten Einbürgerung kommen in erster Linie ausländische Ehepartner von Schweizer Bürgern. Von einer Wiedereinbürgerung betroffen sind Personen, die das Schweizer Bürgerrecht früher besaßen und es verloren haben. Wie bereits angeführt (vgl. II.1.1), bezieht sich das Bürgerrecht der Schweiz auf drei Niveaus: Man ist gleichzeitig Bürger einer Gemeinde, eines Kantons und der Eidgenossenschaft. Wenn man sich in die Schweiz einbürgern lassen möchte, muss man sich dementsprechend um das Bürgerrecht auf den drei Ebenen bewerben. Die Zuständigkeiten sind also auf die föderalistischen Einheiten verteilt. Damit geht einher, dass die Schweizer Gesetzgebung zur Einbürgerung ziemlich kompliziert ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das BüG von 1952 mehr‐ mals teilrevidiert, um es nicht zuletzt an die sich verändernde Schweizer Gesetzgebung anzupassen. Solche Teilrevisionen bewirkten sprachliche und inhaltliche Unstimmigkeiten im BüG. Hinzu kam, dass es in den verschiedenen Kantonen stark voneinander abweichende gesetzliche Bestimmungen zum 208 1 Methodik <?page no="209"?> Thema Einbürgerung gab und dass sich daher auf den unteren Staatsebenen landesweit uneinheitliche Praxen ausgebildet hatten. Das war die Ausgangslage, als Ende der 2000er Jahre beschlossen wurde, das Bürgerrechtsgesetz einer To‐ talrevision zu unterziehen. Diese Revision sollte das BüG von sprachlichen und inhaltlichen Inkongruenzen bereinigen, es an das geltende Recht - besonders an das neue Ausländergesetz von 2005 - anpassen, präzisere bzw. konkretere Integrationskriterien bestimmen und im Allgemeinen zu einer Harmonisierung der Einbürgerungsverfahren innerhalb der Kantone führen (vgl. BR 2011). Die gesetzgeberischen Arbeiten haben jahrelang gedauert und sind in ein Bürgerrechtsgesetz im neuen Gewand - das Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) vom 20. Juni 2014 - gemündet, das am 01.01.2018 in Kraft getreten ist. Da dieses Gesetz zur Zeit der empirischen Analyse dieser Arbeit noch nicht gültig war, sind die Ausführungen dieser Untersuchung überwiegend auf das alte BüG von 1952 bezogen. Das jetzt (2020) geltende Gesetz (BüG von 2014) wird hier dennoch auch berücksichtigt. Alle Korpustexte hängen direkt oder indirekt mit dem Gesetzestext (BüG von 1952) zusammen, der den Kern des ganzen Untersuchungskorpus bildet, da er den Bezugspunkt für die anderen Texte repräsentiert. Anhand der mit dem BüG verbundenen bzw. es betreffenden Subthemen, die jeweils in den verschiedenen Texten im Fokus stehen, wurde das Untersuchungskorpus grob in vier Subkorpora untergliedert: 1. Subkorpus 1: Geltendes Recht: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) 2. Subkorpus 2: Rechtsetzung/ Gesetzgebung: Totalrevision des Bürgerrechts‐ gesetzes und Einführung einer Bürgerrechtsverordnung 3. Subkorpus 3: Geltendes Recht: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) 4. Subkorpus 4: Geltendes Recht: Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’atti‐ nenza comunale von 1994 (Kanton Tessin) Bei den Subkorpora 1, 3, 4 steht jeweils ein Erlasstext im Mittelpunkt. Bei 1 ist es das Bürgerrechtsgesetz (BüG) von 1952, wofür der Träger der illoku‐ tionären Rolle (vgl. Adamzik 2016c: Kap. 4) das Schweizer Parlament („Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft“) ist. Im Zentrum des Subkorpus 3 steht die Bürgerrechtsverordnung (BüV) des Kantons Zürich, d. h. der vom Züricher Regierungsrat verabschiedete Normtext, der den Erwerb des Bürgerrechts auf kantonaler Ebene bestimmt. Der entsprechende Text für den Kanton Tessin ist die Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (LCCit), für die der Gran Consiglio della Repubblica e Cantone Ticino offiziell zeichnet und der Bezugstext des Subkorpus 4 ist. Die Haupttexte dieser 209 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="210"?> drei Subkorpora sind normative Texte, die ein bestimmtes Gebiet - alles, was den Besitz, Erwerb oder Verlust des Bürgerrechts in der Schweiz angeht - regeln. Sie sind funktional äquivalent, unterscheiden sich voneinander nur in Bezug auf ihren Geltungsraum. Gilt das BüG für die ganze Schweiz, sind die kantonalen Erlasse nur im jeweiligen kantonalen Territorium gültig bzw. anwendbar. Die drei Texte sind protypische Rechtstexte mit hohem Verbindlichkeitsgrad und sind in Hinblick auf ihren Geltungsmodus (vgl. Klein 2000a) ähnlich. Sie sowie die Texte, die auf sie bezogen sind und die entsprechenden Subkorpora bilden, sind besonders dem Kommunikationsbereich bzw. dem Pol Rechtswesen nah. Das Subkorpus 2 befindet sich hingegen an der Schnittstelle zwischen den Bereichen Rechtswesen und Politik, da es dabei um die Texte geht, die ein Gesetzgebungsverfahren begleiten und zur Schaffung neuen Rechts führen. Da es sich hier um die Texte handelt, die im Rahmen der totalen Revision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 produziert wurden, steht nicht der Gesetzestext als Endprodukt im Mittelpunkt, sondern ein Normtext als „ein Produkt im Status tatsächlicher oder zumindest potentieller Transformation“ (Klein 1991: 252). Im Vordergrund steht dabei die Perspektive, wonach Gesetzestexte (im weiteren Sinne) „Grenzgänger“ (Nussbaumer 2002; Hervorhebung A.A.) zwischen Recht und Politik sind. Sie haben die Politik in sich drin, hinter sich und um sich herum (vgl. I.1.1): Gesetzestexte haben die Politik in sich drin. Das heißt: Jede rechtliche Norm ist politisch im doppelten Sinn: (1) Mit ihr werden öffentliche, staatliche, gesellschaftliche Belange gestaltet. Und (2) in sie sind Entscheidungen über dieses Politische und damit Interessen und Machtverhältnisse eingeschrieben […]. Gesetzestexte haben die Politik hinter sich. Das meine ich (1) im zeitlichen und (2) im auktorialen Sinn: Gesetzestexte sind das Produkt politischer Prozesse, sie sind aus einem politischen Diskurs hervorgegangen. Sie sind geronnene, zum Stillstand gekommene Politik […]. Und gerade weil die Gesetze diesen politischen Prozess, das Verfahren, hinter sich haben - und zwar jetzt im auktorialen Sinn -, genau deshalb gelten sie. Schließlich: Gesetzestexte haben die Politik um sich herum. Das heißt: Gesetzestexte sind - auch einmal erlassen - ständig Gegenstand politischer Auseinandersetzung. An ihnen arbeitet sich die Politik auch weiterhin ab. Es gibt über die Verabschiedung durch das Parlament und das Inkrafttreten hinaus einen politischen Diskurs in einer überaus vielfältigen Textsortenwelt, der sich intertextuell auf den Gesetzestext bezieht (Nussbaumer 2002: 182 f.; Hervorhebungen A.A.). Bevor man zur Endfassung eines Normtextes kommt, der dann offiziell in Kraft gesetzt wird und somit eine bestimmte Geltungsdauer hat, liegen also 210 1 Methodik <?page no="211"?> verschiedene Versionen des Gesetzes vor. Darin zeigt sich der große Herstel‐ lungsaufwand, der mit dem Erlassen eines normativen Textes verbunden ist. Die Arbeitsschritte, die zur Zusammenstellung des Untersuchungskorpus und zu dessen Aufteilung in vier Subkorpora geführt haben, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Als Quelle für die Sammlung empirischen Materials für die Untersuchung der kommunikativen Praktiken der Schweizer öffentlichen Verwaltung galten die Webauftritte der Schweizer Bundesbehörden. Aufgrund eines alltagshermeneutischen Verfahrens, das zunächst die Perspektive eines Durchschnittsbürgers einnahm, wurde nach Texten zum Thema Einbürgerung in der Schweiz gesucht. Berücksichtigt wurden sowohl deutschals auch italienischsprachige Texte. Bei der Textauswahl wurde den von den Behörden hergestellten Verlinkungen nachgegangen. Es kam zu einem Korpus, das 219 Texte umfasst. Die Korpustexte hängen alle mit dem Makrothema Einbürgerung zusammen. Innerhalb des Untersuchungskorpus wurden die Texte, die engere Relationen miteinander aufwiesen, da sie jeweils einen und denselben Aspekt des in Rede stehenden, komplexen Themenbereichs betreffen, in kleinere Gruppen geteilt. Im Mittelpunkt jeder Subgruppe stehen jeweils ein bzw. ein paar Texte, die als Bezugspunkt für die anderen Texte angesehen werden können bzw. als Katalysator fungieren. Dabei handelt es sich also um die Texte, „die in besonderer Weise den Verlauf bzw. die Struktur der Vernetzungen prägen“ (Brinker et al. 2014: 151). Die Aufteilung in Subgruppen wurde lediglich aus forschungspraktischen Gründen durchgeführt. Rechnung getragen wird immer wieder der Tatsache, dass im Endeffekt alles irgendwie mit allem zusammen‐ hängt (vgl. Steyer 1997). Im Blick hat man also, dass die Textsorten-Relationen nicht nur zahlreich, sondern auch vielschichtig sind, d. h. dass jede Textsorte bzw. jedes Textexemplar in mehrfacher und unterschiedlicher Hinsicht mit anderen Texten/ Textsorten verknüpft ist, so dass man tatsächlich von einem mehrdimensio‐ nalen Textsortennetz sprechen muss, das sich nicht in paradigmatischen/ horizon‐ talen und syntagmatischen/ vertikalen Bezügen erschöpft ( Janich 2009: 16; Hervorhe‐ bungen A.A.). Bei den Texten der vier Subkorpora wurden empirische Studien zum Sprach‐ gebrauch der Schweizer Behörden ausgeführt. Im Rahmen der Beschreibung der dominanten Textrelationen innerhalb jeder Subgruppe ließen sich auch Text‐ sortenanalysen durchführen, die sich auf die Untersuchung der sprachlichen Oberfläche der Textexemplare erstreckten. Dies war notwendig, denn [s]chließlich gehört zu einer Untersuchung der Vernetztheit von Textsorten auch deren Beschreibung im Einzelnen […] um die zwischen den Texten bestehenden Relationen letztlich überhaupt erst erfassen bzw. begründen zu können (Janich 2009: 8). 211 1.2 Das konkrete Korpus <?page no="212"?> Dabei boten sich als Arbeitsmittel Mehrebenen-Klassifikationen an. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sich Texte und Textsorten durch die Kombi‐ nation der Ausprägungen verschiedener Beschreibungsdimensionen charakte‐ risieren lassen (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 142 ff.). Die verschiedenen Beschreibungsdimensionen liegen quer zueinander, stehen also eigentlich nicht in hierarchischen Beziehungen, man kann sie allerdings in bestimmter Weise anordnen, z. B. zunächst funktionale Typen unterscheiden, die dann situativ subdifferenziert werden - oder aber anders‐ herum (Adamzik 2016c: 329). 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung Die textlinguistische Analyse der Korpustexte setzt am Raster von Adamzik (2016c: 112) ein, das zwischen vier zentralen Dimensionen der Textbeschrei‐ bung unterscheidet (Abb. II.1.5): Abb. II.1.5: Dimensionen der Textbeschreibung (Adamzik 2016c: 112) Im Mittelpunkt der Abbildung bzw. der Analyse steht die zu analysierende kommunikative Einheit, die entweder nur aus sprachlichen Zeichen besteht und daher ein Textprodukt bildet oder einem Zeichenkomplex bzw. einem Kommunikat entspricht, das sprachliche und nicht sprachliche Elemente miteinander kombiniert. Die kommunikative Einheit steht in Beziehung zu den Dimensionen Thema/ Inhalt, Funktion und Situation, die die Aspekte darstellen, unter denen sich Texte beschreiben lassen. Die zentralen Dimen‐ sionen umfassen Unterkategorien, denen Merkmale zuzuordnen sind. 212 1 Methodik <?page no="213"?> Welche Kategorien aus welchen Dimensionen relevant sind, hängt jeweils vom Material ab: Welche Fragestellungen und welche Kategorien bei der Analyse von Textkorpora oder Einzeltexten sinnvoll sind, ist vielmehr vom Einzelfall abhängig, also induktiv und materialgeleitet zu bestimmen. Es ergibt sich teilweise unmittelbar aus dem in‐ tuitiven Eindruck und einem globalen Textverständnis, das Auffälligkeiten registriert (Adamzik 2016c: 288; Hervorhebungen im Original gelöscht). Vom vorliegenden konkreten Untersuchungskorpus ausgehend bzw. anhand von Pilotanalysen lassen sich aus den Dimensionen Funktion und Situation die Kategorien auswählen, die mittels Mehrebenen-Klassifikationen bzw. durch die Kombination von Merkmalen zur Beschreibung der Texte dieser Arbeit herangezogen werden. Der Ausdruck Funktion ist polysemantisch und weist in der Linguistik verschiedene Verwendungsweisen auf (für einen Überblick darüber vgl. Adamzik 2016c: 173 f.). Allgemein könnte man unter dem Begriff das verstehen, „was eine sinnvolle Antwort auf die Frage ist, wozu Texte produziert und rezipiert werden oder was Sprachbenutzer mit Texten machen“ (ebd.: 174 f.). Die Funktion eines Textes wird in der Regel als „zentrales Kriterium für die Unterscheidung von Textsorten“ (ebd.) herangezogen: Für […] Textklassen ist es in der Textlinguistik üblich geworden, funktionale Kri‐ terien (also Fragen des kommunikativen Zwecks, der kommunikativen Funktion eines Textes bzw. einer Textsorte) an prominenter Stelle zur Differenzierung von Textklassen anzusetzen, da andere, linguistisch präziser beschreibbare Kriterien (wie: Kohärenzstrukturen, Textaufbau, Formulierungsstil, Art der thematischen Entfaltung, vollzogene Texthandlungen) häufig nicht ausreichen, solche Textsorten (-Klassen) trennscharf voneinander abzugrenzen, für deren Unterscheidung intuitiv ein Be‐ dürfnis besteht (Busse 2000: 666). Die Praxis der Fokussierung auf die Funktion von Texten hat im Laufe der Zeit allerdings Kontroversen mit sich gebracht. Diese betreffen zum einen Fragen der Polyfunktionalität bzw. Unifunktionalität von Texten. Dementsprechend fragt man sich, ob „man Texten genau eine oder ggf. mehrere Funktionen zuschreiben will“ (Adamzik 2016c: 177). Zum anderen stellt sich die Frage, ob „allen Texten [überhaupt] eine kommunikative Funktion zuzuschreiben ist“ (ebd.). Schließlich ist bei der Bestimmung der Funktion eines Textes zu berücksichtigen, „welche Perspektive man einnimmt, die des Produzenten, des Rezipienten oder eines außenstehenden Beobachters“ (ebd.). Die Kontroversen haben sich in verschiedenen Ansätzen niedergeschlagen, die sich auf einer Skala zwischen den Polen positionieren, die einerseits die Gleichzeitigkeit der 213 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung <?page no="214"?> Funktionen innerhalb von Texten postulieren oder andererseits von einander ausschließenden Funktionen ausgehen (für eine Übersicht der Positionen vgl. Adamzik 2016c: Kap. 5). Letztere Position wird besonders in sprechakttheoreti‐ schen Ansätzen vertreten, die die Funktion eines Textes, häufig als textuelle Grundfunktion bezeichnet, mit der Intention des Senders gleichstellen. Von diesem funktional-kommunikativen Gesichtspunkt her bezeichnet die Funktion eines Textes also den „intendierte[n] Zweck“, „den der Produzent mit dem Text zu erreichen sucht, die soziale Handlung, die er damit vollziehen will“ (Adamzik 2016c: 173). Dass diese Position Probleme hervorruft und „nur zu sehr beschränkten Resultaten“ (ebd.: 192) führt, weil sie der Komplexität der Wirk‐ lichkeit nur partiell Rechnung trägt, wurde mehrmals und nicht zuletzt auch mit Bezug auf die Texte des Rechts- und Verwaltungsbereichs hervorgehoben: Hinsichtlich der Bestimmung der dominanten Textfunktion trifft man bei Rechts‐ texten dann auf ähnliche Probleme, wie sie in der Textlinguistik auch für andere Textsorten schon beschrieben wurden: Nimmt man die Sprechakttypologie als Aus‐ gangspunkt für die Differenzierung eines Klassifikationssystems für Textfunktionen (wie es in der Textlinguistik meist geschieht), dann kann man schnell feststellen, daß z. B. gerade die zentralen juristischen Texte, die Gesetze, Sprechakte verschiedener Typen enthalten (Busse 2000: 659). Als Beispiel führt Busse (2000) dabei das deutsche Strafgesetzbuch an. Er betont, dass dessen Paragraphen „weniger als ‚bindende Regeln des Verhaltens‘ formuliert [sind], sondern […] sprechaktanalytisch gesehen (im Hinblick auf den Adressatenkreis Bürger) Drohungen dar[stellen], daß auf ein bestimmtes Verhalten eine bestimmte Rechtsfolge zu erwarten ist“ (ebd.: 660). Für den Adressatenkreis Richter handle es sich hingegen um „Direktiven darüber, wann ein Verhalten, das bestimmte deskriptive Merkmale aufweist, bestraft werden muß“ (ebd.). Rolf (1993), der Texte nach ihrem „Illokutionsprofil“ klassifiziert und sich an das Konzept der „Illokutionshierarchie“ anlehnt, wonach „ein (Gebrauchs-)Text zumindest eine Äußerungseinheit mit dominierender, zudem aber andere Äußerungseinheiten mit subsidiärer und / oder supplementärer Illokution enthält“ (Rolf 1993: 313), ordnet Gesetzestexte den direktiven Text‐ sorten zu. Anderer Auffassung ist Wüest (1993), der ältere Gesetze (vom 18. und 19. Jahrhundert) mit neueren vergleicht. Er stellt fest: Nach neuerer Auffassung stellt sich der Sprechakt des ANORDNENS dagegen nicht mehr als direktiver, sondern als deklarativer Sprechakt dar, durch den eine hierfür kompetente Instanz gesetzliche Normen festlegt, welche auch auf die Mitglieder der gesetzgebenden Instanz selber anwendbar sind. Der Übergang von der älteren zur 214 1 Methodik <?page no="215"?> neueren Auffassung bahnt sich dabei schon in der Aufklärung an (Wüest 1993: 115; Hervorhebung im Original). Nach Wüests Meinung stellen Gesetze also Deklarationen dar. Um die verschie‐ denen Perspektiven-Differenzen auf einen Text sowie die nicht-kommunika‐ tiven Funktionen der Sprachverwendung in die Analyse einzubeziehen, schlägt Adamzik vor, ein Ertragsmodell einzusetzen. Danach entspricht die Kategorie Ertrag dem, „was Produzenten und Rezipienten (potentiell) aus dem Text gewinnen können“ (Adamzik 2016c: 192). Fokussiert werden in diesem Modell „die kreativen und interpretatorischen Spielräume beim Umgang mit Texten“ (ebd.: 196), der „als konstruktive Leistung zu verstehen ist“ (ebd.; Hervorhe‐ bungen im Original gelöscht). Die Behandlung von Funktionszuschreibungen als interpretativen Konstrukten legt nahe, wie vielschichtig die Funktionen sein können, die mit einem Text assoziiert werden. Daraus folgt, dass die Bereitstellung eines Inventars von Beschreibungsaspekten, die im Hinblick auf die Dimension Funktion als relevant anzusehen sind, etwas problematisch ist. Da der rezipientenseitige Umgang mit den Texten bei der vorliegenden Korpusanalyse ausgeschlossen bzw. unzugänglich ist, ist hier die Senderinten‐ tion zu fokussieren. Allerdings treten auch in diesem Fall Faktoren ein, die die Beschreibung der Funktion(en) der Korpustexte schwierig machen. Diese hängen besonders mit den Spezifika des Rechts- und Verwaltungsbereichs zusammen, in dessen Mittelpunkt der Begriff der Normativität steht: Bei den juristischen Textsorten entsteht hier allerdings das Problem, daß Überle‐ gungen über die ‚Funktion‘ von juristischen Texten (oder Teil-Textklassen) letztlich nicht ohne ein tiefes Einlassen auf die (in der Jurisprudenz selbst sehr umstrittenen) Normtheorien möglich sind und daß Funktionen juristischer Texte ohne die Be‐ zugnahme auf irgendeine Normtheorie im Grunde nicht präzise bestimmt werden können. Zumindest muß jedoch festgehalten werden, daß eine Funktionsbestimmung für juristische Texte (im vollen Sinne) allein mit linguistischen Mitteln nicht möglich ist. Die linguistische Beschreibung der juristischen Textsorten (und ihrer Typologie) steht somit vor einem unausweichlichen Dilemma: Zum einen sollte sie sich be‐ mühen, für die Deskription und Differenzierung auch der juristischen Textsorten überwiegend mit linguistischen Kriterien zu arbeiten (und nicht sozusagen den rechtstheoretischen Schulenstreit via zu enger Anlehnung an juristische Typologi‐ sierungsvorschläge in die Linguistik hineinzutragen); zum anderen muß sie aber an zentraler Stelle (dem Begriff der dominanten Textfunktion) immer wieder auf juristische Definitionen und Sichtweisen zurückgreifen, da anders die Textsortendif‐ ferenzierung nicht feinteilig genug erfolgen kann (Busse 2000: 666; Hervorhebungen A.A.). 215 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung <?page no="216"?> 279 Unter Rechtstexten mit informativer Funktion versteht Madsen (1997) allerdings beson‐ ders Texte, die der Kommunikation zwischen Experten dienen: „this type of legal text […] typically functions in recurrent communicative situations within a legal universe, between specialist senders and recipients talking academically about legal acts, and developing legal theories“ (Madsen 1997: 21). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff informativ im weiteren Sinn verstanden und er umfasst auch die Texte, die bei der Kommunikation zwischen Experten und Laien produziert werden. Da es schwerfällt, den Normbegriff, der „die ganze Existenz, das Wirken und die Funktion der Institution Recht fundiert (und der darum weit in anthro‐ pologische und soziologische Erklärungskontexte hineinreicht)“ (Busse 2000: 669) „allein aus linguistischer Perspektive eindeutig zu bestimmen“ (ebd.), schlägt Busse für „rein textlinguistische[.] Zwecke“ (ebd.) vor, darunter alle Texte zusammenzufassen, die „mit Gesetzeskraft versehen sind und die im institutionellen Handeln des Rechtswesens als solche behandelt werden“ (ebd.). Dabei spricht Busse von „förmlich verabschiedete[n] Normtexte[n]“ (ebd.) und er betont, dass es hier um „Handlungen anderer Personen/ Institutionen im Rahmen institutioneller Verfahrensweisen/ Kontexte“ geht „in Form einer über den Einzelfall hinausgehenden, generalisierenden Weise festlegend im Sinne von ‚zulässig‘/ ‚nicht zulässig‘“ (ebd.). Diese Begriffsbestimmung wird in dieser Arbeit übernommen und der Aspekt normativ wird hier verwendet, um Texte mit normativer Kraft zu beschreiben, d. h. „als solche verabschiedete Normtexte“ (ebd.), die aus einem aus mehreren Etappen bestehenden Verfahren hervorgehen (vgl. den Begriff „Verfahrensfestigkeit“ in I.1.1). Die Normativität zählt somit zu den Kategorien, die hier der Dimension Funktion zugeordnet werden. Eine weitere kategoriale Unterscheidung, die hier relevant ist, betrifft das „Kriterium der unmittelbaren rechtlichen Relevanz eines Texts“ (Rovere 2017: 318; vgl. I.2.1). Dementsprechend wird in dieser Untersuchung unterschieden zwischen Texten, die für den Adressaten keine Rechtswirkung haben und deren Hauptfunktion es ist, dem Rezipienten „die Möglichkeit zu geben, seinen Wissensstand hinsichtlich einer juristischen Thematik zu erweitern“ (ebd.), und Texten, die Rechtswirkung haben „nach Maßgabe der jeweils realisierten deontischen Modalitäten (Verpflichtung, Berechtigung, Verbot, Entpflichtung)“ (ebd.). Diesen beiden Kategorien entsprechen hier in Anlehnung an Madsen (1997) die Bezeichnungen informativ und performativ: I believe that an account of legal texts reflecting practice should be founded on a distinction between mere communications about legal topics and legal acts with a binding force, i. e. between legal texts with a merely informative (constative or descriptive) function and legal texts with a performative function (Madsen 1997: 19; Hervorhebungen A.A.). 279 216 1 Methodik <?page no="217"?> 280 Diese Kategorien stammen von Jakobs/ Lehnen (2005), die sie auf Hypertexte beziehen. Die Autorinnen unterscheiden vier Typen von Bausteinen, die Hypertextvorkommen bilden (können): funktional systembezogene Bausteine, funktional aufgabenbezogene Bausteine, funktional interaktionsbezogene Bausteine und thematische Bausteine. Der Typ funktional systembezogene Bausteine, der Bausteine beschreibt, die „der Orientierung oder Bewegung im Gesamtsystem [Hypertext]“ (ebd.: 162) dienen, und der im Sinne von Jakobs/ Lehnen vor allem auf Einstiegsseiten (Homepages) bezogen ist, wird in dieser Arbeit nicht übernommen. Bei den informativen Texten lässt sich weiter unterscheiden, ob sie primär informationsorientiert oder verhaltensbeeinflussend sind (vgl. I.1.2.1.3). Mit performativ ist gemeint die Funktion von Texten, „mit denen rechtlich verbind‐ liche Sprachhandlungen durchgeführt werden, unabhängig davon, ob es sich um rechtsetzende oder rechtsanwendende Texte handelt“ (Rovere 2017: 318 f.). Damit verbunden ist die situative Kategorie Geltungsmodus, mit der es hier begrifflich Überschneidungen gibt. Der Ausdruck Geltungsmodus verweist nämlich nach dem Verständnis von Klein auf „die Bindekraft der Exemplare einer TS“ (Klein 2000a: 37) für die Kommunikanten. Die Kategorie wird in dieser Arbeit uminterpretiert und bezieht sich auf die sprachliche Gestaltung eines Textes, die entweder bindend - wie bei den Normtexten - oder nicht bindend - wie etwa bei Webseiten, auf denen Rechtsbestimmungen rekontex‐ tualisiert werden - sein kann. Unterschieden wird schließlich, ob die Korpus‐ texte entweder inhaltsbezogen sind oder ob sie überwiegend dem Vollzug einer (nicht)sprachlichen Handlung bzw. der Interaktion mit anderen Personen dienen. In diesem zweiten Fall ist von aufgabenbzw. interaktionsbezogenen Texten die Rede. 280 Texte mit performativer Funktion wie Normtexte sind Beispiele für „prototy‐ pische Konstellationen“ (vgl. Adamzik 2016c: 195), bei denen die „(beiderseitige [d. h. von Produzent und von Rezipient]) Realisierung einer konventionellen Grundfunktion den (unproblematischen) Normalfall darstellt“ (ebd.). Typisch für solche Texte ist, dass sie gewöhnlich mit konventionell geltenden Mitteln produziert werden, dass sie also stereotype Merkmale der sprachlichen Gestal‐ tung aufweisen. Dies bedeutet, dass diese Texte mehr oder weniger stark standardisiert sind. Auch der Standardisierungsgrad zählt somit zu den Kategorien, die in dieser Untersuchung relevant sind. Dieser Beschreibungsas‐ pekt, der als skalare Größe zu verstehen ist, erfasst den Umstand, dass die ver‐ schiedenen Klassen von Texten „einen unterschiedlichen Variationsspielraum offenlassen“ (Adamzik 2019: 60). Gruppen von Texten, die auf den verschiedenen Sprachebenen (lexikalisch, syntaktisch, textuell) deutlich spezifiziert sind, die also weniger Variation erlauben, entsprechen dem Begriff Textsorte, wie er häufig in der (Text-)Linguistik definiert ist. Danach lasse sich eine Textsorte 217 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung <?page no="218"?> 281 Diese Lesart des Ausdrucks Textsorte bezeichnet Adamzik (1995b; 2016c) als „spezi‐ fisch“. Davon grenzt sie eine „unspezifische Lesart“ von Textsorte ab. Diese beschreibt „irgendeine Sorte, Menge oder Klasse von Texten“, die „entsprechend irgendeinem Differenzierungskriterium (oder auch mehreren zugleich) von anderen Mengen bzw. Klassen von Texten unterschieden werden kann“ (Adamzik 1995b: 14). 282 Textsortenbezeichnungen spielen in Rolfs Klassifikationsversuch der Gebrauchstexts‐ orten eine sehr wichtige Rolle. Für den Autor, der die Gebrauchstexte auf fünf funktio‐ nale Klassen verteilt, die den fünf Klassen der Searle´chen Sprachakttypen entsprechen, ist die Textsorten-Bezeichnung „der wichtigste - sprachliche - Indikator der Funktion eines Textes“ (Rolf 1993: 147). Kritisch zu dieser Position: Busse (2000: 659). 283 Vgl. https: / / www.termdat.bk.admin.ch/ Entry/ EntryDetail/ 56860? strLanguages=2-6-7- 8-3&isPartialView=0; 17.07.2018. als die typische Verbindung „von kontextuellen (situativen), kommunikativfunktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen“ beschreiben (vgl. Brinker et al. 2014: 139; zuerst Brinker 1985: 124). 281 Textsorten in diesem Sinne, also unterschiedlich stark standardisierten Texten, werden in der Praxis gewöhnlich klare, d. h. eindeutig und einheitlich verwendete Textsortenbezeichnungen zugeordnet, die oft in den Überschriften der Text‐ exemplare erscheinen. 282 Was die Praktiken der Schweizer Behörden angeht, sind solche Bezeichnungen oft Termini, die in die fünfsprachige, von den zentralen Sprachdiensten der Bundeskanzlei verwaltete Datenbank TERMDAT eingetragen und erklärt werden. Zum Eintrag Bundesgesetz ist z. B. die folgende Definition anzutreffen: Gesetz, das von der Bundesversammlung aufgrund einer Ermächtigung oder eines Auftrags in der Bundesverfassung oder eines Vorstosses aus dem Volk, vom Parlament oder vom Bundesrat erlassen wird, dem fakultativen Referendum untersteht und in der Regel unbefristet gilt, ausser wenn es dringlich erklärt und im entsprechenden Verfahren verabschiedet wird. 283 Die Begriffserklärung enthält zwar keine Information zur formalen Struktur der hier im Mittelpunkt stehenden Textsorte, sie weist aber auf situative Faktoren der Textproduktion hin (formeller Produzent ist das Parlament oder der Bundesrat; der Text wird im Rahmen eines institutionellen Verfahrens emittiert). Mit der ausgeprägten Standardisierung gewisser Textsorten der Schweizer Behörden verbunden ist die Existenz einer breiten Palette von Metatexten, die bei der Textredaktion als Hilfsmittel fungieren. Sie sind zugleich Anlass und Folge des Standardisierungsprozesses bestimmter Texte. Ihre Anwendung wirkt sich darauf aus, dass stark standardisierte Texte sorgfältig kontrolliert werden. Die Sorgfalt, mit der an einigen Texten gearbeitet wird und die einen 218 1 Methodik <?page no="219"?> 284 Mit Kommunikationsformen beschäftigt sich besonders die Medienlinguistik. Der Ausdruck Kommunikationsform entspricht einem eher abstrakten Begriff, der je nach Perspektive auf Verschiedenes verweist. Verbreitet ist die Definition von Holly, der Kommunikationsformen als „medial bedingte kulturelle Praktiken“ (Holly 2011: 155) definiert. großen Herstellungsaufwand impliziert, hängt u. a. vom Publikationsort der jeweiligen Texte ab (vgl. I.3.4.2). Manchmal entsprechen die von den Beteiligten benutzten, sich im Text befindenden Textklassenausdrücke keinen standardisierten Textsorten, sondern sie bezeichnen Gruppen von Texten, die auf einem höheren Abstraktionsniveau angesiedelt sind. Dies trifft besonders auf Ausdrücke wie Handbuch oder Merkblatt zu, die Bezeichnungen für Publikationsformen sind, wobei in beiden Fällen auch eine grobe Funktionsangabe impliziert ist. Häufig finden sich in Texten gar keine metasprachlichen Ausdrücke zur Beschreibung der Textart, unter die der jeweilige Text fällt. Dabei geht es oft um Kommunikati‐ onsformen, d. h. der Text ist nicht mit einem bestimmten Muster zu assoziieren, das auf verschiedenen Dimensionen spezifiziert ist, sondern er entspricht einfach einer „formale[n] Ausprägung[.] der Nutzung eines Mediums“ (Marx/ Weidacher 2014: 197). Er gehört also einer Textgruppe bzw. einer Kategorie an, die nur situativ (medial) bestimmt ist. Ein Beispiel dafür sind Webseiten, die die „Art und Weise des Gebrauchs [widerspiegeln], den Kommunizierende von den Möglichkeiten eines Mediums [- des Mediums Internet -] machen“ (ebd.). Grundsätzlich sind Webseiten „die wichtigste Kommunikationsform im Internet“ (ebd.: 201). 284 Was die Dimension Situation angeht, werden neben Geltungsdauer und Geltungsmodus, Herstellungsaufwand, Publikationsort, Medialität (im Sinne von materieller Realisierung und Zeichenart(en)) auch die Kategorien Produzent und Rezipient als relevant gesetzt. In Bezug auf die Kategorie Rezipient ist die Unterscheidung zwischen behördeninternen und behördenexternen Texten relevant (vgl. I.1.2.1.3). Dementsprechend ist bei der Analyse der Korpustexte zu berücksichtigen, ob der primäre Adressat der jeweiligen Texte eine Behörde ist oder jemand anderer, der der Behörde nicht angehört. Die verschiedenen Ausprägungen, die für die Operationalisierung der Rezipienten herangezogen werden, sind in der folgenden Abbildung schematisch dargestellt (vgl. Abb. II.1.6 und auch die Abbildung in Alghisi 2018: 197): 219 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung <?page no="220"?> Abb. II.1.6: Behördenkommunikation, unterteilt nach Hauptadressaten Bei den behördeninternen Texten ist an erster Stelle zu fragen, ob sie andere Mitarbeiter im Allgemeinen adressieren oder ob sie bestimmte Mitarbeiter bzw. Mitarbeitergruppen ansprechen. Wenn sich die Textproduzenten an gewisse Adressaten bzw. Instanzen wenden, ist weiter danach zu unterscheiden, ob es sich bei solchen Adressaten um Instanzen desselben Typs (d. h. ein Amt kom‐ muniziert mit einem anderen Amt oder mit anderen Leuten bzw. Abteilungen desselben Amts) und Bereichs (etwa der Exekutive) handelt oder um Instanzen desselben Bereichs, aber anderen Typs bzw. anderen Typs und anderen Bereichs (Abb. II.1.7): Abb. II.1.7: Behördeninterne Kommunikation: Typ und Bereich Wichtig ist überdies die Bestimmung der politischen Ebene, auf der die Rezipi‐ enten im Vergleich mit den Produzenten angesiedelt sind. Auf der einen Seite kann die Interaktion zwischen Akteuren stattfinden, die demselben politischen Niveau angehören. Auf der anderen sind die Interaktankten verschiedenen föderalistischen Ebenen zugeordnet (Abb. II.1.8): 220 1 Methodik <?page no="221"?> Abb. II.1.8: Behördeninterne Kommunikation: politische Ebene Wie bereits ausgeführt (vgl. I.3.5.3; vgl. auch Alghisi 2018: 192), lässt sich die Makrogruppe der behördenexternen Adressaten in drei Untergruppen aufteilen, die den Rollen entsprechen, in denen die Rezipienten in den Texten hauptsächlich angesprochen werden: die Öffentlichkeit im weiteren Sinne, d. h. alle Personen, die sich für ein bestimmtes Thema interessieren, das Volk als Souverän, also die wahl- und stimmberechtigten Bürger, und die Wohnbevölkerung, die sich aus den Personen zusammensetzt, die in einem Land ansässig sind. Letztere Untergruppe kann weiterhin spezifiziert werden, indem man unterscheidet, ob man sich an die Wohnbevölkerung als Ganzes ohne weitere Spezifizierung richtet oder ob eine Einzelperson bzw. -organisation oder durch bestimmte Merkmale definierte Gruppen (Berufsgruppen, Altersgruppen, soziale Gruppen, ethnische Gruppen usw.) adressiert werden (Abb. II.1.9): Abb. II.1.9: Wohnbevölkerung: Ausprägungen Quer zu dieser Einteilung steht die Unterscheidung der politischen Ebenen, auf denen die in einem behördenexternen Text adressierten Rezipienten angesiedelt sind. Diese lässt sich durch drei konzentrische Kreise repräsentieren: Die Texte, die an die Bürger der gesamten Schweiz adressiert sind, sprechen natürlich auch die Bürger eines Kantons und einer Gemeinde an. Dies gilt aber nicht umgekehrt: Die Texte, die sich an die Einwohner einer Gemeinde richten, gelten natürlich 221 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung <?page no="222"?> nicht für alle Bewohner des Kantons oder für die Bürger der ganzen Schweiz (Abb. II.1.10). Abb. II.1.10: Behördenexterne Kommunikation: politische Ebenen Zur Ermittlung der Rezipienten, die von den Textproduzenten in einem Text an‐ visiert und also primär angesprochen werden, spielt die explizite Erwähnung der Adressaten selbstverständlich eine wichtige Rolle. Ausdrückliche Nennungen der Textrezipienten sind nicht so häufig, können aber in manchen Fällen festgestellt werden. Dies trifft etwa natürlich auf die Texte zu, die an bestimmte Individuen gerichtet sind; auch bei den Texten, die Gruppen von Individuen adressieren, können sich allerdings explizite Hinweise finden. Das ist etwa der Fall bei Metatexten, in denen häufig ausdrücklich steht, dass sie für die Nutzung durch bestimmte Gruppen, wie z. B. die Verwaltungsmitarbeiter des Bundes, gedacht sind. Durch Mehrfachadressierung sind die normativen Texte gekennzeichnet, die daher eine besondere Position in dem Schema zur Behördenkommunikation einnehmen. Ihre zentrale Stellung geht besonders darauf zurück, dass sie den Rahmen für das gesellschaftliche Zusammenleben stecken und im modernen Staat sowohl Behörden als auch Bürger betreffen. Auch hier wäre zu unter‐ scheiden zwischen den Normtexten, die die Allgemeinheit interessieren, und solchen, die nur gewisse Gruppen (etwa die Ausländer im Ausländergesetz) angehen. Überdies ist die Rolle der Juristen hervorzuheben, die die eigentlichen Leser der Normtexte sind (vgl. Abb. II.1.11 und I.3.3.2): 222 1 Methodik <?page no="223"?> Abb. II.1.11: Mehrfachadressierung bei den normativen Texten Die folgende Tabelle (Tab. II.1.1) gibt eine Übersicht über die Merkmalsausprä‐ gungen, die oben behandelt und in den folgenden Kapiteln bei der Beschreibung der einzelnen Subkorpora besonders berücksichtigt werden: FUNKTION: Haupt-Funktion informativ: informationsorientiert vs. verhaltens‐ beeinflussend normativ-performativ inhaltsbezogen aufgaben- oder interaktionsbezogen SITUATIVER KONTEXT: Geltungsmodus Wortlaut ist bindend? Produzent Politische Ebene: • Bund • Kanton • Gemeinde Behördentyp: • BR • BK • Dep. • Amt • Dep. Kommission • NR • SR • BV • Parlam. Kommission 223 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung <?page no="224"?> Bereich, dem P traditionell angehört: • Exekutive • Legislative • Judikative Einzelperson als Vertreter bzw. Ansprechperson er‐ wähnt? (primärer) Rezipient Behördenintern: • Mitarbeiter ohne weitere Spezifizierung • Bestimmte(r) Mitarbeiter oder Mitarbeiter‐ gruppe • Andere Instanz desselben Typs und Bereichs • Andere Instanz anderen Typs und Bereichs • Andere Instanz desselben Bereichs, aber anderen Typs • Andere Instanz desselben Typs, aber anderen Bereichs • Andere Instanz derselben politischen Ebene • Andere Instanz anderer politischer Ebene Behördenextern: • Wohnbevölkerung ohne weitere Spezifizierung • Betroffene(r) als Einzelperson oder Einzelorga‐ nisation • Betroffene als Kategoriegruppe • Interessierte Öffentlichkeit • Stimmvolk • Politische Ebene: Bund, Kanton, Gemeinde explizit angegeben? Medium Format: • Hypertext-Modul • E-Text/ ursprünglich PDF Kode: • Monocodal • Multicodal Publikationsort in einer (Rechts-)Sammlung veröffentlicht? Zeit Herstellungsbzw. Änderungsdatum vorhanden? (vorher) festgelegte Gültigkeit bzw. bestimmte Gel‐ tungsdauer? 224 1 Methodik <?page no="225"?> TEXTSORTE: Textsortenbezeichnung TS-Bezeichnung vorhanden? TS im engeren Sinn/ Terminus TS im weiteren Sinn (Kommunikationsform, Publika‐ tionsform) Tab. II.1.1: Überblick über die relevanten Kategorien für die Textanalyse Nachdem die Korpustexte in situativ-funktionaler Perspektive (textextern) beschrieben werden, gilt es, sie einer Analyse ihrer textinternen Merkmale (formale und inhaltliche Textstrukturen, Lexik und Grammatik) zu unterziehen. In den Fokus kommt das Textprodukt als Zeichenkomplex, dessen ‚auffällige‘, ‚bemerkenswerte‘ Charakteristika berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt steht die sprachliche Variation, wie sie beim Vergleich zwischen verschiedenen, thematisch zusammenhängenden (Teil-)Texten bzw. Text-Teilen ermittelbar ist. Bei der Analyse geht es darum, die Variation zu begründen, d. h. zu eruieren, worauf sie sich zurückführen lässt bzw. ob es Korrelationen zwischen sprachlichen und außersprachlichen Faktoren gibt oder ob die Verwendung unterschiedlicher Varianten für die Versprachlichung derselben Inhalte mit den Relationen, in die ein Text eingebettet ist, verbunden ist. Die Analyse der sprachlichen Gestalt erfolgt zuerst intralingual; in einem zweiten Schritt werden auch interlinguale Vergleiche (Deutsch vs. Italienisch) angestellt. Der Ansatz dieser Arbeit entspricht der Perspektive, wonach es sich im Allgemeinen empfiehlt, „die Gesamtheit der sprachlichen Ausdrucksmittel (und die entsprechenden linguistischen Kategorien) in die Textanalyse einzu‐ beziehen“ (Adamzik 2016c: 275; Hervorhebungen im Original gelöscht), da es „unüberschaubar vielfältige[.] Möglichkeiten“ gibt, „in einer Sprache dieselben (Komplexe von) Propositionen auszudrücken“ (ebd.). Gefolgt wird ihr bereits auch in anderen Arbeiten. Zu erwähnen ist z. B. Rocco (2013), die die Aktionärs‐ briefe und Einstiegsseiten von deutschen und italienischen Unternehmen in kontrastiv-textologischer Perspektive untersucht. Die Autorin hat ein „Holisti‐ sches Modell“ (Rocco 2013: 58 ff.) entworfen, das verschiedenene Dimensionen und Merkmalsausprägungen (textextern und textintern) miteinader kombiniert. Das Modell ist anpassungsfähig und soll es bei der Analyse der Textsorten erlauben, so viel relevante Aspekte wie möglich zu berücksichtigen. Zu ihrem Modell betont Rocco: Das skizzierte Untersuchungsdesign beruht auf der Absicht, ein umfassendes Krite‐ rienraster zu entwerfen, das ausreichend flexibel ist, um eine Vielzahl von Textsor‐ 225 1.3 Zu den Dimensionen der Textbeschreibung <?page no="226"?> tenmerkmalen zu erfassen und zugleich zentrale Aspekte der jeweiligen Textsorten‐ realisierung herauszufiltern. Das bedeutet, dass die […] aufgeführten Einzelaspekte potenziell relevante Untersuchungsfragen darstellen und es wenig sinnvoll wäre, sie bei jedem untersuchten Textvorkommen in ihrer Gesamtheit zu bearbeiten und vor allem als gleichrangig zu behandeln. Vielmehr ist von Fall zu Fall zu entscheiden, welche Forschungsfragen vertieft und weiter ausdifferenziert werden sollen, und welche hingegen für die gegebene Textsorte eher als sekundär einzustufen sind. Auf der anderen Seite kann das Modell je nach Textsorte und den Schwerpunkten der Untersuchung um weitere Merkmalgruppen und Forschungsfragen erweitert werden (Rocco 2013: 63). Dieselbe Logik liegt den im Folgenden behandelten empirischen Studien zu‐ grunde. 226 1 Methodik <?page no="227"?> 285 Jedem Korpustext wurde eine Abkürzung zugeordnet. Die Liste der Texte und der entsprechenden Abkürzungen, aus denen das Subkorpus 1 besteht, findet sich unter II.2.2. 286 Archiviert wurde zu Forschungszwecken allerdings nur die PDF-Version. 287 Da es nicht immer klar ist, „welcher Knoten [eines Hypertextes] noch zu einem Text gehört und welcher schon zum nächsten“ (Marx/ Weidacher 2014: 187), werden hier die Module als einzelne Einheiten bzw. Texte behandelt (vgl. II.1.2.1). Nur die Einzelteile, aus denen sich das Handbuch Bürgerrecht (BüG_3_de) zusammensetzt und die als PDF-Dateien zugänglich sind, werden als eine Einheit bzw. als ein Korpustext angesehen. 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) 2.1 Struktur des Subkorpus 1 Beim Subkorpus 1 handelt es sich thematisch um die Texte, die dem norma‐ tiven Rahmen im Bereich Bürgerrecht entsprechen bzw. ihn zum Gegenstand haben. Das ‚Was‘ der Text kommt also überwiegend dem Inhalt der Regeln bzw. der Bestimmungen gleich, die für das Bürgerrecht in der Schweiz gelten. Das Korpus umfasst 31 Dateien in deutscher Sprache. In dessen Mittelpunkt steht das Bundesgesetz über den Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) von 1952 (BüG_2_de), 285 das das Subkorpus mitkons‐ tituiert und somit hier als Kerntextsorte fungiert. Das Gesetz ist sowohl im PDF-Format (E-Text) als auch als Hypertext-Modul von der Website des Bundesrats (www.admin.ch) abrufbar. 286 In beiden Formaten zugänglich sind auch die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1999 in der Fassung vom 01.01.2016 (BüG_1_de) und die Verordnung über die Gebühren zum Bürgerrechtsgesetz (GebV-BüG) von 2005 (BüG_5_de). Die Bundesverfas‐ sung bildet die rechtliche Grundlage zum Thema Schweizer Bürgerrecht und ist hierarchisch dem Bundesgesetz und der Verordnung übergeordnet. Zum Subkorpus 1 gehören dann weitere 28 Texte, 3 davon sind E-Texte (PDF- Dateien), die anderen Hypertext-Module. 287 Nur in 4 Fällen findet sich im Text eine Bezeichnung, die sich auf die Textart bezieht, der der jeweilige Text zugeordnet wird. Dabei handelt es sich um das Bundesgesetz über den Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (BüG); die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft; die Verordnung über die Gebühren <?page no="228"?> 288 Bemerkenswert ist, dass neben dem englischsprachigen Akronym FAQ (frequently asked questions) ein deutschsprachiger Ausdruck bzw. eine deutsche Langform steht. zum Bürgerrechtsgesetz (GebV-BüG); das Handbuch Bürgerrecht (BüG_3_de). Die Ausdrücke Bundesgesetz, Bundesverfassung und Verordnung bezeichnen spezifische Textsorten und sind in TERMDAT eingetragen. Sie kommen hier in Syntagmen vor, die bestimmte Textsortenexemplare benennen und Informationen zum Thema (über) oder über die Situation (der Schweizerischen Eidgenossenschaft) enthalten. Die letztgenannte Benennung (Handbuch) ent‐ spricht hingegen einer Publikationsform, die funktional (es geht dabei um eine Art ‚Gebrauchsanweisung‘) und thematisch bestimmt ist (Bürgerrecht). In einem Korpustext findet sich die Textüberschrift FAQ - Häufig gestellte Fragen 288 (BüG_23_de). Dieser Titel kommt einem allgemeinen Ausdruck gleich, der der Nominalisierung eines Kommunikationsverbs (fragen) ent‐ spricht. In einem anderen Fall haben wir eine Textbezeichnung nur in dem von den Akteuren gewählten Datei-Namen. Dabei geht es um das eine Publikati‐ onsform bezeichnende Wort Merkblatt. Im entsprechenden Text findet sich allerdings keine Textbenennung (BüG_31_de). Bei den übrigen Korpustexten handelt es sich schließlich um einzelne Einheiten (Module) von Hypertexten, die zwar Überschriften aufweisen, aber keine Textsortenbezeichnungen ent‐ halten. 2.2 Inhalt der Korpustexte und deren Hauptfunktion Das Bürgerrechtsgesetz (BüG_2_de) bestimmt das Thema des Subkorpus 1. Mit ihm hängen alle anderen Korpustexte inhaltlich zusammen. Das Gesetz stützt sich auf die Artikel 37 und 38 der Bundesverfassung (BüG_de_1), die die schweizerischen Bürgerrechte auf einer sehr allgemeinen Ebene regelt. Art. 37 Abs. 1 bestimmt, wer die schweizerische Staatsangehörigkeit hat. Danach ist Schweizerbürger, „wer das Bürgerrecht einer Gemeinde und das Bürgerrecht eines Kantons besitzt“. Ausschlaggebender für das Thema Einbürgerung ist aber der Artikel 38, der im Folgenden vollständig wiedergegeben ist (Abb. II.2.1): 228 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="229"?> Abb. II.2.1: Art. 38 der Schweizer Bundesverfassung von 1952 Von großer Bedeutung ist dieser Artikel, weil er die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen zum Thema Bürgerrecht regelt. Danach ist die Ebene Bund zuständig für den „Erwerb und Verlust der Bürgerrechte durch Ab‐ stammung, Heirat und Adoption“, für die Wiedereinbürgerung, für die erleichterte Einbürgerung staatenloser Kinder und für den Verlust des Bürgerrechts „aus anderen Gründen“. Die ordentliche Einbürgerung von Ausländern steht hingegen den Kantonen zu, die dafür eigene Gesetze produzieren. Dabei erlässt allerdings auch der Bund „Mindestvorschriften“ und er erteilt die Einbürgerungsbewilligung. Wie bereits erwähnt (vgl. II.1.2.3), unterscheidet das Bürgerrechtsgesetz grob zwischen zwei Erwerbs- und Verlustarten des Schweizer Bürgerrechts: von Gesetzes wegen und durch behördlichen Beschluss. Die Fälle, die das Gesetz abdeckt, bzw. die Tatbestände, die den Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft bestimmen, sind in den folgenden Tabellen (Tab. II.2.1 und Tab. II.2.2) überblicksartig dargestellt: Von Gesetzes wegen Erwerb Verlust • Abstammung: Ein Elternteil ist Schweizer (Art. 1) • Findelkind: Es geht um das in der Schweiz gefundene Kind unbekannter Abstammung (Art. 6) • Adoption: Ein minderjähriges aus‐ ländisches Kind wird von einem Schweizer adoptiert (Art. 7) • Aufhebung des Kindesverhält‐ nisses: Das Kinderverhältnis zum El‐ ternteil, der dem Kind das Schweizer Bürgerrecht vermittelt hat, wird aufge‐ hoben (Art. 8) • Adoption: Ein minderjähriger Schweizer Bürger wird von einem Aus‐ länder adoptiert (Art. 8a) • Geburt im Ausland: Es geht um das im Ausland geborene Kind eines schweize‐ rischen Elternteils, das noch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt (Art. 10) Tab. II.2.1: Erwerbsarten des Schweizer Bürgerrechts: Von Gesetzes wegen 229 2.2 Inhalt der Korpustexte und deren Hauptfunktion <?page no="230"?> Durch behördlichen Beschluss Erwerb Verlust • Ordentliche Einbürgerung: Klassische Einbürgerungsart, Normalfall (Art. 12); Eignungskriterien geregelt durch Art. 14, Wohnsitzerfordernisse durch Art. 15, Ver‐ fahren im Kanton durch Art. 15a • Wiedereinbürgerung: Betrifft: Personen, die das Schweizer Bürgerrecht wegen Geburt im Ausland verwirkt haben (Art. 21); Personen, die aus dem Schweizer Bür‐ gerrecht entlassen wurden (um eine an‐ dere Staatsangehörigkeit erwerben oder behalten zu können) (Art. 23) • Erleichterte Einbürgerung: Betrifft: den Ehegatten eines Schweizer Bürgers (Art. 27); den Ehegatten eines Auslandschweizers (Art. 28); den Ausländer, der „im guten Glauben“ ge‐ lebt hat, er sei Schweizer Bürger; oder den Ausländer, der das Schweizer Bürgerrecht durch Aufhebung des Kindesverhältnisses zum schweizerischen Elternteil verloren hat (Art. 29); das staatenlose Kind, das in der Schweiz gewohnt hat (Art. 30); das Kind eines eingebürgerten Elternteils, das nicht in die Einbürgerung eines Eltern‐ teils einbezogen wurde (Art. 31a); das Kind eines Elternteils, der das Schweizer Bürgerrecht verloren hat (Art. 31b); Eignungsvoraussetzungen geregelt durch Art. 26 • Entlassung: Betrifft den Schweizer Bürger, der sich wünscht, aus dem Bürgerrecht entlassen zu werden. Bedingung: Er hat in der Schweiz keinen Wohnsitz und besitzt eine andere Staatsangehörigkeit (Art. 42) • Entzug: Betrifft einen Doppelbürger; ist möglich, wenn sein Verhalten den Interessen der Schweiz nachteilig ist (Art. 48) Tab. II.2.2: Erwerbsarten des Schweizer Bürgerrechts: Durch behördlichen Beschluss Die meisten Texte des Subkorpus 1 nehmen jeweils eines (oder mehrere) der im Bürgerrechtsgesetz behandelten Subthemen (aufgelistet in den obigen Tabellen) wieder auf. Diese werden in den Zieltexten rekontextualisiert und fokussiert. 230 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="231"?> 289 Zur Rolle von Überschriften bei der Erschließung des Themas eines Textes vgl. Adamzik (2016c: 207; Hervorhebung im Original): „Für den normalen Sprachbenutzer dürfte das ‚Was? ‘ eines Textes grundsätzlich im Vordergrund des Interesses stehen; außerdem sind Thema und Inhalt zweifellos das, was man intuitiv am leichtesten erfassen kann. Das liegt daran, dass man sie großenteils unmittelbar am Sprachmaterial ablesen kann; denn die Lexeme geben sozusagen schon die Kategorien vor, besonders natürlich, wenn sie auch noch an ausgezeichneter Stelle, d. h. im Titel oder in einem Satz wie In diesem Beitrag geht es um … stehen“. Einen Überblick über die Subthemen, die in den verschiedenen Korpustexten im Mittelpunkt stehen, bietet die folgende Auflistung (Tab. II.2.3), die einer Zusammenstellung der Titel der Texte im Subkorpus 1 entspricht. 289 Korpustext Textüberschrift BüG_1_de Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft BüG_2_de Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürger‐ rechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) BüG_3_de Handbuch Bürgerrecht BüG_4_de V. Bürgerrecht BüG_5_de Verordnung über die Gebühren zum Bürgerrechtsgesetz (GebV- BüG) BüG_6_de Erwerb des Schweizer Bürgerrechts, Doppelbürger BüG_7_de Ausländer in der Schweiz BüG_8_de Bedingungen für die ordentliche Einbürgerung BüG_9_de Einbürgerung BüG_10_de Erleichterte Einbürgerung BüG_11_de Haben Sie Ideen oder Wünsche für ch.ch? BüG_12_de Haben Sie die gewünschten Informationen nicht gefunden? BüG_13_de Ordentliche Einbürgerung BüG_14_de Schweizer Vertretungen im Ausland BüG_15_de Ch.ch BüG_16_de Wiedereinbürgerung BüG_17_de Neuregelung: Eingetragene Partnerschaften BüG_18_de Schweizer Pass 231 2.2 Inhalt der Korpustexte und deren Hauptfunktion <?page no="232"?> BüG_19_de Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung BüG_20_de Doppelbürgerrecht BüG_21_de Einbürgerungsverfahren BüG_22_de Erleichterte Einbürgerung BüG_23_de FAQ - Häufig gestellte Fragen. Schweizer Bürgerrecht / Einbür‐ gerung BüG_24_de Gebühren BüG_25_de Bürgerrecht BüG_26_de Die kantonalen Wohnsitzfristen bei der ordentlichen Einbürge‐ rung BüG_27_de Ordentliche Einbürgerung BüG_28_de Schweizer Bürgerrecht BüG_29_de Verfahrensdauer BüG_30_de Wiedereinbürgerung BüG_31_de_fr_it Erleichterte Einbürgerung für ausländische Ehepartner von Schweizerinnen und Schweizern mit Wohnsitz in der Schweiz Tab. II.2.3: Korpustexte des Subkorpus 1: Deutsch Ein besonders wichtiger Text im Bereich Einbürgerungsfragen ist das Handbuch Bürgerrecht (BüG_3_de). Dieses umfasst die gesetzlichen Grundlagen des Bundes im Bereich des Bürgerrechts, die Recht‐ sprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) und des Bundesgerichts (BGer), die Praxis des Staatssekretariates für Migration (SEM) und ein Literaturverzeichnis (BüG_3_de; Vorwort). Das Handbuch nimmt auf die Bundesverfassung (BüG_1_de), das Bürgerrechts‐ gesetz (BüG_2_de) sowie die Gebührenverordnung (BüG_5_de) Bezug, es ent‐ hält zugleich auch Verweise auf weitere Rechtstexte, die das Schweizer Bürger‐ recht prägen. Dabei handelt es sich sowohl um Texte der Rechtsprechung als auch um normative Texte im engeren Sinne, wie bi- und multilaterale Staats‐ verträge, sowie um allgemeine Prinzipien des Völkerrechts. In das Handbuch eingeflossen sind ferner die Kreisschreiben und Weisungen des Staatssekretariats für Migration SEM (vgl. II.2.3.1). Darin schlagen sich die Praxen der Bundesver‐ waltung im Umgang mit Fragen der Staatsbürgerschaft nieder. All diese Texte 232 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="233"?> 290 Dass ein bestimmter Themenbereich in unterschiedlichen Texten auf verschiedenen Be‐ hördenstufen geregelt wird, gehört zu den typischen Eigenschaften des Rechtswesens im modernen europäischen Staat. Vgl. dazu Lötscher (2005: 203): „Wer eine Regelung in ihren Einzelheiten erkennen will, muss […] mehrere unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Texte lesen“. 291 Adamzik spricht bei solchen Texten auch von „Gruppentexten“ (vgl. Adamzik 2018d). 292 Die Akteure können natürlich auch verschiedene Kommunikantenrollen gleichzeitig realisieren. spielen zwar eine entscheidende Rolle, wenn es auf die Regulierung von die Schweizer Nationalität betreffenden Einzelfällen ankommt, 290 sie sind allerdings nicht Teil des vorliegenden Einbürgerungskorpus. Ausgeschlossen wurden sie schlicht, weil sie auf den Behördenwebseiten nicht im Vordergrund standen und nur durch einen mehrere Ebenen übergreifenden Lese-Weg zugänglich waren. Anders gesagt: Darauf wurde bei der Korpuserstellung nicht unmittelbar getroffen. Nur im analytischen Schritt wurde die Existenz dieser Texte zur Kenntnis genommen. Das Handbuch stellt eine zentrale Informationsquelle zum Thema Einbürge‐ rung dar. Es entspricht einem informativen Text, der normativ-performative Texte zum Gegenstand hat. Anders als das Bürgerrechtsgesetz, die Bundes‐ verfassung oder die Gebührenverordnung ist sein Wortlaut allerdings nicht bindend. Keinen bindenden Wortlaut haben auch die übrigen Korpustexte, die sich inhaltlich auf das Bürgerrechtsgesetz (oder auf die anderen normativen Texte) beziehen. Es handelt sich in den meisten Fällen um informative, inhalts‐ bezogene Texte. Nur in einigen, wenigen Fällen entsprechen die Korpustexte funktional interaktionsbezogenen Einheiten. Diese fordern die Adressaten zu einem Feedback auf (vgl. etwa BüG_11_de; BüG_12_de). Funktional aufgaben‐ bezogen ist schließlich das Hypertext-Modul BüG_18_de, das der Bestellung des Schweizer Passes dient. 2.3 Situativer Kontext 2.3.1 Produzent Auch wenn Behördentexte gewöhnlich aus einem kooperativen Formulierungs‐ prozess und der Arbeitsteilung hervorgehen und also das Produkt einer Kette von Akteuren sind, 291 gibt es in der Regel eine oder mehrere Instanzen, die offiziell als verantwortlich dafür zeichnen. Solche Instanzen entsprechen den Trägern der illokutionären Rolle, während die lokutionäre Rolle von anderen Instanzen bzw. Akteuren realisiert werden kann (vgl. II.1.1 und II.1.2.3). 292 Da 233 2.3 Situativer Kontext <?page no="234"?> 293 Dabei handelt es sich um die folgenden Texte: BüG_4_de; BüG_19_de bis BüG_30_de. es nicht möglich ist, von den Korpustexten die Formulierer herzuleiten, die in ihren Berufs- oder Funktionsrollen die Texte verfasst haben, werden in dieser Analyse nur die Träger der illokutionären Rollen berücksichtigt. Diese werden häufig in den Texten selber erwähnt. Manchmal ist die Einbettung eines Textes in einen bestimmten Kontext (etwa die Website einer Behörde) für die Bestimmung des Textproduzenten aufschlussreich. Träger der illokutionären Rolle ist beim Bürgerrechtsgesetz (BüG_2_de) die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, d. h. das Schweizer Parlament (vgl. I.3.4.1). Dabei handelt es sich um eine Instanz, die im innerstaat‐ lichen Organisationsaufbau traditionell der Legislative zugeordnet wird. Das Schweizer Parlament ist der offizielle Produzent auch der Bundesverfassung (BüG_1_de), die explizit im Auftrag des Schweizer Volkes und der Kantone, vom Parlament vertreten, verabschiedet wird. Die einleitende Formulierung, die in den Text einführt, lautet: „Das Schweizervolk und die Kantone […] geben sich folgende Verfassung“. An der Grenze zwischen Legislative und Exekutive steht die Textsorte Verordnung (Gebührenverordnung, BüG_5_de). Diese ist formal und funktional ein Erlasstext, wenn auch untergeordneter Stufe, der Textemittent ist aber nicht das Parlament, sondern der Schweizerische Bundesrat (Schweizer Regierung; vgl. I.3.4.1). Die übrigen Korpustexte werden von Instanzen der Exekutive emittiert: Bei 14 Korpustexten 293 handelt es sich um Hypertext-Module, für die kein Emit‐ tent explizit angegeben wird, die aber aufgrund ihres Erscheinungsorts einer Verwaltungseinheit, dem Staatssekretariat für Migration SEM, zuzuschreiben sind. Dieses gehört zum Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement EJPD und ist für Fragen des Bürgerrechts zuständig. Ersetzt hat es vor kurzer Zeit (2014) das nun nicht mehr vorhandene Bundesamt für Migration BFM, das im Subkorpus 1 als Emittent des Merkblatts zur Erleichterten Einbürgerung für ausländische Ehepartner (BüG_31_de) erscheint. Von Ämtern stammen auch die Hypertext-Module BüG_6_de, das vom Bundesamt für Statistik BFS herausgegeben wird, und BüG_18_de, für das das Bundesamt für Polizei fedpol zuständig ist. Weitere 10 Webseiten (BüG_7_de bis BüG_16_de) sind Teil des Behördenportals ch.ch (vgl. I.3.5.3 und II.1.1). Das Portal ist zwar ein Produkt der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen föderalistischen Verwaltungsein‐ heiten (Bund, Kantone und Gemeinden), betrieben wird es allerdings von der Schweizerischen Bundeskanzlei BK, die also die Hauptverantwortung dafür trägt (vgl. dazu Alghisi 2018). Das Handbuch Bürgerrecht (BüG_3_de) stellt den ein‐ zigen Fall im Subkorpus 1 dar, bei dem der Name einer identifizierbaren Person 234 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="235"?> anzutreffen ist. Textproduzent ist hier wieder das SEM; als Verantwortlicher zeichnet im Handbuch der Staatssekretär (früher als Direktor des BFM tätig). Feststellen lässt sich schließlich, dass alle Textproduzenten Instanzen der Bundesebene sind; ihre Tätigkeiten betreffen direkt oder indirekt die ganze Schweiz. 2.3.2 Rezipient Nur zwei Korpustexte sind als genuin behördenintern anzusehen. Dabei handelt es sich um das Handbuch Bürgerrecht im PDF-Format (BüG_3_de), dessen Inhaltsverzeichnis als Hypertext-Modul (BüG_4_de) mit entsprechenden Verlinkungen zu den verschiedenen Abschnitten des Handbuchs zur Verfügung steht. Das Handbuch ist ein Beispiel für einen Text, in dem die primär adres‐ sierte Mitarbeitergruppe explizit erwähnt wird. Am Anfang des Handbuches steht nämlich, dass es „ein Nachschlagwerk und ein Arbeitsinstrument für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Abteilung Bürgerrecht“ ist (BüG_3_de; Her‐ vorhebungen A.A.). Dabei stellen Textproduzent und Textrezipient Instanzen desselben Typs und Bereichs dar, die auf derselben politischen Ebene (Bund) angesiedelt sind. Sowohl behördenintern als auch -extern sind die normativen Texte, die dem Subkorpus 1 angehören (das Bürgerrechtsgesetz (BüG_2_de), die Bundes‐ verfassung (BüG_1_de) und die Gebührenverordnung (BüG_5_de)). Die übrigen Korpustexte sind primär behördenextern. Die Texte, die im Portal ch.ch erscheinen (BüG_7_de bis BüG_16_de), weisen eine Vermischung der Perspektiven auf und adressieren zugleich sowohl die Wohnbevölkerung ohne weitere Spezifizierung als auch die interessierte Öffentlichkeit, wenn‐ gleich der Fokus meist auf letzterer zu liegen scheint (vgl. Alghisi 2018). Die zwei Adressatengruppen werden auch auf den Hypertext-Modulen gleichzeitig angesprochen, die vom Staatssekretariat für Migration SEM herausgegeben werden. Nur in einigen Fällen fokussieren die Korpustexte besonders die Wohnbevölkerung. Dies trifft etwa auf diejenigen Module zu, die praktische Informationen bzw. konkrete Handlungsanweisungen zur Einbürgerung ver‐ mitteln, die also primär verhaltensbeeinflussend sind, wie z. B. die Korpustexte BüG_23_de (Häufig gestellte Fragen), BüG_24_de (Gebühren) und BüG_26_de (Wohnsitzfristen). 235 2.3 Situativer Kontext <?page no="236"?> 294 Das heißt natürlich nicht, dass die sprachlichen Zeichen im Subkorpus 1 keine Variation in ihrer Materialität (Schriftart, Größe, Farbe, Anordnung usw.) zeigen. Die Materialität der Sprache kann kommunikativ-funktional eine wichtige Rolle spielen und als Bedeu‐ tungsträger wirken. 295 Natürlich weiß man normalerweise nicht, bis wann ein Gesetzestext gültig bleibt. Im Prinzip gelten die Gesetzesbestimmungen - sobald sie in Kraft treten und bis auf Widerruf - sozusagen zeitlos. 296 Dass das Veröffentlichungs- und das Inkraftsetzungsdatum nicht zusammenfallen, geht u. a. darauf zurück, dass zwischen Ersterem und Letzterem eine Referendumsfrist 2.3.3 Medialität: Materialität und Zeichenart Zur Materialität der Korpustexte lässt sich hier wieder bemerken, dass dies digitale Produkte sind, die nur durch bestimmte technische Träger (etwa durch einen Computer) zugänglich sind. Je nach dem technischen Gerät, das man zur Rezeption der Texte heranzieht, liegen materielle Varianten derselben Texte vor, die von verschiedenen Faktoren (etwa die Bildschirmgröße, der Gerätetyp, der verwendete Browser oder das Betriebssystem) abhängen können. Materielle Varianten derselben Texte, die nicht auf technische Faktoren zurückzuführen sind, sondern von den Textproduzenten selber zur Verfügung gestellt werden, existieren für normative Texte. Diese erscheinen normalerweise sowohl im PDF- Format (also als E-Texte) als auch als Hypertext-Module (vgl. II.2.1). Was die Zeichenarten betrifft, die im Subkorpus 1 ins Spiel kommen, lassen sich die meisten Korpustexte als monocodal charakterisieren. Damit ist ge‐ meint, dass sie praktisch nur (geschriebene) sprachliche Zeichen enthalten. 294 Ausnahmen bilden dabei die Startseite des Portals ch.ch (BüG_15_de), die neben Schriftsprache auch Bilder und Videos umfasst (dazu vgl. Alghisi 2018: 198 ff.) und die Webseite zum Schweizer Pass (BüG_18_de). Letztere enthält zwei Icons, die zur Online-Bestellung des Passes führen, und ein Bild, das die formale Evolution des schweizerischen Passes im Lauf der Zeit (von 1915 bis 2010) illustriert. 2.3.4 Geltungsdauer, Herstellungsaufwand, Publikationsort Die Kategorien Geltungsdauer, Herstellungsaufwand, Publikationsort sind eng miteinander verbunden und hängen direkt voneinander ab. Was die zeitliche Gültigkeit der Texte angeht, sind unter den Korpustexten diejenigen herauszuheben, die explizit in (und außer) Kraft gesetzt werden und daher eine vorher festgelegte Gültigkeitsdauer haben. Dabei geht es bekanntlich in erster Linie um die normativen Texte. 295 Für diese ist zwischen dem Erscheinungsdatum und dem Datum des Inkrafttretens zu unterscheiden. 296 236 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="237"?> verstreichen muss. D.h. die Bürger haben in dem Zeitraum zwischen Publikation und Inkraftsetzung ein Vetorecht. Dementsprechend können sie gegen das neu verabschie‐ dete Gesetz ein Referendum verlangen (vgl. I.3.4.1). 297 Dies trifft besonders auf das Bürgerrechtsgesetz zu, das - wie schon angeführt - sogar einer Totalrevision unterzogen wurde (vgl. II.1.2.3). Beide Daten werden normalerweise in den normativen Texten ausdrücklich erwähnt. Das Bürgerrechtsgesetz im Subkorpus 1 (BüG_2_de) wurde z. B. am 29. September 1952 veröffentlicht, trat am 01. Januar 1953 in Kraft und ist ab dem 01.01.2018 nicht mehr gültig (vgl. II.1.2.3 und II.3). Neben diesen zeitlichen Angaben wird im Text des BüG auch das Datum der Textversion angegeben, die jeweils gültig ist. Dies wird durch die in den Schweizer Bundesgesetzen gängige, knappe Standardformulierung Stand am [Datum] zum Ausdruck gebracht (im BüG_2_de: 01.01.2013). Der Hinweis auf die Fassung eines Textes ist insofern wichtig, als die Normtexte - besonders die Gesetzestexte - ständig geändert bzw. revidiert werden. 297 Änderungen und Revisionen sind immer das Ergebnis eines bestimmten offiziellen Verfahrens, das mehrere Schritte und verschiedene Akteure einbezieht. Dies bedeutet, dass normative Texte einen großen Herstel‐ lungsaufwand verlangen, da viel Zeit und Ressourcen in deren Bearbeitung investiert werden. Auch die Hypertext-Module, die sich auf das BüG (BüG_2_de) beziehen und keinen Normtexten entsprechen, haben sozusagen eine eigene Gültigkeit, die von der des Bezugstextes abhängt. Sie werden allerdings nicht in Kraft gesetzt und deren Änderungen bzw. Überarbeitungen entsprechen eher Aktua‐ lisierungen, für die kein offizieller Prozess in Gang gesetzt wird. Auch in diesen Texten wird häufig ein Aktualisierungsdatum angegeben; manchmal ist es allerdings nicht vorhanden, wenngleich dessen Erwähnung zur Verständ‐ lichkeit und damit zur Förderung der Transparenz beitragen könnte - weil man dadurch erfährt, wann die Online-Texte, die eine verringerte Stabilität und eine gewisse „Fluidity“ (vgl. Marx/ Weidacher 2014: 191 f.) aufweisen, verfasst wurden. Im Subkorpus 1 finden sich Angaben zum Aktualisierungsdatum auf den Hypertext-Modulen, die vom Staatssekretariat für Migration stammen (BüG_19_de bis BüG_30_de). Die Daten beziehen sich jedoch gewöhnlich auf den Zeitpunkt der Veränderung des Fließtextes, der jeweils auf der Webseite zu lesen ist, während Hinweise auf die Zeit der Änderung der Anlagen bzw. der Schaffung neuer Verlinkungen manchmal fehlen. Die Webseiten, die im Portal ch.ch veröffentlicht sind, enthalten hingegen keine Erstellungsdaten (BüG_7_de bis BüG_16_de). Die „Verflüssigung“, die die Hypertext-Module charakterisiert, hat zur Folge, dass sie mit weniger Sorgfalt bearbeitet werden und dass also der Herstellungs‐ 237 2.3 Situativer Kontext <?page no="238"?> aufwand für diese eher gering ist. In diesem Kontext spielt ferner auch der Publikationsort, in dem die Texte erscheinen, eine wichtige Rolle. Während die informativen Hypertext-Module nur einmal innerhalb einer behördlichen Website (etwa der Website des Staatssekretariats für Migration) veröffentlicht werden, gehören die normativen Texte in den Rahmen von Rechtssammlungen (Amtliche und Systematische Sammlung des Bundesrechts, Bundesblatt; vgl. I.3.4.2). Publiziert werden sie zwar als eigenständige PDF-Dateien oder als einzelne Hypertext-Module, sie sind allerdings zugleich auch in die Publikati‐ onsgefäße des Bundesrechtes eingebettet. Für diese liegen entsprechend dem sprachpolitischen Rahmen der Schweizer Verwaltung gewisse in Metatexten festgeschriebene Sprachnormen vor, die zwingend zu beachten sind. Für die Behördentexte, die nicht in den Rechtssammlungen erscheinen, gelten solche Normen dagegen eher als Empfehlungen und Ratschläge (vgl. Adamzik/ Alghisi 2015, 2017 und Adamzik 2018a). Von den Korpustexten des Subkorpus 1 wurden nur die Bundesverfassung (BüG_1_de), das Bürgerrechtsgesetz (BüG_2_de) und die Gebührenverordnung (BüG_5_de) in den Sammlungen des Bundesrechts publiziert. Die oben erwähnten Ausführungen zur Funktion, zum Inhalt, und zum situativen Kontext der Korpustexte sind in der Tabelle (Tab. II.2.4) unten und in der folgenden Abbildung (Abb. II.2.2) visualisiert. In Abb. II.2.2 stehen rechteckige Formen für normativ-performative Texte der Bundesbehörden (mit Ausnahme vom Handbuch Bürgerrecht, das kein normativer Text ist). Bei den elliptischen und dreieckigen Figuren werden funktionale und situative Kategorien kombiniert: Ellipsen stehen für informative Texte des SEM. Dreiecke entsprechen informativen Texten aus ch.ch. Die Pfeile stellen inhaltliche und hierarchische Beziehungen zwischen den normativen Texten dar: 238 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="239"?> Abkürzung Textüberschrift DE Textüberschrift IT Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand BüG_1_de Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft Costituzione federale normativ bindend Bundesversammlung behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß BüG_2_de Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) Legge federale su l’acquisto e la perdita della cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) normativ bindend Bundesversammlung behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß BüG_3_de Handbuch Bürgerrecht Manuale sulla cittadinanza informativ nicht bindend SEM Verwaltungsmitarbeiter monocodal schriftsprachlich behördliche Website nicht festgelegt groß BüG_4_de V. Bürgerrecht V. Cittadinanza informativ nicht bindend SEM Verwaltungsmitarbeiter monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_5_de Verordnung über die Gebühren zum Bürgerrechtsgesetz (GebV-BüG) Ordinanza sulle tasse riscosse in applicazione della legge sulla cittadinanza (Ordinanza sulle tasse LCit) normativ bindend Bundesrat behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß BüG_6_de Erwerb des Schweizer Bürgerrechts, Doppelbürger Acquisizione della nazionalità svizzera, doppia cittadinanza informativ nicht bindend BFS interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_7_de Ausländer in der Schweiz Stranieri in Svizzera informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_8_de Bedingungen für die ordentliche Einbürgerung Condizioni per la naturalizzazione ordinaria informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_9_de Einbürgerung Naturalizzazione informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_10_de Erleichterte Einbürgerung Naturalizzazione agevolata informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein 239 2.3 Situativer Kontext <?page no="240"?> Abkürzung Textüberschrift DE Textüberschrift IT Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand BüG_11_de Haben Sie Ideen oder Wünsche für ch.ch? Avete desideri o suggerimenti per ch.ch? interaktionsbezogen nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_12_de Haben Sie die gewünschten Informationen nicht gefunden? Non avete trovato l’informazione che stavate cercando? interaktionsbezogen nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_13_de Ordentliche Einbürgerung Naturalizzazione ordinaria informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_14_de Schweizer Vertretungen im Ausland Rappresentanze svizzere all’estero informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_15_de Ch.ch Ch.ch informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit multicodal (Sprache + Bilder + Video) Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_16_de Wiedereinbürgerung Reintegrazione informativ nicht bindend BK Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_17_de Neuregelung: Eingetragene Partnerschaften Nuova regolamentazione: Unione domestica registrata informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_18_de Schweizer Pass Passaporto Svizzero aufgabenbezogen nicht bindend fedpol Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder) Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_19_de Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung Cittadinanza svizzera / Naturalizzazione informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_20_de Doppelbürgerrecht Doppia cittadinanza informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein 240 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="241"?> Abkürzung Textüberschrift DE Textüberschrift IT Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand BüG_21_de Einbürgerungsverfahren Procedura di naturalizzazione informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_22_de Erleichterte Einbürgerung Naturalizzazione agevolata informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_23_de FAQ - Häufig gestellte Fragen - Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung FAQ - Domande ricorrenti - Cittadinanza svizzera / Naturalizzazione informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_24_de Gebühren Tasse informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_25_de Bürgerrecht Cittadinanza informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_26_de Die kantonalen Wohnsitzfristen bei der ordentlichen Einbürgerung Termini di domicilio cantonali per la naturalizzazione ordinaria informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_27_de Ordentliche Einbürgerung Naturalizzazione ordinaria informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_28_de Schweizer Bürgerrecht Cittadinanza svizzera informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_29_de Verfahrensdauer Durata della procedura informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_30_de Wiedereinbürgerung Reintegrazione informativ nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein BüG_31_de_fr_it Erleichterte Einbürgerung für ausländische Ehepartner von Schweizerinnen und Schweizern mit Wohnsitz in der Schweiz Naturalizzazione agevolata dei coniugi stranieri di svizzere e di svizzeri domiciliati in Svizzera informativ nicht bindend BFM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein Tab. II.2.4: Überblick über die textexternen Merkmale im Subkorpus 1 241 2.3 Situativer Kontext <?page no="242"?> 298 Dabei bilden das Handbuch Bürgerrecht (BüG_3_de), der E-Text Neuregelung: Eingetra‐ gene Partnerschaften (BüG_17_de) und das Merkblatt Erleichterte Einbürgerung für ausländische Ehepartner (BüG_31_de) allerdings Ausnahmen. Obwohl sie Texte der Bundesverwaltung sind, weisen sie auf der makrostrukturellen Ebene keine Gemein‐ samkeiten mit den anderen Korpustexten auf. Abb. II.2.2: Struktur des Subkorpus 1 2.4 Analyse der textinternen Merkmale 2.4.1 Beschreibung makrostruktureller Merkmale der Korpustexte Wenn es darauf ankommt, die Makrostruktur zu beschreiben, spielt die grobe Aufteilung, die auf dem funktionalen Kriterium beruht, eine wichtige Rolle: Die äußere Darbietung der Korpustexte und ihr Aufbau sind nämlich eng mit ihrer Funktion verbunden. Auf der einen Seite haben wir die Gruppe der informativen (Hyper-)Texte, die von der Bundesverwaltung emittiert werden. 298 Von dieser unterscheidet sich die Gruppe der Texte, die vom Bund in Zusammenarbeit mit Instanzen anderer politischer Stufen produziert werden. Diese Gruppe 242 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="243"?> 299 Den ch.ch-Seiten ist eine separate Studie schon nachgegangen (vgl. Alghisi 2018). Auf das Portal ch.ch wird daher hier nur punktuell verwiesen. setzt sich aus den Webseiten des Portals ch.ch zusammen, an denen nicht nur der Bund, sondern auch die Kantone und Gemeinden beteiligt sind. Auf der anderen Seite geht es um die normativen Texte, die eine funktional bestimmte Gruppe für sich bilden und die - unabhängig von ihrem Textproduzenten und ihrem Erscheinungsort bzw. ihrer Materialität (Normtext als E-Text vs. Normtext als Hypertext-Modul) - durch gewisse makrostrukturelle Merkmale gekennzeichnet sind. Im Folgenden wird zunächst die typische Makrostruktur der Normtexte und insbesondere des BüG geschildert (II.2.4.1.1), dann die der Hypertexte der Bundesverwaltung (II.2.4.1.2). 299 2.4.1.1 Normtexte Die Redaktion von Normtexten folgt bestimmten Regeln. Diese sind in verschie‐ denen Hilfsmitteln festgeschrieben. Konzipiert wurden sie in erster Linie mit dem Ziel, bei der Ausarbeitung von Behördentexten eine einheitliche Praxis sicherzustellen. Einige Vorgaben sind für die normativen Texte verbindlich einzuhalten (vgl. I.3.4.2.2). Dazu gehören die Gesetzestechnischen Richtlinien des Bundes (GTR). Diese wurden von der Schweizerischen Bundeskanzlei herausge‐ geben und erschienen 2013 in einer vollständig überarbeiteten Auflage. Die GTR sollen bei der Erarbeitung aller Erlasse Anwendung finden. Man vergleiche dazu die Einleitung des Metatexts: Die Gesetzestechnischen Richtlinien des Bundes (GTR) regeln die formale Gestaltung der Erlasse des Bundes. Sie sollen ein einheitliches Erscheinungsbild der Erlasse sicherstellen, die im Bundesblatt (BBl), in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts (AS) und in der Systematischen Sammlung des Bundesrechts (SR) veröffentlicht werden. […] Aus dem Zweck ergibt sich, dass die in den GTR festgelegten Regeln sich an alle Bundesbehörden (Bundesversammlung, Bundesrat und Bundesverwaltung, eid‐ genössische Gerichte) richten: Die formalen Anforderungen an Erlasse, die amtlich publiziert werden, bestehen unabhängig von der erlassenden Behörde. Die GTR gelten auch für Organisationen oder Personen des öffentlichen oder privaten Rechts, die ausserhalb der Bundesverwaltung stehen und denen der Bund Rechtssetzungsauf‐ gaben übertragen hat (BK 2013a: 11; Hervorhebungen A.A.). Zur sprachlich-formalen Regelung der Normtexte liegen weitere Metatexte vor, die nicht in die zwingenden Vorgaben eingestuft werden. Dazu zählen der Gesetzgebungsleitfaden. Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des 243 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="244"?> Bundes, von dem 2007 die vom Bundesamt für Justiz betreute dritte Auflage erschien; und der Gesetzgebungsleitfaden. Module Gesetz, Verordnung und Par‐ lamentarische Initiative von 2014, der Informationen über die Arbeitsschritte und Etappen des Rechtsetzungsprozesses enthält. Alle Bundeserlasse verschie‐ dener Hierarchiestufe - etwa grundlegende Regelungen des Parlaments sowie Ausführungsbestimmungen der Regierung - zeichnen sich grundsätzlich durch die gleichen Textsortenregeln aus und sind somit in ihrer Makrostruktur (aber auch in den verwendeten sprachlichen Formulierungen) stark standardisiert. Den oben erwähnten Metatexten entsprechend gliedert sich ein Normtext inhaltlich im Grunde in Erlasstitel, Ingress und Erlasskörper. Der Ingress besteht aus einem standardisierten, kursiv markierten Rahmensatz, der angibt, welche Behörde den normativen Text erlässt und welche rechtliche Handlung sie vollzieht (z. B. Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft … beschliesst: ). Innerhalb des Rahmensatzes wird gewöhnlich die Rechtsgrund‐ lage für den Erlass durch die Formulierung „gestützt auf …“ angegeben. Dabei geht es immer um „die Bestimmungen des übergeordneten Erlasses […], die zur Rechtsetzung ermächtigen (kompetenzbegründende Bestimmungen)“ (BK 2013a: 20, Rz. 23). In diesem Kontext gelten die intertextuellen Verweise nicht als Themasondern als Funktionshinweise, weil „sie [einfach nur] begründen, warum die genannte Behörde überhaupt Bestimmungen zum gegebenen Thema erlassen darf bzw. soll“ (Höfler 2017: 10). Der Erlasskörper setzt sich aus einem Einleitungsteil, einem Hauptteil und aus Schlussbestimmungen zusammen (vgl. BK 2013a: 17, Rz. 2). Manchmal liegen im Erlass auch Anhänge vor. Prototypisch besteht der Einleitungsteil aus Bestimmungen zum Zweck eines Normtextes, zu seinem Geltungsbereich und aus Begriffsbestimmungen. Bestimmungen zur Organisation des geregelten Sachverhalts, zum Verfahren, zur Finanzierung, zu Kosten, Gebühren sowie Strafbestimmungen bilden den Hauptteil. Die Schlussbestimmungen betreffen den Vollzug des Normtextes, die Aufhebung und Änderung des gültigen Rechts, das Übergangsrecht, das Referendum und das Inkrafttreten (vgl. BJ 2007: 355, Rz. 874). Formal besteht die Makrostruktur der Normtexte aus nummerierten, mit Überschriften oder Marginalien versehenen Artikeln und Absätzen, die grö‐ ßeren Einheiten (Abschnitte, Kapitel, Titel, Teile) angehören. Die formale Gliederung eines Normtextes ist im folgenden Beispiel aus den GTR (BK 2013a: 34, Rz. 70) illustriert (Abb. II.2.3): 244 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="245"?> 300 Eugen Huber war ein Schweizer Journalist, Historiker, Rechtstheoretiker und Philo‐ soph. Er ist vor allem als Verfasser des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) bekannt. Bei der Redaktion des ZGB hat sich Huber an die Faustregel ‚Ein Satz - eine Aussage‘ gehalten. Diese Regel wird heute auf ihn zurückgeführt, obwohl er sie nirgends explizit so formuliert hat (vgl. Nussbaumer 2007a: 34). Abb. II.2.3: Formale Gliederung eines Normtextes des Bundes Bei der formalen Gliederung wird in der Regel das Prinzip der Identität zwischen Regelung und Bestimmung (sprachliche Realisierung) eingehalten. Danach findet eine bestimmte Regelung „sich in einer textuell eindeutig fass‐ baren Bestimmung […] und umgekehrt: Eine Bestimmung hält eindeutig eine bestimmte Regelung fest“ (Lötscher 2005: 195). Das Prinzip ist mit der Maxime ‚Ein Satz - eine Aussage‘ verbunden. Diese Maxime ist auch als ‚Eugen-Huber- Regel‘ 300 bekannt und wird häufig auch wie folgt ausformuliert: Pro Artikel höchstens drei Absätze, pro Absatz ein Satz, pro Satz eine Norm (vgl. BJ 2007: 359, Rz. 880 und Nussbaumer 2007a: 34). Der Grundsatz der Identität von Regelung und Bestimmung ist insofern funktional, als er sowohl zur Verständlichkeit und Übersichtlichkeit der einzelnen Bestimmungen beiträgt, als auch für deren Anwendung und Auslegung von großer Bedeutung ist. Dies gilt umso mehr, als sich oft „die Zusammenhänge oder der Sinn einer Vorschrift erst aus ihrer systematischen Stellung innerhalb eines Erlasses“ erschließen (BJ 2007: 353, Rz. 866). Auch das Bürgerrechtsgesetz von 1952 (BüG_2_de) weist als Erlasstext eine bestimmte formale / materielle Gliederung in Einheiten verschiedener Größenordnung auf. Auf einer abstrakteren Ebene gliedert sich das Gesetz in Titel, Ingress und Hauptteil. Der Ingress entspricht der Standardformulierung Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft … beschliesst. 245 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="246"?> 301 Diese Artikel wurden in der neuen Bundesverfassung von 1999 durch die Art. 37 und 38 ersetzt (vgl. BüG_1_de). Das wird in der Anmerkung 2 des BüG explizit ausgedrückt. 302 Der Begriff Botschaft bezeichnet eine bestimmte Textsorte, die im Schweizer Gesetz‐ gebungsverfahren eine wichtige Rolle spielt. Eine Botschaft ist ein erläuternder und begründender Text. Sie gehört zu jedem Gesetzesentwurf, der von der Schweizer Regierung dem Parlament zur Diskussion und Verabschiedung unterbreitet wird (vgl. dazu II.3). Innerhalb dieses Rahmensatzes wird auf die Art. 43, 44, 68 der nun nicht mehr gültigen Bundesverfassung von 1874 301 verwiesen und auf eine Botschaft des Bundesrates von 1951. 302 Der Erlasskörper besteht aus sechs, mit römischen Zahlen versehenen Teilen. Davon sind die ersten zwei Teile jeweils dem Erwerb und dem Verlust des Schweizer Bürgerrechts von Gesetzes wegen einerseits und durch behördlichen Beschluss andererseits gewidmet. Der Teil I gliedert sich weiter in den Unterteil A, der den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts behandelt und den Unterteil B, der sich mit dem Verlust befasst. Der Teil II ist auch in die Unterteile A und B aufgeteilt. Der Unterteil A besteht weiter aus vier, mit kleingeschriebenen Buchstaben versehenen Abschnitten, die jeweils die verschiedenen Einbürgerungsarten zum Gegenstand haben. Auch der Unterteil B gliedert sich in zwei Abschnitte, die den zwei Verlustarten des Schweizer Bürgerrechts durch behördlichen Beschluss gewidmet sind (Ent‐ lassung einerseits, Entzug andererseits). Das Gesetz besteht insgesamt aus 59 Artikeln, die keine Überschriften aufweisen. Deren thematische Einbettung in das Thema Bürgerrecht wird in Marginalien zum Ausdruck gebracht. Einige Artikel sind im Lauf der Jahre aufgehoben worden (wie zum Beispiel Art. 2 und 3). Für andere existieren sachlich zusammenhängende Artikel, die die jeweiligen Bezugsartikel präzisieren und häufig in einem zweiten Schritt nachgetragen wurden. Der sachliche Zusammenhang dieser Artikel mit dem Bezugsartikel wird formal durch die Verwendung derselben Ziffer und die Hinzufügung kleingeschriebener Buchstaben kenntlich gemacht (z. B. Art. 49, 49a und 49b). Einen Überblick über die Makrostruktur des BüG von 1952 bietet die folgende Abbildung (Abb. II.2.4): Bürgerrechtsgesetz von 1952 Titel Ingress I Erwerb und Verlust von Gesetzes wegen A. Erwerb von Gesetzes wegen (Art. 1-7) B. Verlust von Gesetzes wegen (Art. 8-11) 246 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="247"?> 303 Als Hypertext (und nicht als E-Text) abrufbar unter: https: / / swiss.github.io/ styleguide/ de/ ; 31.01.2020. II Erwerb und Verlust durch behördlichen Beschluss A. Erwerb durch Einbürgerung a. Ordentliche Einbürgerung (Art. 12-17) b. Wiedereinbürgerung (Art. 18-25) c. Erleichterte Einbürgerung (Art. 26-32) d. Gemeinsame Bestimmungen (Art. 33-41) B. Verlust durch behördlichen Beschluss a. Entlassung (Art. 42-47) b. Entzug (Art. 48) III Feststellungsverfahren (Art. 49) IV Bearbeitung von Personendaten (Art. 49a und Art. 49b) V Rechtsschutz (Art. 50-53) VI Schluss- und Übergangsbestimmungen (Art. 54-59) Abb. II.2.4: Makrostruktur des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 2.4.1.2 Hypertexte der Bundesverwaltung Die Beschreibung der Makrostruktur der Hypertext-Module der Bundesverwaltung erfolgt exemplarisch anhand eines Korpustextes (BüG_19_de) und gilt hier als pars pro toto. Alle Webseiten der verschiedenen Bundesverwaltungseinheiten weisen nämlich denselben Aufbau und dieselbe Textgestaltung auf, d. h. sie sind standardisiert. Als Richtschnur gelten dabei die Vorgaben, die im Handbuch Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung und in den Richtlinien für das Webdesign Bund 303 enthalten sind. Diese Normen definieren das Erscheinungs‐ bild des Bundesrats und der Bundesverwaltung im Web und sind besonders bei der Gestaltung der Markenelemente (Logos, Bezeichnungen der Organisationsein‐ heiten …) zwingend zu beachten. Letztere ermöglichen es, eine Website eindeutig als Website des Bundes zu identifizieren. Dank der formalen Vereinheitlichung des behördenseitigen Online-Angebots wird den Websites eine visuelle Identität verliehen, die ein einheitliches Image der schweizerischen Behörden suggeriert und zugleich deren Glaubwürdigkeit fördert (vgl. I.3.4.2.2 und I.3.5.2). Im Mittelpunkt steht hier ein Hypertext-Modul, das Teil der Website des Staats‐ sekretariats für Migration SEM ist und mit dem Titel Schweizer Bürgerrecht / Ein‐ bürgerung als Einstiegseite in das Thema fungiert. Das Modul besteht grob aus drei Bereichen: einem Header, einem Inhaltsbereich und einem Footer. Oben links im Header ist die Kennzeichnung der Website positioniert. Sie setzt sich zusammen aus dem vollständigen Bundeslogo (bestehend aus dem Schweizer Wappen und aus 247 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="248"?> der offiziellen Bezeichnung der Schweiz in vier Sprachen) und aus der offiziellen Bezeichnung der Organisationseinheit mit dem dazugehörigen Kürzel (Staatssekre‐ tariat für Migration SEM). Beide Elemente der Kennzeichnung sind durch eine vertikale graue Linie voneinander getrennt. Oberhalb der Kennzeichnung findet sich ein Treecrumb, der die hierarchische Verortung der Website und der entsprechenden Organisationseinheit in der Bundesverwaltung darstellt. Der Treecrumb lässt sich hier als Ordnungszeichen (vgl. Bucher 2013: 65f.) einstufen. Daraus geht hervor, dass das Staatssekretariat für Migration dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepar‐ tement angehört, das seinerseits dem Bundesrat untergeordnet ist. Auf der rechten Seite des Headers erscheint die sogenannte Service-Navigation, die Verlinkungen auf die SEM-Kontaktseite und auf die Websites anderer Organisationseinheiten, die eng mit dem SEM zusammenarbeiten, beinhaltet. Neben der Service-Navigation findet sich die Funktion für die Sprachwahl, wodurch die Sprache der aktuellen Webseite gewechselt werden kann. Dort wird durch Sprachkürzel (DE, FR, IT, EN) angezeigt, in welchen (Amts-)Sprachen die Inhalte zur Verfügung stehen (vgl. I.3.4.2.1). Unterhalb der Sprachwahl ist die Suchfunktion als Textfeld platziert. Unten findet sich die A-Z-Navigation. Es handelt sich dabei um einen alphabetisch geordneten Katalog, in dem die Hauptbegriffe bzw. die Subthemen der Website aufgelistet werden. Bei einem Klick darauf erscheint ein Flyout, das Tabs enthält. Der Katalog bietet einen alternativen Zugang zu den Inhalten des Hypertextes an. Zu den Katalogeinträgen gehört der Begriff Bürgerrecht (vgl. den Korpustext BüG_25_de), der mit den SEM-Seiten zum Thema Bürgerrecht - z. B. mit dem hier im Fokus stehenden Korpustext BüG_19_de - verlinkt ist. Erläutert wird er im Katalog / Glossar durch die Stichwörter Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, Schweizer Bürgerrecht, Einbürgerung. Sowohl die Suchfunktion als auch die A- Z-Navigation zeichnen sich durch operationale Zeichen (Suchfelder, Tabs) aus, die die Navigationsinstrumente der Webseite markieren (vgl. Bucher 2013). Der Header ist unten durch eine rote Linie abgegrenzt. Aus ihm ist unmittelbar ersichtlich, dass die Webseite der Schweizer Exekutive angehört. Insgesamt hat der Header also eine identifikatorische Funktion, weil die Autoren bzw. die Betreiber der Website darin erkennbar gemacht werden (vgl. Abb. II.2.5 und dazu Bucher 2013): Abb. II.2.5: Makrostruktur der Webseiten der Bundesverwaltung: Header Unterhalb der roten Linie, die den Header abschließt, setzt der Inhaltsbereich ein. In dessen oberem Teil erscheint eine Zone, die der Globalnavigation vorbehalten 248 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="249"?> ist. Diese zeigt die Haupteinstiegspunkte der Website als Tabs (Reiter) an. Die verschiedenen Tabs entsprechen den Rubriken, in die die Inhalte der Website eingeordnet werden. Auf der Website des SEM geht es um folgende Inhaltselemente: • Aktuell • Einreise & Aufenthalt • Asyl / Schutz vor Verfolgung • Rückkehr • Internationales • Publikationen & Service • Über uns Wenn man eins der Tabs anklickt, wird ein Flyout geöffnet, das ein Menü mit Verlinkungen auf die Webseiten beinhaltet, die unter der jeweiligen Rubrik gesammelt sind. Der Korpustext BüG_19_de gehört etwa in die Rubrik Einreise & Aufenthalt. Diese Information lässt sich auch aus dem sogenannten Breadcrumb (einer Linkzeile) entnehmen, der sich unterhalb der Globalnavigation findet und die Position der aufgerufenen Webseite innerhalb der Architektur der Website anzeigt: Startseite SEM > Einreise & Aufenthalt > Schweizer Bürgerrecht / Einbür‐ gerung. Wenn ein Navigationspunkt im Pfad angeklickt wird, öffnet sich die entsprechende Webseite. Der Breadcrumb dient zur Benutzerorientierung im Informationsangebot. Auch er kann den Ordnungszeichen zugeordnet werden (vgl. Abb. II.2.6 und Bucher 2013): Abb. II.2.6: Makrostruktur der Webseiten der Bundesverwaltung: Globalnavigation Der Raum unterhalb der Pfadzeile ist dem eigentlichen Inhalt gewidmet. Er weist zwei Spalten auf. In der linken Spalte findet sich eine Subnavigations-Zone. Sie besteht aus einem Navigationskopf mit dem Titel der aktuellen Seite (Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung), einem Zurück-Link auf die obere Ebene (Einreise & Aufenthalt) und Verlinkungen auf die Unterseiten: Schweizer Bürgerrecht (vgl. BüG_28_de); Einbürgerungsverfahren (vgl. BüG_21_de) und Berichte. Die rechte Spalte enthält die regelrechten Informationen. Sie ist mit einem Seitentitel und mit einem Fließtext besetzt und besteht also überwiegend aus repräsentationalen Zeichen (vgl. Bucher 2013). Vor dem Fließtext positioniert ist der im Themenkatalog verzeichnete Ausdruck Bürgerrecht, der als Schlagwort markiert ist. Dadurch wird kenntlich gemacht, dass das Wort den Begriff darstellt, unter dem die SEM- 249 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="250"?> Webseiten zur Schweizer Staatsangehörigkeit gruppiert werden. Unterhalb des Fließtextes sind Verlinkungen anzutreffen, die auf im thematischen Kontext rele‐ vante Texte weiterleiten. Sie verbinden entweder mit anderen Hypertext-Modulen oder mit E-Texten (im PDF-Format). Die Links sind unter drei verschiedenen Tabs eingeordnet: Weiterführende Informationen, Handbuch Bürgerrecht (vgl. BüG_4_de) und Rechtliche Grundlagen. Unterhalb dieser drei Tabs liegen zwei andere Tabs vor, die die Rubrikbezeichnungen Dossier bzw. Medienmitteilungen beinhalten und für die Produkte der behördenseitigen Medien- und Öffentlichkeitsarbeit bestimmt sind. Ihnen ist der Titel Weitere Infos vorangestellt (Abb. II.2.7): DE FR IT EN Kontakte Links Staatssekretariat für Migration SEM Staatssekretariat für Migration SEM Der Bundesrat Departement: EJPD Suche Startseite SEM Einreise & Aufenthalt Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung Einreise & Aufenthalt Schweizer Bürgerrecht / Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung Einbürgerung Schweizer Bürgerrecht Einbürgerungsverfahren Berichte Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung Schlagwörter: Schlagwörter: Bürgerrecht Es gibt Staaten, welche das sogenannte "ius sanguinis", d.h. den Erwerb der Nationalität durch väterliche oder mütterliche Abstammung, kennen. Dazu gehören neben der Schweiz beispielsweise Deutschland und Österreich. Daneben gibt es Länder, die das "ius soli", d.h. den Erwerb der Staatsangehörigkeit aufgrund der Geburt im entsprechenden Land, kennen. Dazu gehören die typischen Einwanderungsländer (USA, Südamerika, Kanada, Australien), nicht jedoch die Schweiz. Andere Staaten wie z.B. Frankreich und Italien haben ein gemischtes System mit Elementen des ius sanguinis und des ius soli. Der Erwerb einer Staatsangehörigkeit aufgrund des ius sanguinis oder des ius soli stellt begrifflich keine Einbürgerung dar. Der Erwerb des Schweizer Bürgerrechts durch Abstammung wird auf Bundesebene im Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (= Bürgerrechtsgesetz) geregelt. Schweizerische Bundesverfassung (Art. 37 und 38) Weiterführende Informationen Handbuch Bürgerrecht Rechtliche Grundlagen Themen A-Z Aktuell Asyl / Schutz vor Verfolgung Rückkehr Internationales Publikationen & Service Über uns Einreise & Einreise & Aufenthalt Aufenthalt PDF created on http: / / www.htm2pdf.co.uk via the HTML to PDF API Subnavigation Inhaltsbereich Abb. II.2.7: Makrostruktur der Webseiten der Bundesverwaltung: Inhaltsbereich und Subnavigation Der Footer besteht aus zwei untereinander liegenden Teilen, die - anders als der Header und der Inhaltsbereich, die eine weiße Farbgebung aufweisen - durch einen hellgrauen Hintergrund charakterisiert sind. Im oberen Teil werden die Hauptrubriken der Globalnavigation mit den entsprechenden Menüs wieder aufgenommen. Die Menüeinträge, die mit den unteren Ebenen der Sitearchi‐ tektur verbunden sind, werden stattdessen nicht angezeigt. Der untere Teil, der vom oberen durch eine graue Linie getrennt ist, beinhaltet Verlinkungen zu den Startseiten der Einheiten des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements. Er gibt somit einen Überblick über die verschiedenen Instanzen, aus denen sich das Departement zusammensetzt. Am unteren Ende der Webseite wird schließlich in der Fußzeile erneut der Herausgeber der Site angegeben (Staats‐ sekretariat für Migration). Überdies findet sich ein Link auf die rechtlichen Rahmenbedingungen (Rechtliches), die auf die Erstellung der Website zutreffen und mit Fragen der Haftung, des Urheberrechts und Datenschutzes zu tun haben. Klickt man darauf, erfährt man, dass „die Bundesbehörden [zwar] mit aller Sorgfalt auf die Richtigkeit der veröffentlichten Informationen achten“, 250 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="251"?> 304 Vgl. https: / / www.admin.ch/ gov/ de/ start/ rechtliches.html; 31.01.2020. Dies führt zurück auf das Merkmal „Verflüssigung“, das Hypertexte charakterisiert und das u. a. darauf hinweist, dass Webseiten periodisch auch Relaunches unterzogen werden. dass sie aber „hinsichtlich der inhaltlichen Richtigkeit, Genauigkeit, Aktualität, Zuverlässigkeit und Vollständigkeit dieser Informationen keine Gewährleis‐ tung“ übernehmen könnten. Sie behalten sich außerdem vor, „jederzeit Inhalte ohne Ankündigung ganz oder teilweise zu ändern, zu löschen oder zeitweise nicht zu veröffentlichen“ (Abb. II.2.8): 304 Footer Fußzeile etzte Änderung ktuell ktuell News Reden Interviews nl sse Newsletters aufende Gesetzgebungsprojekte Einreise ufenthalt Personenfreizügigkeit Schweiz E EF Schengen Dublin uslandaufenthalt Einreise ufenthalt rbeit rbeitsbewilligungen Integration Schweizer Bürgerrecht Einbürgerung F ufig gestellte Fragen Weiterführende dressen s l Schutz vor Verfolgung s l Schutz vor Verfolgung Staatenlosigkeit umanit re Krise in S rien s lsuchende aus Eritrea s lverfahren Dublin Sonderabgabe Sozialhilfe Beschleunigung s lverfahren Weiterführende dressen Subventionen im Sozial- und Nothilfebereich Rückkehr Rückkehr Rückkehrhilfe Internationales Warum Menschen migrieren Illegale Irregul re Migration erkunftsl nderinformationen ransitiell nderinformationen Internationale usammenarbeit Publikationen Service Videos Berichte Publikationen Statistiken Weisungen und Kreisschreiben aufende ber uns Das SEM Staatssekret r rganisation Rechtliche Grundlagen Kontakt Elektronischer Rechtsverkehr mit PDF created on http: / / www.htm2pdf.co.uk via the HTML to PDF API Rechtliches Websites des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements Staatssekretariat für Migration Gesetzgebungsprojekte Service den Behörden Stellenangebote Departement Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Ämter Bundesamt für Justiz Bundesamt für Polizei Staatssekretariat für Migration Kommissionen Nationale Kommission zur Verhütung von Folter Eidgenössische Schiedskommission Eidgenössische Spielbankenkommission Eidgenössische Migrationskommission Institute Eidgenössisches Institut für Metrologie Eidgenössisches Institut für Geistiges Eigentum Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung Internationale Rechtshilfe PDF created on http: / / www.htm2pdf.co.uk via the HTML to PDF API Abb. II.2.8: Makrostruktur der Webseiten der Bundesverwaltung: Footer und Fußzeile 251 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="252"?> 2.4.2 Beschreibung mikrostruktureller Merkmale einiger Korpustexte, die Textfamilien bilden Der Korpustext BüG_19_de, der hauptsächlich einen behördenexternen Adres‐ saten fokussiert, dient als Ausgangspunkt für die Beschreibung von Phäno‐ menen auf der mikrostrukturellen Ebene. Die Analyse setzt am Fließtext ein, der im Mittelpunkt des Inhaltsbereichs steht. Dabei handelt es sich um einen eher knappen Text, der als kurze Einführung in das im Titel ausgedrückte Thema (Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung) gilt: [1] Es gibt Staaten, welche das sogenannte "ius sanguinis", d. h. den Erwerb der Nationalität durch väterliche oder mütterliche Abstammung, kennen. Dazu gehören neben der Schweiz beispielsweise Deutschland und Österreich. Daneben gibt es Länder, die das "ius soli", d. h. den Erwerb der Staatsangehörigkeit aufgrund der Geburt im entsprechenden Land, kennen. Dazu gehören die typischen Einwanderungsländer (USA, Südamerika, Kanada, Australien), nicht jedoch die Schweiz. Andere Staaten wie z. B. Frankreich und Italien haben ein gemischtes System mit Elementen des ius sanguinis und des ius soli. Der Erwerb einer Staatsangehörigkeit aufgrund des ius sanguinis oder des ius soli stellt begrifflich keine Einbürgerung dar. Der Erwerb des Schweizer Bürgerrechts durch Abstammung wird auf Bundesebene im Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (= Bürgerrechtsgesetz) geregelt (BüG_19_de). Der Text enthält zwei Rechtsbegriffe in lateinischer Sprache (ius sanguinis einerseits, ius soli andererseits), die den Themenbereich Bürgerrecht prägen. Dass es sich dabei um zwei bestimmte Fachausdrücke handelt, wird auf der Sprachoberfläche durch das in attributiver Funktion verwendete Adjektiv sogenannt und durch die Verwendung der Anführungszeichen kenntlich ge‐ macht. Auf jeden Fachausdruck folgt eine durch den Konnektor d.h. eingeleitete Erläuterung mit der deutschen Entsprechung des jeweiligen Begriffs. Beide Erläuterungen bestehen in Nominalisierungen (Erwerb, Abstammung, Geburt) und weisen also einen für die Verwaltungssprache typischen Stil auf (vgl. I.1.2.2). Jeden Begriff begleiten Beispiele für Länder, wo die zwei Prinzipien zum Erwerb der Angehörigkeit eines Staates jeweils angewandt werden. Der Begriff Einbürgerung, der ebenfalls in den Themenbereich gehört und im Titel auch er‐ scheint, wird ex negativo erläutert. Mitgeteilt wird, dass er von den anderen zwei Rechtsbegriffen abweicht. Dabei wird unterstellt, dass die Einbürgerung eine Art des Erwerbs des Bürgerrechts darstellt. Der Begriff ius sanguinis wird in der letzten Zeile durch den entsprechenden deutschsprachigen Ausdruck Abstam‐ mung wieder aufgenommen. Dort wird er durch einen intertextuellen Verweis mit dem Bürgerrechtsgesetz (BüG_2_de) in Verbindung gebracht, wobei der 252 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="253"?> 305 Der Rechtsbegriff ius sanguinis, der das Schweizer System prägt, kommt im Bürger‐ rechtsgesetz nicht vor. Benutzt wird dort der entsprechende deutschsprachige Ausdruck (Abstammung). einschlägige rechtliche Rahmen somit Erwähnung findet. 305 Der intertextuelle Verweis hat keine Hyperlinkfunktion, die offizielle Bezeichnung des Gesetzes (Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts), die übrigens als solche nicht markiert ist, verlinkt also nicht direkt mit dem entsprechenden Gesetzestext. Die direkte Verlinkung auf die Hypertext-Version des Gesetzes kommt im unteren Teil des Inhaltsbereichs unter dem Tab Weiterführende Informationen vor (vgl. II.2.4.1.2). Die Präsenz eines für Hyperlinks bestimmten Teils, die dem Prinzip des „detail on demand“ (Storrer 2004: 217) entspricht, wirkt sich auf die Merkmale des Fließtextes bzw. seine Kürze aus. Einerseits gebietet die Möglichkeit des Weiterklickens zu anderen Inhaltsangeboten „das frühzeitige Benennen des Themas und der Funktion des aktuell sichtbaren Ausschnittes (Knoten)“ ( Jakobs/ Lehnen 2005: 170). Andererseits gehorcht der Fließtext dem die Gestaltung von Websites bestimmenden Scrollverbot. Dieses beruht auf der Tatsache, dass Internet-Nutzer ungern scrollen, nicht zuletzt weil es eher mühsam ist, lange Texte am Bildschirm zu lesen. Das Verbot erfordert es folglich, „den Darstellungsumfang - thematisch-funktional abhängig - stark zu begrenzen“ (ebd.: 171). Zu den Verlinkungen, die im Korpustext BüG_19_de vorhanden sind, zählen die Links zum Handbuch Bürgerrecht (BüG_3_de und BüG_4_de), die unter dem Tab Handbuch Bürgerrecht platziert sind. Das Handbuch, das an Verwal‐ tungsmitarbeiter gerichtet ist (vgl. II.2.3.2), besteht aus sechs Kapiteln und sechs Anhängen, die als separate PDF-Dateien gespeichert sind (vgl. BüG_4_de). Im Kapitel 1, das den Titel Rechtsquellen und Behörden trägt, findet sich ein Ab‐ schnitt, der dem Bürgerrechtsgesetz gewidmet ist. Bemerkenswert ist dabei, dass sich dieser Abschnitt mit demselben Fließtext wie im Korpustext BüG_19_de ohne Veränderungen öffnet (vgl. Beispiel [1]). Das Hypertext-Modul Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung und das Handbuch Bürgerrecht stellen jedoch nicht die einzigen Kontexte dar, wo der betreffende Fließtext vorkommt. Er erscheint auch in anderen Hypertext-Modulen, die sich im Vergleich zum Modul Schweizer Bürgerrecht / Einbürgerung auf unteren Ebenen finden. Dabei geht es um die Webseite Schweizer Bürgerrecht (BüG_28_de) und die darunterliegende Seite Doppelbürgerrecht (BüG_20_de). Der Korpustext Schweizer Bürgerrecht (BüG_28_de) besteht aus einem ver‐ hältnismäßig langen Fließtext, der sich in zwei mit fettgedruckten Überschriften versehene Hauptteile gliedert. Im unteren Teil der Seite sind ein Link auf das Bürgerrechtsgesetz (BüG_2_de) und einer auf die Webseite Schweizer 253 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="254"?> Pass (BüG_18_de) anzutreffen. Der erste Hauptteil trägt den Titel Erwerb des Schweizer Bürgerrechts und besteht aus vier Abschnitten. Der erste Ab‐ schnitt setzt mit einem Satz an, in dem die drei Erwerbstypen Einbürgerung, Abstammung und Adoption erwähnt werden. Dabei wird der Grundunterschied zwischen ihnen (bei der Abstammung und der Adoption erfolgt der Erwerb des Schweizer Bürgerrechts automatisch; bei der Einbürgerung ist ein behördliches Verfahren vorgesehen) ausgelassen: [2] Die Schweiz kennt neben der Einbürgerung noch den Erwerb des Schweizer Bür‐ gerrechts durch Abstammung oder Adoption von einem schweizerischen Elternteil (BüG_28_de). Der Abschnitt setzt mit dem Subthema Adoption fort, das mit einem geset‐ zessprachlichen Stil verbalisiert wird. Dieser schlägt sich sowohl in der lexikalischen Wahl - besonders in den Syntagmen die adoptierte Person, eines leiblichen Kindes - nieder als auch in der syntaktischen Struktur der Sätze, die vor allem aus Konditionalkonstruktionen bestehen: [3] Durch Adoption kann das Schweizer Bürgerrecht jedoch nur dann erworben werden, wenn die adoptierte Person im Zeitpunkt der Adoption noch unmündig ist und die Adoption dem Kind die volle rechtliche Stellung eines leiblichen Kindes ver‐ schafft. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, erwirbt das Kind das Schweizer Bür‐ gerrecht nicht, und es ist auch keine erleichterte Einbürgerung möglich (BüG_28_de; Unterstreichungen A.A.). Der zweite Abschnitt gleicht dem Fließtext auf der Webseite BüG_19_de. Nur der Incipit und die Formatierung der Anführungszeichen sind anders: [4] Sehr viele Staaten kennen wie die Schweiz das sogenannte «ius sanguinis», d. h. den Erwerb der Nationalität durch väterliche oder mütterliche Abstammung (BüG_28_de). Der dritte Abschnitt besteht aus einem einzigen Satz, der eine metakommuni‐ kative Funktion hat: [5] Der Erwerb des Schweizer Bürgerrechts durch Einbürgerung wird unter Einbür‐ gerung näher umschrieben (BüG_28_de; Hervorhebung im Original). Mitgeteilt wird, dass das Subthema Einbürgerung anderswo behandelt wird. Der textdeiktische Ausdruck unter Einbürgerung, der sich durch Auszeichnung mit Fettdruck abhebt, hat keine Hyperlinkfunktion. Nicht klar ist, ob er sich auf den Kontext des im vorangehenden Abschnitt erwähnten Bundesgesetzes (vgl. Beispiel [1]) bezieht oder auf den der Webseiten zum Schweizer Bürgerrecht. 254 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="255"?> 306 Fonsén lehnt sich bei seiner Klassifizierung von Paraphrasentypen an Ungeheuer (1969) an. 307 Die Artikel sind hier unvollständig. Es werden in der Tabelle nur die Absätze wieder‐ gegeben, die jeweils relevant sind. 308 Die Hervorhebungen stammen aus dem Original. Der zweite Hauptteil ist dem Verlust des Schweizer Bürgerrechts gewidmet und besteht aus fünf Abschnitten. Der erste Abschnitt setzt sich aus einem Satz zusammen, in dem die Verlusttypen in nominalisierter Form aufgelistet werden: Verwirkung, Entlassung, Nichtigerklärung, Entzug. Die nachfolgenden Abschnitte behandeln jeweils einen Verlusttyp. Bemerkenswert ist dabei, dass jeder Abschnitt auf den entsprechenden Artikel im Bürgerrechtsgesetz verweist. Die intertextuellen Verweise, die zwar die Artikelnummerierung übernehmen aber die Angaben zur ihrer textuellen Organisation in Absätzen und Buchstaben auslassen, sind auch in diesem Fall mit den Bezugsteiltexten nicht technisch verlinkt. Jeder Abschnitt entspricht einer Art Reformulierung der Bezugs‐ artikel, bei der das lexikalische Material des Gesetzes im Grunde erhalten bleibt. Die Reihenfolge der Elemente im Satz wird hingegen in Richtung einer syntaktischen Vereinfachung leicht geändert. Dabei könnte man mit Fonsén (2014) von Paraphrasen „mit Minimalvariation“ sprechen. 306 Manchmal geht die Vereinfachung mit einer Veränderung der Thema-Rhema-Verhältnisse einher: Was im Bezugsartikel als thematisch wirkt, wird im Zieltext als rhematische Information präsentiert und umgekehrt. Zur Veranschaulichung sind in der folgenden Tabelle (Tab. II.2.4) die Bezugsartikel und die Formulierungen aus dem Korpustext BüG_28_de nebeneinandergestellt: Artikel aus dem BüG von 1952 307 Korpustext BüG_28_de 308 Art. 10 1 Das im Ausland geborene Kind eines schweizerischen Elternteils, das noch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, ver‐ wirkt das Schweizer Bürgerrecht mit der Vollendung des 22. Lebensjahres, wenn es nicht bis dahin einer schweizerischen Behörde im Ausland oder Inland gemeldet worden ist oder sich selber gemeldet hat oder schriftlich erklärt, das Schweizer Bürgerrecht beibehalten zu wollen. [6] Das Schweizer Bürgerrecht verwirkt nach Artikel 10 des Bürgerrechtsgesetzes, wer im Ausland als Kind eines schweize‐ rischen Elternteils geboren wird, neben der schweizerischen noch eine andere Staatsangehörigkeit besitzt und bis zur Vollendung des 22. Altersjahres keiner schweizerischen Behörde im Ausland oder Inland gemeldet worden ist oder sich selber gemeldet hat oder schriftlich erklärt hat, das Schweizer Bürgerrecht beibehalten zu wollen. 255 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="256"?> Art. 42 1 Ein Schweizer Bürger wird auf Begehren aus dem Bürgerrecht entlassen, wenn er in der Schweiz keinen Wohnsitz hat und eine andere Staatsangehörigkeit besitzt oder ihm eine solche zugesichert ist. Für Min‐ derjährige gilt Artikel 34 sinngemäss. 2 Die Entlassung wird von der Behörde des Heimatkantons ausgesprochen. [7] Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland wohnhaft sind und neben der schweizerischen noch eine zusätz‐ liche Staatsangehörigkeit besitzen (bzw. eine solche zugesichert haben), können bei der zuständigen schweizerischen Auslandvertretung nach Artikel 42 des Bürgerrechtsgesetzes ein Gesuch um Entlassung aus dem Schweizer Bür‐ gerrecht stellen. Das Gesuch wird via Bundesamt für Migration an die für die Entlassung aus dem Schweizer Bürger‐ recht zuständige Behörde des Heimatkan‐ tons weiter geleitet. Art. 41 1 Die Einbürgerung kann vom Bundesamt mit Zustimmung der Behörde des Heimat‐ kantons nichtig erklärt werden, wenn sie durch falsche Angaben oder Verheimli‐ chung erheblicher Tatsachen erschlichen worden ist. 1bis Die Einbürgerung kann innert zwei Jahren, nachdem das Bundesamt vom rechtserheblichen Sachverhalt Kenntnis erhalten hat, spätestens aber innert acht Jahren nach dem Erwerb des Schweizer Bürgerrechts nichtig erklärt werden. Nach jeder Untersuchungshandlung, die der eingebürgerten Person mitgeteilt wird, be‐ ginnt eine neue zweijährige Verjährungs‐ frist zu laufen. Die Fristen stehen während eines Beschwerdeverfahrens still. [8] Wer sich eine Einbürgerung durch falsche Angaben oder Verheimlichung er‐ heblicher Tatsachen erschlichen hat, ris‐ kiert, dass seine Einbürgerung nach Ar‐ tikel 41 des Bürgerrechtsgesetzes nichtig erklärt wird. Dies ist bis zu acht Jahre nach der Einbürgerung möglich. Art. 48 Das Bundesamt kann mit Zustimmung der Behörde des Heimatkantons einem Dop‐ pelbürger das Schweizer, Kantons- und Gemeindebürgerrecht entziehen, wenn sein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig ist. [9] Einem Doppelbürger kann das Schweizer Bürgerrecht nach Artikel 48 des Bürgerrechtsgesetzes entzogen werden, wenn sein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nach‐ teilig ist. Der Entzug des Schweizer Bürger‐ rechts ist jedoch nur in einem gravierenden Fall denkbar, so z. B. gegenüber einem ver‐ urteilten Kriegsverbrecher. Tab. II.2.5: Gegenüberstellung Normvs. Vermittlungstext: BüG von 1952 vs. Korpustext BüG_28_de Die syntaktische Vereinfachung zeigt sich in der Auflösung komplexerer, kognitiv schwieriger zu prozessierender Klammerkonstruktionen (vgl. z. B. Das im Ausland geborene Kind eines schweizerischen Elternteils vs. wer im Ausland als Kind eines schweizerischen Elternteils geboren wird), in der Veränderung der 256 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="257"?> Diathese des Satzes von Passiv in Aktiv (wenn sie [die Einbürgerung] durch falsche Angaben oder Verheimlichung erheblicher Tatsachen erschlichen worden ist. vs. Wer sich eine Einbürgerung durch falsche Angaben oder Verheimlichung erheblicher Tatsachen erschlichen hat), in der Verwendung gängigerer Ausdrücke (innert acht Jahren nach dem Erwerb des Schweizer Bürgerrechts vs. bis zu acht Jahre nach der Einbürgerung). Mit der Vereinfachung auf syntaktischer Ebene geht eine „Reduktion der Informationsfülle“ (vgl. Niederhauser 1997, 1999; vgl. I.3.5.1) einher, die sich durch das Weglassen von Elementen des Bezugstextes, besonders detaillierter Einzelheiten, auszeichnet. Wie im Fall der Erwerbstypen wird auch bei den Verlustarten der Unterschied zwischen automatischem Verlust und Verlust des Bürgerrechts aufgrund einer behördli‐ chen Entscheidung nicht erwähnt. Die Marginalien der Gesetzesartikel fehlen, dies wird aber im Hypertext-Modul des Staatssekretariats für Migration SEM durch Markierungen mit Fettdruck im Haupttext kompensiert. Fettgedruckte Ausdrücke im Fließtext entsprechen nämlich zum Teil den Marginalien der Bezugsartikel (vgl. z. B. die Marginalie des Artikels 41, die Nichtigerklärung lautet). Ganze Absätze der Gesetzesartikel entfallen, während diejenigen, die übernommen werden, oft allgemeiner formuliert sind (vgl. z. B. Art. 41 Abs. 1bis). Die semantische Offenheit, die typisch für Gesetze ist, wird im Kor‐ pustext BüG_28_de im Allgemeinen beibehalten, während konkrete Fälle bzw. praxisbezogene Beispiele fehlen. Wenn sie vorhanden sind, sind sie eher vage (vgl. z. B. mit Bezug auf Art. 48 die Erwähnung von Kriegsverbrechern). Ähnlich verhält es sich bei den Unterseiten, die den verschiedenen Einbür‐ gerungsarten gewidmet sind und hierarchisch dem Modul Einbürgerungsver‐ fahren (BüG_21_de) untergeordnet sind. Die Seite zur erleichterten Einbürgerung (BüG_22_de) enthält z. B. einen aus drei Abschnitten bestehenden kurzen Fließtext. Dieser entspricht der Zusammensetzung und Zusammenfassung - durch Auslassung von Inhaltselementen - einiger Artikel des Bürgerrechts‐ gesetzes (BüG_2_de), auf die allerdings nicht explizit verwiesen wird. Dabei wird auf den juristischen Apparat verzichtet. Auch das ist ein Verfahren, das für wissensvermittelnde Kontexte typisch ist (vgl. Niederhauser 1997, 1999; vgl. I.3.5.1). Viele lexikalische Elemente werden vom Gesetz unverändert übernommen; syntaktisch weicht der Fließtext im BüG_22_de vom Gesetzestext ab, er weist allerdings Konstruktionen auf, die typisch für die Gesetzessprache sind, etwa den unpersönlichen Stil der Relativsätze Wer …, muss … (vgl. Beispiel [10] unten) oder Wer …, kann … (Beispiel [12]). Auch hier widerspiegelt der Fließtext der Verwaltungseinheit die Abstraktheit des Gesetzestextes. Dies trifft besonders auf Formulierungen zu wie z. B. in die schweizerischen Verhältnisse eingegliedert sein [Beispiel 10], die innere oder äussere Sicherheit 257 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="258"?> 309 Dies war der Fall auch bei den informativen Texten aus ch.ch, wie die Textanalyse es gezeigt hat (vgl. Alghisi 2018: 213). der Schweiz nicht gefährden [Beispiel 10] oder eng mit der Schweiz verbunden [Beispiel 12]. Deren Interpretation benötigt aufgrund der semantischen Vagheit der Ausdrücke die Hinzuziehung anderer Informationsquellen. 309 Die folgende Tabelle stellt einen Vergleich zwischen dem Fließtext im Korpustext BüG_22_de (rechte Spalte) und den entsprechenden Bezugsartikeln (linke Spalte) an. Die Formulierungen, die in den zwei Texten partiell oder völlig gleich sind, sowie die Personenbezeichnungen sind unterstrichen worden (Tab. II.2.6): Artikel aus dem BüG von 1952 Korpustext BüG_22_de Art. 32 Das Bundesamt entscheidet über die erleichterte Einbürgerung; es hört den Kanton vorher an. Art. 51 2 Zur Beschwerde berechtigt sind auch die betroffenen Kantone und Gemeinden [10] Bei der erleichterten Einbürgerung ist der Bund für den Entscheid allein zu‐ ständig. Der Kanton wird vorher angehört und hat - wie auch die Gemeinde - ein Be‐ schwerderecht. Wer im erleichterten Ver‐ fahren eingebürgert werden will, muss in die schweizerischen Verhältnisse einge‐ gliedert sein. Zudem muss er die schwei‐ zerische Rechtsordnung beachten, und er darf die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden. Art. 26 1 Die erleichterte Einbürgerung setzt voraus, dass die Bewerberin oder der Be‐ werber: a. in der Schweiz integriert ist; b. die schweizerische Rechtsordnung be‐ achtet; c. die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet. 2 Für Bewerberinnen und Bewerber, die nicht in der Schweiz wohnen, gelten die Voraussetzungen von Absatz 1 sinnge‐ mäss. Art. 27 1 Ein Ausländer kann nach der Eheschlies‐ sung mit einem Schweizer Bürger ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung stellen, wenn er: a. insgesamt fünf Jahre in der Schweiz gewohnt hat; b. seit einem Jahr hier wohnt und c. seit drei Jahren in ehelicher Gemein‐ schaft mit dem Schweizer Bürger lebt. 2 Der Bewerber erhält das Kantons- und Gemeindebürgerrecht seines schweizeri‐ schen Ehegatten. [11] Von der erleichterten Einbürgerung profitieren können unter bestimmten ge‐ setzlichen Voraussetzungen insbesondere ausländische Ehepartner von Schweize‐ rinnen oder Schweizern sowie Kinder eines schweizerischen Elternteils, welche das Schweizer Bürgerrecht noch nicht be‐ sitzen. 258 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="259"?> Art. 31a 1 Ein ausländisches Kind, das nicht in die Einbürgerung eines Elternteils einbe‐ zogen wurde, kann vor Vollendung des 22. Altersjahres ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung stellen, wenn es insgesamt fünf Jahre in der Schweiz gewohnt hat, wovon ein Jahr unmittelbar vor Einrei‐ chung des Gesuchs. 2 Das Kind erwirbt das Bürgerrecht des schweizerischen Elternteils. Art. 28 1 Der ausländische Ehegatte eines Schwei‐ zers, der im Ausland lebt oder gelebt hat, kann ein Gesuch um erleichterte Einbür‐ gerung stellen, wenn er: a. seit sechs Jahren in ehelicher Gemein‐ schaft mit dem Schweizer Bürger lebt und b. mit der Schweiz eng verbunden ist. 2 Der Bewerber erhält das Kantons- und Gemeindebürgerrecht seines schweizeri‐ schen Ehegatten. [12] Ausländische Ehepartner von Schweizerinnen oder Schweizern, die seit einem Jahr in der Schweiz wohnen, können die erleichterte Einbürgerung nach einer dreijährigen Ehedauer bean‐ tragen, sofern sie insgesamt fünf Jahre in der Schweiz gewohnt haben. Wer eng mit der Schweiz verbunden ist, kann die erleichterte Einbürgerung bei der zustän‐ digen schweizerischen Vertretung selbst bei Wohnsitz im Ausland beantragen. Be‐ dingung in diesen Fällen ist allerdings, dass die Ehe mit einer Schweizerin oder einem Schweizer seit mindestens sechs Jahren besteht. Tab. II.2.6: Gegenüberstellung Normvs. Vermittlungstext: BüG von 1952 vs. Korpustext BüG_22_de Einige der Artikel, die im oberen Teil des Hypertext-Moduls Erleichterte Einbür‐ gerung (BüG_22_de) implizit übernommen werden, erscheinen auch im unteren Teil der Webseite. Dort findet sich unter dem Titel Erleichterte Einbürgerung nach Artikeln eine nummerierte Auflistung der Artikel des Bürgerrechtsgesetzes, die die Fälle erwähnen, auf die sich die erleichterte Einbürgerung anwenden lässt. Dabei handelt es sich um die Artikel 27, 28, 29, 30, 31a, 31b, 58a und 58c. Die Übernahme ist auch in diesem Fall durch die Auslassung von Inhaltselementen der Bezugsartikel gekennzeichnet und erfolgt auch hier durch das Ausfallen ihrer formalen Textstruktur sowie durch die Verwendung eines stichwortar‐ tigen Stils, der nicht völlig ausformulierte Sätze aufweist. Man vergleiche das folgende Beispiel: [13] 1. Artikel 27 BüG Ausländischer Ehegatte einer Schweizerin oder eines Schweizers, der insgesamt fünf Jahre in der Schweiz gewohnt hat, seit einem Jahr hier wohnt und seit drei Jahren in 259 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="260"?> 310 Zu ähnlichen Ergebnissen bin ich bei der Auswertung der informativen Texte auf ch.ch gekommen (vgl. Alghisi 2018: 208 ff.). 311 Zur Verwendung des sogenannten Binnen-I bei der Umsetzung des Prinzips der sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter vgl. Adamzik/ Alghisi (2017) und Alghisi et al. (2017). ehelicher Gemeinschaft mit dem schweizerischen Ehepartner lebt. Achtung: der/ die Ehepartner/ in muss im Zeitpunkt der Heirat die Schweizer Staatsangehörigkeit besessen haben. 2. Artikel 28 BüG Ausländischer Ehegatte einer Schweizerin oder eines Schweizers, der im Ausland lebt oder gelebt hat, eng mit der Schweiz verbunden ist und seit mindestens sechs Jahren in ehelicher Gemeinschaft mit dem schweizerischen Ehepartner lebt. Gesuchstellung hier auch bei Wohnsitz im Ausland möglich. Achtung: wenn der Ehepartner das Schweizer Bürgerrecht durch ordentliche Einbürgerung nach der Heirat erworben hat, ist die Einbürgerung nicht möglich (BüG_22_de; Hervorhebungen im Original gelöscht; Unterstreichungen A.A.). Bemerkenswert ist bei diesem Beispiel sowie bei den oben erwähnten aus dem Korpustext BüG_22_de (Beispiel [11] und [12]) die extrem große Variation, die die Verwendung der Personenbezeichnungen charakterisiert. 310 Man kombiniert - auch innerhalb eines und desselben Artikels bzw. Abschnittes - verschiedene Strategien zur Herstellung der Referenz auf Personen. Im Beispiel [13] wird zwischen generischen Maskulina im Singular (Ausländischer Ehegatte; dem schweizerischen Ehepartner; der Ehepartner) und vollen sowie gekürzten Paarformen (einer Schweizerin oder eines Schweizers; der/ die Ehepartner/ in) alterniert. In den Beispielen [11] und [12] benutzt man innerhalb einer Nominal‐ phrase sowohl das generische Maskulinum im Plural (ausländische Ehepartner) als auch eine pluralische Paarform (von Schweizerinnen oder Schweizern). Auch die stichwortartige Übersicht in tabellarischer Form, die unterhalb des Fließ‐ textes erscheint, ist in dieser Hinsicht abwechslungsreich. Die Tabelle enthält sowohl die Kombination ‚Paarformen und generisches Maskulinum‘ (ausländi‐ sche Ehefrauen und Ehemänner von schweizerischen Ehepartnern) als auch die Binnengroßschreibung (GesuchstellerInnen) (Abb. II.2.9): 311 260 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="261"?> Abb. II.2.9: Tabelle aus Korpustext BüG_22_de Diese Vermischung verschiedener Strategien zur Personenreferenz kennzeichnet genauso die anderen Webseiten des Staatssekretariats für Migration SEM zum Thema Schweizer Bürgerrecht. Im zweiten Hauptteil des Korpustextes BüG_28_de zum Verlust des Bürgerrechts werden z. B. volle Paarformen (Schwei‐ zerinnen und Schweizer) neben dem generisch gemeinten Maskulinum (Einem Doppelbürger) gebraucht. Die Heterogenität im Sprachgebrauch scheint hier das Prinzip der kreativen Lösung zu befolgen, das im deutschen Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren (BK 2009a) vorgeschrieben ist (vgl. I.3.4.2.2). Danach sollte man „die vorhandenen sprachlichen Mittel kombinieren und sie so verwenden, dass ihre Vorteile voll zum Tragen kommen und ihre Nachteile minimiert werden“ (BK 2009a: 41). Dieses Prinzip widerspricht jedoch dem Gebot der Einheitlichkeit, das in der Anleitung zur geschlechtergerechten Sprache ebenfalls propagiert wird. Diesem Grundsatz zufolge sollte Gleiches „immer gleich benannt werden“ (BK 2009a: 68; im Original in Fettdruck; vgl. auch I.3.4.2.2). Das bedeutet, dass „einmal gewählte Personenbezeichnungen […] konsequent verwendet werden müssen“ und dass insbesondere „Paarformen […] nicht neben Formen im generischen Maskulinum […] stehen dürfen“ (ebd.). Dies gilt vor allem für Normtexte, bei denen allfällige Interpretationshürden zu beheben sind und die demzufolge am strengsten kontrolliert werden (vgl. II.2.3.4). Das Bürgerrechtsgesetz von 1952 (BüG_2_de) missachtet das Gebot der Einheitlichkeit auf vielfache Weise. Nicht nur stehen im ganzen Gesetzestext 261 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="262"?> 312 Zur Entwicklung der Diskussion über den geschlechtergerechten Sprachgebrauch und zu deren Auswirkungen auf die Praxis der Redaktion von Schweizer Behördentexten vgl. Adamzik/ Alghisi (2017) sowie die Publikationen im Rahmen des oben erwähnten Forschungsprojekts der Universität Genf (vgl. dazu I.3.2). generische Maskulina und Paarformen nebeneinander, auch bei Ausdrücken, die sich durch völlige Referenzidentität auszeichnen, werden häufig unterschied‐ liche Strategien zur Bezeichnung von Personen angewandt. Dies zeigt sich gut am Beispiel von ‚Bewerber‘, das z. B. in zwei aufeinander folgenden Artikeln einmal durch Paarformen (die Bewerberin oder der Bewerber; Bewerberinnen und Bewerber; vgl. Art. 26) einmal durch das generische Maskulinum (Der Bewerber; Art. 27) versprachlicht wird. Die Inkongruenzen, die das Bürgerrechtsgesetz prägen, lassen sich dadurch erklären, dass zur Zeit der Abfassung des Gesetzes (zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) die geschlechtergerechte Sprachverwendung noch kein Thema war. Das Gesetz wurde im Lauf der Jahre kontinuierlich Teilrevisionen unterzogen. Dabei haben sich auf die Redaktion des Gesetzes die Sprachnormen ausgewirkt, die jeweils gültig waren. Ab den 1990er Jahren wurde das generische Maskulinum aus deutschsprachigen Er‐ lasstexten des schweizerischen Bundes offiziell verbannt. 312 Dies führte dazu, dass die Artikel, die nach dieser Zeit nachgetragen wurden, diese Form nicht enthielten. Die formalen Unstimmigkeiten, die aus dem langjährigen Revisions‐ prozess des Gesetzes resultiert haben, sowie der Wunsch nach ihrer Bereinigung waren in den 2000er Jahren einer der Gründe, die die Totalrevision des Bürger‐ rechtsgesetzes veranlasst haben (vgl. II.1.2.3 und II.3). Wie bereits angeführt, weisen auch die Korpustexte des Staatssekretariats für Migration SEM - wie etwa die Seite zur erleichterten Einbürgerung (BüG_22_de) - Vielschichtigkeit bei der Verwendung der Personenbezeichnungen auf. Diese Variation ist hier aber nicht durch den gesetzlichen Bezugstext motiviert. Tatsächlich weichen hier die Webseiten der Bundesverwaltung häufig von dem Ausgangstext ab, auch wenn sie die Gesetzesartikel fast wörtlich über‐ nehmen (vgl. z. B. Der ausländische Ehegatte eines Schweizers im Art. 28 vs. Ausländische Ehepartner von Schweizerinnen oder Schweizern im Beispiel [12]). Der heterogene Sprachgebrauch wirkt hier vielmehr als Mittel zum Leseranreiz bzw. als Instrument, um eine gewisse Nähe dem Adressaten gegenüber (dem Bürger, der sich über die Schweizer Staatsbürgerschaft informieren möchte) zu zeigen. In diesem Kontext vermischt sich der amtliche, unpersönliche Stil der Verwaltungswebseiten, der sich auch als ein Zeichen für Seriosität versteht (vgl. Jakobs/ Lehnen 2005: 177), mit Formulierungen, die vom Versuch zeugen, einen Dialog mit dem Bürger anzubahnen (vgl. I.3.1). Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Auflistung der Fälle, auf die die erleichterte Einbürgerung 262 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="263"?> zutrifft, in der Verwendung des Wortes Achtung (vgl. Beispiel [13]). Dieses gilt als Aufforderung und will die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das lenken, was er berücksichtigen sollte. Die Verschränkung verschiedener Register, die zwischen einem unpersönlichen, gesetzessprachlichen einerseits und einem persönlicheren, adressatenorientierten, die interaktive Form wir- Sie einnehmenden Stil andererseits schwanken, charakterisiert die Hypertext- Module des Staatssekretariats für Migration im Allgemeinen. Dies gilt besonders für die Seiten, die konkretere, praxisbezogene Informationen zum Einbürge‐ rungsverfahren mitteilen. Bei den persönlicheren Formulierungen ist es die in der Schweiz ansässige, einbürgerungswillige Person, die in erster Linie angesprochen wird: [14] Wer seit zwölf Jahren in der Schweiz wohnhaft ist - die zwischen dem vollendeten 10. und 20. Lebensjahr in unserem Land verbrachten Jahre zählen dabei doppelt - kann ein Gesuch um Erteilung der eidgenössischen Einbürgerungsbewilligung stellen (BüG_27_de; Unterstreichungen A.A.). [15] Der neue Art. 38 BüG, welcher am 01.01.2006 in Kraft getreten ist, bestimmt, dass Bund, Kantone und Gemeinden für ihre Entscheide höchstens Gebühren erheben können, welche die Verfahrenskosten decken. Für Fragen zu Gebühren, welche bei der ordentlichen Einbürgerung erhoben werden, wenden Sie sich bitte an die zuständigen kantonalen und kommunalen Behörden, da der Bund lediglich die eidgenössische Bewilligung erteilt (BüG_24_de; Unterstrei‐ chungen A.A.). Interessant ist die Webseite, die die Verfahrensdauer beschreibt (BüG_29_de). Diese Seite setzt mit einem unpersönlichen Ton an, der progressiv persönlicher wird, indem die Einbürgerungswilligen direkt angesprochen werden: [16] Bei jährlich rund 30 000 neuen Gesuchen um ordentliche und erleichterte Einbürgerung ist die Arbeitslast bei den am Verfahren beteiligten Stellen von Bund, Kanton und Gemeinde gross. Dennoch wird jedes Einbürgerungsgesuch sorgfältig und nach objektiven Kriterien geprüft. Je nachdem, um was für eine Einbürgerungsart es sich handelt und welche Kantone beteiligt sind, kann die Dauer des Verfahrens sehr unterschiedlich sein: Normalerweise ist bei Gesuchen um erleichterte Einbürgerung gestützt auf Art. 27 BüG mit einer Verfahrensdauer von rund eineinhalb Jahren zu rechnen. In Einzelfällen kann das Verfahren länger dauern. Zur Frage der Verfahrensdauer einer ordentlichen Einbürgerung wenden Sie sich bitte an die zuständigen kantonalen oder kommunalen Behörden, da der Bund lediglich die eidgenösische [sic] Einbürgerungsbewilligung erteilt. 263 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="264"?> Sollten wir im Verlaufe des Verfahrens zusätzliche Unterlagen oder weitere Informa‐ tionen benötigen, werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen. Wir bitten Sie, während des laufenden Verfahrens nur in ausserordentlichen Fällen und in schriftlicher Form an unser Amt zu gelangen: [Adresse des SEM] Für Ihr Verständnis danken wir Ihnen bestens (BüG_29_de; Unterstreichungen A.A.). Zu bemerken sind die aufwertenden, eher vagen Adjektive im ersten Abschnitt (sorgfältig, objektiv), wodurch das Amt für die eigene Arbeit wirbt. Durch die Argumentation ‚trotz einer großen Menge Gesuche arbeiten wir mit Sorgfalt‘ versucht das Staatssekretariat, das positive Image der eigenen Organisation zu pflegen. Die Perspektive des Einbürgerungswilligen steht auch im Fokus des Hy‐ pertext-Moduls FAQ-Häufig gestellte Fragen (BüG_23_de). Dieses besteht aus den Teilen Ordentliche Einbürgerung, Erleichterte Einbürgerung und Doppel‐ bürgerrecht. Jeder Teil ist durch ein Frage-Antwort-Muster charakterisiert. Dabei übernimmt der Produzent die Rolle des Rezipienten und greift Fragen vor, die sich ein einbürgerungswilliger Mensch stellen könnte. Dies ruft den Gebrauch von ich hervor, das sowohl in der Frageformulierung als auch in der entsprechenden Antwort benutzt wird und das „den Rezipienten […] die Umstellung von der Perspektive des Angesprochenen (Sie) abverlangt“ (Alghisi 2018: 212), die die anderen Hypertext-Module prägt (vgl. oben: Beispiele [15] und [16]). Bei den Frageformulierungen handelt es sich um W-Fragen, die für jede Einbürgerungsart darauf hinweisen, wann die Person, die sich einbürgern lassen möchte, ein Gesuch stellen darf, wo sie das Gesuchsformular erhält bzw. wo sie das Einbürgerungsgesuch einreichen muss. Auch in diesem Fall bestehen die Antworten trotz der Verwendung der Verben in der ersten Person Singular vor allem nur in der fast wörtlichen Übernahme der gesetzlichen Artikel und in der Reproduktion von deren semantischer Vagheit (mit Bezug auf das folgende Beispiel vgl. Art. 26, 27, 28 des BüG): [17] Ich bin Ausländer(in) und mit einer Schweizerin resp. mit einem Schweizer verheiratet. Wann kann ich ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung stellen? Ich muss seit mindestens drei Jahren in einer stabilen ehelichen Gemeinschaft mit dem schweizerischen Ehepartner leben, insgesamt fünf Jahre in der Schweiz gewohnt haben und seit mindestens einem Jahr in der Schweiz wohnen. Lebe ich im Ausland, muss ich seit mindestens sechs Jahren in einer stabilen ehelichen Gemeinschaft leben und mit der Schweiz eng verbunden sein. Unabhängig vom Wohnsitz wird verlangt, dass ich zumindest sinngemäss in die schweizerischen Verhältnisse eingegliedert bin, 264 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="265"?> 313 Mit Bezug auf die wiederholte Materialisierung derselben (Teil-)Texte und auf die Präsenz von Links, die auf in einem bestimmten Zusammenhang relevante Texte verweisen, spricht Morlok von „Bausteintechnik“: „Die leichte Zugänglichkeit und Heranziehbarkeit der Bezugstexte erleichtert eine ‚Bausteintechnik‘. Damit ist gemeint, dass andernorts vorgefertigte Texte ohne oder mit kleinen Veränderungen in die Produktion des aktuellen Textes übernommen werden können. Die Intertextualität wird technisch leichter realisierbar. Im Grenzfall beschränkt sich der aktuelle Autor darauf, andere Texte nur nachzuweisen, ohne sie selbst auch inhaltlich teilweise zu zitieren“ (Morlok 2015: 77). die schweizerische Rechtsordnung beachte und die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährde. Besonderer Hinweis: Der schweizerische Ehepartner muss bereits bei der Heirat das Schweizer Bürgerrecht besessen haben (BüG_23_de; Hervorhebungen im Original gelöscht). Gelegentlich wird der Rezipient in der Antwort auf einen persönlichen Kontakt mit den Behörden verwiesen. Dies erfolgt einmal durch eine erneute Perspek‐ tivenänderung (ich → Sie) oder durch die Verwendung einer auffordernden Formulierung im Imperativ (vgl. Beispiel [19]): [18] Wo muss ich das Einbürgerungsgesuch einreichen? Das Gesuch um ordentliche Einbürgerung ist je nach kantonaler Regelung beim Kanton oder bei der Gemeinde einzureichen. Auskunft erhalte ich bei der Wohnge‐ meinde oder beim kantonalen Bürgerrechtsdienst (BüG_23_de; Hervorhebungen im Original gelöscht; Unterstreichungen A.A.). [19] Wo erhalte ich ein Gesuchsformular? Kontaktieren Sie die zuständige kantonale Behörde: Adressliste (BüG_23_de; Hervor‐ hebungen im Original gelöscht; Unterstreichungen A.A.). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Korpustexte, aus denen sich das Subkorpus 1 zusammensetzt, unterschiedlichen Materialisierungen derselben virtuellen Texteinheiten entsprechen. In einigen Fällen ist es derselbe Wortlaut, der wie ein Versatzstück in neuen Texten rekontextualisiert wird. Das ist etwa der Fall beim Text im Beispiel [1]. In anderen Fällen durchläuft die virtuelle Texteinheit, die im Rahmen veränderter situativer Bedingungen wie‐ derholt wird, inhaltliche und / oder formale Veränderungen, die auf eine Vereinfachung des Textes gerichtet sind. Dies trifft vor allem auf die (oben erwähnten) Artikel des Bürgerrechtsgesetzes zu. 313 Manchmal geht die erneute Materialisierung nicht nur mit einer Vereinfachung der virtuellen Einheit einher, sondern auch mit deren Umsetzung in eine neue Textform, etwa wenn ein Fließtext in einen verknappten Text bzw. in eine Tabelle umgewandelt wird. Hier 265 2.4 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="266"?> 314 Der Einsatz grafischer Mittel bzw. die Kombination verschiedener Zeichensysteme (Sprache, Farbe, Bild, Ton) prägt insbesondere die Präsentation der Inhalte auf den ch.ch-Seiten (vgl. Alghisi 2018: 200 ff.). 315 Zu bemerken ist hier, dass die intertextuellen Verweise in der zweiten und dritten Reihe der Tabelle aus dem Handbuch Bürgerrecht einen formalen Fehler enthalten. Statt auf den Buchstaben „a“ der Verordnung (lit. a) wird auf „lit. 2“ (! ) verwiesen. haben wir es mit einer erneuten Materialisierung mit grafischer Variation zu tun. 314 Der Artikel 3 der Gebührenverordnung von 2005 (BüG_5_de) wird z. B. im Handbuch Bürgerrecht (BüG_3_de) in eine Tabelle umgewandelt (vgl. Kap. 2.8.2 des Handbuchs). Diese Tabelle erscheint auch auf dem Hypertext- Modul des SEM, der den Titel Gebühren trägt (BüG_24_de). Dabei werden zwar die Inhaltswörter der Ausgangstabelle übernommen, einige Inhaltselemente sowie formale Aspekte werden allerdings ausgelassen: die Hinweise auf die Gebühren in den Kantonen; die intertextuellen Verweise auf die Rechtsquelle 315 sowie die farbliche Markierung, die die Unterscheidung zwischen den Textteilen des Verordnungsartikels widerspiegelt. Man vergleiche die folgende Abbildung (Abb. II.2.10), wo Ausschnitte aus den drei materialisierten Texten nebeneinan‐ dergestellt werden: Abb. II.2.10: Verschiedene Materialisierungen derselben Inhalte im Subkorpus 1 Die Texte, die das Subthema Gebühren fokussieren, sowie alle Korpustexte, die einen inhaltlichen bzw. formalen Kern gemeinsam haben, bilden kleinere Textfamilien (vgl. Abb. II.2.11 und I.2.2): 266 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="267"?> 316 Vgl. http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ ; 05.02.2020. 317 Vgl. https: / / www.gazzettaufficiale.it/ dettaglio/ codici/ codiceCivile; 05.02.2020. 318 Diese Überlegungen gelten auch für die Auswertungen in II.3.7 und II.5. Abb. II.2.11: Textfamilien im Subkorpus 1 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen Im Folgenden werden die italienischen Texte auf der mikrostrukturellen Ebene analysiert. Die Texte werden durch meine Brille - d. h. durch die Brille einer Italienischmuttersprachlerin italienischer Nationalität - betrachtet. Bei den Auswertungen habe ich das italienische Online-Wörterbuch Treccani, 316 den italienischen Codice Civile 317 (Bürgerliches Gesetzbuch) und die italienische Legge n. 91 sulla cittadinanza vom 05.02.1992 sowie den entsprechenden Rego‐ lamento n. 362 vom 18.04.1994 als Bezugspunkt herangezogen. Dabei wären die Ergebnisse meiner Analysen mithilfe größerer Korpora in weiteren Studien zu überprüfen. D.h. es wäre zu untersuchen bzw. festzustellen, inwieweit die Formulierungen, auf die ich hier meine Aufmerksamkeit lenke, in den Schweizer Texten i. Allg. verbreitet sind bzw. ob man dabei tatsächlich von Besonderheiten der italienischen Sprache der Schweiz (Helvetismen) sprechen kann oder nicht. 318 Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den italienischen föderalen Kor‐ pustexten um Übersetzungen der entsprechenden deutschen Versionen (vgl. 267 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="268"?> I.3.4.2.1 und II.1.2). Die folgende Tabelle (II.2.7) bietet einen Überblick über die Textüberschriften im Italienischen: Korpustext Textüberschrift BüG_1_it Costituzione federale BüG_2_it Legge federale su l’acquisto e la perdita della cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) BüG_3_it Manuale sulla cittadinanza BüG_4_it V. Cittadinanza BüG_5_it Ordinanza sulle tasse riscosse in applicazione della legge sulla cittadinanza (Ordinanza sulle tasse LCit) BüG_6_it Acquisizione della nazionalità svizzera, doppia cittadinanza BüG_7_it Stranieri in Svizzera BüG_8_it Condizioni per la naturalizzazione ordinaria BüG_9_it Naturalizzazione BüG_10_it Naturalizzazione agevolata BüG_11_it Avete desideri o suggerimenti per ch.ch? BüG_12_it Non avete trovato l’informazione che stavate cercando? BüG_13_it Naturalizzazione ordinaria BüG_14_it Rappresentanze svizzere all’estero BüG_15_it Ch.ch BüG_16_it Reintegrazione BüG_17_it Nuova regolamentazione: Unione domestica registrata BüG_18_it Passaporto Svizzero BüG_19_it Cittadinanza svizzera / Naturalizzazione BüG_20_it Doppia cittadinanza BüG_21_it Procedura di naturalizzazione BüG_22_it Naturalizzazione agevolata BüG_23_it FAQ - Domande ricorrenti BüG_24_it Tasse 268 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="269"?> BüG_25_it Cittadinanza BüG_26_it Termini di domicilio cantonali per la naturalizzazione ordi‐ naria BüG_27_it Naturalizzazione ordinaria BüG_28_it Cittadinanza svizzera BüG_29_it Durata della procedura BüG_30_it Reintegrazione BüG_31_de_fr_it Naturalizzazione agevolata dei coniugi stranieri di svizzere e di svizzeri domiciliati in Svizzera Tab. II.2.7: Korpustexte des Subkorpus 1: Italienisch Wie die deutschen Texte werden auch die italienischen Normtexte (Costitu‐ zione, Legge, Ordinanza) selbstverständlich einer strengen formalen Kontrolle unterzogen und zeichnen sich durch die Einhaltung bestimmter, vorher festge‐ legter redaktioneller Normen aus. Besonders an den italienischen normativen Texten ist aber, dass diese ursprünglich Übersetzungen sind, die als Originale behandelt werden und wie Originaltexte ‚klingen‘ sollen. Dabei wird dem Prinzip der Gleichstellung der Sprachfassungen der amtlichen bzw. der Normtexte (Deutsch, Französisch, Italienisch) Rechnung getragen, das also auf einer „finzione giuridica“ (juristische Fiktion; Egger 2019: 35) beruht. Solche Fiktion stellt für die Übersetzer und Textverfasser eine Herausforderung dar: Sul fronte testuale, una prima difficoltà è dovuta appunto all’antinomia tradu‐ zione/ originale, ossia al fatto che pur nascendo come traduzione, il testo italiano vale come testo originale. Il testo italiano deve essere fruibile totalmente come testo autonomo, il che significa innanzi tutto occultare dal testo in questione la dimensione traduttiva (Egger 2019: 36). Demnach soll der italienische Übersetzer, der die deutschen bzw. eventuell die französischen Texte übersetzt, den Sinn der normativen Bestimmungen begreifen und ihn unter Berücksichtigung der Gewohnheiten und Sensibilitäten, die den Sprachgebrauch im Italienischen prägen, in italienische Sprache um‐ setzen: il traduttore […] deve afferrare l’idea e commisurare questa al senso profondo (giuridico) delle parole che la esprimono, individuare le parole che nella lingua di arrivo hanno lo stesso senso (giuridico) e utilizzare queste parole - e non altre - per riscrivere la disposizione (Egger 2019: 61). 269 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="270"?> 319 In diesem und in den nachfolgenden Beispielen ist die originale Auszeichnung gelöscht. Die Unterstreichungen stammen jedes Mal von mir und markieren die relevanten, jeweils kommentierten linguistischen Phänomene. Es geht also darum, aus den zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen jeder Sprache zu schöpfen und die Eigenschaften der verschiedenen Sprachen sowie die dort dominanten Einstellungen zu respektieren (vgl. I.3.4.2.2): In un contesto plurilingue, il primo dei doveri nei riguardi della parola è certamente il rispetto delle prerogative proprie ad ogni lingua e l’esaltazione delle risorse di ognuna di esse (Egger 2019: 83). Dieses Prinzip liegt u. a. der Verwendung der Personenbezeichnungen in den normativen Texten des Subkorpus 1 zugrunde. Während das Deutsche - trotz der Verstöße gegen das Einheitlichkeitsgebot (vgl. II.2.4.2) - tenden‐ ziell die Doppelformen bevorzugt, verwendet das Italienische systematisch das generische Maskulinum. Dabei orientieren sich beide Sprachen an den sprachlichen Vorgaben, die jeweils zum Thema sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter erarbeitet wurden (vgl. I.3.4.2.2). So ist die Legge federale (BüG_2_it) durch die konsequente Verwendung des generisch gemeinten Mas‐ kulinums gekennzeichnet; das Femininum kommt nur vor, wenn man sich spezifisch auf Frauen bezieht. Man vergleiche als Beispiel den Art. 1 Abs. 1 des Bürgerrechtsgesetzes von 1952: 319 BüG_2_de BüG_2_it [20] Art. 1 1 Schweizer Bürgerin oder Bürger ist von Geburt an: a. das Kind, dessen Eltern miteinander verheiratet sind und dessen Vater oder Mutter Schweizer Bürgerin oder Bürger ist; b. das Kind einer Schweizer Bürgerin, die mit dem Vater nicht verheiratet ist. [20] Art. 1 1 È cittadino svizzero dalla nascita: a. il figlio di genitori uniti in matrimonio, dei quali uno almeno è cittadino svizzero; b. il figlio di una cittadina svizzera non coniugata con il padre. Auf die Sorgfalt, mit der die Legge federale (BüG_2_it) erarbeitet wurde, geht die formale Korrektheit zurück, die den Text prägt. Nur kleine sprachliche Ungenauigkeiten lassen sich hier und da bemerken. Ein Beispiel findet sich in der Marginalie des Art. 54; dort ist das deutsche Fachwort Vollzug durch den italienischen Ausdruck esenzione (Deutsch: Befreiung) statt durch das in diesem Fall korrekte Wort esecuzione übersetzt. Auch im Gesetzestitel Legge su l’acquisto e la perdita della cittadinanza svizzera ist eine Abweichung von 270 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="271"?> den Regeln des Standarditalienischen festzustellen. Anstelle der komplexen Präpositionen (preposizioni articolate) sull’acquisto und sulla perdita, die aus der Kombination Präposition su + bestimmter Artikel l’ bzw. su + bestimmter Artikel la resultieren, wird die Präposition su in einfacher Form (preposizione semplice) benutzt. Das ist im Italienischen eher ungewöhnlich und lässt sich hier nur als bewusst eingesetzte Strategie erklären, um die Wiederholung der Präposition zu vermeiden. Wie die deutschen sind die italienischen informativen Hypertexte durch große sprachliche Variation gekennzeichnet. Manchmal führt sie zu Un‐ einheitlichkeiten bzw. Inkongruenzen innerhalb eines Textes, die zum Teil schwierig zu erklären sind. Ein gutes Beispiel für sprachliche Variation sind in diesem Kontext die italienischen Texte, die aus dem Portal ch.ch stammen. Auch die italienische Fassung der ch.ch-Startseite (BüG_15_it) enthält - wie die deutsche - Kurztexte, die in bunte Kästen gelegt sind und sprachlich-stilistisch stark voneinander abweichen. Dabei scheint das klassische Prinzip der variatio delectat zu dominieren (vgl. Alghisi 2018: 202). Man betrachte die folgenden Beispiele: BüG_15_de BüG_15_it [21] Ausländer in der Schweiz In die Schweiz einreisen, leben, arbeiten sowie Familiennachzug und Einbürge‐ rung. [21] Stranieri in Svizzera Entrata e soggiorno in Svizzera, lavorare, ricongiungimento familiare e naturalizza‐ zione. [22] Online-Schalter Auslandschweizer [22] Sportello online per le Svizzere e gli Svizzeri all’estero [23] Wie funktioniert die Schweiz? Mit der Broschüre "Der Bund kurz erklärt" lernen Sie die Grundlagen des schweizeri‐ schen Staates besser kennen. [23] Come funziona la Svizzera L’opuscolo "La Confederazione in breve" vi offre una panoramica del funziona‐ mento dello Stato svizzero. [24] Abstimmung vom 12. Februar 2017 Finden Sie hier die vorläufigen amtlichen Endergebnisse vom 12.02.2017. [24] Votazione del 12.2.2017 I risultati della votazione popolare. [25] Löhne in der Schweiz Bestimmungen zum Minimal- oder Durchschnittslohn, Lohnrechner [25] Salari minimi in Svizzera Qual è il salario medio in Svizzera. Esiste un salario minimo? Die Nähe der italienischen Fassung zur Ausgangssprache kann mehr oder weniger groß sein. Der oben genannte Text (BüG_15) ist dabei insofern inter‐ essant, als er sowohl Beispiele für intralinguale stilistische Abweichungen beinhaltet als auch für Unterschiede in den sprachlichen Strategien, die jeweils 271 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="272"?> in der Ausgangs- und Zielsprache angewandt werden. Im Beispiel [21] ist die Personenbezeichnung in beiden Sprachen im generischen Maskulinum (Ausländer bzw. Stranieri). Das Deutsche benutzt Verbalformen im Infinitiv (einreisen, leben und arbeiten) sowie Nominalisierungen (Familiennachzug und Einbürgerung); im Italienischen entspricht nur das Wort lavorare (arbeiten) einer Verbalform im Infinitiv. In [22] wird im Deutschen wieder ein generisches Maskulinum (Auslandschweizer) benutzt, während gegen alle Erwartung im Italienischen eine Doppelform steht (le Svizzere e gli Svizzeri). Im Beispiel [23] werden die Hauptadressaten im Deutschen direkt angesprochen, wobei diese die semantische Rolle des Agens übernehmen (lernen Sie … kennen); stattdessen entsprechen die Adressaten im Italienischen der Rolle des Benefaktiv (vi) und das Agens liegt bei der Broschüre (L’opuscolo … vi offre). In [24] haben wir im Deutschen eine persönliche Aufforderungsform im Imperativ (Finden Sie …), während im Italienischen eine unpersönliche nominale Form steht (I risultati della votazione popolare). Im Beispiel [25] liegen Nominalisierungen schließlich im Deutschen vor (Bestimmungen zum …), während das Italienische durch einen Verbalstil in Form einer indirekten und einer direkten Frage (Qual è il salario medio in Svizzera. Esiste un salario minimo? ) gekennzeichnet ist. Bei näherer Betrachtung der anderen ch.ch-Texte fällt auf, dass es wieder‐ kehrende Phänomene gibt, die die eine bzw. die andere Sprache charakteri‐ sieren. Das Deutsche bevorzugt z. B. tendenziell einen persönlichen Stil, wobei die Adressaten direkt angesprochen werden. Im Italienischen herrscht hingegen überwiegend ein unpersönlicher Ton (mit Passivkonstruktionen, Verben im Infinitiv oder der Verwendung der dritten Person Singular): BüG_13_de BüG_13_it [26] Das Gesuch müssen Sie je nach kan‐ tonaler Regelung beim Kanton oder bei der Gemeinde einreichen. Wer für Sie zuständig ist, können Sie mit dem Link „Zuständige Behörde identifizieren und kontaktieren“ weiter unten bestimmen. [26] A seconda del disciplinamento canto‐ nale, la domanda va inoltrata al Cantone o al Comune. Qui di seguito à [sic] possibile stabilire qual è l’autorità competente nel caso specifico sotto il link «Identificare e contattare l’autorità competente». [27] Wenn Sie während des Verfahrens zügeln, kann dies die Einbürgerung ernst‐ haft gefährden (da das Verfahren in jeder Gemeinde anders verläuft). Die Behörde entscheidet, ob sie ausnahmsweise einem Wohnsitzwechsel während des Verfah‐ rens zustimmt. Erkundigen Sie sich früh‐ zeitig bei Ihrer Wohngemeinde. [27] Traslocare nel corso di una procedura può pregiudicare seriamente la natural‐ izzazione (poiché la procedura varia a seconda del Comune). L’autorità decide se autorizzare eccezionalmente un cam‐ biamento di domicilio durante la proce‐ dura. Informatevi preventivamente presso il vostro Comune di domicilio. 272 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="273"?> Es kann aber auch Verstöße gegen diese Tendenz bzw. Stilbrüche geben. Diese sind in beiden Sprachen bemerkbar (vgl. Beispiel [27it]: Informatevi, d. h. Imperativ in zweiter Person Plural, persönlich; Beispiel [28de]: Die Entlassung … richtet sich, d. h. Indikativ in der dritten Person Singular, unpersönlich). BüG_16_de BüG_16_it [28] Wie Sie aus dem Bürgerrecht "ent‐ lassen" werden können • Schweizer Bürgerrecht: Sie wohnen als Schweizerin oder Schweizer im Aus‐ land und besitzen neben der schweize‐ rischen noch eine zusätzliche Staatsan‐ gehörigkeit (bzw. Ihnen ist eine solche zugesichert worden)? Dann können Sie bei der zuständigen schweizerischen Auslandvertretung ein Gesuch um Ent‐ lassung aus dem Schweizer Bürger‐ recht stellen. • Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht: Die Entlassung aus dem Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht - ohne dass das Schweizer Bürgerrecht davon be‐ troffen ist - richtet sich nach den Be‐ stimmungen des betroffenen Kantons bzw. der betroffenen Gemeinde. [28] Svincolo dalla cittadinanza • Svincolo dalla cittadinanza svizzera: Il cittadino svizzero residente all’estero che, oltre alla cittadinanza svizzera, ne possiede anche un’altra (oppure se gli è stata assicurata) può inoltrare una richiesta di svincolo dalla cittadinanza svizzera presso la relativa rappresen‐ tanza svizzera all’estero competente in materia. La richiesta viene inoltrata tramite la Segreteria di Stato della migrazione alle autorità del Cantone d’origine competente per lo svincolo. • Svincolo dalla cittadinanza cantonale e dall’attinenza comunale: Lo svincolo dalla cittadinanza cantonale e dall’at‐ tinenza comunale, senza che vi siano ripercussioni sulla cittadinanza sviz‐ zera, avviene in base alle disposizioni del Cantone e del Comune in ques‐ tione. Gelegentlich gibt es auch inhaltliche Unterschiede zwischen den Sprachfas‐ sungen. Im Beispiel [28] oben findet sich etwa ein Inhaltselement im Italieni‐ schen, das in der deutschen Version nicht vorhanden ist. Dabei geht es um die Information, dass das Staatssekretariat für Migration SEM das Entlassungsge‐ such dem zuständigen Kanton weiterleitet. Im Beispiel [29] unten ist eine expressive Sprechhandlung auf Italienisch vorhanden, die im Deutschen fehlt: Siamo molto lieti di ricevere … (Es freut uns, … zu erhalten). Beim ersten Aufzählungspunkt der deutschen Version steht eine Präzisierung, die die italienische Fassung hingegen nicht enthält: Die Tatsache, dass die Anfragen, die nicht beantwortet werden, diejenigen sind, die die Behörden per Mail zugeschickt bekommen. Beim dritten Punkt findet sich ferner ein eher redundantes Inhaltselement, das im Italienischen ausgelassen wird (Sie finden jedoch Informationen und Links auf ch.ch): 273 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="274"?> BüG_12_de BüG_12_it [29] Wichtiger Hinweis zu Auskünften: [29] Vogliate notare che: • Siamo molto lieti di ricevere i vostri commenti e la vostra opinione in me‐ rito al nostro portale. • Individuelle Anfragen zu Zoll, Mi‐ gration, Arbeitsrecht und Strassenver‐ kehr, die uns per Mail zugestellt werden, können wir nicht beant‐ worten. Durch klicken [sic] auf die oben dargestellten Kacheln werden Sie an die zuständigen Stellen weiterge‐ leitet. • Non rispondiamo a nessuna domanda individuale inerente alle dogane, alla migrazione, al diritto del lavoro o alla circolazione. Queste domande devono essere rivolte direttamente all’ufficio competente, cliccando sui rettangoli colorati che trovate qui sopra. • Wir erteilen keine Auskünfte zu Fragen die auf ch.ch beantwortet werden. Anfragen zu Themen, die nicht auf ch.ch aufgeführt sind, aber durch die Behörden beantwortet werden können, leiten wir an die zu‐ ständigen Stellen weiter. • Non rispondiamo a nessuna domanda la cui risposta è già disponibile sul nostro sito. Il nostro aiuto è unica‐ mente a disposizione delle richieste non ancora trattate sul nostro sito e di competenza delle autorità svizzere. • Auf ch.ch werden keine Stellen ange‐ boten. Sie finden jedoch Informationen und Links auf ch.ch. Stellengesuche können daher nicht bearbeitet werden. • Il nostro sito non propone nessuna of‐ ferta di lavoro. Non possiamo dunque rispondere a domande individuali con‐ cernenti ricerche di lavoro. • Beachten Sie im Zusammenhang mit Ihren Anfragen unsere rechtlichen Hinweise. • La nostra clausola di non responsabi‐ lità si applica alle risposte che diamo a tutte le richieste individuali. Beide Versionen sind hier im Allgemeinen durch einen persönlichen Ton gekennzeichnet. Dies hängt damit zusammen, dass es im Text darum geht, die Hauptadressaten, die Bürger also, zu einer Rückmeldung aufzufordern. Dabei ist interessant, dass die deutsche Fassung in ein paar Fällen unpersönlicher ist als die italienische. Der kurze Text, der der Auflistung vorangestellt ist, besteht nämlich im Deutschen in einer Nominalphrase, die eine Bewertung enthält: Die Inhalte, die darauf folgen, werden als Wichtiger Hinweis bezeichnet. Im Ita‐ lienischen liegt stattdessen eine persönliche Form vor: Die Adressaten werden direkt angesprochen. Das erfolgt durch die Verwendung des Modalverbs volere (wollen), das im Imperativ der zweiten Person Plural konjugiert ist (Vogliate). Diese Form entspricht im Italienischen einer vorsichtig formulierten, indirekten und daher besonders höflichen Aufforderung. Der im Passiv formulierte Satz Auf ch.ch werden keine Stellen angeboten entspricht im Italienischen einem aktiven Satz, bei dem ein Possessivadjektiv (nostro) steht, wodurch sich die 274 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="275"?> Behörden auf sich selbst beziehen: Il nostro sito non propone nessuna offerta di lavoro. Auch die italienischen informativen SEM-Hypertexte werden wie die deut‐ schen mit wenig(er) Sorgfalt redigiert. Sie weisen wie die ch.ch-Seiten große sprachstilistische Variation auf, die zum Teil zu formal inkongruenten Texten führt oder mit kleinen sprachlichen Fehlern einhergeht. Das SEM-Modul, das die Überschrift Cittadinanza Svizzera / Naturalizzazione (BüG_19_it) trägt, beinhaltet zum Beispiel zwei grammatische Fehler. Der Text enthält wie der deutsche zwei lateinische Ausdrücke (ius sanguinis, ius soli), die zwei juristi‐ schen Fachbegriffen entsprechen (vgl. II.2.4.2). Wie im Deutschen werden die Fachausdrücke auf Latein durch alltagssprachliche Formulierungen erläutert, die im Italienischen durch den Konnektor ovvero eingeleitet werden. Die gram‐ matischen Fehler betreffen im Text BüG_19_it die Präpositionen, die den latei‐ nischen Wörtern vorangestellt sind. Den italienischen grammatischen Regeln entsprechend bildet die Kombination Präposition di + bestimmten Artikel il die komplexe Präposition (preposizione articolata) del. Diese stellt den Normalfall dar und ist auf Italienisch die gängiste Form. Es gibt auch Ausnahmefälle, die die komplexe Präposition dello verlangen. Darunter gehören die Substantive, die mit i + Vokal einsetzen. In diesem Kontext ist die Verwendung der Präposition del vor dem lateinischen Substantiv ius im SEM-Text grammatisch falsch: [30] Alcuni Stati applicano il cosiddetto "ius sanguinis", ovvero l’acquisto della cittadinanza per discendenza paterna o materna. Tra questi Stati, oltre alla Svizzera, figurano ad esempio la Germania e l’Austria. Altri Stati applicano invece lo "ius soli", ovvero l’acquisto della cittadinanza direttamente alla nascita nello Stato in questione. Tra questi figurano gli Stati d’immigrazione classici (USA, Sudamerica, Canada, Australia), ma non la Svizzera. Altri Stati ancora, come ad esempio la Francia e l’Italia, applicano un sistema misto comprendente alcuni elementi dello "ius sanguinis" e dello "ius soli". L’acquisto della cittadinanza in virtù del "ius sanguinis" o del "ius soli" non richiede procedura alcuna. L’acquisto della cittadinanza svizzera per discendenza è disciplinato a livello federale dalla legge federale su l’acquisto e la perdita della cittadinanza svizzera (legge sulla cittadinanza) (TI_14; Unterstreichungen A.A.). Bei den italienischen Texten ist es nicht unüblich, Formulierungen zu finden, die aus Interferenzen - im Sinne eines Einflusses - aus dem Deutschen (oder Französischen) hervorgehen und im Italienischen (Italiens) nicht (oder wenig) idiomatisch sind: [31] Da che quasi tutti gli Stati prevedono la parità donna-uomo per quel che concerne la trasmissione della cittadinanza ai figli, la stragrande maggioranza dei casi di doppia cittadinanza non sono più il risultato della naturalizzazione. I figli nati da matrimoni 275 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="276"?> 320 Vgl. http: / / www.treccani.it/ enciclopedia/ da-che_%28Enciclopedia-Dantesca%29/ ; 05.03.2020. 321 Vgl. http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ caso; 05.03.2020. binazionali acquistano il più delle volte almeno due cittadinanze. Tale situazione non ha sinora provocato problemi degni di nota. Di regola i giovani prestano servizio militare nello Stato in cui risiedono al momento del reclutamento. Coloro che hanno prestato servizio militare all’estero non sono convocati per il servizio militare in Svizzera. In Svizzera, la doppia cittadinanza è ammessa senza limitazioni dal 1° gennaio 1992. Pertanto lo straniero naturalizzato non deve più, com’era il caso in precedenza, rinunciare alla sua cittadinanza d’origine (è tuttavia possibile che il diritto dello Stato di provenienza preveda la perdita automatica della cittadinanza in caso di acquisto volontario della cittadinanza di un altro Stato). I cittadini svizzeri che acquistano all’estero un’altra cittadinanza non sono tenuti (com’era già il caso fino al 1992) a rinunciare alla cittadinanza svizzera (a meno che l’altro Stato esiga, quale condizione per l’acquisto della cittadinanza, la rinuncia alla cittadinanza precedente). Le autorità elvetiche non possono informare i candidati alla naturalizzazione circa la possibilità o meno di conservare la cittadinanza tenuta finora. Chi desidera avere delle informazioni vincolanti, può mettersi in contatto con le autorità competenti dei singoli Stati (in Svizzera con le rappresentanze diplomatiche o consolari competenti) (BüG_20_it; Unterstreichungen A.A.). Im Folgenden seien die in [31] unterstrichenen Ausdrücke kommentiert: Da che (seitdem) ist ein Konnektor mit temporaler Bedeutung. Er entspricht einer Variante, die diaphasisch markiert ist. Er ist nämlich typisch für die Sprache der Literatur und ist zum Beispiel in Dantes Divina Commedia belegt. 320 la stragrande maggioranza dei casi di doppia cittadinanza non sono ist grammatisch inkongruent: Das Subjekt ist im Singular, das Verb im Plural. Dabei dürfte der Einfluss der deutschen Fassung eine Rolle gespielt haben (vgl. Die weitaus meisten Doppelbürgerrechte entstehen). Die Konstruktion wird allerdings auch auf Italienisch in informelleren Kontexten akzeptiert, weil das Subjekt seman‐ tisch Plural ist (la maggioranza di …, d. h. die meisten … ist ein Partitiv). com’era il caso in precedenza; com’era già il caso fino al 1992 stehen deutlich unter dem Einfluss der Ausgangssprache(n) (wie es … der Fall war). Der Ausdruck essere il caso wird nämlich im Standarditalienischen (Italiens) überwiegend mit der Bedeutung essere opportuno (angebracht, günstig sein) verwendet. 321 Das Attribut vincolanti (verbindlich) in Verbindung mit dem Wort informazioni ist m. E. in diesem Kontext eher merkwürdig. Gemeint ist hier wahrscheinlich ‚zuverlässige Auskünfte‘; dies hätte man im Italienischen durch das Adjektiv 276 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="277"?> 322 Vgl. https: / / www.treccani.it/ vocabolario/ semaforo/ ; 05.03.2020. affidabili ausdrücken können. Zu betonen ist schließlich, dass alle Personen‐ bezeichnungen, die auf beide Geschlechter bezogen sind, in diesem Text im generischen Maskulinum stehen (ai figli; I figli nati; lo straniero naturalizzato; I cittadini svizzeri; i candidati). Im Beispiel [32] unten entspricht das grüne Licht einer Metapher, die in der Bedeutung ‚Erlaubnis‘ typisch für die Medienbzw. Politiksprache ist. Interessant ist dabei, dass die Metapher hier mit la luce verde wortwörtlich übersetzt wird. Idiomatischer ist (zumindest im Italienischen Italiens) aber der Ausdruck semaforo verde (auf Deutsch wortwörtlich: grüne Ampel). 322 Zu bemerken ist ferner, dass der Ausdruck rechtlich geschützter Anspruch durch diritto legale (auf Deutsch wortwörtlich: legales Recht) übersetzt wird. Dabei handelt es sich aber um einen Ausdruck, der auf Italienisch (Italiens) eher abstrakt und m. E. nicht völlig unmittelbar ist. Zu betonen ist schließlich die Präsenz einer Doppelform im Deutschen (eine Bewerberin oder ein Bewerber), die im Italienischen durch ein generisches Maskulinum wiedergegeben ist: BüG_27_de BüG_27_it [32] Das Einbürgerungsverfahren ist drei‐ stufig. Die eidgenössische Einbürgerungs‐ bewilligung stellt demnach nur das "grüne Licht" für den Erwerb des Schweizer Bür‐ gerrechts durch den Bund dar. Die Ge‐ meinden und Kantone kennen hingegen noch zusätzliche, eigene Wohnsitz- und Eignungsvoraussetzungen, die eine Be‐ werberin oder ein Bewerber erfüllen muss. Das Schweizer Bürgerrecht erwirbt erst, wer nach Erteilung der eidgenössischen Einbürgerungsbewilligung auch das Bür‐ gerrecht der Gemeinde und des Kantons erhalten hat. Ein rechtlich geschützter An‐ spruch auf die Einbürgerung in der Ge‐ meinde und im Kanton besteht im Regelfall nicht. [32] L’esame confederale di naturalizza‐ zione avviene a tre livelli. L’autorizza‐ zione federale di naturalizzazione è solo la "luce verde" della Confederazione all‐ ’acquisto della cittadinanza. I comuni e i cantoni possono prevedere dal canto loro condizioni proprie per quel che con‐ cerne la residenza e l’idoneità. La cittadi‐ nanza svizzera può essere concessa solo se il candidato ha ottenuto, oltre all’auto‐ rizzazione di naturalizzazione, anche la cittadinanza del comune e del cantone. Di regola non sussiste un diritto legale alla naturalizzazione nel comune o nel cantone. Nicht unüblich sind auch in den italienischen SEM-Texten Stilbrüche. Dabei geht man plötzlich über bzw. man wechselt von einem unpersönlichen zu einem persönlichen Ton oder umgekehrt: 277 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="278"?> 323 In informelleren Kontexten ist die Kleinschreibung allerdings akzeptiert. 324 Zum Verb „favorire“ vgl. http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ favorire/ ; 05.03.2020. BüG_22_de BüG_22_it [33] Ausstellung schweizerischer Aus‐ weispapiere Gegen den positiven Einbürgerungsent‐ scheid können die zuständigen kantonalen und kommunalen Behörden Beschwerde erheben. Geht keine Beschwerde ein, wird rund 2 Monate nach dem Einbürgerungs‐ entscheid schriftlich über den definitiven Charakter der erfolgten Einbürgerung in‐ formiert. Erst anschliessend können ein Schweizer Reisepass oder eine Identitätskarte bean‐ tragt werden. Für die Ausstellung der Do‐ kumente ist die Einwohnerkontrolle des Wohnortes zu kontaktieren. Die Ausstel‐ lung des Passes oder der Identitätskarte kann je nach Kanton und Gemeinde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, da vorerst noch die Einbürgerung in den Re‐ gistern der Heimatgemeinde eingetragen werden muss. [33] Il rilascio di documenti d’identità svizzeri La decisione positiva può ancora essere impugnata dalle autorità cantonali o co‐ munali interessate. Se nessun ricorso gi‐ ungerà alla competente autorità federale, entro due mesi sarà automaticamente re‐ capitata una pertinente comunicazione che informerà del carattere definitivo della decisione di naturalizzazione. Solo allora lei potrà farsi rilasciare un passaporto svizzero o una carta d’identità svizzera. A tal fine, favorisca rivolgersi al Controllo abitanti del suo luogo di domicilio. Il rilascio del passaporto o della carta d’identità può, a seconda dei cantoni e dei comuni, richiedere un certo tempo. La carta d’identità può, a seconda dei cantoni e dei comuni, richiedere un certo tempo. La naturalizzazione deve infatti essere trascritta nei registri del comune d’attinenza. Die direkte Ansprache (lei potrà farsi rilasciare) im zweiten Abschnitt der italie‐ nischen Version kommt eher unerwartet vor. Dabei ist auch zu bemerken, dass ein orthografischer Fehler hier steht: Das Pronomen lei hätte man großschreiben sollen, da es sich um eine Höflichkeitsformel handelt. 323 Die Konstruktion favorisca (Imperativ des Verbs favorire in der dritten Person Singular; Höflich‐ keitsform) + Verb im Infinitiv entspricht einer Formulierung, die stereotypisch mit dem mündlichen Sprachgebrauch der Behörden assoziiert ist und die nach meiner Erfahrung in den italienischen Verwaltungstexten (zumindest Italiens) nicht gängig ist. 324 Die Vermischung von Registern kennzeichnet im Italienischen auch das Frage-Antwort-Muster, das bei den Häufig gestellten Fragen zum Bürgerrecht (BüG_23) auf der SEM-Seite Anwendung findet. Während die deutsche Fassung überwiegend durch einen persönlichen Stil charakterisiert ist (vgl. II.2.4.2), dominiert bei den italienischen Fragen und Antworten ein eher unpersönlicher Ton. Dieser tritt allerdings in sehr wenigen Fällen zugunsten persönlicherer For‐ mulierungen zurück. Im Beispiel [34it] wird die Frage durch eine passive, unper‐ sönliche Konstruktion mit deontischer Bedeutung formuliert (va presentata). In 278 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="279"?> der Antwort stehen das Verb rivolgersi (sich wenden) und die damit verbundenen Pronomen in der ersten Person Singular. Hier erfolgt eine Perspektivenumstel‐ lung, indem die Perspektive des adressierten Bürgers eingenommen wird. In [35it] ist bemerkenswert, dass der Adressat durch ein Höflichkeitspronomen der zweiten Person Plural (vi) direkt angesprochen wird. Das Verb rivolgersi ist in diesem Fall im Infinitiv und kommt diesmal innerhalb einer unpersönlichen, illokutiven Konstruktion vor, die typisch für verwaltungssprachliche Kontexte ist (pregasi rivolgersi): BüG_23_de BüG_23_it [34] Wo muss ich das Einbürgerungsge‐ such einreichen? Das Gesuch um ordentliche Einbürgerung ist je nach kantonaler Regelung beim Kanton oder bei der Gemeinde einzurei‐ chen. Auskunft erhalte ich bei der Wohn‐ gemeinde oder beim kantonalen Bürger‐ rechtsdienst. [34] A chi va presentata una domanda di naturalizzazione? Le domande di naturalizzazione ordinaria devono essere presentate, secondo la legge cantonale, presso le autorità canto‐ nali o comunali. Per ulteriori informazioni mi rivolgo alle autorità comunali o canto‐ nali del mio luogo di domicilio. [35] Ich habe eine schweizerische Mutter oder einen schweizerischen Vater, bin je‐ doch trotzdem nicht Schweizer. Habe ich die Möglichkeit einer erleichterten Ein‐ bürgerung? Das Bürgerrechtsgesetz lässt in gewissen Fällen (Art. 31a, Art. 31b, Art. 58a und Art. 58c) eine erleichterte Einbürgerung zu. Nähere Auskünfte erteilt das Staats‐ sekretariat für Migration SEM, CH-3003 Bern-Wabern (E-Mail) resp. die zustän‐ dige Schweizer Vertretung bei Wohnsitz‐ nahme im Ausland. [35] Un cittadino straniero figlio di un genitore svizzero può presentare una do‐ manda di naturalizzazione agevolata? La legge sulla cittadinanza ammette in determinati casi la naturalizzazione age‐ volata (artt. 31a, 31b, 58a, 58c). La Seg‐ reteria di Stato della migrazione vi infor‐ merà in maniera più circostanziata su domanda concreta e scritta (E-Mail) In caso di residenza all’estero, pregasi ri‐ volgersi alla competente Rappresentanza svizzera Interessant ist hier der Vergleich mit dem Frage-Antwort-Muster, das auf das revidierte Bürgerrecht bezogen ist (vgl. Fragen zum neuen Recht; vgl. II.3). Dieses ist unter derselben Internetadresse zu finden, erscheint also auf derselben Internetseite wie das Hypertext-Modul BüG_23: 279 2.5 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="280"?> TR_28_de TR_28_it [36] Wann kann ich ein Gesuch um ordent‐ liche Einbürgerung stellen? Wenn ich 10 Jahre Wohnsitz in der Schweiz habe, wovon drei in den letzten fünf Jahren vor Einreichung des Gesuchs, und über eine Niederlassungsbewilligung (Bewilli‐ gung C) verfüge. Die Zeit zwischen dem vollendeten 8. und 18. Altersjahr wird dop‐ pelt gezählt. Bei Doppelzählung hat der tatsächliche Aufenthalt jedoch mindestens 6 Jahre zu betragen (Art. 9 BüG). Zudem muss ich folgende Voraussetzungen erfüllen: - Ich muss in der Schweiz erfolgreich inte‐ griert sein, das bedeutet insbesondere: - Ich kann mich im Alltag in Wort und Schrift in einer Landessprache ver‐ ständigen, das heisst meine Sprachkompe‐ tenzen sind mündlich mindestens auf dem Referenzniveau B1 und schriftlich A2; […] - Ich bin mit den schweizerischen Lebens‐ verhältnissen vertraut, das heisst insbeson‐ dere: […] Die Kantone können weitere Integrations‐ kriterien vorsehen. Für Fragen zu den Ein‐ bürgerungsvoraussetzungen im Verfahren der ordentlichen Einbürgerung wende ich mich an die zuständige kommunale oder kantonale Behörde an meinem Wohnort. [36] Quando posso presentare una do‐ manda di naturalizzazione? Se ho risieduto in Svizzera per almeno 10 anni, di cui tre negli ultimi cinque anni precedenti il deposito della domanda, e se sono titolare di un permesso di domi‐ cilio (permesso C). Gli anni trascorsi tra l’ottavo e il diciottesimo anno di età sono computati due volte. Nei casi in cui la durata del soggiorno viene computata due volte, il soggiorno effettivo deve am‐ montare ad almeno sei anni (art. 9 nLCit). Devo inoltre soddisfare le seguenti con‐ dizioni: - Devo dimostrare di essermi integrato con successo, ciò significa segnatamente che: - Sono in grado di comunicare nella vita quotidiana in una lingua nazionale, ovvero raggiungo almeno il livello di riferimento B1 per quanto riguarda le conoscenze orali e il livello A2 per quanto riguarda le conoscenze scritte; […] - Mi sono familiarizzato/ a con i modi di vita svizzeri, ciò presuppone segnata‐ mente che: […] Per ogni domanda relativa alle condi‐ zioni della naturalizzazione ordinaria mi rivolgo alle autorità comunali o cantonali del mio luogo di domicilio. [37] Wo erhalte ich das Gesuchsformular für eine erleichterte Einbürgerung? Bei Wohnsitz in der Schweiz bei den Ein‐ bürgerungsbehörden an meinem Wohnort oder beim Staatssekretariat für Migration. Bei Wohnsitz im Ausland erhalte ich ein Formular bei der zuständigen schweize‐ rischen Vertretung (Botschaft oder Kon‐ sulat). [37] Dove posso ottenere il modulo per la domanda di naturalizzazione agevolata? Se sono domiciliato/ a in Svizzera, presso le autorità competenti per le naturalizza‐ zioni del mio luogo di domicilio o presso la Segreteria di Stato della migrazione. Se sono domiciliato all’estero posso otte‐ nere il modulo presso la rappresentanza svizzera competente (ambasciata o con‐ solato). [38] Kann ich vor oder während des Ein‐ bürgerungsverfahrens ins Ausland ziehen? Ja. Der Schweizer Ehegatte resp. die Schweizer Ehegattin muss sich aber bei der Schweizer Vertretung vor Ort melden. In der Regel sind aber damit weitere Ab‐ klärungen verbunden, welche zu einer Ver‐ längerung des Einbürgerungsverfahrens führen können. [38] Posso trasferirmi all’estero prima o durante la procedura di naturalizza‐ zione? Sì. Il/ la coniuge svizzero/ a deve tuttavia annunciarsi presso la rappresentanza svizzera. Generalmente il cambio della residenza provoca un prolungamento della procedura in quanto sono necessari ulteriori accertamenti. 280 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="281"?> 325 Vgl. http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ coniuge/ ; 29.10.2019. In diesem Fall ist auch die italienische Version nach dem deutschen Modell durch einen persönlichen Ton gekennzeichnet: Die erste Person Singular wird systematisch verwendet. Auffällig ist hier aber die unsystematische Alternanz von abgekürzten Doppelformen und generischem Maskulinum beim Personen‐ bezug. Dies lässt sich besonders bei der Flexion des Partizips Perfekt von reflexiven Verben oder bei den Adjektiven in prädikativer Funktion bemerken. Im Beispiel [36] folgt etwa auf ein Partizip im generischen Maskulinum (integ‐ rato) ein Partizip, das durch eine Kurzform sowohl im Maskulinum als auch im Femininum flektiert ist (familiarizzato/ a). In [37] wird das Adjektiv domiciliato einmal in beiden Geschlechtern (domiciliato/ a), einmal im generischen Masku‐ linum dekliniert. In [38] wird coniuge als Wort épicène (d. h. als unmarkierter Name aus der Sicht des grammatischen Genus) mit dem maskulinen und dem femininen Artikel (Il/ la coniuge) benutzt, wenngleich es im Italienischen (Italiens) fast immer nur im Maskulinum gebraucht wird. 325 Schließlich ist zu betonen, dass das Prinzip der formalen, juristisch fest‐ gelegten Gleichstellung zwischen den Sprachen bei den Texten, die keine amtlichen Texte im engeren Sinne sind (vgl. I.3.4.2.1), nicht immer in die Praxis umgesetzt wird. Gelegentlich liegen keine italienischen Fassungen der Behördentexte vor. Dies trifft auf ein paar Texte im Subkorpus 1 zu. Ein Beispiel ist das Hypertext-Modul BüG_6_it, das vom Bundesamt für Statistik BFS stammt. Wenn man diese Seite besucht, begegnet man der folgenden Anmerkung: [39] Nota Le pagine in italiano offrono un contenuto ridotto. Per un’informazione più completa si prega di consultare le pagine in tedesco o francese (cfr. link qui sopra) (BüG_6_it). Die Adressaten werden hier gebeten, für vollständige Informationen die deut‐ sche oder die französische Fassung der Seite zu konsultieren. 2.6 Fazit Im Allgemeinen lassen sich im Subkorpus 1 zwei Grundkonstellationen ermit‐ teln, deren Unterscheidung auf einem funktionalen Kriterium beruht. Auf der einen Seite geht es um die Konstellation der Gruppe der normativ-performativen Texte, auf der anderen um die (prototypischen) Merkmalskorrelationen der Gruppe der informativen Texte. 281 2.6 Fazit <?page no="282"?> Die normativen Texte (Bundesgesetz, Bundesverfassung, Gebührenverord‐ nung) stammen überwiegend von föderalen Akteuren der Legislative oder von der Schweizer Regierung und adressieren die Schweizer Allgemeinheit. Sie sind Teil von amtlichen Rechtssammlungen und (auch) als E-Texte (PDF) zugänglich. Ihre Geltungsdauer ist insofern vorab festgelegt, als der Zeitpunkt, ab dem sie ihre Wirkungen entfalten, vorher bestimmt ist. Da sie sich direkt auf die Wirk‐ lichkeit auswirken und soziale Tatsachen schaffen, werden sie mit viel Sorgfalt und daher großem Aufwand und innerhalb langwieriger Verfahren hergestellt. Da Regelungsbedürfnisse ständig wiederkehren, haben sich für normative Texte sprachliche Konventionen herausgebildet. Die normativen Texte sind somit auf makro- und mikrostruktureller Ebene stark standardisiert und einheitlich formuliert. Verstöße gegen das Einheitlichkeitsgebot, die sich in sprachlichen Inkongruenzen in den Textprodukten niederschlagen, lassen sich vor allem dadurch erklären, dass normative Texte zwar - nach dem Inkrafttreten - im Prinzip zeitlos sind, dass sie sich aber im Laufe der Zeit partiellen Veränderungen unterziehen lassen, die im Rahmen offizieller Vorgänge vorgenommen werden. Zu verschiedenen Zeitpunkten gelten manchmal verschiedene Sprachnormen. Dies führt gelegentlich zu dem Nebeneinanderbestehen abweichender Formen innerhalb eines und desselben normativen Textes (vgl. etwa die Personenbe‐ zeichnungen im Bürgerrechtsgesetz von 1952). Die informativen Texte des Subkorpus 1 werden von Akteuren der Exekutive auf Bundesebene (besonders vom für das Schweizer Bürgerrecht zuständigen Staatsekratariat für Migration SEM) emittiert und wenden sich vor allem an die interessierte Öffentlichkeit oder an die betroffene Wohnbe‐ völkerung auf gesamtschweizerischem Niveau. Sie erscheinen besonders als Hypertext-Module, die strukturell zu einem gewissen Grad standardisiert sind und daher eine bestimmte visuelle Identität aufweisen. Die Hypertexte sind eher unstabil, da sie kontinuierlich formal und / oder inhaltlich verändert werden. Die ständigen Veränderungen verlangen keine offiziellen Verfahren und der Aufwand und die Sorgfalt, die in die Herstellung der Texte investiert wird, sind daher kleiner als im Fall normativer Texte. Zudem werden die Änderungen, die an den Texten vorgenommen werden, häufig nicht als solche gekennzeichnet. Die Geltungsdauer der informativen Texte und die inhaltlichen Veränderungen sind mit denen der normativen Texte verbunden, auf die sie sich beziehen. Die informativen Texte nehmen die Inhalte der normativen Bezugstexte wieder auf, wobei Einzelheiten oder Präzisierungen oft ausgelassen werden. Bei der Wiederaufnahme der gesetzlichen Wissensinhalte und ihrer Rekontextualisierung auf den Webseiten der Verwaltung wird in der Regel die Abstraktheit der normativen Bestimmungen beibehalten. D. h., es fehlen 282 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="283"?> 326 Zu den Interpretationsproblemen, die bei der Vermittlung juristischer Texte auftreten können, vgl. Bock (2018: 193). Die Autorin betont etwa, dass die Verwendung kon‐ kretisierender Beispiele die in den Gesetzen offenen Interpretationsspielräume in wissensvermittelnden Texten einschränken kann und zu einer Bedeutungsreduktion führt. konkretisierende Beispiele, die rechtliche Sachverhalte veranschaulichen. 326 Manchmal entspricht die erneute Materialisierung der Inhalte einer grafischmedialen Bearbeitung. Dabei ergibt sich die Präsentation bzw. die Vermittlung von Wissenselementen aus der Kombination verschiedener Zeichensysteme bzw. Medien (Schriftsprache, Farbe, Bild, Ton). Dies soll einserseits die mentale Verarbeitung der Wissenselemente durch den Rezipienten unterstützen, ande‐ rerseits u. a. für Auflockerung sorgen, indem die Texte ‚attraktiver‘ gestaltet werden. Sprachlich lehnen sich die informativen Texte an die Ausgangstexte an, wenngleich komplexere syntaktische Strukturen gelegentlich vereinfacht werden. Im Allgemeinen sind die informativen Texte durch einen amtlichen, die typischen Besonderheiten der Gesetzessprache wiederaufnehmenden Stil charakterisiert, der den Texten einen seriösen Anstrich verleiht und somit Glaubwürdikeit schafft. Gelegentlich weisen die Texte Vermischungen von Registern auf. Diese bestehen in der Alternanz von formell-unpersönlichen Formulierungen und von informell-persönlicheren. Letztere kommen vor allem an den Stellen vor, wo für die Wohnbevölkerung handlungsrelevante, praktische Informationen mitgeteilt werden. Wie der Einsatz unterschiedlicher Medien deutet auch der informelle Stil auf den behördenseitigen Versuch hin, mit der Bevölkerung in einen Dialog zu treten und Bürgernähe zu signalisieren. In diesem Kontext gilt für die informativen Texte des Subkorpus 1 allgemein das, was schon andernorts (vgl. Alghisi 2018) in Bezug auf die Seiten des Portals ch.ch festgestellt wurde: Dieser Befund [d. h. die Tatsache, dass die Inhaltsvermittlung sprachlich durch die schlichte, partielle oder vollständige, Übernahme der Gesetzesartikel erfolgt] erinnert an die Feststellung, dass Vermittlungstexte vorwiegend ‚Aushängeschildfunktion‘ haben können, zu der Bock (vgl. 2015: 122) anlässlich der Untersuchung von Texten in ‚Leichter Sprache‘ gekommen ist. Dabei geht es in erster Linie darum zu demons‐ trieren, dass das behördliche Handeln vom Prinzip der Bürgerfreundlichkeit geleitet ist bzw. die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung beachtet werden. Der Funktion, emotionale Hürden gegenüber den staatlichen Institutionen abzubauen, kommt daher die größte Bedeutung zu (vgl. Engberg 2017). Die Frage, ob komplexe Sachverhalte dabei wirklich hilfreich vermittelt werden, scheint hingegen in den Hintergrund zu treten (Alghisi 2018: 218). 283 2.6 Fazit <?page no="284"?> Die föderalen Texte in italienischer Sprache sind Übersetzungen der deutschen Versionen. Auf der Makroebene sind sie mit den deutschen Texten identisch. In mikrostruktureller Hinsicht lassen sich hingegen Unterschiede zwischen den zwei Sprachen beobachten. Die inhaltlich-formal streng kontrollierten normativen Texte auf Italienisch folgen Sprachnormen, die manchmal von den deutschen Normen abweichen bzw. den deutschen entgegenstehen (z. B. die Verwendung von bzw. die Einstellung zum generisch gebrauchten Masku‐ linum bei der geschlechtergerechten Sprache). Dabei widerspiegeln die Texte in den zwei Versionen die verschiedenen Sensibilitäten und diskursiven Posi‐ tionen, die jeweils für die Sprache Deutsch bzw. Italienisch typisch sind. Die weniger sorgfältig redigierten, unstabilen, informativen Hypertexte in italieni‐ scher Sprache weisen wie die deutschen Texte Stilvermischungen auf. Diese bestehen in der Alternanz zwischen verschiedenen Registern (persönlich-infor‐ meller / unpersönlich-amtlich), die gelegentlich unmotiviert zu sein scheint. Manchmal enthalten die italienischen Versionen kleine sprachliche Fehler bzw. für das Italienische (Italiens) wenig idiomatische Formulierungen, die oft aus Interferenzen (Einflüssen) aus dem Deutschen (bzw. aus dem Französischen) resultieren. Dabei wäre zu untersuchen, inwiefern sich solche Formulierungen in der italienischen Sprache der Schweiz eingebürgert haben bzw. ob sie sich als Helvetismen einstufen lassen. 284 2 Analyse des Subkorpus 1: Bürgerrechtsgesetz von 1952 (Bund) <?page no="285"?> 327 Die Liste der Texte, aus denen sich das Subkorpus 2 zusammensetzt, findet sich unter II.3.2. 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 3.1 Struktur des Subkorpus 2 Beim Subkorpus 2 handelt es sich um die Texte, die im Rahmen der Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes produziert wurden. Im Mittelpunkt dieses Teilkorpus steht das revidierte und noch nicht in Kraft getretene Gesetz zum Schweizer Bür‐ gerrecht. Davon liegen verschiedene Entwürfe (vgl. etwa TR_8_de, TR_9_de, TR_10_de) vor, die die Struktur der Vernetzungen des Subkorpus prägen. 327 Die Entwürfe entsprechen unterschiedlichen Versionen des neuen Gesetzes und widerspiegeln die Überarbeitungsstadien, die das Gesetz durchlaufen hat. Dabei tritt die Perspektive in den Vordergrund, wonach der Normtext das Produkt tatsächlicher oder potentieller Transformationen ist (vgl. II.1.2.3). Der Akzent liegt hier somit auf der Katalysatorfunktion von Normtexten, die der „Schauplatz des politischen Kampfes“ sind (Nussbaumer 2007a: 21): Die politische Auseinandersetzung ist auf den entstehenden Normtext fokussiert, dieser hat eine Katalysatorfunktion, er ist der Gegenstand, an dem gesellschaftliche Auseinandersetzungen stattfinden und an dem um gesellschaftlichen Konsens ge‐ rungen wird (Nussbaumer 2007a: 21). Die Texte vom Subkorpus 2 sind also in den Kommunikationsbereich Politik eingebunden bzw. sie befinden sich hauptsächlich an der Schnittstelle zwischen den Bereichen Rechtswesen und Politik. Wie schon angeführt, wurde der Erwerb der Schweizer Staatsbürgerschaft zum ersten Mal durch das Gesetz von 1952 systematisch rechtlich verankert (vgl. II.1.2.3 und II.2). Seither hat das Bürgerrecht im Laufe der Jahre Anlass zu hitzigen Debatten gegeben und bleibt heute auf politischer Ebene immer noch ein höchst umstrittenes Thema. In den 1990er und 2000er Jahren stand besonders die Frage betreffend die Erleichterung des Bürgerrechtserwerbs für ausländische Jugendliche der zweiten und der dritten Generation in der Diskussion. Die Debatten wurden vor allem infolge von parlamentarischen <?page no="286"?> 328 Parlamentarische Vorstösse und parlamentarische Initiativen sind politische Handlungs‐ instrumente, die typisch für das politische System der Schweiz sind. Vorstoss ist ein Oberbegriff für diejenigen Instrumente, „mit denen Ratsmitglieder [d. h. Parla‐ mentsmitglieder], Fraktionen und Kommissionen Anstösse für Massnahmen oder für neue Rechtsbestimmungen geben sowie Auskünfte oder Berichte verlangen können“. Deren Adressat ist in der Regel der Bundesrat. Man kann verschiedene Vorstossarten unterscheiden: die Motion, das Postulat, die Interpellation, die Anfrage und die Frage in der Fragestunde. Eine parlamentarische Initiative ist ein Instrument, wodurch „ein Ratsmitglied, eine Fraktion oder eine Kommission den Entwurf zu einem Erlass oder die Grundzüge eines solchen Erlasses vorschlagen. Die Leitung der Gesetzgebungsarbeiten erfolgt durch eine Kommission des National- oder Ständerates“ (zu den Begriffen vgl. https: / / www.parlament.ch/ de/ %C3%BCber-das-parlament/ parlamentsw%C3%B6rt erbuch; 02.01.2019; Hervorhebungen im Original gelöscht). Vorstössen und Initiativen 328 ausgelöst, die in unregelmäßigen Abständen das Thema Bürgerrecht ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt haben. Ein wichtiges Ereignis war in diesem Kontext die Volksabstimmung (vgl. I.3.4.1) vom 26.09.2004, bei der dem Volk u. a. zwei mit dem Erwerb des Schweizer Bürgerrechts verbundene Verfassungsänderungen vorgelegt wurden. Die eine schlug die erleichterte Einbürgerung junger Ausländer der zweiten Generation vor, die andere sah den Bürgerrechtserwerb von Gesetzes wegen von Ausländern der dritten Generation vor. Die beiden Vorschläge zur Änderung der Bundesver‐ fassung wurden abgelehnt, die Abstimmung war aber nicht ohne Konsequenzen. Als Folge der Resonanz und Umstrittenheit des Themas betraute der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement mit der Aufgabe, bis Ende 2005 einen Bericht über hängige Fragen des Bürgerrechts (vgl. TR_1_de und die entsprechende Zusammenfassung: TR_3_de) zu redigieren. Die Schweizer Regierung zielte dabei darauf ab, sich einen Überblick über den Stand der Dinge zum Bürgerrecht zu verschaffen. Aus dem Bericht gingen eine Reihe kontroverser Aspekte hervor. Ein Aspekt betraf die schon erwähnte Frage der Einführung von Erleichterungen für die Einbürgerung der ausländischen Jugendlichen der zweiten und der dritten Generation. Bei einem anderen ging es um die Notwendigkeit von administrativen Vereinfachungen bei den Einbürgerungsverfahren, die besonders bei der ordentlichen Einbürgerung die Zuständigkeiten zwischen den föderalen Einheiten klarer festlegen und den Prozess funktionaler gestalten würden. Ein weiteres Problem war mit der Feststellung verbunden, dass die Wohnsitzfristen - d. h. die Zeit, die man in einem Kanton oder in einer Gemeinde verbracht haben muss, um eingebür‐ gert zu werden - landesweit unterschiedlich waren. Hinzu kam, dass oft der Umzug der einbürgerungswilligen Person von einem Kanton in einen anderen ein Einbürgerungshindernis darstellte, weil die Änderung des Wohnorts zu Verlängerungen beim Erwerb der Staatsbürgerschaft führte. Die Zeit, die man 286 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="287"?> 329 Gegen diese Praxis hatte sich das Bundesgericht 2003 in zwei Urteilen ausgesprochen. Die Bundesgerichtsentscheide führten zu regen Diskussionen. Dagegen reichten einige Parlamentsmitglieder parlamentarische Initiativen ein. Ende 2005 wurde beschlossen, dass Urnengänge nur dann organisiert werden dürfen, „wenn vorgängig ein begrün‐ deter Ablehnungsantrag vorliegt“ (TR_3_de: 6), also nur wenn ein Einbürgerungsge‐ such vorher abgelehnt worden ist. im älteren Kanton verbracht hatte, wurde nämlich häufig bei der Zählung der Wohnsitzfristen nicht angerechnet. Andere Problemfälle betrafen einerseits die in einigen Gemeinden gängige Praxis der Einrichtung von Urnenabstimmungen zur Regelung der Einbürgerungsfälle - d. h. um zu entscheiden, ob eine Person eingebürgert werden durfte oder nicht - 329 und andererseits die Existenz eines Beschwerderechtes gegen eine behördliche Entscheidung nur im Fall einer er‐ leichterten Einbürgerung. Problematisch war ferner die in der Schweiz seit den 1990er Jahren zugelassene Doppelstaatsbürgerschaft, die von einigen Parteien aus politisch-ideologischen Gründen - besonders bei der Entstehung von Dop‐ pelbürgerrechten infolge von Einbürgerungen - bekämpft wurde. Ein letzter kontroverser Aspekt hing mit der Bekämpfung von Missbräuchen zusammen, die beim Einbürgerungsverfahren wegen der Mitteilung von falschen Angaben oder der Verheimlichung erheblicher Tatsachen erfolgten. Das war die Ausgangslage, als der Bundesrat beschloss, das Bürgerrechtsge‐ setz von 1952 vollständig zu revidieren. Dabei beauftragte er ein Departement der Bundesverwaltung - das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement -, einen ersten Gesetzesentwurf zu erarbeiten. Den Auftrag übernahm das Bundesamt für Migration BFM - 2015 in Staatssekretariat für Migration SEM umbenannt (vgl. II.2.3.1) -, das 2009 einen Vorentwurf zum Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) (TR_10_de) redigierte. Gleichzeitig wurde ein Erläuternder Bericht zur Totalrevision des Bundesge‐ setzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) (TR_16_de) ver‐ fasst. Der Bericht gibt einen Überblick über den Vorentwurf, seine Grundzüge und Ziele und enthält Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen. Danach sollte mit dem revidierten Gesetz darauf abgezielt werden, eine nahezu völlige Kohärenz zwischen dem Bürgerrecht einerseits und dem Ausländerrecht - besonders dem 2005 verabschiedeten Ausländergesetz (AuG) - andererseits herzustellen, bei Einbürgerungsverfahren die Entscheidgrundlagen zu verbes‐ sern, die kantonalen und kommunalen Wohnsitzfristen zu harmonisieren, und den administrativen Gesamtaufwand durch Harmonisierung der Abläufe und Klärung der Rollen von Kanton und Bund im Einbürgerungsverfahren zu redu‐ zieren. Grob zusammengefasst lagen der Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes die folgenden Ziele zugrunde: Präzisierung des Integrationsbegriffs bzw. 287 3.1 Struktur des Subkorpus 2 <?page no="288"?> Anpassung des Bürgerrechts an das Ausländerrecht besonders in Bezug auf die Anforderungen an den Integrationsgrad; Klärung der Kompetenzen des Bundes, der Kantone und der Gemeinden beim Einbürgerungsverfahren; Abbau der administrativen Hürden bzw. Reduktion der Kosten, die in Verbindung mit Einbürgerungen für die Verwaltung anfielen. Der Vorentwurf und der Erläuternde Bericht stellen die zentralen Dokumente der Vernehmlassung zur Totalrevision des BüG von 1952 dar (vgl. I.3.4.1), die der Bundesrat 2009 eröffnete. Dazu gehören auch ein mit auszufüllenden Lücken versehener Fra‐ genkatalog (TR_17_de), womit die Vernehmlassungsadressaten Stellung zu den Bestimmungen des Vorentwurfs nehmen konnten, und ein Schreiben (TR_12_de, TR_13_de), worin die Teilnehmer an der Vernehmlassung direkt angesprochen wurden. Zum Vernehmlassungsverfahren wurde natürlich auch behördenseitige Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit geleistet und in‐ formatives Material für die Medien und allgemein für die Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Dabei geht es etwa um eine Medienmitteilung zur Eröff‐ nung des Vernehmlassungsverfahrens (TR_33_de), um einen als Presserohstoff bezeichneten E-Text (TR_19_de), um einen mit Fragen und Antworten zur Revision des Bürgerrechtsgesetzes betitelten E-Text (TR_18_de) und um ein Hypertext-Modul, dessen Überschrift Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) - Worum geht es? lautet (TR_29_de). Die Vernehmlassungsteilnehmer teilten ihre Stellungnahmen zur Totalrevision mit, indem sie die Fragenkataloge ausfüllten. Die ergänzten Texte, die „Prozipiententexten“ (Adamzik 2016c: 149) entsprechen, gaben die verschie‐ denen Perspektiven auf die Totalrevision wieder und wurden den Bundesbe‐ hörden zurückgeschickt. Die Bundesbehörden nahmen die erhaltenen Stellung‐ nahmen zur Kenntnis, die in dem Vernehmlassungsbericht (TR_2_de) von 2011 ausgewertet wurden. Die stellungnehmenden Akteure drückten Skepsis aus besonders gegenüber der im Vorentwurf vorgesehenen Einführung eines Ausländerausweises - und zwar der im Ausländerrecht geregelten Niederlas‐ sungsbewilligung - als Einbürgerungsvoraussetzung, sowie gegenüber der Herabsetzung der verlangten Aufenthaltsdauer von 12 auf 8 Jahre. Kritisiert wurden auch die finanziellen Auswirkungen des neuen Gesetzes auf die Kantone und Gemeinden sowie ein zu starker Eingriff in die kantonale Autonomie. Die zentralen Texte, die im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens produziert wurden, lassen sich wie folgt visualisieren (Abb. II.3.1): 288 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="289"?> Abb. II.3.1: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes: Texte des Vernehmlassungsverfah‐ rens Infolge der Vernehmlassungsergebnisse wurde der Gesetzesentwurf überar‐ beitet. Die neue Version (TR_9_de) wurde 2011 vom Bundesrat verabschiedet und den eidgenössischen Räten (dem Parlament) zur Diskussion vorgelegt. Begleitet wurde sie durch eine Botschaft (TR_4_de), einen Bericht, in dem die Schweizer Regierung den Gesetzesentwurf begründet und die gesetzlichen Bestimmungen kommentiert bzw. erläutert. Darin wurden die mit der Gesetzesrevision ange‐ strebten Ziele noch einmal betont bzw. die Vorschläge des Bundesrates zum Thema Bürgerrecht angesprochen. Es ging dabei u. a. um die landesweite Ver‐ einheitlichung der Einbürgerungsverfahren, um die Einführung von Fristen für die Durchführung der Erhebungen über die Einbürgerungswilligen und für die Erstellung der entsprechenden Berichte, um die Berechnung und Harmoni‐ sierung der kantonalen und kommunalen Aufenthaltsdauer, um die Einführung von Privilegierungen für Kinder und Jugendliche und um den Beitritt der Schweiz zu zwei Konventionen des Europarates. Auch in diesem Fall wurden Medien und Öffentlichkeit über die Verabschiedung der Botschaft mittels einer Medienmitteilung (TR_32_de) und einer Medienkonferenz (TR_20_de) informiert. Mit der Verabschiedung der Botschaft setzte die parlamentarische Phase ein. Der Gesetzesentwurf stand im Mittelpunkt der Beratungen in den Eidge‐ nössischen Räten (vgl. TR_22_de bis TR_25_de). Dabei kamen verschiedene Standpunkte zum Ausdruck. Auf der einen Seite warfen die im Parlament ver‐ tretenen konservativen Parteien dem Bundesrat vor, mit der Gesetzesrevision zu viele Erleichterungen für Einbürgerungswillige eingeführt zu haben. In ihrer 289 3.1 Struktur des Subkorpus 2 <?page no="290"?> 330 Vorläufig Aufgenommene sind „Personen, die aus der Schweiz weggewiesen wurden, wobei sich aber der Vollzug der Wegweisung als unzulässig (Verstoss gegen Völ‐ kerrecht), unzumutbar (konkrete Gefährdung des Ausländers) oder unmöglich (voll‐ zugstechnische Gründe) erwiesen hat. Die vorläufige Aufnahme stellt demnach eine Ersatzmassnahme dar“ (vgl. https: / / www.sem.admin.ch/ sem/ de/ home/ themen/ aufenth alt/ nicht_eu_efta/ ausweis_f__vorlaeufig.html; 08.01.2019). 331 Vgl. den Eintrag Einigungskonferenz im Parlamentswörterbuch (www.parlament.ch; 08.01.2019; Hervorhebungen im Original gelöscht): „Wenn nach drei Detailberatungen eines Erlassentwurfes in jedem Rat zwischen den Räten noch Differenzen bestehen, Perspektive war der Gesetzesentwurf nicht streng genug. Demgegenüber stand auf der anderen Seite der Gesichtspunkt der linksorientierten Parteien, nach denen die Revision des Gesetzes zu strikt war und zu starre Einbürgerungsvo‐ raussetzungen vorsah. Für die einen ging es beim Erlassentwurf des Bundesrates um eine ‚Verweichlichungsvorlage‘, für die anderen gerade um das Gegenteil, nämlich um eine ‚Verschärfungsvorlage‘. Zu den umstrittensten Punkten, die lange im Zentrum der Debatten standen, gehörten die Voraussetzungen für das Schweizer Bürgerrecht allgemein, insbesondere die Mindestaufenthaltsdauer auf Bundesebene; die Doppelzählung der Jahre, die Jugendliche in der Schweiz verbracht hatten; die Anrechnung der Jahre, während derer vorläufig aufgenom‐ mene Personen 330 in der Schweiz gelebt hatten; die Mindestaufenthaltsdauer in der Gemeinde und im Kanton; die verlangten Sprachkenntnisse. Die Parlamentsarbeiten begannen 2013. Bevor das Geschäft im Nationalrat behandelt wurde, wurde es in der im Parlament für den Sachbereich Bürgerrecht zuständigen Staatspolitischen Kommission vorberaten. Danach fanden die Ple‐ numsdebatten im Erstrat statt. In der Eintretensdebatte (TR_22a+b_de), der Debatte, in der entschieden wird, ob man sich mit einem Geschäft befassen will oder nicht, beschloss die Mehrheit des Nationalrats, auf die Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes näher einzugehen. Auf den Eintretensbeschluss folgte die Detailberatung (TR_22a+b_de), in der der Gesetzesentwurf Artikel für Artikel behandelt wurde. Nachdem der Nationalrat alle Artikel mit oder ohne Änderungen angenommen hatte, stimmte er in der Gesamtabstimmung (TR_22b_de) dem Entwurf als Ganzem zu. Der Gesetzesentwurf gelangte dann an den Ständerat, wo er dieselben Beratungsphasen wie im Nationalrat (Vorbe‐ ratung in der Kommission, Eintreten, Detailberatung, Gesamtabstimmung; vgl. TR_25a_de, TR_25b_de und TR_25c_de) durchlief. Da der Entwurf, über den der Ständerat am Ende abstimmte, von dem des Nationalrats abwich, wurde er dem Nationalrat wieder zur Beratung vorgelegt. Zur Bereinigung der Differenzen zwischen den Räten ging das Geschäft von 2013 bis Mitte 2014 von einer Kammer in die andere. Da sich National- und Ständerat nach drei Runden noch nicht einig waren, fand eine Einigungskonferenz statt. 331 Deren Anträge hieß die 290 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="291"?> entsenden die mit dem Geschäft betrauten Kommissionen beider Räte je 13 Mitglieder in die Einigungskonferenz. Diese stellt beiden Räten einen Einigungsantrag, der alle verbleibenden Differenzen gesamthaft bereinigt. Lehnt einer der Räte den Einigungs‐ antrag ab, gilt die ganze Vorlage als nicht zustandegekommen und wird von der Liste der Geschäfte gestrichen“. 332 Die mehrfachen Pfeile stehen für die verschiedenen Versionen des Gesetzesentwurfes. Jede Version wurde jeweils in den zwei Räten und in den zwei parlamentarischen Kommissionen beraten. Mehrheit der Abgeordneten in den zwei Kammern gut. Am 20.06.2014 wurde das revidierte Gesetz (TR_8_de) in den Schlussabstimmungen von beiden Räten verbschiedet (Abb. II.3.2): 332 Abb. II.3.2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes: Parlamentsarbeiten Die Arbeitsschritte, die zum revidierten Gesetz geführt haben, lassen sich grob in drei Phasen zusammenfassen: eine Initiierungsphase, in der das Konzept des neuen Gesetzes entwickelt wird; eine parlamentarische Phase, in der der Gesetzesentwurf diskutiert wird; eine Abstimmungsphase, infolge derer das neue Gesetz verabschiedet und danach in Kraft gesetzt wird. Die Totalrevision des Bürgerrechtgesetzes durchlief ein bestimmtes Prozedere, bei dem die Texte, die diesem Prozedere zugehörten, und die Reihenfolge, nach der sie emittiert wurden, durch das Verfahren selber bedingt waren. Dieses ist in Metatexten festgeschrieben. Für die Entstehung neuer Gesetze bzw. für die Schweizer Rechtsetzung sind die Gesetzgebungsleitfäden des Bundesamtes für Justiz (BJ: 2007 und 2014) ausschlaggebend (vgl. II.2.4.1.1). Diese stützen sich primär auf 291 3.1 Struktur des Subkorpus 2 <?page no="292"?> das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz von 1997 einerseits und auf das Parlamentsgesetz von 2002 andererseits, die die institutionellen Abläufe der Exekutive und der Legislative auf Bundesebene abstrakt regeln. Die Texte, die im Rahmen des Revisionsverfahrens unter Anlehnung an die Metatexte produziert wurden, bilden Textsortenketten (Abb. II.3.3): Abb. II.3.3: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes: Textsortenkette Nachdem das revidierte Gesetz verabschiedet worden war, erschien es im Bun‐ desblatt (vgl. TR_8_de). Mit der Veröffentlichung im Bundesblatt (01.07.2014) begann die Referendumsfrist. Diese lief am 09.10.2014 unbenützt ab. Im Jahr 2015 erarbeitete das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement den Aus‐ führungserlass zum neuen Bürgerrechtsgesetz, der das Gesetz konkretisieren sollte. Dabei handelt es sich um die Verordnung über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsverordnung, BüV), deren Vorentwurf (TR_11_de) der Bundesrat zusammen mit einem Erläuternden Bericht (TR_15_de) im August 2015 in die Vernehmlassung schickte. Darüber wurde die Öffentlichkeit mittels einer Medienmitteilung (TR_30_de) und eines Hypertext-Moduls (TR_27_de) informiert. Einen Überblick über die Stellungnahmen der Vernehmlassungsteil‐ nehmer gab der Vernehmlassungsbericht (TR_26_de), den das Staatssekreta‐ riat für Migration SEM 2016 erstellte. Den Vorschlägen der Vernehmlassung entsprechend wurde der Verordnungsentwurf geändert. Die vorgenommenen Änderungen legte ein erläuternder Bericht (TR_14_de) 2016 dar. Im Sommer 2016 verabschiedete der Bundesrat die Bürgerrechtsverordnung und er beschloss, beide Erlasse - das Gesetz und die entsprechende Verordnung (TR_7_de und TR_5_de) - auf den 1. Januar 2018 in Kraft zu setzen. Darüber wurde mittels einer Medienmitteilung (TR_31_de) Bericht erstattet. Ein Hypertext- Modul, das den Titel Fragen zum neuen Recht (TR_28_de) trägt, informierte die Öffentlichkeit über die wichtigsten Änderungen, die durch die Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes eingeführt wurden. Mit der Festlegung des Inkraft‐ setzungsdatums wurden die Erlasstexte in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts veröffentlicht (I.3.4): 292 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="293"?> 333 Z.B. die Arbeiten der parlamentarischen Kommissionen, die vertraulich sind. Die Texte, die nicht zugänglich sind, gehören in der Perspektive der Diskurslinguistik zum „virtuellen Textkorpus“ (vgl. II.1.1). 334 TR_7_de und TR_8_de unterscheiden sich voneinander in Bezug auf den Publikati‐ onsort und somit den damit verbundenen rechtlichen Status. TR_8_de erschien im Bundesblatt und entsprach der Version, zu der die Möglichkeit bestand, ein Referendum zu ergreifen. TR_7_de ist die endgültige Fassung, die in der Amtlichen Sammlung veröffentlicht wurde. Abb. II.3.4: Bürgerrechtsverordnung: Textsortenkette 3.2 Textsorten und Subthemen im Subkorpus 2 Das Subkorpus 2 setzt sich aus 36 Korpustexten zusammen. Wie oben ausge‐ führt, stehen die meisten Texte in syntagmatischer Relation zueinander und sind Teil von reglementierten Ketten. Bei den Korpustexten handelt es sich um die Produkte, die im Mittelpunkt des Gesetzesrevisionsverfahrens standen und die entsprechend dem Öffentlichkeitsprinzip und der Rechenschaftspflicht einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden. Natürlich stellen solche Texte nur die Spitze des Eisbergs dar. Das Revisionsverfahren hat auch die Produktion einer Menge anderer Vorarbeiten und Materialien eingeschlossen, die nicht zur Verfügung gestellt wurden oder die nur Eingeweihte einsehen dürfen. 333 Von den Dateien, aus denen sich das Subkorpus zusammensetzt, entsprechen 21 Dokumente E-Texten, während 15 Hypertext-Module sind. Fast alle E-Texte weisen im Titel einen Ausdruck auf, der die Textart bezeichnet, der der jeweilige Text zugehört. Nur in 8 Fällen haben wir es mit Bezeichnungen zu tun, die auf Textsorten im engeren Sinne (also stark standardisierte Texte) verweisen. Dabei handelt es sich um die Ausdrücke Botschaft (TR_4_de), Bundesgesetz (TR_6_de bis TR_10_de) und Verordnung (TR_5_de, TR_11_de). 4 der 5 Dokumente, die als „Bundesgesetz“ eingestuft sind, entsprechen verschiedenen Versionen desselben Textes, nämlich des Erlasstextes über das Schweizer Bürgerrecht (vgl. TR_7_de, TR_8_de, TR_9_de, TR_10_de). 334 In zwei Fällen kommen neben der Bezeichnung Bundesgesetz jeweils die Ausdrücke Entwurf (TR_9_de) und Vorentwurf (TR_10_de) vor. Beide Wörter weisen darauf hin, dass es sich beim betreffenden Text um einen veränderbaren handelt, und sie betonen somit seinen intertextuellen Charakter bzw. den großen Herstellungsaufwand, 293 3.2 Textsorten und Subthemen im Subkorpus 2 <?page no="294"?> 335 Der erläuternde Bericht „gibt einen Überblick über die Vorlage und legt ihre Grundzüge und ihre Ziele dar und erläutert bei Erlassentwürfen die einzelnen Bestimmungen“. Vgl. https: / / www.termdat.bk.admin.ch/ Entry/ EntryDetail/ 56987? strLanguages=2-6-7- 8-3&isPartialView=0; 14.01.2019. der mit seiner Produktion verbunden ist. In 7 Fällen erscheint in der Textü‐ berschrift die Bezeichnung Bericht. Dieser eher abstrakte Ausdruck, der vom Kommunikationsverb berichten (‚darstellen, mitteilen‘) abgeleitet wird, wird durch weitere Elemente spezifiziert. Es handelt sich um - oft durch die Prä‐ positionen über oder zu eingeleitete - Präpositionalattribute, die das Thema des jeweiligen Textes ankündigen. In 3 Dokumenten (TR_14_de, TR_15_de, TR_16_de) ist Bericht nicht nur thematisch, sondern auch funktional bestimmt. Dem Wort ist nämlich das Partizip Präsens des sprechhandlungsbezeichnenden Verbs erläutern (‚erklären, verdeutlichen‘) vorangestellt (erläuternd), das als Adjektivattribut fungiert. Die zwei Wörter bilden zusammen eine feste Wort‐ kombination, die zur Bezeichnung bestimmter Berichtsarten Anwendung findet und daher auch in TERMDAT verzeichnet ist. Danach ist ein erläuternder Bericht ein „Bericht, der einen Vorentwurf oder ein anderes zur Vernehmlassung unterbreitetes Vorhaben erläutert“. 335 In einem Text (TR_2_de) tritt Bericht als Teil eines Determinativkompositums auf. Dabei handelt es sich um die Bezeichnung Vernehmlassungsbericht, in der das Determinans Vernehmlassung über die Situation Aufschluss gibt, auf die sich der Bericht bezieht. Dieses Kompositum erscheint nur einmal im Subkorpus 2. Darauf wird in einem anderen Exemplar derselben Textsorte (TR_26_de) verzichtet. Letzteres weist im Titel die Kombination Bericht über … auf, wobei das Wort Bericht also als Simplex auftritt. In einem anderen Fall geht es schließlich um die Zusammenfassung eines anderen, umfangreicheren Berichts (TR_3_de). Das wird durch die im Titel vorkommende Bezeichnung Zusammenfassung des Berichts über … explizit zum Ausdruck gebracht, die auf die intertextuelle Beziehung zwischen dem betreffenden Text und dem entsprechenden Bezugsbericht abhebt. Zwei E- Texte entsprechen Rundbriefen (TR_12_de, TR_13_de). Diese sind als solche nur durch ihre Textstruktur erkennbar, es fehlt nämlich eine entsprechende Bezeichnung, die die Textart beschreibt. Ein weiterer E-Text besteht in einem Formular, das eine Auflistung der als Fragen formulierten Punkte darstellt, zu denen die Vernehmlassungsteilnehmer Stellung nehmen sollten (TR_17_de). In der Textüberschrift erscheint der Ausdruck Fragenkatalog, der auf die Funktion des betreffenden Textes hinweist (der Text dient dem Vorlegen einiger Fragen und vom Rezipienten wird erwartet, dass er diese Fragen beantwortet). Durch ein Frage-Antwort-Muster ist auch der E-Text TR_18_de gekennzeichnet, in dem potentielle rezipientenseitige Fragen antizipiert und beantwortet werden. 294 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="295"?> 336 Die Bezeichnung Votum kommt nur in der Hypertext-Version (und nicht in der Druckversion) des Amtlichen Bulletins vor. Sie findet sich auf der Schaltfläche „Votum drucken“, die es ermöglicht, die Druckfassung eines Redebeitrags zu bekommen. Die Textbezeichnung dient hier somit dazu, die Interaktion Benutzer-Maschine zu erleichtern (vgl. https: / / www.parlament.ch/ de/ ratsbetrieb/ amtliches-bulletin/ amtliche s-bulletin-die-verhandlungen? SubjectId=24686; 16.01.2019). 337 Vgl. https: / / www.termdat.bk.admin.ch/ Entry/ EntryDetail/ 109175? strLanguages=2-6-7 -8-3&isPartialView=0; 16.01.2019. Die Plenumsreden der Parlamentsmitglieder werden durch die Redaktion des Amtlichen Bulletins unmittelbar und fortlaufend in der Origi‐ nalsprache niedergelegt. Nach ungefähr einer Stunde steht der Text der Debattenrede auch im Netz zur Verfügung. Weitere Informationen dazu abrufbar unter: https: / / w ww.parlament.ch/ de/ ratsbetrieb/ amtliches-bulletin/ amtliches-bulletin-erkl%C3%A4rt; 16.01.2019. Hier enthält der Titel die Kommunikationsverben Fragen und Antworten, auf die die Angabe des Textthemas „zur …“ folgt. Eine Textbezeichnung, die auffällt, ist Presserohstoff, die sich im E-Text TR_19_de befindet. Das Kompositum verweist auf die Rezipienten, an die sich der Text richtet, und ist somit situativ bestimmt. Dadurch wird vermittelt, dass die Textinhalte (der „Rohstoff “) in erster Linie für die Medien (bzw. für die „Presse“) gedacht sind. Der E-Text TR_21_de weist schließlich im Titel die von sprechhandlungsbezeichnenden Verben abgeleiteten Substantive Vorschläge und Empfehlungen auf, die die Inhalte des entsprechenden Textes funktional charakterisieren. Textbezeichnungen, die situativ oder funktional bestimmt sind, finden sich auch in den Hypertext-Modulen. Ein Beispiel dafür ist die Bezeichnung Medi‐ enmitteilung, die in 4 Texten (TR_30_de bis TR_33_de) im oberen Teil erscheint. Auch in diesem Fall wird auf die primären Rezipienten der Texte hingewiesen. Dadurch wird betont, dass sich die Texte, auf die sich der Ausdruck bezieht, hauptsächlich an die Medien richten. Dasselbe trifft auch auf den Korpustext TR_20_de zu, der der Rede - also einem mündlich vorgetragenen Text - einer Medienkonferenz - d. h. eine Konferenz für die Medien - entspricht. Mündlich realisiert sind auch die Voten, aus denen sich die Korpustexte TR_22a_de und TR_22b_de sowie TR_25a/ b/ c_de zusammensetzen. Dabei handelt es sich um die Diskussionsbeiträge der Ratsmitglieder im Parlament, die im Amtlichen Bulletin schriftlich fixiert sind. 336 Dies ist eine „Publikation der Bundesver‐ sammlung, die die Verhandlungen und Beschlüsse von National- und Ständerat sowie der Vereinigten Bundesversammlung als Wortprotokoll vollständig wie‐ dergibt“. 337 Einen Überblick über die Textsorten, die hier (bei der Beschreibung des Subkorpus 2) angeführt worden sind und die den Texten entsprechen, die besonders in der parlamentarischen Phase des Gesetzgebungsverfahrens rele‐ vant sind, bietet das Hypertext-Modul TR_23_de, das der Website des Schweizer Parlaments zugehört (www.parlament.ch). Dort kommen Text(sorten)bezeich‐ 295 3.2 Textsorten und Subthemen im Subkorpus 2 <?page no="296"?> nungen vor, die mehr oder weniger abstrakt sind und sich auf Texte beziehen, die verschiedener Natur bzw. mehr oder weniger standardisiert sind: Bürgerrechts‐ gesetz, Beratungen, Botschaft, Bericht des Bundesrates, Anträge, Fahnen, Entwurf, Bundesgesetz, Beschluss, Diskussion, Artikel, Schlussabstimmungstext, Amtliche Sammlung, Parlamentarische Initiative, Detailinformationen, Zusammenfassung Botschaft / Bericht, Verhandlungen, weiterführende Unterlagen, Medienmitteilung, Amtliches Bulletin. Die meisten Bezeichnungen verlinken direkt mit den ent‐ sprechenden Texten. Allen Korpustexten gemeinsam ist, dass sie sich intertextuell auf zumindest einen anderen Text - gewöhnlich das revidierte Bürgerrechtsgesetz - beziehen und dass solche intertextuellen Bezüge häufig schon in den Textüberschriften zum Ausdruck kommen. An diesen sind natürlich auch die Themen ablesbar, die in den Texten jeweils im Fokus stehen. Eine Übersicht der Textthemen der Korpustexte geht aus der folgenden Auflistung der Texttitel hervor (Tab. II.3.1): Abkürzung Textüberschrift TR_1_de Bericht des Bundesamtes für Migration über hängige Fragen des Bürgerrechts TR_2_de Auswertung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens zur To‐ talrevision des Bürgerrechtsgesetzes - Vernehmlassungsbericht TR_3_de Zusammenfassung des Berichts des Bundesamtes für Migration über hängige Fragen des Bürgerrechts TR_4_de Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) TR_5_de Verordnung über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsverord‐ nung, BüV) TR_6_de Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) - (Fristausdehnung für die Nichtigerklä‐ rung) - Änderung vom 25. September 2009 TR_7_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) TR_8_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) TR_9_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) - Entwurf TR_10_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) - Vorentwurf 296 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="297"?> TR_11_de Verordnung über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsverord‐ nung, BüV) TR_12_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetz - Eröffnung des Vernehmlas‐ sungsverfahrens TR_13_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetz - Eröffnung des Vernehmlas‐ sungsverfahrens TR_14_de Erläuternder Bericht - Entwurf zur Verordnung zum Bürgerrechtsge‐ setz TR_15_de Erläuternder Bericht - Vernehmlassungsentwurf zur Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz TR_16_de Erläuternder Bericht zur Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) TR_17_de Revision Bürgerrechtsgesetz (BüG) - Vernehmlassungsverfahren - Fragenkatalog TR_18_de Fragen und Antworten zur Revision des Bürgerrechtsgesetzes TR_19_de Presserohstoff - Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens zur To‐ talrevision des Bürgerrechtsgesetzes TR_20_de Verabschiedung der Botschaft zur Totalrevision des Bürgerrechtsge‐ setzes. Medienkonferenz vom 4. März 2011 TR_21_de Einbürgerung - Vorschläge und Empfehlungen für ein zeitgemässes Bürgerrecht TR_22a_de 11.022 Bürgerrechtgesetz. Totalrevision - Erstrat TR_22b_de 11.022 Bürgerrechtgesetz. Totalrevision - Erstrat - Fortsetzung TR_23_de 11.022 Geschäft des Bundesrates - Bürgerrechtgesetz. Totalrevision TR_24_de Zusammenfassung Botschaft / Bericht TR_25a_de 11.022 Bürgerrechtgesetz. Totalrevision - Zweitrat TR_25b_de 11.022 Bürgerrechtgesetz. Totalrevision - Zweitrat - Fortsetzung TR_25c_de 11.022 Bürgerrechtgesetz. Totalrevision - Zweitrat - Fortsetzung_2 TR_26_de Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens - Aus‐ führungserlass zum revidierten Bürgerrechtsgesetz TR_27_de Verordnung über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsverord‐ nung, BüV) - Worum geht es? TR_28_de Fragen zum neuen Recht (Gesuchseinreichung ab 1.1.2018) TR_29_de Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetzes, BüG) - Worum geht es? 297 3.2 Textsorten und Subthemen im Subkorpus 2 <?page no="298"?> TR_30_de Verordnung zum neuen Bürgerrechtsgesetz geht in die Vernehmlas‐ sung TR_31_de Neues Bürgerrechtsgesetz tritt am 1. Januar 2018 in Kraft TR_32_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes: Botschaft verabschiedet TR_33_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes: Vernehmlassung eröffnet Tab. II.3.1: Korpustexte des Subkorpus 2: Deutsch 3.3 Hauptfunktion der Korpustexte Bei der Beschreibung der Hauptfunktion der Korpustexte im Subkorpus 2 wird hier die kategoriale Grobunterscheidung zwischen normativ-performativen und informativen Texten wieder aufgenommen (vgl. II.1.3). Die performative Funktion, die mit der Durchführung rechtlich verbindlicher Sprachhandlungen verbunden ist, lässt sich nur 7 Texten zuschreiben. Dabei handelt es sich aller‐ dings um keine performative Funktion im engeren Sinne. Die Normtexte, die das Subkorpus 2 ausmachen, sind nämlich zur Zeit ihrer Veröffentlichung (noch) nicht rechtsgültig und entfalten daher zum Zeitpunkt ihrer Erschließung keine Rechtswirkung. Ferner sind davon nur 4 (TR_5_de bis TR_8_de) normative Texte stricto sensu, d.h. Texte, die von einer gesetzgeberischen Instanz verabschiedet worden sind. Bei den anderen geht es - wie oben angeführt - um Versionen des im Entstehen begriffenen Gesetzes. Die verschiedenen Fassungen haben nach der Verabschiedung des Gesetzes nur einen dokumentarischen Wert bzw. eine Belegfunktion, während sie vorher als Arbeitsgrundlage dienten. Die anderen Texte im Subkorpus 2 haben - grob vereinfacht - überwiegend eine informative Funktion und geben Einblicke in die Beschaffenheit bzw. in einige Aspekte eines bestimmten Sachverhalts (in diesem Fall: des Schweizer Bürgerrechts). Dabei lässt sich unterscheiden zwischen Texten mit rein infor‐ mativen Zwecken und informativen Texten, die Folgen für die Gesetzgebung mit sich bringen bzw. in denen die Sprechhandlung des Informierens mit dem Vorlegen eines Gesetzesentwurfes und dem Auffordern zu dessen Annahme zusammenhängt. Zu den rein informationsorientierten Texten gehören etwa diejenigen, die allgemein über die Tätigkeiten der Behörden Auskunft geben. Dazu zählen z. B. die Medienmitteilungen (TR_30_de bis TR_33_de), der Presserohstoff zur Ver‐ nehmlassung über die Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes (TR_19_de), die Fragen und Antworten zur Gesetzesrevision (TR_18_de), die Medienkonferenz 298 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="299"?> des Bundesrats (TR_20_de) oder die Zusammenfassung der Verhandlungen im Parlament (TR_24_de). Eine informative Funktion haben auch die Rundbriefe (TR_12_de, TR_13_de), die allerdings in erster Linie der Erstellung des Kontakts zwischen den Interaktionsteilnehmern dienen. Primär interaktionsbezogen ist der Fragenkatalog (TR_17_de), zu dessen Bearbeitung eben auch die Textre‐ zipienten beitragen. Auch informativ, aber mit einer eher praktischen Ausrich‐ tung ist das Hypertext-Modul Fragen zum neuen Recht (TR_28_de). In diesem Fall stehen die Wissensinhalte im Vordergrund, die konkreten Handlungsan‐ weisungen für die einbürgerungswillige Person entsprechen und für sie somit besonders von Interesse sind bzw. einen praktischen Nutzen haben. Hier kann man mit Engberg (2017) von einer verhaltensbeeinflussenden Vermittlung von Informationen sprechen (vgl. I.1.2.1.3). Dabei geht es also um praxisorientierte Information, die „die Dienstleistungen betrifft, von denen die Bürger Gebrauch machen, wenn sie Rechte geltend machen möchten oder staatlich auferlegten Pflichten nachkommen müssen“ (Alghisi 2018: 192). Auch informativ und verhaltensbeeinflussend, aber in anderem Sinne sind die Korpustexte, die der Kategorie Bericht zugeordnet sind. Solche Texte sind insofern informativ, als sie auf die systematische Vermittlung von bestimmten Wissensinhalten orientiert sind. Sie sind aber auch verhaltens‐ beeinflussend bzw. ‚meinungsbeeinflussend‘, weil der Textproduzent damit den Adressaten auffordert, die eigene Sicht zu teilen bzw. den eigenen Vor‐ schlägen und Lösungen in Bezug auf eine gewisse Problemlage zuzustimmen. Der Textemittent zielt darauf ab, den Rezipienten von der Wirksamkeit bzw. Güte oder Tragweite des eigenen Unternehmens zu überzeugen. Insofern sind diese Texte legitimitätsfördernd und persuasiv. Dies trifft besonders auf die Textsorte Botschaft zu, die einen Untertyp von Bericht darstellt (vgl. II.3.1). Botschaften spielen eine wichtige Rolle im Gesetzgebungsverfahren und entsprechen stark standardisierten Texten, für deren Abfassung ein zwingend zu beachtender Leitfaden vorliegt (vgl. I.3.4.2.2). Auch dort wird in der Einleitung auf die informative und zugleich überzeugende Funktion der Botschaften hingewiesen: Mit der Botschaft soll der Bundesrat: • das Parlament darüber informieren, was er vorschlägt, welche politischen Ziele er damit verfolgt und welche Probleme gelöst werden sollen; • seinen Antrag begründen und das Parlament überzeugen, warum diese Lösung anderen Lösungen vorzuziehen ist (Botschaftsleitfaden 2012: 7; Sperrungen im Original gelöscht; Unterstreichungen A.A.). 299 3.3 Hauptfunktion der Korpustexte <?page no="300"?> Der persuasive Charakter, der die Botschaft und die anderen Berichte im Subkorpus 2 kennzeichnet, versetzt sie in die Nähe des Pols Politik. Dem Kommunikationsbereich Politik nah sind auch die Debattenreden, die Voten, die im Parlament gehalten werden (TR_22_de, TR_25_de). Auch in diesem Fall handelt es sich um argumentative Texte, wodurch der Emittent die Adressaten für den eigenen Standpunkt zu gewinnen versucht. Bei einer Parlamentsrede treten die Ratsmitglieder in ihrer Rolle als Politiker auf. Wie schon angedeutet, spielen bei der Beschreibung der Hauptfunktion eines Textes und bei der Bestimmung des Kommunikationsbereichs, dem ein Text am nächsten steht, die Fragen danach, wer einen Text verfasst hat und an wen er sich wendet, eine wichtige Rolle. Mit diesen Fragen beschäftige ich mich in den nächsten zwei Abschnitten, die den situativen Kategorien Textproduzent und -rezipient gewidmet sind. 3.4 Situativer Kontext 3.4.1 Produzent In den hier als performativ eingestuften Korpustexten wird der Träger der illokutionären Rolle in den Texten selbst erwähnt. Dabei handelt es sich in den als „Gesetz(-Entwurf)“ bezeichneten Texten (TR_6_de bis TR_10_de) um die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die Texte gehören also der Legislative bzw. dem Rechtswesen an. In den offiziell verabschiedeten Texten erscheinen die Namen der Vertreter der Parlaments‐ kammer. In den Gesetzesversionen, für die das Datum der Inkraftsetzung feststeht (TR_6_de und TR_7_de), werden auch die Vertreter des Bundesrates (Bundespräsident, Bundeskanzler) erwähnt. Es ist nämlich der Bundesrat, der bestimmt, ab wann ein Erlass rechtsgültig ist. Auch der Legislative zugehörend sind die im Amtlichen Bulletin veröffentlichten Debattenreden, die aus dem Parlament stammen (TR_22a/ b_de, TR_25a/ b/ c_de). Auch in diesem Fall wird selbstverständlich jeweils der Name der Person erwähnt, die ein Votum abgegeben hat. An der Grenze zwischen Legislative und Exekutive steht die Textsorte Verordnung (TR_5_de, TR_11_de). Auch in diesem Kontext sind die Namen der Bundesratsvertreter im Text anzutreffen. Offiziell vom Bundesrat emittiert ist ferner die Botschaft; wie bei den Erlassen sind hier Träger der lokutionären Rolle die Ämter des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements. 300 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="301"?> Die anderen Korpustexte lassen sich mit Blick auf deren Textemittenten meist der Exekutive zuordnen. In zwei Fällen erscheint der offizielle Text‐ produzent, der einem Amt der Bundesverwaltung entspricht, schon in der Textüberschrift: Bericht des Bundesamtes für Migration über hängige Fragen des Bürgerrechts (TR_1_de) und Zusammenfassung des Berichts des Bundes‐ amtes für Migration über hängige Fragen des Bürgerrechts (TR_3_de). In 8 Korpustexten findet sich der Hinweis auf die Instanz, die offiziell für den Text zeichnet, auf dem Titelblatt, gewöhnlich im oberen Teil. Dabei handelt es sich entweder um das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (TR_12_de bis TR_17_de) oder um eine seiner Einheiten, etwa das Bundesamt für Migration (TR_2_de) bzw. das Staatssekretariat für Migration (TR_26_de) oder den Infor‐ mationsdienst des Generalsekretariats (TR_18_de, TR_19_de). Die Rundbriefe (TR_12_de, TR_13_de) sind unterzeichnet und weisen am Ende den Namen der Bundesrätin auf, die als Departementsvorsteherin amtiert. In weiteren 8 Korpustexten (TR_20_de und TR_27_de bis TR_33_de) ist der Textemittent an der Einbettung des jeweiligen Textes in eine Webseite erkennbar. Es handelt sich hier entweder um den Webauftritt des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements oder des Staatssekretariats für Migration. Dabei ist die Einbettung in eine Webseite manchmal mit einer expliziten Angabe im Text gekoppelt. Dies ist etwa der Fall bei den Medienmitteilungen, z. B. bei der Medienmitteilung TR_30_de, die auf der Webseite des SEM erscheint. Am Anfang findet sich dort ein Hinweis darauf, dass es sich um eine Mitteilung des Bundesrats handelt (Medienmitteilungen, Der Bundesrat, 19.08.2015). Am Ende des Textes wird explizit angegeben, dass man das Staatssekretariat für Migration kontaktieren kann, falls man etwa Rückfragen hat. Unten steht dann, dass die „Federführung“ beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement liegt. Im Verweis auf verschiedene Instanzen schlägt sich die Verschränkung der Kompetenzen und Tätigkeiten nieder, die die Arbeit der Behörden charakterisiert (vgl. I.1.1). 3.4.2 Rezipient Viele Korpustexte sind behördenintern, sie stammen von den Behörden und adressieren primär die Behörden. Zu den Texten, die genuin für die interne Kommunikation gedacht sind, gehören die Berichte. Die Berichte wenden sich gewöhnlich an Instanzen, die prototypisch demselben Kommunikations‐ bereich - der Verwaltung - zugehören wie die textemittierende Instanz. Die Textrezipienten entsprechen allerdings oft einem anderen Instanzentyp. Der Bericht TR_1_de wird z. B. von einem Amt der Bundesverwaltung emittiert 301 3.4 Situativer Kontext <?page no="302"?> 338 Plenumsreden dienen nämlich oft „nicht der Beeinflussung der parlamentarischen Entscheidung, sondern der Legitimierung der eigenen und der Delegitimierung der gegnerischen Position vor der Öffentlichkeit, im Falle wichtiger Beschlüsse auch vor der Geschichte“ (Klein 2012: 815). Sie sind also eigentlich in erster Linie für die Öffentlichkeit gedacht. und spricht den Bundesrat an. Dieser hat das Departement, dem das betref‐ fende Bundesamt angehört, beauftragt, den Bericht zu verfassen und stellt daher den Hauptadressaten des Textes dar. Die Botschaft (TR_4_de) entspricht dem Beispiel für eine Konstellation, in der zwei Instanzen verschiedenen Typs und Bereichs miteinander interagieren. Hier ist Textemittent der Bundesrat, also eine Instanz der Exekutive, der die zwei Parlamentskammern (die Legis‐ lative) anspricht. In den erläuternden Berichten (TR_15_de, TR_16_de) erfolgt die Kommunikation zwischen Instanzen verschiedener politischer Ebenen. In diesem Fall wendet sich eine Instanz der Exekutive auf Bundesebene an die Kantonsregierungen, also an die kantonalen Organe der Exekutive. Gleichzeitig richten sich die Berichte und die damit verbundenen Rundbriefe (TR_12_de, TR_13_de) sowie der Fragenkatalog (TR_17_de) auch an die politischen Parteien, die Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete, die Dachverbände der Wirtschaft und die interessierten Kreise. Wir haben es hier folglich zu tun mit einem Beispiel für eine Kommunikationsform, die sowohl behördenintern als auch -extern ist. Beide Makrogruppen intern / extern spre‐ chen auch die normativ-performativen Texte an, die formell verabschiedet worden sind (TR_5_de bis TR_8_de). Die Erlassentwürfe gelten hingegen in erster Linie als behördenintern, weil sie als Texte wirken, die von den Behörden noch zu bearbeiten sind, wenngleich auch behördenexterne In‐ stanzen (etwa eben die interessierten Kreise) dazu Stellung nehmen. Auch die Plenumsreden (TR_22_de, TR_25_de) der Ratsmitglieder stellen einen Grenz‐ fall zwischen behördeninterner und -externer Kommunikation dar. Primär wenden sie sich an die anderen Abgeordneten, die im Parlament sitzen. Da die Parlamentssitzungen öffentlich sind und aufgezeichnet werden, adressieren die Redner gleichzeitig auch die interessierte Öffentlichkeit. 338 Angesprochen wird letztere aber insbesondere in den informativen Texten, die sich explizit (etwa in der Textbezeichnung) an die Medien richten (TR_19_de, TR_20_de; TR_30_de bis TR_33_de). Diese sind Beispiele für genuin behördenexterne Kommunikation. Das Subkorpus 2 enthält überdies Textexemplare, in denen es vor allem die Wohnbevölkerung ist, die fokussiert wird. Das ist etwa der Fall im Hypertext-Modul Fragen zum neuen Recht (TR_28_de): Dort werden durch ein Frage-Antwort-Muster die für Einbürgerungswillige besonders relevanten Informationen in den Vordergrund gerückt. 302 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="303"?> 339 Vgl. https: / / par-pcache.simplex.tv/ subject? themeColor=AA9E72&subjectID=24686&la nguage=de; 20.02.2019. 340 Vgl. https: / / www.youtube.com/ channel/ UCh4VTxoTL79TpMBg3yBqSPQ; 20.02.2019. 3.4.3 Medialität: Materialität und Zeichenart Was die Materialität der Texte im Subkorpus 2 angeht, lässt sich beobachten, dass sowohl die Berichte als auch die Gesetzesentwürfe im PDF-Format zur Ver‐ fügung stehen. Für die offiziell verabschiedeten Erlasse liegen normalerweise eine PDFsowie eine Hypertext-Version vor. Die parlamentarischen Beratungen und die Medienmitteilungen erscheinen als Hypertext-Module. Fast alle Korpustexte sind monocodal: Sie setzen sich grundsätzlich nur aus schriftsprachlichen Zeichen zusammen. Ausnahmen bilden dabei die Debatten‐ reden, d. h. Wortprotokolle mündlich realisierter Texte. Diesen ist jeweils ein Lichtbild des Parlamentsmitglieds beigefügt, das das Votum ausgesprochen hat. Die Wortprotokolle begleitet die Aufzeichnung der mündlichen Versionen, die von der Webseite des Schweizer Parlaments als Video abrufbar ist. 339 Auch der Text der Medienkonferenz ist insofern eine Ausnahme, als er (den Medien) schon schriftlich vorliegt, bevor er mündlich realisiert wird. Ein Hinweis darauf findet sich im Redetext selber, wenn es heißt: „Es gilt das gesprochene Wort“ (vgl. TR_20_de). Medienkonferenzen lassen sich live auf der Startseite des Bundesrates verfolgen. Sie werden dann auf dem Youtube-Kanal der schweizerischen Regierung archiviert. 340 3.4.4 Geltungsdauer, Herstellungsaufwand, Publikationsort Was in Bezug auf das BüG von 1952 (BüG_2_de; vgl. II.2.3.4) festgestellt wurde, gilt selbstverständlich auch für das neue Bürgerrechtsgesetz und die darauf bezogene Verordnung: Es geht dabei um Texte, für die im Voraus festgelegt wird, ab wann sie gültig sind, wobei man zwischen einem Erscheinungs- und einem Inkrafttretensdatum unterscheidet und denen verschiedene Versionen vorausgehen, die auf den großen Herstellungsaufwand hindeuten, der mit der Textproduktion verbunden ist. Sowohl die Erlassentwürfe als auch die verabschiedeten Erlasse erscheinen in den Rechtssammlungen des Bundes. Während es bei den Entwürfen und den Versionen, für die die Referendumsfrist noch nicht abgelaufen ist, um das Bundesblatt geht, handelt es sich bei den Endfassungen um die Amtliche Sammlung des Bundesrechts. Ein expliziter Hinweis auf den Publikationsort steht gewöhnlich in den Texten selbst, am 303 3.4 Situativer Kontext <?page no="304"?> 341 Seitdem die elektronische Fassung der Erlasstexte maßgebend ist (vgl. I.3.4.2.1), liegt in der Druckversion der Texte, die auf der Amtlichen Sammlung erscheinen, ein QR-Code vor. Dieser führt direkt an die PDF-Version des jeweiligen Textes heran. Kopf oder am Fuß der Textseite. 341 Das Erscheinungsdatum kommt in den Berichten immer vor. Auch diese werden mit ziemlich großer Sorgfalt verfasst. Großen Herstellungsaufwand verlangen insbesondere die Botschaften, die wie die damit zusammenhängenden Erlassentwürfe im Bundesblatt erscheinen und für die - wie schon angeführt - ziemlich strenge, in einem Botschaftsleitfaden festgeschriebene Redaktionsnormen gelten. Mit großer Sorgfalt werden auch die Voten bearbeitet, die als Hypertexte im Amtlichen Bulletin erscheinen. Normalerweise durchläuft jeder Redetext verschiedene Überarbeitungen, bis man dann zu einer letzten Fassung kommt, die nur innerhalb einer bestimmten Frist noch veränderbar ist. Die Voten entsprechen dabei einer Ausnahme: Wie schon betont (vgl. II.2.3.4), ist in der Regel der Herstellungsaufwand bei den Hypertext-Modulen gering und diese werden mit weniger Sorgfalt bearbeitet als die amtlichen Texten im engeren Sinn (normativ-performative Texte, die gewöhnlich als E-Texte / PDF-Dateien materialisiert werden). Eine Ausnahme bildet auch der im HTML-Format materialisierte Redetext der Medienkonferenz. Da man dabei der Öffentlichkeit wichtige politische Entscheidungen vorstellt, geht man mit der Sprache vorsichtig um und die Wörter werden sorgfältig gewählt. Eine Zusammenfassung der textexternen Merkmale im Subkorpus 2 bietet die folgende Tabelle (Tab. II.3.2): 304 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="305"?> Abkürzung Textüberschrift DE Textüberschrift IT Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand TR_1_de Bericht des Bundesamtes für Migration über hängige Fragen des Bürgerrechts Rapporto dell’Ufficio federale della migrazione sulle questioni aperte nel settore della cittadinanza informativ nicht bindend BFM Bundesrat monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_2_de Auswertung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens zur Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes - Vernehmlassungsbericht Valutazione dei risultati della procedura di consultazione relativa alla revisione totale della legge sulla cittadinanza - Riassunto del rapporto di valutazione informativ nicht bindend BFM behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_3_de Zusammenfassung des Berichts des Bundesamtes für Migration über hängige Fragen des Bürgerrechts Riassunto del Rapporto dell’Ufficio federale della migrazione sulle questioni aperte nel settore della cittadinanza informativ nicht bindend BFM Bundesrat monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_4_de Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz , BüG) Messaggio concernente la revisione totale della legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza , LCit) informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend Bundesrat Bundesversammlung monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_5_de Verordnung über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsverordnung, BüV) Ordinanza sulla cittadinanza svizzera (Ordinanza sulla cittadinanza, Ocit) normativ bindend Bundesrat behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß TR_6_de Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) - (Fristausdehnung für die Nichtigerklärung) - Änderung vom 25. September 2009 Legge federale sull’acquisto e la perdita della cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) - (Prolungamento del termine di annullamento) - Modifica del 25 settembre 2009 normativ bindend Bundesversammlung behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß TR_7_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) normativ bindend Bundesversammlung behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß 305 3.4 Situativer Kontext <?page no="306"?> Abkürzung Textüberschrift DE Textüberschrift IT Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand TR_8_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) normativ bindend Bundesversammlung behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß TR_9_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) - Entwurf Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) - Disegno normativ nicht bindend Bundesversammlung Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_10_de Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) - Vorentwurf Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) - Avamprogetto normativ nicht bindend Bundesversammlung Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_11_de Verordnung über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsverordnung, BüV) Ordinanza sulla cittadinanza svizzera (Ordinanza sulla cittadinanza, OCit) normativ bindend Bundesrat Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_12_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes - Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens Revisione totale della legge sulla cittadinanza - Avvio della procedura di consultazione interaktionsbezogen nicht bindend EJPD Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_13_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes - Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens Revisione totale della legge sulla cittadinanza - Avvio della procedura di consultazione interaktionsbezogen nicht bindend EJPD Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_14_de Erläuternder Bericht - Entwurf zur Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz Rapporto esplicativo - Disegno di ordinanza sulla cittadinanza svizzera informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend EJPD Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_15_de Erläuternder Bericht - Vernehmlassungsentwurf zur Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz Rapporto esplicativo - Avamprogetto di ordinanza sulla cittadinanza svizzera informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend EJPD Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_16_de Erläuternder Bericht zur Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz , BüG) Rapporto esplicativo concernente la revisione totale della Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend EJPD Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_17_de Revision Bürgerrechtsgesetz (BüG) - Vernehmlassungsverfahren - Fragenkatalog Revisione della legge sulla cittadinanza (LCit) - Procedura di consultazione - Questionario interaktionsbezogen nicht bindend EJPD Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_18_de Fragen und Antworten zur Revision des Bürgerrechtsgesetzes Domande e risposte relative alla revisione della legge sulla cittadinanza informativ informationsorientiert nicht bindend GS-EJPD Kantonsregierungen + interessierte Kreise monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß 306 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="307"?> Abkürzung Textüberschrift DE Textüberschrift IT Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand TR_19_de Presserohstoff - Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens zur Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes Documentazione per la stampa - Apertura della procedura di consultazione concernente la revisione totale della legge sulla cittadinanza informativ informationsorientiert nicht bindend GS-EJPD Medien monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_20_de Verabschiedung der Botschaft zur Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes - Medienkonferenz vom 4. März 2011 Adottato il messaggio per la revisione totale della legge sulla cittadinanza - Conferenza stampa del 4 marzo 2011 informativ informationsorientiert nicht bindend SEM Medien schriftsprachlich mündlich realisiert Hypertext behördliche Website nicht festgelegt groß TR_21_de Einbürgerung - Vorschläge und Empfehlungen für ein zeitgemässes Bürgerrecht Naturalizzazione - Proposte e raccomandazioni per una normativa in materia di naturalizzazioni al passo con i tempi informativ nicht bindend EKM behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich behördliche Website nicht festgelegt groß TR_22a_de 11.022 Bürgerrechtgesetz . Totalrevision - Erstrat Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend Abgeordnete Abgeordnete + interessierte Öffentlichkeit schriftsprachlich mündlich realisiert Hypertext behördliche Website nicht festgelegt groß TR_22b_de 11.022 Bürgerrechtgesetz . Totalrevision - Erstrat - Fortsetzung Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend Abgeordnete Abgeordnete + interessierte Öffentlichkeit schriftsprachlich mündlich realisiert Hypertext behördliche Website nicht festgelegt groß TR_23_de 11.022 Geschäft des Bundesrates - Bürgerrechtgesetz . Totalrevision 11.022 Oggetto del Consiglio Federale - Legge sulla cittadinanza. Revisione totale informativ nicht bindend Schweizer Parlament interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_24_de Zusammenfassung Botschaft / Bericht Auf Italienisch nicht verfügbar informativ informationsorientiert nicht bindend Schweizer Parlament interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_25a_de 11.022 Bürgerrechtgesetz . Totalrevision - Zweitrat Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend Abgeordnete Abgeordnete + interessierte Öffentlichkeit schriftsprachlich mündlich realisiert Hypertext behördliche Website nicht festgelegt groß TR_25b_de 11.022 Bürgerrechtgesetz . Totalrevision - Zweitrat - Fortsetzung Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend Abgeordnete Abgeordnete + interessierte Öffentlichkeit schriftsprachlich mündlich realisiert Hypertext behördliche Website nicht festgelegt groß TR_25c_de 11.022 Bürgerrechtgesetz . Totalrevision - Zweitrat - Fortsetzung_2 Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch informativ meinungsbeeinflussend nicht bindend Abgeordnete Abgeordnete + interessierte Öffentlichkeit schriftsprachlich mündlich realisiert Hypertext behördliche Website nicht festgelegt groß 307 3.4 Situativer Kontext <?page no="308"?> Abkürzung Textüberschrift DE Textüberschrift IT Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand TR_26_de Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens - Ausführungserlass zum revidierten Bürgerrechtsgesetz Rapporto sui risultati della procedura di consultazione - Disposizioni esecutive riguardanti la riveduta legge sulla cittadinanza informativ nicht bindend SEM behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung nicht festgelegt groß TR_27_de Verordnung über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsverordnung , BüV) - Worum geht es? Ordinanza sulla cittadinanza svizzera (Ordinanza sulla cittadinanza, OCit) informativ praxisorientiert nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_28_de Fragen zum neuen Recht (Gesuch seinreichung ab 1.1.2018) Domande relative al nuovo diritto (presentazione delle richieste di naturalizzazione a partire dal 1.1.2018) informativ praxisorientiert nicht bindend SEM Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_29_de Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetzes, BüG) - Worum geht es? Revisione totale della legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) informativ praxisorientiert nicht bindend SEM Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_30_de Verordnung zum neuen Bürgerrechtsgesetz geht in die Vernehmlassung In consultazione l’ordinanza sulla cittadinanza informativ informationsorientiert nicht bindend SEM Medien monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_31_de Neues Bürgerrechtsgesetz tritt am 1. Januar 2018 in Kraft La nuova legge sulla cittadinanza entra in vigore il 1° gennaio 2018 informativ informationsorientiert nicht bindend SEM Medien monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_32_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes : Botschaft verabschiedet Revisione totale della legge sulla cittadinanza: adottato il messaggio informativ informationsorientiert nicht bindend SEM Medien monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein TR_33_de Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes : Vernehmlassung eröffnet Revisione totale della legge sulla cittadinanza: aperta la consultazione informativ informationsorientiert nicht bindend SEM Medien monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Website nicht festgelegt klein Tab. II.3.2: Überblick über die textexternen Merkmale im Subkorpus 2 308 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="309"?> 3.5 Analyse der textinternen Merkmale 3.5.1 Beschreibung der makro- und mikrostrukturellen Merkmale ausgewählter Korpustexte Nachdem die Korpustexte funktional und situativ beschrieben wurden, lassen sie sich in Hinblick auf ihre sprachlich-formale Struktur näher charakterisieren. Im Folgenden werden die Texte, die textexterne Gemeinsamkeiten haben, in einem und demselben Abschnitt gruppiert und behandelt. Zuerst werden die behördeninternen, informativ-verhaltensbeeinflussenden Berichte betrachtet (II.3.5.1.1). Danach werden im Abschnitt II.3.5.1.2 der Fragenkatalog und die Rundbriefe fokussiert. Diese sind zwar behördenintern wie die Berichte, sie sind aber primär interaktionsbezogen. II.3.5.1.3 ist den Texten gewidmet, die besonders die interessierte Öffentlichkeit ansprechen, die also behördenextern und informationsorientiert sind. Die Voten im Parlament stehen im Mittelpunkt des Abschnitts II.3.5.1.4. Sie werden getrennt besprochen, weil sie medial mündlich realisiert werden und sie ferner nicht nur von den Bundesbehörden, sondern auch von anderen Emittenten stammen. 3.5.1.1 Berichte Die Berichte stammen von der Exekutive und richten sich primär an die Behörden. Sie weisen die typischen sprachlichen Mittel der Verwaltungssprache auf und sind stark standardisiert. Sie gelten somit nicht nur als politischpersuasive Texte, sondern auch als Verwaltungstexte. Wie bereits angeführt, lassen sich im Subkorpus 2 im Grunde drei Berichtsarten unterscheiden: die erläuternden Berichte (TR_14_de bis TR_16_de), die Vernehmlassungsberichte (TR_2_de, TR_26_de) und die Botschaft (TR_4_de). Allgemein gesehen, sind alle drei Typen eher umfangreiche Texte (von durchschnittlich 25 bis 55 Seiten) und sie haben dieselbe Grobstruktur. Sie bestehen hauptsächlich aus einem allgemeineren, in Abschnitte aufgegliederten Teil, der den Stand der Dinge (die „Ausgangslage“) beschreibt und aus einem umfassenderen, tiefergehenden, ebenfalls in Absätze zerlegten Teil, der auf Einzelheiten (die „einzelnen Bestimmungen“) eingeht. Beiden Teilen geht normalerweise ein die relevante Textbenennung enthaltendes Titelblatt voraus. Oft ist auch eine Zusammenfassung („Vorbemerkung“, „Übersicht“, „Überblick“) vorangestellt. Die formal-funktionalen Makrostrukturen der Berichte im Subkorpus 2 sind in den zwei folgenden Tabellen (Tab. II.3.3 und Tab. II.3.4) nebeneinandergestellt: 309 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="310"?> 342 Die Reihenfolge der Texte in der Tabelle folgt der chronologischen Reihenfolge, in der die Texte produziert wurden. Alle Hervorhebungen stammen von mir. Erläuternde Berichte und Botschaft TR_16_de 342 TR_4_de TR_15_de TR_14_de Titelblatt Vorbemerkung 1 Allgemeiner Teil 1.1 Ausgangslage 1.2 Grundzüge der Vorlage 1.3 Weitere Bürgerrechts‐ themen 2 Erläuterungen zu den ein‐ zelnen Bestimmungen 3 Finanzielle und personelle Auswirkungen 4 Verhältnis zum europäischen Recht 5 Verfassungsmässigkeit Begleitschreiben Übersicht Inhaltsverzeichnis 1 Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.2 Die wichtigsten Änderungen 1.3 Weitere Bürgerrechtsthemen 1.4 Ergebnisse des Vernehmlassungs‐ verfahrens und die Haltung des Bun‐ desrates 1.5 Änderung der Vorlage gestützt auf die Vernehmlassung 2 Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen 3 Finanzielle und personelle Auswir‐ kungen 4 Verhältnis zur Legislaturplanung 5 Verhältnis zum europäischem Recht 6 Verfassungsmässigkeit Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (Bürgerrechtsgesetz, BüG) (Entwurf) Titelblatt I. Ausgangslage II. Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen Titelblatt I. Ausgangslage 1. Ergebnisse des Ver‐ nehmlassungs verfahrens 2. Änderung der Vor‐ lage gestützt auf die Vernehmlassung II. Erläuterungen zu den einzelnen Be‐ stimmungen Tab. II.3.3: Makrostruktur der erläuternden Berichte und der Botschaft im Vergleich 310 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="311"?> 343 Unter Topos wird hier ein wiederkehrendes Inhaltselement verstanden. Vernehmlassungsberichte TR_2_de TR_26_de Titelblatt A Einleitung B Verzeichnis der Vernehmlassungsteil‐ nehmer C Abkürzungsverzeichnis (in alphabeti‐ scher Reihenfolge) D Fragenkatalog E Auswertung der Stellungnahmen und Vorschläge der Vernehmlas‐ sungsteilnehmer F Fazit Titelblatt Überblick Inhaltsverzeichnis 1 Verzeichnis der Vernehmlassungsteil‐ nehmenden 2 Ausgangslage 3 Überblick über das Vernehmlassungs‐ verfahren 4 Übersicht über die Ergebnisse 5 Zeitpunkt der Inkraftsetzung der Total‐ revision des Bürgerrechtsgesetzes 6 Zusammenfassung 7 Stellungnahmen zu den einzelnen Bestimmungen Tab. II.3.4: Makrostruktur der Vernehmlassungsberichte im Vergleich Wie oben angekündigt, zielen die erläuternden Berichte und die Botschaft darauf ab, entsprechend der Rechenschaftspflicht und dem Transparenzgebot die behördenseitigen Entscheidungen zu begründen; zu rechtfertigen, warum auf eine bestimmte Weise (etwa durch das Erarbeiten eines bestimmten Ge‐ setzes) gehandelt wurde. Sie sind persuasive - und somit politische - Texte, in denen die Emittenten - die Behörden - für das eigene Handeln zu werben versuchen bzw. in denen die Behörden die Zustimmung der Adressaten (andere Behörden bzw. Akteure, die in der Politik tätig sind) gewinnen möchten. Dies schlägt sich besonders in der Wahl der Lexik nieder: Die Berichte weisen Aus‐ drücke auf, die in den diskursiven Zusammenhängen der Behörden als Schlag‐ wörter mit programmatischem Gehalt gelten. Bei der Beschreibung der Ziele der Gesetzesrevision kommen im Bericht TR_16 etwa die folgenden Wörter vor: Herstellung einer weitgehenden Kohärenz; Verbesserung der Entscheidgrundlagen; Harmonisierung der kantonalen und kommunalen Wohnsitzfristen; Reduktion des administrativen Gesamtaufwandes durch Vereinfachung und Harmonisierung der Abläufe und Klärung der Rollen von Kanton und Bund; Verständlichkeit und Lesbarkeit. Solche Ausdrücke knüpfen an die für die behördlichen Kontexte typischen Diskurse an, wonach die Behörden einerseits Rechtssicherheit ge‐ währleisten und andererseits nach dem Abbau der Bürokratie, der (nicht nur sprachlichen) bürokratischen Hürden und der komplizierten Vorgänge streben sollen. Dieser Topos 343 prägt den ganzen Text und kommt durch verschiedene 311 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="312"?> sprachliche Kombinationen, die vor allem Nominalisierungen entsprechen, zum Ausdruck: Verfahrensvereinfachungen und -straffungen (S. 3); Verfahrensverein‐ fachungen (S. 3); Verfahrensbeschleunigung (S. 5); Grundsatz der Kostendeckung (S. 5); zusätzlicher administrativer Aufwand (S. 17); unnötig aufgeblähten und komplizierteren Verfahren (S. 17); Verfahrensaufwand minimiert (S. 22); gewisser Mehraufwand (S. 22); hohen administrativen Aufwand (S. 25); unnötigen bürokra‐ tischen Aufwand (S. 26). Damit verbunden ist das Thema der Verteilung der Kompetenzen zwischen den föderalen Einheiten. Zur Zeit der Gesetzesrevision war nicht völlig klar, wer im Einbürgerungsverfahren wofür zuständig war. Die Klärung der Zuständigkeiten und die Nivellierung der kantonalen Unterschiede gehörten zu den mit dem neuen Gesetz angestrebten Zielen (vgl. II.3.1). Auch dieser Topos wird durch unterschiedliche lexikalische Einheiten versprachlicht: Zuständigkeit der Kantone (S. 3); Verschiebung der Entscheidkompetenz (S. 4); keine verbindliche Rollenklärung (S. 4); Allfällige Kompetenzkonflikte (S. 4); Doppelspurigkeiten (S. 4); verbindliche Klärung der Schnittstellen (S. 4); klare Zu‐ ständigkeitsregel (S. 4); gemeinsame Verantwortung (S. 4); Aufgabenverteilungen (S. 5); Kompetenzregelung (S. 5); Kompetenzaufteilung (S. 7); Regelungskompetenz (S. 9). Ein anderes, relevantes Schlagwort ist Integration, das einen zentralen Be‐ griff der Gesetzesrevision darstellt. Dieses Wort ist im Bericht TR_16 ein rekurrentes Element, das manchmal in Kombination mit einem positiv oder einem negativ konnotierten Adjektiv in attributiver Funktion, zuweilen als Teil eines Kompositums erscheint: Integration (S. 3); erfolgreiche Integration (S. 5); Integrationsbegriff (S. 5); Integrationskriterien (S. 6); mangelhafte Integra‐ tion (S. 6); wegen ungenügender Integration (S. 7); Integrationskriterium (S. 8); Integrationsleistungen (S. 9); gute Integration (S. 9); Integrationsbereitschaft (S. 9); rasche Integration (S. 9); hohen Integrationsgrad (S. 9); Integrationsfragen (S. 10); Integrationsvoraussetzung (S. 11); Grad der Integration (S. 19). Synonyme von ‚In‐ tergration‘ sind auch „Eignung“ und „Eingliederung“: Eignungsvoraussetzungen (S. 5); Eignungskriterien (S. 14); Eingliederung (S. 15). Integration entspricht eigentlich einem positiv konnotierten, aber eher unbestimmten Begriff, dessen semantischer Spielraum offen ist. Die Präzisierung dieses Begriffes mittels einer Definition im Kontext des Bürgerrechts zählte zu den Zielen der Geset‐ zesrevision, die auf die Integration der einzubürgernden Ausländer setzte. Die Bedeutung des Ausdrucks wird im Bericht explizit thematisiert und das Wort ist Gegenstand einer metasprachlichen Reflexion: [1] Schon unter heutigem Recht ist eine erfolgreiche Integration eine unabdingbare Voraussetzung für die ordentliche und erleichterte Einbürgerung. Der Begriff wird jedoch weder im Gesetz noch in einer Verordnung näher präzisiert. Verständnis‐ 312 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="313"?> schwierigkeiten und sogar Missverständnisse sind mit dem Gebrauch der gleichlau‐ tenden Schlüsselbegriffe im Ausländerbzw. Einbürgerungsrecht verbunden. Eine Klarstellung der Begriffe ist daher geboten. Die neu vorgesehene Formulierung im Gesetz entspricht inhaltlich zwar weitgehend dem heutigen Recht. Dabei wird jedoch der Integrationsbegriff dem Ausländerrecht angeglichen (TR_16_de: 5). Die Integration gelte als Voraussetzung dafür, dass eine Person eingebürgert werden dürfe. Dementsprechend sollte sie in einem Einbürgerungsverfahren gipfeln. Die Einbürgerung wird somit als letzter Schritt auf dem Weg zu einer gelungenen Integration (S. 3) bezeichnet. Dabei haben wir es zu tun mit einem Beispiel für eine metaphorische Wendung. Metaphern sind im Bericht nicht unüblich. Die Weg-Metapher ist z. B. auch bei anderen Ausdrücken wie Bürger‐ recht als letzter Integrationsschritt (S. 8), gesetzgeberische[.] Schritte in die Wege leiten (S. 3) oder die Formulierung zu weit gehen (mit der Bedeutung: ‚zu strikt, zu streng sein‘) anzutreffen. Metaphorische Züge hat auch die Feststellung, dass die Verständlichkeit und die Lesbarkeit des Bürgerrechtsgesetzes unter den Teilrevisionen, die im Laufe der Jahre stattgefunden haben, gelitten haben (S. 2). Ein weiteres Beispiel für metaphorische Sprachverwendung ist die Bemerkung, dass bei einer klareren Verteilung der Aufgaben zwischen den föderalistischen Einheiten Leerläufe weitgehend vermieden werden könnten (S. 4). Dabei ist ein bestimmter semantischer Bereich (Behördengänge) durch einen anderen (Mechanik bzw. Automatik) konzeptualisiert. Metaphorische Wendungen werden funktional eingesetzt, um die Argumen‐ tation im Text zu stützen. Diese folgt gewöhnlich einem festen Muster, das sich in der Struktur Datum / Faktum → eigener Standpunkt (d. h. eigene These) als selbstverständliche Folge des Datums / Faktums abstrahieren lässt. Die Folge wird häufig in einem Hauptsatz ausgedrückt und durch einen konsekutiven Konnektor sprachlich signalisiert bzw. eingeleitet: [2] Die beiden Erlasse [das Ausländergesetz und das Asylgesetz] führten dazu, dass an Ausländerinnen und Ausländer neue Anforderungen, insbesondere hinsichtlich der Integration und der Sprachkenntnisse, gestellt werden. Das Einbürgerungsverfahren, welches als letzter Schritt auf dem Weg zu einer gelungenen Integration angesehen werden kann, muss diese Entwicklung berücksichtigen. So soll die Einbürgerung im ordentlichen Verfahren in Zukunft erst nach der Erteilung eines nachhaltigen Aufenthaltsrechts möglich sein (TR_16_de: 3; Unterstreichung A.A.). [3] Mit Blick auf die Herstellung einer weitgehenden Kohärenz zwischen Bürger- und Ausländerrecht sind auch die formellen Voraussetzungen zum Bürgerrechtsverfahren neu zu regeln. Auszugehen ist dabei vom Grundsatz, dass das Bürgerrecht als 313 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="314"?> letzter Integrationsschritt die höchsten Anforderungen an die Integration stellen darf. Folgerichtig wird daher für die Einbürgerung der stabilste ausländerrechtliche Status, das heisst die Niederlassungsbewilligung (Ausweis C), vorausgesetzt (TR_16_de: 8; Unterstreichungen A.A.). In den Beispielen ([2] und [3]) besteht die These des Emittenten darin, dass Voraussetzung für eine ordentliche Einbürgerung sein sollte, dass die einbür‐ gerungswillige Person vorher eine Niederlassungsbewilligung erhalten habe. Dieser Meinung, dieser Einstellung, werden zwei Fakten, zwei Argumente, vorangestellt: Die Niederlassungsbewilligung wird gemäß dem Ausländergesetz und dem Asylgesetz nur in der Schweiz integrierten Personen erteilt; die Einbürgerung entspricht der Vollendung eines Integrationsprozesses. Nicht nur lexikalische Einheiten oder argumentative Muster kommen im Bericht TR_16_de wiederholt vor, sondern auch bestimmte syntaktische Strukturen. Der Text ist besonders durch parataktische Konstruktionen cha‐ rakterisiert. Auch Subjekt- und Objektsätze sind häufig anzutreffen. Unter den Adverbialsätzen fallen besonders die Konditionalsätze auf. Sie erinnern an die typischen Strukturen der Gesetzessprache bzw. des Bezugsgesetzes, bei dem Tatbestände und Rechtsfolgen vor allem mithilfe von Bedingungssätzen zum Ausdruck gebracht werden. Partizipialkonstruktionen und Passivsätze prägen den ganzen Text, in dem insgesamt ein unpersönlicher Stil dominiert. Dieser schlägt sich überdies besonders in der häufig vorkommenden Formulierung es rechtfertigt sich nieder, die benutzt wird, um das behördliche Handeln zu begründen. Auch die häufige Verwendung von sein + zu + Infinitiv verleiht dem Text einen unpersönlichen Ton. Diese Konstruktion hat eine deontische Bedeutung und drückt Notwendigkeiten bzw. Zweckbestimmungen aus. Eine primär deontische Bedeutung hat häufig auch das Modalverb sollen, das - besonders in Kombination mit Verben im Passiv - oft im Text vorkommt. Zahlreich sind auch die Nominalisierungen, die überall im Bericht zu finden sind. Schon die Erläuterung des zentralen Begriffs Integration bzw. seine Zerlegung in Bestandteile erfolgt durch meist von Verben abgeleitete Substantive: Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Respektierung der grundlegenden Prinzipien der Bundesverfassung, Fähigkeit, sich in einer Landessprache zu verständigen, Willen zur Teilnahme am Wirtschaftsleben oder dem Erwerb von Bildung (S. 6). Zum Nominalstil des Textes tragen auch die vielen Funktionsverbgefüge und Kollokationen bei. Dazu zählen etwa Kenntnis nehmen, Rechnung tragen, zum Ausdruck bringen, Geltung finden, Folge geben, zur Anwendung kommen. Der Text enthält schließlich unter‐ schiedliche Fachwörter bzw. Alltagswörter mit fachsprachlicher Bedeutung, die seine Informationsdichte erhöhen. Zu finden sind ferner gemeinsprach‐ 314 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="315"?> 344 Solche rechtssprachlichen Verweise haben normalerweise in Normtexten eine ei‐ gene, präzise Semantik. Dies hat zur Folge, dass die verweisenden Ausdrücke bestimmten Bedeutungsnuancierungen entsprechen und daher nur bedingt aus‐ tauschbar sind bzw. dass die Verwendung eines verweisenden Wortes mit der Art der Relation Bezugstext-zitierender Text zusammenhängt (vgl. dazu ausführlich Egger 2019: 93 ff.). In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob auch in den hier analysierten Berichten die Verweise in ihrer technischen, rechtsspezifischen Bedeutung gebraucht werden. Um die Frage beantworten zu können, sollte man allerdings die Bezugstexte konsultieren bzw. genauer kennen. liche Ausdrücke, die einem höheren Register eigen sind. Beispiele für die ver‐ schiedenen diaphasischen Varianten sind etwa entrichten, Staatennachfolge, durch eine Anhebung der Gebühren abgelten, subsumieren, über etwas befinden, Unverletzlichkeit der Rechtsgüter, Betreibungen, Steuerschulden, Nichtigkeits‐ verfahren, wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit, Einkommen, Vermögen, Leistungen dritter, selbständige Erwerbstätigkeit, unverschuldete Verhinderung, sistieren, Arbeitnehmer, Inhaber, hängige Strafverfahren. Neben dem wiederholten Vorkommen derselben semantischen und for‐ malen Einheiten, die den Standardisierungsgrad des Textes erhöhen, sind im Text auch Beispiele für sprachlich-stilistische Variation belegt. D.h. Beispiele für den Versuch, dieselben Inhalte durch verschiedene sprachliche Mittel auszudrücken. Der intertextuelle Bezug auf die Texte, mit denen der Bericht eng verbunden ist, sowie der Verweis auf allgemeine Grundsätze, an die sich die Behörden bei ihrem institutionellen Handeln halten, werden etwa durch verschiedene Präpositionen bzw. präpositionale Gruppen signalisiert, die im Text alternieren. Es handelt sich dabei um typische rechtssprachliche Ausdrücke. Dazu zählen etwa im Einklang mit, bezüglich, gemäss, im Sinne (von), in Übereinstimmung mit. 344 Interessant ist hier der Bezug auf das geltende Recht, der sprachlich unterschiedlich realisiert wird. Man kann im Bericht TR_16_de etwa 9 leicht voneinander abweichende Alternativen unterscheiden: nach der heutigen Regelung, nach bisherigem Recht, im geltenden Recht, unter dem geltenden Recht, unter heutigem Recht, unter bisherigem Recht, unter altem Recht, unter geltendem Recht, nach den Bestimmungen des bisherigen Rechts. Bemerkenswert ist auch die Erwähnung, dass nach der Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes auch eine ausführende Verordnung zu verfassen sei. Auch in diesem Fall liegen für dieses Inhaltselement unter‐ schiedliche sprachliche Varianten vor (Tab. II.3.5): 315 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="316"?> TR_16_de - Die konkreten Zeitvorgaben sollen auf Verordnungsstufe festgelegt werden - Inhalt und Bedeutung … sind in der neuen Bürgerrechtsverordnung zu konkretisieren - … ist in der Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz zu konkretisieren - … sollen ebenfalls auf Verordnungsstufe aufgeführt und konkretisiert werden - … wird der Bund im Rahmen der Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz verbindlich festlegen, … - Im Rahmen einer Ausführungsverordnung soll der Begriff präziser umschrieben und konkretisiert werden - Details können auf Verordnungsstufe geregelt werden - Die Details bedürfen noch der Konkretisierung in der neuen Verordnung zum Bürger‐ rechtsgesetz - Eine entsprechende Anpassung … hat im Rahmen der Vollzugsverordnung zu erfolgen - Die Anforderungen … werden in der Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz näher um‐ schrieben werden müssen - … können in der neu zu schaffenden Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz festgelegt werden Tab. II.3.5: Beispiele für sprachliche Variation im Korpustext TR_16_de Beispiele für linguistische Variation finden sich auch in der Botschaft (TR_4_de). Auch hier erfolgt der Bezug auf die noch zu erarbeitende Verordnung durch unterschiedliche sprachliche Formulierungen (Tab. II.3.6): TR_4_de - … wobei die genaueren Regelungen im Rahmen der Ausführungsverordnung festzulegen sind - … was im Rahmen der Vollzugsverordnung konkret geregelt werden soll der Begriff … kann in der Ausführungsverordnung präzisiert werden - … in der Ausführungsverordnung wird … konkretisiert werden müssen - Form und Inhalt … können auf Verordnungsstufe näher umschrieben werden - … können in der neu zu schaffenden Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz festgelegt werden - Die Details … sind ebenfalls in der Ausführungsverordnung zu präzisieren Tab. II.3.6: Beispiele für sprachliche Variation im Korpustext TR_4_de Die Botschaft ist den erläuternden Berichten formal - also sprachlich und stilistisch - ähnlich. Bis auf kleine Änderungen kommen die ersten drei Abschnitte im Kapitel 1 (Grundzüge der Vorlage) eigentlich den entsprechenden Abschnitten im Bericht TR_16_de gleich. Auch in den Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen und im Kapitel 4 (Verhältnis zur Legislaturplanung) werden die Textbausteine des erläuternden Berichts (TR_16_de) wortwörtlich wieder aufgenommen. Ein Element, das die Botschaft von den Berichten unterscheidet, ist das Schreiben - der Brief. Dies fehlt in den erläuternden Berichten, ist hingegen der Botschaft beigegeben. Darin wird der Antrag des Bundesrates ausgedrückt, d. h. dort wird explizit gesagt, wozu die Schweizer Regierung das Parlament auffordert (mit dem 316 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="317"?> Antrag auf Zustimmung). Der Brief ist ein performativer Text, in dem der Bundesrat das eigene sprachliche Handeln (einen Erlassentwurf vorlegen bzw. erläutern; das Abschreiben bestimmter Vorstösse verlangen) beschreibt: [4] Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zum Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht mit dem Antrag auf Zustimmung. Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzu‐ schreiben: (TR_4_de; Unterstreichungen A.A.) Zu bemerken ist, dass die Adressaten direkt angesprochen werden (Ihnen). Der Brief ist interaktionsbezogen und in der Tat der einzige Teiltext, in dem entsprechend dem Botschaftsleitfaden ein persönlicher Ton erlaubt ist. An‐ sonsten herrscht in der Botschaft das Verbot der Personalpronomina. Der persönliche Stil schlägt sich besonders in den Anreden nieder. Letztere sind im Botschaftsleitfaden streng reglementiert und demzufolge stark standardisiert: [5] Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren (TR_4_de). Im Allgemeinen ist der Brief sehr höflich und formell und weist ein gehobenes Register auf: [6] Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung (TR_4_de). Eine weitere Besonderheit der Botschaft ist der wiederholte Bezug auf die Meinungen der interessierten Akteure, die sich in der Vernehmlassung geäußert haben. Der Verweis auf die Ergebnisse der Vernehmlassung erfolgt durch un‐ terschiedliche sprachliche Formulierungen, die noch einmal auf die Bemühung um sprachliche Variation hindeuten (Tab. II.3.7): TR_4_de - Im Rahmen der Vernehmlassung zeigte sich … - Die Vernehmlassung hat gezeigt … - … hat sich anlässlich der Vernehmlassung gezeigt … - Im Rahmen der Vernehmlassung wurde … vorgeschlagen - Aufgrund der im Vernehmlassungsverfahren geäusserten Bedenken … Tab. II.3.7: Beispiele für sprachliche Variation im Korpustext TR_4_de 317 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="318"?> Die ständige Erwähnung der Vernehmlassung hängt mit der persuasiven Funk‐ tion der Botschaft eng zusammen. Damit will die Regierung einerseits von der Tauglichkeit der eigenen Lösung überzeugen; andererseits zielt sie darauf ab, ein Signal dafür geben, dass die Regierung im Einklang mit der Kultur des Konsenses, die das schweizerische politische System prägt (vgl. I.3.4.1), auch andere Positionen bzw. Meinungen berücksichtigt bzw. dass ihnen entgegenge‐ kommen wird. Dass man auch Einstellungen anderer Rechnung trägt, wird in der Botschaft ausdrücklich hervorgehoben (Tab. II.3.8): TR_4_de - Damit wird den Anliegen der Kantone Rechnung getragen - Damit wird den Bedürfnissen der Praxis entsprochen - Um den Anliegen von gewissen Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmern Rechnung zu tragen Tab. II.3.8: Formulierungen aus Korpustext TR_4_de Eine systematische Übersicht der Stellungnahmen der am Erlassentwurf interessierten Akteure bieten die Vernehmlassungsberichte. Darin werden die zu den verschiedenen Artikeln geäußerten Meinungen der Vernehmlas‐ sungsteilnehmer zusammengestellt. Vernehmlassungsberichte haben inso‐ fern eine rekurrente Struktur, als im Text-Hauptteil dieselbe Basiseinheit wiederkehrt. Diese besteht aus dem Artikel des Entwurfes, der jeweils im Fokus steht. Er ist grafisch hervorgehoben, indem er eingerahmt ist. Darauf folgen dann zwei Abschnitte. Im ersten werden unter dem Titel Befürwortende Stellungnahmen die Einstellungen derjenigen behandelt, die die betreffende Bestimmung gutgeheißen haben. Der zweite enthält mit der Überschrift Ablehnende Stellungnahmen die Meinungen der Akteure, die den Artikel zurückgewiesen haben. Jeder Abschnitt besteht aus zwei Teilen: einem ver‐ knappten und einem Fließtext. Der verknappte Textteil entspricht einer Auf‐ listung der Vernehmlassungsteilnehmer, die einen Artikel befürwortet oder abgelehnt haben. Mithilfe von Aufzählungspunkten werden die Teilnehmer nach Kategorien (Kantone, Parteien, Wirtschafts- und Berufsverbände, an‐ dere) gruppiert. Im Fließtextteil werden die verschiedenen Positionen näher angeführt. Sprachlich sind die Vernehmlassungsberichte durch die Verwendung von Kommunikationsverben charakterisiert. Diese dienen dazu, die Meinungen der verschiedenen Akteure einzuführen. Die verschiedenen Standpunkte werden immer durch die indirekte Rede wiedergegeben, da es sich dabei um Textimporte handelt. Die Berichte sind insofern standardisiert, als dieselben 318 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="319"?> sprechhandlungsbezeichnenden Ausdrücke im Text wiederkehren. Die For‐ mulierungen, die am häufigsten vorkommen, sind in der Tabelle unten (Tab. II.3.9) zusammengestellt: Kommunikationsausdrücke zur Einführung befürwortender Stellung‐ nahmen: - … befürworten die vorgeschlagene Regelung (mit Vorbehalt) - … stimmen der Regelung zu - … sind für die vorgeschlagene Regelung - Ein Teil der Befürworter bemängelt … - Andere Befürworter regen an … - Vereinzelt wird geltend gemacht, … - … wird kritisiert - Unter den Befürwortern wird … sehr/ ausdrücklich begrüsst - Es wird angemerkt, dass … - Befürwortet wird, dass … - Die Befürworter machen folgende Bemerkungen … Kommunikationsausdrücke zur Einführung ablehnender Stellungnahmen: - … lehnen die vorgeschlagene Regelung ab - … sind gegen die vorgeschlagene Regelung - … sind mit der vorgeschlagenen Regelung nicht einverstanden - Die Gegner argumentieren wie folgt: … - … wird abgelehnt, weil … - … findet Anklang … unter der Voraussetzung, dass … - Vereinzelt wird die Bestimmung im Widerspruch zu … gesehen - Auf Unverständnis stösst, dass … Tab. II.3.9: Kommunikationsausdrücke zur Einführung fremder Stellungnahmen Typisch für die Vernehmlassungsberichte ist selbstverständlich die Präsenz evaluativer Komponenten, die in Form von bewertenden Adjektiven auf‐ treten. Durch sie haben die Vernehmlassungsteilnehmer im Bericht TR_2_de den Vorschlag der Schweizer Exekutive evaluiert. Als Maßstab galten dabei - wie üblich - die Prinzipien der Vermeidung der Diskriminierungen und der behördlichen Willkür, der Reduktion des bürokratischen Aufwands, der Transparenz und der Respektierung der Verfahrens- und Organisationsho‐ heit der Kantone. Denen habe nach der Meinung einiger Akteure die von der Exekutive vorgeschlagene Regelung nicht genug Rechnung getragen. Das wird besonders durch negativ konnotierte Adjektive zum Ausdruck gebracht (Tab. II.3.10): 319 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="320"?> Negativ konnotierte Adjektive im Bericht TR_2_de (Auswahl): unverhältnismässig, diskriminierend, problematisch, zu lange, stossend, überflüssig, zu wenig präzis, nicht ersichtlich, willküranfällig, nicht gebührend, unvollständig, unklar, nicht überprüfbar, weniger bestimmt, zu weitgehend, vage, nur bedingt überprüfbar, zu wenig aussagekräftig, nicht zweckmässig, zu eng gefasst, nicht auschlaggebend, interpretationsbedürftig, zu weit gefasst, ungeeignet, nicht kohärent, kaum anwendbar, unpraktikabel, zu ungenau, zu kompliziert, sehr unterschiedlich, nicht ökonomisch, fraglich, inakzeptabel, zu kurz, überlang, überhöht, unsachlich, überbetont, nicht allzu streng, weder praxistauglich noch korrekt, zu restriktiv, unangemessen, unbefriedigend, nicht befriedigend, nicht durchsetzbar, falsch, weder sinnvoll noch gerechtfertigt, auf‐ wändig, aussichtslos, sachlich völlig ungerechtfertigt, verfassungswidrig, fragwürdig, nicht haltbar, veraltet, nur zulässig, wenn …, zu schwerfällig Tab. II.3.10: Negativ konnotierte Adjektive im Korpustext TR_2_de Handlungsbedarf und Desiderata, auf die die Vernehmlassungsteilnehmer auf‐ merksam gemacht haben, sind vor allem durch die Konstruktion sein + zu + Infinitiv signalisiert. Betont wird besonders die Unbestimmtheit oder die Un‐ klarheit einiger Bestimmungen des Erlassentwurfes, die zu viel Interpretations‐ spielraum offenließen. Demzufolge seien solche Bestimmungen zu präzisieren, klarzustellen, zu konkretisieren, explizit festzulegen, zu klären, gesetzlich explizit zu regeln, explizit zu nennen. Wie die erläuternden Berichte und die Botschaft zeichnen sich auch die Vernehmlassungsberichte durch einen unpersönlichen Stil aus, der besonders durch Passivkonstruktionen charakterisiert ist. Die Inhalte werden deskriptiv entfaltet und die Texte sind - wie oben betont - im Grunde informativ. Im Bericht TR_2_de wird überdies eine Sprechhandlung vollzogen, die in den anderen Berichten nirgendwo vorkommt. Der Textemittent, der in der dritten Person auf sich selbst Bezug nimmt, drückt am Anfang seine Dankbarkeit aus gegenüber den Akteuren, die an der Vernehmlassung teilgenommen haben: [7] Das Bundesamt für Migration dankt an dieser Stelle allen Vernehmlassungsteil‐ nehmern für ihre Stellungnahme (TR_2_de: 2). Hier wird vom dominierenden deskriptiv-informativen Ton abgewichen. Das stellt allerdings eine Ausnahme dar. 3.5.1.2 Fragenkatalog und Rundbriefe Der Vernehmlassungsbericht TR_2_de enthält ein Exemplar des Fragenkatalogs (TR_17_de), der den Vernehmlassungsteilnehmern unterbreitet wurde. Bei diesem Text handelt es sich um eine vierspaltige Tabelle, die sieben Seiten umfasst. In der ersten Spalte links, die den Titel Revisionsvorschlag trägt, werden die Gesetzesartikel mit den neu eingeführten, umstrittenen Punkten aufgelistet. Jeder Gesetzesartikel 320 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="321"?> entspricht einer Tabellenzeile. Die Zellen, die die gesetzlichen Bestimmungen ent‐ halten, sind mit dem Wortlaut der jeweiligen Gesetzesartikel belegt. Dem Fließtext geht jedes Mal die Nummer der betreffenden Artikel und ein Kurztitel in Fettdruck voraus. Dabei werden die Bestimmungen zwar wortwörtlich übernommen, ihnen wird aber ein Matrixsatz vorausgestellt, so dass die Hauptsätze des Bezugstexts in Nebensätze umgewandelt werden. Im Matrixsatz werden die Adressaten mittels der Frageformulierungen Sind Sie einverstanden, dass …, Sind Sie mit … einverstanden, Würden Sie … vorziehen … direkt angesprochen. In der Tabelle finden sich dann andere Informationen, deren Relevanz durch das Wort Hinweis betont wird, das somit als Orientierungssignal fungiert. Die Titel der übrigen Tabellenspalten lauten Ja, Nein bzw. Begründung / Bemerkungen / Vorschläge. Diese Spalten sind leer und werden von den Akteuren in der Vernehmlassung ausgefüllt. Den Vernehmlassungsdokumenten beigegeben sind die Rundbriefe (TR_12_de; TR_13_de), in denen sich die Bundesbehörden direkt an die Vernehmlassungsteil‐ nehmer wenden. Auch die Rundbriefe haben eine stark standardisierte Struktur. Oben links werden die Adressaten angegeben. Darauf folgt der Betreff in Fettdruck. Danach erscheint die Anredeformel. Der Brieftext ist in Abschnitte gegliedert. In den Rundbriefen TR_12_de und TR_13_de gehen zwei Abschnitten zwei fett markierte Zwischentitel voraus. Der eine lautet Die Hauptziele der Revision, der andere Die wichtigsten Änderungen. In beiden Fällen entsprechen die Abschnitte Auflistungen. Bei den Hauptzielen der Revision wird die Auflistung, die sich im Teiltext Vorbemerkungen des erläuternden Berichts TR_16_de findet, wortwörtlich übernommen. Die wichtigsten Änderungen der Totalrevision werden mittels Nominalisierungen ausgedrückt, denen Aufzählungsstriche vorangestellt sind. Die Rundbriefe sind nicht nur auf der Makro-, sondern auch auf der Mikro‐ ebene standardisiert. Sie enthalten Formulierungen, die zugleich in weiteren auf andere Vernehmlassungsverfahren bezogenen Exemplaren von Rundbriefen anzutreffen sind. Der Bezug auf die Eröffnung der Vernehmlassung findet sich etwa immer am Anfang und wird gewöhnlich mit der folgenden Formel ausgedrückt: [8] Der Bundesrat hat am 16. Dezember 2009 das EJPD beauftragt, bei den Kantonen, den politischen Parteien, den gesamtschweizerischen Dachverbänden der Gemeinden, Städte und Berggebiete, den gesamtschweizerischen Dachverbänden der Wirtschaft und den interessierten Kreisen ein Vernehmlassungsverfahren durchzuführen (TR_12_de). Auch der Bezug auf die angehängten Dokumente kommt mittels einer Standard‐ formulierung zum Ausdruck: [9] In der Beilage unterbreiten wir Ihnen den Gesetzesentwurf, den erläuternden Bericht sowie den entsprechenden Fragenkatalog (TR_12_de). 321 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="322"?> Schließlich entspricht der Aufforderung zur Rückmeldung und zu einer Stel‐ lungnahme sowie der damit verbundenen Danksagung auch ein wiederkeh‐ render Textbaustein, der floskelhaft in Rundbriefexemplaren immer wieder vorkommt: [10] Wir ersuchen Sie, Ihre schriftliche Stellungnahme bis […] an […] einzureichen. Sie erleichtern den zuständigen Personen die Verarbeitung und Auswertung Ihrer Stellung‐ nahme wesentlich, wenn Sie diese auch per E-Mail an folgende Adresse senden: […] Für Ihre wertvolle Mitarbeit danken wir Ihnen zum Voraus bestens (TR_12_de). Der Textteil in [10] weist ein gehobenes Register auf und ist sehr höflich. Die Höflichkeit schlägt sich z. B. in der Formulierung nieder, durch die die Adres‐ saten gebeten werden, die Unterlagen per E-Mail zurückzusenden: Mittels eines Konditionalsatzes wird eine indirekte Sprechhandlung vollzogen, wodurch die Anforderung abgemildert wird. 3.5.1.3 Fragen und Antworten, Presserohstoff, Medienmitteilungen, Medienkonferenz In Erfüllung der Rechenschaftspflicht und des Öffentlichkeitsprinzips produzieren die Behörden auch Texte, die die Öffentlichkeit über die behördlichen Aktivitäten informieren. Dazu zählt etwa der Korpustext Fragen und Antworten (TR_18_de). Er bezieht sich auf die Vernehmlassungsunterlagen und fokussiert sozusagen den ‚Sitz im Leben‘ der Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes. Der Text entspricht einer Art Zusammenfassung der wichtigsten Punkte der Revision. Diese werden mithilfe von einem Frage-Antwort-Muster präsentiert, wodurch man versucht, die in diesem Kontext relevantesten W-Fragen zu beantworten (Tab. II.3.11): W-Fragen im Korpustext TR_18_de: • Warum braucht es eine Revision des Bürgerrechtsgesetzes? • Welches sind die wichtigsten Revisionspunkte? • Wie kann sichergestellt werden, dass nur erfolgreich integrierte Personen eingebürgert werden? • Welche Bedeutung hat die Integration im neuen Bürgerrechtsgesetz? • Weshalb sind bei der ordentlichen Einbürgerung Verfahrensvereinfachungen nötig? • Wer trägt im Einbürgerungsverfahren die Verantwortung? • Neuregelung der Wiedereinbürgerung • Was passiert mit Personen, deren Einbürgerung nichtig erklärt wurde? • Weshalb soll die Schweiz der europäischen Staatsangehörigkeitskonvention und der Konvention zur Vermeidung von Staatenlosigkeit bei Staatennachfolge beitreten? Tab. II.3.11: W-Fragen im Korpustext TR_18_de 322 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="323"?> Die Fragen sind fett markiert und erleichtern die Rezeption des Textes, indem sie die Aufmerksamkeit der Adressaten auf die wichtigsten Inhalte des Ge‐ setzesrevisionsverfahrens lenken. Zur Leserorientierung dienen auch die Unterstreichungen, durch die die wichtigsten Revisionspunkte hervorgehoben werden. Dabei handelt es sich um einige der Ausdrücke, die in den erläuternden Berichten wiederholt vorkommen: Vereinfachung und Harmonisierung der Ver‐ fahrensabläufe, Integration, Niederlassungsbewilligung, Entscheidgrundlagen ver‐ bessert. Trotz der grafischen Strategien, die u. a. auf die Berücksichtigung der Bedürfnisse einer z.T. fachunkundigen Adressatenschaft hindeuten, dominiert im Korpustext (TR_18_de) ein unpersönlicher Stil, der sich durch Passivformu‐ lierungen, sein + Infinitivsatz sowie das Modalverb sollen auszeichnet. Mit Fragen und Antworten eng verbunden, weil damit thematisch-funktional äquivalent, ist der Korpustext Presserohstoff (TR_19_de). Dieser ist in Ab‐ schnitte gegliedert und besteht aus drei Hauptteilen, die nummeriert und betitelt sind: 1. Ausgangslage, 2. Die wichtigsten Änderungen im Bürgerrechtsgesetz, 3. Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens. Bemerkenswert ist hier, dass der Korpustext einer Zusammenstellung einiger Textbausteine anderer Kor‐ pustexte entspricht. Der Teil Ausgangslage ist identisch mit dem Abschnitt Vorbemerkungen im erläuternden Bericht (TR_16_de). Im zweiten Teil werden die Punkte, die in den Rundbriefen (TR_12_de, TR_13_de) im Abschnitt Die wichtigsten Änderungen aufgelistet werden, wieder aufgegriffen und genauer ausgeführt. Bei diesen Ausführungen handelt es sich ihrerseits um partielle Übernahme einiger Abschnitte, die im allgemeinen Teil des erläuternden Be‐ richts (TR_16_de) erscheinen. Der dritte Teil ist identisch mit dem ersten Abschnitt der Rundbriefe. Wir haben es hier also mit einem Text zu tun, der eine Art Collage ist. Dabei werden Teile aus anderen Texten ‚ausgeschnitten‘ und im neuen Text rekontextualisiert. Prototypische Texte der behördlichen Kommunikations- und Öffentlichkeits‐ arbeit sind die Medienmitteilungen. Auch diese weisen immer dasselbe Textmuster auf. Ihre Gesamtstruktur zeichnet sich in der Regel durch einen Titel, einen Vorspann und den Haupttext aus. Der Haupttext ist in Abschnitte gegliedert. Ihnen werden manchmal fettgedruckte Zwischentitel vorangestellt. Der Texttitel enthält den ‚Aufhänger‘ und weist also auf den Kern der Mitteilung hin. Der Vorspann, auch Lead genannt, entspricht einer Zusammenfassung des Textinhalts. Er umfasst gewöhnlich zwischen fünf und acht Zeilen, die fett markiert sind. Was die inhaltliche Gliederung angeht, wird das in der Medienkommunikation übliche Gebot eingehalten, wonach das Wichtige an den Anfang, das weniger Wichtige an den Schluss gestellt werden soll. Dabei ist der erste Abschnitt eine Art Einleitung, in der W-Fragen (Wer, Was, Wie, 323 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="324"?> Wann) beantwortet werden und die also zur Kontextualisierung dient. Weiter‐ führende Inhalte und Dokumente sind nicht in die Medienmitteilung selbst integriert, sondern sie finden sich unterhalb des Fließtextes, im unteren Teil des Hypertexts. Dabei handelt es sich entweder um beigefügte Dateien oder um Verlinkungen auf andere Hypertexte. Wie auch auf den anderen Webseiten der Bundesverwaltung üblich (vgl. II.2.4.1.2) sind die Links unter verschiedenen Tabs eingeordnet. Ihnen geht die Überschrift Weitere Infos voraus. Den Tabs entsprechen verschiedene Rubrikbezeichnungen. Am häufigsten kommen die Ausdrücke Dossier, Medienmitteilungen, Reden, Interviews, Dokumente, Doku‐ mentation, News vor. Darunter sammeln und sortieren die Textproduzenten alle Textmaterialien, die mit der jeweils im Mittelpunkt stehenden Medienmit‐ teilung etwas zu tun haben bzw. den Anlass - die Vortexte - zur Abfassung der Nachricht an die Öffentlichkeit darstellen. Manchmal werden die Textbzw. Linkssammlungen durch Nachtexte bzw. weitere Verweise ergänzt. D.h. auch nach der Veröffentlichung einer Medienmitteilung werden nachträglich thematisch relevante Dokumente hinzugefügt. Zu den Elementen, die alle Medienmitteilungen gemeinsam haben und die also zum Standard geworden sind, zählen ferner der sich unter der Überschrift befindende Hinweis auf die Schlagwörter, unter denen die jeweilige Mitteilung subsumiert werden kann, die Kennzeichnung als Medienmitteilung, die Bezeichnung des Absenders und die Angabe des Publikationsdatums. Neben dem Titel der Medienmitteilung sind in der rechten Spalte des Hypertextes Kontaktangaben anzutreffen. Diese umfassen eine E-Mail-Adresse und / oder eine Telefonbzw. Handynummer. Oft wird auch der Name einer Ansprechperson angegeben. Wie in vielen der bisher behandelten Korpustexte werden auch in den Medi‐ enmitteilungen Abschnitte aus anderen Texten fast unverändert importiert. Das ist etwa der Fall bei der Medienmitteilung TR_33_de. Diese informiert darüber, dass eine Vernehmlassung zur Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes eröffnet wurde. Dort wird der Abschnitt Die wichtigsten Änderungen der Rundbriefe (TR_12, TR_13) wörtlich übernommen, die aufgelisteten Elemente kommen aber in einer anderen Reihenfolge vor. Der Fokus liegt in der Medi‐ enmitteilung auf dem Thema der Integration, das das Schweizer Stimmvolk besonders anspricht und daher instrumental von den Behörden benutzt wird, um das eigene politische Handeln und die eigene Problemlösungstätigkeit in ein positives Licht zu rücken. Die Voraussetzung der Integration der Einbürgerungs‐ willigen wird somit als erste erwähnt, andere Themen von untergeordneter Bedeutung bzw. für die Öffentlichkeit von begrenztem Interesse (z. B. die Nichtigerklärung der Einbürgerung oder der Beitritt der Schweiz zu zwei europäischen Konventionen) werden hingegen ausgelassen. Die zwei Listen 324 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="325"?> werden in der folgenden Tabelle (Tab. II.3.12) miteinander verglichen. Statt der Aufzählungsstriche des Ausgangstexts sind in der Medienmitteilung viereckige Aufzählungspunkte zu finden: Rundbriefe TR_12_de und TR_13_de Medienmitteilung TR_33_de Die wichtigsten Änderungen Die wichtigsten vorgeschlagenen Änderungen: a • Einheitlicher Verfahrensablauf im Bereich der ordentlichen Einbürge‐ rungen, um unnötige Leerläufe zu vermeiden; e • Präzisierung des Begriffs der er‐ folgreichen Integration; b • Klare Zuständigkeitsregeln mit Bezug auf die vorhandenen Schnitt‐ stellen zwischen Bund und Kan‐ tonen; f • Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) als Voraussetzung für das Einbürgerungsgesuch; c • Ordnungsfrist für die Erstellung der Erhebungsberichte im Sinne einer Verfahrensbeschleunigung; g • Herabsetzung der Aufenthalts‐ dauer in der Schweiz von heute 12 auf 8 Jahre im Sinne eines Anreizes für eine rasche Inte‐ gration; d • Neugestaltung der Gebührenrege‐ lung (Vorauszahlung der Einbürge‐ rungsgebühren und Abgeltung des Mehraufwands bei den Kantonen und Gemeinden); h • Harmonisierung der kanto‐ nalen und kommunalen Auf‐ enthaltsdauer; e • Präzisierung des Begriffs der erfolg‐ reichen Integration; k • Daten- und Informationsaus‐ tausch unter den kantonalen Einbürgerungsbehörden; f • Niederlassungsbewilligung (Aus‐ weis C) als Voraussetzung für das Einbürgerungsgesuch; l • Vereinfachung der Bestim‐ mung über die Wiedereinbür‐ gerung; g • Herabsetzung der Aufenthaltsdauer in der Schweiz von heute 12 auf 8 Jahre im Sinne eines Anreizes für eine rasche Integration; a • Einheitlicher Verfahrensablauf im Bereich der ordentlichen Einbürgerungen, um unnötige Leerläufe zu vermeiden; h • Harmonisierung der kantonalen und kommunalen Aufenthaltsdauer; b • Klare Zuständigkeitsregeln mit Bezug auf die vorhandenen Schnittstellen zwischen Bund und Kantonen; i • Wartefrist von zwei Jahren nach der verfügten Nichtigerklärung der Ein‐ bürgerung; c • Ordnungsfrist für die Erstel‐ lung der Erhebungsberichte im Sinne einer Verfahrensbe‐ schleunigung. 325 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="326"?> j • Aufenthaltsstatus einer Person nach der Nichtigerklärung der erleich‐ terten Einbürgerung; k • Daten- und Informationsaustausch unter den kantonalen Einbürge‐ rungsbehörden; l • Vereinfachung der Bestimmung über die Wiedereinbürgerung; m • Beitritt zur Europäischen Staatsan‐ gehörigkeitskonvention vom 6. No‐ vember 1997 sowie zur Konvention zur Vermeidung von Staatenlosig‐ keit bei Staatennachfolge vom 19. Mai 2006. Tab. II.3.12: Gegenüberstellung Rundbriefe vs. Medienmitteilung Auch die zwei Sätze, mit denen die Medienmitteilung endet, stammen aus dem Rundbrief. Sie werden jedoch im Zieltext anders positioniert. Die Formulierung Die im Zusammenhang mit der Gesetzesrevision erforderlichen Vollzugsbestim‐ mungen werden erst nach erfolgter Totalrevision in einer Bürgerrechtsverordnung ausgearbeitet ist etwa im Rundbrief vor der Erwähnung der Änderungen des neuen Gesetzes platziert, während sie in der Medienmitteilung gleich danach auftritt. Die Integration wird schon im Vorspann fokussiert. Sie wird als erstes Ziel der Gesetzesrevision erwähnt. Die Verwendung des Adverbs nur trägt zur Fokussierung der Voraussetzung der Integration bei der Einbürgerung bei und betont deren Ausschließlichkeit. Die Präsenz des evaluativen Elements gut, das übrigens schon in den Berichten in Verbindung mit dem Wort Integration vorkommt und es in attributiver Funktion positiv qualifiziert, führt dazu, dass die positive Konnotation des Begriffs weiter verstärkt wird: [11] Das revidierte Gesetz soll sicherstellen, dass nur gut integrierte Ausländerinnen und Ausländer den Schweizer Pass erhalten (TR_33_de; im Original in Fettdruck; Unterstreichungen hier A.A.). Im Text werden dann selbstverständlich dieselben Topoi bzw. Argumente der erläuternden Berichte und der Botschaft wieder aufgegriffen. Diese kommen durch dasselbe lexikalische Material zum Ausdruck: Doppelspurigkeiten besei‐ tigen, Verfahren vereinfachen, Wohnsitzfristen harmonisieren, administrativen Gesamtaufwand reduzieren. Die Topoi und die Integration stehen im Mittelpunkt auch der Medienmitteilung über die Verabschiedung der Botschaft zur Totalre‐ 326 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="327"?> vision des Bürgerrechtsgesetzes (TR_32_de). Deren Lead setzt zum Beispiel wie folgt an: [12] Nur wer gut integriert ist, soll eingebürgert werden. Der Bundesrat will dies mit einem vollständig revidierten Bürgerrechtsgesetz sicherstellen. Der Gesetzesentwurf […] setzt zudem einen Anreiz für eine rasche Integration, räumt Doppelspurigkeiten zwischen den Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden aus und vereinfacht die Verfahren (TR_32_de; im Original in Fettdruck; Unterstreichungen hier A.A.). Aus Textimporten besteht schließlich die Medienmitteilung, die über die Inkraftsetzung des Bürgerrechtsgesetzes und der Bürgerrechtsverordnung Aus‐ kunft gibt (TR_31_de). Sie entspricht einer Kombination von Textausschnitten aus der Medienmitteilung TR_33_de sowie der Medienmitteilung, die über die Vernehmlassung für die Bürgerrechtsverordnung informiert (TR_30_de). Auch hier steht der Aspekt des ‚Gut-Integriert-Seins‘ im Vordergrund, der im Lead vorkommt: [13] Am 20. Juni 2014 stimmte das Parlament dem revidierten Bürgerrechtsgesetz zu. Das neue Gesetz stellt sicher, dass nur gut integrierte Ausländerinnen und Ausländer den Schweizer Pass erhalten (TR_31_de; im Original in Fettdruck; Unterstreichungen hier A.A.). Mit den Medienmitteilungen eng verbunden sind die Medienkonferenzen, die zentrale Elemente der Öffentlichkeitsarbeit der Behörden sind. Gewöhnlich finden sie jede Woche unmittelbar nach einer Bundesratssitzung statt, und zwar in dem 2006 eröffneten Medienzentrum des Bundeshauses. Medienkonferenzen des Bundesrates werden ferner an den Abstimmungssonntagen (durchschnitt‐ lich viermal pro Jahr) und bei Staatsbesuchen organisiert. Vor Ort können nur im Medienbereich tätige Personen teilnehmen. Zuerst teilen die Behördenvertreter - die Regierungsmitglieder - die Entscheidungen des Bundesrats zu einem gewissen Geschäft mit. Danach können die Journalisten das Wort ergreifen und Fragen stellen. Die Medienkonferenz, die zum Subkorpus 2 gehört, hat die Verabschiedung der Botschaft zur Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes zum Thema. Das wird in der Überschrift angekündigt, die dem Redetext (TR_20_de) vorausgeht. Dem Redetext sind überdies ein Schlagwort, das den nachfolgenden Text der thematischen Kategorie Bürgerrecht einstuft, und ein Vorspann vorangestellt, der den Inhalt der Medienkonferenz zusammenfasst. Im Vorspann werden die Ziele angegeben, die die Schweizer Regierung mit der Totalrevision des Gesetzes verfolgt. Auch in diesem Fall werden sie durch dieselben Lexeme zum Aus‐ 327 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="328"?> druck gebracht, wie sie in den anderen Vortexten (besonders den erläuternden Berichten und der Botschaft) vorkommen. Es handelt sich wieder um dieselben Schlagwörter, die positiv konnotiert sind und einen programmatischen Gehalt haben. Sie entsprechen den wiederkehrenden Argumenten, wodurch die Regie‐ rung für die eigene These (die Notwendigkeit einer Gesetzesrevision in dem Gewand, wie er vom Bundesrat vorgeschlagen wird) wirbt: [14] Bundesrätin Simonetta Sommaruga stellt das total revidierte Bürgerrechtsgesetz vor: darin sollen der Verfahrensablauf für alle Kantone einheitlich festgelegt, die Zuständigkeiten klar geregelt und die unterschiedlichen kantonalen Wohnsitzfristen harmonisiert werden. Der Gesetzesentwurf enthält neu auch klare Kriterien, anhand derer eine erfolgreiche Integration der Einbürgerungswilligen beurteilt werden kann, die ausdrückliche Voraussetzung für die Einbürgerung ist (TR_20_de; im Original in Fettdruck; Unterstreichungen hier A.A.). Zu den Topoi, die in der Konferenz hervorgehoben werden, gehören die Zeitgemäßheit, die Gerechtigkeit und die Glaubwürdigkeit. Solche Prinzipien werden mit dem neuen Gesetz in Verbindung gebracht, während der Verstoß dagegen mit der Lage vor der Revision assoziiert wird. Die Topoi werden herangezogen, um den Stand der Dinge negativ zu evaluieren und sind somit Teil der Argumentation der Regierung: [15] Ein weiteres Beispiel: Wechselt eine ausländische Person heute den Wohnkanton, so kann dies zur Folge haben, dass sie trotz langjährigem Wohnsitz in der Schweiz alleine wegen des Umzugs etliche weitere Jahre warten muss, bis sie ein Einbürge‐ rungsgesuch stellen kann. Das liegt daran, dass der bisherige Aufenthalt in einem anderen Kanton vom neuen Wohnsitzkanton nicht angerechnet wird. Das ist nicht mehr zeitgemäss. Die Menschen in der Schweiz sind heute mobiler als noch in den 50er-Jahren (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). [16] Zudem harmonisieren wir die heute unterschiedlichen kantonalen Wohnsitzf‐ risten. Gegenwärtig variieren diese Fristen von Kanton zu Kanton zwischen zwei und zwölf Jahren. Diese Rechtsungleichheit wird mit dem Gesetzesentwurf weitgehend ausgeräumt (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). [17] Dieser Zustand ist stossend. Er schadet der Glaubwürdigkeit der Einbürgerungs‐ politik und schwächt das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit des Staates (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). Nicht nur einzelne Lexeme, sondern auch ganze Textbausteine werden von anderen Texten wieder aufgenommen. Das als erstes erwähnte Beispiel, das auf die Schwäche des geltenden Rechts hinweist, stammt etwa aus dem erläuternden 328 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="329"?> 345 In beiden Beispielen stammen die Unterstreichungen von mir. Bericht TR_16_de und wird in der Rede mit leichten Veränderungen wiederge‐ geben (Tab. II.3.13): Erläuternder Bericht TR_16_de: 345 Medienkonferenz TR_20_de: [18a] So kann es nach der heutigen Re‐ gelung vorkommen, dass das zustän‐ dige Bundesamt über die Erteilung der eidgenössischen Einbürgerungsbewilligung befinden muss, obwohl der Kanton oder die Gemeinde einer Einbürgerung ablehnend gegenüber‐ stehen. Dies ist schwerfällig und nicht sinnvoll. [18b] Heute kann es zum Beispiel vor‐ kommen, dass das Bundesamt für Migration über die Erteilung einer Einbürgerungsbe‐ willigung befinden muss, obwohl der Kanton oder die Gemeinde die Einbürgerung abge‐ lehnt haben. Das kann und darf nicht sein. Tab. II.3.13: Gegenüberstellung Erläuternder Bericht vs. Medienkonferenz Da es sich bei der Konferenz um einen mündlich realisierten Text handelt, bei dem die Kommunikationsteilnehmer kopräsent sind, weist sie selbstverständ‐ lich einige der typischen Merkmale der gesprochenen Sprache auf. Dazu zählen der Bezug auf die Interaktanten und die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Rezipienten. Diese schlägt sich besonders in der Verwendung von Strategien zur Aufmerksamkeitslenkung bzw. zur Steuerung der Hörerrezeption nieder. Der Text öffnet z. B. mit der Anredeformel Sehr geehrte Damen und Herren, wodurch die Rezipienten direkt angesprochen werden. Die Formel wird gegen Ende wiederholt, wenn aus der vorangehenden Argumentation die Fäden bzw. die Schlussfolgerungen gezogen werden. Durch die direkte Ansprache wird die Aufmerksamkeit der Hörer auf das fokussiert, was danach kommt: Dabei geht es wieder um die Zentralität des Themas der Integration im Rahmen des Gesetzesvorhabens: [19] Meine Damen und Herren, nach diesen Ausführungen dürfte klar geworden sein, dass die vorliegende Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes neben der Verbesserung der Verfahren vor allem eines bringt: Wir machen damit die Einbürgerung konsequent zum letzten Schritt einer erfolgreichen Integration in unsere Gesellschaft (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). Wie in den Berichten und in der Botschaft wird hier erneut auf die Weg- Metapher zurückgegriffen, wonach sich die Einbürgerung einer Phase bzw. einem Schritt in dem Integrationsprozess einer Person gleichstellen lässt. Die Metapher tritt schon auch an vorangehenden Redestellen auf: 329 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="330"?> [20] Damit verschaffen wir dem Grundsatz Nachachtung, dass die Einbürgerung der letzte Schritt des Integrationsprozesses sein soll. Wir wollen für eine Einbürgerung die höchsten Anforderungen an die Integration stellen. Es ist daher richtig, die Niederlassungsbewilligung zur Voraussetzung zu machen - sie ist der stabilste ausländerrechtliche Status, den unser Recht kennt. Nur wer eine Niederlassungsbewilligung hat, soll künftig also um Einbürgerung ersuchen können. Wer einen anderen Status hat, ist auf dem Weg der Integration weniger weit fortgeschritten. Eine Einbürgerung kommt für ihn respektive sie noch nicht in Frage (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). Das Beharren auf der Integration als Einbürgerungsvoraussetzung knüpft an den Migrationsdiskurs an und an die Standpunkte, die dort zum Ausdruck kommen. Dadurch will die Rednerin, die Bundesministerin Simonetta Somma‐ ruga, indirekt mitteilen, dass die neuen Kriterien, die Einbürgerungswillige zu erfüllen haben, streng sind. Neben direkten Anredeformeln ist der Redetext durch die Verwendung deiktischer Personalpronomina gekennzeichnet. Um sich auf sich selbst und auf die Regierung, von der sie ein Mitglied ist und die sie vertritt, zu beziehen, alterniert die Sprecherin zwischen der Form in der dritten Person der Bundesrat und den Pronomen wir und ich. Der Ausdruck Bundesrat verleiht der Rede einen distanzierenden und offiziellen Ton. Das Pronomen wir wird sowohl exklusiv als auch inklusiv verwendet. Wir mit exklusiver Bedeutung wird besonders an den Stellen benutzt, wo die Rednerin die Tätigkeit der Regierung und deren Entscheidungen positiv darstellt und um Konsens darüber wirbt - wie es bei den Beispielen [19] und [20] der Fall ist. Wir mit inklusiver Bedeutung erscheint hingegen an den Stellen, wo gemeinsame Werte und Weltansichten angesprochen werden: [21] Das übergeordnete Ziel all dieser Massnahmen ist es aber, die Integration der ausländischen Menschen in unserem Land zu fördern. Wir alle haben ein Interesse daran, dass sich Zugezogene möglichst gut integrieren (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). Das Pronomen ich benutzt die Rednerin, wenn sie sich auf das eigene sprachliche Handeln bezieht und die Rezeption ihrer Rede steuern möchte bzw. wenn sie performative Formeln verwendet: [22] Ich gehe zuerst auf die Verfahren ein (TR_20_de; Unterstreichung A.A.). [23] Ich komme nun zu den Änderungen, die der Bundesrat dem Parlament bei den Voraussetzungen für die Einbürgerung vorschlägt (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). 330 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="331"?> [24] Ich komme zum zweiten Punkt, in dem die Voraussetzungen für die Einbürgerung ändern sollen (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). [25] Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). Ich in Verbindung mit Bewegungsverben (auf etwas eingehen, zu etwas kommen), die metaphorisch gebraucht werden, erscheint also als Gliederungselement. Zur Hörersteuerung und zur Redestrukturierung dienen überdies rhetorische Fragen und andere sprachliche Elemente wie Präpositionalphrasen (zu + Thema: Zur Prüfung der Integration) oder Adverbien (erstens). Im Beispiel [26] wird eine Frage formuliert, um eine Präzisierung einzuführen. Diese dient als Argument zur Stützung der eigenen These und wird als Beweis dafür angeführt, dass die Regeln mit dem neuen Gesetz stringenter geworden sind. Der Vorwurf einiger Gegner, das neue Gesetz sei nicht streng genug, wird dabei indirekt bzw. implizit widerlegt: [26] Was heisst das in Zahlen? In den letzten vier Jahren beispielsweise wurden im Schnitt jeweils rund 34’000 Personen eingebürgert. Davon hatten gut 4800 keine Niederlassungsbewilligung, was rund 14 Prozent entspricht. Diese Personen, die heute noch zur Einbürgerung zugelassen werden, würden nach neuem Recht nicht mehr zugelassen - oder eben erst später, falls sie eine Niederlassungsbewilligung erhalten sollten (TR_20_de; Unterstreichungen A.A.). 3.5.1.4 Voten Interaktive und verständnisfördernde Komponenten weisen natürlich auch die von unterschiedlichen Politikern gehaltenen Voten im Parlament auf. Als konzeptionell schriftliche, medial mündliche Texte haben sie sprach‐ lich vieles mit den Medienkonferenzen gemeinsam. Zu ihren linguistischen Spezifika zählt etwa ein persönlicherer Ton, der sich in der Verwendung der Personaldeixis niederschlägt. Durch personaldeiktische Pronomina nehmen die Redner Bezug auf sich selbst und / oder sie sprechen die Zuhörer an. Damit gehen gewöhnlich metakommunikative Äußerungen oder performa‐ tive Formeln einher. In der Eintretensdebatte ist es z. B. üblich, dass die Redner mithilfe von performativen Verben explizit sagen, ob es nach ihrer Meinung und nach der Ansicht der eigenen Partei angebracht ist, sich mit dem jeweiligen Geschäft zu beschäftigen. Das wird normalerweise durch standardisierte Formeln mit den Verben beantragen oder bitten in der ersten Person Singular zum Ausdruck gebracht: 331 3.5 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="332"?> [27] Ich beantrage, nicht auf das Geschäft einzutreten (TR_22a_de-Schenker; Unter‐ streichungen A.A.). [28] Ich bitte Sie im Namen der SVP-Fraktion, auf die Vorlage einzutreten. Gleichzeitig bitte ich Sie, den Rückweisungsantrag der grünen Fraktion abzulehnen. In der schrift‐ lichen Begründung sind alle Themenbereiche aufgelistet, die wir in der Kommission seit Sommer 2011 gründlich und in extenso diskutiert haben. Eine Rückweisung an den Bundesrat bringt materiell nichts. Ich bitte Sie, diesen Antrag abzulehnen (TR_22a_de- Joder; Unterstreichungen A.A.). [29] Zusammengefasst: Treten Sie auf die Vorlage ein, unterstützen Sie alle bürgerli‐ chen Minderheitsanträge, und lehnen Sie alle rot-grünen Minderheitsanträge ab. Wir werden am Schluss Bilanz ziehen und im Sinne der Schweiz entscheiden (TR_22a_de- Fehr; Unterstreichungen A.A.). [30] Die CVP/ EVP-Fraktion unterstützt die Vorlage des Bundesrates im Grundsatz. Eintreten ist für uns unbestritten. Ich bitte Sie, den Rückweisungsantrag der Grünen abzulehnen (TR_22a_de-Romano; Unterstreichungen A.A.). [31] Ich bitte Sie also, auf die Vorlage einzutreten. Die FDP-Liberale Fraktion wird im Grossen und Ganzen die Mehrheitslinie vertreten, und ich hoffe, Sie tun es auch. Ergreifen Sie diese Chance! (TR_22a_de-Müller; Unterstreichungen A.A.). In Voten werden ferner rhetorische Strategien eingesetzt, um die Argumen‐ tation zu unterstützen und die Reden persuasiver zu machen. Am häufigsten kommen die Wiederholung von Ausdrücken bzw. syntaktischen Strukturen, Parallelismen, rhetorische Fragen und metaphorische Wendungen vor sowie metakommunikative Formulierungen zur Hervorhebung bestimmter Teile. Die Anwendung solcher Strategien weisen die folgenden Beispiele gut auf: [32] In der Kommission hat ein bürgerlicher Vertreter - nein, es war kein Vertreter der SVP, das möchte ich hier klar sagen - Verschärfungen mit den Worten gerechtfertigt, man müsse aufpassen, dass "die dissuasive Wirkung dieses Gesetzes" erhalten bleibe. Es sind Wörter aus dem Mottenschrank der Armee, als ginge es darum, fremde Soldaten abzuwehren! Ist es die liberale und demokratische Gesinnung der Schweiz, dass wir Kindern, die hier aufgewachsen sind, Jugendlichen, die zusammen mit anderen Jugendlichen hier in die Schule gegangen sind, jungen Erwachsenen, die hier die Lehre machen oder studieren, so entgegentreten? Ist es die liberale und demokratische Gesinnung der Schweiz, dass wir diese jungen Menschen, die Schwei‐ zerinnen und Schweizer sind - bloss ohne Schweizer Pass -, wie Feinde behandeln, wie Angehörige einer fremden Armee, gegen die wir ein dissuasives Abwehrsystem in Form eines bürokratischen Schweizermachertums aufbauen müssen? (TR_22a_de- Glättli; Unterstreichungen A.A.). 332 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="333"?> [33] Es geht hier nicht einfach um eine Verschärfungsvorlage, wie es auch nicht ein‐ fach um eine Verweichlichungsvorlage geht. Es ist ein hart errungener Kompromiss - während Jahren errungen, muss ich sagen, wenn ich an die Rückweisungsdiskus‐ sionen in der letzten Legislatur denke -, es ist ein Kompromiss, der sich aber mit konkreten Kriterien begründen lässt (TR_22a_de-Müller; Unterstreichungen A.A.). Natürlich sind die Reden durch starke intertextuelle Komponenten gekenn‐ zeichnet. Im Mittelpunkt der Voten steht selbstverständlich in erster Linie die Revision eines anderen Textes, nämlich des Bürgerrechtsgesetzes. Darauf wird ständig Bezug genommen. Ferner sind Verweise auf die Beiträge anderer Spre‐ cher, die an demselben Tag gehalten wurden, oder auf andere vorangegangene Diskussionen nicht unüblich. Die Voten sind in den politischen Diskurs über Migration und Einbürgerung eingebettet und stellen zugleich einen Beitrag zur Debatte dar: [34] Ich bin relativ sicher, dass in dieser Debatte wieder Dinge angesprochen werden, die nichts, aber auch gar nichts mit dieser Frage und mit dieser Vorlage zu tun haben (TR_22a_de-Schenker; Unterstreichungen A.A.). [35] Mein Kollege hat bereits ausgeführt, was für uns die wesentlichen Revisions‐ punkte sind; ich wiederhole sie nicht. Aber ich bitte Sie zu beachten, dass die Schweiz in Bezug auf Einbürgerungen bereits heute "Europameisterin" ist; das sehen Sie, wenn Sie die Anzahl der Einbürgerungen mit der Einwohnerzahl vergleichen. Wir wollen die Messlatte hoch ansetzen, und wir wollen, dass auch der Einzelfall genau angeschaut wird. Es ist für die Gemeinde wichtig, dass sie die nötigen Rechte hat (TR_22a_de-Fehr; Unterstreichungen A.A.). 3.6 Textfamilien und Textfelder Wie beim Subkorpus 1 (vgl. II.2.4.2) lässt sich auch mit Blick auf Subkorpus 2 feststellen, dass die Korpustexte häufig unterschiedlichen Materialisierungen derselben virtuellen Texteinheiten entsprechen. Wir haben es hier zu tun mit einem bestimmten semantischen Material, das in den verschiedenen Kor‐ pustexten Form annimmt. Zentrale bzw. ‚Spendertexte‘ sind dabei besonders der Vorentwurf zum Bürgerrechtsgesetz (TR_10_de) und der darauf bezogene erläuternde Bericht von 2009 (TR_16_de). Von diesen Texten her ‚migrieren‘ sozusagen Textteile, die in den anderen Texten übernommen werden (Abb. II.3.5): 333 3.6 Textfamilien und Textfelder <?page no="334"?> 346 Alle Hervorhebungen der nachfolgenden Tabellen stammen von mir. Abb. II.3.5: Migrationsprozesse von Textteilen im Subkorpus 2 Wie die obigen Ausführungen zu den einzelnen Textsorten zum Teil schon gezeigt haben, ‚gehen bei diesem Migrationsprozess einige Elemente verloren‘. D.h. in den ‚Empfängertexten‘ werden einige Bestandteile ausgelassen oder in leicht veränderter Form (z. B. mit einer anderen syntaktischen Reihenfolge) wiedergegeben. In anderen Fällen werden die Textteile ergänzt bzw. ausgebaut (vgl. etwa die Botschaft TR_4_de, die einer Erweiterung des Berichts von 2009 entspricht). Die unterschiedlichen Texte handeln über denselben Gegen‐ stand (mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen), sie enthalten z.T. auch dieselben Propositionen, Lexeme, Redewendungen, syntaktischen Strukturen oder rhetorischen Strategien. Sie bilden also Textfamilien. Ein gutes Beispiel dafür stellt - wie oben schon ersichtlich - die Erwähnung der formellen und materiellen Einbürgerungsvoraussetzungen dar. Diese können als in‐ haltlicher Kern einer Textfamilie angesehen werden. Der Kern erscheint in unterschiedlichen Korpustexten. Er kommt in erster Linie in den verschiedenen Versionen des neuen Gesetzes (Art. 9, 11 und 12) vor (Tab. II.3.14): 346 334 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="335"?> Vorentwurf 2009 TR_10 Entwurf-Botschaft 2011 TR_9 Verabschiedete Version 2016 TR_8 Art. 9 Formelle Voraussetzungen Die Erteilung der Einbürgerungsbewilli‐ gung des Bundes erfordert, dass die Bewer‐ berin oder der Bewerber bei der Gesuchstel‐ lung: a. eine Niederlassungsbewilligung be‐ sitzt, und b. einen Aufenthalt von insgesamt acht Jahren in der Schweiz nachweist, wovon ein Jahr unmittelbar vor Einreichung des Gesuchs. Art. 9 Formelle Voraussetzungen 1 Der Bund erteilt die Einbürgerungsbewil‐ ligung nur, wenn die Bewerberin oder der Bewerber: a. bei der Gesuchstellung eine Niederlas‐ sungsbewilligung besitzt; und b. bei der Gesuchstellung einen Aufenthalt von insgesamt acht Jahren in der Schweiz nachweist, wovon ein Jahr unmittelbar vor Einreichung des Gesuchs. 2 Für die Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Absatz 1 Buchstabe b wird die Zeit, während welcher die Bewerberin oder der Bewerber zwischen dem vollendeten 10. und 20. Lebensjahr in der Schweiz gelebt hat, doppelt gerechnet. Der tatsächliche Aufenthalt hat jedoch mindestens sechs Jahre zu betragen. Art. 9 Formelle Voraussetzungen 1 Der Bund erteilt die Einbürgerungsbewil‐ ligung nur, wenn die Bewerberin oder der Bewerber: a. bei der Gesuchstellung eine Niederlas‐ sungsbewilligung besitzt; und b. bei der Gesuchstellung einen Aufenthalt von insgesamt zehn Jahren in der Schweiz nachweist, wovon drei in den letzten fünf Jahren vor Einreichung des Gesuchs. 2 Für die Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Absatz 1 Buchstabe b wird die Zeit, während welcher die Bewerberin oder der Bewerber zwischen dem vollendeten 8. und 18. Lebensjahr in der Schweiz gelebt hat, doppelt gerechnet. Der tatsächliche Aufent‐ halt hat jedoch mindestens sechs Jahre zu betragen. Art. 11 Materielle Voraussetzungen Die Erteilung der Einbürgerungsbewilli‐ gung des Bundes erfordert, dass die Bewer‐ berin oder der Bewerber: a. erfolgreich integriert ist; b. mit den schweizerischen Lebensverhält‐ nissen vertraut ist; c. keine Gefährdung der inneren oder äus‐ seren Sicherheit der Schweiz darstellt. Art. 11 Materielle Voraussetzungen Die Erteilung der Einbürgerungsbewilli‐ gung des Bundes erfordert, dass die Bewer‐ berin oder der Bewerber: a. erfolgreich integriert ist; b. mit den schweizerischen Lebensverhält‐ nissen vertraut ist; und c. keine Gefährdung der inneren oder äus‐ seren Sicherheit der Schweiz darstellt. Art. 11 Materielle Voraussetzungen Die Erteilung der Einbürgerungsbewilli‐ gung des Bundes erfordert, dass die Bewer‐ berin oder der Bewerber: a. erfolgreich integriert ist; b. mit den schweizerischen Lebensverhält‐ nissen vertraut ist; und c. keine Gefährdung der inneren oder äus‐ seren Sicherheit der Schweiz darstellt. 335 3.6 Textfamilien und Textfelder <?page no="336"?> Art. 12 Integrationskriterien 1 Eine erfolgreiche Integration zeigt sich insbesondere: a. im Beachten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; b. in der Respektierung der grundlegenden Prinzipien der Bundesverfassung; c. in der Fähigkeit, sich in einer Landes‐ sprache zu verständigen, und d. im Willen zur Teilnahme am Wirtschafts‐ leben oder zum Erwerb von Bildung. 2 Der Situation von Personen, welche die Integrationskriterien von Absatz 1 Buch‐ stabe c und d aus psychischen oder physi‐ schen Gründen nicht erfüllen können, ist angemessen Rechnung zu tragen. Art. 12 Integrationskriterien 1 Eine erfolgreiche Integration zeigt sich insbesondere: a. im Beachten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; b. in der Respektierung der Werte der Bun‐ desverfassung; c. in der Fähigkeit, sich in einer Landes‐ sprache zu verständigen; und d. im Willen zur Teilnahme am Wirtschafts‐ leben oder zum Erwerb von Bildung. 2 Der Situation von Personen, welche die Integrationskriterien von Absatz 1 Buch‐ stabe c und d aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder aufgrund einer chronischen Krankheit nicht oder nur unter erschwerten Bedin‐ gungen erfüllen können, ist angemessen Rechnung zu tragen. Art. 12 Integrationskriterien 1 Eine erfolgreiche Integration zeigt sich insbesondere: a. im Beachten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; b. in der Respektierung der Werte der Bun‐ desverfassung; c. in der Fähigkeit, sich im Alltag in Wort und Schrift in einer Landessprache zu ver‐ ständigen; d. in der Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung; und e. in der Förderung und Unterstützung der Integration der Ehefrau oder des Ehe‐ mannes, der eingetragenen Partnerin oder des eingetragenen Partners oder der min‐ derjährigen Kinder, über welche die elter‐ liche Sorge ausgeübt wird. 2 Der Situation von Personen, welche die Integrationskriterien von Absatz 1 Buch‐ staben c und d aufgrund einer Behinde‐ rung oder Krankheit oder anderen gewich‐ tigen persönlichen Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen er‐ füllen können, ist angemessen Rechnung zu tragen. 3 Die Kantone können weitere Integrati‐ onskriterien vorsehen. Tab. II.3.14: Textfamilie im Subkorpus 2: Einbürgerungsvoraussetzungen in den Normtexten 336 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="337"?> Die drei Entwürfe weisen im Großen und Ganzen denselben Wortlaut auf und sind also sprachlich gleich. Die neueren Versionen sind in einigen Fällen präziser, in anderen vager. Man vergleiche z. B. die Wiederholung der Adver‐ bialphrase bei der Gesuchstellung in TR_9 und TR_8; oder das Syntagma aus psychischen oder physischen Gründen, das zuerst mit aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder aufgrund einer chronischen Krank‐ heit nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen und dann mit aufgrund einer Behinderung oder Krankheit oder anderen gewichtigen persönlichen Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen reformuliert wird, wobei die letzte Version zwar stilistisch besser, aber auch semantisch offener ist als die zweite. Gelegentlich sind die Änderungen materieller Art und sind das Ergebnis der parlamentarischen Verhandlungen und der Suche nach Kompromisslösungen: ein Jahr unmittelbar vs. drei in den letzten fünf Jahren; zwischen dem vollendeten 10. und 20. Lebensjahr vs. zwischen dem vollendeten 8. und 18. Lebensjahr oder im Willen zur Teilnahme vs. in der Teilnahme. Manchmal werden die neueren Artikel durch weitere Bestimmungen ergänzt (vgl. TR_8_de). In den Artikeln 11 und 12 ist der Integrationsbegriff zentral. Das lexikalische Morphem integr erscheint dabei sowohl als Partizipialadjektiv in prädikativer Funktion: erfolgreich integriert (Art. 11) als auch als Substantiv in einer Nominalphrase: er‐ folgreiche Integration (Art. 12) sowie als Bestimmungswort eines Kompositums: Integrationskriterien (Art. 12). Die formellen und materiellen Voraussetzungen zur Einbürgerung werden in den Nachtexten aufgenommen. Einige Beispiele dafür sind in den folgenden Tabellen (Tab. II.3.15 und Tab. II.3.16) nebeneinandergestellt: 337 3.6 Textfamilien und Textfelder <?page no="338"?> Erläuternder Bericht TR_16 Presserohstoff TR_19 Medienmitteilung TR_32 Hypertext TR_29 Mit Blick auf die Herstellung einer weitgehenden Kohärenz zwischen Bürger- und Auslän‐ derrecht sind auch die for‐ mellen Voraussetzungen zum Bürgerrechtsverfahren neu zu regeln. Auszugehen ist dabei vom Grundsatz, dass das Bür‐ gerrecht als letzter Integ‐ rationsschritt die höchsten Anforderungen an die Integra‐ tion stellen darf. Folgerichtig wird daher für die Einbürge‐ rung der stabilste ausländer‐ rechtliche Status, das heisst die Niederlassungsbewilligung (Ausweis C), vorausgesetzt […]. Die Erteilung der Einbürge‐ rungsbewilligung des Bundes setzt voraus, dass die gesuchs‐ tellende Person eine Nieder‐ lassungsbewilligung besitzt und einen Aufenthalt von ins‐ gesamt acht Jahren in der Schweiz nachweisen kann, wovon ein Jahr unmittelbar vor Einreichung des Gesuches. Mit Blick auf die Herstel‐ lung der Kohärenz zwischen Bürger- und Ausländerrecht sind auch die formellen Voraus‐ setzungen zum Bürgerrechts‐ verfahren neu zu regeln. Auszu‐ gehen ist dabei vom Grundsatz, dass das Bürgerrecht als letzter Integrationsschritt die höchsten Anforderungen an die Integration stellen darf. Folgerichtig wird daher für die Einbürgerung eine Niederlas‐ sungsbewilligung (Ausweis C), [sic] vorausgesetzt. Nur erfolgreich integrierte Ausländerinnen und Ausländer erhalten das Schweizer Bürger‐ recht: Gemäss Gesetzesentwurf können künftig nur noch Aus‐ länderinnen und Ausländer um Einbürgerung ersuchen, die be‐ reits eine Niederlassungsbewil‐ ligung, einen so genannten "Ausweis C", erlangt haben. Das revidierte Bürgerrechts‐ gesetz sieht vor, dass einge‐ bürgert werden kann, wer über eine Niederlassungsbewil‐ ligung verfügt, seit mindestens zehn Jahren in der Schweiz lebt und in der Schweiz integriert ist. Tab. II.3.15: Textfamilie im Subkorpus 2: Einbürgerungsvoraussetzungen in den Sekundärtexten 338 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="339"?> Erläuternder Bericht TR_16 Presserohstoff TR_19 Medienmitteilung TR_32 Hypertext TR_29 Materielle Voraussetzungen für die Erteilung der Einbürgerungsbewilli‐ gung des Bundes sind eine erfolg‐ reiche Integration (Bst. a), das Ver‐ trautsein mit den schweizerischen Lebensverhältnissen (Bst. b) sowie keine Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz durch die Antragstellerin oder den Antragsteller (Bst. c) […]. Eine erfolgreiche Integration zeigt sich gemäss Artikel 12 insbesondere im Beachten der öffentlichen Sicher‐ heit und Ordnung, in der Respektie‐ rung der grundlegenden Prinzipien der Bundesverfassung, in der Fähig‐ keit, sich in einer Landessprache zu verständigen und im Willen zur Teil‐ nahme am Wirtschaftsleben oder dem Erwerb von Bildung. Im neuen Bürgerrechtsgesetz soll zugunsten einer einheit‐ licheren Begriffsverwendung der Integrationsbegriff des Ausländerrechts weitgehend übernommen werden. Er‐ folgreich integriert ist dem‐ zufolge, wer die öffentliche Sicherheit und Ordnung be‐ achtet, die grundlegenden Prinzipien der Bundesverfas‐ sung respektiert, fähig ist, sich in einer Landessprache zu verständigen und den Willen zur Teilnahme am Wirtschaftsleben oder zum Erwerb von Bildung erbringt. Sie [die Ausländer] müssen zudem eine Reihe weiterer klarer Voraussetzungen er‐ füllen, die das Gesetz nennt, namentlich die Respektie‐ rung der Werte der Bundes‐ verfassung, die Fähigkeit, sich in einer Landessprache zu verständigen, oder den Willen zur Teilnahme am Wirtschaftsleben oder zum Erwerb von Bildung. Als integriert gilt, wer Sprachkenntnisse in einer Landessprache ausweist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die Werte der Bundesverfassung be‐ achtet, am Wirtschaftsleben teilnimmt und sich um die In‐ tegration seiner Familie küm‐ mert. Zudem müssen einbür‐ gerungswillige Personen mit den schweizerischen Lebens‐ verhältnissen vertraut sein und dürfen die innere und äus‐ sere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden. Tab. II.3.16: Textfamilie im Subkorpus 2: Einbürgerungsvoraussetzungen in den Sekundärtexten 339 3.6 Textfamilien und Textfelder <?page no="340"?> Der erläuternde Bericht (TR_16_de) ist (selbstverständlich, da er behördenintern ist) am ausführlichsten und nimmt den Wortlaut des Gesetzestextes nur mit kleinen sprachlichen Veränderungen wieder auf. Was Art. 9 angeht, wird z. B. das Verb erfordern durch voraussetzen ersetzt: Die Erteilung der Einbürgerungs‐ bewilligung des Bundes erfordert vs. Die Erteilung der Einbürgerungsbewilligung des Bundes setzt voraus. Bei der Personenreferenz tritt ein geschlechtsabstrakter Ausdruck die gesuchstellende Person auf anstatt der Doppelform des Ausgangs‐ textes die Bewerberin oder der Bewerber. Den graphischen Stil des Gesetzes mit Aufzählungsbuchstaben übernimmt der Bericht nicht. Der Verbalstil im Art. 11 wird im Zieltext in einen nominalen umgewandelt: erfolgreich integriert vs. erfolgreiche Integration; vertraut ist vs. das Vertrautsein. Der Art. 12 wird praktisch unverändert aufgegriffen. Der Presserohstoff (TR_19_de) nimmt Teile des Berichts (TR_16_de) wieder auf. Dort steht allerdings bei den formellen Voraussetzungen nur die Niederlas‐ sungsbewilligung, die Angabe zur Aufenthaltsdauer (vgl. Art. 9 Buchstabe b.) entfällt. Was die materiellen Voraussetzungen betrifft, wird lediglich die Erläu‐ terung des Begriffs erfolgreiche Integration übernommen. Im Unterschied zum Bericht haben wir hier eine Umsetzung des nominalen Stils des Ausgangstextes in verbalen Stil im Zieltext. Dabei wird ein Relativsatz mit dem unbestimmten Relativpronomen wer benutzt: im Beachten vs. wer … beachtet; in der Respektie‐ rung vs. wer … respektiert; in der Fähigkeit vs. wer fähig ist; im Willen zur vs. wer den Willen … erbringt. In der Medienmitteilung (TR_32_de) werden sowohl die formellen als auch die materiellen Voraussetzungen dem Begriff der erfolgreichen Integration (nur erfolgreich integrierte Ausländerinnen und Ausländer) subsumiert. Statt von Bewerber oder gesuchstellender Person - beide Ausdrücke fokussieren das bürokratische Verfahren, das zur Einbürgerung führt - ist hier von den eigent‐ lichen Betroffenen die Rede, nämlich den Ausländern. Bei den materiellen Be‐ dingungen wird nur eine Auswahl davon erwähnt, wobei die Nominalausdrücke des Ausgangstextes (Respektierung, Fähigkeit, Willen) unverändert übernommen werden. Der für das Gesetz typische Indikativ Präsens mit präskriptiver Bedeu‐ tung (zeigt sich) wird durch ein Modalverb mit deontischer Bedeutung (Sie müssen … erfüllen) ersetzt. Im Hypertext, der über die Revision des Bürgerrechtsgesetzes Auskunft gibt (TR_29_de), werden die drei Gesetzesartikel zu den Einbürgerungsbedingungen in einem einzigen Abschnitt zusammengefasst. Die formellen Voraussetzungen und die materielle Voraussetzung der erfolgreichen Integration werden in einem einzigen, durch das Pronomen wer eingeführten Relativsatz gebündelt. Bei den formellen Voraussetzungen fällt die Präzisierung aus, dass man sich in den 340 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="341"?> fünf Jahren vor der Einbürgerung drei Jahre in der Schweiz aufgehalten haben muss, um ein Gesuch einreichen zu dürfen. Auch die Integrationskriterien werden mittels eines unpersönlichen Relativsatzes mit wer versprachlicht. Das erinnert an die Formulierung, die im Presserohstoff anzutreffen ist. Interessant ist, dass die Qualifizierung erfolgreich, die den Begriff Integration spezifiziert, im Hypertext fehlt. Zu bemerken ist ferner, dass das Integrationskriterium der Sprachkenntnisse als erstes angegeben wird. Die Respektierung der Werte der Bundesverfassung findet nicht Erwähnung. Stattdessen erscheint das Kriterium der Förderung der Integration der Familienmitglieder, das der letzten, verab‐ schiedeten Fassung des Gesetzes hinzugefügt wurde. Am Ende des Abschnittes werden die anderen zwei materiellen Voraussetzungen im Verbalstil in Verbin‐ dung mit dem Modalverb müssen und der entsprechenden Negation nicht dürfen (müssen … vertraut sein; dürfen … nicht gefährden) erwähnt, die den Buchstaben b. und c. des Artikels 11 entsprechen. Statt von Ausländern wird hier wieder von einbürgerungswilligen Personen gesprochen. Die Einbürgerungsvoraussetzungen stehen selbstverständlich im Zentrum auch der von der zuständigen Bundesministerin gehaltenen Reden (Tab. II.3.17): 341 3.6 Textfamilien und Textfelder <?page no="342"?> Medienkonferenz TR_20 Votum im Nationalrat TR_22a Votum im Ständerat TR_25a Erstens: Um eine Einbürgerung ersuchen kann künftig nur noch, wer bereits eine Niederlassungsbewilligung besitzt, also den so genannten „Ausweis C“. Der Gesetzentwurf macht daher die erfolg‐ reiche Integration zur Voraussetzung und nennt hier klare Kriterien. Die Ge‐ suchsteller sind erfolgreich integriert, wenn sie mit den schweizerischen Lebens‐ verhältnissen vertraut sind, keine Gefähr‐ dung der inneren oder äusseren Sicherheit darstellen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung beachten, die Werte der Bundes‐ verfassung respektieren, über Kenntnisse einer Landessprache verfügen und den Willen zur Teilnahme am Wirtschaftsleben oder zum Erwerb von Bildung zeigen. Um der Forderung nach einer guten In‐ tegration Nachachtung zu verschaffen, verlangen wir in Zukunft die Niederlas‐ sungsbewilligung als Voraussetzung, um ein Einbürgerungsgesuch zu stellen. Um der Voraussetzung der erfolgreichen Integration Nachachtung zu verschaffen, möchte der Bundesrat zukünftig verlangen, dass nur noch Ausländerinnen und Aus‐ länder, die bereits eine Niederlassungsbe‐ willigung haben, ein Einbürgerungsgesuch stellen können. Der Gesetzesentwurf macht neben der Nie‐ derlassungsbewilligung ausdrücklich die erfolgreiche Integration zur Vorausset‐ zung für eine Einbürgerung. Und er nennt sechs klare Kriterien: Einbürgerungswillige gelten nur dann als erfolgreich integriert, wenn sie • erstens mit den schweizerischen Le‐ bensverhältnissen vertraut sind; • wenn sie zweitens keine Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz darstellen; • wenn sie drittens die Öffentliche Sicher‐ heit und Ordnung beachten; • viertens die Werte der • Bundesverfassung respektieren; • wenn sie fünftens über Kenntnisse einer Landessprache verfügen • sowie, sechstens, über den Willen zur Teilnahme am Wirtschaftsleben oder dem Erwerb von Bildung verfügen. 342 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="343"?> Wir machen damit die Einbürgerung kon‐ sequent zum letzten Schritt einer er‐ folgreichen Integration in unsere Gesell‐ schaft. Damit soll die Einbürgerung eigentlich die letzte Stufe einer konsequenten und erfolgreichen Integration sein. Tab. II.3.17: Textfamilie im Subkorpus 2: Einbürgerungsvoraussetzungen in den mündlichen Sekundärtexten 343 3.6 Textfamilien und Textfelder <?page no="344"?> In der Medienkonferenz (TR_20_de) und im Votum beim Nationalrat (TR_22a_de) finden beide Voraussetzungstypen Erwähnung. Auch in diesem Fall werden sowohl die materiellen Voraussetzungen als auch die Integrationskriterien dem Begriff der erfolgreichen Integration untergeordnet, obwohl die Behandlung beider Aspekte im Gesetz getrennt erfolgt (Art. 11 bzw. 12). Im Unterschied zum Gesetz wird in den Reden wieder ein Verbalstil bevorzugt, der übrigens typisch für die gesprochene Sprache ist. Die verschiedenen Bestandteile, die eine erfolgreiche Integration aus‐ machen, werden in der Konferenz durch Aufzählungsadverbien strukturiert (erstens, zweitens …). Diese gelten als Gliederungssignale zur Steuerung der Hörerrezeption. Um die Betroffenen zu bezeichnen, wird in der die Medien andressierenden Rede ein geschlechtsneutraler Ausdruck, ein substantiviertes Adjektiv (Einbürgerungswillige) benutzt, während im Votum interessanterweise ein generisches Maskulinum (Die Gesuchsteller) vorkommt. In der Medienkonferenz und in der Rede im Ständerat (TR_25a_de) kommt schließlich die Weg-Metapher wieder auf, wobei sie in der Parlamentsrede eine Variante (Stufe statt Schritt) enthält. In allen oben behandelten Beispielen werden vom Gesetz immer nur die Inhalte übernommen, die die Mehrheit der Betroffenen interessieren könnten. Alle Informationen, die Ausnahmefälle (etwa Jugendliche zwischen dem 8. und 18. Lebensjahr oder Personen mit Behinderungen) betreffen, werden in den Nachtexten (mit Ausnahme vom Bericht) ausgelassen. Neben Textfamilien bilden die Korpustexte häufig Textfelder, also thema‐ tisch-funktional austauschbare Texte (vgl. I.2.2). Ein gutes Beispiel dafür stellen die Texte dar, die produziert werden, um über die Verabschiedung der Botschaft zur Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes zu informieren (die Medienkonfe‐ renz, die auf der von der dafür verantwortlichen Bundesrätin gehaltenen Rede beruht (TR_20_de) und eine Medienmitteilung (TR_32_de), vgl. Abb. II.3.6): Abb. II.3.6: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes: Textfeld 344 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="345"?> Die Medienkonferenz und die Medienmitteilung entsprechen zwei verschie‐ denen Kommunikationsarten. Sie stammen aber von demselben Textprodu‐ zenten und richten sich an dieselben Adressaten. Gemeinsam haben sie dieselbe informative Funktion und sie teilen auch teilweise den Wortlaut. Darunter können Textrezipienten auswählen, wenn sie sich über die Tätigkeiten der Schweizer Behörden Kenntnis verschaffen möchten. Die Korpustexte, aus denen das Subkorpus 2 besteht, hängen thematisch zusammen. Ihr Fokus liegt auf der Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes. Bei genauerem Hinsehen weisen die Texte verschiedene Textrelationen auf. Diese sind vielschichtig und je nach der Perspektive, die man einnimmt, können sie unterschiedlich sein. Neben den anfangs vorgestellten syntagmatischen Relationen, die auf einer abstrakteren Ebene angesiedelt, funktional bestimmt sind und sich auf der zeitlichen Achse entwickeln, lassen sich auf niedrigeren Abstraktionsebenen auch paradigmatische Beziehungen identifizieren. Texte können etwa in Hinblick auf die Kombination textexterner Dimensionen (Funk‐ tion, Rezipient) verschieden miteinander verbunden sein. Betrachtet man dann die Ebene der sprachlichen Gestalt, kommen weitere engere Relationen zwi‐ schen Texten zutage (etwa das Teilen von Textabschnitten als Versatzstücken). Alle Texte und alle Relationen kann man schließlich auch gleichzeitig in den Blick nehmen. Daraus ergibt sich eine komplexe Netzstruktur. 3.7 Vergleich mit den italienischen Versionen Wie bereits mit Bezug auf das Subkorpus 1 angeführt, handelt es sich bei den italienischen föderalen Korpustexten um Übersetzungen der entsprechenden deutschen Versionen. Die folgende Tabelle (II.3.18) bietet einen Überblick über die Textüberschriften im Italienischen: Abkürzung Textüberschrift TR_1_it Rapporto dell’Ufficio federale della migrazione sulle questioni aperte nel settore della cittadinanza TR_2_it Valutazione dei risultati della procedura di consultazione relativa alla revisione totale della legge sulla cittadinanza TR_3_it Riassunto del Rapporto dell’Ufficio federale della migrazione sulle questioni aperte nel settore della cittadinanza TR_4_it Messaggio concernente la revisione totale della legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) 345 3.7 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="346"?> TR_5_it Ordinanza sulla cittadinanza svizzera (Ordinanza sulla cittadinanza, OCit) TR_6_it Legge federale sull’acquisto e la perdita della cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) - (Prolungamento del termine di annullamento) - Modifica del 25 settembre 2009 TR_7_it Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) TR_8_it Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) TR_9_it Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) - Disegno TR_10_it Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) - Avamprogetto TR_11_it Ordinanza sulla cittadinanza svizzera (Ordinanza sulla cittadinanza, OCit) TR_12_it Revisione totale della legge sulla cittadinanza - Avvio della procedura di consultazione TR_13_it Revisione totale della legge sulla cittadinanza - Avvio della procedura di consultazione TR_14_it Rapporto esplicativo - Disegno di ordinanza sulla cittadinanza sviz‐ zera TR_15_it Rapporto esplicativo - Avamprogetto di ordinanza sulla cittadinanza svizzera TR_16_it Rapporto esplicativo concernente la revisione totale della Legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) TR_17_it Revisione della legge sulla cittadinanza (LCit) - Procedura di consul‐ tazione - Questionario TR_18_it Domande e risposte relative alla revisione della legge sulla cittadi‐ nanza TR_19_it Documentazione per la stampa - Apertura della procedura di consul‐ tazione concernente la revisione totale della legge sulla cittadinanza TR_20_it Adottato il messaggio per la revisione totale della legge sulla cittadi‐ nanza - Conferenza stampa del 4 marzo 2011 TR_21_it Naturalizzazione - Proposte e raccomandazioni per una normativa in materia di naturalizzazioni al passo con i tempi TR_22a_de Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch TR_22b_de Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch 346 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="347"?> TR_23_it 11.022 Oggetto del Consiglio Federale - Legge sulla cittadinanza. Revisione totale TR_24 Auf Italienisch nicht verfügbar TR_25a_de Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch TR_25b_de Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch TR_25c_de Die Beiträge der Abgeordneten sind auf Deutsch oder Französisch TR_26_it Rapporto sui risultati della procedura di consultazione - Disposizioni esecutive riguardanti la riveduta legge sulla cittadinanza TR_27_it Ordinanza sulla cittadinanza svizzera (Ordinanza sulla cittadinanza, OCit) TR_28_it Domande relative al nuovo diritto (presentazione delle richieste di naturalizzazione a partire dal 1.1.2018) TR_29_it Revisione totale della legge federale sulla cittadinanza svizzera (Legge sulla cittadinanza, LCit) TR_30_it In consultazione l’ordinanza sulla cittadinanza TR_31_it La nuova legge sulla cittadinanza entra in vigore il 1° gennaio 2018 TR_32_it Revisione totale della legge sulla cittadinanza: adottato il messaggio TR_33_it Revisione totale della legge sulla cittadinanza: aperta la consultazione Tab. II.3.18: Korpustexte des Subkorpus 2: Italienisch Es ist zunächst zu bemerken, dass die italienische Version der Texte in ein paar Fällen fehlt. Dies entspricht grundsätzlich einem Verstoß gegen das Gleichstellungsprinzip zwischen den Sprachen (vgl. dazu auch II.2.5). Allerdings lässt dies sich dadurch erklären, dass es sich dabei überwiegend um Texte handelt, die Wortprotokolle mündlich realisierter Texte sind (Rede einer Medienkonferenz, TR_20; Beiträge im Parlament, TR_22a+b und TR_25a+b+c). Dem Prinzip der sprachlichen Autonomie entsprechend dürfen sich die Behördenmitarbeiter bei öffentlichen Anlässen in der Amtssprache ihrer Wahl ausdrücken (vgl. I.3.4.2.1). Die meisten Mitarbeiter entscheiden sich in den betreffenden Korpustexten für die Mehrheitssprachen (Deutsch, Französisch). Damit stellen sie es sicher, von einem größeren Publikum ver‐ standen zu werden. Die entsprechenden Schriftfassungen ihrer mündlichen 347 3.7 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="348"?> 347 Allerdings ist es zu betonen, dass manchmal italienischsprachige Redner am Anfang ihrer Beiträge auf Italienisch sprechen. Sie gehen aber ziemlich früh zu einer der Mehrheitssprachen über. Beiträge behalten folglich diese Sprachen bei. 347 Zu den Texten, für die keine italienische Fassung vorliegt, zählen ferner die Berichte, die die Ergebnisse der Vernehmlassungsverfahren sammeln (TR_2 und TR_26). Diese stellen einen besonderen Fall dar. Tatsächlich ist auch eine italienische Version dafür verfügbar. Dabei sind aber nur die Paratexte auf Italienisch (Titel und Zwischentitel; Introduzione und Conclusione). Der Haupttext ist überwiegend auf Deutsch oder Französisch. Dies geht darauf zurück, dass es sich dabei um die Wiedergabe der Stellungnahmen der Vernehmlassungsteilnehmer handelt. Diese äußern sich über die Gesetzesentwürfe in den meisten Fällen entweder auf Deutsch oder auf Französisch. Die anderen Berichte (erläuternde Berichte, Botschaft) erscheinen im Bundesblatt und stellen amtliche Texte im engeren Sinne dar. Sie werden daher systematisch ins Italienische übersetzt und mit großer Sorgfalt redi‐ giert. Die italienische Sprache ist hier gepflegt, höchst formell und durch ein hohes Register gekennzeichnet. Syntaktisch weisen die Berichte den Gebrauch von Passivkonstruktionen und anderen unpersönlichen Strukturen auf. In Bezug auf die Wortwahl werden formelle, bildungssprachliche Varianten in der Regel bevorzugt (computo, d’uopo, entrare in linea di conto, prosieguo, siffatti, suesposto) und man benutzt fachliche Inhalts- und Funktionswörter der Rechts- und Verwaltungssprache (accoglimento della mozione, aliquote, apolidia, casellario giudiziale, emanazione delle decisioni, emolumenti, fattispecie giuridicamente rilevante, formulare una riserva, inden‐ nizzo dell’eventuale onere, impugnare, istituto, nulla osta, pronunciamento; avverso als Präp., fatta salva, onde, segnatamente). Was die Referenz auf Personen angeht, werden Ausdrücke im generischen Maskulinum gebraucht. Dies steht im Gegensatz zum Deutschen, bei dem zwischen verschiedenen Strategien alterniert wird, wobei man besonders Doppelformen den Vorzug gibt. Gelegentlich wird das geschlechtsabstrakte Wort persone (Pluralform von persona) verwendet. Auch in den Berichten ist der Personenbezug im Allgemeinen der Bereich, an dem Unterschiede zwischen den zwei Sprachen am deutlichsten erkennbar werden (vgl. I.3.4.2.2 und II.2.5). Dies trifft auch auf die Referenz auf den Textproduzenten in den Botschaften zu. Dazu gibt es im Deutschen und im Italienischen gegensätzliche Sprachnormen, die in den Botschaftsleitfäden niedergelegt sind. Während das Deutsche von der Verwendung des Pronomens wir abrät, schlägt das Italienische die erste Person Plural vor, wenn es darum geht, vom Textemittenten bzw. vom 348 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="349"?> Bundesrat zu sprechen. Dabei ist das Argument besonders interessant, das die beiden Sprachen heranziehen, um die eigene Position zu stützen. Während es im Deutschen heißt, dass man die dritte Person Singular verwenden soll, weil Botschaften formal keine Absender und Adressaten hätten, steht im Italienischen gerade das Gegenteil. Man vergleiche: Botschaften kennen formal weder Absender noch Adressatinnen und Adressaten. Dem ist sprachlich Rechnung zu tragen: Der Bundesrat spricht von sich nicht in der ersten Person Plural ‚wir‘, sondern - wenn überhaupt - in der dritten Person Singular ‚der Bundesrat‘. Die Parlamentsmitglieder werden nicht angesprochen, weder mit ‚Sie‘ noch mit ‚Ihnen‘. Allenfalls werden sie als ‚die Bundesversammlung‘, ‚das Parlament‘ oder ‚die eidgenössischen Räte‘ in der dritten Person bezeichnet. Diese Regelung gilt nicht für den ‚Brief ‘ (Botschaftsleitfaden 2012: 63; Hervorhe‐ bungen im Original gelöscht; Unterstreichungen A.A.). Come già rilevato (pag. 6) il messaggio è un testo con cui il Consiglio federale presenta un disegno di atto normativo all’Assemblea federale. Vi è dunque un mittente e un destinatario. Nella stesura del messaggio vero e proprio non bisogna mai dimenticare tale natura epistolare del testo, ossia il fatto che vi è un mittente (il Consiglio federale) che parla di sé in prima persona (‚noi‘, ‚il nostro Collegio‘, ‚il nostro Consiglio‘) e un destinatario (‚le vostre Camere‘). Di conseguenza, il Collegio governativo non parlerà mai di sé alla terza persona, a meno che il contesto non lo esiga per motivi di chiarezza, ad esempio quando si riferisce di eventi storici che hanno coinvolto il Governo di un’epoca remota oppure quando si discorre del Consiglio federale in quanto istituzione (in abstracto) e non come l’effettivo autore del testo in questione (Guida messaggi 2013: 61; Kursiv im Original; Unterstreichungen A.A.). Diese sprachliche Norm findet in der Botschaft des Subkorpus 2 (TR_4) syste‐ matisch Anwendung. Man vergleiche z.B.: TR_4_de TR_4_it [36] In seinem Beschluss zum Bericht über hängige Fragen des Bürgerrechts vom 9. März 2007 hat der Bundesrat erklärt, dass er sich für eine Harmonisierung der kan‐ tonalen Wohnsitzfristen innert nützlicher Frist einsetze. Sollte dies nicht möglich sein, erwäge er eine bundesrechtlich ein‐ heitliche Lösung. (S. 14) [36] Nella nostra delibera sul rapporto del 9 marzo 2007 sulle questioni pendenti in materia di cittadinanza, abbiamo dichi‐ arato che il Consiglio federale intende impegnarsi a favore di un’armonizzazione in tempi utili dei termini di residenza cantonali. Se ciò non dovesse essere possi‐ bile, valuteremo l’opportunità di adottare una soluzione unificata a livello di ordina‐ mento federale. 349 3.7 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="350"?> [37] Der Bundesrat ist sich bewusst, dass die Wohnsitzerfordernisse in den Kan‐ tonen und Gemeinden neben den mate‐ riellen Eignungsbedingungen den harten Kern der kantonalen Regelungen im Be‐ reich der Einbürgerungen darstellen und dass die Vereinheitlichung und Harmoni‐ sierung der kantonalen Vorschriften in Bezug auf die Aufenthaltsdauer einer Ein‐ schränkung des kantonalen Handlungs‐ spielraums gleichkommen. Er ist jedoch der Ansicht, dass die Auslegung von Ar‐ tikel 38 Absatz 2 BV im Sinne einer auf die Grundsätze beschränkten Kompetenz heute durch die neuere Praxis genügend konsolidiert ist. Der Bundesrat erachtet es daher im Rahmen der vorliegenden Total‐ revision als verfassungsmässig, die vorge‐ sehenen Regelungen zur Harmonisierung der kantonalen und kommunalen Wohn‐ sitzerfordernisse einzuführen. (S. 47f.) [37] Siamo consapevoli che le esigenze cantonali e comunali in materia di domi‐ cilio costituiscono, accanto alle condizioni materiali d’idoneità, il nucleo centrale delle discipline cantonali in materia di na‐ turalizzazioni; nemmeno ignoriamo che l’unificazione e l’armonizzazione delle prescrizioni cantonali per quanto rigu‐ arda la durata del soggiorno riducano il margine di manovra dei Cantoni. Tuttavia, riteniamo che l’interpretazione dell’articolo 38 capoverso 2 Cost. quale disposizione che limita la competenza ai principi sia ormai sufficientemente con‐ solidata dalla recente prassi, e che quindi si possa considerare che autorizza l’ema‐ nazione di principi, anche sotto forma di prescrizioni massime o di prescrizioni unitarie inerenti a determinati punti. Nel quadro della presente revisione totale, il nostro Collegio considera pertanto che l’introduzione della prevista disciplina tesa ad armonizzare le esigenze cantonali e comunali in materia di dimora sia con‐ sona alla Costituzione. Interessant ist auch der Vergleich zwischen den Anredeformen, durch die das der Botschaft beigegebene Schreiben eröffnet wird. Während im deutschen Leitfaden empfohlen wird, in der Anrede auf das Genus der Angesprochenen zu achten, wird im Italienischen eine Standardformel im generischen Maskulinum angeordnet: Die Botschaft beginnt mit dem sogenannten ‚Brief ‘ des Bundesrates an die Bundes‐ versammlung. Die Anrede lautet: Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin [bzw.] Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin [bzw.] Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren (Botschaftsleitfaden 2012: 13). Il messaggio è preceduto dalla cosiddetta ‚lettera accompagnatoria‘ che il Consiglio federale rivolge all’Assemblea federale. Formula di apertura: Onorevoli presidenti e consiglieri, (Guida messaggi 2013: 12). 350 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="351"?> 348 Zur Bedeutungsvielfalt des Modalverbs sollen und zu den Verständnisbzw. Interpre‐ tationsproblemen, die mit seiner Polyfunktionalität und Interkategorialität verbunden sind, vgl. Heller (2008). Entsprechend stehen in den zwei Versionen der Botschaft des Subkorpus 2 (TR_4) zwei verschiedene Formeln: BüG_4_de BüG_4_it [38] Sehr geehrter Herr Nationalratspräsi‐ dent Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren [38] Onorevoli presidenti e consiglieri, Unterschiede zwischen den Sprachen betreffen ferner die Versprachlichung de‐ ontischer Bedeutungen. Diese werden im Deutschen überwiegend entweder durch die Form Modalverb sollen + Verb im Infinitiv Passiv oder durch sein + zu + Verb im Infinitiv. Die erste Form drückt aus, was mit dem neuen Gesetz normativ gelten wird, und entspricht also einer zukunftsorientierten Perspektive. 348 Die zweite wird stattdessen tendenziell benutzt, um einen Handlungsbedarf zu signalisieren, dem nach der Verabschiedung des Gesetzes nachzukommen wäre. Diese Unterscheidung kommt auf der sprachlichen Oberfläche in der italieni‐ schen Version nicht zum Ausdruck. Für beide Erscheinungsformen der Deontik wird im Italienischen fast immer die Form Modalverb dovere (im Präsens oder Futur) + Verb im Infinitiv Aktiv oder Passiv verwendet: BüG_4_de BüG_4_it [39] Mit Blick auf die Herstellung einer weitgehenden Kohärenz zwischen Bürger- und Ausländerrecht sind auch die formellen Voraussetzungen zum Bürger‐ rechtsverfahren neu zu regeln. (S. 8) [39] Nell’ottica di garantire una piena coerenza tra diritto di cittadinanza e di‐ ritto in materia di stranieri, devono es‐ sere ridefiniti anche i requisiti formali concernenti la procedura di acquisto della cittadinanza. [40] Bei einer verfügten Nichtigerklärung der Einbürgerung, welche aufgrund fal‐ scher Angaben oder Verheimlichung er‐ heblicher Tatsachen erschlichen worden ist, soll die betreffende Person nicht um‐ gehend ein neues Einbürgerungsgesuch einreichen können. (S. 10) [40] In caso di annullamento della natu‐ ralizzazione ottenuta con false dichiara‐ zioni o occultando fatti rilevanti, la per‐ sona interessata non deve poter inoltrare immediatamente una nuova domanda di naturalizzazione. Schließlich lässt sich feststellen, dass die italienischen Korpustexte grundsätz‐ lich dieselben Prozesse der Übernahme von Textbausteinen aufweisen wie 351 3.7 Vergleich mit den italienischen Versionen <?page no="352"?> die deutschen. In einem deutschen Text x werden zum Beispiel Textteile aus einem anderen deutschen Text y - wortwörtlich - importiert. In der italienischen Übersetzung x werden die Textteile also aus dem entsprechenden italienischen Text y übernommen. In der deutschen Botschaft (TR_4_de) ent‐ nimmt man zum Beispiel die ersten drei Abschnitte im Kapitel 1 aus dem erläuternden Bericht (TR_16_de) (vgl. II.3.5.1.1). Ähnlich verhält es sich in der italienischen Botschaft (TR_4_it), bei der die ersten drei Abschnitte des Kapitels 1 aus dem italienischen erläuternden Bericht (TR_16_it) übernommen werden. Beim Migrationsprozess von Textelementen ahmen die italienischen Texte die deutschen nach. Es lassen sich bei den zwei Fassungen der Subkorpora somit ähnliche Textvernetzungen ermitteln. 3.8 Fazit Bei der Beschreibung des Subkorpus 2 sind einige situativ-funktionale Katego‐ rien besonders relevant. Dabei geht es um die Funktion, den Rezipienten, den Publikationsort und das Medium. Funktional lassen sich die Korpustexte zuerst pauschal in zwei Gruppen teilen: die Gruppe der normativ-performativen Texte (die Bürgerrechtserlasse und die entsprechenden Erlassentwürfe), für die das Schweizer Parlament oder die Schweizer Regierung (bei der Bürgerrechts‐ verordnung) offiziell zeichnen, und die Gruppe der informativen (Berichte, Me‐ dienmitteilungen, Medienkonferenz und Voten), deren Textproduzenten föderale Verwaltungseinheiten (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement; Staatssekre‐ tariat für Migration) oder einzelne Abgeordnete (bei den Voten) sind. Bei der Gruppe der informativen Texte kann man funktional-situativ weiter unterscheiden zwischen den behördeninternen, verhaltensbeeinflussenden / persuasiven, in offi‐ ziellen (Rechts-)Sammlungen des Bundes veröffentlichten Korpustexten (Berichte, Voten) und den behördenexternen, informationsorientierten (Medienmitteilungen, Medienkonferenz). Innerhalb dieser Gruppen kann man medial eine weitere Unter‐ scheidung vornehmen zwischen den Texten, die schriftlich, und denjenigen, die mündlich realisiert werden und für die auch Videos zur Verfügung stehen. Der funktionale Faktor und die situativen Faktoren Rezipient und Publi‐ kationsort wirken sich auf die sprachliche Gestalt der Texte insofern aus, als die behördeninternen, verhaltensbeeinflussenden Texte detailliert sind, eine klare argumentative Struktur haben und ein systematisches Netz politisch relevanter Schlagwörter mit programmatischem Gehalt aufweisen. Stilistisch sind diese Texte durch einen unpersönlichen Ton und ein typisches rechts- und verwaltungssprachliches Register gekennzeichnet. Diese sprachlichen Mittel 352 3 Analyse des Subkorpus 2: Totalrevision des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 <?page no="353"?> sind zwar auch in den behördenexternen, informationsorientierten Texten anzutreffen. Die zwei Textgruppen unterscheiden sich aber voneinander darin, dass die behördenexternen, informationsorientierten Texte nicht detailreich sind und nur die Aspekte fokussieren, die für die Öffentlichkeit von beson‐ derem Interesse sind. Im Vordergrund steht dabei die legitimitätsfördernde Funktion der Behördenkommunikation. Der Faktor Medium schlägt sich in den Texten insofern nieder, als die mündlich realisierten Texte sprachliche ‚Spuren‘ (Deiktika, metakommunikative Ausdrücke) der Kopräsenz der Interaktanten aufweisen und als darin der Grad an Persuasivität dank des gezielten Einsatzes rhetorischer Strategien höher ist. Die Texte des Subkorpus 2 bilden in erster Linie eine fixe Textsortenkette: Die Reihenfolge, nach der die Texte produziert werden, ist stark reglementiert. Wie das Subkorpus 1 ist das Subkorpus 2 ferner durch Textfamilien gekenn‐ zeichnet. Die Korpustexte, besonders diejenigen, die funktional ähnlich sind, haben oft ganze Textabschnitte gemeinsam, die von einem Text in einen anderen ‚migrieren‘ bzw. in einem neuen Text ganz unverändert übernommen werden. Textfamilien bilden auch die informativen Texte, die die Inhalte der normativen Texte wieder aufnehmen und vereinfacht (besonders bei den medienorientierten Texten) durch die Auslassung von Inhaltselementen oder die Auflösung kom‐ plexerer syntaktischer Strukturen wiedergeben. Das Subkorpus 2 stellt ein typisches und gutes Beispiel für die Verschrän‐ kung der Kommunikationsbereiche Recht, Verwaltung und Politik dar. Das gilt sowohl auf pragmatischer als auch auf sprachlich-textueller Ebene. Einbezogen sind dabei die Akteure der Exekutive und der Legislative. Es geht um die Revision prototypischer Texte des Rechtswesens, nämlich Gesetze im weiteren Sinne. Die Revision ist ein Prozess des Entscheidungstreffens, der mittels politischer Sprache bzw. ideologisch aufgeladener Ausdrücke erfolgt. Formal enthalten alle Korpustexte die sprachlichen Mittel, die gewöhnlich als typisch für die Rechts- und Verwaltungssprache eingestuft werden und die somit als Erkennungsmerkmale dieser Kommunikationsbereiche wirken. Was den Vergleich Deutsch-Italienisch angeht, lässt sich hier bestätigen, was schon in Bezug auf die Texte des Subkorpus 1 festgestellt wurde. Die italienischen Texte sind Übersetzungen der deutschen Fassungen; nicht für alle deutschen Texte liegt allerdings auch eine italienische Version vor. Bei den sorgfältig redigierten Texten (Erlasse, Berichte, Voten), die in offiziellen Sammlungen erscheinen, werden im Italienischen Sprachnormen eingehalten, die manchmal von den deutschen abweichen (besonders bei der Personenreferenz). Was die Text-Relationen betrifft, zeichnen sich die italienischen Texte durch dieselben Übernahmebzw. Migrations‐ prozessen von Textelementen aus wie die deutschen. 353 3.8 Fazit <?page no="355"?> 349 Wie schon erwähnt (vgl. II.1.2.3), liegt hier der Akzent auf den Texten, die zur Zeit der Korpuserstellung (Frühjahr 2017) rechtskräftig waren. Da inzwischen ein neues Gesetz in Kraft getreten ist (vgl. II.3), hat man natürlich auch das behördliche Online-Angebot zum Thema entsprechend aktualisiert bzw. angepasst. Im Frühjahr 2018 habe ich daher auch die neuen, aktualisierten behördlichen Webseiten bzw. Texte besucht und eine Auswahl davon gesammelt. Sie werden in dieser Arbeit allerdings nur teilweise und punktuell berücksichtigt. 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) 4.1 Zum Kanton Zürich Wie bereits angekündigt (vgl. II.1.2.3), steht im Zentrum des Subkorpus 3 die Bürgerrechtsverordnung (BüV) des Kantons Zürich, d. h. der im Jahr 1978 vom Züricher Regierungsrat verabschiedete Normtext, der den Erwerb des Bür‐ gerrechts auf kantonaler Ebene bestimmt. Auf Kantonsebene werden Aspekte geregelt, die vom Bund den Kantonen zur Spezifizierung bzw. Konkretisierung überlassen wurden. Der kantonale Erlasstext ist dem föderalen Bürgerrechts‐ gesetz von 1952 hierarchisch untergeordnet. Letzteres legt landesweit den normativen Rahmen für das Bürgerrecht in der Schweiz fest (vgl. II.2). Nicht nur die kantonale Verordnung, sondern auch das Bundesgesetz stellt also einen der zentralen Texte dar, auf die die anderen kantonalen Texte im Subkorpus 3 Bezug nehmen. 349 Mit 1,4 Millionen Einwohnern ist der Kanton Zürich demografisch der größte Kanton der Schweiz. Der Kanton umfasst 168 Gemeinden. Dabei ist die Stadt Zürich die Hauptstadt, in der etwa 400.000 Menschen wohnen. Die wichtigsten kantonalen Behörden sind der Regierungsrat und der Kantonsrat. Der Regierungsrat entspricht der Exekutive und besteht aus 7 Mitgliedern, denen jeweils ein Departement untersteht. Dazu kommt die Staatskanzlei, der juristische und administrative Sekretariatsdienstleistungen zukommen. Der Kantonsrat ist das kantonale Parlament und hat 180 Mitglieder, die alle vier Jahre gewählt werden. Auch für die Hauptstadt Zürich liegen Organe der Exekutive und der Legislative vor. Die Regierung der Stadt heißt Stadtrat, das Parlament Gemeinderat. Zürich gehört heute zu den Top Ten der globalen Finanzplätze und spielt somit in der wirtschaftlichen Landschaft des Kantons eine wichtige Rolle. <?page no="356"?> 350 Vgl. https: / / e-gov.zh.ch/ internet/ staatskanzlei/ egov/ de/ strategie_impulsprogramm.ht ml; 06.06.2019. 351 Das Projekt wurde im Frühjahr 2020 abgeschlossen. Die neue Webseite ist seit dem 09.07.2020 verfügbar. Vgl. z. B. https: / / www.zh.ch/ de/ migration-integration/ einbuerge rung.html; 28.07.2020. 352 Vgl. https: / / e-gov.zh.ch/ internet/ staatskanzlei/ egov/ de/ projekte/ zhweb2019/ statement s.html; 06.06.2019. Wie die Bundesbehörden haben auch die Züricher kantonalen Behörden in den letzten Jahren Ressourcen in die Umstellung der öffentlichen Verwal‐ tung auf das Internet investiert. Im Frühjahr 2018 hat der Regierungsrat die Strategie „Digitale Verwaltung 2018-2023“ genehmigt. Zuständig für deren Umsetzung und Koordination ist heute die Abteilung Digitale Verwaltung und E-Government, die im Juli 2018 innerhalb der Staatskanzlei errichtet wurde. Die Strategie zur digitalen Verwaltung „zeigt auf, wie die Verwaltung die digitale Entwicklung mitgestalten und die Chancen der Digitalisierung nutzen will“. 350 Sie umfasst ein Impulsprogramm mit über 20 Digitalisierungsvorhaben, die auf die Vereinfachung und Verbesserung der Zugänglichkeit der behördli‐ chen Online-Angebote setzen. Zu den Projekten, die Teil der Strategie für die Jahre 2018-2023 sind, gehören ZHweb2019 und eEinbürgerungZH. Das Projekt ZHweb2019 zielte auf die systematische und konsequente Darbietung von behördlichen Informationen und Dienstleistungen ab. Dabei handelte es sich um den Relaunch des kantonalen Webauftritts. 351 Im Vordergrund sollten die Bedürfnisse der Nutzer (Bevölkerung, Unternehmen, andere Behörden) und die Themen stehen, die die Nutzenden potentiell interessieren bzw. von denen sie betroffen sind. Zu diesem Punkt hatten sich die für das Projekt Verantwortlichen deutlich geäußert. Vgl. z. B. die folgenden „Statements“: 352 Damit die gesamte Bevölkerung ihre Informationen und Online-Dienste rasch finden, präsentieren wir diese thematisch - und treten dabei als Verwaltungseinheiten in den Hintergrund. Den damit verbundenen Kulturwandel begrüsse ich sehr (Statement der Staatsschreiberin Kathrin Arioli). Mit dem neuen Webauftritt des Kantons Zürich rücken die Bedürfnisse der Nutzenden noch stärker ins Zentrum. Informationen und Services werden schnell gefunden, sie sind verständlich, korrekt, relevant und barrierefrei zugänglich (Statement des Projektleiters Thomas Weiss). Demnach wurde im Rahmen des Projekts ZHweb2019 darauf geachtet, dass eine einheitliche visuelle Identität der kantonalen Verwaltung online vermittelt wird und dass das behördliche Angebot des Kantons für die Nutzer barrierefrei und ansprechend ist. 356 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="357"?> 353 Vgl. https: / / www.zh.ch/ de/ politik-staat/ gesetze-beschluesse/ gesetzessammlung.html# zhlex_ls; 28.07.2020. 354 Vgl. https: / / www.amtsblatt.zh.ch/ tenant-kabzh#! / search/ info/ about-us; 27.06.2019. 355 Vgl. https: / / amtsblattportal.ch/ #! / publish/ info/ about-us; 21.12.2018. Für die vorliegende Arbeit besonders relevant bzw. interessant ist das Projekt eEinbürgerungZH, das im Herbst 2018 initiiert wurde. Mit ihm wird die Einrichtung einer digitalen Plattform zur Erfassung und Abwicklung von Einbürgerungsgesuchen angestrebt. Dabei wird u. a. das Ziel verfolgt, den Zeit- und Geldaufwand, der mit dem Einbürgerungsverfahren verbunden ist, zu reduzieren, und das Einbürgerungsverfahren selbst transparenter bzw. für die Betroffenen nachvollziehbarer zu machen. Seit einiger Zeit schon im Betrieb ist schließlich die Transaktionsplattform ZHservices, auf der E-Government-Leistungen des Kantons Zürich erbracht werden. Zu den Leistungen, die man heute online erledigen kann, gehören das Ausfüllen der Steuererklärung und das Melden eines Umzugs. Wie die Erlasse des Bundes sind auch die kantonalen normativen Texte in digitaler Form online zugänglich. Unter der Rubrik ZH-Lex werden auf dem Webauftritt der Kantonsverwaltung die kantonalen Gesetze gesammelt. 353 Es gibt zwei gesetzliche Sammlungen: die Loseblattsammlung und die Offizielle Gesetzessammlung. In der Loseblattsammlung wird das geltende Züricher Recht in 14 Bänden nach Sachgebieten sortiert; in der Offiziellen Gesetzessammlung wird es chronologisch publiziert. Auch auf Kantonsebene ist es die digitale Version eines Erlasses, die maßgebend ist. Online verfügbar ist ferner das Amtsblatt des Kantons Zürich. 354 Dieses wurde ab 1999 zusätzlich zur Papierausgabe im Internet veröffentlicht, während die gedruckte Form seit Juli 2019 nicht mehr zur Verfügung steht. Das Amts‐ blatt hat überwiegend eine informative Funktion und enthält amtliche und wirtschaftsrelevante Meldungen, die Themen wie Rechtsetzung und politische Rechte, kommunale Bauprojekte, Raumplanung, Verkehr, Umwelt und Energie, Familie und Zivilstandwesen sowie Steuerwesen betreffen. Es steht heute in Verbindung mit dem Amtsblattportal, das seit September 2018 existiert. Darüber werden die offiziellen Meldungen der Schweizer Behörden auf den drei politischen Ebenen (Bund, Kantone und Gemeinde) publiziert. Dort werden die Meldungen der verschiedenen kantonalen Amtsblätter zur weiteren Publikation bezogen. Das Amtsblattportal versteht sich dabei also als eine „neutrale Daten‐ drehscheibe, über welche mittels einfacher Schnittstelle Daten eingereicht und bezogen werden können“. 355 357 4.1 Zum Kanton Zürich <?page no="358"?> 356 Vgl. https: / / gaz.zh.ch/ internet/ justiz_inneres/ gaz/ de/ home.html; 16.07.2019. 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien Das Subkorpus 3 besteht aus 55 Einheiten. Hinzu kommen 14 Texte, die nachträglich (d. h. zu einem späteren Zeitpunkt) archiviert wurden und den ak‐ tuellsten Stand der Dinge schildern (vgl. II.4.1). Zur Beschreibung des Subkorpus lässt sich zunächst eine situative Kategorie heranziehen. Je nach der politischen Ebene, auf der der Textproduzent angesiedelt ist, kann man die Korpustexte in zwei Untergruppen teilen: Auf der einen Seite haben wir es mit den Texten zu tun, die von den kantonalen Behörden stammen; auf der anderen geht es um die Texte der Gemeindeverwaltung der Stadt Zürich. 4.2.1 Kanton Zürich Insgesamt umfassen die kantonalen Texte 41 Dateien, denen man weiter 14 neuere Texte hinzufügen sollte. Fast alle Texte wurden von der Abteilung Einbürgerungen des Gemeindeamts emittiert. Letzteres ist die „organisatorische und finanzielle Nahtstelle des Kantons zu den Gemeinden“ 356 und gehört der Direktion der Justiz und des Innern an. 30 Korpustexte waren als PDF gespeichert und sind als E-Texte einzustufen, die anderen entsprechen Hypertext-Modulen im HTML-Format. Die meisten E-Texte weisen im Titel eine Bezeichnung auf, die sich auf die Textart bezieht, der der jeweilige Text zugehört. Nur in einem Fall bezeichnet der Ausdruck eine Textsorte im engeren Sinne. Dabei geht es um den normativen Text, der für das Subkorpus 3 zentral ist, nämlich die Bürgerrechts‐ verordnung (BüV) (ZH_1 und nZH_1); dafür zeichnet der Regierungsrat offiziell. Bei den anderen Textbezeichnungen handelt es sich um Ausdrücke, die auf einer eher hohen Abstraktionsebene angelegt sind. Zu den Textdeklarationen, die in den Titeln der Korpustexte ermittelt wurden, gehören die folgenden Wörter: Bescheinigung, Erklärung (zweimal), Hinweis, Information (zweimal), Informationsblatt, Reglement, Richtlinien, Vereinbarung, Verzeichnis, Lebenslauf, Merkblatt (viermal), Übersicht, Handbuch (zweimal). Bis auf eine Ausnahme (Lebenslauf) handelt es sich dabei um Bezeichnungen, die vor allem über die Funktion des jeweiligen Textes Aufschluss geben bzw. eine Funktionsangabe implizieren. Die Zahl der Hypertext-Module beträgt 24. Hinzu kommt eine Datei im Excel- Format, die aus einer Tabelle besteht, deren Titel Berechnung der Wohnsitzdauer lautet. Die Titel sowohl der Hypertext-Module als auch der PDF-Dateien deuten 358 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="359"?> jeweils auf das Thema des Texts hin. Manchmal haben die Korpustexte selber andere Texte zum Thema und das wird an der Präsenz von Textbezeichnungen im Titel erkennbar, wodurch sich der intertextuelle Charakter der Behörden‐ texte schon in der Textüberschrift deutlich zeigt (vgl. Tab. II.4.1): Abkürzung Textüberschrift ZH_1 Bürgerrechtsverordnung (BüV) ZH_2 Bescheinigung des Steueramts der Gemeinde/ Stadt … zuhanden der Einbürgerungsbehörden ZH_3 Erklärung betreffend Beachten der Rechtsordnung und Vollmacht ZH_4 Hinweise zur Einreichung des Einbürgerungsgesuchs ZH_5 Information zum neuen Bürgerrecht des Bundes ZH_6 Information zum neuen Schweizer Bürgerrecht ZH_7 Informationsblatt - Erforderliche Zivilstandsurkunden für die Ein‐ bürgerung von Ausländerinnen und Ausländern im Kanton Zürich ZH_8 Reglement für Testanbieter zur Organisation und Durchführung des Kantonalen Deutschtests im Einbürgerungsverfahren (KDE) ZH_9 Richtlinien für Gemeinden und Testanbieter zur Verwendung des Kantonalen Deutschtests im Einbürgerungsverfahren (KDE) ZH_10 Vereinbarung ZH_11 Kantonaler Deutschtest im Einbürgerungsverfahren (KDE) - Ver‐ zeichnis Testanbieter ZH_12 Lebenslauf ZH_13 Merkblatt über die Entlassung aus dem Bürgerrecht ZH_14 Merkblatt für die Einbürgerung von Ausländerinnen und Auslän‐ dern im Kanton Zürich ZH_15 Merkblatt betreffend Militärbzw. Schutzdienst ZH_16 Merkblatt zum erleichterten Einbürgerungsverfahren - Vorausset‐ zungen und Verfahrensablauf ZH_17 Verfahrensablauf ordentliche Einbürgerungen ZH_18 Übersicht über die Wohnsitzfristen ZH_19 Berechnung der Wohnsitzdauer ZH_20 Zuständigkeiten ordentliche Einbürgerung 359 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="360"?> ZH_21 Handbuch Einbürgerungen ZH_22 Bürgerrechtsentlassung ZH_23 Bürgerrechtsnachweis ZH_24 Erforderliche Unterlagen & Formulare ZH_25 Erleichterte Einbürgerung ZH_26 Formulare & Merkblätter ZH_27 Gebühren ZH_28 Informationen & Publikationen ZH_29 Kantonaler Deutschtest KDE ZH_30 Kontaktformular ZH_31 Ordentliche Einbürgerung ZH_32 Einbürgerungen ZH_33 Einbürgerungen - Das Team Abteilung Einbürgerungen ZH_34 Totalrevision Bürgerrecht ZH_35 Voraussetzungen - Wohnsitzerfordernisse ZH_36 Voraussetzungen ZH_37 Wiedereinbürgerung ZH_38 Zivilstandsereignisse Schweiz ZH_39 -- ZH_40 Erlass ZH_41 Gemeindeporträt Kanton Zürich nZH_1 Kantonale Bürgerrechtsverordnung (KBüV) nZH_2 Erklärung über die Erfüllung der Einbürgerungsvoraussetzungen im ordentlichen Verfahren (Selbstdeklaration Erwachsene) nZH_3 Erfüllen Sie die Voraussetzungen für eine ordentliche Einbürgerung im Kanton Zürich? nZH_4 Welche Voraussetzungen müssen Sie für die ordentliche Einbürge‐ rung im Kanton Zürich erfüllen? nZH_5 Verfahrensablauf der ordentlichen Einbürgerung 360 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="361"?> nZH_6 Änderungen im Bürgerrecht ab 1. Januar 2018 - Ordentliche Ein‐ bürgerung nZH_7 Voraussetzungen für die ordentliche Einbürgerung im Kanton Zü‐ rich nZH_8 Voraussetzungen für die ordentliche Einbürgerung bis 31.12.2017 nZH_9 FAQ Erleichterte Einbürgerung nZH_10 FAQ Ordentliche Einbürgerung nZH_11 Altes Recht nZH_12 Bewerbende nZH_13 Ordentliche Einbürgerung nZH_14 Handbuch Einbürgerungen Tab. II.4.1: Korpustexte des Subkorpus 3: Kanton Zu den intertextuellen Verweisen, die explizit in den Textüberschriften vorkommen, zählen die Ausdrücke Rechtsordnung (ZH_3), Einbürgerungsgesuch (ZH_4), Bürgerrecht (ZH_5, ZH_6, nZH_6), Zivilstandsurkunden (ZH_7), Bür‐ gerrechtsnachweis (ZH_23), Unterlagen und Formulare (ZH_24), Formulare und Merkblätter (ZH_26), Informationen und Publikationen (ZH_28), Erlass (ZH_40) und Recht (ZH_11). Bei allen Fällen handelt es sich insofern um eher abstrakte intertextuelle Bezüge, als sie auf mehrere Texte gleichzeitig verweisen. Das ist etwa der Fall bei den Bezeichnungen Rechtsordnung, Bürgerrecht und Recht, die Textsammlungen entsprechen und sich also zugleich auf unterschiedliche nor‐ mative Texte beziehen. Zivilstandsurkunden und Unterlagen sind Hyperonyme, die funktional bestimmt sind: Sie bezeichnen Texte, die die gleiche Funktion haben, nämlich das ‚offizielle Beweisen von etwas‘. Dasselbe gilt für die als funk‐ tional einzustufende Bezeichnung Nachweis, die hier mit dem Bestimmungswort Bürgerrecht ein Kompositum bildet und somit thematisch spezifiziert ist. Einem Kompositum entspricht auch der Ausdruck Einbürgerungsgesuch, der ebenfalls thematisch-funktional bestimmt ist. Das Grundwort Gesuch bezeichnet im All‐ gemeinen einen Text, der dazu dient, in einem bestimmten Fall eine Bewilligung von einer Behörde zu erhalten, und der also Bestandteil eines Verwaltungsakts ist. Das Wort Formulare bezieht sich schließlich auf die Verwaltungstextsorte schlechthin, eine der „typischsten und schwierigsten Erscheinungsformen der Verwaltungssprache“ (Gülich 1981: 328 f.; vgl. I.1.2.1.3). 361 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="362"?> 357 Vgl. dazu auch Cacchiani (2018: 124): „More to the point, we understand the websites […] as ideally intended to work as ‚early response system(s) to (urgent) problems‘ and potential questions posed by lay end users […]. That is, end users should ideally be able to turn to these websites and not others for basic self-help information and documentation“. Funktional lassen sich die Behördentexte des Kantons Zürich in normativperformative, informative, datenerhebende und interaktionsbezogene Korpus‐ texte aufteilen. Zu den normativ-performativen Texten gehört selbstver‐ ständlich die kantonale Bürgerrechtsverordnung (BüV) (ZH_1). Dabei handelt es sich um einen normativen Text mit hohem Verbindlichkeitsgrad, der zu bestimmten Zeitpunkten in und außer Kraft gesetzt wurde (1979 bzw. 2017), sowohl Behörden als auch Laien adressiert, mit großem Herstellungsaufwand erstellt wurde und in der Züricher Gesetzessammlung publiziert ist. Als per‐ formativ einzustufen sind auch das Reglement für Testanbieter (ZH_8), die Richtlinien zur Verwendung des Kantonalen Deutschtests (ZH_9) und die Verein‐ barung zwischen dem Gemeindeamt des Kantons Zürich und den Testanbietern (ZH_10). Das Reglement und die Richtlinien sind insofern performativ, als sie gewisse Regeln für die Einrichtungen festlegen, die den von den Einbürge‐ rungswilligen abzulegenden kantonalen Deutschsprachtest anbieten, und als sie daher für letztere als handlungsanweisend wirken. Beide Texte sprechen eine bestimmte Rezipientengruppe an und sind der Vereinbarung beigelegt. Die Vereinbarung ist ein performativer Text, weil dadurch eine sprachliche Handlung mit Rechtskraft durchgeführt wird. Dabei sind die Akteure einerseits das Gemeindeamt des Kantons Zürich, andererseits der jeweilige Testanbieter, der mit dem Gemeindeamt eine Vereinbarung unterschreibt. Die performativen Texte Bürgerrechtsgesetz (BüG) (vgl. BüG_2_de, vgl. II.2) und Bürgerrechtsverordnung (BüV) (ZH_1) stellen den Bezugspunkt für die informativen Texte des Subkorpus 3 dar. Dazu zählen unterschiedliche Korpustexte, die sich verschiedenen Textsorten im weiteren Sinne zurechnen lassen. Dabei geht es primär um die Hypertext-Module (ZH_22 bis ZH_38, außer ZH_30), die über das Bürgerrechtswesen informieren. Diese stellen gewisse Informationen bereit, antizipieren und beantworten potentielle Bürgeranfragen. Sie sind in erster Linie für die Wohnbevölkerung gedacht. Dadurch wird das Ziel verfolgt, den behördlichen Arbeitsaufwand zu reduzieren bzw. die Behörden bei der Beantwortung von direkten Fragen der Bürger zu entlasten (vgl. dazu Alghisi 2018: 193; vgl. II.2.2 und II.3.3). 357 Vermittelt wird besonders praxisorientierte Information; die Module sind also verhaltensbeeinflussend im Sinne Engbergs (2017; vgl. I.1.2.1.3). Davon weichen nur zwei Hypertext- Module ab, insofern sie eher informationsorientiert sind. Es handelt sich dabei 362 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="363"?> 358 Aus diesem Grund spricht Grosse (1981: 271) in Bezug auf das Formular von „ein[em] streng formalisiert[n] Interview“, Gülich (1981: 329) von „schriftlich[em] Dialog“, Adamzik (2016c: 149) von „Prozipiententext“ (vgl. I.2 und I.3). 359 Nicht alle Formulare, aus denen sich ein Einbürgerungsgesuch zusammensetzt, waren online zugänglich. Einige davon lassen sich nur „physisch“ am Schalter beziehen. um das Modul Erlass (ZH_40), das Metadaten über die Bürgerrechtsverordnung enthält und das Modul Gemeindeporträt Kanton Zürich (ZH_41), das vom statistischen Amt stammt und auf Daten und Sachverhalte zum Kanton verweist. Auch praxisorientiert und verhaltensbeeinflussend sind die Korpustexte, die auf der Webseite des Kantons als PDF gespeichert sind und thematisch mit den Hypertext-Modulen zusammenhängen, auf denen sie erscheinen und mit denen sie also direkt verlinkt sind. Wie oben erwähnt, können die PDF-Texte im Titel verschiedene Textdeklarationen enthalten, auch wenn sie allgemein funktional äquivalent sind: Hinweise (ZH_4), Information (ZH_5, ZH_6), Infor‐ mationsblatt (ZH_7), Merkblatt (ZH_13 bis ZH_16). Eine Sonderstellung hat dabei das Handbuch Einbürgerungen (ZH_21). Dieses ist ein informativer Text, der sich als „ein praktisches, übersichtliches und praxisnahes Nachschlagewerk“ in Fragen Einbürgerungen versteht (ZH_21: 2) und, wie schon für das Handbuch der Bundesverwaltung festgestellt (vgl. II.2.2), normativ-performative Texte („das aktuelle Bürgerrechtswesen“) zum Gegenstand hat. Im Vergleich zu den anderen informativen Korpustexten ist das Handbuch deutlich umfangreicher. Auch eine Art Sonderfall bilden schließlich die PDF-Dateien, die zwar eine informative Funktion haben, die aber nicht durch Fließtexte, sondern durch die Kombination von verknapptem Text und anderen Zeichensystemen (Farbe, Grafik, Bild) gekennzeichnet sind (vgl. ZH_11, ZH_17, ZH_18, ZH_20, ZH_39, nZH_4, nZH_5, nZH_6, nZH_7, nZH_8). Den datenerhebenden Texten entsprechen die schon genannten Formulare. Formulare „dienen sowohl der Kommunikation mit dem Bürger als auch der verwaltungsinternen Bearbeitung einzelner Vorgänge“ (Becker-Mrotzek/ Scherner 2000: 634). Dadurch „erfragt die Verwaltung vom Bürger diejenigen Informationen, die sie für ihre Entscheidungsfindung benötigt“ (ebd.: 636). For‐ mulare entsprechen Lückentexten, an deren Bearbeitung sowohl Produzenten als auch Rezipienten beteiligt sind und die daher durch den systematischen Wechsel der Äußerungsproduzenten geprägt sind (vgl. ebd.: 637). 358 Sie wenden sich an die Einzelbürger, die sie individuell ausfüllen müssen, haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad und weisen, da sie gewisse Formulierungsroutinen widerspiegeln, einen hohen Standardisierungsgrad auf. Bei dem Subkorpus 3 handelt es sich um einige der Formulare, die im Rahmen eines Einbürgerungs‐ verfahrens bzw. bei einem Einbürgerungsgesuch einzureichen sind. 359 Diese 363 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="364"?> haben unterschiedliche Namen, die jeweils im Titel des Formulars vorkommen. Solche Namen entsprechen in den meisten Fällen „einer Bezeichnung der zugrunde liegenden Verwaltungshandlung“ (Becker-Mrotzek/ Scherner 2000: 636): Bescheinigung (ZH_2), Erklärung (ZH_3, nZH_2), Lebenslauf (ZH_12). Auch als Formular bezeichnet, aber eine unterschiedliche Textfunktion auf‐ weisend ist das Kontaktformular (ZH_30). Anders als die übrigen Formulare des Subkorpus 3 besteht dieses Formular in einem Hypertext-Modul mit auszufül‐ lenden Leerstellen. Es dient dazu, sich mit einer bestimmten Anfrage direkt an die Behörden zu wenden und gilt somit als ein interaktionsbezogener Text. Bis auf den normativ-performativen Texten, die eng mit dem Pol Rechtswesen verbunden sind, lassen sich die anderen Korpustexte in die Nähe des Pols des Kommunikationsbereichs Verwaltung stellen. Im Folgenden findet sich eine abstrakte Darstellung des Subkorpus 3 (auf Kantonsebene; vgl. Abb. II.4.1). Texten, die funktionale und mediale Merkmale gemeinsam haben, wird dieselbe geometrische Figur zugeordnet. Die Pfeile stehen für die inhaltlichen (und gewöhlich auch technisch realisierten) Beziehungen zwischen den Texten: Abb. II.4.1: Struktur des Subkorpus 3 4.2.2 Stadt Zürich Die kommunalen Texte umfassen 14 Dateien. 4 davon standen im PDF- Format zur Verfügung, die anderen sind Hypertext-Module. Für diese ist der offizielle Emittent die gemeindliche Verwaltung allgemein (die „Stadt Zürich“). Für die PDF-Dateien zeichnen hingegen einerseits das Präsidialdepartement (ZH_51), eines der neun Departemente der Stadtverwaltung, und andererseits 364 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="365"?> die Stadtkanzlei (ZH_53 bis ZH_55). 3 von 4 PDF-Texten enthalten im Titel eine Textdeklaration, die auf die Art des jeweiligen Texts hindeutet. Dabei geht es um die Bezeichnungen Begrüssung, wobei es sich im Text um die schriftliche Fas‐ sung einer mündlich realisierten Rede handelt (ZH_51), Informationsbroschüre (ZH_54) und Merkblatt (ZH_55). Die Titel der übrigen Korpustexte geben - wie üblich bei Textüberschriften - eine erste Orientierung über das Textthema. Nur in vier Fällen sind in der Textüberschrift Bezeichnungen anzutreffen, die sich als mehr oder weniger abstrakte intertextuelle Verweise einstufen lassen. Dabei handelt es sich um die Ausdrücke Publikationen & Broschüren (ZH_44, ZH_45), Einbürgerungsgespräch (ZH_44, ZH_48, ZH_54) und Bundesgesetz (ZH_53) (vgl. Tab. II.4.2): Abkürzung Textüberschrift ZH_42 Allgemeine Voraussetzungen für eine Einbürgerung ZH_43 Bitte beantworten Sie zuerst die Fragen ZH_44 Publikationen & Broschüren [Broschüre zum Einbürgerungsge‐ spräch] ZH_45 Publikationen & Broschüren [Die neuen Schweizer] ZH_46 Einbürgerungen ZH_47 Einbürgerungsfeier ZH_48 Das Einbürgerungsgespräch ZH_49 Erleichterte Einbürgerung ZH_50 Sprachliche Anforderungen ZH_51 Begrüssung von Stadtpräsidentin Corine Mauch ZH_52 Einbürgerung ZH_53 Neues Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bür‐ gerrechts per 1. Januar 2018 ZH_54 Informationsbroschüre des Stadt Zürich zu Ihrem Einbürgerungs‐ gespräch ZH_55 Einbürgerung: Merkblatt Deutschkenntnisse Tab. II.4.2: Korpustexte des Subkorpus 3: Stadt Zürich Alle Texte sind behördenextern und fast alle sind informativ. Unter den informativen Texten sind zwei primär informationsorientiert. Einer berichtet 365 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="366"?> über den Verlauf der Einbürgerungsfeier im Jahr 2016 (ZH_47), der andere enthält statistische Angaben über den Erwerb des Bürgerrechts im Kanton Zü‐ rich (ZH_52). Die übrigen informativen Texte geben praktische Informationen über das Funktionieren der Einbürgerung in Zürich, sind also in erster Linie verhaltensbeeinflussend und richten sich an die Wohnbevölkerung der Stadt. Einen Grenzfall bildet die Informationsbroschüre zum Einbürgerungsgespräch (ZH_54), wo beide Ausprägungen der informativen Funktion gleichzeitig und ausgeglichen vorhanden sind. Der Text, dessen Titel Bitte beantworten Sie zuerst die Fragen lautet (ZH_43), ist überwiegend interaktionsbezogen. Dabei handelt es sich um ein interaktives Formular im HTML-Format, wodurch der Rezipient beim Beantworten von Ja / Nein-Fragen unmittelbar erfährt, ob er die Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt. Auch der Text Begrüssung (ZH_51) ist insofern interaktionsbezogen, als er im Rahmen der Einbürgerungsfeier zur Kontaktaufnahme bzw. mit phatischer Funktion eingesetzt wurde. Eine Zusammenfassung der textexternen Merkmale im Subkorpus 3 bietet die folgende Tabelle (Tab. II.4.3): 366 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="367"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_1 Bürgerrechtsverordnung (BüV) normativ bindend Regierungsrat behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß ZH_2 Bescheinigung des Steueramts der Gemeinde/ Stadt … zuhanden der Einbürgerungsbehörden datenerhebend bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung + Steueramt monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite vorher festgelegt klein ZH_3 Erklärung betreffend Beachten der Rechtsordnung und Vollmacht datenerhebend bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite vorher festgelegt klein ZH_4 Hinweise zur Einreichung des Einbürgerungsgesuchs informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_5 Information zum neuen Bürgerrecht des Bundes informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_6 Information zum neuen Schweizer Bürgerrecht informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_7 Informationsblatt - Erforderliche Zivilstandsurkunden für die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern im Kanton Zürich informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein 367 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="368"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_8 Reglement für Testanbieter zur Organisation und Durchführung des Kantonalen Deutschtests im Einbürgerungsverfahren (KDE) normativ bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen behördenextern monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite vorher festgelegt groß ZH_9 Richtlinien für Gemeinden und Testanbieter zur Verwendung des Kantonalen Deutschtests im Einbürgerungsverfahren (KDE) normativ bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen behördenextern monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite vorher festgelegt groß ZH_10 Vereinbarung normativ bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen behördenextern monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite vorher festgelegt groß ZH_11 Kantonaler Deutschtest im Einbürgerungsverfahren (KDE) - Verzeichnis Testanbieter informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_12 Lebenslauf datenerhebend bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite vorher festgelegt klein ZH_13 Merkblatt über die Entlassung aus dem Bürgerrecht informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein 368 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="369"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_14 Merkblatt für die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern im Kanton Zürich informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_15 Merkblatt betreffend Militärbzw. Schutzdienst informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_16 Merkblatt zum erleichterten Einbürgerungsverfahren - Voraussetzungen und Verfahrensablauf informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_17 Verfahrensablauf ordentliche Einbürgerungen informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_18 Übersicht über die Wohnsitzfristen informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_19 Berechnung der Wohnsitzdauer informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_20 Zuständigkeiten ordentliche Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_21 Handbuch Einbürgerungen informativ nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Verwaltungsmitarbeiter + Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt groß 369 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="370"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_22 Bürgerrechtsentlassung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_23 Bürgerrechtsnachweis informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_24 Erforderliche Unterlagen & Formulare informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_25 Erleichterte Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_26 Formulare & Merkblätter informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_27 Gebühren informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_28 Informationen & Publikationen informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_29 Kantonaler Deutschtest KDE informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_30 Kontaktformular interaktionsbezogen nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein 370 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="371"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_31 Ordentliche Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_32 Einbürgerungen informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_33 Einbürgerungen - Das Team Abteilung Einbürgerungen informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_34 Totalrevision Bürgerrecht informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_35 Voraussetzungen - Wohnsitzerfordernisse informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_36 Voraussetzungen informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_37 Wiedereinbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_38 Zivilstandsereignisse Schweiz informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_39 -informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt klein 371 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="372"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_40 Erlass informativ informationsorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_41 Gemeindeporträt Kanton Zürich informativ informationsorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_1 Kantonale Bürgerrechtsverordnung (KBüV) normativ bindend Regierungsrat behördenintern und -extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß nZH_2 Erklärung über die Erfüllung der Einbürgerungsvoraussetzungen im ordentlichen Verfahren (Selbstdeklaration Erwachsene) datenerhebend bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite vorher festgelegt klein nZH_3 Erfüllen Sie die Voraussetzungen für eine ordentliche Einbürgerung im Kanton Zürich? informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_4 Welche Voraussetzungen müssen Sie für die ordentliche Einbürgerung im Kanton Zürich erfüllen? informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_5 Verfahrensablauf der ordentlichen Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt klein 372 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="373"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand nZH_6 Änderungen im Bürgerrecht ab 1. Januar 2018 - Ordentliche Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_7 Voraussetzungen für die ordentliche Einbürgerung im Kanton Zürich informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_8 Voraussetzungen für die ordentliche Einbürgerung bis 31.12.2017 informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_9 FAQ Erleichterte Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_10 FAQ Ordentliche Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_11 Altes Recht informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_12 Bewerbende informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_13 Ordentliche Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein nZH_14 Handbuch Einbürgerungen informativ nicht bindend Gemeindeamt - Abteilung Einbürgerungen Verwaltungsmitarbeiter + Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt groß 373 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="374"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_42 Allgemeine Voraussetzungen für eine Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_43 Bitte beantworten Sie zuerst die Fragen interaktionsbezogen nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_44 Publikationen & Broschüren [Broschüre zum Einbürgerungsgespräch ] informativ praxisorientiert nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_45 Publikationen & Broschüren [Die neuen Schweizer] informativ praxisorientiert nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_46 Einbürgerungen informativ praxisorientiert nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_47 Einbürgerungsfeier informativ informationsorientiert nicht bindend Stadt Zürich interessierte Öffentlichkeit multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_48 Das Einbürgerungsgespräch informativ praxisorientiert nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_49 Erleichterte Einbürgerung informativ praxisorientiert nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_50 Sprachliche Anforderungen informativ praxisorientiert nicht bindend Stadt Zürich Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein 374 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="375"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand ZH_51 Begrüssung von Stadtpräsidentin Corine Mauch interaktionsbezogen nicht bindend Präsidialdepartement Wohnbevölkerung schriftsprachlich mündlich realisiert behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_52 Einbürgerung informativ informationsorientiert nicht bindend Stadt Zürich interessierte Öffentlichkeit multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) Hypertext behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_53 Neues Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts per 1. Januar 2018 informativ praxisorientiert nicht bindend Stadtkanzlei Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_54 Informationsbroschüre der Stadt Zürich zu Ihrem Einbürgerungsgespräch informativ nicht bindend Stadtkanzlei Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt klein ZH_55 Einbürgerung: Merkblatt Deutschkenntnisse informativ praxisorientiert nicht bindend Stadtkanzlei Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein Tab. II.4.3: Überblick über die textexternen Merkmale im Subkorpus 3 375 4.2 Struktur des Subkorpus 3, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="376"?> 360 Am Ende erscheint die Überschrift Anhang. Darauf folgt allerdings kein Inhalt, weil der Anhang im Jahr 2005 aufgehoben wurde. 4.3 Analyse der textinternen Merkmale Die Behandlung der textinternen Merkmale der Korpustexte erfolgt auf der Grundlage der oben vorgeschlagenen funktionalen Aufgliederung in normativperformative, informative, datenerhebende und informationsbezogene Texte. Zuerst werden die kantonalen und dann die gemeindlichen Texte behandelt. 4.3.1 Kanton Zürich 4.3.1.1 Normativ-performative Texte Wie für die normativen Texte auf Bundesebene (vgl. II.2.4.1.1) liegen auch für die kantonalen Erlasstexte redaktionelle Normen vor. Gültig sind im Kanton Zürich die Richtlinien der Rechtsetzung, die am 21. Dezember 2005 vom Regierungsrat herausgegeben wurden. Die Richtlinien regeln formale Aspekte und „legen fest, wie Regelungsinhalte (‚Regelungsideen‘) in Normen gefasst werden“ (RR ZH 2005: S. 6, Z. 1). Sie tragen dazu bei, dass die kantonalen Normtexte eine einheitliche und standardisierte Struktur aufweisen. Da die Bürgerrechtsverordnung (ZH_1) aus dem Jahr 1978 stammt, fanden die redaktionellen Normen streng genommen nur bei den revidierten oder bei den neueren Artikeln Anwendung. Im Allgemeinen scheint die Verordnung jedoch in makro- und mikrostruktureller Perspektive den im Metatext vorgeschlagenen Schemata zu folgen. Neben dem Titel und dem Ingress (Der Regierungsrat beschliesst: ) besteht der Text aus 50 mit §-Zeichen versehenen, nummerierten Artikeln, die auf 6 Abschnitte 360 verteilt sind. Die Artikel haben keine Überschriften, sondern Marginalien und werden nach Einbürgerungstypen gruppiert. Sie sind ihrerseits in Absätze und Buchstaben gegliedert (Abb. II.4.2): Bürgerrechtsverordnung (BüV) von 1978 Titel Ingress A. Einbürgerung von Schweizerinnen und Schweizern (Art. 1-18) B. Ordentliche Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern (Art. 19-34) C. Erleichterte Einbürgerung und Wiedereinbürgerung (Art. 35) D. Bürgerrechtsentlassung (Art. 36-42) 376 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="377"?> E. Gebühren (Art. 43-48) F. Schluss- und Übergangsbestimmungen (Art. 49-50) Abb. II.4.2: Makrostruktur der Bürgerrechtsverordnung von 1978 Mikrostrukturell gesehen, weist die Verordnung die typischen Merkmale des gesetzessprachlichen Stils auf: • Konditionalsätze, oft mit Verberststellung, d. h. ohne einleitenden Kon‐ nektor (Verlangt eine Person mit Schweizer Bürgerrecht die Einbürgerung in einer Zürcher Gemeinde, reicht sie der Gemeinde ein schriftliches Gesuch ein.); • Satzwertige Nominalgruppen bzw. Präpositionalphrasen als Ersatz von Nebensätzen (unter Angabe des Eintritts der Rechtskraft); • unbestimmte Formulierungen (auf absehbare Zeit; Die Abklärungen dürfen nicht weiter gehen, als es sachlich erforderlich ist; in nützlicher Frist; Aus besonderen Gründen); • Legaldefinitionen (Wohnen im Sinne dieser Verordnung bedeutet …); • genaue intra- und intertextuelle Verweise (intratextuell: Für … gelten die Bestimmungen des ersten Abschnittes, mit den nachstehenden Änderungen und Ergänzungen; § 26 Abs. 2 gilt sinngemäss; intertextuell: in Übereinstimmung mit den polizeilichen Vorschriften; gemäss dem Bundesgesetz über das Jugend‐ strafrecht ( Jugendstrafgesetz) vom …); in einer Endnote wird die Fundstelle der Verweise angegeben; • Fachausdrücke (unter umfassender Beistandschaft; von Amtes wegen) und rechts- und verwaltungssprachliche Helvetismen (hängig, vorgängig); • Indikativ Präsens mit präskriptiver Bedeutung, sein + zu + Infinitiv, Modalv‐ erben (bes. können und dürfen). Zu letztem Punkt ist interessant zu bemerken, dass die Richtlinien von der Verwendung von Modalverben oder von sein + zu abraten, obwohl ihre Unver‐ meidbarkeit in gewissen Kontexten zugleich anerkannt wird: Da Erlasse definitionsgemäss hoheitliche Anordnungen enthalten, muss ihr norma‐ tiver Charakter nicht durch Formulierungen wie „müssen“, „haben … zu“ oder „sind … zu“ hervorgehoben werden. In gewissen Fällen lassen sich solche Formulierungen indes nicht vermeiden (RR ZH 2005: S. 64, Z. 223). Hinsichtlich der Referenz auf Personen gilt hier, was schon andernorts und für andere Textarten (vgl. I.3.4.2.2 und II.2 sowie Alghisi 2018) festgestellt wurde: Die Richtlinien verpflichten zwar auf eine sprachliche Gleichbehand‐ lung der Geschlechter (vgl. S. 77, Z. 276; vgl. auch Elmiger/ Tunger/ Schaeffer- 377 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="378"?> Lacroix 2017: 206), da aber die Verordnung im Laufe der Zeit Änderungen und Teilrevisionen unterzogen wurde, stehen in der Tat verschiedene, gegen‐ sätzliche Strategien zur Referenzherstellung nebeneinander, darunter auch das vielerorten getadelte, umstrittene generische Maskulinum. Hier wird also gegen das Einheitlichkeitsprinzip verstoßen (vgl. z. B. Personen, die gesetzliche Vertreterin oder der gesetzliche Vertreter, Anbieterinnen oder Anbietern einerseits; Gesuchstellern (Art. 22), Bewerber (Art. 45), Schweizern, Ausländer (Art. 47) und Ausländer (Art. 48) andererseits). Mit Blick auf die geschlechtergerechte Sprache ist die neue Verordnung von 2017 (nZH_1) stattdessen einheitlich und konse‐ quent formuliert. Auch von einem makrostrukturellen Gesichtspunkt her ist die totalrevidierte Fassung durch eine logischere Textstruktur gekennzeichnet: Allgemeine Bestimmungen, Ordentliche Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern, Einbürgerung von Schweizerinnen und Schweizern, Entlassung aus dem Bürgerrecht, Gebühren, Erleichterte Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern, Übergangsbestimmungen. Durch einen typischen gesetzessprachlichen Stil sind auch die anderen performativen Texte (Vereinbarung, Reglement, Richtlinien) des Subkorpus 3 gekennzeichnet, obwohl es auch hier um keine normativen Texte im engeren Sinne - um keine Gesetze - geht. Die drei Korpustexte sind eng miteinander verbunden und sollen zusammen rezipiert werden, da das Reglement (ZH_8) und die Richtlinien (ZH_9) Beilagen der Vereinbarung (ZH_10) sind (vgl. II.4.2.1). Mit Bezug auf diesen Text ist interessant zu bemerken, dass sich dort ein metakommunikativer Hinweis auf die Vorrangigkeit des schriftlichen Mediums im Rechtswesen (vgl. dazu I.1.1) findet. Dort heißt es nämlich, dass Änderungen an der Vereinbarung niedergeschrieben werden sollen, wenn man will, dass sie tatsächlich zum Tragen kommen: [1] Diese Vereinbarung wird in zwei Exemplaren ausgefertigt. Änderungen bedürfen zu ihrer Verbindlichkeit ebenfalls der Schriftform (ZH_10). Beim Reglement (ZH_8) und den Richtlinien (ZH_9) ist es schließlich die Textstruktur, die auffällig ist. Beide Texte sind nämlich tabellarisch aufgebaut: Sie bestehen jeweils aus zwei Spalten. In der linken Spalte sind die Stichwörter bzw. Titel der verschiedenen Bestimmungen anzutreffen. Rechts finden sich die regelrechten Bestimmungen. Diese sind auf verschiedene Abschnitte verteilt. Denen sind Zwischentitel in Fettdruck vorangestellt, die sich in grau unterlegten Kästen finden. 378 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="379"?> 361 Vgl. https: / / www.zh.ch/ internet/ de/ service/ nav/ footer/ nutzungsregelungen.html; 04.02.2020. 4.3.1.2 Informative Texte 4.3.1.2.1 Hypertext-Module Wie oben erwähnt, besteht die Gruppe der informativen Texte in erster Linie aus den Hypertext-Modulen, die aus der offiziellen Seite der kantonalen Be‐ hörden stammen. Makrostrukturell gesehen, sind die Module selbstverständlich standardisiert und haben also dieselbe Textanlage gemeinsam. Wie bei den Webseiten der Bundesbehörden (vgl. II.2.4.1.2) kann man auch hier bei der Beschreibung der Module zwischen drei Makrobereichen unterscheiden: einem Header, einem Inhaltsbereich und einem Footer. Im Header sind oben links das Symbol des Kantons - ein stilisierter, auf den Hinterbeinen stehender Löwe - und die diagonal geteilte, blau-weiße kantonale Fahne platziert. Daneben findet sich die offizielle Bezeichnung der Organisationseinheit, die für den im Mittelpunkt der Webseite stehenden Themenbereich zuständig ist, mit Angabe der entsprechenden übergeordneten Verwaltungseinheit. Bei der Einbürgerung geht es - wie schon gesagt - um das Gemeindeamt, das der Direktion der Justiz und des Innern angehört. Der restliche Teil des Headers ist überwiegend mit einem horizontal angelegten Bild besetzt, gewöhnlich einem Panoramabild des Kantons. Der Inhaltsbereich ist in drei Spalten geteilt. Links ist die Sub‐ navigation mit Verlinkungen auf die Unterseiten anzutreffen; in der zentralen Spalte erscheinen die Hauptinhalte der jeweiligen Seite; die rechte Spalte ist den Kontaktangaben gewidmet. Im Footer finden sich Verweise auf das Impressum der Website und auf die Nutzungsregelungen. Diese bestehen in allgemeinen „Hinweise[n] für die Nutzung der Internetseiten des Kantons Zürich“ 361 . Dort heißt es, dass der Kanton in Erfüllung des Öffentlichkeitsprinzips Informationen im Internet zugänglich mache, wobei er auf ihre Korrektheit achte, dass er aber keine Haftung für ihre Aktualisierung und Vollständigkeit trage und sich vorbehalte, Inhalte ohne Vorankündigung abzuändern: Im Rahmen des Öffentlichkeitsprinzips macht der Kanton Zürich wichtige Informa‐ tionen auf dem Internet allgemein abrufbar. Dabei achtet er mit grosser Sorgfalt auf die Richtigkeit und Vollständigkeit seines Informationsangebots. […] Der Kanton Zürich kann nicht gewährleisten, dass die von ihm auf dem Internet zur Verfügung gestellten Informationen jederzeit aktuell, detailgenau und vollständig sind und alle erdenklichen Sachverhalte berücksichtigen. […] Der Kanton Zürich behält sich vor, einzelne Informationsangebote bzw. Funktionali‐ täten abzuändern, grundsätzlich neu zu gestalten oder ohne Vorankündigung vom 379 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="380"?> Netz zu nehmen. Daher kann er nicht verantwortlich gemacht werden für die Folgen, wenn gewisse Informationen nicht mehr oder nicht mehr in der bisherigen Form zur Verfügung stehen. Im Footer ist schließlich eine Verlinkung positioniert, die es ermöglicht, zur mo‐ bilen Ansicht der Seite zu wechseln. Diese ist mehr oder weniger der Desktop- Ansicht ähnlich, nur die Platzierung einiger Navigationszonen weicht davon ab; die Subnavigation erscheint z. B. unter den Hauptinhalten. Im Folgenden findet sich als Beispiel ein Screenshot der mobilen Version der Einbürgerung- Startseite (ZH_32) (Abb. II.4.3): 380 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="381"?> Abb. II.4.3: Makrostruktur der Webseiten der kantonalen Verwaltung (Zürich) Der Inhaltsbereich der Hypertext-Module des Subkorpus 3 ist in den meisten Fällen durch lineare Fließtexte besetzt. Alle Internetseiten sind durch den Ein‐ satz (typo-)grafischer Elemente gekennzeichnet, die zur mentalen Verarbei‐ tung der Module seitens der Benutzer beitragen und deren Scanbarkeit erhöhen. Zu den grafischen Mitteln, die eingesetzt werden, gehören Zwischentitel, die die jeweiligen Texte grafisch-visuell gliedern, Aufzählungspunkte, Schriftgröße und Fettdruck, die als Blickfang dienen. Vgl. exemplarisch den Korpustext ZH_36 (Abb. II.4.4): 381 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="382"?> Abb. II.4.4: Typografische Elemente auf einer Webseite der kantonalen Verwaltung (Zürich) In mikrostruktureller Perspektive lässt sich feststellen, dass sich fast alle kan‐ tonalen Internetseiten zur Einbürgerung durch die Übernahme der Inhalte der normativen Bestimmungen, besonders der kantonalen Bürgerrechtsver‐ ordnung (ZH_1), auszeichnen. Bemerkenswert ist, dass ein expliziter intertex‐ tueller Verweis auf diesen Erlasstext häufig ausfällt, d. h. die Korpustexte reformulieren zwar die Verordnung bzw. deren Artikel, sie beziehen sich aber nicht ausdrücklich darauf. Auf den juristischen Apparat wird also verzichtet (vgl. I.3.5.1). Die inhaltliche Wiederaufnahme der gesetzlichen Artikel führt dazu, dass auch deren gesetzessprachliche Merkmale bzw. das rechtssprachliche Re‐ gister übernommen werden. Die Artikel erscheinen nun allerdings in einem neuen Kontext, dem Kontext der behördlichen Webseiten, die sich an die kan‐ 382 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="383"?> tonale Wohnbevölkerung richten und überwiegend eine informative Funktion haben. Sprachlich schlägt sich diese neue Orientierung in der Verwendung von Formen nieder, die auf den behördenseitigen Versuch hindeuten, sich den Bür‐ gern anzunähern. Daraus folgt, dass der amtliche Stil mit einem persönlichen, alltagssprachlicheren Stil alterniert bzw. sich die beiden Register miteinander vermischen. Von einem nüchternen, unpersönlichen Ton wechselt man häufig also zu einem persönlichem und umgekehrt. Der Korpustext 31 zur ordentlichen Einbürgerung öffnet z. B. mit einer Reihe von direkten Fragen, die an die Sprache der Werbung erinnern und wodurch die Behörden versuchen, in einen Dialog mit den Adressaten (den Bürgern) einzutreten: [2] Leben Sie als Kind ausländischer Eltern in der Schweiz? Sind Sie vor längerer Zeit in dieses Land gezogen oder sogar hier geboren und aufgewachsen? Dann ist die Schweiz Ihr neues Zuhause geworden. Was in Ihrer Gemeinde, in Ihrem Kanton oder der ganzen Schweiz geschieht, betrifft auch Sie! (ZH_31). Der persönliche Ton bleibt zwar im ganzen Text aufrechterhalten, manche Formulierungen sind jedoch semantisch vage und erinnern an die Sprache des Gesetzes, da sie gewisse Interpretationsspielräume offen lassen: [3] Falls Sie in der Schweiz geboren wurden oder zwischen 16 und 25 Jahre alt sind und während mindestens 5 Jahren in der Schweiz die schulische oder berufliche Ausbildung absolviert haben, verfügen Sie über einen bedingten Anspruch auf Einbürgerung in Ihrer Wohngemeinde (ZH_31). Was bedingter Anspruch auf Einbürgerung bedeutet, ist nicht unmittelbar evident oder sofort erschließbar. Darauf folgt keine unmittelbare Erläuterung bzw. eine Verlinkung dazu. Man braucht daher einiges Herumsurfen in den kantonalen Einbürgerungsseiten, um darauf zu kommen, dass es dabei um Einbürgerungs‐ voraussetzungen und zwar um eine Reduzierung der Anzahl der Jahre geht, die man in der Schweiz verbracht haben muss, bevor man das Einbürgerungsgesuch einreichen darf. Ein weiteres Beispiel für die Alternanz zwischen den verschiedenen Re‐ gistern findet sich im Korpustext 24 über die Dokumente, die einem Einbürge‐ rungsgesuch beizulegen sind: [4] Für die Gesuchstellung benötigen Sie die nachstehend aufgeführten Formulare und Dokumente. Sie sind für jede Person, die in das Einbürgerungsgesuch einbezogen ist, ab dem genannten Alter zu beschaffen. Bitte senden Sie die vollständig ausgefüllten und kompletten Gesuchsunterlagen direkt an […]. 383 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="384"?> Das Formular ist bei jeder Stadtbzw. Gemeindeverwaltung erhältlich (bei gemein‐ samer Gesuchstellung von Familien, Ehepaaren, Personen in eingetragener Partner‐ schaft und Einzelpersonen mit Kindern genügt ein Formular) (ZH_24; Hervorhe‐ bungen im Original gelöscht). Neben der direkten Ansprache des Adressaten (benötigen Sie) und dem höflich formulierten Imperativ (Bitte senden Sie) kommen unpersönliche, eine deonti‐ sche Bedeutung tragende Formulierungen mit sein + zu + Infinitiv (Sie sind … zu beschaffen) oder mit sein + Adjektiv (Das Formular ist … erhältlich) vor. Überdies erscheinen Strukturen, die für formellere Kontexte typisch sind: Partizipialattri‐ bute (nachstehend aufgeführten, vollständig ausgefüllten); Zustandspassiv (die … einbezogen ist); Präpositionalphrasen mit Nominalisierungen (bei gemeinsamer Gesuchstellung von). Oft ist der Adressatenbezug gepaart mit der Selbstreferenz durch das in exklusiver Bedeutung verwendete Pronomen wir, woraus sich ein Wir-Sie- Dialog zwischen Behörden und Bürgern anbahnt: [5] Die wichtigsten Neuerungen im Bundesrecht, die das ordentliche Einbürgerungs‐ verfahren betreffen, haben wir für Sie in diesem Informationsblatt zusammengefasst (ZH_34; Hervorhebungen im Original gelöscht). Der Hinweis, dass die gelieferten Informationen mit Bezug auf die Totalrevi‐ sion des Bürgerrechts die wichtigsten sind (Beispiel [5]), entspricht einer der Strategien der Vermittlung fachinterner Inhalte in fachexternen Kontexten und lässt sich mit Niederhauser (1997, 1999) als „Rhetorik der Wichtigkeit“ einstufen. Dadurch wird die Bedeutung der dargestellten Themen betont (vgl. I.3.5.1). Die Orientierung bzw. die Annäherung an die Bürger schlägt sich ferner in der Erteilung von Ratschlägen oder in der Aufforderung dazu nieder, direkten Kontakt mit den Behörden aufzunehmen, bzw. in der Einladung zu einem beratenden Gespräch mit Verwaltungsmitarbeitern: [6] Das neue Bürgerrecht bringt viele Neuerungen mit sich und wir empfehlen Ihnen, sich zu Ihren Chancen einer Einbürgerung noch im [sic] 2017 beraten zu lassen. Ihre Wohnsitzgemeinde kann Ihnen bei Fragen zu Ihrer Einbürgerung weiterhelfen. Hier finden Sie die Website Ihrer Wohnsitzgemeinde: [Link] (ZH_34). Im Beispiel [6] deutet die Empfehlung, sich noch im Rahmen des alten Bürgerrechts einbürgern zu lassen, darauf hin, dass ab dem Jahr 2018 die Einbürgerungsvoraussetzungen strenger sind (vgl. II.3). Implizit wird mitge‐ teilt, dass es nun schwieriger ist, Schweizer Bürger zu werden. Der Hinweis auf eine personalisierte Beratung ist im Subkorpus 3 nicht unüblich und 384 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="385"?> hebt die Bedeutung hervor, die einem persönlichen Kontakt Behörde- Bürger im digitalen Zeitalter immer noch zugemessen wird. Dies steht z.T. im Gegensatz zu den behördenseitigen Digitalisierungsanstrengungen, die - wie bereits erwähnt (vgl. II.4.2.1) - das Ziel verfolgen, Arbeit und Aufwand für Behörden und Bürger zu reduzieren, indem Dienstleistungen angeboten werden, bei denen kein direkter menschlicher Eingriff nötig ist. Auch in den neueren, mit Blick auf das totalrevidierte Gesetz aktualisierten Hypertext- Modulen zur Einbürgerung spielt der Verweis auf einen Kontakt mit den Behörden eine wichtige Rolle. Im Hypertext-Modul zu den häufig gestellten Fragen (FAQ) über die ordentliche Einbürgerung (nZH_10) lassen sich z. B. dieselben Phänomene der Bürgerorientierung feststellen, die bereits in den Einbürgerungsseiten zum bis Ende 2017 rechtskräftigen Bürgerrecht ermittelt wurden. In den Beispielen [7] und [8] werden die Perspektiven des Einbür‐ gerungswilligen, des angesprochenen Bürgers, und der Behörden zugleich hervorgerufen, was durch die Alternanz zwischen den Personalpronomen ich- Sie-wir zum Ausdruck gebracht wird: [7] Wo erhalte ich das Gesuchsformular? Das Gesuchsformular sowie alle notwendigen Beilagen erhalten Sie bei Ihrer Wohn‐ gemeinde oder auf dieser Webseite. Dem Gesuchsformular sind zusätzliche Dokumente im Original beizulegen. Weitere Auskunft dazu gibt Ihnen Ihre Wohngemeinde. Sie finden alle Informationen dazu auch auf dieser Webseite (nZH_10; Hervorhebungen im Original gelöscht). [8] Muss ich Zivilstands- oder Adressänderungen melden? Wenn Sie während dem Einbürgerungsverfahren umziehen, melden Sie uns bitte mög‐ lichst schnell die neue Adresse. Ebenso wenn Sie eine Zivilstandsänderung (Heirat, Scheidung, Geburt) haben. So können wir Ihr Gesuch entsprechend weiterbearbeiten, ohne grosse Verzögerungen zu verursachen (nZH_10; Hervorhebungen im Original gelöscht). Die Erwähnung potentieller Verzögerungen und der Wunsch, sie zu verhindern bzw. zu vermindern, im Beispiel [8] deutet erneut auf die behördenseitige Nähe zu den Bürgern hin. Darin zeigt sich, dass sich die Behörden in Hinblick auf Zeitaufwand der Bedürfnisse der Wohnbevölkerung bewusst sind bzw. sie berücksichtigen wollen. Weitere Beispiele für diese explizite Rücksichtnahme finden sich überall im Subkorpus 3. Vgl. etwa: [9] Zusätzlich entstehen Kosten durch die Beschaffung der Unterlagen wie Wohn‐ sitzbestätigungen, Betreibungsregisterauszug, Bescheinigung des Steueramtes usw. Es lohnt sich darum, sich vor der Einreichung des Gesuchs bei der Wohngemeinde beraten zu lassen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind (nZH_10). 385 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="386"?> [10] Bitte beachten Sie, dass wir Ihr Dossier im Archiv bestellen müssen, was einige Zeit in Anspruch nehmen kann (ZH_23). Die ausdrückliche Berücksichtigung der Bedürfnisse des Rezipienten wird in den meisten Fällen funktional eingesetzt und dient u. a. dazu, mögliche bürgers‐ eitige Vorwürfe vorwegzunehmen und sich vor den Bürgern für eventuelle Dysfunktionen zu rechtfertigen. Dabei wird gleichzeitig darauf abgezielt, ein positives Image der Behörden und ihrer Tätigkeit zu pflegen. Die Ausrichtung auf die Bürger findet schließlich ihren Niederschlag in einer Reihe sprachlicher Formulierungen, die in verschiedenen Korpustexten feststellbar sind und das ganze Subkorpus kennzeichnen. Dazu gehört die Formulierung Bitte beachten Sie, die für wichtig gehaltenen Textstellen voran‐ gestellt ist und die Aufmerksamkeit des Adressaten auf das fokussiert, was folgt (vgl. etwa Beispiel [10]). Dieselbe Funktion hat der Ausdruck Hinweis, der ebenfalls der Aufmerksamkeitslenkung auf wichtige Inhalte dient: [10] Hinweis: Personen, die in eingetragener Partnerschaft leben, können sich nicht im erleichterten Verfahren einbürgern lassen. Sie haben das ordentliche Einbürgerungs‐ verfahren zu durchlaufen, können dabei aber von verkürzten Wohnsitzanforderungen des Bundes profitieren (ZH_25). Der Bezug auf Personen durch Personenbezeichnungen ist insofern bürgerori‐ entiert, als man versucht, geschlechtergerecht zu formulieren und also beide Geschlechter sprachlich sichtbar zu machen. Die meist benutzte Strategie in den kantonalen Webseiten ist die Verwendung der ausgeschriebenen Doppelformen. Die Hypertext-Module weisen aber auch viele Varianten durch den Gebrauch anderer, teilweise gegensätzlicher Strategien auf, wobei hier das Prinzip der kreativen Lösung Anwendung zu finden scheint (vgl. I.3.4.2.2 und II.2.4.2). Dies kann allerdings auch Interpretationsschwierigkeiten bereiten, wie das Beispiel [11] zeigt. Dort werden sowohl Doppelformen (Ihres ausländischen Ehepartners bzw. Ihrer ausländischen Ehepartnerin) als auch das generische Maskulinum (Bürgerrechtsbewerber) gleichzeitig benutzt, wobei sich die Frage stellen könnte, ob mit Bürgerrechtsbewerber nur die Männer gemeint sind: [11] Für die erleichterte Einbürgerung Ihres ausländischen Ehepartners bzw. Ihrer ausländischen Ehepartnerin akzeptiert das Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern auch einen ‚Bürgerrechtsnachweis für Schweizer Staatsangehörige‘. […] Im Ausland wohnhafte Bürgerrechtsbewerber wenden sich bitte an die zuständige Schweizer Vertretung (ZH_23; Hervorhebungen im Original gelöscht). Auch textdeiktische Elemente führen schließlich die Rezipienten durch die Texte und erleichtern somit deren Rezeption bzw. leiten an verlinkte Texte 386 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="387"?> weiter. Beispiele sind Formulierungen wie In den folgenden Kapiteln finden Sie alle nötigen Informationen (ZH_32); Hier sehen Sie, wie … (ZH_31); Eine allgemeine Übersicht … erhalten Sie aus den folgenden Unterlagen (ZH_31); Hier finden Sie die Unterlagen … (ZH_34). Die Verlinkungen, die auf den Hypertext- Modulen des Subkorpus 3 zu finden sind, sind entweder themenrelevant und siteintern (vgl. z. B. das Modul zur ordentlichen Einbürgerung ZH_31, das zu den kantonalen Internetseiten über die Einbürgerungsbedingungen ZH_35, über die Gebühren ZH_27 und über die verlangten Formulare ZH_24 führt), oder sie verweisen auf die thematisch zusammenhängenden Seiten der anderen föderalen Ebenen - besonders der Bundesbehörden -, vor allem auf die Seiten des Staatssekretariats für Migration SEM (der Text ZH_31 führt etwa zu den SEM-Seiten über das Thema Doppelstaatsangehörigkeit). Oft handelt es sich bei den Links aber um beigelegte PDF-Dateien, die dasselbe Thema bzw. Unterthema des jeweiligen Hypertext-Moduls behandeln (vgl. z. B. die Korpustexte ZH_18 und ZH_36, die beide die Wohnsitzerfordernisse zum Gegenstand haben). Die meisten PDF-Texte sind dann auch auf den Hypertext-Modulen Formulare & Merkblätter (ZH_26) und Informationen & Publikationen (ZH_28) gesammelt. Das bedeutet, dass dieselben materiellen Texte an mehreren Stellen erscheinen. 4.3.1.2.2 E-Texte bzw. PDF-Dateien Die informativen PDF-Dateien weisen allgemein dieselben sprachlich-struk‐ turellen Charakteristika auf wie die Hypertext-Module. Auch in ihnen werden grafische Mittel eingesetzt, die die Inhalte visuell strukturieren. Dabei geht es besonders um Auflistungen und Tabellen, in denen die Informationen in verknappter Form dargestellt sind (vgl. z. B. ZH_7, ZH_14, ZH_17, ZH_18, ZH_20). Vgl. z. B. den Korpustext ZH_14 (Abb. II.4.5): 387 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="388"?> Abteilung Einbürgerungen Direktion der Justiz und des Innern Gemeindeamt Abteilung Einbürgerungen Merkblatt für die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern im Kanton Zürich (Ordentliche Einbürgerung Art. 13 BüG) Wohnsitzerfordernisse Bund Die einbürgerungswillige Person muss während insgesamt 12 Jahren in der Schweiz gewohnt haben (Bundesfrist). 3 dieser 12 Jahre müssen in den letzten 5 Jahren vor Einreichung des Einbürgerungsgesuches liegen. «Jugendbonus» Für die Berechnung der Bundesfrist wird die Zeit, während der die gesuchstellende Person zwischen 10 und 20 Jahre alt war und dabei in der Schweiz lebte, doppelt gezählt. «Bonus für verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen» Stellen verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen gemeinsam ein Einbürgerungsgesuch, so muss nur eine die Bundesfrist erfüllen. Für die andere genügt es, wenn sie während insgesamt 5 Jahren in der Schweiz gewohnt hat, wovon 1 Jahr unmittelbar vor der Gesuchstellung und während mindestens drei Jahren in ehelicher Gemeinschaft oder in eingetragener Partnerschaft lebt. Von diesem Bonus profitieren auch verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen, deren Partnerin oder Partner bereits allein eingebürgert worden ist. Gemeinde und Kanton Die einbürgerungswillige Person muss seit mindestens 2 Jahren ununterbrochen in der Gemeinde wohnen. Vorbehalten bleiben weitergehende kommunale Vorschriften. Wenn sie zwischen 16 und 25 Jahre alt ist und während 5 Jahren in der Schweiz die Schule in einer Landessprache besucht hat, genügen 2 Jahre Wohnsitz im Kanton. Deutschkenntnisse Die einbürgerungswillige Person muss über Deutschkenntnisse nach Niveaustufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GER) verfügen: Sprechen, Hören: B1.1, Schreiben: A2.1, Lesen: A2.2. Diese Kenntnisse sind mit einem Sprachtest nachzuweisen. Vom Sprachtest befreit sind Personen, die: deutscher Muttersprache sind, bei Gesuchseinreichung noch nicht 16 Jahre alt sind, in der Schweiz während 5 Jahren die Schule auf Volksschul- oder Sekundarstufe II (Lehre, Mittelschule) in deutscher Sprache besucht haben, über ein Sprachdiplom oder Zeugnis verfügen, das die verlangten Deutschkenntnisse nachweist. Integration Die einbürgerungswillige Person muss in die schweizerischen und örtlichen Verhältnisse eingegliedert sein, Abb. II.4.5: Beispiel für eine informative PDF-Datei der kantonalen Verwaltung (Zürich) 388 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="389"?> 362 Die Textbezeichnung ist allerdings im regelrechten Text nicht belegt (ZH_39). Auch in den PDF-Texten werden normative Bestimmungen ohne große sprach‐ liche Veränderungen übernommen. Interessant ist hier, dass in einigen Kor‐ pustexten (vgl. z. B. ZH_4, ZH_7, ZH_14, ZH_18) intertextuelle Verweise auf die rechtlichen Quellen zu finden sind. Dabei geht es aber fast immer um den abstrakten, übergeordneten Art. 13 des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 (vgl. II.2). Relevante Artikel aus der kantonalen Bürgerrechtsverordnung (ZH_1), die tatsächlich in den Dateien fast wortwörtlich wiederaufgenommen werden, finden hingegen keine explizite Erwähnung. In den meisten Texten ist ein nüch‐ ternes, unpersönliches Register vorherrschend, das den gesetzessprachlichen Stil nachahmt. In einigen, wenigen Fällen finden sich allerdings zugleich Belege für Stilvermischungen, d. h. für den Wechsel zu einem persönlicheren Ton durch die Verwendung von Personalpronomen, die sich auf die Bürger oder auf die Behörden beziehen. Das trifft besonders auf die Fälle zu, in denen sich die Verwaltung auf die eigene Tätigkeit bezieht: [12] Wir benötigen jeweils ein Scheidungsurteil/ Urteil über die Auflösung der einge‐ tragenen Partnerschaft im Original, das rechtskräftig ist (ZH_7, Hervorhebung im Original gelöscht). In einem Fall ist der persönliche Ton die Regel und wird konsequent umgesetzt. Dabei geht es um eine PDF-Datei, die unter dem Namen Leitfaden zur Einbürge‐ rung im Kanton Zürich gespeichert ist. 362 Im Leitfaden geht es um die ordentliche Einbürgerung bzw. um die Hauptetappen, aus denen sich das ordentliche Einbürgerungsverfahren zusammensetzt. Der Text entspricht einer Handlungs‐ anweisung, in der dem Bürger durch höfliche Imperativformen (Überprüfen Sie, ob Sie …; gehen Sie dann wie folgt vor; Beziehen Sie das Gesuchsformular …; Füllen Sie es aus …) gesagt wird, wie er sich bei einer Gesuchstellung verhalten soll. Seine Perspektive bzw. seine Bedürfnisse werden insofern berücksichtigt, als man die Reduktion des Arbeitsaufwandes für ihn betont: [13] Sobald Sie das Gesuch eingereicht haben, durchläuft es den Weg durch die In‐ stanzen von allein. Dafür brauchen Sie nichts mehr zu unternehmen. Falls erforderlich, werden Sie von den Behörden kontaktiert (ZH_39). Die systematische Ansprache des Adressaten bzw. des Bürgers ist schließlich in der Leichte-Sprache-Fassung (vgl. I.3.2) des Textes anzutreffen, der über das neue Bürgerrecht des Bundes informiert (ZH_5). Anders als der Ausgangstext (ZH_5) ist die Version in Leichter Sprache (ZH_6) durch eine Parallelstruktur gekennzeichnet, bei der die mit dem neuen Recht eingeführten Einbürgerungs‐ 389 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="390"?> voraussetzungen durch die Standardformulierung Personalpronomen Sie + Modalverb versprachlicht werden: [13] - Sie müssen neu eine C-Bewilligung haben für die Einbürgerung. […] - Sie dürfen keine Straftaten gemacht haben, die noch im Strafregister sind. […] - Sie müssen die Werte der Bundesverfassung F respektieren. Das heisst zum Beispiel, dass Sie respektieren, dass alle Menschen ihre eigene Meinung haben dürfen und frei entscheiden dürfen. Sie glauben zum Beispiel auch, dass Frauen und Männer gleich wichtig sind (ZH_6; Hervorhebungen im Original gelöscht). Der Text in Leichter Sprache weist vor allem einfache Sätze auf und enthält durch das heisst eingeführte Exemplifizierungen, die darauf abzielen, die in einem höheren Register versprachlichten juristischen Begriffe auf eine ein‐ fachere, nachvollziehbare Weise zu reformulieren (vgl. z.B. den nominalen Ausdruck die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der in der Bürgerrechtsver‐ ordnung des Bundes von 2016 benutzt und im Text (ZH_6) durch den Nebensatz dass Frauen und Männer gleich wichtig sind umformuliert wird). Was im Allgemeinen die informativen Hypertexte von den informativen E- Texten unterscheidet, ist einfach nur die Sorgfalt bzw. der Herstellungsauf‐ wand, mit denen sie produziert werden. Die PDF-Dateien sind auf Dauer ange‐ legt und aufwendig gestaltet. Einzelne, als abgeschlossene Einheit gespeicherte Dateien bringen Inhalte zusammen, die in den Hypertexten auf verschiedene Module verteilt sind (vgl. z. B. den Text ZH_14 - Merkblatt für die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern im Kanton Zürich -, der Inhalte bündelt, die getrennt in den Hypertextmodulen ZH_29, ZH_35 und ZH_36 dargestellt sind). Die Hypertext-Module sind hingegen „flüssiger“ und weisen eine gewisse Dy‐ namik auf, weil es einfacher und unmittelbarer ist, sie zu verändern. Die beiden medialen Realisierungen sind insofern technisch miteinander verbunden, als nicht nur in den Hypertexten auf die PDF-Texte verwiesen wird, sondern auch umgekehrt durch direkt anklickbare Links in den PDF-Dateien. Der größte Herstellungsaufwand lässt sich unter den PDF-Dateien dem Handbuch Einbürgerungen (ZH_21) zuschreiben. Dieses umfasst 80 Seiten, ist bunt und enthält viele Ikone, Bilder, Grafiken und Tabellen. Interessant ist hier der Vergleich zwischen der alten und der neuen Fassung des Handbuchs (nZH_14). Während die alte Version durch eine attraktive Gestaltung gekenn‐ zeichnet ist, weist das neue Handbuch eine seriöse, nüchterne Aufbereitung auf. Es ist umfangreicher als das ältere (128 Seiten), nicht bunt, und es bein‐ haltet keine Grafiken und wenige Tabellen. In ihm werden das intendierte Zielpublikum und die ratio oder der ‚Sitz im Leben‘ bzw. die Funktion des Textes explizit erwähnt: 390 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="391"?> [14] Das Handbuch ist ein Arbeitsinstrument und Nachschlagwerk für die kommu‐ nalen Einbürgerungsbehörden und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gemeindeverwaltungen, die mit der Vorbereitung von Einbürgerungsentscheiden betraut sind. […] Die Prüfung der Einbürgerungsvoraussetzungen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Das Handbuch will die Gemeinden dabei unterstützen und einen Beitrag leisten zu einer einheitlichen und rechtsgleichen Einbürgerungspraxis im Kanton Zürich (nZH_14: 8). Damit lässt sich das Handbuch als behördeninterner Text, d. h. ein Text von den und prinzipiell für die Behörden, einstufen. 4.3.1.2.3 Datenerhebende und interaktionsbezogene Texte Die datenerhebenden und interaktionsbezogenen Texte des Subkorpus 3 weisen sprachlich-strukturell die typischen Merkmale der Formulare auf, wie sie in verschiedenen sprachwissenschaftlichen Studien festgestellt wurden (vgl. dazu Becker-Mrotzek/ Scherner 2000). Formulare beruhen in der Regel auf normativen Texten; das kommt ge‐ wöhnlich in den Formularen selbst explizit zum Ausdruck. In der Erklärung betreffend Beachten der Rechtsordnung und Vollmacht (ZH_3) wird z. B. auf das Bürgerrechtsgesetz von 1952 verwiesen. Im Titel findet der Art. 13 in Klammern Erwähnung ((Ordentliche Einbürgerung Art. 13 BüG)); im Haupttext nimmt man auf die Artikel 14 (Nach Artikel 14 des Bürgerrechtsgesetzes) und 41 (aufgrund von Art. 41 des Bürgerrechtsgesetzes) Bezug. In der Bescheinigung des Steueramts der Gemeinde/ Stadt … zuhanden der Einbürgerungsbehörden (ZH_3) findet sich ein einfacher Verweis auf die kantonale Bürgerrechtsverordnung (Gemäss kan‐ tonaler Bürgerrechtsverordnung). Die kantonale Bürgerrechtsverordnung wird auch im Lebenslauf (ZH_12) durch eine präzise Angabe des relevanten Artikels erwähnt (siehe § 20 Abs. 2 lit. a der kantonalen Bürgerrechtsverordnung). Wie bei den informativen Texten wird auch in den Formularen der Stil der normativen Bezugstexte wieder aufgenommen. Das geschieht insbesondere bei den juristi‐ schen Begriffen, die oft für den Bürger wenig nachvollziehbar sind (vgl. etwa die folgenden Ausdrücke, die in der Erklärung (ZH_3) belegt sind: Tatbestände …, die auch in der Schweiz geahndet werden; keine ungelöschten Vorstrafen; Delikte; Strafverfolgung; Verurteilung; nichtig erklärt werden; Falls bevormundet, unter umfassender Beistandschaft stehend oder durch vorsorgebeauftragte Person vertreten). Formulare beinhalten gewöhnlich Instruktionen für den Ausfüller, die eine deontische Bedeutung haben. In der Erklärung (ZH_3) werden die Anweisungen z. B. durch sein + zu + Infinitiv oder durch einen allgemeineren bitte + Infinitiv versprachlicht: 391 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="392"?> [15] (Diese Erklärung ist von jeder gesuchstellenden Person ab vollendetem 10. Altersjahr abzugeben) (ZH_3; Hervorhebungen im Original gelöscht). [16] Hinweis: Diese Erklärung wird ausschliesslich im Zusammenhang mit der beantragten Einbürgerung verwendet. Falls sie nicht unterzeichnet werden kann, bitte Gründe separat schriftlich darlegen! (ZH_3; im Original in Fettdruck). Instruktionen werden außerdem in den Texten des Subkorpus 3 einfach durch Infinitiv mit zu (Vom Steueramt auszufüllen) oder mit dem schlichten Infinitiv ohne bitte (bei Ehepaaren beide Namen/ Vornamen erwähnen) ausgedrückt. In Formularen finden sich oft vorformulierte Deklarationen mit Leerstellen für den Namen der Person, die das Formular ausfüllt. Vgl. z. B. im Subkorpus 3: [17] Ich, (Name), (Vorname), geboren am (Geburtsdatum) bestätige, dass […] (ZH_3; Hervorhebungen im Original gelöscht). Andere für Formulare typische Strategien zur Anforderung von Informa‐ tionen seitens der Bürger sind im auszufüllenden Lebenslauf (ZH_12) be‐ merkbar. Dabei geht es um ausformulierte, direkte Fragen mit Sie-Ansprache (Haben Sie Schulen in der Schweiz besucht? ), worauf Kästchen zum Ankreuzen (ja/ nein) oder Leerstellen für die Antwort folgen, oder um elliptische (auf ein Stichwort reduzierte) Fragen (Wenn ja: nähere Bezeichnung, Ort). Zu bemerken ist schließlich der heute auch in Formularen verbreitete Versuch, diese Kommunikationsform geschlechtergerecht zu formulieren. Die Formulare des Subkorpus 3 sind besonders durch die Verwendung ausge‐ schriebener, aber auch abgekürzter Doppelformen gekennzeichnet (vgl. etwa Formulierungen wie Vom Bewerber/ von der Bewerberin vs. für den/ die Einbür‐ gerungsbewerber/ in). Nur in zwei Fällen sind generische Maskulina belegt: Arbeitgeber (ZH_12) und Gesuchsteller (ZH_30), wobei es sich im ersten Fall um eine juristische Person handelt, im zweiten um einen Beleg auf einem (in der Regel wenig sprachlich kontrollierten) Hypertext-Modul. 4.3.2 Stadt Zürich Die Hypertext-Module der Stadt Zürich weisen eine minimale, schmucklose Gestaltung auf. Sie sind zweifarbig (schwarz und blau) vor weißem Hinter‐ grund und enthalten keine Bilder oder Grafiken. Die Hypertexte sind durch eher kurze, überwiegend aus einfachen Sätzen bestehende Fließtexte besetzt. Wie bei den Hypertexten im Allgemeinen üblich dienen auch hier grafische Mittel wie Schriftgröße, Fett- und Farbdruck und Aufzählungsstriche der visuellen Orientierung der Benutzer auf der Webseite. Einen allgemeinen Eindruck über 392 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="393"?> 363 Vgl. https: / / www.stadt-zuerich.ch/ portal/ de/ index/ footer/ barrierefreiheit.html#; 22.08.2019. die Anlage der Internetseiten der Stadt Zürich bietet die folgende Abbildung (Korpustext ZH_46; vgl. Abb. II.4.6): Abb. II.4.6: Makrostruktur der Webseiten der gemeindlichen Verwaltung (Stadt Zürich) Was bei den Stadt-Zürich-Seiten besonders auffällt und die gemeindlichen Inter‐ netseiten von den kantonalen oder föderalen unterscheidet, ist die systematische Präsenz eines ikonischen Elements, das der Funktion des Vorlesens entspricht. Wenn man darauf klickt, öffnet sich eine Audio-Datei, wodurch die jeweilige Seite laut gelesen wird, während die vorgelesenen Textstellen automatisch markiert werden. Die Funktion ist eine Dienstleistung für Personen mit Sehbe‐ hinderung und ist Teil der barrierefreien Gestaltung der Website der Stadt Zürich. Auf der Website selber steht, dass der Webauftritt zwar „weitgehend barrierefrei zugänglich“ ist, dass aber „[e]inige Inhalte […] nicht oder noch nicht barrierefrei umgesetzt“ sind. 363 Die „Menschen mit Behinderung“ werden daher aufgefordert, für die Inhalte, die noch nicht hindernisfrei sind, sich an die zuständigen gemeindlichen Behörden zu wenden. Die Barrierefreiheit gehört in den Rahmen der allgemeinen Bürgerorien‐ tierung, die die gemeindlichen Seiten charakterisiert. Sprachlich schlägt sie 393 4.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="394"?> sich besonders in einem systematisch angewandten persönlichen Ton nieder. Die Bürger werden ständig durch das Pronomen Sie angesprochen. Textdeik‐ tische Elemente führen ferner die Benutzer durch den Text und leiten sie an die relevanten Internetseiten weiter. Dabei geht es entweder um siteinterne Verlinkungen oder um Links auf Dokumente des Kantons Zürich (z. B. das Merkblatt Einbürgerung ZH_14) bzw. auf die Site des Staatssekretariats für Migration SEM: [18] Wenn Sie sich einbürgern lassen wollen, müssen Sie zurzeit 12 Jahre in der Schweiz gelebt haben und Sie brauchen ein Einbürgerungsformular. Alle weiteren Anforderungen finden Sie unter den Voraussetzungen (ZH_46; Hervorhebungen im Original gelöscht). [19] Sie möchten ein Einbürgerungsgesuch einreichen. Dazu müssen Sie alle fol‐ genden Voraussetzungen erfüllen (ZH_42). [20] Prüfen Sie hier, ob Sie genügend lange in der Schweiz leben für eine Einbürgerung (ZH_42). Wie bei den kantonalen Texten ist die Bürgerorientierung auch bei den gemeind‐ lichen an der Pflege des Dialogs mit dem Bürger und an Ratschlägen bzw. Empfehlungen erkennbar: [21] Haben Sie Fragen? In unserem Büro bieten wir eine persönliche Beratung an. Hier bekommen Sie auch die Formulare für das Gesuch. Bitte bringen Sie Ihren Ausländerausweis mit (ZH_53; Hervorhebungen im Original gelöscht). [22] Um sich optimal auf das Einbürgerungsgespräch vorzubereiten, lesen Sie bitte die Broschüre zum Einbürgerungsgespräch (ZH_48; Hervorhebungen im Original gelöscht). Im Beispiel [22] wird nicht nur eine Empfehlung zu einer angemessenen Vorbe‐ reitung auf den Einbürgerungstest gegeben, sondern es werden auch konkrete Vertiefungsmöglichkeiten in Form einer Broschüre zum Einbürgerungsgespräch (ZH_54) angeboten. Die Broschüre ist von den gemeindlichen Behörden selbst für Einbürgerungswillige konzipiert und enthält landeskundliche Infor‐ mationen über die Schweiz. Sie ist relativ umfangreich (44 Seiten), aufwendig gestaltet, und beinhaltet Bilder, Landkarten, Schemata und typografische Mittel (wie etwa Fettdruck) zur visuellen Orientierung. Makrostrukturell ist sie in kurze Abschnitte mit Marginalien für jeweils relevante Begriffe geteilt. Mik‐ rostrukturell ist die Broschüre durch kurze, einfache Sätze gekennzeichnet. Auch hier dominiert der Wir-Sie-Dialog zwischen Behörden und Bürgern. Die Perspektive des Bürgers wird ständig berücksichtigt, indem man auf seine 394 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="395"?> 364 Vgl. https: / / www.swissinfo.ch/ ger/ direkte-demokratie_so-funktioniert-das-politis che-system-der-schweiz/ 31029048; 22.08.2019. Bedürfnisse Rücksicht nimmt und mögliche bürgerseitige Einwände vorweg‐ nimmt: [23] Nach dem Einbürgerungsgespräch erhalten Sie von uns einen Brief, in dem wir Ihnen die weiteren Schritte erklären. Es kann einige Zeit dauern, bis der Brief kommt. Wir bitten Sie um Geduld (ZH_54; Hervorhebungen im Original gelöscht). Beigefügt sind am Ende ein Glossar und eine Seite mit Verweisen auf weiteres informierendes Material mit entsprechenden Links. Dazu gehört z. B. eine Verlinkung zu einem Video, auf das auch in dem Hypertext-Modul (ZH_48) verwiesen wird, in dem der Link zur Broschüre erscheint. Dabei handelt es sich um ein Video der SWI swissinfo.ch, einer öffentlich-rechtlichen Nachrichten- und Informationsplattform der Schweiz, dessen Titel Direkte Demokratie. So funktioniert das politische System der Schweiz lautet. Es besteht aus Zeichentrick-Figuren mit Off-Stimmen vermischt mit Archivaufnahmen über Schweizer institutionelle Ereignisse. Das Video ist als Alternative bzw. Ergänzung zur Informationsbroschüre zum Einbürgerungsgespräch (ZH_54) zu verstehen: 364 [24] Was diese Rechte innerhalb des politischen Systems der Schweiz bedeuten, hilft Ihnen folgendes Video zu verstehen (ZH_48). Im Beispiel [24] wird die wissensvermittelnde Strategie der Rhetorik der Wich‐ tigkeit (Was die Rechte für den Bürger konkret bedeuten) umgesetzt (vgl. I.3.5.1). Trotz formal wenig attraktiver Textgestaltung wird das Prinzip der Bürgerori‐ entierung in den gemeindlichen Seiten der Stadt Zürich konsequent umgesetzt. Die Seiten beruhen auf einem gut durchdachten Konzept, wobei die technischen Verlinkungen zwischen Dokumenten, die eng thematisch zusammenhängen, leicht zu finden und zu verfolgen sind. 4.4 Textfamilien und Textfelder Wie bereits mit Bezug auf das Subkorpus 1 und das Subkorpus 2 bemerkt, kann man auch die Texte des Subkorpus 3 als Textfamilien einstufen. Auch hier haben wir mit Teiltexten zu tun, die ständig wiederholt werden, mit virtuellen Texteinheiten, die erneut materialisiert werden. Wie in den vorangehenden Abschnitten schon betont (vgl. II.4.3), geht es dabei in erster Linie um die 395 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="396"?> Normen der kantonalen Bürgerrechtsverordnung (ZH_1), die in verschiedenen Korpustexten erscheinen; sie werden aus dem Kontext der normativ-performa‐ tiven Texte herausgenommen und in dem Kontext der informativen Texte wie‐ dergegeben. Bei diesem Prozess durchlaufen die virtuellen Texte Änderungen, was sich oft als angestrebte Anpassung an die neuen situativen Bedingungen (Änderung der intendierten bzw. Hauptadressaten) interpretieren lässt. Wie beim Subkorpus 2 sind die Textfamilien besonders bei Teiltexten feststellbar, die die formellen und materiellen Einbürgerungsvoraussetzungen im Kanton Zürich als Gegenstand haben und damit die normative Lage im Kanton schil‐ dern. Dabei handelt es sich um die Inhalte, die für die Einbürgerungswilligen am relevantesten sind und sie besonders interessieren. Es ist also nachvollziehbar, dass gerade diese Inhalte in den behördlichen Textprodukten häufig im Fokus stehen. Im Folgenden werden ein paar Beispiele ausführlich dargestellt und kommentiert. Das erste Beispiel betrifft die Einbürgerungsvoraussetzung, die im Art. 5 der Bürgerrechtsverordnung (ZH_1) behandelt wird und die wirtschaftliche Erhaltungsfähigkeit der einbürgerungswilligen Person betrifft (Abb. II.4.7): Abb. II.4.7: Art. 5 der Bürgerrechtsverordnung von 1978 Der Artikel weist eine klare Gliederung auf. Er besteht aus 2 Abschnitten, wobei sich Abschnitt 2 aus den Buchstaben a, b und c zusammensetzt. Sein propositionaler Gehalt wird in drei Korpustexten übernommen. Dabei handelt es sich um das Merkblatt für die Einbürgerung (ZH_14), das Hypertext-Modul Voraussetzungen (ZH_36) und das Hypertext-Modul der Stadt Zürich, das den Titel Allgemeine Voraussetzungen (ZH_42) trägt. Die drei thematisch äquiva‐ 396 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="397"?> 365 Die Hervorhebungen der Originale sind in der Tabelle gelöscht. lenten Textausschnitte sind in der folgenden Tabelle (Tab. II.4.4) nebeneinander gestellt: 365 ZH_14 ZH_36 ZH_42 Die einbürgerungswillige Person muss • sich und die eigene Fa‐ milie selber oder durch Rechtsansprüche gegen Dritte erhalten können (Sozialhilfe gilt nicht als Rechtsanspruch gegen Dritte). • Das Betreibungsregister darf für die letzten 5 Jahre keine Verlust‐ scheine und keine Betreibungen der öf‐ fentlichen Hand oder wegen ausstehenden Krankenkassenprämien enthalten. • Die Verpflichtungen ge‐ genüber den Steuerbe‐ hörden müssen in den letzten 5 Jahren erfüllt worden sein. Die einbürgerungswillige Person muss in der Lage sein, ihren finanziellen Verpflich‐ tungen nachzukommen und sich und ihre Familie zu er‐ halten. Dies setzt voraus, dass: • Lebenskosten und Un‐ terhaltsverpflichtungen durch Einkommen, Ver‐ mögen, Rechtsansprüche gegen Dritte gedeckt sind (Sozialhilfe gilt nicht als Rechtsanspruch gegen Dritte), • im Betreibungsregister für die letzten 5 Jahre keine Verlustscheine, keine Betreibungen von öffentlich-rechtlichen Kör‐ perschaften und keine Betreibungen wegen aus‐ stehenden Krankenkassen‐ prämien eingetragen sind, • die Verpflichtungen gegen‐ über den Steuerbehörden für die letzten 5 Jahre er‐ füllt worden sind. • Sie erhalten keine Sozialhilfe. • Sie haben Ihre Steuern regelmässig bezahlt. • In Ihrem Betrei‐ bungsregister sind für die letzten 5 Jahre keine Einträge vom Bund, vom Kanton, von der Gemeinde oder von Kranken‐ kassen. Tab. II.4.4: Textfamilie im Subkorpus 3: Wirtschaftliche Erhaltungsfähigkeit in den Sekundärtexten Im Korpustext ZH_14 werden die Absätze 1 und 2a. des Normtextes unter einem einzigen Punkt zusammengefasst. Die Fachausdrücke Einkommen und Vermögen fallen aus, während der unbestimmte Begriff Rechtsansprüche gegen Dritte beibehalten und ex negativo durch eine Art Definition, die in Klammern steht, präzisiert wird; dabei wird angegeben, dass ein konkreterer Fall (die Sozialhilfe) den genannten Rechtsansprüchen nicht unterzuordnen ist. Die unbestimmte zeitliche Information unter dem Buchstaben a. (auf absehbare Zeit) wird gestrichen und auch das Konditionalgefüge des Absatzes 2, das im Indikativ Präsens mit präskriptiver Bedeutung steht, fällt weg. Es wird durch 397 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="398"?> 366 Die Hervorhebungen der Originale sind in den Tabellen gelöscht. Einfachsätze mit Modalverben in deontischer Bedeutung ersetzt (können, dürfen, müssen). Anstelle der präzisen Zeitangabe des Erlasstexts für den Zeitraum von fünf Jahren vor Einreichung des Gesuchs bis zum Abschluss des Einbürge‐ rungsverfahrens steht der einfachere, aber etwas vagere Ausdruck die letzten 5 Jahre. Der Text in ZH_36 ist dem Normtext am nächsten. Am fernsten ist der gemeindliche Text in ZH_42. Dort erfolgt eine Umfokussierung, indem der angesprochene Bürger zum Subjekt des Satzes wird (Sie). Absatz 2a. wird auf die Botschaft reduziert, dass die einbürgerungswillige Person keine Sozial‐ hilfe erhalten (haben) soll, wobei implizit bleibt, dass sie sich und die eigene Familie durch andere Mittel bzw. Quellen (etwa Einkommen oder Vermögen) zu versorgen hat. Die einfachere, allgemein verständlichere Formulierung Sie haben Ihre Steuern regelmässig bezahlt tritt an die Stelle des stilistisch höheren, abstrakteren Ausdrucks ‚die Verpflichtungen gegenüber den Steuerbehörden erfüllen‘. Das Fachwort Betreibungsregister wird hingegen auch im Beispiel ZH_42 beibehalten und also nicht erläutert. Im Allgemeinen kommt es in den informativen Texten zu keiner Reduktion der Informationsdichte des Ausgangs‐ textes im Sinne Niederhausers (1997, 1999; vgl. I.3.5.1); vielmehr werden einige Inhaltselemente des Normtextes konkretisiert, indem Fälle erwähnt werden, die für die Adressaten ansprechend sind (Sozialhilfe erhalten, Steuern bezahlen), weil sie ihren Alltag betreffen. Beim zweiten Beispiel geht es um die Wohnsitzerfordernisse bei der Einbürgerung. Diese werden im Art. 15 des Bürgerrechtsgesetzes und in den Artikeln 3, 4 und 22 der Bürgerrechtsverordnung (ZH_1) geregelt. Die Normen zu den Wohnsitzvoraussetzungen werden in fünf Korpustexten übernommen. Dabei handelt es sich wieder um das Merkblatt für die Einbürgerung (ZH_14), um das Hypertext-Modul zu den Einbürgerungsvoraussetzungen (ZH_35), um die PDF-Datei, die als „Leitfaden“ gespeichert ist (ZH_39; vgl. II.4.3.1.2.2), um das gemeindliche Hypertext-Modul Allgemeine Voraussetzungen (ZH_42) und um einen zu den neueren Korpustexten gehörenden Hypertext, dessen Titel Altes Recht lautet (nZH_11). In den folgenden Tabellen (Tab. II.4.5 und II.4.6) sind die Inhaltselemente der informativen Texte, die einander entsprechen, nebeneinander gestellt und verglichen. Vorangestellt sind jedes Mal die jeweils relevanten normativen Bestimmungen: 366 - Art. 15 BüG von 1952 (Abb. II.4.8): 398 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="399"?> Abb. II.4.8: Art. 15 des Bürgerrechtsgesetzes von 1952 399 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="400"?> ZH_14 ZH_35 ZH_39 ZH_42 nZH_11 Bund • Die einbürgerungswillige Person muss während ins‐ gesamt 12 Jahren in der Schweiz gewohnt haben (Bundesfrist). • 3 dieser 12 Jahre müssen in den letzten 5 Jahren vor Einreichung des Einbürge‐ rungsgesuches liegen. Bund Die einbürgerungswillige Person muss während insgesamt 12 Jahren in der Schweiz gewohnt haben. 3 dieser 12 Jahre müssen in den letzten 5 Jahren vor Einreichung des Gesuchs liegen. […] Die Bestimmungen von Art. 15 vom Bürgerrechtsgesetz verlangen, dass Einbürgerungsbewerber einen tatsächlichen Wohnsitzaufenthalt von insgesamt zwölf Jahren nach‐ zuweisen haben. Für die Berech‐ nung der Frist von zwölf Jahren wird die Zeit, während welcher der Bewerber zwischen seinem vollen‐ deten 10. und 20. Lebensjahr in der Schweiz gelebt hat, doppelt ge‐ rechnet. Wohndauer allge‐ mein • Sie müssen während ins‐ gesamt 12 Jahren in der Schweiz ge‐ wohnt haben (Wohnsitzfrist des Bundes). Dazu werden die Jahre, die Sie zwischen Ihrem vollen‐ deten 10. und 20. Lebensjahr in der Schweiz verbracht haben, doppelt gezählt. - Sie leben seit insgesamt mindestens 12 Jahren in der Schweiz. Die Jahre zwischen Ihrem 10. und 20. Le‐ bensjahr zählen dop‐ pelt. Wohnsitzerfordernisse Die einbürgerungswil‐ lige Person muss die Wohnsitzfristen vom Bund und von der Wohn‐ gemeinde erfüllen: • mindestens 12 Jahre Wohnsitz in der Schweiz, wovon 3 in den letzten 5 Jahren vor Einreichung des Gesuchs. «Jugendbonus» Für die Berechnung der Bun‐ desfrist wird die Zeit, während der die gesuchstellende Person zwischen 10 und 20 Jahre alt war und dabei in der Schweiz lebte, doppelt gezählt. "Jugendbonus" Für die Berechnung der 12-Jahres- Frist wird die Zeit zwischen dem vollendeten 10. und 20. Lebensjahr doppelt gezählt. Wichtige Hinweise: Die Jahre in der Schweiz zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr zählen dop‐ pelt. Tab. II.4.5: Textfamilie im Subkorpus 3: Wohnsitzerfordernisse in den Sekundärtexten 400 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="401"?> Zu bemerken ist zuerst, dass die informativen Texte nicht dieselbe Aufgliede‐ rung in Absätze wie der Normtext aufweisen. Oft sind sie durch eine andere Verteilung der Inhalte auf Abschnitte gekennzeichnet, wobei häufig grafische Elemente wie Zwischentitel, Aufzählungspunkte bzw. -striche herangezogen werden, um die Rezeption und Verarbeitung der Informationen durch den Adressaten zu erleichtern. Sprachliche Unterschiede lassen sich schon in Bezug auf den ersten Absatz des Ausgangstextes und besonders mit Blick auf den Grad der Verdichtung der inhaltlichen Elemente betrachten. Im Absatz 1 steht die Formulierung Das Gesuch um Bewilligung kann nur der Ausländer stellen, der…. Dabei stellt das Einbürgerungsgesuch das Thema des Satzes dar, während die Merkmale der Person, die das Gesuch stellen darf, das Rhema sind und durch ein generisches Maskulinum und zwei bestimmende Relativsätze - wobei einer elliptisch ist - (der Ausländer, der …, wovon …) ausgedrückt werden. Die Relativsätze fallen in den informativen Texten aus und werden in ZH_14 und ZH_35 in zwei Ein‐ fachsätze aufgelöst, während man in ZH_39 und ZH_42 auf Vereinfachung setzt, indem Inhaltselemente (‚drei Jahre müssen in den fünf Jahren vor Einreichung des Gesuchs liegen‘) ausgelassen werden. Das thematische Element im Absatz 1 wird in ZH_14, ZH_35 und nZH_11 durch eine aus einem Adjektivkompositum + Person bestehende Nominalphrase (einbürgerungswillige Person) verdichtet, die geschlechtergerechter wirkt, als die Formulierung im Ausgangstext. In ZH_39 und ZH_42 steht hingegen die direkte Ansprache mit dem Personalpro‐ nomen Sie. Den Erleichterungen für die Einbürgerung der jungen Leute, die im Absatz 2 des Art. 15 versprachlicht werden, ist in ZH_14 und ZH_35 der Begriff Ju‐ gendbonus vorangestellt. Dabei geht es um einen Ausdruck, der wahrscheinlich wegen seiner Anschaulichkeit in den Zieltexten gebraucht wird, der aber nir‐ gendwo im Gesetz belegt ist. In ZH_35 wird der Ausgangsartikel 15 ausdrücklich erwähnt und der Absatz 2 - inklusive der im Gesetz stehenden Bezeichnung Bewerber im generischen Maskulinum - wird wortwörtlich wiedergegeben. In ZH_14 wird die Formulierung des Gesetzes durch eine einfachere syntaktische Struktur aufgelöst, indem die Präpositionalphrase + Partizip Perfekt in attribu‐ tiver Funktion zwischen seinem vollendeten 10. und 20. Lebensjahr durch einen Relativsatz mit finitem Verb die Zeit, während der die gesuchstellende Person zwischen 10 und 20 Jahre alt war umformuliert wird. In ZH_42 und nZH_1 wird die Passivstruktur des Ausgangstextes durch eine aktive ersetzt: wird die Zeit … doppelt gerechnet vs. Die Jahre … zählen doppelt. 401 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="402"?> ZH_14 ZH_35 ZH_39 ZH_42 nZH_11 «Bonus für verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen» Stellen verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen gemeinsam ein Einbürgerungsgesuch, so muss nur eine die Bundesfrist erfüllen. Für die andere genügt es, wenn sie • während insgesamt 5 Jahren in der Schweiz ge‐ wohnt hat, wovon 1 Jahr unmittelbar vor der Ge‐ suchstellung und • während mindestens drei Jahren in ehelicher Ge‐ meinschaft oder in einge‐ tragener Partnerschaft lebt. Von diesem Bonus profitieren auch verheiratete oder in ein‐ getragener Partnerschaft le‐ bende Personen, deren Part‐ nerin oder Partner bereits allein eingebürgert worden ist. "Bonus für verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft le‐ bende Personen" Stellen verheiratete oder in ein‐ getragener Partnerschaft lebende Personen gemeinsam ein Einbür‐ gerungsgesuch, so muss eine Person die vollen Wohnsitzerfor‐ dernisse erfüllen. Für die anderen genügen 5 Jahre Wohnsitz in der Schweiz, sofern beide schon über 3 Jahre miteinander verheiratet sind oder in eingetragener Part‐ nerschaft leben. Sie müssen in einer tatsächlichen Gemeinschaft leben und es dürfen keine Schei‐ dungs- oder Trennungsabsichten bestehen. Von diesem Bonus profitieren auch verheiratete oder in einge‐ tragener Partnerschaft lebende Personen, deren Partnerin oder Partner bereits allein eingebür‐ gert worden ist. Wohndauer für Paare • Stellen Sie als Ehe‐ paar oder Paar in ein‐ getragener Partner‐ schaft gemeinsam ein Einbürgerungsge‐ such und leben Sie seit mindestens 3 Jahren in ehelicher bzw. partnerschaftli‐ cher Gemeinschaft, so muss nur einer von Ihnen die volle Bun‐ desfrist erfüllen. Für die andere Person ge‐ nügt es, wenn sie während insgesamt 5 Jahren in der Schweiz gewohnt hat. • Letzteres gilt auch dann, wenn einer der Partner bereits einge‐ bürgert worden ist. Stellen verheiratete oder in eingetragener Part‐ nerschaft lebende Per‐ sonen gemeinsam ein Einbürgerungsgesuch, so muss eine Person die vollen Wohnsitzer‐ fordernisse erfüllen. Für die andere Person ge‐ nügen 5 Jahre Wohn‐ sitz in der Schweiz, so‐ fern beide schon über 3 Jahre miteinander ver‐ heiratet sind oder in ein‐ getragener Partnerschaft leben. Sie müssen in einer tatsächlichen Ge‐ meinschaft leben und es dürfen keine Schei‐ dungs- oder Trennungs‐ absichten bestehen. Von diesem Bonus profitieren auch verheiratete oder in eingetragener Partner‐ schaft lebende Personen, deren Partnerin oder Partner bereits allein ein‐ gebürgert worden ist. Tab. II.4.6: Textfamilie im Subkorpus 3: Wohnsitzerfordernisse in den Sekundärtexten 402 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="403"?> Auch für die Absätze 3-6, die im Gesetz Erleichterungen für Ehegatten und eingetragene Partner betreffen, wird in den Texten ZH_14 und ZH_35 der im Normtext nicht vorhandene Begriff Bonus verwendet. Während im Gesetz beide Fälle getrennt behandelt werden, weil u. a. die Absätze über die eingetra‐ gene Partnerschaft (Absatz 5 und 6) zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt wurden, sind die Themen Ehegatten und eingetragene Partner in den Zieltexten in einem einzigen Abschnitt gebündelt. In allen informativen Texten werden die langen Satzgefüge der Absätze 3 und 5 in kürzere Sätze zerlegt, um die Lesbarkeit bzw. mentale Verarbeitung des Satzes zu erleichtern. In ZH_14 werden dazu erneut Auflistungspunkte herangezogen. In ZH_35 findet sich der abstrakte, umstrittene Begriff der tatsächlichen Gemeinschaft für verheiratete oder eingetragene Partner, der im Gesetz nicht erwähnt wird: Vgl.: sofern er [der Ehegatte] seit drei Jahren in ehelicher Gemeinschaft mit dem andern Ehegatten lebt (Art. 15) vs. Sie [verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen] müssen in einer tatsächlichen Gemeinschaft leben (ZH_35). Während die normativen Absätze 5 und 6 des Gesetzes geschlechtergerecht formuliert sind (vgl. z. B. Für die eingetragene Partnerin einer Schweizer Bürgerin oder den eingetragenen Partner eines Schweizer Bürgers) enthalten Absätze 3 und 4 zu den Ehegatten generische Maskulina (für einen Gesuchsteller). Die informativen Zieltexte sind hingegen durch den Versuch geprägt, das Prinzip der sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter umzusetzen, was sich in der wiederholten Verwendung der abstrakten Bezeichnung Person niederschlägt (verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen), oder im Gebrauch der direkten Ansprache (Sie) anstelle der indirekten Personenbezeich‐ nungen. - Art. 3, 4 und 22 BüV von 1978 (Abb. II.4.9): 403 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="404"?> Abb. II.4.9: Art. 3, 4, 22 der Bürgerrechtsverordnung von 1978 404 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="405"?> ZH_14 ZH_35 ZH_39 ZH_42 nZH_11 Gemeinde und Kanton • Die einbürgerungswillige Person muss seit min‐ destens 2 Jahren un‐ unterbrochen in der Gemeinde wohnen. Vor‐ behalten bleiben weiter‐ gehende kommunale Vor‐ schriften. • Wenn sie zwischen 16 und 25 Jahre alt ist und während 5 Jahren in der Schweiz die Schule in einer Lan‐ dessprache besucht hat, ge‐ nügen 2 Jahre Wohnsitz im Kanton. Kanton/ Gemeinde Während der letzten 2 Jahre vor Einreichung des Gesu‐ ches muss die Person unun‐ terbrochen in der Gemeinde, in der sie das Gesuch stellt, gewohnt haben. Die Gemeinden können län‐ gere Fristen fordern. Aus‐ künfte erhalten Sie bei Ihrer Stadt- oder Gemeindever‐ waltung. - Sie müssen zudem seit einer bestimmten Zeit in der Gemeinde wohnen, meistens werden 2 Jahre gefor‐ dert. Die Gemeinden können aber unter bestimmten Voraus‐ setzungen längere Fristen festlegen. De‐ taillierte Auskunft er‐ halten Sie bei Ihrer Wohngemeinde. - Sie haben Ihren Wohnsitz seit min‐ destens 2 Jahren in der Stadt Zü‐ rich. Wenn Sie zwi‐ schen 16 und 25 Jahren alt sind, müssen Sie seit mindestens 2 Jahre [sic] im Kanton Zü‐ rich wohnen. • Die Gemeinden haben verschiedene Wohnsitzfristen. Fragen Sie Ihre Ge‐ meinde. Besondere Voraussetzungen für Personen zwischen 16 und 25 Jahren: 2 Jahre Aufenthalt im Kanton Zürich reichen aus, wenn Sie in der Schweiz geboren sind oder wenn Sie im Aus‐ land geboren sind und während min‐ destens 5 Jahren die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben. Bedingten Anspruch auf Ein‐ bürgerung in der Gemeinde haben: • Ausländerinnen und Aus‐ länder, die in der Schweiz geboren sind • nicht in der Schweiz gebo‐ rene Ausländerinnen und Ausländer, wenn sie zwi‐ schen 16 und 25 Jahre alt sind und während min‐ destens fünf Jahren in der Schweiz die Schule Bei Gesuchstellern zwi‐ schen 16 und 25 Jahren ge‐ nügen 2 Jahre Wohnsitz im Kanton, sofern sie in der Schweiz geboren wurden oder während mindestens 5 Jahren die schulische oder berufliche Ausbildung in einer Landessprache absol‐ viert haben. Bis zum Entscheid der Ge‐ meinde bzw. des Kantons Wohndauer für Ju‐ gendliche - Stellen Sie das Gesuch im Alter zwischen 16 und 25 Jahren, genügt es, wenn Sie die Wohnsitzfrist des Bundes erfüllen und seit mindestens 2 Jahren im Kanton Zü‐ rich wohnen. Die Ge‐ meindefrist entfällt, 405 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="406"?> in einer Landessprache be‐ sucht haben. darf der Wohnsitz nicht ge‐ ändert werden. wenn Sie nachweisen können, dass Sie wäh‐ rend mindestens 5 Jahren in der Schweiz die Schule besucht haben. Tab. II.4.7: Textfamilie im Subkorpus 3: Wohnsitzerfordernisse in den Sekundärtexten 406 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="407"?> Auch hier werden die Normen der kantonalen Bürgerrechtsverordnung in den Zieltexten anders strukturiert bzw. es werden Inhalte zusammengestellt, die im Ausgangstext in getrennten Artikeln erscheinen. Das hat manchmal allerdings zur Folge, dass die in den informativen Texten präsentierten Inhalte unvollständig oder nicht korrekt sind. Die im Erlasstext vorgenommene Unterscheidung zwischen Ausländern zwischen 16 und 25 Jahren, die in der Schweiz geboren sind, und Ausländern im Alter von 16-25 Jahren, deren Geburtsort nicht in der Schweiz liegt, findet z. B. nicht immer oder nur teilweise Berücksichtigung. Letztere müssen für fünf Jahre die Schule in der Schweiz besucht haben, um in den Genuss derselben Erleichterungen zu kommen wie die in der Schweiz geborenen Ausländer. Diese Information wird jedoch nicht immer eindeutig vermittelt. Der zweite Punkt (unter: Gemeinde und Kanton) in ZH_14 ist z. B. insofern falsch, als er nur die Einbürgerungswilligen betrifft, die nicht in der Schweiz geboren sind. Dasselbe trifft auf den Text unter Wohndauer für Jugendliche in ZH_39 zu. In ZH_42 wird hingegen der Hinweis auf den verlangten Schulbesuch völlig ausgeblendet. Dem Adressaten (dem Bürger) werden teilweise voneinander abweichende Informationen angeboten; dabei muss er z. B. in den normativen Texten selbst nachschlagen, wenn er sich einen Überblick verschaffen und sich zurechtfinden möchte. Oder er kann sich direkt an die Behörden wenden, um sich zu erkundigen. Dazu wird er manchmal explizit - direkt oder indirekt - aufgefordert. Vgl. z.B.: Auskünfte erhalten Sie bei Ihrer Stadt- oder Gemeindeverwaltung (ZH_35); Detaillierte Auskunft erhalten Sie bei Ihrer Wohngemeinde (ZH_39); Fragen Sie Ihre Gemeinde (nZH_11). Die Inhaltselemente der normativen Texte werden nicht nur in informativen Fließtexten übernommen und sprachlich bearbeitet. Manchmal werden sie in verknappten Texten versprachlicht, oder durch die Kombination von Sprache und anderen Zeichensystemen (Bilder, Figuren und Farben) aufbereitet. Die Wohnsitzvoraussetzungen werden z. B. in einer Tabelle resümiert (ZH_18; vgl. Abb. II.4.10), bei der man alle relevanten Inhalte der normativen Texte auf einen Blick bekommt, wenngleich punktuelle Verweise auf die gesetzlichen Quellen (BüG, kantonale BüV, kommunale Vorschriften) fehlen, was sich wieder als Strategie des Verzichts auf juristischen Apparat beschreiben lässt (vgl. II.4.3.1.2.1): 407 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="408"?> Abteilung Einbürgerungen Direktion der Justiz und des Innern Gemeindeamt Abteilung Einbürgerungen Übersicht über die Wohnsitzfristen (Ordentliche Einbürgerung Art. 13 BüG) Dauer, Berechnungskriterien Voraussetzungen Bund 12 Jahre Normalfrist Kommt zur Anwendung, wenn kein Anspruch auf „Bonus“ besteht. 5 Jahre Bei Anspruch auf „Bonus für verheiratete oder in eingetragener Partnerschaft lebende Personen“. 6 bis 12 Jahre, abhängig vom Alter während des Wohnsitzes in der Schweiz Bei Anspruch auf „Jugendbonus“. Kanton keine eigene Frist (ergibt sich aus der Erfüllung der Frist der Gemeinde) Gemeinde 2 Jahre Mindestfrist Kommt zur Anwendung, wenn der Geburtsort in der Schweiz liegt, keine gemeindeeigene Bestimmung getroffen wurde, kein Anspruch auf die reduzierte Frist besteht (siehe unten). 0 bis 2 Jahre, abhängig von der Dauer des Wohnsitzes im Kanton Reduzierte Frist Kommt zur Anwendung bei Personen zwischen 16 und 25 Jahren. Für sie genügen bereits 2 Jahre Wohnsitz im Kanton, wenn sie in der Schweiz geboren sind, in der Schweiz während 5 Jahren die schulische oder berufliche Ausbildung in einer Landessprache absolviert haben. mehr als 2 Jahre Gemeindeeigene Frist Die Gemeinde kann eine längere Wohnsitzdauer fordern für Personen, die nicht in der Schweiz geboren sind, keinen Anspruch auf die reduzierte Frist (siehe oben) haben. Die Anwendung einer solchen Bestimmung darf nicht dazu führen, dass die Wohndauer in der Schweiz mehr als 3 Jahre länger dauern muss, als es das Bundesrecht vorschreibt. Die Mindestfrist von 2 Jahren muss aber immer erfüllt werden. Version: November 2014 Abb. II.4.10: Kombination verschiedener Zeichensysteme 408 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="409"?> Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Materialisierungen desselben virtu‐ ellen Textes, die sich durch die Kombination verschiedener Zeichensysteme auszeichnen, betrifft die Beschreibung der Etappen, die das ordentliche Einbür‐ gerungsverfahren ausmachen. Diese sind in den Artikeln 26-34 der kantonalen Bürgerrechtsverordnung (ZH_1) festgelegt. Als Beispiel und pars pro toto sei hier der Artikel 26 wiedergegeben (Abb. II.4.11): Abb. II.4.11: Art. 26 der Bürgerrechtsverordnung von 1978 Die Inhalte der erwähnten Bestimmungen werden in einigen der informativen Korpustexte wiederaufgenommen. Dazu zählt z. B. die PDF-Datei ZH_17 mit dem Titel Verfahrensablauf ordentliche Einbürgerungen (vgl. Abb. II.4.12 und unten Abb. II.4.14). Dies ist eine grafische Visualisierung des Verfahrens zur ordentlichen Einbürgerung: 409 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="410"?> Abb. II.4.12: Ausschnitt aus Korpustext ZH_17 Der Text setzt sich aus einer Tabelle mit vier Spalten zusammen; diese entspre‐ chen den vier Akteuren, die im Prozess mit ins Spiel kommen. Auf sie bezieht man sich durch ikonische Elemente. Dabei erscheint eine stilisierte Menschen‐ figur, die den Einbürgerungswilligen darstellt, ein stilisiertes Gebäude, das für die Gemeinde steht, das Kantonswappen für die Züricher kantonalen Behörden und das Schweizer Wappen, das auf die Bundesbehörden verweist. In bunt unterlegten Kästen sind die Schritte bzw. Handlungen aufgelistet, die von den verschiedenen Akteuren jeweils zu vollziehen sind. Jedem Akteur entspricht eine Farbe. Die kurzen, stichwortartigen Texte in den Kästen sind durch Nominalstil gekennzeichnet. Sie bestehen überwiegend aus substantivierten Verben (Ausfüllen, Nachreichen …) oder aus Nominalisierungen in -ung (Be‐ schaffung, Prüfung, Absolvierung, Bezahlung, Entscheidung, Einlösung, Sendung …). Inhaltlich erscheint dabei immer wieder dasselbe lexikalische Material, das ständig wiederkehrt und aus den semantischen Feldern des ‚Prüfens‘, ‚Kriterien-Erfüllens‘ und ‚Bewilligungen-Erteilens‘ stammt. Das sind tatsächlich die Schlüsselbegriffe im Verfahren und sie stehen im Mittelpunkt der kantonalen Bürgerrechtsverordnung. Die Kästen sind durch Pfeile verbunden, die die chro‐ nologische Reihenfolge der Verfahrensschritte nachzeichnen. Neben den Kästen sind weitere ikonische Elemente anzutreffen: ein Text bzw. die Zeichnung einer Datei, wenn Dokumente seitens des Bewerbers zu besorgen bzw. beziehen sind; ein Umschlag, wenn Dokumente an die Behörden zu schicken sind; ‚Thumbs- Up-Daumen‘, wenn es um einen positiven Entscheid der Behörden geht. Die 410 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="411"?> Grafik veranschaulicht einen prototypischen Verwaltungsprozess, der durch die Einreichung eines Formulars ausgelöst wird und mit der behördlichen Verfügung endet, und macht die für die Kommunikationsbereiche Rechtswesen und Verwaltung typische Verfahrensfestigkeit visuell wahrnehmbar (vgl. I.1.1). Demselben Konzept folgt die Grafik, die sich im Leitfaden (ZH_39) findet. Der Leitfaden besteht aus zwei Seiten. Auf der ersten Seite stehen aufgezeichnete Gesichter von Menschen, die augenscheinlich verschiedene Nationalitäten präsentieren. Daneben sind Zitate in der ersten Person Singular anzutreffen, die die fiktiven Figuren geäußert haben sollen und die Motivationen entsprechen, warum man sich in die Schweiz einbürgern lassen sollte: Ich möchte Schweizer werden, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin; Mitbestimmen ist mir wichtig. Die zweite Seite ist mit Fließtext besetzt. Oben steht ein fettgedruckter Lead, dessen erste Zeilen den ersten Zeilen des Hypertexts (ZH_31) mit dem Titel Ordentliche Einbürgerung entsprechen. Anders als ZH_31 ist der Text hier allerdings argumentativ und gibt die Vorteile wieder, die das Schweizer Bürgerrecht mit sich brächte: [25] Mit dem Schweizer Pass können Sie aktiv bei wichtigen Entscheiden mitbe‐ stimmen, statt andere über sich bestimmen zu lassen. Denn der Pass ist mehr als nur ein Ein- und Ausreisedokument: Er gibt Ihnen eine politische Stimme. Diese Stimme hat in unserer direkten Demokratie Gewicht! (ZH_39; Im Original in Fettdruck). Auf der Seitenoberfläche ist der Text auf drei Spalten verteilt und in Abschnitte gegliedert, die Auflistungspunkte aufweisen. Den Abschnitten sind Zwischen‐ titel vorangestellt. Unten links findet sich die schematische Darstellung des Ablaufs bei der ordentlichen Einbürgerung. Diese ist im Vergleich zu ZH_17 abstrakter und insofern weniger aufschlussreich, als hier Einzelheiten ausge‐ lassen werden: Das Schema von ZH_17 ist in ZH_39 auf sieben Kästen reduziert, die durch Linien miteinander verbunden sind und jeweils maximal ein paar substantivische Schlüsselwörter (Formularabgabe, Information, Einbürgerungs‐ gesuch …) enthalten. Die visuelle Unterscheidung zwischen den Einbürgerungsakteuren mit deren Zuständigkeiten wird auch im Korpustext (ZH_20) beibehalten. Dieser ent‐ spricht einer weiteren materiellen Version der Inhalte der kantonalen Verord‐ nungsartikel und nimmt die Form einer fünfspaltigen Tabelle an. Jede Spalte entspricht einem der Akteure; die verschiedenen Aufgaben, die ihnen jeweils zufallen, werden in den Spalten aufgelistet, wobei die durchzuführenden Hand‐ lungen überwiegend durch Verben im Infinitiv (wie etwa Sich informieren auf www.gaz.zh.ch) versprachlicht werden. Erneut wird auf das Internet als den Ort 411 4.4 Textfamilien und Textfelder <?page no="412"?> verwiesen, wo man sich informieren kann, wobei zugleich ein aktives Verhalten seitens des Bürgers unterstellt wird: [26] Informieren Sie sich im Internet darüber, wer in Ihrer Wohngemeinde für die Einbürgerungen zuständig ist (ZH_20). Gleichzeitig wird aber auch die Bereitschaft der Behörden betont, dem Bürger und seinen Bedürfnissen entgegenzukommen. Darauf deutet besonders das wie‐ derkehrende Schlagwort beraten / Beratung hin, das in allen Spalten erscheint. Eine Kombination Grafik + Tabelle findet sich schließlich im Handbuch Einbürgerungen (ZH_21). Die Grafik (auf S. 16) erinnert an die grafische Visualisierung in ZH_17 bzw. ist ihr sehr ähnlich. Sie ist aber nicht bunt, sondern zweifarbig (hell- und dunkelblau, neben schwarz und weiß). Die Kästen sind ferner durchnummeriert. Die Zahlen werden in der sich auf den nachfolgenden Seiten befindenden Tabelle (S. 17-20) wieder aufgenommen, wo die Schlüssel‐ wörter der Kästen ausführlicher ausgeführt werden. Die jeweils relevanten rechtlichen Quellen finden Erwähnung, während in bunten Pfeilen platzierte, intra- und intertextuelle Verweise (Verweise auf andere Kapitel des Handbuchs oder auf die behördlichen Webseiten) Vertiefungsmöglichkeiten anbieten. Vgl. z. B. den Kasten 3. Prüfung Befolgung Rechtsordnung und Wohnsitzfrist Bund (ZH_21, S. 16; vgl. Abb. II.4.13): Grafik (S. 16) (zweispaltige) Tabelle (S. 17) Abb. II.4.13: Kombination verschiedener Zeichensysteme Die materiellen Realisierungen der normativen Bestimmungen zum Einbürge‐ rungsverfahren bilden zwar Textfamilien, weil sie dieselben inhaltlichen und 412 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="413"?> formalen Elemente teilen. Sie entsprechen aber zugleich auch einem Textfeld, weil sie dieselben textexternen Merkmale (Situation und Funktion) teilen und für den Bürger, der sich nach den Einbürgerungsverfahren in der Schweiz bzw. im Kanton erkundigen möchte, austauschbar sind. Eine Ausnahme könnte dabei das Handbuch bilden: Es ist inhaltsreicher bzw. vollständiger als die an‐ deren Korpustexte und scheint eher die Verwaltungsmitarbeiter anzusprechen, obwohl das nicht explizit angegeben wird (vgl. II.4.3.1.2.2). In der folgenden Abbildung (Abb. II.4.14) werden die erwähnten Texte zum Verfahren visualisiert. Im Zentrum steht der Bezugstext, der Normtext: Abb. II.4.14: Verfahrensablauf ordentliche Einbürgerungen: Textfeld 4.5 Fazit Das Subkorpus 3 besteht überwiegend aus informativen Behördentexten, die meistens von der Abteilung Einbürgerungen des kantonalen Gemeindeamts stammen. Sie fokussieren in erster Linie einige Aspekte der performativen Normtexte - des Bürgerrechtsgesetzes des Bundes und der kantonalen Bürger‐ rechtsverordnung -, auf die sie (gewöhnlich implizit) Bezug nehmen. Ihre Hauptfunktion ist es, den Hauptadressanten - d. h. der im Kanton ansässigen einbürgerungswilligen Bevölkerung - die Normen zu vermitteln, von denen diese direkt betroffen sind, damit sie darüber Bescheid wissen und konsequent handeln können. Das gehört in den Rahmen der behördenseitigen Digitalisie‐ 413 4.5 Fazit <?page no="414"?> rungsbemühungen, die darauf abzielen, den Bürgern immer mehr unmittelbare, digitale Behördenleistungen anzubieten. Zu einem und demselben Thema bzw. Unterthema gibt es oft unterschied‐ liche informative, verhaltensbeeinflussende Hypertext-Module oder E-Texte (PDF-Dateien), die auch technisch miteinander verbunden sind. Während die Hypertexte tendenziell eine einfache, standardisierte Struktur aufweisen, sind die E-Texte eher aufwendiger gestaltet. Sprachlich unterscheiden sich die informativen Texte von den Normtexten insofern, als sie sich häufig durch syntaktisch weniger komplexe Strukturen (z. B. Parataxe statt Hypotaxe; Aktiv statt Passiv) auszeichnen und sie zwischen unpersönlichen und persönlicheren, bürgerorientierten Formulierungen mit Wir und Sie-Ansprache alternieren. Diese zeugen vom behördenseitigen Versuch, in einen Dialog mit den Bürgern einzutreten. Für Personen mit Lernschwierigkeiten sind außerdem Versionen in leichter Sprache verfügbar. Ferner sind die informativen Texte, besonders die Texte im PDF-Format, durch den Einsatz grafischer Mittel gekennzeichnet, die die mentale Verarbeitung der Inhalte durch die Adressaten unterstützen. In den gemeindlichen Internetseiten der Stadt Zürich setzt man schließlich auch auf den Abbau der (physischen) Barrieren, indem Audioversionen der schriftlichen Texte für Sehbehinderte zur Verfügung stehen. Inhaltlich weichen die normativen einerseits und die informativen Texte andererseits nicht viel voneinander ab. Dieselben Inhaltselemente erscheinen in den verschiedenen Korpustexten, sind aber unterschiedlich verteilt. In den informativen Texten werden zwar einige Elemente (z. B. der juristische Apparat in Form intertextueller Verweise) oder Einzelheiten der Ausgangstexte ausge‐ lassen, die Inhalte, die übernommen werden bzw. übrig bleiben, werden aller‐ dings normalerweise nicht näher ausgeführt. Wir haben es also nicht mit einer Reduktion der Informationsdichte zu tun. Das Informationsangebot ist zwar redundant, da dieselben Informationen in verschiedenen Texten auftreten, die situativ-funktional austauschbar sind und somit Textfelder bilden. Es geht aber nicht in die Tiefe bzw. setzt eher viel Vorwissen bei den Adressaten voraus. All das hat zur Folge, dass sich der Bürger gezwungen fühlt, sich an die Behörden zu wenden, falls er (weitere) Erläuterungen braucht. Zu einem persönlichen Kontakt wird er von den Behörden sogar aufgefordert, wenngleich das im Widerspruch zum behördenseitigen Digitalisierungsvorhaben steht. Dies setzt nämlich darauf, sowohl den Behörden als auch den Bürgern bei behördlichen Geschäften Zeit und Geld zu ersparen. Der Hinweis auf die Hilfsbereitschaft der Verwaltungseinheiten bei bürger‐ seitigen Fragen, die Verwendung eines persönlichen Tons und die attraktive grafische Aufbereitung, die die Rezeption der komplizierten Inhalte zum Teil 414 4 Analyse des Subkorpus 3: Bürgerrechtsverordnung von 1978 (Kanton Zürich) <?page no="415"?> erleichtert, sind alle Elemente, die funktional eingesetzt werden, um ein posi‐ tives Image der Behörden zu fördern. Damit wird eine Erhöhung der Akzeptanz des staatlichen demokratischen Apparats durch die Bürger angestrebt. Im Allgemeinen scheint die persönliche Dimension in den kantonalen infor‐ mativen Texten eine wichtigere Rolle zu spielen als in den föderalen. Was den Vergleich Bund-Kanton angeht, lässt sich sagen, dass das kantonale Informationsangebot verhältnismäßig reicher ist als das föderale bzw. dass die Texte des Kantons allgemein aufwendiger aufbereitet sind. Der persönliche Stil scheint hier etwas systematischer verwendet zu werden und die Aufforderung zu einem persönlichen Kontakt mit den Behörden kommt häufiger vor. Dies hängt wahrscheinlich u. a. damit zusammen, dass die kantonalen Behörden auf einer niedrigeren hierarchischen politischen Stufe liegen als die Bundesbe‐ hörden und dass viele Angelegenheiten, die mit dem Erwerb des Schweizer Bürgerrechts verbunden sind (etwa die ordentliche Einbürgerung, d. h. die klassische Einbürgerungsart), in den kantonalen Kompetenzbereich fallen (vgl. II.2.2). Der Vergleich Kanton-Gemeinde zeigt schließlich, dass das gemeindliche digitale Angebot insofern konsequenter ist als das kantonale, als die Texte durch den systematischen Einsatz eines persönlichen Tons gekennzeichnet sind und als ihre Struktur und die Architektur der Inhalte auf einem gründlich durchdachten Konzept zu beruhen scheinen. Dies dürfte daran liegen, dass die gemeindlichen Behörden einer kleineren Realität entsprechen als die kan‐ tonalen und dass sie weniger Informationen zu bewältigen und zu bearbeiten haben als der Kanton. 415 4.5 Fazit <?page no="417"?> 367 Zum Begriff „Svizzera italiana“ vgl. die Ausführungen in I.1.2.2.2. 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale von 1994 (Kanton Tessin) 5.1 Zum Kanton Tessin Im Zentrum des Subkorpus 4 steht die Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (LCCit) von 1994. Das Gesetz (Legge) regelt den Erwerb und Verlust des Bürgerrechts für den Kanton Tessin und lässt sich der Züricher Bürgerrechtsverordnung gleichstellen (vgl. II.4). Beide Normtexte sind nämlich nur im jeweiligen kantonalen Territorium gültig bzw. anwendbar und dem föderalen Bürgerrechtsgesetz untergeordnet. Der Bundestext einerseits und die kantonalen Texte andererseits sind prototypische Rechtstexte mit hohem Verbindlichkeitsgrad und in Hinblick auf ihren Geltungsmodus (vgl. Klein 2000a) ähnlich. Sie sind also funktional äquivalent, unterscheiden sich voneinander nur in Bezug auf ihren Geltungsraum. Der Kanton Tessin heißt offiziell Repubblica e Cantone Ticino, hat unge‐ fähr 340.000 Einwohner und bildet zusammen mit vier Tälern des Kantons Graubünden (Mesolcina, Calanca, Bregaglia und Poschiavo) die sogenannte „Svizzera italiana“ (italienische Schweiz). 367 Die administrative Hauptstadt ist Bellinzona, die einschließlich des Ballungsgebiets ungefähr 50.000 Einwohner hat und nach Lugano (140.000 Einwohner; nach Zürich und Genf drittgrößter Finanzplatz der Schweiz) die zweitgrößte Stadt des Kantons ist. Die wichtigsten kantonalen Behörden sind der Consiglio di Stato und der Gran Consiglio. Der Consiglio di Stato entspricht der Exekutive und besteht aus 5 Mitgliedern, die jeweils ein Departement leiten (Dipartimento delle istituzioni, Dipartimento della sanità e della socialità, Dipartimento dell’educazione, della cultura e dello sport, Dipartimento del territorio, Dipartimento delle finanze e dell’economia), und aus einem Staatskanzler, dem die Cancelleria dello Stato untersteht. Der Gran Consiglio ist für die Legislative zuständig und hat 90 Mitglieder, die alle 4 Jahre direkt vom Volk gewählt werden. Die Quelle, aus der die Tessiner Korpustexte stammen, ist die behördliche Website www.ti.ch. Diese wird von der Einheit Area dei servizi amministrativi e <?page no="418"?> 368 Vgl. https: / / www4.ti.ch/ can/ asagw/ gestione-web/ accessibilita/ ; 24.09.2019. Meine Übersetzung: „Barrierefreiheit bedeutet, Webinhalte für alle zugänglich zu ma‐ chen./ Dieses Ziel ist für die kantonale Verwaltung von grundlegender Bedeutung, da es zu ihren Aufgaben gehört, den Zugang zu Dienstleistungen und Informationen für alle Bürger zu gewährleisten“. gestione del web verwaltet, die zur Cancelleria dello Stato gehört. Auf die Ent‐ wicklung und den Ausbau von ti.ch ist die Tätigkeit der kantonalen Verwaltung gerichtet, die auf die Förderung der Interaktion und Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern setzt. Die größte Bedeutung wird dabei der Verbesserung der Zugänglichkeit des behördlichen Online-Angebots beigemessen. In diesem Kontext spielen der Abbau von Barrieren und die Partizipation der Personen mit Behinderungen eine zentrale Rolle: Accessibilità web vuol dire rendere fruibili i contenuti web a tutti. Questo obiettivo è fondamentale per l’Amministrazione cantonale che ha tra i suoi compiti quello di garantire accesso a servizi e informazioni a tutta la cittadinanza (Hervorhebungen im Original gelöscht). 368 In Erfüllung des Transparenzprinzips werden die amtlichen und besonders die normativen Texte natürlich auch für den Kanton Tessin online zugänglich gemacht. Die Tessiner Normtexte werden in der Raccolta delle leggi del Can‐ tone Ticino und im Bollettino ufficiale delle leggi del Cantone Ticino (BU) veröffentlicht. In letzterem erscheinen die normativen Texte in chronologischer Reihenfolge. Dementsprechend hat der Bollettino ufficiale auf Kantonsebene - wenn man einen Vergleich mit dem Bund anstellen möchte - dieselbe Funk‐ tion bzw. denselben Status wie die Amtliche Sammlung des Bundesrechts (vgl. I.3.4.2.1). Er erscheint in Papier- und elektronischer Fassung; letztere ist heute juristisch maßgebend. Auch beim Foglio ufficiale del Cantone Ticino (FU) ist es die elektronische Version, die bei der Auslegung der Texte bzw. bei Dis‐ krepanzen zwischen den verschiedenen materiellen Fassungen als Richtschnur dient. Im Foglio ufficiale werden u. a. die Mitteilungen (avvisi) der kantonalen Behörden, besonders der kantonalen Verwaltung, und die Verwaltungsakte bzw. die kantonalen Verfügungen (atti) publiziert. 5.2 Struktur des Subkorpus 4, Textfunktionen und situative Kategorien Das Subkorpus 4 besteht aus 20 Einheiten. 5 davon waren als PDF gespeichert und lassen sich als E-Texte einstufen; die anderen entsprechen Hypertext- 418 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese von 1994 <?page no="419"?> 369 Die Zahl in Klammern bezieht sich auf die Korpustexte, die nachträglich (Sommer 2019) dem Subkorpus 4 hinzugefügt wurden. Modulen. Die meisten Korpustexte stammen von den kantonalen Behörden; nur 3 (+2) 369 Hypertexte wurden von einer gemeindlichen Instanz emittiert. Zwei E-Texte sind Textsorten im engeren Sinne und enthalten jeweils eine Textsortenbezeichnung im Titel. Dabei geht es um die Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (LCCit) (TI_1) von 1994 und um den damit zusammenhängenden, das Gesetz ausführenden Regolamento della legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (RLCCit) (TI_2) von 1995. Beide Textsorten sind normative und somit performative Texte. Der offizielle Pro‐ duzent der Legge ist das kantonale Parlament, also der Gran Consiglio; für den Regolamento zeichnet offiziell die Exekutive, d. h. der Consiglio di Stato. Eine Textdeklaration im Titel enthält auch der E-Text, der Direttive per l’ottenimento dell’attinenza comunale, della cittadinanza ticinese e della cittadinanza svizzera da parte di cittadini stranieri (TI_4) heißt. Die Direttive wurden 2009 von der Verwaltungsabteilung Sezione degli enti locali des Dipartimento delle istituzioni herausgegeben, die das Verhältnis zwischen dem Staat und den Bürgern pflegt. Sie richten sich ausdrücklich an die Autorità comunali e cantonali preposte alla trattazione e alle decisioni di naturalizzazione, sind also ein Text von den Behörden für die Behörden und stellen daher ein Beispiel für behördeninterne Kommunikation dar. Dabei handelt es sich um Richtlinien, die Hinweise darüber beinhalten, wie man bei der Bearbeitung von Einbürgerungsfällen vorgehen soll. Sie sind nicht rechtlich verbindlich und sind also nicht den performativen Texten zuzuordnen. Vielmehr stellen sie informative Texte dar, die für die Adressaten (die Verwaltungsmitarbeiter) verhaltensbeeinflussend wirken. Informativ ist auch der E-Text, in dessen Titel die Textbezeichnung Comunicato stampa (Medienmitteilung) (TI_3) steht. Auch dieser Text stammt von der Sezione degli enti locali. Diese wird durch eine Ansprechperson vertreten, die im Comunicato explizit erwähnt wird. Der Comunicato informiert die Öffentlichkeit über das Erscheinen der Direttive und ist somit intertextuell damit verbunden. Ein anderer Text in PDF-Version (TI_17) wurde schließlich vom Ufficio di statistica (statistisches Amt) produziert, das zum Dipartimento delle finanze e dell’economia gehört. Er besteht aus einer Tabelle mit Angaben über die Nationalität der Ausländer, die 2015 in den verschiedenen Schweizer Kantonen die schweizerische Staatsbürgerschaft erworben haben. Fast alle kantonalen Hypertexte stammen von der Sezione della popolazione (Bevölkerungsabteilung), einer anderen Abteilung des Dipartimento delle istitu‐ zioni. Nur zwei Module wurden hingegen vom Ufficio di statistica emittiert. 419 5.2 Struktur des Subkorpus 4, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="420"?> Die Hypertext-Module der Sezione della popolazione sprechen in erster Linie die kantonale Wohnbevölkerung an und informieren sie über den rechtlichen Rahmen zum Erwerb des Schweizer Bürgerrechts im Tessin. Sie beziehen sich also explizit oder implizit auf die Legge und den Regolamento sowie auf das Bür‐ gerrechtsgesetz des Bundes. Im Folgenden die Auflistung der Textüberschriften des Subkorpus 4 (vgl. Tab. II.5.1): Abkürzung Textüberschrift TI_1 Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (LCCit) TI_2 Regolamento della legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (RLCCit) TI_3 Comunicato stampa TI_4 Direttive per l’ottenimento dell’attinenza comunale, della cittadi‐ nanza ticinese e della cittadinanza svizzera da parte di cittadini stranieri TI_5 Altre procedure di naturalizzazione agevolata a livello federale TI_6 Annullamento, svincolo e revoca TI_7 Domande frequenti naturalizzazione TI_8 Naturalizzazione - Procedura ordinaria TI_9 Naturalizzazione agevolata a livello federale TI_10 Naturalizzazione - In generale TI_11 Naturalizzazione - Procedura ordinaria agevolata in ambito cantonale e comunale TI_12 Nazionalità doppia o multipla TI_13 Reintegrazione TI_14 Stato civile / Naturalizzazioni / MOVPOP TI_15 01.06.03 Migrazioni internazionali e naturalizzazioni - Glossario TI_16 01.06.03 Migrazioni internazionali e naturalizzazioni - News TI_17 Acquisizioni della nazionalità svizzera della popolazione residente permanente di nazionalità straniera, secondo alcune nazionalità, per cantone, in Svizzera, nel 2015 Tab. II.5.1: Korpustexte des Subkorpus 4: Kanton 420 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese von 1994 <?page no="421"?> 370 Vgl. https: / / www4.ti.ch/ di/ home-sp/ stato-civile/ in-generale/ ; 10.09.2019. Meine Über‐ setzung: „Information über die Einbürgerungsverfahren/ Was auf dieser Seite über die Einbürgerungsverfahren veröffentlicht wird, bezieht sich auf die Bestimmungen, die für die bis zum 31.12.2017 eingereichten Gesuche gelten. Für Informationen über die Einbürgerungsverfahren nach den seit dem 01.01.2018 geltenden Normen laden wir Sie ein, sich an die Wohngemeinde oder die Einbürgerungsdienste in Bellinzona zu wenden“. 371 Wegen der wirtschaftlichen Rolle, die Lugano für den Kanton Tessin spielt, wurde auch ihr Internetangebot berücksichtigt, obwohl die Stadt nicht das administrative Zentrum des Kantons ist. Selbstverständlich gelten ab dem 01.01.2018 auch für den Kanton Tessin neue normative Bestimmungen. Neben dem neuen Bundesgesetz über das Schweizer Bürgerrecht (vgl. II.3) wurde 2017 ein neuer kantonaler Regola‐ mento verabschiedet. Trotz dieser Veränderungen ist zur Zeit (September 2019) das entsprechende Informationsangebot auf ti.ch (noch) nicht aktuali‐ siert worden. Anders als die Internetseiten der Züricher Verwaltung (vgl. II.4) sind die Tessiner Hypertext-Module also dieselben geblieben wie vor ein paar Jahren (Zeitpunkt der Korpuszusammenstellung der vorliegenden Arbeit: Februar 2017). Auf einem Modul (TI_10) steht jetzt jedoch die folgende Mitteilung: Informazione relativa alle procedure di naturalizzazione quanto pubblicato nel presente sito riguardo alle procedure di naturalizzazione si riferisce alle disposizioni valide per le istanze introdotte fino al 31.12.2017. Per informazioni concernenti le procedure di naturalizzazione secondo le norme in vigore dal 01.01.2018, vi invitiamo a rivolgervi al Comune di domicilio o al Servizio naturalizzazioni di Bellinzona (di-usc.naturalizzazioni(at)ti.ch) (Hervorhebungen im Original gelöscht). 370 Für aktualisierte Informationen werden die Einbürgerungswilligen also dazu aufgefordert, die zuständigen Behörden direkt zu kontaktieren. Die Hypertext-Module auf Gemeindeebene wurden inzwischen dagegen geändert. Dabei geht es einerseits um ein informatives, an die gemeindliche Wohnbevölkerung gerichtetes Hypertext-Modul der Stadt Bellinzona und um die entsprechende aktualisierte Fassung (TI_18 und nTI_18), andererseits um 2 informative, ebenfalls behördenexterne Hypertexte der Stadt Lugano, 371 einen davon in zwei Versionen (TI_20 und nTI_20) (vgl. Tab. II.5.2): 421 5.2 Struktur des Subkorpus 4, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="422"?> 372 Quelle: Comunicato stampa del Municipio vom 04.04.2019. Meine Übersetzung: „Die Stadt betrachtet diese Zugänglichkeit als einen Faktor der Integration, da sie es den Bürgern ermöglicht, die behördlichen Geschäfte zu erledigen, ohne die Verpflichtung, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen physischen Ort zu begeben, ein Modus, der auf jeden Fall für diejenigen nutzbar bleibt, die es wünschen. Darüber hinaus verbessert es die Effizienz der Dienstleistung für den Bürger durch eine schnellere Bearbeitung der Anfragen und, wie bereits erwähnt, durch eine erhöhte Sicherheit und Vertraulichkeit der Daten jedes Benutzers“. 373 Für Texte, die funktionale und situativ-mediale Merkmale gemeinsam haben, wird dieselbe geometrische Figur gewählt. Die Pfeile stehen für die inhaltlichen (und oft auch technisch realisierten) Beziehungen zwischen den Texten. Abkürzung Textüberschrift TI_18 Bellinzona Naturalizzazioni nTI_18 Bellinzona Naturalizzazioni TI_19 Lugano Atto d’origine TI_20 Lugano Naturalizzazioni - Procedura ordinaria nTI_20 Lugano Domanda di naturalizzazione Tab. II.5.2: Korpustexte des Subkorpus 4: Bellinzona und Lugano Besonders die Stadt Lugano setzt in der letzten Zeit auf den Ausbau ihres elektronischen Angebots. Die Stadt hat im April 2019 ein neues E-Govern‐ ment-Portal (egov.lugano.ch) in Gang gesetzt mit dem Ziel, einen einfachen und unmittelbaren Zugang zu den Dienstleistungen der Gemeinde zu gewährleisten: La Città considera questa accessibilità un fattore di inclusione, poiché consente ai cittadini di sbrigare le pratiche senza l’obbligo di recarsi in un luogo fisico a orari definiti, modalità che resta in ogni caso fruibile per chi lo desidera. Inoltre, migliora l’efficienza del servizio al cittadino grazie a una più rapida evasione delle richieste e, come detto, a una sicurezza e riservatezza accresciute dei dati di ciascun utente. 372 Zusammenfassend lässt sich das Subkorpus 4 schematisch wie folgt visualisieren (vgl. Tab. II.5.3 und Abb. II.5.1 373 ): 422 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese von 1994 <?page no="423"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand TI_1 Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (LCCit) normativ bindend Gran Consiglio behördenintern und extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß TI_2 Regolamento della legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (RLCCit) normativ bindend Consiglio di Stato behördenintern und extern monocodal schriftsprachlich Rechtssammlung vorher festgelegt groß TI_3 Comunicato stampa informativ informationsorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione degli enti locali Medien monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_4 Direttive per l’ottenimento dell’attinenza comunale, della cittadinanza ticinese e della cittadinanza svizzera da parte di cittadini stranieri informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione degli enti locali Verwaltungsmitarbeiter multicodal (Sprache + Bilder/ Grafik) behördliche Webseite nicht festgelegt groß TI_5 Altre procedure di naturalizzazione agevolata a livello federale informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_6 Annullamento, svincolo e revoca informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein 423 5.2 Struktur des Subkorpus 4, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="424"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand TI_7 Domande frequenti naturalizzazione informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_8 Naturalizzazione - Procedura ordinaria informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_9 Naturalizzazione agevolata a livello federale informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_10 Naturalizzazione - In generale informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_11 Naturalizzazione - Procedura ordinaria agevolata in ambito cantonale e comunale informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_12 Nazionalità doppia o multipla informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_13 Reintegrazione informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_14 Stato civile / Naturalizzazioni / MOVPOP informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein 424 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese von 1994 <?page no="425"?> Abkürzung Textüberschrift Funktion Geltungsmodus Produzent Rezipient Medium Publikationsort Geltungsdauer Herstellungsaufwand TI_15 01.06.03 Migrazioni internazionali e naturalizzazioni - Glossario informativ praxisorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione Wohnbevölkerung + interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_16 01.06.03 Migrazioni internazionali e naturalizzazioni - News informativ informationsorientiert nicht bindend Dipartimento delle istituzioni - Sezione della popolazione interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_17 Acquisizioni della nazionalità svizzera della popolazione residente permanente di nazionalità straniera, secondo alcune nazionalità, per cantone, in Svizzera, nel 2015 informativ informationsorientiert nicht bindend Dipartimento delle finanze e dell'economia - Ufficio di statistica interessierte Öffentlichkeit monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_18 Bellinzona Naturalizzazioni informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeverwaltung allg. Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein nTI_18 Bellinzona Naturalizzazioni informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeverwaltung allg. Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_19 Lugano Atto d’origine informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeverwaltung allg. Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein TI_20 Lugano Naturalizzazioni - Procedura ordinaria informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeverwaltung allg. Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein nTI_20 Lugano Domanda di naturalizzazione informativ praxisorientiert nicht bindend Gemeindeverwaltung allg. Wohnbevölkerung monocodal schriftsprachlich behördliche Webseite nicht festgelegt klein Tab. II.5.3: Überblick über die textexternen Merkmale im Subkorpus 4 425 5.2 Struktur des Subkorpus 4, Textfunktionen und situative Kategorien <?page no="426"?> Abb. II.5.1: Struktur des Subkorpus 4 5.3 Analyse der textinternen Merkmale Der folgende Abschnitt gibt allgemeine Einblicke in die sprachlichen Merkmale der Texte im Subkorpus 4. Zuerst werden die performativen und danach die informativen Texte näher betrachtet. 5.3.1 Normativ-performative Texte Wie für die anderen politischen Ebenen, die bisher berücksichtigt wurden (vgl. II.2 und II.4), liegt auch für den Kanton Tessin eine Richtlinie zur Redaktion amtlicher Texte vor. Dabei geht es um die Tecniche per la redazione di atti ufficiali, die 2001 erschienen sind und 2004 überarbeitet und neu aufgelegt wurden. Dafür zeichnet offiziell der Consiglio di Stato, die Richtlinie wird aber vom kantonalen Amt Centro di formazione e sviluppo publiziert. Sie gilt als verbindlich für die Texte des Regierungsrats: Le direttive contenute in questo fascicolo, approvate dal Cancelliere dello Stato avv. Giampiero Gianella, sono vincolanti per gli atti del Consiglio di Stato (TI 2004: 5; Hervorhebungen im Original gelöscht). 426 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese von 1994 <?page no="427"?> Das Kapitel Direttive generali per l’allestimento di atti legislativi cantonali (S. 95) enthält einen Überblick über die kantonalen normativen Textsorten (Legge, De‐ creto legislativo, Regolamento und Decreto esecutivo) sowie einige formale Regeln zu ihrer Strukturierung und Formulierung. Die redaktionellen Normen finden grundsätzlich in der Legge (TI_1) und im Regolamento (TI_2) Anwendung, wenngleich beide Texte früher redigiert wurden. Die Legge (TI_1) ist in titolo, ingresso (Il Gran Consiglio della Repubblica e Cantone Ticino … decreta: ) und parte normativa dell’atto (normativen Teil) gegliedert. Der normative Teil besteht aus 6 Titeln (titoli); einige titoli sind in Kapitel (capitoli) und dann in Artikel geteilt, andere nur in Artikel. Den Artikeln sind Überschriften vorangestellt. Insgesamt enthält der Normtext 45 Artikel. Seine Gesamtstruktur ist in der folgenden Tabelle (Tab. II.5.4) wiedergegeben: Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (LCCit) von 1994 Titolo I Disposizioni generali (Art. 1-2) A. Scopo B. Rapporto tra cittadinanza cantonale e attinenza comunale Titolo II Acquisto e perdita della cittadinanza per legge (Art. 3-6) A. Acquisto della cittadinanza B. Perdita della cittadinanza Titolo III Acquisto e perdita della cittadinanza per decisione dell’autorità (Art. 7-38) Capitolo I Concessione della cittadinanza in via ordinaria A. Confederati B. Stranieri C. Tasse Capitolo II Concessione della cittadinanza in via agevolata e reintegrazione A. Confederati B. Stranieri Capitolo III Cittadinanza onoraria Capitolo IV Perdita della cittadinanza per rinuncia, svincolo o revoca A. Rinuncia B. Svincolo dalla cittadinanza svizzera C. Procedura D. Revoca Capitolo V Disposizioni comuni A. Diritto di essere sentito B. Minorenni e tutelati C. Nozione di residenza D. Diritto di chiedere informazioni E. Decorrenza dell’acquisto della cittadinanza 427 5.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="428"?> Titolo IV Competenza delle autorità cantonali nella procedura federale (Art. 39-41) A. Consiglio di Stato B. Dipartimento C. Legittimazione a ricorrere Titolo V Protezione giuridica (Art. 41) Titolo VI Disposizioni transitorie e finali (Art. 42-45) A. Competenze del Consiglio di Stato B. Abrogazione della legge anteriore C. Entrata in vigore Tab. II.5.4: Makrostruktur der Legge von 1994 Auf mikrostruktureller Ebene weist die Legge die typischen Merkmale der ita‐ lienischen Gesetzessprache auf. Dazu zählt z. B. die Verwendung des Indikativs Präsens mit deontischer Bedeutung sowie der Modalverben, um eine Pflicht zu versprachlichen: [1] Art. 8 1 Il confederato che intende chiedere la cittadinanza cantonale e l’attinenza comunale presenta la sua domanda al Municipio del comune di residenza. 2 Unitamente alla domanda, il richiedente di oltre sedici anni deve firmare la dichia‐ razione di essere fedele alla Costituzione ed alle leggi (TI_1; Fettdruck im Original gelöscht; Unterstreichungen A.A.). An diesem Beispiel [1] ist erkennbar, dass das generisch gemeinte Masku‐ linum (Il confederato, il richiedente) bei der Verwendung der Personenbezeich‐ nungen auch für die Normtexte auf kantonaler Ebene den Normalfall darstellt bzw. die Regel ist (vgl. dazu I.3.4.2.2; II.2; II.3; Adamzik/ Alghisi 2015, 2017 und Alghisi 2018). Zu diesem Punkt finden sich in den Tecniche (2004) allerdings keine expliziten Hinweise. In dem der geschlechtergerechten Sprache (parità linguistica) gewidmeten Teil der Richtlinie ist grundsätzlich nur eine Liste von Funktions- und Berufsbezeichnungen (männlich - weiblich) vorhanden (vgl. Elmiger/ Tunger/ Schaeffer-Lacroix 2017: 202). Beispiel [1] enthält ein Fachwort. Dabei geht es um den Ausdruck attinenza comunale, der die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde bezeichnet. Da das Wort im Italienischen Italiens bzw. in der italienischen Rechtssprache nicht benutzt wird bzw. es nicht belegt zu sein scheint (vgl. dazu II.2.5), könnten wir hier den Ausdruck als Helvetismus einstufen (vgl. II.1.2.2). Weitere Beispiele für Wendungen, die im Italienischen Italiens nicht (mehr) gängig sind, lassen sich in den folgenden Artikeln der Legge betrachten: 428 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese von 1994 <?page no="429"?> 374 Es ist allerdings zu betonen, dass das Wort esposto auf Italienisch auch einem Substantiv entspricht. Das Substantiv esposto bezeichnet eine Textsorte und zwar einen Bericht an die Justizbehörde bzw. eine an eine offizielle Stelle gerichtete Schrift über eine wichtige Angelegenheit. Vgl.: http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ esposto; 05.08.2020: „Scritto in cui si espongono situazioni o ragioni proprie dell’esponente a un’autorità amministrativa, o in cui sono portati a conoscenza dell’autorità giudiziaria o di polizia determinati fatti perché l’autorità stessa adotti, se del caso, i provvedimenti di sua competenza“. [2] Art. 5 2 Il figlio di ignoti esposto nel Cantone acquista l’attinenza del comune in cui è stato trovato; Il Consiglio di Stato ne fa accertare l’attinenza (TI_1; Fettdruck im Original gelöscht; Unterstreichung A.A.). [3] Art. 25 3 La donna che ha perso la cittadinanza ticinese o l’attinenza di un comune del Cantone per effetto del matrimonio con un cittadino di altro Cantone o di altro comune del Cantone può essere reintegrata nella cittadinanza ticinese e nell’attinenza comunale, rispettivamente nella sola attinenza comunale, se il marito è deceduto, se il matrimonio è stato dichiarato nullo o è stato sciolto per divorzio, o se è stata pronunciata la separazione dei coniugi per un tempo indeterminato (TI_1; Fettdruck im Original gelöscht; Unterstreichung A.A.). Das Partizip Perfekt des Verbs esporre (esposto) bedeutet im Beispiel [2] ‚ausge‐ setzt‘ in der Lesart ‚etwas an einen Ort bringen und dort sich selbst überlassen‘. Die Verwendung des Verbs mit dieser Bedeutung entspricht im Italienischen Italiens einem Archaismus. Das Verb ist in der Rechtssprache Italiens nicht belegt. 374 Der Konnektor rispettivamente heißt im Beispiel [3] ‚beziehungsweise‘ und bedeutet ‚oder‘. Im Italienischen Italiens gehört diese Bedeutung nicht zu den Lesarten des Wortes. Dieses wird in Italien nämlich nur verwendet, um sich auf die einzelnen, vorher erwähnten Elemente einer Gruppe zu beziehen (etwa in der Wendung: seine Kinder sind zwei beziehungsweise fünf Jahre alt). Dabei haben wir es somit wieder mit einem Beispiel für einen Helvetismus zu tun. Unter dem Einfluss der deutschen Sprache übernimmt das italienische Wort rispettivamente die Funktion eines Alternativkonjunkts. Ein anderes Beispiel für einen fachsprachlichen Helvetismus ist bei den zahl‐ reichen expliziten inter- und intratextuellen Verweisen der Legge bemerkbar. Gebräuchlich ist das Partizip Perfekt des Verbs riservare (riservato). Dieses nimmt im schweizerischen Text die Bedeutung des deutschen Partizips ‚vorbe‐ halten‘ an und drückt aus, dass die erwähnten Rechtstexte, auf die jeweils ver‐ wiesen wird, zu berücksichtigen bzw. trotz der jeweiligen Bestimmung immer noch gültig sind: riservate le disposizioni del diritto federale (Art. 1); sono riservati i diritti acquisiti e la legislazione federale (Art. 1a); riservata l’applicazione degli art. 30, 31 e 33 della Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (Art. 1a); riservato l’art. 24 (Art. 23); riservate le norme del diritto penale (Art. 34). 429 5.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="430"?> Diese Wendung scheint in der italienischen Rechtssprache Italiens nicht üblich zu sein (außer in der Standardformulierung: Tutti i diritti riservati - Alle Rechte vorbehalten - die aber eine leicht unterschiedliche Bedeutung hat). Der Regolamento (TI_2) ist durch dieselben sprachlichen Spezifika gekenn‐ zeichnet wie die Legge, auf deren Art. 42 er im Ingress explizit verweist (visto l’art. 42 della Legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale dell’8 novembre 1994 (in seguito legge)). Er besteht aus 27 Artikeln und ist wie die Legge in Titel und Kapitel gegliedert (Tab. II.5.5): Regolamento della legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (RLCCit) von 1995 Titolo I Concessione della cittadinanza in via ordinaria (Art. 1-17) Capitolo I Confederati Capitolo II Stranieri Capitolo III Disposizioni comuni in materia di esame Capitolo IV Tasse Capitolo V Disposizioni particolari Titolo II Concessione della cittadinanza in via agevolata (Art. 18-21) Titolo III Disposizioni comuni (Art. 22-25) Titolo IV Disposizioni abrogative e finali (Art. 26-27) Tab. II.5.5: Makrostruktur des Regolamento von 1995 Auch hier sind fachsprachliche Helvetismen anzutreffen. Ein Beispiel dafür ist das Wort incarto (Art. 10), das im Italienischen Italiens gewöhnlich durch das Lexem incartamento ersetzt wird, und alle Dokumente bezeichnet, die Teil eines Verwal‐ tungsaktes sind. Im Regolamento (TI_2) sind ferner Belege für kleine Stilbrüche bemerkbar. Ein Beispiel findet sich im Art. 7, wo die italienische polysemantische Präposition su (sulle, sui) benutzt wird, um die Themen der mündlichen Prüfung sprachlich einzuleiten, der sich Einbürgerungswillige unterziehen müssen: [4] Art. 7 1 Nell’ambito di questi accertamenti, il richiedente è sottoposto ad un esame orale sulle sue conoscenze della lingua italiana e sui principi di civica, storia e geografia svizzere e ticinesi (TI_2; Unterstreichung A.A.; Fettdruck im Original gelöscht). Die Präposition ist zwar grammatisch nicht falsch, gehört mit dieser Lesart aber gewöhnlich in informellere Kontexte. Ihre Verwendung verleiht also der Äußerung einen weniger amtlichen Ton und führt in diesem Fall zu einer Senkung des Registers. 430 5 Analyse des Subkorpus 4: Legge sulla cittadinanza ticinese von 1994 <?page no="431"?> 375 https: / / www4.ti.ch/ informazioni-legali/ ; 01.10.2019. 5.3.2 Informative Texte 5.3.2.1 Hypertexte des Kantons Die Internetseiten der Tessiner kantonalen Verwaltung weisen selbstverständlich eine standardisierte formale Struktur auf. Man kann hier wie gewöhnlich drei Bereiche unterscheiden: Header, Inhaltsbereich und Footer. Der Header ist vom In‐ haltsbereich immer durch einen bunten Streifen getrennt. Darin erscheint der Name der Verwaltungsinstanz, die für die Inhalte, die jeweils zu sehen sind, zuständig ist. Verschiedene Farben dienen zur Kennzeichnung verschiedener Departemente. Oben links im Header findet sich die Bezeichnung der jeweils übergeordneten behördlichen Einheit. Auf der Startseite der Kantonsverwaltung ist etwa der offizielle Kantonsname (Repubblica e Cantone Ticino) anzutreffen. Daneben stehen das rot-blaue Tessiner Wappen und die offizielle kantonale Abkürzung TI. Wie üblich ist der Inhaltsbereich in drei Spalten geteilt. Links ist die Subnavigation mit Verlinkungen auf die Unterseiten anzutreffen; in der zentralen Spalte erscheinen die Hauptinhalte der jeweiligen Seite; die rechte Spalte ist den Kontaktangaben sowie siteexternen und -internen Verlinkungen gewidmet. Im Footer finden sich die Informazioni legali (rechtliche Hinweise). Danach seien die Informationen, die auf ti.ch publiziert würden, nicht rechtlich verbindlich. Dort steht ferner, dass der Kanton sich vorbehalte, Inhalte ohne Vorankündigung abzuändern, und dass er keine Haftung für Fehler oder Mängel und für die Aktualisierung der Angaben sowie für die Inhalte der intertextuell verbundenen Websites trage: Quanto pubblicato sul sito ti.ch non costituisce informazione vincolante ai sensi di legge. L’Amministrazione cantonale si riserva il diritto di apportare modifiche al contenuto di ti.ch, in qualsiasi momento e senza alcun preavviso, declinando ogni responsabilità circa eventuali inesattezze materiali o lacune nei testi presenti, così come per gli aggiornamenti degli stessi. Fanno fede unicamente i testi la cui validità legale è riconosciuta. L’Amministrazione cantonale non si assume responsabilità nei confronti dei siti web che riportano al loro interno collegamenti ipertestuali a ti.ch. Rimandi e collegamenti a siti web di terzi non rientrano nella sfera di responsabilità delle autorità cantonali (Hervorhebungen im Original gelöscht). 375 Die meisten informativen Hypertext-Module, aus denen sich das Subkorpus 4 zusammensetzt, sind Seiten, die der Rubrik Stato civile/ Naturalizzazione unterge‐ ordnet sind. Diese stellt einen der Bereiche dar, auf die die Inhalte der Sezione della 431 5.3 Analyse der textinternen Merkmale <?page no="432"?> popolazione verteilt sind. Dazu gehört auch die Rubrik Sportello (Schalter), wo man Formulare und Merkblätter herunterladen kann. Heute (September 2019) gibt es ferner die Kategorie Servizi online (Online-Dienstleistungen). Dadurch kann man gewisse Dokumente (Ausweise, Zivilstandsurkunde, Aufenthaltsbewilligungen usw.) bestellen und sich per Post ins Haus schicken lassen. Dazu muss man einen Antrag online stellen und die dafür angeforderten Gebühren bezahlen. Man kann außerdem ständig den Stand der Bearbeitung des eigenen Geschäfts nachprüfen. Die Seite, die den Titel Stato civile / Naturalizzazioni / MOVPOP (TI_14) trägt, ist die Einstiegsseite in das Thema Bürgerrecht / Einbürgerung auf der kantonalen Website. Direkte Verlinkungen auf die anderen thematisch zusam‐ menhängenden kantonalen Internetseiten finden sich in der linken Spalte des Inhaltsbereichs des Textes. Die folgende Abbildung (Abb. II.5.2) entspricht einem Screenshot des oberen Teils (TI_14): Abb. II.5.2: Makrostruktur der Webs