Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua
Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietäten-linguistischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435-1601)
0321
2022
978-3-8233-9540-9
978-3-8233-8540-0
Gunter Narr Verlag
Roger Schöntag
10.24053/9783823395409
Die sprachliche Verwandtschaft zwischen Latein und Italienisch waren im Mittelalter nur vage bekannt. Dies ändert sich mit einer Diskussion im Jahre 1435, an der maßgebliche Humanisten wie Leonardo Bruni und Flavio Biondo beteiligt sind, die sich im Geiste der Rückbesinnung auf die Antike fragen, welche Sprache, d.h. welche Art von Latein, die Römer einst gesprochen haben mögen. Hieraus entspinnt sich nun eine Debatte (bis 1601) zwischen Lateinhumanisten und Vulgärhumanisten, an deren Ende sich die Erkenntnis durchsetzt, dass sich das Italienische (und andere romanische Sprachen) aus dem gesprochenen Latein der Antike, dem Vulgärlatein, herleitet. Die sprachwissenschaftliche Aufarbeitung dieser Debatte im Rahmen der italienischen Sprachenfrage (questione della lingua) ist Ziel und Gegenstand vorliegender Abhandlung.
<?page no="0"?> TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Roger Schöntag <?page no="1"?> Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 581 <?page no="3"?> Roger Schöntag Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlinguistischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435-1601) Unter Berücksichtigung von Dante Alighieri und der mittelalterlichen Sprachphilosophie <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395409 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8540-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9540-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0348-0 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 1 11 1.1 11 1.2 15 1.3 18 1.4 19 2. 23 3. 29 3.1 29 3.1.1 29 3.1.2 46 3.1.3 65 3.2 78 4. 89 4.1 90 4.1.1 93 4.1.2 127 4.2 154 4.3 158 5. 163 Inhalt Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel . . . . . Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korpus und zeitlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive . . . . . . . . . . Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varietätenlinguistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . Soziolinguistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Architektur des Lateins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lingua viva: Latein in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Varietätenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Darstellung des Lateins und seiner Entwicklung in einem varietätenlinguistischen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 6. 183 6.1 183 6.1.1 183 6.1.2 193 6.1.3 207 6.1.4 214 6.1.5 220 6.2 247 6.2.1 247 6.2.2 248 6.2.3 276 6.2.4 330 6.2.5 353 6.2.6 372 6.2.7 392 6.2.8 414 6.2.9 442 6.2.10 470 6.2.11 480 6.2.12 504 6.2.13 525 6.2.14 545 6.2.15 568 6.2.16 591 6.2.17 617 6.2.18 650 7. 661 Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen der Antike in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rahmenbedingung: La questione della lingua . . . . . . . . . . Die questione vor dem Hintergrund von Renaissance und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzcharakteristik der questione della lingua: Fragestellungen und Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . Die „Barbarenthese“ im Kontext von generatio, alteratio und corruptio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verständnis von Sprache: lingua morta vs. lingua viva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachauffassung im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Präliminarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der unverzichtbare Vorläufer: Dante Alighieri . . . . . . Der Beginn der Diskussion zur antiken Sprachkonstellation (1435) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leon Battista Alberti (Leo Baptista Alberti) . . . . . . . . . . Guarino Veronese (Guarinus Veronensis) . . . . . . . . . . . . Poggio Bracciolini (Poggius Florentinus) . . . . . . . . . . . . Francesco Filelfo (Franciscus Philelphus) . . . . . . . . . . . . Lorenzo Valla (Laurentius Vallensis) . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Humanisten des 15. Jh. und die Tradierung der Debatte ins 16. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Die prima generazione . . . . . . . . . . . . . . Pietro Bembo (Petrus Bembus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baldassare Castiglione (Balthassaris Castillionis) . . . . . Claudio Tolomei (Claudius Ptolemaeus) . . . . . . . . . . . . . Lodovico Castelvetro (Ludovicus Castelvetrus) . . . . . . . Benedetto Varchi (Benedictus Varchius) . . . . . . . . . . . . . Celso Cittadini (Celsus Cittadinus) . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Humanisten des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . Zwischenfazit: Die seconda generazione . . . . . . . . . . . . Ergebnis und Fazit: Die Entwicklung der Debatte und ihre thematischen Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 8. 689 689 700 759 761 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="9"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Version der im Juli 2020 einge‐ reichten und im Juli 2021 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Ale‐ xander-Universität Erlangen-Nürnberg ( FAU ) angenommenen Habilitations‐ schrift zur Lehrbefähigung für das Fachgebiet Romanische Philologie, die vom Fakultätsrat mit dem Habilitationspreis der Philosphischen Fakultät ausge‐ zeichnet wurde. Es sei an dieser Stelle den Mitgliedern des Mentorats sowie den externen Gutachtern für die wertvollen Anregungen und konstruktiven Vorschläge zur Präzisierung von so manchem Einzelaspekt gedankt. Für einige kritische in‐ haltliche Anmerkungen und vor allem die vielen Etappen des mühevollen Lek‐ torats gilt ganz besonderer Dank Dr. Patricia Czezior. Erlangen im September 2021 <?page no="11"?> 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel 1.1 Thematik Das im Titel angezeigte Thema vorliegender Arbeit, nämlich die Untersuchung des Verständnisses von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit, ist dahingehend zu präzisieren, daß bei einer Analyse mit dem Fokus ‚Vulgärlatein‘ insofern immer auch die gesamte Sprache Latein in die Betrachtung miteinbezogen werden muß, als Vulgärlatein aus aktueller linguistischer Perspektive ganz prinzipiell einen Teilaspekt der lateinischen Sprache darstellt. Das bis heute bestehende Problem einer einheitlichen Definition von ‚Vulgärlatein‘ gilt erst recht für die hier un‐ tersuchte Epoche sprachtheoretischer Reflexion, in der das Konzept dessen, was man ab dem 19. Jh. in der Sprachwissenschaft unter ‚Vulgärlatein‘ versteht (cf. Kap. 5), erst nach und nach an Kontur gewinnt, es also um die Vorgeschichte dieses Konzeptes und linguistischen Begriffes geht. Für diese Zwecke wird ein Begriff von Vulgärlatein zugrundegelegt, der unabhängig von den heutigen zahlreichen Einzeldefinitionen einen Minimalkonsens beinhaltet, und zwar im Sinne einer weitgehend zu rekonstruierenden Basis bzw. Ursprache der roman‐ ischen Sprachen, die im Gegensatz zum klassischen Latein auf der gesprochenen Sprache Roms bzw. des römischen Reiches (Westteil) beruht und die in einzelnen schriftlichen Texten zutage tritt (cf. Quellen des Vulgärlateins). Gegenstand der Untersuchung bilden ausgewählte Texte (v. infra) verschie‐ dener Autoren zur Sprachreflexion im Italien der Frühen Neuzeit. Diese Schriften, die je nach Präferenz des Verfassers auf Italienisch oder Latein abge‐ faßt wurden, dienen als Basis, um die einzelnen Vorstellungen jener Autoren von dem in der Antike gesprochenen (und geschriebenen) Latein zu rekonstru‐ ieren. Im Weiteren soll dann, anhand dieser unterschiedlichen Auffassungen, die Entwicklung bzw. der Wandel des Verständnisses des antiken Lateins und seines Varietätenraumes nachgezeichnet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch einer Rekonstruktion eines metasprachlichen Diskurses. Ein wich‐ tiger Aspekt dabei ist ebenfalls der im Untertitel der Arbeit angesprochene be‐ griffsgeschichtliche Teil der Untersuchung, denn im Zuge der Aufarbeitung der eben erläuterten frühneuzeitlichen Diskussion ist es auch möglich und zugleich notwendig, die Entstehung des Begriffes und Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ zu skiz‐ zieren. Dabei wird auch der antike Ursprung (cf. sermo vulgaris) mitberücksich‐ <?page no="12"?> 1 Latein war im Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit nicht nur Schriftsprache, sondern fand auch im mündlichen Distanzbereich als internationale Verkehrssprache, Sprache der Wissenschaft, der Justiz, der Kirche und der Diplomatie entsprechende Verwendung. Der mündliche Nähebereich war durch die einzelnen Volkssprachen be‐ setzt, da das Lateinische keine native speaker mehr hatte. 2 Zu einzelnen Phasen der questione della lingua cf. Kap. 6.1.2. tigt. Nichtsdestoweniger liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Nach‐ zeichnung der angesprochenen humanistischen Debatte, in deren einzelnen Positionen sich diejenigen Vorstellungen zur Sprachkonstellation der Antike, d. h. vor allem bezüglich des schriftlichen Lateins und seiner mündlichen Vari‐ etät(en), abzeichnen, die letztlich Vorboten einer späteren sprachwissenschaft‐ lichen Differenzierung von Latein und Vulgärlatein darstellen. Den Rahmen für die vorliegende Untersuchung bildet die sogenannte ques‐ tione della lingua, die Sprachenfrage in Italien, eine Diskussion um die adäquate Literatursprache (d. h. um einen schriftlichen Standard) des Italienischen, die von zahlreichen Gelehrten mit unterschiedlichen Positionen über mehrere Jahr‐ hunderte hinweg intensiv geführt wurde (cf. Kap. 6.1). Den Höhepunkt dieser intellektuellen Auseinandersetzung kann man im We‐ sentlichen im 16. Jahrhundert ansetzen, doch reichen einerseits ihre Wurzeln weiter zurück, nämlich in letzter Konsequenz zum Beginn einer umfassenderen literarischen Produktion auf Italienisch (cf. Tre corone) und damit zum poten‐ tiellen Konflikt mit der bis dahin dominierenden Schriftsprache Italiens und ganz Europas, 1 dem Lateinischen. Ihren Abschluß findet die questione bekannt‐ lich erst im 19. Jahrhundert, als sich schließlich, nicht nur auf der Ebene der theoretischen Diskussion, das in seinen Grundzügen bis heute gültige Modell durchsetzt, sondern mit der Schaffung des italienischen Nationalstaates auch die Voraussetzungen zu einer praktischen Umsetzung gegeben sind, wobei die Herausbildung und schließlich eine weitgehend flächendeckende Verbreitung eines Standarditalienischen im Bereich der mündlichen Kommunikation bis weit ins 20. Jahrhundert dauerte. Die Sprachenfrage in Italien hat im Laufe der jahrhundertelangen Diskussion zahlreiche Facetten gezeitigt, 2 wobei man zwei Kernfragestellungen ausmachen kann: Zum einen gab es zunächst den Konflikt unter den Zeitgenossen, ob es prinzipiell überhaupt möglich ist, im volgare, also der Volkssprache, literarische Werke hervorzubringen, die den gleichen sprachlich-stilistischen, intellektu‐ ellen und künstlerischen Stellenwert und Anspruch haben konnten wie die auf Latein abgefaßten. Zum anderen stellte sich gerade in Italien daran anschließend die Frage, welche Varietät des Italienischen man gebrauchen sollte, wenn man 12 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel <?page no="13"?> 3 Diese Problematik war beispielsweise für das Französische kaum virulent, insofern sich spätestens im 13. und 14. Jahrhundert das Franzische (francien), die Sprache der Île-de-France, gegenüber anderen Varietäten durchgesetzt hatte. Auch das Kastilische hatte durch seine Kodifizierung als castellano drecho unter Alfons X. dem Weisen (1252-1284) bereits im Mittelalter eine frühe Standardisierung erfahren. Zum Französischen cf. z. B. Berschin / Felixberger / Goebl (2008: 203-211), insbesondere die Karte zur Ausbreitung des Franzischen / Französischen (ibid.: 208) und zum Kastili‐ schen cf. Fernández-Ordoñez (2005: 382-386). Auch für das Portugiesische erfolgte eine relative frühe Festlegung auf die Varietät um Lissabon durch das dortige Machtzentrum und Herrscher wie Dom Dinis (1279-1325), die für eine reiche und relativ einheitliche Verschriftlichung sorgten (cf. Schöntag 2012). 4 Zum „Durst nach Büchern“ dieser Generation von Gelehrten cf. Burke (1998: 46). Zum Einfluß der ciceronianischen Schriften auf die Vertreter der Frührenaissance cf. Classen (2003: 7-20). 5 Es sind Briefe Ciceros an Atticus, Quintus und Brutus. Diesen „Glücksfund“ beschreibt Schmidt (2000: 275) als „Krönung einer rastlosen Such- und Sammeltätigkeit“ Petrarcas. denn das Italienische dem Lateinischen als Schriftsprache vorzog. 3 Im politisch zersplitterten Italien standen sich einerseits verschiedene diatopische Varietäten und deren scriptae gegenüber, die an verschiedene Machtzentren gekoppelt waren, andererseits gab es mit dem Werk der Tre corone ein übermächtiges li‐ terarisches Vorbild, welches in sich wiederum sehr vielfältig war und im 15./ 16. Jh. bereits archaisch anmutete. Nachdem nach und nach das Italienische als adäquate Sprache für einige literarische Gattungen weitgehend akzeptiert worden war, konzentrierte sich die Diskussion der weiteren Jahrhunderte auf die Frage nach der diatopischen und zeitlichen Verortung einer idealen italie‐ nischen Literatursprache. Für die vorliegende Arbeit ist vor allem der erste Teil der italienischen Spra‐ chenfrage von Relevanz, insofern im Schnittpunkt zwischen Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus ein Diskussionsfeld eröffnet wurde, an dem sowohl die Parteigänger des Lateinischen partizipierten, als auch die Befürworter der ita‐ lienischen Volksprache in der Literatur Anteil hatten: Es handelt sich dabei um die Frage, welche Art von Latein im antiken Rom bzw. im Imperium Romanum gesprochen wurde. Die Beschäftigung mit dem Latein wurde nicht zuletzt durch den Geist der Renaissance, d. h. das wiedererwachte, verstärkte Interesse an der Antike ange‐ regt. Seit dem 14. Jh. und vor allem im 15. Jh. begann man, zahlreiche Werke lateinischer und griechischer Autoren wiederzuentdecken, indem man sich in den Bibliotheken auf die Suche nach antiken Kodizes machte. 4 Schon 1345 ent‐ deckte Francesco Petrarca (1304-1374) in der Bibliothek der Kathedrale von Ve‐ rona Briefe Ciceros, 5 1392 stieß Coluccio Salutati (1331-1406) auf weitere Ci‐ cero-Briefe (Epistolae ad familiares) in derselben Stadt und Poggio Bracciolini 13 1.1 Thematik <?page no="14"?> 6 So vor allem Ciceros Unterscheidung zwischen sermo urbanus, sermo rusticus und sermo vulgaris; cf. dazu ausführlich Kap. 5 vorliegender Arbeit sowie Müller (2001: 13). 7 Tatsächlich liegt eher eine triglossische Sprachsituation vor, insofern nach und nach die Volkssprache im Bereich der Schriftlichkeit immer mehr Domänen und Funktions‐ bereiche übernahm, die zuvor allein dem Lateinischen vorbehalten waren (cf. Krefeld 1988a: 313-314, 320-322). (1380-1459), einer der Erfolgreichsten bei der Manuskriptsuche, entdeckte auf Reisen durch Deutschland und Frankreich während seiner Zeit als päpstlicher Sekretär auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) nicht nur Cicero-Schriften, sondern in St. Gallen auch eine komplette Fassung von Quintilians Institutio oratoria sowie zahlreiche weitere Texte antiker Autoren (cf. Burckhardt [1860] 2009: 150-157; Sandys 1915: 166-168). So konnte nicht nur der Kanon der latein‐ ischen (und griechischen) Schriften erweitert werden, sondern durch diese in‐ tensive Recherchetätigkeit erfuhr auch die Rezeption klassischer Texte einen nachhaltigen Aufschwung. Insbesondere die in diesem Kontext verstärkte Aus‐ einandersetzung mit Cicero hängt eng mit der ersten Phase der questione della lingua zusammen, in der die Frage nach der idealen lateinischen Literatur‐ sprache gestellt wird. Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, daß im Zuge der oben genannten ver‐ stärkten Rezeption der römischen Texte, insbesondere Ciceros, man auch gleich‐ zeitig die zu dieser Zeit bereits vorliegende Sprachreflexion mitrezipierte. 6 Diese intensive Beschäftigung mit den klassischen lateinischen Texten, dem generellen Interesse an der Antike sowie der zentralen Fragestellung des La‐ teinhumanismus um ein adäquates, zeitgenössisches Latein sind - wie die Un‐ tersuchung zeigen wird - die zentralen Voraussetzungen, daß sich bei einigen Gelehrten nach und nach ein Bewußtsein für die Diglossiesituation der eigenen Epoche herausbildete, mit einem Schriftlatein als high variety 7 und der italieni‐ schen Umgangssprache (meist in starker diatopischer Ausprägung) als low va‐ riety. Somit ergab sich parallel und in Verknüpfung mit der lateinischen ques‐ tione dieses spezifische Interesse und damit auch die daran anknüpfende Auseinandersetzung mit der antiken Sprachsituation. Die Teilnehmer an dieser Diskussion setzten sich also mit der konkreten Frage auseinander, welche Sprache die Römer wohl einst in ihrem täglichen Umgang sprachen - eben im Gegensatz zu jener, die durch die bekannte Literatur tradiert wurde - und wie diese Sprache des antiken römischen Volkes mit der Volks‐ sprache des zeitgenössischen Italiens zusammenhing. Dadurch eröffnete sich eine Problematik, die wir heute gängigerweise mit der begrifflichen Dichtomie ‚Vulgärlatein‘ vs. ‚klassisches Latein‘ zu erfassen und abzugrenzen suchen. Die humanistischen Gelehrten versuchten, sich nach und nach eine immer präzisere 14 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel <?page no="15"?> Vorstellung von den sprachlichen Verhältnissen der Antike zu machen, wobei sie prinzipiell auf zwei Methoden zurückgriffen: zum einen auf den Vergleich mit ihrer eigenen Sprachsituation und zum anderen auf die Informationen, die ihnen die antiken Autoren lieferten. Die Argumentationen in dieser Diskussion waren jedoch nicht von einem originären Interesse an der Erforschung dieses Sachverhaltes geprägt, sondern müssen vor dem Hintergrund der Sprachenfrage und den dort vertretenen Positionen in Bezug auf das Verhältnis ’Latein vs. Volkssprache’ bzw. der Streitfrage um die Adäquatheit des Italienischen als Li‐ teratursprache gesehen werden. Thema der vorliegenden Arbeit ist demgemäß ein metasprachlicher Diskurs im Italien der Frühen Neuzeit, der einerseits eng mit der questione della lingua verknüpft ist, andererseits aber seine eigene Dynamik entwickelt. Damit ist das Interesse an der Rekonstruktion dieses frühneuzeitlichen Disputes hier als ein genuin romanistisches zu verstehen, welches jedoch unzweifelhaft im Schnitt‐ punkt auch mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Lati‐ nistik oder ganz allgemein der Philologie im traditionellen Sinne steht. 1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen Die sich oft auch im mündlichen Streitgespräch herauskristallisierenden Posi‐ tionen sind uns vor allem durch eine reichhaltige Traktatsliteratur überliefert oder in Form von theoretischen Überlegungen in anderen literarischen Werken (z. B. literarischer Brief, humanistischer Dialog, Apologie). Dabei können auf‐ grund der Vielzahl der Texte, die sich entweder vorrangig mit dieser Thematik beschäftigen oder aus denen sich zumindest diesbezügliche Stellungnahmen herauslesen lassen, nicht alle Eingang in die Analyse finden, sondern es seien hier nur solche berücksichtigt, die einen wesentlichen Beitrag in dieser Diskus‐ sion leisten. Die Selektion der Autoren und Texte richtet sich dabei im Wesent‐ lichen nach denen bereits in der Forschung kanonisierten und sowie danach, ob ein Autor bzw. Text maßgeblich in der zeitgenössichen Rezeption ist und / oder inhaltlich das Thema um neue Aspekte bereichert (cf. Kap. 6.2). Der zeitliche Untersuchungsrahmen ergibt sich aus den maßgeblichen Trak‐ taten, die den Umbruch in der Auffassung des Lateins bzw. der Volkssprache markieren. Aus diesem Grund läßt sich ein Beginn dieses neuen Bewußtseins durch Dante Alighieri (1265-1321) mit seiner Schrift De vulgari eloquentia (1303 / 4-1307 / 8) fixieren (cf. Kap. 6.2.1). Diese Abhandlung - obwohl zeitlich sehr viel früher gelegen als die eigentliche Diskussion - ist insofern von zent‐ ralem Interesse, als hier einerseits die mittelalterliche Auffassung von Latein als 15 1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen <?page no="16"?> 8 In der Forschungsliteratur wird der Begriff der prima generazione in diesem Zusam‐ menhang, falls er überhaupt verwendet wird, meist rein auf diejenigen angewandt, die entweder bei der mündlichen Diskussion von 1435 anwesend waren oder unmittelbar darauf reagierten bzw. der Begriff wird allgemein auf die erste Generation der Huma‐ nisten in Italien angewandt (cf. z. B. Canfora 2001: 33), allerdings in beiden Fällen ohne weitere Erklärungen oder Begriffsdefinitionen; d. h. jemand wie Lorenzo Valla wird schon zur zweiten Generation gezählt. Es erscheint jedoch angesichts der Tatsache, daß in vorliegender Untersuchung der Faden der Diskussion bis ins 16. Jh. bzw. Anfang des 17. Jh. weiter verfolgt wird, sinnvoll, auch die prima generazione entsprechend weiter zu fassen, zumal das Argument des unmittelbaren Kontaktes ein erhebliches objektives Gewicht hat. einer unveränderlichen gramatica nochmals synthetisiert wird, aber anderer‐ seits Dante hierbei auch der Volkssprache einen wichtigen Stellenwert zuer‐ kennt. Diese wiederum stellt er äußerst differenziert dar und bringt gleichzeitig die Idee der diasystematischen Diversität (Architektur) einer Sprache mit ins Spiel sowie den Gedanken der Wandelbarkeit einer Sprache. Der tatsächliche Beginn der Diskussion, die um die Frage der antiken Spra‐ chensituation kreist bzw. im Speziellen um die Frage, welche Sprache die Römer gesprochen hatten und wie daraus das Italienische entstehen konnte, ist hin‐ gegen durch Leonardo Bruni (1369 / 70-1444) und Flavio Biondo (1392-1462) markiert (cf. Kap. 6.2.2), die mit einem zunächst mündlich ausgetragenen Disput im Vorzimmer des Papstes letztlich die gesamte questione della lingua wenn nicht eröffneten, dann doch zumeist grundlegend anregten. Zudem werden in den dann bald darauf entstandenen Schriften - Bruni: An vulgus et literati eodem modo per Terentii Tuliique tempora Romae locuti sint (1435); Biondo: De verbis romanae locutionis (1435), Italia illustrata (1448-1458 / 1474) - zum ersten Mal einige wichtige Positionen dieser Diskussion fixiert, darunter auch das Argu‐ ment der Korrumpierung des Lateins, die als corruptio-These in der heutigen Forschung geführt wird (cf. Kap. 6.1.1). Im Folgenden werden dann zwei Perioden dieser Sprachdiskussion um die Antike unterschieden, und zwar mit Humanisten, die hier, in Anlehnung an bereits in der Forschung üblichen, 8 aber chronologisch leicht anders verwen‐ deten Begriffe, als prima generazione und als seconda generazione klassifiziert werden. Die erstere bezieht sich auf die Protagonisten des 15. Jhs., zu denen neben den Initiatoren der Debatte, Bruni und Biondo, Leon Battista Alberti (1404-1472), Guarino Veronese (1374-1460), Gian Francesco Poggio Bracciolini (1380-1459), Francesco Filelfo (1398-1481) und Lorenzo Valla (1407-1457) ge‐ hören, denen je eigene Kapitel gewidmet sind (cf. Kap. 6.2.4-6.2.8). Diesen folgen in einer kürzeren synoptischen Darstellung einige Autoren, die das vorliegende Thema weniger ausführlich behandeln oder weniger innovative Beiträge in die 16 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel <?page no="17"?> 9 Zu einem kurzen Abriß der modernen Begriffsgeschichte ‚Vulgärlatein‘ cf. beispiels‐ weise Lüdtke (2005: 31-39), Müller-Lancé (2006: 58-63) sowie Kiesler (2008: 7-13). Zur Unterscheidung von Sprachwissenschaft (Linguistik) im eigentlich Sinne und einer Vorgeschichte der (romanischen) Sprachwissenschaft im Sinne einer Reflexion über Sprache aus philosophischem, theologischem oder historischem Impetus oder aber im Zuge einer „traditionellen“ Grammatik cf. Gauger / Oesterreicher / Windisch (1981: 30-31). Cf. dazu auch die Diskussion bei Gauger (1991: 20-30) zu den Termini ‚Vorgeschichte‘ und ‚Frühgeschichte‘ in Bezug auf die Zeit der Sprachbetrachtung in der Romanistik vor Friedrich Diez (1794-1876). Im Sinne einer Kontinuität der sprach‐ wissenschaftlichen Betrachtung wie sie auch bei Coseriu (2003: 5-6) formuliert wird, ist der Sammelband von Niederehe / Schlieben-Lange (1987) als Frühgeschichte betitelt, während Gauger (1991) und Gauger / Oesterreicher / Windisch (1981) von einem Bruch ausgehen. Debatte miteinbringen und die hier im Gegensatz zu den Protagonisten der De‐ batte, denen je ein eigenes Kapitel gewidmet ist und die deshalb als auctores maiores klassifiziert werden, als auctores minores benannt werden (cf. Kap. 6.2.9). Die zweite Generation der Gelehrten im 16. Jh. ist durch die maßgeblichen Ver‐ treter Pietro Bembo (1470-1547), Baldassare Castiglione (1478-1529), Claudio Tolomei (ca. 1492-1556), Ludovico Castelvetro (1505-1571), Bendetto Varchi (1503-1565) und Celso Cittadini (1553-1627) repräsentiert. Neben diesen Pro‐ tagonisten, die durch ihren allgemeinen Wirkungsradius und / oder die neuen Details, die sie zur Diskussion beisteuerten, als solche für eigene Kapitel aus‐ gewählt wurden (cf. Kap. 6. 2. 11-6. 2. 16), folgt analog zur Übersicht des 15. Jhs. auch hier eine Zusammenstellung zu auctores minores in der vorliegenden De‐ batte (cf. Kap. 6. 2. 17). Den zeitlichen Schlußpunkt der Untersuchung markiert demzufolge Celso Cittadini, der in seinem Trattato della vera origine (1601) zum ersten Mal nicht nur eine konkrete Vorstellung von der Heterogenität des Latein formuliert, und zwar auch im Wandel der Zeit, sondern der auch versucht, dies anhand von epigraphischen und literarischen Quellen zu belegen. Die Variabilität der Volks‐ sprache ist zu diesem Zeitpunkt längst communis opinio, so daß er der heutigen Vorstellung vom ‚Vulgärlatein‘ in Bezug auf einige Aspekte schon ziemlich na‐ hekommt. Diese zeitliche Beschränkung ist insofern zu rechtfertigen, als einerseits mit Cittadini die Diskussion um die Sprachsituation in der Antike argumentativ zu einem Abschluß gebracht wurde und andererseits die weitere Geschichte des Begriffs ‚Vulgärlatein‘ Teil der modernen wissenschaftlichen Begriffsgeschichte darstellt, zu der eben jener wieder das Initium bilden würde. 9 17 1.2 Korpus und zeitlicher Rahmen <?page no="18"?> 1.3 Untersuchungsebenen Zentrales Thema der vorliegenden Untersuchung ist die Vorstellung des Varie‐ tätenraumes des antiken Lateins, des Sprachwandels vom Lateinischen (bzw. Vulgärlateinischen) zu den romanischen Sprachen sowie allgemein der Kons‐ tellation der antiken Sprachen des römischen Imperiums in der Frühen Neuzeit im Spiegel zeitgenössischer Traktate. Die hier vorgenommen Analyse bedingt deshalb einerseits, daß auf das Latein der Antike Bezug genommen wird, also auf die historische Sprache in ihrer diasystematischen Heterogenität, anderer‐ seits auf das zeitgenössische Latein des 15./ 16. Jh. Da im Zuge der verschiedenen Einzelanalysen vielfache Relationen zwischen Objekt- und Metaebene auftreten, soll diese Beziehungen vorab noch einmal deutlich gemacht werden. Auf Objektebene ist die Sprache Latein sui generis anzusiedeln sowie ihre historische Entwicklung. Dazu gehören im Einzelnen die Frage nach der diasystematischen Vielfalt des Lateinischen (diatopische, diastratische und diapha‐ sische Variation), nach der Herausbildung einer lateinischen Schriftsprache und deren Entwicklung sowie nach der Entstehung einer klassischen Norm inner‐ halb dieser Schriftsprache und dem Verhältnis ‚Schriftsprache vs. gesprochene Sprache‘ im Laufe der Jahrhunderte. Darüberhinaus ist dazu auch die Frage nach der Ausdifferenzierung der romanischen Sprachen aus dem gesprochenen La‐ tein hinzuzunehmen. Auf der Metaebene erscheinen verschiedene als synchron zu begreifende Ausschnitte der Betrachtung. Zentrale Fragestellung ist der Blick auf das antike Latein durch die an dieser Diskussion beteiligten Humanisten (Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘, cf. Kap. 6). Diese versuchten, die Architektur des Lateins in der Antike rekonstruieren, und zwar zum einen mit Hilfe des Vergleichs ihrer ei‐ genen Situation in Bezug auf das Verhältnis ‚Latein vs. Volkssprache‘ in Italien und zum anderen vor allem, indem sie Hinweise zur Diversität des Lateinischen und zum antiken Verhältnis ‚Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bei den überlie‐ ferten römischen Autoren nachgingen bzw. als bestimmte Stellen als solche in‐ terpretierten. Dies war möglich, da die römischen Autoren selbst sowohl Über‐ legungen zur Sprache ihrer eigenen Zeit als auch früherer (schriftloser) Zeiten angestellt hatten, also auch versuchten, die Entwicklung der eigenen Sprache vor ihrer Zeit zu verstehen (Synchronie ‚römische Antike‘, cf. Kap. 4). Wenn also aus heutiger Perspektive, wie in vorliegender Arbeit als Zielset‐ zung formuliert, die Vorstellung der Humanisten in Bezug auf das antike Latein rekonstruierten werden soll, und zwar mit den hier vorgestellten wissenschaft‐ lichen Methoden anhand des zugrundeliegenden Korpus (cf. Kap. 1.1, 1.2 und 1.4), muß berücksichtigt werden, daß die Untersuchungen der Gelehrten der 18 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel <?page no="19"?> Frühen Neuzeit zum antiken Latein maßgeblich durch die metasprachlichen Kommentare der römischen Autoren zu deren eigener Zeit, aber auch zu frü‐ heren Epochen geprägt sind, wobei es nicht unerheblich ist, auf welches Korpus an Autoren und Texten jene frühneuzeitlichen Sprachtheoretiker sich dann im Einzelnen beziehen. Im Fokus der Betrachtung stehen hier also synchrone Ausschnitte der Be‐ trachtung (römische Antike, Frühe Neuzeit), und zwar einerseits auf der Meta‐ ebene (Sprachreflexion der Humanisten, Sprachreflexion der römischen Au‐ toren) und andererseits auf Objektebene, indem in vorliegender Arbeit versucht werden soll, diese beiden historischen Sprachsituationen (Latein in der Antike, Latein / Italienisch in der Frühen Neuzeit) mit aktuellen wissenschaftlichen Ka‐ tegorien zu erfassen. Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei jedoch die dazwischenliegende metasprachliche Tradition, also die Kontinuität der Sprachreflexion von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, die das Denken und die Vorstellungswelt der untersuchten Humanisten mit beeinflußt hat. In diesem Sinne ist zudem zu berücksichtigen, daß die ausgewählten syn‐ chronen Ausschnitte ebenfalls wieder in sich eine historische Entwicklung der metasprachlichen Betrachtung beinhalten, also natürlich keine absoluten Syn‐ chronien bilden, sondern relative, die z. T. sehr unterschiedlich große Zeiträume umfassen (röm. Antike mind. 1000 Jahre, Frühe Neuzeit ca. 200 Jahre). So sei beispielsweise darauf verwiesen, daß Isidor v. Sevilla (560-636 n. Chr.) sich auf Livius (59 v.-17 n. Chr.) bezieht (beide innerhalb der Synchronie ‚römische An‐ tike‘) oder Cittadini (1601) Reflexionen von Dante (1303 / 4) aufgreift (beide Synchronie ‚Frühe Neuzeit‘), so daß man bei einem Argument, welches Cittadini von Isidor übernimmt, der sich selbst wiederum auf Livius bezieht, eine mehr‐ fache Brechung der Perspektive berücksichtigen muß. 1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel Um den bereits vorgestellten metasprachlichen Diskurs mit seinen verschie‐ denen Aspekten, insbesondere in Bezug auf die Erfassung der gesprochene Sprache der römischen Antike und damit die Vorstellungswelt der Frühen Neu‐ zeit in Bezug auf das Latein in seiner Architektur rekonstruieren zu können, werden in der vorliegenden Untersuchung zwei unterschiedliche methodische Verfahren angewandt. Zum einen soll die zeitgenössische Traktatliteratur mit Hilfe des heutigen Instrumentariums varietäten- und soziolinguistischer Begrifflichkeit analysiert 19 1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel <?page no="20"?> 10 Zum Konzept der „Rekontextualisierung“ cf. Oesterreicher (1998) bzw. Kap. 3.2 der vor‐ liegenden Arbeit. (cf. Kap. 3.1) und somit unter dieser Perspektive untersucht werden, was an Einsichten in die Architektur des Lateinischen und in Bezug auf das Verhältnis von ,Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit‘ bereits vorhanden ist. Dabei werden in diesem Analyseschritt zunächst bewußt bestimmte kontextuelle historische Im‐ plikationen weitgehend ausgeblendet, d. h. die heutigen Begrifflichkeiten in ge‐ wisser Weise anachronistisch angewendet, um das Verständnis der Sprache bzw. Sprachsituation klarer herausarbeiten zu können. Das gilt beispielsweise für Begriffe wie Varietät, Diasystem (diatopisch, diastratisch, diaphasisch), Di‐ glossie und Ausbau genauso wie für Substrat, Superstrat und Adstrat. Zum anderen ist es dann wiederum nötig, die einzelnen Traktate auch zu „rekontextualisieren“, 10 also in dem entsprechenden zeitgeschichtlichen Diskurs zu verorten, d. h. die Texte ganz traditionell philologisch bzw. hermeneutisch zu interpretieren (cf. Kap. 3.2). Die beiden separat gewonnenen Erkenntnisstränge, die keinesfalls antogonistisch aufzufassen sind, sondern sich produktiv ergän‐ zend, sollen dann wiederum zu einer Gesamtschau zusammengeführt werden. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise sollen folgende konkrete Untersuchungsziele erreicht werden: 1. Die Vorstellungen der einzelnen Autoren der Frühen Neuzeit hinsichtlich des Lateins, insbesondere dessen, was heutzutage unter Vulgärlatein zu verstehen ist, sollen herauspräpariert werden (cf. Kap. 6.2), d. h. moderne, innovative einerseits und traditionelle Konzeptionen andererseits deut‐ lich gemacht werden, und zwar durch folgende Verfahren: a. durch die Gegenüberstellung und Vereinigung der modernen Lesart der Traktate (varietäten- und soziolinguistische Begriffe) mit einer traditionellen, also der Verortung der untersuchten Schriften im Kon‐ text der Zeit (‚Rekontextualisierung‘); b. durch die Gegenüberstellung des damaligen Kenntnisstandes (Frühe Neuzeit) über das Latein und seine Varietäten mit den heutigen. 2. Die Darstellung des Prozesses des Wandels dieser Sprachvorstellungen über die Antike in dem Zeitraum von Dante bzw. von Leonardo Bruni / Flavio Biondo bis Celso Cittadini bildet den zweiten Fokus dieser Arbeit (cf. Kap. 7). Da es sich mitunter um Autoren bzw. Schriften handelt, die im Rahmen der questione della lingua durchaus schon Gegenstand von Untersuchungen waren, soll eben genau dieser bisher eher vernachlässigte Aspekt zur Vorstellung über 20 1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel <?page no="21"?> 11 Eine ältere Aufarbeitung mit dem Fokus ,Frankreich vs. Italien‘ liegt durch Strauss (1938) vor. Zum Forschungsstand cf. Kap. 2 der vorliegenden Arbeit. die Sprachsituation der Antike fokussiert werden (nicht die gesamte questione) und gerade auch bei schon des Öfteren diskutierten Positionen sollen kritische Stellen besonders hervorgehoben werden. Dabei erlaubt es die hier dargelegte, doppelte Analyse-Perspektive, das Denken im Spannungsfeld zwischen Mittel‐ alter und Neuzeit adäquat darzustellen sowie Gemeinsamkeiten und Diskre‐ panzen zwischen frühneuzeitlichem und modernem Wissensstand präzise he‐ rauszuarbeiten. Das Desiderat des hier skizzierten Unterfangens ergibt sich nicht nur aus der bisher fehlenden Begriffsgeschichte zum Vulgärlatein (cf. Kiesler 2006: 8), son‐ dern auch aus einer bisher noch nicht in gebotenem Umfang vorliegenden Nachzeichnung dieser spezifischen frühneuzeitlichen Diskussion, 11 vor allem nicht unter dem dezidierten Blickwinkel moderner Erkenntnisse der Varietäten- und Soziolinguistik vor dem Hintergrund einer vertieften Forschung zur antiken Sprachsituation und der Entstehung der romanischen Sprachen. Die Vorgehensweise die gesamte Debatte durch die Behandlung der Positi‐ onen der einzelnen Humanisten zu strukturieren, richtet sich zum einen ganz pragmatisch nach der Mehrzahl bisheriger Forschungsarbeiten zu diesem Thema (cf. Kap. 2), zum anderen hat es den Vorteil, daß dadurch die gesamte Denkrichtung einzelner Protagonisten und der Kontext der Entstehung ein‐ zelner Ideen zu dieser Debatte deutlicher herausgearbeitet werden können. Um hingegen den Verlauf der Debatte und bestimmte Entwicklungstendenzen sowie die entsprechenden einwirkenden Faktoren aufzeigen zu können, dienen die jeweiligen Zwischenresümees sowie das ausführliche Fazit am Schluß der Ar‐ beit. 21 1.4 Untersuchungsmethode und Untersuchungsziel <?page no="23"?> 2. Forschungsstand Der vorliegende Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur ist an dieser Stelle bewußt selektiv und knapp gehalten, da eine entsprechende Behandlung pro einzelnem Themenkomplex in den verschiedenen theoretischen Kapiteln bereits erfolgt ist. Ausgeklammert werden sollen hier deshalb insbesondere die Forschungsübersichten zu den Fragen der Sozio- und Varietätenlinguistik, da hierzu einzelne Kapitel folgen, in denen die aktuelle Forschungslage kontrovers diskutiert wird (cf. Kap. 3.1.1, 3.1.2), sowie gleichermaßen zum Phänomen der Rekontextualisierung und Hermeneutik (cf. Kap. 3.2). Es sei deshalb mit einem kurzen Überblick zum Thema der Architektur des Lateinischen begonnen. Eine Einführung in die Geschichte der lateinischen Sprache bieten die Synopsen von Schmidt (1996) im Lexikon der Romanistischen Linguistik ( LRL ) mit der Genese aus dem Indogermanischen, von Steinbauer (2003) in den Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ( HSK ) zur Romanischen Sprachgeschichte sowie von Herman (1996) im LRL und von Seidl (2003) im HSK , beide mit einer Aufschlüsselung der Varietäten. Als Hand‐ bücher bzw. umfangreiche Darstellung sind Clackson (2011) und Willms (2013) zu nennen, letztere mit expliziter Ausrichtung an Studierende. Hervorzuheben ist das außerordentlich fundierte Werk von Poccetti / Poli / Santini (2005) zur Geschichte und den Varietäten des Lateinischen mit vielen ausführlich disku‐ tierten Einzelaspekten. Ebenfalls in ihrer Materialfülle unverzichtbare Werke sind die von Adams (2003, 2007), der wohl erstmals systematisch die Diatopik des Lateins untersucht sowie die Mehrsprachigkeit der römischen Gesellschaft. Zu den Ursprüngen des Lateinischen liegt eine Monographie von Baldi (2002) vor, eine wichtige Studie zum Sprachbewußtsein und der (stilistischen) Varia‐ tion des Lateinischen ist die sehr detaillierte und mit viel Belegmaterial ange‐ reicherte Arbeit von Müller (2003). Aus romanistischer Perspektive arbeitet Müller-Lancé (2006), der sowohl die lateinische Sprachgeschichte als auch va‐ rietätenlinguistische Differenzierungen berücksichtig. In der Latinistik gilt das Werk von Hofmann (³1951, [ 1 1926]) zur Umgangssprache als ein früher Blick auf die Variation des Lateinischen. Diese Perspektive ist zum Teil bis heute prä‐ gend und nur langsam finden moderne varietätenlinguistische Einflüsse ihren Weg in die philologisch geprägten Traditionen (cf. Handbücher supra). Einen Überblick zum mittelalterlichen Latein liefert Stötz (2002) mit seinem fünfbändigen Handbuch zu Wortschatz, Bedeutungswandel, Lautlehre sowie <?page no="24"?> 12 Zu den aktuellen Kongressbänden zum latin vulgaire bzw. latin tardif sowie weiterer spezifisch vulgärlateinischer Forschung cf. Kap. 5 der vorliegenden Arbeit. Syntax und Formenlehre, außerdem Berschin (2012), das hingegen gesamtphi‐ lologisch konzipiert ist. Eine verdichtete aber komplette Geschichte des Latein‐ ischen liegt mit Kramer (1997) vor, der auch varietätenlinguistische Aspekte miteinfließen läßt. An Grammatiken mit Kapiteln zur Sprachgeschichte und Variation des Lateinischen sind Leumann / Hofmann (1928), Palmer (1990) und Meiser (2010) zu nennen. Das Vulgärlateinische wird in der Forschung erstmals von Schuchardt (1866-1868) in Bezug auf den Lautwandel thematisiert, im weiteren liegen wichtige Arbeiten von Silva Neto (1957), Vossler (1953), Väänänen ( 1 1963, 4 2002) und Herman (1967) vor, der zahlreiche weitere Tagungen zu diesem Thema ini‐ tiiert hat. 12 In neuerer Zeit sind Forschungskompilationen von Euler (2005) aus indogermanistischer Perspektive und Kiesler (2006) aus romanistischer Per‐ spektive entstanden. Den Übergang zum Romanischen behandeln vor allem Coseriu (1978, 2008), Wright (1982), Iliescu / Slusanski (1991) und ganz aktuell der Beitrag von Reutner (2014) in der Reihe der Manuals of Romance Linguistics ( MRL ). Der zweite Teil des Forschungsüberblicks soll nun dem zentralen Untersu‐ chungsgegenstand der humanistischen Debatte im 15. und 16. Jh. gewidmet sein. Die Zahl der Publikationen zu den allgemeinen Themenbereiche ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ist entsprechend der Vielfalt des Spektrums an Fachwissen‐ schaften, die sich damit auseinandersetzen, geradezu unüberschaubar. Für eine Synopse zur hier relevanten begrifflichen und inhaltlichen Abgrenzung sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen (cf. 6.1.1) und vorab nur selektiv auf ein paar Grundlagen-Werke. Nach wie vor unverzichtbar und nicht nur wissen‐ schaftsgeschichtlich von Relevanz sind die Darlegungen von Burckhardt (2009, [1860]), dessen Kultur der Renaissance in Italien bis heute immer wieder aufgelegt wird. Wichtige Werke, die ebenfalls dazu beigetragen haben, diesen Untersu‐ chungsbereich, vor allem im Rahmen der Geschichtswissenschaft und Philologie zu konstituieren, liegen mit der zweibändigen Arbeit von Kristeller (1973 / 1975) sowie mit dem Sammelband und der Monographie von Buck (1969, 1987) vor, des Weiteren zählt dazu auch Baron (1966, 1968) und Burke (1998), der ebenfalls einen umfassenden Blick auf diese europäische Epoche wirft. Als Exempel einer ausgewählten neueren Übersicht seien die Aufsatzsammlung von Wyatt (2014) in der Reihe der Cambridge Companions to Culture genannt sowie die Mono‐ graphien von Fubini (2003) und von Baker (2015). Erwähnenswert ist auch das aktuelle zweibändige Monumentalwerk zu Philosophie der Epoche von Lein‐ 24 2. Forschungsstand <?page no="25"?> 13 Zu ergänzen wären noch Arbeiten, die sprachwissenschaftliche und literaturwissen‐ schaftliche Aspekte zusammen behandeln, mit je unterschiedlicher Gewichtung, wie z. B. Marazzini (1993b). 14 Allein auf die Sprachenfrage im 20. Jahrhundert bezieht sich beispielsweise Parlangèli (1979 [1971]). kauf (2017). An spezifischen Lexika seien zum einen die mehrbändige englische Encyclopedia of the Renaissance von Grendler (1999a) genannt, das Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit von Jaumann (2004), der 9. Supplementband (Renaissance-Humanismus) des Neuen Pauly von Landfester (2014a) und schließ‐ lich, eher kompakt, das Lexikon der Renaissance von Münkler / Münkler (2005). In Bezug auf das speziellere aber dennoch bereits recht gut untersuchte Thema der questione della lingua in Italien sind neben älteren Werken von Luz‐ zato (1893), Vivaldi (1894-1898), Furnari (1900), Belardinelli (1904), La‐ bande-Jeanroy (1925) und Hall (1942), Mazzacurati (1965) und vor allem Vitale (1984 [ 1 1960]) als Referenz zu nennen. Neuere monographische Übersichtsar‐ beiten wären beispielsweise Bagola (1991) sowie Marazzini (2013, 2018) und Vi‐ tale (2006) sowie die Sammelbände von Pozzi (1988) und Belardi (1995) und schließlich die Aufsätze von Grayson (1982), Baldelli (1982) und Marazzini (2016). 13 Ebenfalls zu nennen ist zudem die Anthologie mit den wichtigsten Schlüsseltexten von Pozzi (1988) und Scarpa (2012), wobei vor allem die neueren Arbeiten wie die von Marazzini und Scarpa den Begriff der questione sehr weit fassen und bis in die aktuelle Sprachdiskussion ausdehnen. 14 Ausgewählte As‐ pekte der Sprachendiskussion beleuchten zum Beispiel die Arbeiten von Schunck (2003), die den metasprachlichen Diskurs des Sprachwandels diskutiert und hierzu wertvolle Einblicke liefert, sowie Ellena (2011), die insbesondere die Rolle der norditalienischen Varietäten in den Blick nimmt, aber darüberhinaus auch einen wertvollen Leitfaden für diese Epoche mit einem umfangreichen Quelleninventar bietet, oder aber Sabbatino (1995), der speziell die Kontroverse in Neapel beleuchtet. Einen wichtigen Überblick zur Periodisierung der Epoche liefert Koch (1988b), dessen Grundgerüst auch im Vorliegenden als Bezugs‐ rahmen aufgegriffen wird. Als die wichtigsten Forschungsarbeiten für den Kernbereich vorliegender Arbeit, also die Debatte um die Sprachkonstellation der Antike vor dem Hin‐ tergrund der Auseinandersetzung von Latein- und Vulgärhumanismus, seien folgende angeführt: An chronologisch erster Stelle sei Strauss (1938) genannt, der bereits früh den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Ursprung des Konzeptes Vulgärlatein und der humanistischen Auseinandersetzung her‐ stellt und nach wie vor zu konsultieren ist. Ebenfalls wertvolle Hinweise finden sich bei Klein (1957), der zahlreiche Aspekte der Gelehrten-Diskussion um das 25 2. Forschungsstand <?page no="26"?> 15 Hierbei sei auf gängige Monographien zur Sprachgeschichte wie in erster Linie die mehrbändigen Werke von Serianni / Trifone (1993-1994) und Bruni (1989-2003) sowie weiterhin beispielsweise auf Migliorini (2007 [1937, 1960]), Tavoni (1992), Trovato aufkommende volgare in der lateindominierten Literatur auf den Punkt bringt und in seiner Präzision in Bezug auf die sprachhistorischen Zusammenhänge unverzichtbar bleibt. Als Übersichtsstudien mit je unterschiedlichen Schwer‐ punkten in Form von Aufsätzen seien exemplarisch Migliorini (1949), Fubini (1961), Bahner (1983) und Kristeller (1973 / 1975; 1984) genannt sowie Faithfull (1953) zum spezifischen Aspekt der lingua viva. Einige ausgewählte Humanisten des 15. und 16. Jhs. werden in der knappen Zusammenstellung bei Dionisotti (1968) diskutiert, allerdings im Wesentlichen unter dem Aspekt der questione della lingua. Die wichtigsten Protagonisten des 15. Jh. in dieser Debatte werden in der fundierten Darstellung von Tavoni (1984) behandelt, der zahlreiche Einzelfragen behandelt sowie wichtige Zusammenhänge zwischen den Konzepten der Hu‐ manisten herausarbeitet; zudem finden sich dort Auszüge der jeweils relevanten Primärtexte. Auf Tavoni basiert im Wesentlichen auch das Buch von Marchiò (2008), allerdings mit einem leicht veränderten und erweiterten Inventar der an der Debatte beteiligten Humanisten. Auch hier werden Primärtexte in Auszügen präsentiert, die dann im Wesentlichen inhaltlich zusammengefasst und partiell kommentiert werden, allerdings deutlich weniger tief als bei Tavoni. Äußerst wertvoll und kondensiert erweist sich die Monographie von Mazzocco (1993), der ebenfalls die wichtigsten Teilnehmer und den historischen Kontext behan‐ delt, allerdings ohne Textauszüge wie Tavoni und Marchiò, dafür mit reichlich Zitaten und zahlreichen Belegen, die die Zusammenhänge zwischen den huma‐ nistischen Autoren verdeutlichen. Eine kürzere aber dennoch aufs Wesentliche reduzierte Darstellung findet sich in einigen Kapiteln bei Coseriu / Meisterfeld (2003). Hier werden ebenfalls keine vollständigen Primärtexte abgedruckt, son‐ dern es finden sich nur einzelnen Schlüsselzitate, die dann kommentiert und in den sprachhistorischen Zusammenhang gestellt werden. Eine kommentierte Auswahl von Textauszügen allein mit Biondo, Bruni, Poggio und Valla wurde kürzlich auf Französisch von Raffarin (2015) herausgegeben, was eine nützliche Quelle in Bezug auf die Texte darstellt, jedoch als Sekundärliteratur wenig er‐ giebig ist. Eine sehr umfangreiche Einleitung und ausführliche Anmerkungen zu den abgedruckten Primärtexten samt italienischer Übersetzung bieten schließlich aktuell Marcellino / Ammannati (2015), allerdings rein für die Schlüs‐ seltraktate von Bruni und Biondo. Für das 16. Jahrhundert kann außer auf die allgemeinen Darstellungen zur questione della lingua und zur italienischen Sprachgeschichte 15 nur auf Schlemmer (1983a) zurückgegriffen werden, der in 26 2. Forschungsstand <?page no="27"?> (1994), Migliorini / Baldelli (1994 [1966]), Tesi (2001), Michel (2005), Marazzini (1994, 2011 [2004]) oder Reutner / Schwarze (2011) verwiesen. 16 Zur Geschichte und Problematik des Strata-Modells seit der linguistischen Prägung des Begriffs ‚Substrat‘ durch Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907), cf. Schöntag (2013: 281-283), Filipponio / Seidl (2015: 9-10) sowie Schöntag (2020b: 84-95). 17 Tavoni (1992: 61) verweist zwar mit Marazzini (1989) - auch bei Marazzini (1994: 17-19) - noch auf Scipione Maffei (1675-1755) und Ludovico Antonio Muratori (1672-1750), die im 18. Jh. diese Thematik aufgegriffen haben, jedoch kann man dabei nicht von einer Kontinuität der Debatte mit den enstprechenden Einzelaspekten wie in dem hier skizzierten Zeitraum (1435-1601) sprechen. Auch Marazzini (1989: 39), der die Geschichte der Sprachreflexion bis ins 19. Jh. nachzeichnet, spricht aber bezüglich Cit‐ tadini von einer „svolta filologica“. Selbstverständlich werden verschiedene Argumente weitertradiert - so läßt sich eben auch der Begriff ‚Vulgärlatein‘ mit Cittadini als einem Vordenker verknüpfen - dennoch bietet sich aus genannten Gründen an hier eine Zäsur zu sehen. seiner Untersuchung allerdings den Fokus auf das Superstrat hat, 16 sowie partiell auf Marazzini (1989), der das Sprachbewußtsein vom Humanismus bis zur Ro‐ mantik untersucht. Vereinzelte Hinweise finden sich auch in der auf Vorle‐ sungen der 1970er Jahre zurückgehenden und erst kürzlich herausgegebenen Sprachwissenschaftsgeschichte von Coseriu (2020). Neuere Aufsätze, die vor‐ liegende Debatte mitberücksichtigen und das 15. und 16. Jh. behandeln, wären Schöntag (2017b) und Eskhult (2018). Gerade die von italienischen Wissenschaftlern verfassten Arbeiten zu dieser Thematik haben oft eher eine gesamtphilologische Ausrichtung, in dem der hier im Fokus stehende linguistische Aspekt eher beiläufig behandelt wird, d. h. auch, daß Begiffe wie Diglossie oder diastratisch wenn, dann nur beiläufig auftreten und keine durchgehende sozio- oder varietätenlinguistische Verortung der ein‐ zelnen Traktate vorgenommen wird. So verwenden beispielsweise Tavoni (1984: XII , XV ) und Mazzocco (1993: 192, 195, 199) allein den Terminus di‐ glossia, aber keine Begriffe des Diasystems; Marcellino / Ammanati (2015) im‐ merhin neben diglossia (id. 2015: 23) auch diastratico (id. 2015: 25), während bei Marchiò (2008) mit diesen Begriffen gar nicht operiert wird. Letztlich bieten allerdings auch Schlemmer (1983a) oder Coseriu / Meisterfeld (2003), die sehr wohl einzelne Phänomene diasystematisch benennen, keine systematische va‐ rietätenlinguistische Analyse. Die in der Forschung nachgezeichnete Debatte wird zudem meist auf die An‐ fangsjahre bzw. maximal auf das 15. Jh. beschränkt (v. supra), 17 während hier, aus genannten Gründen (cf. Kap. 1.2) explizit der Zeitraum auf das 16. Jh. bzw. bis Anfang des 17. Jh. ausgedehnt wird (1435-1601) und somit auch mehr Hu‐ manisten und ihre Positionen berücksichtigt werden können. 27 2. Forschungsstand <?page no="28"?> Die Spezialliteratur zu den einzelnen Protagonisten der vorliegend nachge‐ zeichneten Debatte sind den entsprechenden Kapiteln zu entnehmen, ebenso die zahlreichen Einzelstudien zu diversen Teilaspekten des abgehandelten Themas. 28 2. Forschungsstand <?page no="29"?> 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive Wie bereits in der Einleitung angesprochen (cf. Kap. 1.3 Untersuchungsebenen) besteht die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit darin, eine Analyse auf zwei Ebenen vorzunehmen, um das Ziel, nämlich die Erfassung der Vorstel‐ lungen über das antike Latein in der Frühen Neuzeit und den Wandel dieses Verständnisses adäquat erschließen zu können (cf. Kap. 1.4 Untersuchungsme‐ thode- und Untersuchungsziel). Auf der ersten Analyseebene soll dabei versucht werden, die frühneuzeitli‐ chen Texte rein unter dem Blickwinkel moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Erkenntnisse und Begrifflichkeiten zu erfassen, um sie dann auf der zweiten Untersuchungsebene wieder zu rekontextualisieren, d. h. sie adäquat im Kontext der Zeit zu verorten. Durch die Gegenüberstellung von mo‐ derner, rein varietäten- und soziolinguistischer und traditioneller, gesamtphi‐ lologischer, historischer Perspektivierung sollen zum einen methodisch schärfer als bisher die beiden Herangehensweise voneinander getrennt werden und zum anderen sollen durch eben diese Trennung auf der Analyseebene die Ansätze moderner Forschung präziser von den zeitgeschichtlichen Implikationen abge‐ hoben werden. Im Folgenden sei nun deshalb zunächst ein Abriß zu den theoretischen Grundlagen gegeben, in dem Modelle und Begrifflichkeiten im Sinne eines wis‐ senschaftlichen Instrumentariums reflektiert werden sollen. 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle 3.1.1 Varietätenlinguistische Perspektive Die im vorliegenden Fall gestellte Aufgabe an ein begriffliches Instrumentarium ist die Fähigkeit zu einer möglichst präzisen Erfassung von bestimmten histo‐ rischen Phänomenen und Konstellationen. Vorrangig geht es um die Beschreibung der Architektur des Lateins in der Antike sowie um die Situationen seiner Verwendung, auch im Verhältnis zu anderen Sprachen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, Phasen der Ent‐ <?page no="30"?> 18 Zu den Vorläufern cf. vor allem Gabelentz ( 1 1891) und seine Unterteilung Rede, Sprache, Sprachvermögen (cf. Gabelentz 1972: 3). Zur Abhängigkeit Saussures von Gabelentz, der diesen nie erwähnt, aber nachweislich in seiner Bibliothek hatte, sowie zu einer ge‐ meinsamen Grundströmung cf. Beuerle (2010: 48-49) sowie Coseriu (1972a: 32-34). 19 Zu einem komplexen Deutungsversuch der Relation einiger Begriffe bei Saussure und Coseriu mit Rückgriff auf Coserius Sprachphilosophie cf. Willems (1994: 286-287). wicklung des Lateins bis in die Frühe Neuzeit darzustellen sowie den situati‐ onsabhängigen Gebrauch von Latein und Italienisch in derselben Epoche. Dabei sollen sowohl die nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben ermittelbaren sprachlichen Phänomene und Situationen der Sprachverwendung beschrieben werden können, als auch deren Wiedergabe aus Sicht der antiken und humani‐ stischen Sprachreflexion. Zentrale Aspekte sind demnach die Vielfalt und Einheit von Sprachen, situ‐ ationsbedingter Gebrauch von Sprachen sowie Sprachwandel. Die beiden hier in Betracht zu ziehenden linguistischen Teildisziplinen Vari‐ etätenlinguistik und Soziolinguistik liefern jedoch Modelle, die in ihrer Mehr‐ heit, nicht nur, aber hauptsächlich, für synchron gegenwartsbezogene Phäno‐ mene konzipiert sind; nichtsdestoweniger sind sie hier primäre Referenz und sollen hier zunächst weitgehend unabhängig von ihrer Adäquatheit in Bezug auf die anvisierte historische Konstellation untersucht bzw. kritisch hinterfragt werden. Aus der hier im Vordergrund stehenden romanistischen Perspektive ist das prominenteste Modell zur Beschreibung der Heterogenität einer Sprache das von Coseriu entwickelte System der verschiedenen Dimensionen von Sprach‐ variation, das sogenannte Diasystem. Zur adäquaten Erfassung und Beschreibung der Coseriu’schen Theorie ge‐ hört zunächst seine grundlegende Unterteilung des Sprachlichen an sich. So differenziert er in Bezug auf die Tätigkeit des Sprechens drei Ebenen, nämlich die universelle Ebene, die historische Ebene und die individuelle (oder aktuelle) Ebene. Was prima facie wie eine Umbenennung der Saussure’schen Konzepte und Begrifflichkeiten langage, langue und parole aussieht (Saussure 1986: 23-35), birgt trotz aller unbestreitbarer Referenz an die prägende theoretische Diffe‐ renzierung des Begründers des Strukturalismus einige Spezifika, die eine direkte In-Bezug-Setzung dieser Begriffspaare nicht zulassen. 18 Zunächst einmal liegt der Trichotomie Coserius eine andere Perspektive zugrunde, insofern er durch seine Benennung die jeweilige Zuordnung und die Art der Abstraktion noch deutlicher in den Vordergrund stellt. Zudem weist Coseriu auf bestimmte Cha‐ rakteristika hin, die der jeweiligen Ebene zugehören, die bei Saussure so nicht in gleicher Weise explizit werden. 19 Dazu gehört u. a. die Tatsache, daß der uni‐ 30 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="31"?> 20 Zum Verhältnis der Begriffe bei Saussure und Coseriu cf. auch Gipper (1978: 63-67). 21 Hier bezieht sich Coseriu auf sprachphilosophische Vorläufer (Aristoteles, Hegel), vor allem auf Humboldt, von dem er die aristotelischen Begriffe übernimmt: „Die S P R A C H E , in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke V O R Ü B E R G E H E N D E S . Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvoll‐ ständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein“ (Humboldt 1968: LVII). 22 Eine andere in der Folge auch kontroverse Unterteilung, geht auf Coseriu zurück, näm‐ lich seine Differenzierung der diatopischen Ebene der Sprache in primäre, sekundäre und tertiäre Dialekte (cf. Coseriu 1988: 26-27). Zu einer Kritik an dieser Differenzierung cf. Krefeld (2011a: 138-140) oder Sinner (2014: 68). versellen Ebene auch bestimmte sprachliche Phänomene zugeordnet werden können, Sprache also nicht nur eine unbestimmte Abstraktion oder eine reine faculté de langage (Saussure 1986: 25) ist, 20 oder, daß auf der Ebene der histori‐ schen Einzelsprache bestimmte Diskurstraditionen wirksam werden. Hinzu kommt, daß Coseriu dieses Konzept einerseits mit den von Humboldt abgelei‐ teten Merkmalen der menschlichen Sprache, nämlich ‚Tätigkeit‘ (energeia), ‚Wissen‘ (dynamos) und ‚Produkt‘ (ergon) korreliert (Coseriu 1958) 21 und ande‐ rerseits mit seiner Trichotomie ,System-Norm-Rede‘ (Coseriu 1952), wodurch die Saussure’sche Opposition langue vs. parole ergänzt werden soll. Auf der Ebene der historischen Einzelsprache, die hier von besonderem In‐ teresse ist, unterscheidet er aufgrund der Tatsache, daß diese für ihn keine Ein‐ heit darstellt, wiederum drei verschiedene Ebenen mit bestimmten Charakte‐ ristika: - Unterschiede der geographischen Ausdehnung einer Sprache, d. h. D I A T O P I S C H E Un‐ terschiede, die Lokaldialekte und Regionalsprachen konstituieren. […] 22 - Unterschiede zwischen den sozial-kulturellen Schichten einer Sprache, d. h. D I A S ‐ T R A T I S C H E Unterschiede, die sprachliche Ebenen wie Hochsprache, gehobene Um‐ gangssprache, Volkssprache charakterisieren. […] - Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachstilen, d. h. D I A P H A S I S C H E Unterschiede, die synphasische Ebenen wie gebräuchliche Umgangssprache, feierliche Sprache, fa‐ miliäre Sprache, Sprache der Männer, Sprache der Frauen, poetische Sprache, Prosa‐ sprache usw. voneinander unterscheiden. (Coseriu 1973: 38-39) Eine wichtige Ergänzung dazu sind seine darauffolgenden Erläuterungen, die deutlich machen, daß er sich die einzelnen Ebenen als sich überlagernde vor‐ stellt, so daß verschiedene Merkmale auch in Kombination auftreten können, wie er an dem Verb se dévorer erläutert, welches sowohl als ‚südfranzösisch‘ (diatopische Ebene) als auch als ‚familiär‘ (diaphasische Ebene) charakterisiert 31 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="32"?> 23 Die Begriffe ‚diatopisch‘ und ‚diastratisch‘ gehen auf Flydal (1952: 245, 256) zurück, der Begriff ‚Diasystem‘ auf Weinreich (1954, 389-390), ‚diaphasisch‘ ist von Coseriu (1958, 1988: 50) selbst. Zur Entstehungsgeschichte der einzelnen dia-Begriffe cf. Schöntag (2014: 512-519) und Sinner (2014: 61-73). 24 Oesterreicher (1995: 4) setzt die beiden Begriffe ‚Architektur‘ und ‚Diasystem‘ als weit‐ gehend identisch an: „Damit ist auch verständlich, warum die Architektur einer Sprache auch Diasystematik genannt wird und warum alle genannten Unterschiede des Varie‐ tätenraums auch als diasystematisch bezeichnet werden.“ werden kann. Dies bringt ihm zum Ergebnis, daß „eine historische Sprache nie ein einziges Sprachsystem“ sein kann, „sondern immer ein D IA S Y S T E M , eine Summe verschiedener Sprachsysteme, die miteinander koexistieren und sich gegenseitig beeinflussen und überlagern“ (Coseriu 1973: 40). 23 Eine weitere wichtige Unterscheidung, die er in diesem Kontext trifft, ist die zwischen Architektur und Struktur einer Sprache, wobei er unter Architektur die „inneren Unterschiede“ versteht, also nicht die Oppositionen im Saussure’schen Sinne, sondern die Verschiedenheiten, die sich zwischen den eben ausgeführten Ebenen manifestieren, während die Struktur sich gerade durch die Oppositi‐ onen, d. h. durch die Unterschiede auf einer Systemebene, also innerhalb einer funktionellen Sprache, konstituiert (Coseriu 1970: 32-34; 1973: 40). 24 Die in der Romanistik prominenteste Weiterentwicklung dieser diasystema‐ tischen Ebenengliederung der Sprache wurde nach einigen Vorarbeiten (z. B. Koch / Oesterreicher 1985; Koch 1985, 1986; Oesterreicher 1988) in einer Unter‐ suchung zum gesprochenen Französischen, Italienischen und Spanischen von Koch / Oesterreicher ( 1 1990) präsentiert. Im Zuge weiterer Publikationen (z. B. Koch / Oesterreicher 1994, 2001; Koch 1997, 1999; Oesterreicher 1993, 1995, 1997) und einer überarbeiteten spanischen Übersetzung (1997) sowie einer Neu‐ auflage der ersten Monographie (²2011) ist es inzwischen durchaus usus, vom Modell ,Koch / Oesterreicher‘ zu sprechen, wenn man eine bestimmte Betrach‐ tungsweise in der romanistischen Varietätenlinguistik meint. Dieses im Laufe der Zeit herausgearbeitete Modell ist durch viele moderne sprachwissenschaftliche Theorien und Konzepte inspiriert, dennoch kann man konstatieren, daß es bestimmte Grundpfeiler theoretischer Vorgänger-Modelle gibt, auf denen es ruht und die im Folgenden skizziert werden sollen. Eine der für Koch / Oesterreicher fundamentalen Differenzierungen im Hin‐ blick auf ihre Untersuchung zur gesprochenen Sprache ist die auf Söll ( 1 1974) zurückgehende Opposition von Konzeption und Medium. Ausgehend von der einfachen Feststellung, daß man Umgangssprache auch schreiben bzw. lesen kann und umgekehrt elaborierte Texte auch vorgelesen werden können und damit hörbar werden, trifft er zunächst die mediale Unterscheidung phonisch vs. 32 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="33"?> 25 Söll (1985: 17, 19) rekurriert hier unzweifelhaft auf das Primat der Mündlichkeit bei Saussure (1986: 45). 26 Beispielhaft dafür sei nur auf das bei Söll (1985: 35) diskutierte Modell von Stourdzé (1969: 21) verwiesen, in dem die Interaktion von Stilregister und Mündlichkeit / Schrift‐ lichkeit dargestellt wird. 27 Die Opposition von frz. faut pas le dire vs. il ne faut pas le dire ist qualitativ wohl nicht die gleiche wie zwischen it. lui non ce l’aveva vs. egli non l’aveva, u. a. weil die Norm im Französischen (insbes. im geschriebenen Medium) erstere Äußerung völlig unmöglich machen würde, im Italienischen hingegen das erste Beispiel in der Schriftlichkeit höchstens leicht markiert wäre. graphisch mit dem Hinweis, daß erstere Kommunikationsform die primäre sei, 25 um dann noch eine konzeptionelle zwischen schriftlich und mündlich vorzu‐ nehmen (cf. Söll 1985: 19-20). Söll, der seine theoretischen Überlegungen zwar prinzipiell allgemein ver‐ standen haben will, aber diese rein anhand des Französischen konzipiert, stellt im Folgenden die sich überlagernden Differenzierungen zwischen code phonique vs. code graphique und code / langue parlé vs. code / langue écrit in einer Matrix dar. Bedingt durch den seit der Normierungsphase des 16./ 17. Jh. großen Norm‐ druck im Französischen und die dadurch historisch gewachsene große Diskre‐ panz zwischen konzeptionell gesprochener und konzeptionell geschriebener Sprache, lassen sich die Unterschiede im Modell besonders gut illustrieren. Koch / Oesterreicher (2011: 3) übernehmen von Söll - unter Auslassung zahl‐ reicher weiterer interessanter dort diskutierter Ansätze 26 - genau diesem Aspekt und betonen dabei vor allem die absolute Dichotomie der medialen Opposition im Sinne einer Entweder / Oder-Relation und das Kontinuum im Bereich der konzeptionellen Differenzierung von ‚geschrieben‘ vs. ‚gesprochen‘. In der von Koch / Oesterreicher übernommenen Matrix von Söll, die sie je um ein italieni‐ sches und spanisches Beispiel ergänzen wird ein grundsätzliches Problem of‐ fenbar, nämlich, daß einerseits die Relation von konzeptioneller Mündlich‐ keit / Schriftlichkeit je Sprache eine andere ist und andererseits die mediale Repräsentation eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. 27 So sollte nach Hun‐ nius (2012: 38-41) dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, grundsätzlich mehr Gewicht beigemessen werden, da die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist. Gerade in Bezug auf die neuere Kommunikation und ihre Formen (v. infra E-Mails, Chats, Online-Foren etc.) wird dies auch von Krefeld (2015a) kritisch gesehen und von Massicot (2015: 112, 149-150, 190-191) empirisch gestützt, die ebenfalls die größere Abhängigkeit vom Medium hervorhebt. Ein wesentlicher Verdienst von Koch / Oesterreicher ist es nun, mithilfe der Ergebnisse der bisherigen Forschung zu den je unterschiedlichen Implikationen 33 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="34"?> 28 Cf. dazu auch die Forschungsergebnisse der Gesprächsanalyse (cf. z. B. Henne-Rehbock 1982) und den Überblick zum Forschungsprojekt Mündlichkeit / Schriftlichkeit in Raible (1998a). 29 Cf. dazu auch die Kritik von Ágel / Hennig (2010: 5), die zum einen darauf verweisen, daß es „keine allgemeingültige Nähe-Distanz-Modellierung geben kann“, sondern sie entsprechend der sprachsoziologischen und historischen Gegebenheiten zu adaptieren ist, und zum anderen eine exakte Verortung der Parameterwerte nicht begründbar sei. Zu einer weiteren kritischen Auseinandersetzung mit dem Nähe-Distanz-Modell cf. Selig (2017, 2018) und Gruber / Grübl / Scharinger (2021). von gesprochener und geschriebener Sprache sowie, damit zusammenhängend, bestimmten Kommunikationsmustern bzw. Versprachlichungsstrategien, 28 ein Modell entwickelt zu haben, welches das von Söll postulierte konzeptionelle Kontinuum in Bezug auf spezifische Faktoren näher erfaßbar machen soll. Um den Grad konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit einer Äußerung zu bestimmen, schlagen sie zehn Parameter vor, die die Kommunikationsbedin‐ gungen einer konkreten Äußerungssituation beschreiben sollen: Grad der Öf‐ fentlichkeit, Grad der Vertrautheit (der Kommunikationspartner), Grad der emotionalen Beteiligung, Grad der Situations- und Handlungseinbindung, Re‐ ferenzbezug (Bestimmung der Sprecher-origo), Grad der physischen Nähe (der Kommunikationspartner), Grad der Kooperation (Mitwirkungsmöglichkeiten), Grad der Dialogizität, Grad der Spontaneität, Grad der Themenfixierung (Koch / Oesterreicher 2011: 7). Mit Hilfe dieser Parameter ist nun für sie jede Äu‐ ßerung innerhalb des von ihnen so genannten Kontinuums zwischen kommu‐ nikativer Nähe und kommunikativer Distanz exakt zu verorten. 29 Nichtsdestoweniger wurden mit dieser Zusammenstellung wichtige Anhalts‐ punkte zur Einordnung von Gesprächssituationen geliefert, die dann die beiden Autoren in Korrelation zu bestimmten Versprachlichungsstrategien setzen, dar‐ gestellt in der inzwischen bekannten Graphik eines Parallelogramms, in der die mediale Differenzierung der Sprache (graphisch / phonisch) und das konzepti‐ onellen Nähe-Distanz-Kontinuum verknüpft werden. Der Grad von Nähe bzw. Distanz wird dabei durch die genannten Kommunikationsbedingungen deter‐ miniert und äußert sich in Form von bestimmten Sprachphänomenen und Ver‐ sprachlichungsstrategien in einer konkreten Äußerung in einer bestimmten Sprache (cf. Nähesprechen vs. Distanzsprechen). Im Zuge dieser Korrelierung wird auch deutlich, daß es zwischen dem graphischen Code und der Distanz‐ sprache sowie zwischen dem phonische Code und der Nähesprache eine be‐ stimmte Affinität gibt (Koch / Oesterreicher 2011: 12). Hierbei sei noch darauf verwiesen, daß die Parameter der Versprachlichungsstrategien - aufgeführt sind nur Art der Kontextpräferenz, hoher / niedriger Planungsgrad, Vorläufig‐ keit / Endgültigkeit, Aggregation / Integration - noch kürzer als die Kommuni‐ 34 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="35"?> 30 Zu den Grenzen des Koch / Oesterreicher-Modells bei modernen Kommunikations‐ formen wie chat, e-mail, sms, instant messaging etc. cf. Dürscheid (2003), Kailuweit (2009). Zu der heterogenen, schwer fassbaren Textsorte ,Forum-Kommentar‘ im In‐ ternet cf. Massicot (2015). Aus der Analyse letzterer läßt sich schlußfolgern, daß die z. B. im Modell bei Berruto (2005: 156) pauschal als CMC (computer mediated communica‐ tion) apostrophierten Kommunikationsformen der digitalen Welt keinesfalls eine ho‐ mogene Gesamtkategorie bilden, sondern je einer spezifischen Untersuchung bedürfen. 31 Nicht ganz schlüssig scheint bei Koch / Oesterreicher (2011) jedoch, wie exakt (an wel‐ cher Stelle) sie die Diskurstraditionen in ihrem Nähe-Distanz-Modell verortet sehen wollen bzw. dann weitergehend im Diasystem. kationsbedingungen abgehandelt werden (weitere Erläuterungen u. Parameter in Koch / Oesterreicher 1985: 21-23), obwohl angesichts der dort durchgeführten Anwendung auf die drei romanischen Sprachen eigentlich das Gegenteil der Fall sein müßte. 30 Indem Koch / Oesterreicher (2011: 14) noch auf den Begriff ‚Diskurstradition‘ rekurrieren und diesen ebenfalls zu einem wichtigen Pfeiler ihres Gesamtmo‐ dells machen, vervollständigen sie zum einen das Erklärungsmuster, wieso Mündlichkeit anderen Regeln unterworfen ist als Schriftlichkeit, und können zum anderen gleichzeitig argumentieren, inwiefern jedwede Äußerung be‐ stimmten Traditionen und Normen unterworfen ist. 31 Das Konzept der Diskurstradition geht prinzipiell auf Coseriu (1980) zurück, doch wurde es auch durch Arbeiten von Schlieben-Lange (1983) und anderen maßgeblich mitgeprägt, bis schließlich Koch (1988) den eigentlichen Begriff ‚Diskurstradition‘ einführte und näher bestimmte. Im Weiteren entstanden dann prägende Arbeiten von Koch (1997), Oesterreicher (1997) sowie Aschen‐ berg / Wilhelm (2003), Wilhelm (2001) und Kabatek (2011) zu diesem wichtigen Konzept, welches auch in vorliegender Arbeit eine tragende Rolle einnehmen wird. Mit ‚Diskurstradition‘ wird ein wichtiger Aspekt des Coseriu’schen Diasys‐ tems charakterisiert, insofern eine historische Einzelsprache von bestimmten Traditionen des Sprechens bzw. Schreibens geprägt ist. Im Zuge seiner Textlin‐ guistik exemplifiziert Coseriu, wie die Produktion von (schriftlichen) Äuße‐ rungen nicht nur der Norm einer Sprache unterliegt, sondern auch gewissen historisch gewachsenen Traditionen der Versprachlichung: Einen Text aufgrund der Kenntnis einer besonderen Texttradition („Sonett“, „Roman“) und aufgrund einer einmaligen Intuition als Gefüge von individuellen Redeakten pro‐ duzieren. (Coseriu 1994: 46) Im Hinblick auf die Frage nach der Angemessenheit einer Äußerung bzw. eines Diskurses nimmt Koch die Coseriu’sche Frage nach einer spezifischen Norm für 35 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="36"?> einen Diskurs auf und beantwortet diese damit, daß hierbei gewisse Regeln wirksam werden, die zusätzlich zur allgemeinen Sprachnorm einer bestimmten Einzelsprache funktionieren. Doch orientiert sich die Angemessenheit nicht nur an den idiosynkratischen Para‐ metern des je individuellen Diskurses, sondern auch an den Traditionen, in denen er steht. Dies sind einerseits natürlich die Sprachnormen, und andererseits aber - ge‐ wissermaßen querliegend dazu - bestimmte Diskurstraditionen, die offensichtlich als Diskursnormen intersubjektiv gültig sind und den jeweiligen Sinn eines Diskurses mitkonstruieren: Textsorten, Gattungen, Stile etc. (Koch 1988: 341-342) Im Weiteren verweist Koch (1988: 342) auf bestimmte Diskursregeln, die zwar auf Sprachregeln basieren, aber nicht unbedingt einzelsprachlich gebunden sind; sie sind konventionell und historisch gewachsen und damit konstitutiv für eine bestimmte Art des Diskurses. Zu ergänzen ist dazu noch, daß Diskurstraditionen mehr sind als Textsorten, literarische Gattungen oder Stile, denn Diskurstraditionen sind nicht nur auf die Schriftlichkeit beschränkt, im Gegenteil, das gesamte Spektrum menschlicher Äußerungen, im Sinne eines Textes (in weitester Auslegung) bzw. Diskurses ist durch bestimmte historisch gewachsene Traditionen strukturiert. Das schließ‐ lich von Wilhelm (2001) synthetisierte Verständnis von Diskurstradition ist zentral für das von Koch / Oesterreicher entworfene Gesamt-Modell, denn ein‐ zelsprachliche Phänomene sind prinzipiell immer auch im Kontext ihrer dis‐ kurstraditionellen Verankerung zu untersuchen, damit sie varietätenlinguis‐ tisch zu verorten sind. Jeder Text / Diskurs steht in einer bestimmten Diskurstradition, er befolgt die Regeln einer bestimmten Textgattung. So wie der Sprecher für seinen Äußerungsakt eine bestimmte Einzelsprache oder ein einzelsprachliches Register auswählt […], so muß er sich auch für eine bestimmte Diskurstradition […] entscheiden. So wie es keine sprachliche Äußerung ‚außerhalb‘ einer historischen Einzelsprache geben kann […], so kann es auch kein Sprechen ‚außerhalb‘ einer bereits etablierten Diskurstradition geben: Unser Sprechen bedient sich notwendig der Form des Grußes, der Gedicht‐ sammlung, des Telephongesprächs, des Briefes usw. Jede Rede ist einzelsprachlich, und sie ist gattungshaft, diskurstraditionell geprägt (Wilhelm 2001: 467). Im Rahmen ihrer theoretischen Überlegungen, die letztlich darauf abzielen, sprachliche Variation und Varietäten adäquat beschreiben zu können, insbe‐ sondere im Bereich der Mündlichkeit, versuchen nun Koch / Oesterreicher aus den bisher beschriebenen Grundpfeiler - d. h. Konzeption / Medium (Söll), Dia‐ system (Coseriu), Diskurstraditionen (Koch et al.), Nähe / Distanz (Koch / Oes‐ 36 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="37"?> 32 Coseriu (1988: 50) drückt die Möglichkeit der „Umfunktionierung“ einer Ebene folgen‐ dermaßen aus: „[…] [D]as Verhältnis zwischen Dialekt, Sprachniveau und Sprachstil [ist] ein orientiertes […]: Dialekt → Sprachniveau → Sprachstil. D. h. ein Dialekt kann evtl. als Sprachniveau, und ein Sprachniveau als Sprachstil funktionieren, nicht aber umgekehrt. So kann z. B. eine regionale Form der historischen Sprache, ein Dialekt, in einer Gegend zugleich als ‚volkstümliches‘ Niveau funktionieren (gegenüber z. B. der Gemeinsprache der übrigen Niveaus), und ein in diastratischer Hinsicht volkstümliches Sprachniveau kann zugleich in diaphasischer Hinsicht z. B. als ‚familiärer Stil‘ funkti‐ onieren.“ 33 Dies ist so zu verstehen, daß z. B. ein diatopisch markierter Ausdruck sekundär auch als diastratisch und dann evtl. auch als diaphasischer funktionieren bzw. in diese Ebenen einrücken kann, jedoch nicht umgekehrt, also ein diaphasischer nicht als diastratischer oder diatopischer interpretierbar ist (cf. auch Oesterreicher 1995: 4). Zur Problematik der Integration und Verschiebung von Entlehnungen innerhalb des Varietätenraumes cf. Schöntag (2009: 131) und Massicot (2022: 444-449). terreicher) - eine Synthese, indem sie die Parameter ,Mündlichkeit / Schriftlich‐ keit‘ und Nähe / Distanz in das Coseriu’sche Diasystem integrieren und dabei eine vierte Dimension erschaffen (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 16). In ihrem System des Varietätenraums gibt es - ganz analog zu Coseriu - die Dimensionen diatopisch, diastratisch, diaphasisch, die als markiert apostro‐ phiert werden und die Dimension der nicht-markierten Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. Diese neue Ebene ,gesprochen / geschrieben‘ (im konzeption‐ ellen Sinn) verfügt nun über die Pole ‚Nähe‘ vs. ‚Distanz‘ und ist in sich wie‐ derum in zwei Ebenen gegliedert, wobei die erste innerhalb des Nähe-Dis‐ tanz-Kontinuums auf den universalen Aspekt rekurriert und die zweite auf spezifisch einzelsprachliche Phänomene Bezug nimmt. Die Strukturierung der einzelnen Ebenen des Varietätenraums ergibt sich aus dem von Coseriu ent‐ lehnten Konzept der Varietätenkette, 32 die in der Interpretation von Koch / Oes‐ terreicher (2011: 16) besagt, daß bestimmte sprachliche Phänomene im Zuge einer Veränderung ihrer Funktion innerhalb einer Sprache prinzipiell entlang der Dimensionen diatopisch → diastratisch → diaphasisch → unmarkierte Nähesprache / Distanzsprache aufrücken können, und zwar unidirektional al‐ lein in dieser Abfolge (und ggf. auf einer „Teilstrecke“ davon). 33 Das unbestreitbare Verdienst des in zahlreichen Publikationen immer wieder mit neuen Nuancen bedachten Modells von Koch / Oesterreicher liegt sicherlich darin, wichtige Aspekte und Bedingungen im komplexen Gefüge von mündli‐ cher und schriftlicher Kommunikation sichtbar und faßbarer gemacht zu haben. Dazu gehört vor allem die konsequente Weiterentwicklung der Söll’schen Di‐ chotomie von Medium vs. Konzeption und die Etablierung des Nähe-Dis‐ tanz-Kontinuums mit den sie konstituierenden Parametern sowie die Entwick‐ lung des Konzeptes der Diskurstraditionen. Obwohl prinzipiell zunächst zur 37 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="38"?> 34 Cf. dazu beispielsweise auch die Anwendung auf ältere Sprachstufen in Koch (1997). 35 Zur Bedeutung von medialem (und konzeptionellem) Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei der Herausbildung der romanischen Schriftsprachen cf. Wun‐ derli (1965) oder Raible (1998b). 36 Cf. z. B. auch Gadet (2007) in Frankreich oder López-Serena (2007) in Spanien. Zur Re‐ zeption in der Germanistik cf. Feilke / Hennig (2016) und die Rezension von Krefeld (2017), der sowohl die Problematik der Rezeptionsgeschichte darstellt als auch nochmal auf die einzelnen Angriffspunkte des Modells auflistet. 37 Albrecht (1990: 119) sieht die drei „klassischen“ Parameter, um die Variabilität einer Sprache zu erfassen, als völlig ausreichend an, die neu postulierte Dimension (gespro‐ chen vs. geschrieben) ließe sich entweder dort einordnen oder sei gar kein Teil der Sprachvariation, und auch Thun (1988: XIII) deutet an, daß die Diaphasik die angespro‐ chenen Merkmale auffangen könnte (ähnlich Kabatek 2000: 315); für Kiesler (1995: 399-400) wiederum ergibt sich aus seiner Analyse des Französischen, daß es keine neutralen Register oder gar neutrale Varietät geben kann, sondern nur neutrale sprach‐ liche Elemente bzw. neutrale Sprachregeln. 38 Koch / Oesterreicher (2011: 17) sind sich dieses Einwandes bewußt und argumentieren nichtsdestoweniger pro domo im Sinne ihres Modells (cf. z. B. auch Koch / Oesterreicher 1994: 595; Koch 1999: 158-161). Erfassung des aktuellen synchronen Varietätenraums einer Sprache konzipiert, eignet sich das Modell auch zur Erfassung von historischen Sprachsituati‐ onen. 34 Dabei kommt neben den Diskurstraditionen auch den im Rahmen ihrer Theorie entwickelten Begrifflichkeiten zur Kennzeichnung der Transferpro‐ zesse eine wichtige Bedeutung zu. So wird strikt zwischen der medialen Ver‐ schriftung (phonisch → graphisch) bzw. Verlautlichung (graphisch → phonisch) und der konzeptionellen Verschriftlichung (gesprochen → geschrieben) bzw. Vermündlichung (geschrieben → gesprochen) unterschieden, wobei der kon‐ zeptionelle Bereich als Kontinuum zu verstehen ist (cf. Oesterreicher 1993: 271-272; Koch / Oesterreicher 1993: 587; 2001: 587). 35 Das Koch / Oesterreicher-Modell mit all den hier geschilderten Facetten ist im weiteren einerseits auf große Akzeptanz gestoßen und wurde immer wieder rezipiert, 36 andererseits gab es im Zuge dieser vertieften Auseinandersetzung mit dieser Theorie auch zahlreiche kritische Hinweise auf inhärente Probleme. Kabatek (2003: 203-204), Schöntag (2014: 512-519) und Krefeld (2015a: 265-268) fassen einige der wichtigsten Kritikpunkte zusammen, wobei der Hauptaspekt die Streitfrage ist, ob es zwingend notwendig ist, den unmarkierten Nähe / Dis‐ tanz-Bereich als eine vierte Dimension zu eröffnen. 37 Wie bei Kabatek zurecht vermerkt, gerät dabei die Bedeutung des medialen Aspektes, z. B. bei der He‐ rausbildung einer Distanzsprache in einer Schriftkultur, ins Hintertreffen und vor allem ist es ganz prinzipiell kontrovers, ob diese - diamesischen Unter‐ schiede, wie es Mioni (1983: 508-509) ohne die Differenzierung von Konzeption und Medium nennt - nicht Teil der Diaphasik sind. 38 In der Kritik stehen auch 38 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="39"?> 39 Zur Unidirektionalität cf. Krefeld (2004: 148), der darauf verweist, daß dies nur in Bezug auf synchrone Sprachsituationen anwendbar sei und zudem eine statische Sprachge‐ sellschaft voraussetzt. Auf den synchronen Aspekt weist Oesterreicher (1995: 4-5) schließlich - wohl aufgrund von diversen Einwänden - explizit hin: „Die Begriffe ‚Dy‐ namik‘ und ‚Einrücken‘ dürfen in diesem Zusammenhang allerdings nicht als diachro‐ nische Prozesse mißverstanden werden: bei der Varietätenkette handelt es sich um ein rein synchronisch zu fassendes Phänomen, also um ein das pure Funktionieren unserer Sprachen kennzeichnendes Faktum.“ Als Beispiele aus dem Italienischen nennen Koch / Oesterreicher (2011: 210) u. a. bestimmte morsphosyntaktischen Phänomene, die vom italiano popolare in die unmarkierte Mündlichkeit des Italienischen aufgerückt sind, wie z. B. noialtri für noi und voialtri für voi sowie c’è ohne Numeruskongruenz (z. B. c’era dei contadini); des weiteren Ausdrücke, die aus einem gergo (niedrige Diastratik) über die niedrig markierte Diaphasik in die allgemeine Position ‚gesprochen‘ wandern, wie z. B. mate für matematica aus dem gergo studentesco. Zur Kritik an dem Modell der Varietätenkette cf. z. B. Schmitt (2003: 403-404) und Krefeld (2004: 148). 40 Davon abhängig sind dann auch weitere Kategorisierung wie Substandard oder Super‐ standard und die Frage nach der Markierung aller davon abweichenden Varietäten und der sie konstituierenden sprachlichen Varianten. die Überschneidung von Diaphasik und Diastatik, die Varietätenkette bzw. ihre Unidirektionalität sowie die Vermischung von universalen und einzelsprachli‐ chen Kriterien. 39 Merkwürdig allein in der Graphik zum Varietätenraum erscheint m. E. aber auch, daß hier eine wohl eher nicht beabsichtigte Affinität von ‚Nähe‘ und ‚niedrig‘ suggeriert wird, denn im Zuge der Darstellung des Kontinuums inner‐ halb der einzelnen Ebenen (diatopisch stark / schwach, diastratisch niedrig / hoch, diaphasisch niedrig / hoch) wird explizit die linke Seite des ge‐ samten Spektrums als ‚gesprochene Sprache‘ im weiteren Sinne gefaßt (cf. Koch / Oesterreicher 2011: 17). Unzweifelhaft ist es jedoch möglich ein stilistisch als eher ‚hoch‘ einzuordnendes Gespräch / Rede noch dem Bereich der konzep‐ tionellen Mündlichkeit und damit der Nähesprache zuzurechnen - man kann sich durchaus elaboriert ausdrücken (z. B. im Rahmen eines Seminars) und trotzdem sind Merkmale wie Hesitationen, Anakoluthe etc. zu registrieren. Eine damit verknüpfte Fragestellung ist die der Verankerung der Standard- oder Normvarietät einer Sprache in diesem Modell oder neutraler formuliert die Referenzvarietät. 40 Wie Dufter (2018: 67-69) zu Recht festestellt ist es nicht un‐ problematisch, die üblicherweise als diatopisch ,neutral / unmarkiert‘, diastra‐ tisch ,höhere Gesellschaftsschicht‘, diaphasisch ‚höheres Register‘ verstandene variété zéro (ibid. 2018: 67) eindeutig zu verorten, zumal wenn es sich um nicht-standardisierte Sprachen - das sind die meisten der Welt - oder pluri‐ zentrische Sprachen handelt. 39 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="40"?> 41 Auch im Französischen ist das français populaire ja ursprünglich eine diastratische Va‐ rietät, die im Laufe der Geschichte in die Diaphasik aufgerückt ist. Cf. dazu Müller (1975: 194), der die Genese des français populaire mit dem Dritten Stand (unteres Bür‐ gertum, Unterschicht) im 17. Jh. in Zusammenhang bringt, als die langue du peuple als Opposition zur langue de la Cour begriffen wurde. Weitere Probleme des Modells ergeben sich vor allem im Bereich der kon‐ kreten Anwendung wie am empirischen Teil von Koch / Oesterreicher (2011) selbst deutlich wird. So beginnt das Kapitel zur Italienischen Nähesprache im weiteren Sinne, in welchem diastratische und diaphasische Merkmale zusammen untersucht werden, mit einer Apologetik: Dass wir diese Mittelzone im folgenden Abschnitt zusammenfassen, heißt nicht, dass wir den bedeutsamen Unterschied zwischen der diastratischen und der diaphasischen Varietätendimension verwischen wollen. (Koch / Oesterreicher 2011: 208) Dies mag theoretisch glaubhaft und begründet sein, aber die weiteren Ausfüh‐ rungen zu den einzelnen Stilregistern (Diaphasik) und den einzelnen schich‐ tengebundenen Varietäten (Diastratik) zeigen, genauso wie die angesprochenen einzelnen Merkmale, daß die Unterscheidung tatsächlich nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten ist. Exemplifizieren läßt sich das an der Behandlung des italiano popolare, welches sie als eine genuin diastratische Varietät (ibid. 2011: 208) bezeichnen, und zwar im Gegensatz zum français populaire, welches strikt diaphasisch wäre. Dann sind sie jedoch gezwungen zu konstatieren, daß es generell im Italienischen keine lautlichen Merkmale gibt, die „genuin dias‐ tratisch oder diaphasisch markiert“ (ibid. 2011: 2009) wären. Im Bereich der Mor‐ phosyntax wiederum gäbe es wiederum „praktisch keine morphosyntaktischen Erscheinungen, die genuin diaphasisch niedrig markiert sind“ (ibid. 2011: 210). Zwischenresümee wäre dann, daß in der Lautung aus diastratischer und dia‐ phasischer Perspektive keine Merkmale vorhanden sind (nur sekundäre aus der Diatopik) und in der Morphosyntax nur diastratische, also solche des italiano popolare. Was die Lexik anbelangt, so ist die Diastratik hier im Prinzip auf Grup‐ pensprachen beschränkt (gerghi) (ibid. 2011: 211), es sind also keine bzw. kaum Merkmale festzustellen, die dem italiano popolare im Sinne einer schichtenspe‐ zifischen Sprache zuzurechnen wären. Aus ihrer eigenen Argumentation, nach der ja prinzipiell Phänomene von der diastratischen Dimension in die diapha‐ sische aufrücken können, wäre an dieser Stelle doch eigentlich die Schlußfol‐ gerung nötig, daß das italiano popolare im Italienischen, offensichtlich auch auf der diaphasischen Ebene funktioniert. 41 Zudem wird offensichtlich, daß beide Dimensionen, zumindest für das Italienische, kaum zu trennen sind, sonst gäbe 40 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="41"?> 42 „Recht vorläufig ist bislang der Begriffsapparat zur Benennung der italienischen Dia‐ phasik, wo als Bezeichnungen für niedrige Varietäten etwa italiano familiare / collo‐ quiale sowie registro informale / trascurato / basso in wenig klarer Relation zueinander stehen“ (Koch / Oesterreicher 2011: 209). 43 Zum Verhältnis von Stil cf. Felder (2016), der folgende Abgrenzung vornimmt: „Stil ist im Kontrast zu Register und Varietät in besonderem Maße handlungs- und akteursori‐ entiert. Stil wird einem Individuum oder einer Gruppierung bzw. Gruppe zuge‐ schrieben. Fragen des Stils lassen sich modellieren als auszuwählende Varianten inner‐ es zahlreichere und salientere Unterscheidungsmerkmale. Weiterhin wird eben‐ falls deutlich, daß innerhalb der Diastratik - von Gruppensprachen abgesehen - keine weiteren Schichten des Substandards faßbar sind und in der Diaphasik die verwendeten Begrifflichkeiten kaum zuzuordnen sind, wie sie selbst einge‐ stehen. 42 Was die Italienische Nähesprache im engeren Sinne anbelangt, d. h. die Dimen‐ sion der unmarkierten Mündlichkeit, so konzentrieren sich die herausgefilterten Merkmale im Wesentlichen auf die Morphosyntax (ibid. 2011: 213). Gerade bei so manchem der hier aufgelisteten sprachlichen Charakteristika stellt sich je‐ doch unweigerlich die bereits von zahlreichen Kritikern angesprochene Frage, ob dies nicht doch eher eine Frage des Registers ist. Betrachtet man beispiels‐ weise das System der Demonstrativa, in dem zwischen dem dreistufigen im Schriftlichen und dem zweistufigen im Mündlichen unterschieden wird, so ist zumindest zu bezweifeln, ob das Modell der präskriptiven Norm in konzeptionell und medial schriftlichen Texten noch durchgehalten wird. Über aller Differen‐ zierung schwebt zudem im Italienischen immer die Frage nach der diatopischen Prägung, was eine Einordnung in die Dimensionen der Diastratik / Diaphasik und erst recht in die vierte der Unmarkiertheit erheblich erschwert. Koch / Oes‐ terreicher (2011: 213-214) gestehen für die Nähesprache im engeren Sinne ein, daß aufgrund der diatopischen Implikationen für das Italienische hier keine Aussage für den lautlichen Bereich getroffen werden kann, woran sich jedoch unweigerlich die Frage anschließt, wieso dies dann ohne weiteres für andere Bereiche möglich sei. Damit soll nicht etwa das Modell per se in Frage gestellt werden, sondern lediglich, daß unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Varietätenräume haben, die je auf eine andere Art und Weise funktionieren. Es hat wohl durchaus seine Berechtigung, daß Söll einst seine begrifflichen Unterscheidungen am Französischen entwickelte, da in dieser Sprache der Abstand zwischen gespro‐ chener und geschriebener Sprache enorm groß ist. Dies ist auf die starke Nor‐ mierungsphase, die das Französische durchlief, zurückzuführen und die noch immer starke Präsenz einer präskriptiven Norm, die wohl auch dazu beitrug, daß sich ein dezidiertes Bewußtsein für Stilregister herausgebildet hat. 43 Zudem 41 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="42"?> halb einer größeren Äußerungseinheit, die jeweils für sich genommen eine spezifische Wirkung auf den Hörer zu entfalten mögen […]. […] Der Terminus Register - als im Vergleich dazu abstrakterer Begriff - verdichtet situationstypische Kommunikations‐ formen hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten zu einer Kategorie, spiegelt sie mit Mög‐ lichkeiten individuellen Sprachhandels und nimmt damit eine induktive und deduktive Betrachtungsweise ein. […] Varietät ist dagegen ein genuin deduktiv ausgerichteter Begriff. Er schaut ,von oben‘ vom Standpunkt der Gesamtsprache auf strukturierte Subsysteme, die aus spezifischen, mehrfach systematisch auftretenden (kookkurier‐ enden) Variantenrealisierungen generiert werden.“ (Felder 2016: 50-51). 44 Zur unterschiedlichen Auslastung des Varietätenraums des Französischen, Italieni‐ schen und Spanischen cf. das Modell bei Oesterreicher (1995: 11) und zu den damit ver‐ bundenen Auswirkungen cf. Wesch (2005: 176-177). 45 Cf. dazu beispielsweise Dufter / Stark (2002: 88) die die Diaphasik als eine dimension pas comme les autres bezeichnen und anhand ihrer aufgezeigten Fällen feststellen: „Les exemples ci-dessus permettent déjà de douter qu’on puisse toujours séparer le diastra‐ tique du diaphasique.“ 46 Coseriu (1973: 39) ordnet diesen Bereich noch deutlich der Diaphasik zu (Sprache der Männer / der Frauen, Verwaltungssprache). Heutzutage ist eine andere Zuordnung üb‐ lich, wie beispielsweise im Lexikon der Romanistischen Linguistik, wo Prüß‐ mann-Zemper (1990: 832-835) unter die Diastratik neben Gruppensprachen wie dem hat sich das Französische - zumindest in Frankreich - zu einer Sprache mit sehr schwacher diatopischer Ausprägung entwickelt. 44 Mit anderen Worten: Wenn eine Sprache in das Koch / Oesterreicher-Modell paßt, dann am ehesten das Französische. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist vor allem, daß man das Coseriu-Koch / Oesterreicher-Modell flexibler handhabt und nicht der Versu‐ chung erliegt, alle „Leerstellen“ mit sprachlichen Merkmalen und Kategorien auffüllen zu müssen. Das Problem der „Enge“ des Modells, und zwar schon des ursprünglichen bei Coseriu, wird genau an der besprochenen Schnittstelle zwischen Diaphasik und Diastratik virulent, wie sich in der umfangreichen Forschung zu varietätenlin‐ guistischen Fragestellungen auf der Basis des Diasystems zeigt. 45 Problematisch erscheint vor allem die Frage, wie die diastratische Ebene in modernen Gesell‐ schaften zu verstehen ist, in denen es keine ausgeprägten Schichten mehr gibt, bei denen durch ein entsprechendes Standes- oder Klassenbewußstein auch die Art der sprachlichen Äußerung eben an diese Gesellschaftsschicht (lat. stratum) gebunden ist. Andererseits sind die (post)modernen Gesellschaften nach wie vor in verschiedene Gruppen gegliedert, aber zum Teil eben in anderer Form, wobei stärker als zu früheren Zeiten ein Individuum oft an vielen ver‐ schiedenen sozialen (und sprachlichen) Gruppen partizipiert. Letztlich hat es sich in weiten Teilen der Forschung eingebürgert den Begriff ‚diastratisch‘ so‐ wohl für bestimmte an Schichten gebundene Varietäten zu verwenden, als auch im Sinne von Gruppen-, Sonder- und Fachsprachen. 46 Das mag unter Umständen 42 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="43"?> argot explizit auch alters- und geschlechterspezifische Varietäten faßt sowie Fachspra‐ chen und eben die traditionell schichtenspezifischen Varietäten. 47 „Der Begriff Diastratik greift insofern nicht trennscharf, als er unterschiedliche Register zusammenbindet, die mit variablen sozialen Merkmalen und differenten sprachlichen Oberflächen korrelieren“ (Meißner 2008: 92). 48 Das Modell von Schmidt-Radefeldt (1999) ist Grundlage des Einführungswerkes in die portugiesische Sprachwissenschaft von Endruschat / Schmidt-Radefeldt (2008) sowie auch des Sammelbandes Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013) mit den Akten des Lusita‐ nistentages - hier ziert es emblematisch sogar das Buchcover, so daß es doch eine ge‐ wisse Verbreitung erfuhr. 49 Schmidt-Radefeldt (1999: 21-23) begreift sein polysystematisches Modell, welches sich überschneidende Pfeile (in Referenz zu einem Standard und einer Gebrauchsnorm) ab‐ bildet, als ein interaktives, in dem die Dimensionen in verschiedenen Wechselwir‐ kungen zueinander stehen. vertretbar sein, wenn man eine Gesellschaftsschicht im Sinne einer großen Gruppe interpretiert, aber wirklich schlüssig ist diese Vermengung von Ebenen nicht. Hinzu kommt, daß innerhalb von einzelnen Gruppensprachen - zu be‐ stimmen nach Parametern wie Alter, Geschlecht, Beruf etc. - wiederum eine große Heterogenität festzustellen ist. 47 Der Versuch, diese im Zuge weiterer Forschung vermehrt in den Fokus ge‐ ratenen Bereiche gruppensprachlich bedingter Kommunikation zu klassifi‐ zieren, mündete vor allem in der Romanistik in eine Explosion der dia-Begriff‐ lichkeiten. Eine erste Erweiterung erfuhr dabei das Coseriu’sche Dreierschema durch die Auseinandersetzung mit der metalexikographischen Forschung (cf. Hausmann 1977, 1989) und wurde bis hin zu einer extremen Ausprägung bei Schmidt-Radefeldt (1999) 48 oder Thun (2000) betrieben. Die Blickweise schwankt letztendlich zwischen einer Gleichberechtigung aller neu konzipierten dia-Ebenen und der Unterordnung aller neuen unter das Dach der Diastratik. In beiden Fälle stößt das zunächst kompakte Modell - das ja auch schon von An‐ fang an umstritten war - an die Grenzen seiner Belastbarkeit. 49 Vergessen wird dabei oft, daß die Qualität der einzelnen Varietäten bzw. Ebenen im Modell sehr heterogen ist und letztlich nur die diatopische Ebene den Anspruch erheben kann, ein vollwertiges in sich geschlossenes Sprachsystem zu sein, wie bereits Coseriu konstatierte (cf. Coseriu 1988: 51). In allen anderen Fällen stellt sich die unweigerlich die Frage: wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät sprechen zu können? Oder anders ausgedrückt: wieviele sprachliche Merkmale, im Sinne der Abweichung von einer Norm, sind 43 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="44"?> 50 Eine Norm im Sinne einer neutralen referentiellen Standard- oder Hochsprache ist eine Grundvoraussetzung um von einer Auffächerung des Varietätenraumes einer histori‐ schen Einzelsprache sprechen zu können. (cf. Coseriu 1988: 47-48 und noch deutlicher Oesterreicher 1995: 9). Zur Frage der Norm, auch im spezifischen Verständnis Coserius cf. ausführlich Koch (1988a). Krefeld (2011b: 104) definiert den Standard einer Sprache aus Sicht der Sprecher als Bezugsgröße bzw. als Abweichung von einer impliziten Norm. 51 Albrecht (1986: 79) definiert Varietät als „ein Gefüge aus ‚zusammengehörigen‘ Vari‐ anten variabler Elemente und Regeln der Gesamtsprache“, wobei die zugrundelie‐ genden Kriterien für die Zusammengehörigkeit schwer faßbar sind. Cf. dazu auch die Überlegungen von Krefeld (2010a: 60), der zurecht moniert, daß dazu zuverlässige Pa‐ rameter fehlen, ab wann es sinnvoll sei, von einer Varietät zu sprechen. 52 Eine linguistisch fundierte Abgrenzung sollte natürlich nicht rein auf der Perzeption der Sprecher beruhen, sondern Grundlage bleiben objektive Kategorien auf der Basis wissenschaftlich begründeter Kriterien im Sinne eines adäquaten theoretischen Be‐ schreibungsrahmens. Dieser gewinnt jedoch an Transparenz, bezieht man das Spre‐ cherbewußtsein mit ein (cf. Krefeld 2010a: 119). 53 Die in Nordwestitalien (Galloitalia) womöglich einst durch französischen Einfluß (z. T. herrschende Oberschicht) entstandene uvularen r-Artikulationen, mit trill [ʀ] oder fri‐ kativisch [ʁ, χ], sind besonders paradignatisch für das Westemilianische (Raum Parma), kommen aber auch im Piemont, im Valle d’Aosta und in der Lombardei vor. Dabei kann immer auch eine soziolektale Interpretation mitschwingen, weil das erre francese als snobistisch gilt. Abweichungen vom italienischen Standard-r, was umgangssprachlich auch als erre moscia bezeichnet wird und nicht selten als Sprachfehler wahrgenommen wird, kommen hingegen verstreut in ganz Italien in verschiedenen Schichten vor und umfassen phonetisch gesehen eine Vielzahl verschiedener Realisierung (inkl. r fran‐ cese) (cf. Romano 2013: 215-220). 54 Cf. dazu beispielsweise die wenigen Merkmale des zentralen Regionalfranzösischen bei Müller (1975: 118) oder die auf wenige lautliche Merkmale reduzierte Studie zur Per‐ zeption von Sobotta (2006: 210-212). nötig, 50 damit man sinnvollerweise annehmen kann, daß hierbei eine eigene Varietät vorliegt? 51 Die Frage läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten, auch deshalb nicht, weil es nicht nur auf die Anzahl der Charakteristika ankommt, die konstitutiv für eine Varietät sein sollen, sondern auch auf die Verankerung einer solchen im Sprecherbewußtsein. 52 Unter Umständen reicht ein einziges Merkmal im Sinne eines Schibboleths, wie beispielsweise ein uvularer Vibrant oder Frikativ [ʀ, ʁ], bereits aus, um einen Italophonen regiolektal zu verorten, weil es sich um ein salientes Merkmal einer bestimmten Region handelt (wenn auch nicht aus‐ schließlich) 53 - oder eine jede noch so geringe diatopisch markierte Veränderung vom entdialektalisierten Pariser Becken erweist sich bereits als äußerst auf‐ fällig. 54 Hingegen sind Merkmale, wie sie Endruschat / Schmidt-Radefeldt (2008: 222-226) unter dianormativ oder diaplanerisch aufführen, nicht als ei‐ gentliche Varietät zu verstehen, sondern Teil der Sprachpolitik oder eines his‐ torischen Normierungsprozesses und das, was sie unter diaevaluative Varietät 44 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="45"?> 55 Bei Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013: 9) erscheint sogar zusätzlich noch der Begriff ‚di‐ apolitisch‘ - wenn auch in Anführungszeichen - und wird dabei explizit als Varietät apostrophiert, was nach üblichen Kriterien dessen, was unter einer Varietät zu ver‐ stehen ist - so schwierig eine präzise Definition auch sein mag - kaum haltbar ist. Weiterhin wird noch von einem „diaökonomischen Ansatz“ gesprochen (Merlan / Schmidt-Radefeldt 2013: 10), so das letztlich hier die Diasystematik Coserius ad absurdum geführt wird. subsumieren, Teil eines Stilregisters, genauso wie unter Umständen Elemente der als diafrequent bezeichneten Dimension. 55 Es sei hier tabellarisch noch einmal die Vielfalt der heutzutage existierenden dia-Begriffe zusammengestellt und dabei gleichzeitig die Frage gestellt, wie sinnvoll diese dia-Proliferation sein kann? Coseriu (1958) Koch / Oester‐ reicher (1990) Hausmann (1979, 1989) Schmidt-Rade‐ feldt (1999) Thun (2000) diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diatopisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diastratisch diaphasisch diaphasisch diaphasisch diasexuell diasexuell Nähe-Distanz (diamesisch) diamedial diagenerationell diageneratio‐ nell diaevaluativ diaphasisch diaphasisch diatextuell diamedial dialingual diakonnotativ diakonzeptionell diatopisch-ki‐ netisch dianormativ diatechnisch diareferentiell diaintegrativ diasituativ diatechnisch diatextuell diafrequent diaevaluativ diachronisch diafrequentativ diaintegrativ dianormativ diaplanerisch Abb. 1: Übersicht zu den dia-Begriffen 45 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="46"?> 56 In der Romanistik beispielsweise von Haensch tradiert, der in dem Überblickswerk La Lexicografía in Bezug auf die verschiedenen Arten der Wörterbücher und deren selektiv dargestellten, markierten Wortschatz von marcación diatópica, diastrática, diatécnica, diafásica, diaintegrativa, diafrecuente spricht (Haensch 1982: 140-158). Bei Schöntag (1998/ 2009: 97-98) und Schöntag (2014: 519-520) wird der Begriff ,diaintegrativ‘ der Terminologie von Hausmann durch ,diaxenisch‘ ersetzt, da die empfundene Fremdheit das ausschlaggebende Kriterium darstellt. 57 In der französischen lexikographischen Forschung erscheinen noch die Begriffe diaco‐ dique für ‚diamesisch‘ sowie diasectoriel für ‚diatechnisch‘ (cf. Chambon 1997: 23). In der varietätenlinguistischen nicht lexikographischen Betrachtung systematisiert beispiels‐ weise Gadet (2007: 23) die Dia-Ebenen nach der variation selon l’usager (diachronie, di‐ atopie, diastratie) und der variation selon l’usage (diaphasie, diamésie). 58 Zu Thuns Programm einer pluridimensionalen und referentiellen Dialektologie sowie zur Dimension ‚diareferentiell‘ cf. Thun (2004: 133-134). Für eine Beurteilung der hier dargestellten Begrifflichkeiten, auch im Hinblick auf die geplante Analyse in vorliegender Arbeit stellt sich zunächst die Frage cui bono? Wenn Hausmann (1979, 1989) anknüpfend an die zu dieser Zeit bereits be‐ stehenden Termini weitere prägt, 56 um im Sinne einer lexikographischen Be‐ schreibung die Struktur des in Wörterbüchern dargestellten Lexikons besser zu erfassen zu können, so ist das legitim und sinnvoll, wobei jedoch nicht vergessen werden darf, daß es sich dabei um einen anderen Beschreibungsrahmen als den von Coseriu intendierten handelt (cf. dazu auch explizit Schöntag 1998 / 2009: 164). 57 Das gleiche gilt mutatis mutandis für eine Beschreibung im Zuge der sprachgeographischen Erfassung von Unterschieden, wie sie Thun (2000: 4-5) in seiner pluridimensionalen Dialektologie vornimmt. 58 Problema‐ tisch wird es nur, wenn wie bei Endruschat / Schmidt-Radefeldt (2008) man ei‐ nerseits weitgehend im ursprünglichen Varietätenmodell von Coseriu bleibt, also auf die Erfassung der Heterogenität der historischen Einzelsprache an sich abzielt, aber dann den Beschreibungsapparat womöglich überdehnt und damit auch den Unterschied von Varianz (bzw. Varianten) und Varietät verwischt. 3.1.2 Soziolinguistische Perspektive Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietätenlinguistik wird oft als inklu‐ sives verstanden, insofern die Betrachtung der Varietäten als Teil einer weiteren Perspektive allgemeiner gesellschaftlicher und individueller Faktoren, die die Art des Sprechens mitbestimmen, gesehen wird. Mitunter werden beide Begriffe auch unterschiedslos verwendet, um die gleiche Disziplin zu bezeichnen, aber in der neueren Forschung werden sie meist als zwei getrennte eigenständige Teilbereiche der Sprachwissenschaft mit unterschiedlichen Schwerpunkten, 46 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="47"?> 59 Zur Entstehungsgeschichte der Soziolinguistik cf. beispielsweise Elsen (2014: 157-166), Löffler (1994: 19-20) oder Dittmar (1997: 19-33; 2004: 698-720). Ebenfalls hybrid, wenn auch in anderer Weise als die deutsche Germanistik, ist die romanistische Tradition in Italien. So behandelt Berruto (1987) in seinem Überblicks‐ werk vorrangig varietätenlinguistische Fragestellung, das Ganze firmiert aber unter dem Label Sociolinguistica, ähnlich wird in dem großen Überblickswerk zu den italie‐ nischen Dialekten von Cortelazzo verfahren (I dialetti italiani), in dem das diasystema‐ tische Modell Coserius von Sornicola (2002: 43) im Rahmen des Kapitels Dialettologia sociologica abgehandelt wird. Konsequenterweise definieren Dardano / Trifone (1997: 69) Soziolinguistik auch so, daß die Varietätenlinguistik darin ein wichtiger Bau‐ stein ist: „La sociolinguistica studia particolarmente le diversità e le varietà della lingua […].“ 60 Einen Reflex davon zeigt beispielsweise die aus dem Englischen übersetzte Publikation von Barbour / Stevenson (1998) die den Titel Variation im Deutschen trägt, aber als Un‐ tertitel die Ergänzung Soziolinguistische Perspektiven. In der Germanistik ist eben zudem der anglophone-anglistische Einfluß spürbar, insofern in dieser Tradition die Variation und nicht die Varietät im Vordergrund steht. So gibt es im soziolinguistischen Grund‐ lagenbuch von Dittmar (1997) zwar ein Kapitel zur Variation, aber keines zu den Vari‐ etäten. Das Einführungswerk von Fasold / Connor-Linton (2006) der Cambridge Uni‐ versity Press macht die Situation deutlich: Hier gibt es ein Kapitel zu Dialect variation, worunter hauptsächlich sociolinguistics verstanden wird, da dialect hier als Synonym für Varietät an sich gebraucht wird: „a neutral label to refer to any variety of language“ (Schilling-Estes 2006: 312). Zur Abgrenzung von Variation, Varianten und Varietät cf. Krefeld (2015b: 395-396). aber großem Überschneidungsbereich, wahrgenommen (cf. Sinner 2014: 9-11). 59 Das Verhältnis von Soziolinguistik und Varietätensowie Variationslinguistik ist vorwiegend an die Forschungstradition einzelner Fächer und Länder ge‐ bunden. Während in der deutschsprachigen romanistischen Wissenschaft, in der Nachfolge Coserius, die Varietätenlinguistik einen betont eigenständigen und prominenten Charakter aufweist, ist in germanistischer Tradition die Dif‐ ferenzierung oft nicht so eindeutig vorgenommen bzw. tendenziell die Varietä‐ tenlinguistik (hauptsächlich Dialektologie) oft in die Soziolinguistik inkorpo‐ riert (cf. z. B. bei Veith 2002). 60 Für vorliegende Untersuchung sind insbesondere diese Schnittstellen und Perspektivenwechsel von Interesse, denn gerade in der Entstehungsphase oben diskutierter Varietätenmodelle waren Erkenntnisse aus Untersuchungen von Belang, die traditionell der Soziolinguistik zugerechnet wurden. Begrifflichkeiten, die später auch indirekt im Varietätenmodell von Coseriu und Koch / Oesterreicher, aber vor allem im Konzept der Diskurstraditionen eine große Rolle spielen, sind die von Kloss (1952 / 1978) im Rahmen seiner Betrach‐ tung zur Entwicklung neuer germanischen Kultursprachen geprägten, von denen im vorliegenden Zusammenhang der des ‚sprachlichen Ausbaus‘ als wichtigster Terminus zur Beschreibung einer bestimmten Art von Funktions-, Anwen‐ 47 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="48"?> 61 Lewandowski (1994 II: 419) definiert ‚Idiom‘ in seiner ersten von drei Grundbedeu‐ tungen folgendermaßen: „Sondergewohnheit, eigentümlicher Sprachgebrauch als In‐ dividualsprache oder Idiolekt, Mundart oder Dialekt, Gruppensprache oder Sozio‐ lekt […].“ 62 Die Tatsache, daß die Situierung von Dialekten bei ihm im Vordergrund steht, zeigt die spätere, präzisere Definition von ‚Ausbausprachen‘: „Als Ausbausprachen (AuS ) kann man Idiome bezeichnen, die als Dialekte einer ihr begrifflich übergeordneten Bezugs‐ sprache behandelt werden müßten, wenn sie nicht zu einem Ausdrucksmittel einer alle oder fast alle Aspekte des modernen Lebens einbeziehenden Kultur geworden wären, die in mancher oder jeder Richtung ausgestaltet wurden zu Werkzeugen all- oder doch vielseitiger literarischer Betätigung.“ (Kloss 1987: 302) dungs- und Prestigewandel einer Sprache herausragt. Im Zuge seines Versuchs, ‚Sprache‘ und ‚Dialekt‘ voneinander abzugrenzen, führt er anhand von Einzel‐ beispielen die Begriffe ‚Ausbausprache‘ und ‚Abstandsprache‘ ein: Manchen Sprachen wird ihr Rang zuerkannt auf Grund der Besonderheit ihrer Sub‐ stanz, des Sprachkörpers. Ein besonders klares Beispiel bietet in Europa das Baskische, aber für eine verhältnismäßig isoliert dastehende indogermanische Sprache wie Al‐ banisch liegt der Fall kaum minder eindeutig. Baskisch oder Albanisch würden auch als Sprachen bezeichnet werden, wenn in ihnen keine einzige gedruckte oder ge‐ schriebene Zeile vorläge. Wir können solche Idiome, die lediglich um ihres Abstandes von allen auch den nächstverwandten anderen Idiomen willen als Sprachen gelten, auch kurzweg als „Abstandsprachen“ bezeichnen. Wenn hingegen das Slowakische vom Tschechischen, das Weißruthenische vom Rus‐ sischen, das Katalanische vom Okzitanischen, vielleicht sogar das Letzeburgische vom Deutschen als besondere Sprache unterschieden werden, so liegt der Grund nicht in ihrer linguistischen Sonderstellung, sondern in ihrer soziologischen Verselbständi‐ gung, also insbesondere in dem Umfange und Grade ihres Ausbaus zur Kultursprache, so daß man hier auch kurzweg von „Ausbausprachen“ reden kann. (Kloss 1952: 17) In dieser eher impliziten Definition wird auch noch ein anderer Begriff quasi en passant in seinem weiteren Gebrauch in der Linguistik festgeschrieben, nämlich der des ‚Idioms‘, den Kloss zur neutralen Bezeichnung verwendet, solange noch nicht geklärt ist, ob es sich um einen Dialekt oder eine Sprache handelt, und den man heutzutage nützlicherweise als vorklassifikatorischen Terminus auf ver‐ schiedene Arten von Varietäten anwenden kann. 61 Was den Ausbau von Sprachen betrifft, so trägt Kloss (1952: 24-25) wichtige Parameter zusammen, anhand derer man einschätzen kann, wie weit der Aus‐ baugrad einer bestimmten Sprache oder eines Dialektes (Ausbaudialekt) fort‐ geschritten ist. 62 Der Ausbaugrad selbst wiederum wird in eine Vorphase und fünf weitere Phasen untergliedert, je nachdem wie weit der Anwendungsbereich 48 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="49"?> 63 In seiner stark erweiterten Ausgabe von 1978 führt Kloss verschiedene Ausbauweisen nochmal sehr viel ausführlicher auf und bezieht auch Normierungsprozesse wie Ver‐ einheitlichung von Orthographie und Sprache mit ein sowie die Schaffung neuer Stil‐ mittel und vor allem neuer Anwendungsbereiche für die sich ausbauende Sprache. In Bezug auf die Literatur ist die dann ausführlich dargestellte Sachprosa einer von drei Großbereichen schriftlicher Anwendung von Hochsprachen: 1. Schöne Literatur (Bel‐ letristik, d. h. auch Dichtung, Erzählungen, Theaterstücke, Epen etc.), 2. Sachprosa, 3. Schlüsseltexte (cf. Kloss 1978: 37-38). 64 Ammon (2004: 182) weist zudem auf den nicht immer deutlich werdenden Unterschied von Einzelvarietät und Sprache hin. Denn eine Sprache kann aus einer Menge von Varietäten unter einem Dach oder aus mehreren gleichberechtigen Varietäten bestehen einer Sprache ist, gemessen hauptsächlich an der Möglichkeit, verschiedene Textsorten zu bedienen und damit einhergehend, wie lexikalisch, morpholo‐ gisch und syntaktisch elaboriert die Sprache ist (Kloss 1978: 52). Die zunächst auf sechs Merkmale festgesetzten Parameter zur Beurteilung des Ausbaugrades kondensiert er später (cf. Kloss 1987: 304) auf vier und ent‐ wickelt zudem eine Matrix der Entwicklungsstufen (cf. Kloss 1978: 48-49) an‐ hand einer Feingliederung der Sachprosa, die als wichtigster Indikator für den Ausbau anzusehen ist. Die Ausbau-Kriterien stützen sich dabei auf folgende regelmäßige Anwen‐ dungsbereiche des untersuchten Idioms: 1) in Zeitungen, 2) in übersetzten reli‐ giösen und weltanschaulichen Schlüsseltexten, 3) in nichtdichterischen Zuspra‐ chetexten (Vortragstexte), 4) in Belletristik, Forscherprosa, Gebrauchsprosa (Inserate, Inschriften, Tagebücher, Notizzettel, etc.). Dichtung und andere „hohe“ Literatur gehören als Gradmesser natürlich ebenfalls dazu, sind aber bei Kloss nicht in gleicher Weise in den Vordergrund gerückt, zum einen weil diese bis dato, vor allem von Seiten der Literaturwissenschaft als die einzigen Faktoren für die Einschätzung als Kultursprache angesehen wurden, und zum anderen weil er dezidiert den Wert der Sachprosa über den der Literatur strictu sensu als Indikator stellt. 63 Die Sachprosa selbst wiederum splittet er in drei graduell ab‐ gestufte Bereiche, nämlich volkstümliche Prosa (V), gehobene Prosa (G) und Forscherprosa (F), sowie in drei themenbezogene Bereiche, gegliedert nach ei‐ genbezogene Themen (E), kulturkundlichen (K) und solchen der Naturwissen‐ schaft und Technologie (N), woraus sich oben erwähnte Matrix als Bemessungs‐ grundlage ergibt. Unabhängigkeit von der Tatsache, daß ein Parameter wie „Ausbreitung in Rundfunk und Fernsehen“ der Aktualisierung in Bezug auf die zahlreichen neuen Kommunikationsformen bedürfte und insgesamt sowohl die Bestimmung als auch die Korrelation der einzelnen Kriterien nicht immer unproblematisch sein dürften, 64 bleibt das Gesamtkonzept ein äußerst wichtiges Instrument zur 49 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="50"?> oder, wie in plurizentrischen Sprachen mehrere ausgebaute Varietäten (und nicht aus‐ gebaute) umfassen. 65 Cf. Oesterreicher (1997: 594): „Nicht zufällig bemißt Kloss […] den Ausbaugrad einer Sprache an diskurstraditionell gestaffelten Parametern.“ 66 Auch das standardisierte Ladin Dolomitan hat nicht den gleichen Ausbaugrad wie das Deutsche und Englische, da Wissenschaftsprosa in dieser Sprache höchstens marginal abgehandelt wird. Bestimmung von Funktions- und Anwendungsbereichen von Sprachen und deren Positionierung in der Gesellschaft. Dies ist nicht zuletzt daran ersichtlich, daß die Frage nach dem Ausbaugrad einer Sprache wesentlicher Bestandteil des Konzeptes ‚Diskurstradition‘ ist bzw. nach heutigem Verständnis einzelne Dis‐ kurstraditionen maßgeblich zum Ausbau einer Sprache beitragen (z. B. Ge‐ brauchsprosa, Belletristik, etc.). 65 Der Ausbau einer Sprache korreliert zudem mit dem Prozeß der Standardi‐ sierung einer Sprache, wobei „Ausbau und Standardisierung […] weder iden‐ tisch noch disjunkt“ sind (Ammon 2004: 183), denn einerseits haben zwar aus‐ gebaute Varietäten in der Regel auch die Funktion eines Standards, andererseits sind Standardvarietäten bzw. Standardsprachen nicht immer im gleichen Aus‐ baugrad zu situieren (z. B. Ladinisch vs. Englisch). 66 Mit der Standardisierung wiederum in Zusammenhang steht die auf Kloss (1969) zurückgehende Unterscheidung von Korpusausbau und Statusausbau, wobei Status auf die Stellung einer Sprache in der zugehörigen Sprachgemein‐ schaft referiert, während Korpus auf Struktur und Wortschatz abhebt (cf. Ammon 1991: 280). Der heutzutage in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Terminus Mo‐ dernisierung wird oft mit unklarer Referenz verwendet, insofern meistens damit - weniger präzise - der Korpusausbau gemeint wird, dies nicht selten aber auch auf den Ausbau als solchen zielt, oder auch Statusfragen damit ver‐ knüpft werden, z. B. innerhalb des Bereiches der Fachsprachen oder jene im Verhältnis zur Gemeinsprache (cf. Ammon 1998: 222; Ammon 2004: 183). Eine weitere Ergänzung der Kloss’schen Terminologie liefern Koch / Oester‐ reicher (1994: 594), indem sie den Prozeß einer allmählichen Einschränkung des Anwendungsbereiches von bereits voll ausgebauten Nationalsprachen wie dem Niederländischen oder Ungarischen thematisieren, die in der Wissenschaft‐ sprosa zunehmend bzw. fast ausschließlich auf das Englische rekurrieren. Diese rückwärtsgerichtete Entwicklung definiert Oesterreicher im Folgenden als Rückbau einer Sprache, der letztlich auch bis zum Sprachtod reichen kann (cf. Oesterreicher 2004: 32 bzw. 2005: 100), wobei die Gefahr insbesondere bei bisher erst teilausgebauten Sprachen besteht, worunter er Sprachen versteht, die die 50 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="51"?> 67 „Diesen Ausbaustatus im Bereich der Distanzsprachlichkeit erreichen bestimmte Idiome nie, andere immerhin fast, manche wenigstens teilweise; hier kann man von Teilausbau sprechen. Selbstverständlich kann eine voll ausgebaute oder eine teilaus‐ gebaute Sprache ihren Status, ihren Ausbaustand auch wieder verlieren, also auf eine niedrigere Ausbaustufe zurücksinken“ (Oesterreicher 2004: 31). 68 „Mit einem anderen Bilde könnte man auch von überdachten und dachlosen Mundarten reden“ (Kloss 1952: 21, FN 3). letzte Stufe des Ausbaus bei Kloss (1978: 52) nicht erreicht haben (5. Phase: Ver‐ wendung in Verwaltung, Medien, Forscherprosa). 67 Ein weiteres wichtiges Konzept in der Soziolinguistik, welches auf Kloss zu‐ rückgeht, ist das der Dachsprache. Den Terminus selbst hat Kloss nicht direkt geprägt, denn ihn interessierten zunächst die Ausnahmefälle, nämlich die Dach‐ losen Außenmundarten, wie ein Kapitel in der Zweitauflage seiner Monographie auch explizit heißt (Kloss 1978: 5). In der ersten Fassung von 1952 trifft er noch die grundlegende Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten, wobei erstere als Bezugsrahmen eine ihr verwandte Kultursprache besitzen, während letztere unter einem „fremden“ Dach existieren. Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen gehegten und wilden Mundarten. Nor‐ malerweise wird eine Mundart gesprochen von einer Bevölkerung, die als Schrift‐ sprache die der Mundart linguistisch zugeordnete Kultursprache gebraucht. […] In all diesen Fällen entwickelt sich die Mundart gleichsam im Gehege der ihr linguistisch zugeordneten Schriftsprache. […] Die Lage einer wilden Mundart ist grundlegend anders. Ihr Sprecher gebraucht eine Schriftsprache, die mit der Mundart linguistisch wenig oder gar nicht verwandt ist. […] Alle solche wilden Mundarten, welche dem hegenden Einfluß der nächstverwandten Kultursprache entzogen sind, pflegen im Laufe der Zeit ein besonderes Gepräge an‐ zunehmen, das von dem der ihr zugehörigen Schriftsprache und der von ihr gehegten Mundarten abweicht. (Kloss 1952: 21-22) Diese dichotomischen Begriffe zur Verdeutlichung der Tatsache, daß die Ent‐ wicklung einer Varietät in einem sprachsoziologisch anderen Kontext mit einer anderen Schriftsprache als Referenz anders verläuft als unter „normalen“ Um‐ ständen, unter denen verschiedene diatoptische Varietäten als Bezugspunkt eine ausgebaute Standardvarietät gleichen Ursprungs haben, finden in der weiteren Forschung keine Forstsetzung, sondern gerade die nur in der zugehörigen Fuß‐ note als alternativ Benennungen zu „wild“ und „gehegt“ vorgeschlagenen. 68 Den eigentlichen Begriff ‚Dachsprache‘ hat dann Goebl mit Verweis auf die ursprüngliche Metaphorik bei Kloss in einer Untersuchung zur normannischen 51 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="52"?> 69 Aufgrund der Zurückhaltung seitens Goebls, was die erstmalige Verwendung des Be‐ griffs ‚Dachsprache‘ in einer Publikation anbelangt, mutmaßt Muljačić, daß womöglich Kloss diesen (evtl. auch im Gespräch mit Goebl) nur mündlich verwendet hatte, aber doch der eigentliche Urheber des Terminus ist (Muljačić 1989: 260). 70 Goebl (1975 : 154) führt den Begriff im Hinblick auf das Verhältnis der verschiedenen scriptae-Normen in Bezug auf die ihnen zugrundeliegenden diatopischen Varietäten ein: „Soit dit entre parenthèses que les niveaux scripturaires occupent - sociolinguistique‐ ment parlant - un rang supérieur à celui de leurs corollaires dialectaux, et qu’ils font - en quelques sorte - fonction de ‚toiture‘, fait auquel, sur notre croquis, nous avons fait allusion par le choix du symbole iconique du triangle.“ 71 Goossens führt den Ausdruck overkoepelend element (‚überdachendes Element‘) zu‐ nächst recht beiläufig ein: „Nadat in de 17e eeuw de Nederduitse schrijftaal een zachte dood was gestorven, waren de dialecten can Noordoost-Nederland en Noord-Duitsland geen elementen meer van een diasysteem met het Nederduits als overkoepelend ele‐ ment, maar wel voor een kleiner deel van het Nederlandse diasysteem en voor een groter vam het Hoogduitse, dat van dat ogenblik af kortweg ‚Duits‘ genoemed kan worden“ (Goossens 1968: 17). Das deutsche Substantiv ‚Überdachung‘ hat er dann wohl ausge‐ hend von der zugehörigen niederländischen Form overkoepeling (dort nicht belegt) ge‐ prägt und gebraucht es dann drei Jahre später in einem historischen Kontext in Bezug auf die Herausbildung der deutschen Hochsprache: „Unter der Annahme jedoch, daß bereits erste Ansätze zur Vereinheitlichung der Schriftsprache als Überdachung ge‐ nügen, fängt das Deutsche mit dem Mittelhochdeutschen an“ Goossens (1971: 20). 72 „Das Deutsche ist ein Diasystem mit einer Kultursprache als übergeordnetem und ver‐ bindendem Element. Solange es eine Schriftsprache - auch in Ansätzen - noch nicht gibt, gehören zu diesem Diasystem diejenigen kontinentalwestgermanischen Sprach‐ formen, die charakteristische Elemente dieser Kultursprache enthalten. Sobald eine - werdende - deutsche Schriftsprache vorhanden ist, gehören zum Diasystem alle kon‐ tinentalwestgermanischen Sprachformen, die von ihr ‚überdacht‘ werden“ (Goossens 1971: 19). scripta eingeführt, 69 zunächst auf Französisch als toiture (Goebl 1975: 154), dann auch auf Deutsch - Ironie der Forschungsgeschichte, wieder „nur“ in einer Fuß‐ note (Goebl 1975: 154, FN 20). 70 Weiterhin im Rahmen dieses Bild des Daches verankert, wurde im Folgenden durch den Begriff der ‚Überdachung‘ bei Goossens (1971: 20) noch die Prozeß‐ haftigkeit bei der Bildung eines Daches hervorgehoben, wie es im Zuge der Entwicklung und des Ausbaus von Varietäten zu Standardbzw. Hochsprachen zu beobachten ist bzw. das daraus resultierende Ergebnis. 71 Es ist wiederum Goossens, der die beiden Konzepte Diasystem und Dach‐ sprache - und hier sei auf eine wichtige Schnittstelle von varietätenlinguisti‐ scher und soziolinguistischer Perspektive hingewiesen - in Zusammenhang bringt und auf konkrete Sprachkonstellationen appliziert. 72 Im Weiteren sind es u. a. Wissenschaftler wie Kramer (z. B. 1980, 1984) und Muljačić (z. B. 1984, 52 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="53"?> 73 Für Überdachungsprozesse im Mittelalter im Zuge des Ausbaus romanischer Varietäten zur Standardsprache cf. Selig (2015). 74 Hamers / Blanc (2000: 6) treffen die grundsätzliche begriffliche Unterscheidung zwi‐ schen ‚Bilingualität‘ und ‚Bilingualismus‘, insofern sie unter ‚Bilingualität‘ nur die in‐ dividuelle Zweisprachigkeit verstehen (psycholinguistische Perspektive), unter ‚Bilin‐ gualismus‘ jedoch sowohl die individuelle als auch die soziale (soziolinguistische Perspektive). Im Hinblick auf die Mehrsprachigkeit wäre es wünschenswert konsequent die Unterscheidung individuell (Bilingualität, Polylingualität) und sozial (Bilingua‐ lismus, Polylinguismus) aufrecht zu erhalten. Zur Abgrenzung von Multilingualismus und Plurilingualismus cf. Boeckmann / Lasselsberger (2011: 80). 1989), die die Dachmetaphorik in ihrer ganzen Breite verwenden und das Kloss’‐ sche System auf vielfältige Szenarien anzuwenden versuchen. 73 Es gibt aber sicherlich Fälle, wo die Konzeption des ‚Daches‘ an ihre Grenzen stößt, sei es aufgrund des nicht geklärten Status der einzelnen Idiome (z. B. Aro‐ munisch im Verhältnis zu Dakorumänisch, Gaskognisch) oder unklarer sprach‐ soziologischer Zuordnungen (z. B. Subvarietäten des Ladinischen). Ein anderer Bereich, der mit den von Kloss angesprochen Sprachkonstellati‐ onen in Zusammenhang steht und der auch für die in dieser Arbeit einzuneh‐ mende Perspektive auf eine komplexe historische Situation - sowohl in Bezug auf die Antike, als auch die Renaissance - grundlegende Bedeutung hat, ist der der Mehrsprachigkeit. Prinzipiell ist es üblich zumindest zwischen individueller Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualität, Multilingualität) und sozialer Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualismus, Polylingualismus) zu unterscheiden. 74 In einer differenzierteren Sichtweise unterscheidet Lüdi (1996: 234) vier Arten der Mehrsprachigkeit, und zwar 1) individuelle, 2) territoriale, 3) soziale und 4) institutionelle. Unter territorialer Mehrsprachigkeit versteht er dabei das Ne‐ beneinander verschiedener Sprachen in einem bestimmten Gebiet und führt als Beispiel die Koexistenz von Niederländisch und Französisch in Brüssel an. Die soziale Mehrsprachigkeit liegt dann vor, wenn mehrere Sprachen mit unter‐ schiedlichen Funktionen in einer Gesellschaft in Gebrauch sind, also eine di- oder polyglossische Situation vorliegt, und institutionelle Mehrsprachigkeit findet sich in nationalen oder internationalen Verwaltungseinheiten wieder, wie beispielsweise der Europäischen Union. Eine entscheidende Frage, unabhängig von der Anzahl der Arten von Mehr‐ sprachigkeit ist, welche Kriterien dieser zugrundeliegen, d. h. ab wann ist ein Individuum oder eine Gesellschaft mehrsprachig und wie ist die Sprachkompe‐ tenz in den jeweiligen Sprachen? Lüdi plädiert dabei für eine weite Auslegung des Begriffes, der sich hier anzuschließen ist, da dies der Realität zahlreicher Gesellschaften am ehesten entspricht. 53 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="54"?> 75 Lüdi (1996: 234) referiert hier auf Definitionen von individueller Zwei- oder Mehrspra‐ chigkeit, gemäß denen diese nur dann vorliegt, wenn die Sprachen in frühester Kindheit erworben wurden und in beiden auch zum Erhebungszeitpunkt eine nahezu identische Sprachkompetenz festzustellen ist. 76 Zur aktuellen, individuellen Mehrsprachigkeitsforschung cf. Müller / Ku‐ pisch / Schmitz / Cantone (2011), zur Migrationslinguistik cf. Krefeld (2004), zur Mehr‐ sprachigkeit im Mittelalter cf. Wilhelm (2007: 83) und zur Mehrsprachigkeit und Mig‐ ration in der Antike cf. Schöntag (2013: 301-302). Gegenüber diesen ‚engen‘ Mehrsprachigkeitsdefinitionen, 75 welche sich am idealen bilingualen Sprecher / Hörer als an einem theoretischen Konstrukt orientieren, hat sich heute in der Regel eine ‚weite‘ Definition durchgesetzt. Danach ist mehrsprachig, wer sich irgendwann in seinem Leben im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die anderen wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen, aber unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den beteiligten Sprachen […]. (Lüdi 1996: 234) Ausgehend von der Tatsache, daß sowohl für die zeitgenössischen Gesell‐ schaften, als auch - und dies wird nicht selten idealisiert - für die historischen Gesellschaften, eine wie auch immer geartete Mehrsprachigkeit (unter Ein‐ schluß der Varietäten) den Normalfall darstellt, 76 erweist sich diese hier weit‐ gefaßte Auslegung des Begriffes gerade auch für vorliegende Untersuchung als brauchbar und sinnvoll. Eine spezifische Betrachtung innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung ver‐ dient der Begriff der ‚Diglossie‘, der allgemein als eine funktionale Zweispra‐ chigkeit verstanden wird und schon 1885 erstmals von zwei Gräzisten (Emma‐ nuil Roidis, Jean Psichari) verwendet wurde (cf. Kremnitz 1996: 246), aber dann erst 1928 Eingang in eine Publikation von Jean (Iannis) Psichari auf Französisch fand, die die Grundlage für seine weitere Verbreitung schuf. La diglossie - le fait pour la Grèce d’avoir deux langues - ne consiste pas seulement dans l’usage d’un double vocabulaire, qui veut qu’on appelle le pain de deux noms différents: artos, quand on est un homme instruit, psomi, quand on est peuple; la di‐ glossie porte sur le système grammatical tout entier. Il y a deux façons de prononcer; en un mot, il y a deux langues, la langue parlée et la langue écrite, comme qui dirait l’arabe vulgaire et l’arabe littéral. (Psichari 1928: 66) Psichari (1928: 65) bezieht sich hierbei auf die beiden Varietäten des Griechi‐ schen, nämlich Katharevousa, die im 19. Jahrhundert geschaffene, an das alt‐ griechische angelehnte Bildungssprache, und das Dimotiki, die Umgangssprache des Landes. Dabei erfaßt er zweifelsfrei, wie obiges Zitat deutlich macht, daß es 54 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="55"?> 77 „Des pédants, en tourbillon, se sont abattus sur cette pauvre Grèce dont ils ont com‐ plètement obnubilé la claire vue. Ils ont créé la diglossie, nous verrons tout à l’heure dans quelles conditions précises et sous l’obsession de quels mirages. Sans doute les intentions étaient louables. Mais les esprits étaient mal préparés; ils manquaient de culture générale“ (Psichari 1928: 65-66). 78 Interessanterweise verweist Ferguson (1959: 325-326) zwar explizit auf Kloss in Bezug auf dessen Vorarbeiten zur Standardisierung, den Begriff ‚Diglossie‘ verortet er aber nur vage als ursprünglich französischen und Psichari erwähnt er nur als einen der Autoren zur Sprachenfrage des Griechischen. 79 Ferguson (1959: 330-336) macht das, was Kloss später als ‚höheren Ausbaugrad‘ be‐ zeichnen wird (cf. supra), an einer komplexeren Grammatik der H-Varietät fest, an einem anderen Lexikon und Lautsystem sowie der Tatsache, daß die literarische Pro‐ duktion in dieser Varietät erfolgt. sich um zwei unterschiedliche Varietäten handelt. Ohne daß er explizit von Funktionsteilung der Varietäten spricht, legt er aber durch seine Darstellung den Grundstein für die späteren Auffassungen von Diglossie, mit der Einschrän‐ kung, daß bei ihm noch eine wertende Konnotation mitschwingt. 77 Den Ausgangspunkt für die moderne Forschung bilden schließlich die Über‐ nahme des Begriffs ‚Diglossie‘ durch Ferguson (1959) und seine weiteren Aus‐ führungen, welche Sprachkonstellationen er darunter zu verstehen gedenkt. Er verwendet den Terminus zunächst mit Verweis auf den Kontext der Standardi‐ sierungsprozesse, wie sie bei Kloss geschildert sind, und bringt dann die Mehr‐ sprachigkeit ins Spiel, indem er als Untersuchungsgegenstand folgendes angibt: „[…] standardization, where two varieties of a language exist side by side throughout the community, with each having a definite role to play“ (Ferguson 1959: 325). Diesen Tatbestand der Funktionsdifferenzierung der beiden Varie‐ täten bezeichnet er dann als ‚Diglossie‘. 78 Neben der funktionalen Differenzie‐ rung der beiden Varietäten in einer Sprachgemeinschaft ist das unterschiedliche Prestige ein entscheidender Faktor. Ausgehend von diesem Kriterium be‐ zeichnet er daher die angesehenere Varietät, die dann meist auch die besser ausgebaute und standardisierte ist, 79 als high variety (H) und die weniger pres‐ tigereiche, die in der Regel hauptsächlich die Alltagskommunikation abdeckt, als low variety (L) bzw. insofern es sich um mehrere handelt als low varieties. For convenience of reference the superposed variety in diglossia will be called the H (‚high‘) variety or simply H, and the regional dialects will be called L (‚low‘) varieties or, collectively, simply L. (Ferguson 1959: 327) Die Beispiele, die er dazu aufführt, sind zum einen die schon bei Psichari gege‐ benen, also Griechisch (Katharevousa vs. Dimotiki) und Arabisch (klassisches Arabisch vs. regionale, arabische Umgangssprache) sowie die Sprachsituation 55 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="56"?> 80 Heutzutage würde man bei dem französischbasierten, haitianische Kreol wohl eher von einer eigenen Sprache sprechen und nicht mehr - wie das Ferguson impliziert - von einer Varietät des Französischen. Insofern erscheint dieses Beispiel nach einigen Jahr‐ zehnten Forschung zur Kreolistik als nicht mehr so glücklich und dezidiert von einer anderen Qualität. 81 Entgegen den Ausführungen von Kremnitz (1996: 247-248) verwendet Gumperz den Begriff ‚Diglossie‘ selbst nicht (zumindest nicht in den dort angegebenen Studien), die dahinterstehende Idee scheint bei ihm jedoch relativ klar durch, zumal er auch auf Ferguson referiert, allerdings nicht in dem Umfang wie retrospektiv vielleicht anzu‐ nehmen wäre. Seinen Grundgedanken, der sicherlich Anleihen bei Ferguson hat, for‐ muliert er folgendermaßen: „In bilingual or bi-dialectal societies, however, choice bet‐ ween two dialects or two languages may fulfill social functions similar to stylistic alternation in monolingual societies“ (Gumperz 1971: 30). in der Schweiz mit Standarddeutsch und Schwyzerdeutsch und auf Haiti, wo neben dem français (standard) das créole haïtien gesprochen wird. 80 Für die Abgrenzung von einer „normalen“ Sprachgemeinschaft, die über einen ausgebauten Standard und dazugehörige Dialekte verfügt (stan‐ dard-with-dialects) führt Ferguson (1959: 338) drei Merkmale auf: 1. Es gibt eine nennenswerte Anzahl von kulturell wichtigen Schlüssel‐ texten, wobei diese Literatur in einer Varietät verfaßt wurde, die der Va‐ rietät, die die meisten sprechen, nahesteht, 2. Literalität ist in dieser Gesellschaft auf eine kleine Elite beschränkt, 3. es ist eine gewisse Zeit vergangen (ein paar Jahrhunderte), bis die in 1) und 2) geschilderte Konstellation eingetreten ist. Die aus diesen Merkmalen erwachsende Diglossie-Situation kann durchaus stabil sein und muß auch nicht als „Problem“ empfunden werden, dennoch ist es möglich, daß unter bestimmten Voraussetzungen (cf. Ferguson 1959: 338) eine Entwicklung in Richtung auf ein standard-with-dialects-Verhältnis in Gang kommt. Das von Ferguson (1959) mit den hier kurz skizzierten Grundprinzipien erar‐ beitete Konzept der ‚Diglossie‘ bildete das Referenzmodell für die weitere For‐ schung zu diesem Thema. Durch die Anwendung auf verschiedenen Sprach- und Varietätenkonstellationen ergaben sich dabei Adaptionen und Veränderungen, die dem ursprünglichen Gedanken nicht mehr ganz entspra‐ chen. So appliziert beispielsweise Gumperz (1962, 1964, 1971) das Diglossie-Kon‐ zept auf den Gebrauch von Varietäten, die zwar unterschiedliche Funktionen innerhalb einer Sprachgemeinschaft haben, aber nicht mehr nur wie bei Fer‐ guson rein diatopischer Natur sind und zudem bei den Sprechern nicht mehr als unterschiedliche Idiome wahrgenommen werden. 81 56 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="57"?> 82 „Gumperz […] is primarily responsible for our current awareness that diglossia exists not only in multilingual societies which officially recognize several languages but, also, in societies which are multilingual in the sense that they employ separate dialects, registers or functionally differentiated language varieties of whatever kind“ (Fishman 1967: 30). 83 Fishman geht allerdings nicht darauf ein wie die Sprachkompetenz der native speaker des Spanischen - falls man in diesem Kontext eine einzelne Muttersprache überhaupt zuordnen kann - einzuschätzen ist, es scheint, als ob er diese implizit als monolingual ansieht, was aber ja nicht zwangsläufig so sein muß. Gemäß den Zahlen bei Ka‐ batek / Pusch (2011: 23) sprechen nur 5 % der Bevölkerung kein Spanisch, d. h. 95 % spre‐ chen Guaraní, aber auch 75 % Spanisch. Die prominenteste Modifizierung des Diglossie-Modells ist zweifellos die von Fishman (1967), dessen wichtigste Neuerung darin besteht, daß er die Notwen‐ digkeit der Verwandschaft der beiden im Fokus stehenden Varietäten ablehnt. Bei dieser Auffassung, die er nicht expliziert, die aber durch die Beispiele deut‐ lich werden, lehnt er sich an die Erweiterung von Gumperz an. 82 Fishman ver‐ sucht auch dahingehend eine weitere Differenzierung von mehrsprachigen Sprachgemeinschaften vorzunehmen, indem er eine Matrix entwirft, die fol‐ gende Fälle von koexistierenden Varietäten und Sprachen aufweist: 1) both di‐ glossia and bilingualism, 2) diglossia without bilingualism 3) bilingualism without diglossia, 4) neither diglossia, nor bilingualism (Fishman 1967: 30). Der erste Fall wird dabei u. a. an der Konstellation Spanisch und Guaraní in Paraguay exemp‐ lifiziert, insofern fast das ganze Land zweisprachig ist, aber die beiden Idiome funktional verschieden sind. Das prestigereiche Spanisch sei dabei für die Land‐ bevölkerung Bildungssprache, während die Guaraní-Sprecher, die vom Land in die hispanophone Stadt gezogen sind, ihr ursprüngliche Sprache weiterhin zur in-group-Kommunikation verwenden (cf. Fishman 1967: 31). 83 Das zweite Sze‐ nario wäre beispielsweise die Situation in weiten Teilen Europas vor dem 1. Weltkrieg, als die H-Varietät der Elite das Französische war (cf. Fishman 1967: 33). Zur Konstellation von ‚Bilingualismus ohne Diglossie‘ nennt Ferguson kein Beispiel, beschreibt allgemein historische Situationen wie die der modernen Industriegesellschaften, in denen durch Zuwanderung verschiedene Arten von Zweisprachigkeit auftreten, die aber bald zugunsten der Mehrheitssprache auf‐ gegeben wird, so daß hier eher ein Transitionsstadium vorläge (cf. Fishman 1967: 35). Die letzte Konstellation beschreibt den seltenen Fall einer isolierten Sprachgemeinschaft (ohne Sprachkontakt), welche im Lichte einer historischen Betrachtung meist nicht Bestand haben kann (cf. Fishman 1967: 36-37). Es bleibt diesbezüglich festzuhalten, daß das Schema von Ferguson bei der Anwendung auf zahlreiche Situationen verschiedener Sprachgemeinschaften, aktuelle wie historische, gewisser Differenzierungen bedarf, da die Konstellati‐ 57 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="58"?> 84 Zu einer recht harschen Kritik cf. Dittmar (1973: 218-219): „Diese Klassifizierungen sind jedoch oberflächlich: sie erwecken den Schein, als sei die Sprache urwüchsig einmal bilingual, einmal diglossie-spezifisch ausgeprägt oder beides zugleich. Jedenfalls bleiben die Gründe für diese Ausprägung unreflektiert, obwohl sie im Falle der Diglossie sicherlich zu einem Teil auf die ökonomischen und Machtverhältnisse in Gesellschaften zurückzuführen sind.“ onen in ihrer Charakteristik zum Teil erheblich voneinander abweichen. Den‐ noch ist auch zu konstatieren, daß die Matrix von Fishman zum einen eine „Verwässerung“ des ursprünglichen Diglossiebegriffs nach sich zieht und zum anderen seine Unterscheidung nicht ganz widerspruchsfrei ist. 84 Auch Kloss (1976: 315-316) greift die wichtig gewordene Unterscheidung von Diglossie vs. Bilingualismus auf, und versucht dabei die Aporie zwischen der Auffassung von Ferguson und Fishman dahingehend zu lösen, daß er von ‚Bin‐ nendiglossie‘ (engl. in-diglossia) und ‚Außendiglossie‘ (engl. out-diglossia) spricht, indem er unter ersterer die Diglossie von verwandten Varietäten ver‐ steht und unter letzterer, die von unverwandten. Zudem weist er auf den Fall der Triglossie hin, wobei er einwendet, daß hier wiederum wie in der Konstel‐ lation in Luxembourg in der Regel verschiedene Diglossie-Situationen zugrun‐ deliegen würden, denn zwischen Letzeburgisch und Schriftdeutsch bestehe ein binnendiglossisches Verhältnis, zwischen Letzeburgisch und Französisch hin‐ gegen ein außendiglossisches (Kloss 1976: 322). Der Begriff ‚Diglossie‘, durch den ein wichtiger soziolinguistischer Aspekt in die Forschung zu bilingualen Gesellschaften eingebracht wurde, hat im Fol‐ genden Eingang in weitere Betrachtungen und Modelle gefunden, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann (cf. dazu Kremnitz 1996: 249-254), die aber allgemein die Notwendigkeit unterstreichen, den Kerngedanken ‚Funk‐ tionsdifferenzierung‘ zu beachten, was auch für die in vorliegender Betrachtung zu behandelnden Sprachkonstellationen wichtig ist. Generell sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß bei einer Erweiterung und Modifizierung des ursprünglichen Konzeptes von Ferguson die Gefahr besteht, den Grundgedanken durch ein Zuviel an Nuancierungen zu schwächen und es womöglich ratsamer ist, auf die einzelne Nuancen dann in den konkreten Anwendungsfällen einzugehen, ohne unbedingt jeden anders gearteten Kasus zum Modell zu erheben. Eng verknüpft mit dem Bereich der Mehrsprachigkeit und der Diglossie ist ein weiteres wichtiges Konzept der Soziolinguistik, nämlich das der ‚Domäne‘. Die Tatsache, daß bestimmte Varietäten oder Sprachen in je unterschiedlichen Bereichen des täglichen Lebens angewendet werden, war schon länger eine 58 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="59"?> 85 „Andererseits wird man danach unterscheiden, welche Rolle jeweils jede der Sprachen spielt, ob sie im Haus, auf dem Kinderspielplatz, in der Schule, in der Kirche, in der Staatsverwaltung usw. gesprochen wird. Wichtig ist vor allem, ob eine Sprache nur Unterrichtsfach weniger Stunden ist, wie die Chemie, oder ob sie Unterrichtssprache in allen Fächern ist“ (Schmidt-Rohr 1932: 182). 86 Schmidt-Rohr (1932: 182-184) greift damit, ohne dies begrifflich entsprechen zu fassen, zweifellos dem Phänomen der Überdachung vor, nicht zuletzt weil er auch deutlich erkennt, daß das Prestige bei den Sprachkonstellationen eine Rolle spielt - bei ihm „Rang“ (Schmidt-Rohr 1932: 182) - und Unterscheidungen wie Großsprache vs. Klein‐ sprache trifft sowie die Art der Mundart in ihrem Verhältnis zur Hochsprache berück‐ sichtigt. 87 Fishman übersetzt die Kategorien Schmidt-Rohrs mehr oder weniger wörlich und legt damit den Grundstein für seine Domänen: „[…] the family, the playground and the street, the school (subdivided into language of instruction, subject of instruction, and language of recess and entertainment), the church, literature, the press, the military, the courts, and the governmental bureaucracy (‚Verwaltung‘)“ (Fishman 1964: 37). 88 Die Tatsache, daß diese hier angegebenen Domänen mutatis mutandis kanonisch ge‐ worden sind, zeigt sich beispielsweise an der Auflistung bei Veith (2005: 2002). Grunderkenntnis der Mehrsprachigkeitsforschung, bis sie schließlich von Fishman (1964) mit dem Begriff domain belegt wurde. That languages (or language variants) sometimes replace each other, among some speakers, particularly in certain types or domains of language behavior, under some conditions of intergroup contact, has long aroused curiosity and comment. (Fishman 1964: 32) Dabei beruft sich Fishman (1964: 37, FN 11) auf verschiedene ältere Vorarbeiten bekannter Kollegen der amerikanischen Forschung zu variation und sociolingu‐ istics (z. B. Haugen, Weinreich), aber auch auf eine vergleichsweise sehr frühe Untersuchung von Schmidt-Rohr (1932), der in seinem Kapitel zur Mehrspra‐ chigkeit Überlegungen zum wechselnden Gebrauch von (deutscher) Hoch‐ sprache und dazugehörigem oder fremdem Dialekt anstellt. In der darauffol‐ genden Tabelle, in der er u. a. auf die Sprachsituationen in der Schweiz, Südtirol und Belgien abhebt, gibt er dann folgende Bereiche der Sprachverwendung an, wobei der Schule eine besondere Stellung zukommt: 85 Familie, Spielplatz, Straße, Schule, Kirche, Literatur, Zeitung, Heer, Gericht, Verwaltung. 86 Dies gemahnt deutlich an die im Gefolge von Fishman (1965: 72-75) 87 schließ‐ lich bei Cooper (1969: 196) kanonisch geworden Domänen home (family), neigh‐ bourhood, church, school, work sphere. 88 In diesem Verständnis, d. h. der Abhängigkeit der Wahl einer bestimmten Va‐ rietät oder Sprache von Faktoren, die sich letztlich auf Situationen, Themen und Orte der Sprachverwendung gründen, ist auch folgende Definition im Handbuch 59 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="60"?> 89 Zu Adaption an die aktuelle Gesellschaft cf. Schöntag (2009: 113-114), mit dem Hinweis auch die in den modernen Sprachgemeinschaften immer mehr Raum einnehmende Domäne ‚Freizeit‘ stärker bzw. überhaupt zu berücksichtigen, samt ihren einzelnen Teilfeldern (z. B. Sportarten, Musik, allgm. Jugendtrends mit in-group Charakter). In manchen Ländern Mittel- und Nordeuropas könnten hingegen die Domänen ‚Kirche‘ oder ‚Armee‘ (Abbau der Wehrpflicht) eine zunehmend geringere Rolle spielen. Was die Domäne ‚Nachbarschaft‘ anbelangt, so spielt diese unter Umständen in der Ano‐ nymität einer Großstadt und der allgemeinen Tendenz zur Individualität keine Rolle, kann aber durch einen Parameter wie Freundeskreis oder Bekanntenskreis ersetzt oder ggf. ergänzt werden. Soziolinguistik zu sehen, die die aktuelle Forschungsauffassung adäquat wider‐ gibt: Domänen (engl. domains) des Sprachgebrauchs oder der Sprachwahl sind definiert als abstrakte Konstrukte, die durch zueinander passende Orte, Rollenbeziehungen und Themen bestimmt sind […]; sie bestimmen die Wahl einer Sprache oder einer Variante in einer mehrsprachigen Sprachgemeinschaft mit. Beispiele für Domänen sind Fa‐ milie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Kirche und staatliche Verwaltung. Art und Anzahl der Domänen können je nach Sprachgemeinschaft und Kultur variieren. (Werlen 1996: 335) Neben der weitgehend unumstrittenen Kerndefinition sei hier die Aufmerk‐ samkeit vor allem auf die letzte Bemerkung zur möglichen Variation der Do‐ mänen gerichtet. Es erscheint grundlegend, daß zur adäquaten Beschreibung des Gebrauchs einer Sprache der jeweilige gesellschaftliche Kontext richtig er‐ faßt wird, d. h. daß a priori der Frage nachzugehen ist, welche Bereiche innerhalb einer Gesellschaft dominant und konstitutiv sind. Dabei werden Adaptionen der immer wieder genannten Grunddomänen nötig sein, und zwar im Hinblick so‐ wohl auf aktuelle, als auch historische Konstellationen sowie solchen, die nicht den hier zugrundegelegten westlichen Gesellschaftsformen entsprechen. Dementsprechend könnte eine Zusammenstellung von Domänen der Sprach‐ verwendung für moderne europäische Industriegesellschaften und ihren Ent‐ sprechungen folgendermaßen aussehen: Familie, Nachbarschaft bzw. Freundes- und Bekanntenkreis, Arbeitsplatz, Kirche bzw. religiöse Gemeinschaft, Schule, Universität bzw. Ausbildungsstätte, Militär, (staatliche) Verwaltung, Freizeit. 89 Wichtige Grundlagen der Soziolinguistik, die auch Auswirkungen auf die Varietätenlinguistik und ihre Betrachtungsweise hatten, wurden durch die Stu‐ dien von Labov (z. B. 1966, 1972, 2010) geschaffen. Labov, ein Schüler Weinreichs (1953), ergänzte dessen eher theoretische Analysen zur Mehrsprachigkeitsfor‐ schung sowie die traditionelle Dialektologie europäischer Provenienz um au‐ ßersprachliche, soziale Faktoren, denen er eine besondere Stellung beimaß. 60 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="61"?> 90 Zur sogenannten Defizithypthese von Bernstein cf. Nabrings (1981: 91-93) sowie Sinner (2014: 12); zum Unterschied zwischen Differenzkonzeption und Defizitkonzeption cf. Schlieben-Lange (1978: 73-74). 91 Bernstein (1960: 271) spricht von verschiedenen modes des Sprechens, abhängig von der jeweiligen Gesellschaftsschicht sind. 92 Labov (1972: 259) ist sehr explizit in seinem Vorwurf: „[…] we will find some linguists who spend all their time analyzing their intuitions about language […].“ Er zielt damit u. a. auf die im Entstehen begriffene Generativistik (cf. Chomsky ab 1957/ ²2002), die vor allem in ihrer Anfangsphase soziale Bedingungen der Sprecher systematisch ausblendet (cf. Chomsky 1965: 3). 93 Auch in aktuellen Studien stellt er diese Priorität immer wieder heraus, die er auch als Grundlage zur Beobachtung von Sprachwandelprozessen bestimmt: „Chapter 3 [einer Untersuchung zu Aussprachegewohnheiten in Philadelphia] then yielded a profile of stable sociolinguistic variables across age, gender, social class and neighbourhood that will serve as the template against which change in progress can be measured“ (Labov 2010 II: 149). But linguistic theory can no more ignore the social behavior of speakers of a language than chemical theory can ignore the observed properties of the elements. (Labov 1972: 259) Was die Abhängigkeit von soziokulturellen Variablen anbelangt, so stützt sich Labov auf die Arbeiten Bernsteins, 90 der ab Ende der 1950er Jahre die social class als maßgeblichen Faktor in die Forschung einbringt, ohne daß er allerdings dessen sozialen Determinismus zu übernimmt. 91 Labov wendete sich mit dem von ihm vorsichtig formulierten social behaviour als Parameter explizit gegen die bis dahin vor allem (aber nicht nur) in der ame‐ rikanischen Forschung vorherrschende Tendenz, linguistische Theorien und Modelle auf reine Introspektion des Wissenschaftlers zu gründen. 92 Er betrieb demgemäß Feldstudien, wie auch schon europäische Linguisten, allerdings mit dem Fokus auf dem Sprachbenutzer und dessen gesellschaft‐ lichem Hintergrund, der zur Erklärung bestimmter sprachlicher Phänomene bzw. deren Verbreitung diente. Bekannt wurde vor allem seine Untersuchung zur Aussprache des r-Lautes in New York, dessen verschiedenen Varianten (in unterschiedlicher lautlicher Umgebung) Rückschlüsse auf die soziale Stratifi‐ kation zuließen, da die verschiedenen Aussprachevarianten an einen je unter‐ schiedlichen Grad von Prestige geknüpft sind (Labov 1966: 63-89). Mit diesem Schwerpunkt auf einzelnen Sprachphänomenen, in Korrelation mit der gesell‐ schaftlichen Verankerung der Sprecher, 93 begründete er die Variationslinguistik amerikanischer Prägung, die im Folgenden maßgeblichen Einfluß auf die euro‐ päische Sozio- und Varietätenlinguistik nahm. In der Tradition Labovs stehen auch große Teile der germanistischen For‐ schung, aus der heraus letztendlich wichtige Impulse zur Soziolinguistik und 61 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="62"?> 94 Zu einer Übersicht weiterer hier nicht berücksichtigter Modelle, an denen auch gut das Ineinandergreifen von soziolinguistischen und varietätenlinguistischen Ansätzen deut‐ lich wird, cf. Sinner (2014: 39-90). 95 Die Rezeption des Ansatzes von Berruto in Italien ist vergleichbar mit demjenigen Koch / Oesterreichers in der deutschsprachigen Romanistik, was sich nicht nur durch die auch bei Berruto wiederholende Selbstreferenz zeigt (z. B. Berruto 2008), sondern auch durch die Aufnahme und Akzeptanz in anderen Handbüchern (Zur Architektur des Italienischen nach Berruto cf. beispielsweise Sobrero / Miglietta 2009: 57-60). Nicht zu vergessen ist dabei auch die gegenseitige Einflußnahme beider Modelle. 96 Dies wird damit begründet, daß die „differenziazione geografica abbia un ruolo ‚primi‐ tivo‘, a parte“ bzw. „la dimensione diatopica è stata messa sullo sfondo e considerata in un certo senso a priori“ (Berruto 1987: 20). Varietätenlinguistik entstanden, die dann auch für die romanistische Perspek‐ tive, insbesondere die varietätenlinguistische, d. h. vor allem in Bezug auf die Erweiterung und Präzisierung des Diasystems von Bedeutung sind (cf. z. B. Hammarström 1967; Nabrings 1981). Zum Abschluß des selektiven Überblicks zu einigen wichtigen Positionen und Grundkonzepten der Soziolinguistik, und zwar vor allem solchen, die in Zu‐ sammenhang mit denen der Varietätenlinguistik stehen und die im Folgenden von Belang sein werden, 94 sei auf die Arbeiten von Berruto (z. B. 1987, 2003, 2008) verwiesen. 95 Hier schließt sich der Kreis insofern, als Berruto unter dem label der sociolinguistica innovative Erklärungsansätze zur Strukturierung des Varietätenraumes bietet. Berruto (1987: 21) entwirft ein Modell des Varietäten‐ raumes, das zwar einerseits nur die Architektur des Italienischen abbilden soll (l’italiano contemporaneo), andererseits implizit doch einen allgemeinverbind‐ licheren Anspruch erhebt. Im Gegensatz zu Coseriu bzw. Koch / Oesterreicher ordnet er dabei die verschiedenen Dimensionen nicht übereinander an, sondern stellt die unmarkierte Standardvarietät (italiano standard / neo-standard) ins Zentrum seines Schaubildes, welche von diametralen Achsen der anderen Va‐ rietäten (diastratico, diafasico, diamesico) durchkreuzt wird. Dabei wird die di‐ atopische Dimension völlig ausgeklammert, 96 hinzu kommt jedoch die diame‐ sische nach Mioni, die bei Koch / Oesterreicher als unmarkierte Mündlichkeit / Schriftlichkeit inkorporiert ist (cf. supra). Über den Status der Diamesik ist sich Berruto jedoch selbst unsicher: Il riconoscimento dell’autonomia della dimensione diamesica non è del tutto chiarito in sede teorica. Indubbiamente, uso scritto e uso parlato rappresentano due grandi classi di situazioni d’impiego della lingua: e questo è un buon argomento per ritenere la diamesìa una sottocategoria della diafasìa. D’altra parte, è anche vero che l’oppo‐ sizione scritto-parlato taglia trasversalmente la diafasìa e le altre dimensioni, e non è riconducibile completamente all’opposizione formale-informale. (Berruto 1987: 22) 62 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="63"?> 97 Zur Entstehung der Diamesik als eigene Dimension in der italienischen Linguistik - wohl aus der Diskussion um das italiano popolare und das italiano regionale sowie der zunehmenden Beschäftigung mit der Mündlichkeit im Italienischen (und Französi‐ schen) - cf. Pistolesi (2015: 27-28). Dabei ist zu beachten, daß in den italienischen Mo‐ dellen weder die Kategorien ‚Konzeption‘ und ‚Medium‘, noch ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘ existieren, sofern sie sich nicht explizit darauf beziehen. 98 Das deckt sich mit der entsprechenden Feststellung bei Koch / Oesterreicher (2001: 605, cf. supra). 99 Krefeld (2010b: 68, FN 21) verweist bei dieser Art der Betrachtung auf eine italienische Tradition und verortet Berruto in dieser. 100 Zur Kritik am Modell Berrutos cf. beispielsweise Radtke (2003: 363), der ihm vorhält, „funktionale Variation“ und „mediale Kommunikationsbedingung“ zu vermischen, einen Vorwurf, den man auch Koch / Oesterreicher (2011) machen könnte, die ebenfalls Mündlichkeit / Schriftlichkeit in die Dimensionen der Varietäten integrieren. Zu wei‐ teren kritischen Stimmen, insbesondere in Bezug auf das Achsenmodell cf. Murelli (2011: 32-33) und die dort angegebenen Autoren. Murelli selbst kritisiert die fehlende Im Gegensatz zu dieser Aussage stellt Berruto (1987: 21) jedoch die diamesische Dimension in seiner Graphik als autonome Achse innerhalb der Architektur der Sprache dar. In einem späteren Modell (cf. Berruto 2008: 11) verwirklicht er dann seine offensichtliche Präferenz zur Sicht der Diamesik als Teilmenge der Dia‐ phasik, allerdings unter Beibehaltung seines alten Schaubildes (cf. Berruto 2008: 12). 97 Ohne die Gesamtkonzeption der Gliederung des Varietätenraumes bei Ber‐ ruto en detail besprechen zu können, sei aber hervorgehoben, daß die Idee einer zentralen Position des Standards etwas für sich hat, weil die Standardvarietät tatsächlich auch die Referenzvarietät für alle anderen Varietäten darstellt und damit auch im Bewußtsein der Sprecher eine zentrale Stellung einnimmt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist bei Berruto (1987: 22) auch der Hinweis, daß der Standard nicht im centro geometrico des Modells zu lokalisieren sei, sondern leicht in Richtung des „quadrante scritto, formale, alto“ verschoben ist. 98 Ein grundlegendes Problem bei Berruto ist die als a parte konzipierte Dia‐ topik, was zwar der schon bei Coseriu festgestellten Tatsache Rechnung trägt, daß allein der Dialekt ein komplett eigenständiges Sprachsystem ist (v. supra), während die anderen Varietäten sich nur durch ein gewisses Maß an markierten Elementen vom Standard unterscheiden (cf. Krefeld 2020: 241), aber dadurch fehlt die bei Coseriu und Koch / Oesterreicher hervorgehobene wichtige Inter‐ dependenz der diatopischen Ebene mit der diastratischen und diaphasischen (und diamesischen). 99 Dies vermittelt gerade für das Italienische, das im Gegen‐ satz zum Französischen sehr stark durch die Variation im Raum geprägt ist, trotz der impliziten Berücksichtigung (cf. italiano regionale popolare), ein schiefes Bild. 100 Merkwürdig erscheint auch die Zuordnung der Technik- und Wissen‐ 63 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="64"?> Abgrenzung des Standards vom Non-Standard in Bezug auf die Verortung desselben auf den Achsen der Varietäten, stellt aber vielleicht eine zu hohe Anforderung an ein graphisches Modell. 101 Berruto (1987: 21) diskutiert folgende neun Varietäten, die entlang seiner drei Achsen angesiedelt sind: 1. italiano standard letterario, italiano neo-standard (italiano regionale colto medio), 3. italiano parlato colloquiale, 4. italiano regionale popolare, 5. italiano for‐ male trascurato, 6. italiano gergale, 7. italiano formale aulico, 8. italiano tecnico-scientifico, 9. italiano burocratico. 102 Zum einen fragt man sich hier wieso vier oder (sic! ) fünf, zum anderen, ob dann wohl jede weitere Differenzierung obsolet wäre? Zu einer allgemeinen kritischen Einschät‐ zung des Modells von Berruto cf. Wunderli (2005: 72). schaftssprache (italiano technico-scientifico) sowie der Verwaltungssprache (ita‐ liano burocratico) zur diaphasischen Ebene, die in anderen Modellen meist als Gruppensprachen und nicht als reines Stilregister gesehen werden. Unabhängig von der Frage der Adäquatheit des Achsenmodelles fehlt hierbei weitgehend - und das kann man mutatis mutandis durchaus analog zum Modell Koch / Oes‐ terreicher sehen - eine dezidierte Ausarbeitung (bei Berruto wäre das zunächst nur für das Italienische zu leisten) der einzelnen Varietäten, ihrer Bezeichnungen und ihrer Merkmale sowie deren Zuordnung. Daß Berruto (1987: 26) unter im‐ pliziter Berufung auf das sogenannte Ockhamʼsche Rasiermesser (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem), welches er lapidar als allgemeines saggio principio vorstellt (cf. auch Kap. 6.1.5), seine neun Beispielvarietäten auf nur vier oder fünf reduzieren möchte, 101 ist gerade in diesem Falle wohl kaum im Sinne des Ökonomieprinzips des großen Scholastikers, sondern hier bestünde sehr wohl eine gewisse necessitas, Entitäten und Erklärungen folgen zu lassen. 102 Eine weitere bedenkenswerte Neuerung bei Berruto ist seine im Zuge der Rezeption der Modelle von Fishman, Ferguson und Kloss konzipierte Erweite‐ rung der verschiedenen Formen von Mehrsprachigkeit und deren Interaktion in verschiedenen Sprachgemeinschaften. Auch hier bezieht sich Berruto in erster Linie auf die Situation in Italien und entwirft eine Matrix mit folgenden Kate‐ gorien: bilinguismo sociale, diglossia, dilalia, bidialettismo (Berruto 2003: 206). Um diese Konzepte voneinander abzugrenzen, legt er 13 Faktoren zugrunde, die ihm als Kriterien dienen, um zu bestimmen, wie eine spezifische Art von Zusam‐ menspiel von mehreren Dialekten oder Sprachen in einer Gesellschaft funkti‐ onal miteinander interagieren (Berruto 2003: 205). Diese Faktoren bestehen im Wesentlichen aus Merkmalen, die er aus den Arbeiten jener drei oben genannten Forscher übernimmt und dann versucht weiter zu differenzieren (z. B. Prestige, Abstand- und Ausbausprachen, Kontinuum zwischen Varietäten, Standardisie‐ rung, literarische Tradition, etc.). Neu sind dabei die Begriffe ‚Dilalie‘ und ‚Bi‐ 64 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="65"?> 103 Unter ‚Dilalie‘ versteht er dabei folgende Konstellation einer Sprachgemeinschaft: „La dilalia si differenzia fondamentalmente dalla diglossia perchè il codice A è usato, almeno da una parte della comunità, anche nel parlato conversazionale usuale, e perchè, pur essendo chiara la distinzione funzionale di ambiti di spettanza di A e di B rispettiva‐ mente, vi sono impieghi e domini in cui vengono usati di fatto, ed è normale usare, sia l’una che l’altra varietà, alternativamente o congiuntamente“ (Berruto 2003: 207).s dialektismus‘ (bzw. ‚Polydialektismus‘), die ein Kontinuum an Kategorien zum sozialen Bilingualismus und zur Diglossie schaffen sollen. 103 Im Prinzip liegt hier eine abgeschwächte Diglossie-Situation vor, insofern zwar eine grundsätzliche Funktionsteilung vorliegt, die L-variety hier jedoch mit ausreichend Prestige behaftet ist, so daß sie ebenfalls in zahlreichen Kom‐ munikationssituationen vertreten ist. Als Beispiel führt er das Plattdeutsche oder Bairische in Bezug auf das Hochdeutsche an sowie pauschal die Situationen der Romania. Letztlich handelt es sich dabei um nichts anderes als eine Kons‐ tellation von einem Dialekt mit Prestige (in seinem Verbreitungsgebiet) vs. Hochsprache. Angesicht der Tatsache, daß es einerseits auch zahlreiche Kons‐ tellationen gibt, in denen der Dialekt dezidiert als abwertend betrachtet wird - und hier irrt m. E. Erachtens Berruto z. B. in Bezug auf die Situation in Frankreich (Stichwort: patois) - und andererseits es Forscher gibt, die eine Konstellation Basilekt vs. Hochsprache als Diglossie bezeichnen (und damit diesen Begriff aushöhlen), scheint die Idee einer begrifflichen Fassung einer solchen Situation nicht verkehrt. Unglücklich hingegen erscheint der bidialettismo bzw. polidia‐ lettismo, insofern er nach Berrutos (2003: 209, FN 98) eigenen Angaben nichts anderes ist als standard-with-dialect, also die Tatsache, daß Sprecher neben dem Standard über verschiedene varietà regionali e sociali verfügen. Hier wäre es womöglich geschickter, diese Kategorie dezidiert auf solche Fälle einzuengen, in denen tatsächlich zwei (oder mehrere) diatopische Varietäten zur Verfügung stehen - vorstellbar z. B. in Südtirol mit einer südbairische Varietät und einem dem Trentinischen nahestehenden Regiolekt. Die in den letzten beiden Kapiteln angestellten Überlegungen zu einigen wichtigen Begrifflichkeiten, Konzepten und Modellen der Varietäten- und So‐ ziolinguistik hatten zum Ziel, einige begriffliche Grundlagen für vorliegende Untersuchung zu erörtern und einen kurzen Überblick über den aktuellen For‐ schungsstand zu liefern. 3.1.3 Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums In einem Modell des Varietätenraums für vorliegende Untersuchung soll als Grundgerüst weiterhin auf das Diasystem rekurriert werden und trotz einiger 65 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="66"?> 104 Hunnius (2013: 6) sieht die prinzipielle Differenzierung von einzelsprachlich und uni‐ versal zwar als grundlegend an, stellt jedoch die bei Koch / Oesterreicher postulierte eindeutige Trennung auf der Objektebene in Frage, da er hier, auch angesichts der dor‐ tigen Kapitelaufteilung, die Gefahr eines transitus ab intellectu ad rem vermutet. 105 „[…] the fact that the language we speak or write varies according to the type of situ‐ ation“ (Halliday 1978: 32). Diese Aussage ist eigentlich auf die register variation gemünzt, doch an anderer Stelle geht Halliday (1978: 34) auch darauf ein, daß die Wahl des dialects (hier im englischen Sinne diatopisch u. diastratisch) von dem context of situation ab‐ hängig sei. Der Hintergrund, warum Halliday nicht allgemein von der Situationsbe‐ dingheit der Varietäten spricht, ist wohl seinen Definitionen von dialect als variety ac‐ cording to the user und register als variety according to the use geschuldet (cf. Halliday 1978: 35, table 1). nicht von der Hand zu weisender Vorteile (z. B. Zentrum vs. Peripherie) der graphischen Umsetzung bei Berruto (1987) soll die Darstellung bei Koch / Oes‐ terreicher (2011) als Vorbild dienen. Nicht berücksichtigt werden soll hingen die vierte Dimension - zumindest nicht als eigene Ebene, da es berechtigte Zweifel gibt, ob die an sich wertvolle Konzeption des Nähe-Distanz-Kontinuums Teil des Diasystems sein sollte (cf. supra). Hinzu kommt die dort getroffene Unter‐ scheidung von universaler und einzelsprachlicher Ebene, die anhand der gelie‐ ferten empirischer Daten kaum aufrecht zu erhalten ist. 104 Die in die Nähe-Dis‐ tanz-Dimension bei Koch / Oesterreicher inkorporierte Unterscheidung von Söll (1974) in Bezug auf Konzeption vs. Medium soll ebenfalls einen Platz in einem neuen Gesamtmodell erhalten, jedoch außerhalb der eigentlichen Varietätendi‐ mensionen. Dabei soll berücksichtigt werden, daß dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, mehr Gewicht beigemessen werden sollte (cf. Hunnius 2012: 38-41; Massicot 2015: 190-191), und die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Verquickung sozio- und vari‐ etätenlinguistischer Ansätze soll das hier neu konzipierte bzw. modifizierte Mo‐ dell des Varietätenraumes die Frage der Selektion einer Varietät mitberücksich‐ tigen. Trotz des Einbezugs dieses Aspektes sei betont, daß dabei nicht die Darstellung eines ganzheitlichen Kommunikationsmodelles (mit Rückkopplung Sprecher, Hörer, etc.) anvisiert wird, sondern lediglich die Sprechsituation eine adäquate Einbettung finden soll. Damit soll einerseits der bekannten, grundlegenden Fragestellung der Sozi‐ olinguistik von Fishman (1965), nämlich, wer spricht welche Sprache mit wem und wann (who speaks what language to whom and when,) Rechnung getragen werden und zum anderen die schon bei Halliday (1978) konstatierte Wahlmög‐ lichkeit des Sprechers aus verschiedenen Varietäten berücksichtigt werden. 105 66 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="67"?> 106 „Exactly as in the reality of spoken or written languages, a word without linguistic context is a mere figment and stands for nothing by itself, so in the reality of a spoken living tongue, the utterance has no meaning except in the context of situation“ (Mali‐ nowski 1949: 307). Diese Wahl wiederum ist abhängig vom situationellen Kommunikationskon‐ text. Wie wichtig dieser situationelle Kontext ist, darauf verweist bereits Mali‐ nowski, bevor jener im Zuge des pragmatic turn größere Geltung gewinnt. 106 Der bei Malinowski noch im Sinne eines determinierenden Faktors für die Semantik einer Äußerung verstandene situationelle Kontext wird bei Halliday erweitert und zu einem allgemeinen context of situation, der, wie er sehr treffend beschreibt, verantwortlich ist für die Selektion des jeweiligen Sprachregisters. All language functions in contexts of situation, and is relatable to those contexts. The question is not what peculiarities of vocabulary, or grammar or pronunciation, can be directly accounted for by reference to the situation. It is which kinds of situational factor determine which kinds of selection in the linguistic system. (Halliday 1978: 32) Die Wahl einer Varietät - und in der Regel verfügt jeder Sprecher über mehrere Varietäten - so sei postuliert, hängt von der spezifischen Situation ab, und das gilt eben nicht nur für die diaphasische Dimension (bzw. registers bei Halliday), die Nabrings (1981: 140) auch treffend diasituative Dimension nennt, sondern eben in Bezug auf alle Varietäten, und im Falle einer Mehrsprachigkeit auch in Bezug auf die Wahl der adäquaten Sprache in einer bestimmten Kommunikati‐ onssituation. Auch wenn vielleicht nicht so intendiert, so suggeriert doch ein Modell, wie das von Koch / Oesterreicher (2011) oder auch Berruto (1987), daß die Situation nur in der Diaphasik zum Tragen kommt und dies entspricht wohl nicht der Kommunikationsrealität. Halliday macht das etwas polemisch deut‐ lich, wenn er die Situation zur conditio sine qua non einer Kommunikation er‐ hebt. We do not in fact, first decide what we want to say, independently of the setting, and then dress it up in a garb that is appropriate to it in the context, as some writers on language and language events seem to assume. (Halliday 1978: 33) Daraus folgt, daß der Situation eine weitaus prominentere Stellung innerhalb eines Modells gebührt als bisher verwirklicht und als der a priori determinie‐ rende Faktor anzusehen ist. Dieser Tatsache sei in folgendem Modell zu ‚Dia‐ system und Sprechsituation‘ Rechnung getragen: 67 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="68"?> 107 Einige der Kommunikationsparameter des Modells von Koch / Oesterreicher (2011) sind sekundär dann sehr wohl mit den hier herauspräparierten Faktoren kombinierbar. So spielt beispielsweise der Grad der Vertrautheit zweifellos eine Rolle bei dem Verhältnis Sprecher-Hörer (Produzent-Rezipient), doch ist dies eben so zu verstehen, daß der Hörer hier der prominente Faktor ist, an dem natürlich im Sinne einer Höreridentität weitere Subfaktoren anzugliedern sind (cf. dazu auch die bei Massicot 2015: 185 aufgeführten Erweiterungsfaktoren des Modells von Koch / Oesterreicher). Abb. 2: Diasystem und Sprechsituation Den determinierenden Faktoren der Sprach- und Varietätenwahl liegen u. a. die Erkenntnisse von Nabrings (1981: 140-144) zugrunde, die - allerdings allein für die diasituative Dimension - folgende Parameter festgelegt hat: Gesprächs‐ partner, Medium, Ort der Kommunikation, Thema. Dies sind eindeutig Faktoren, die nicht auf einer Stufe mit den im Modell Koch / Oesterreicher (2011: 13) auf‐ gelisteten Kommunikationsbedingungen stehen können, die ja nach deren Kon‐ zept „nur“ den Grad der Nähe bzw. Distanz beeinflussen, sondern einen promi‐ nenteren Status einnehmen sollten. 107 Wie wichtig der oder die Gesprächspartner bei einer Kommunikation im Allgemeinen und in Bezug auf 68 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="69"?> 108 „Diese Gemeinsamkeit der Voraussetzungen, im Verein mit der Einwirkung, die der Redner durch den Angeredeten erfährt, bedingt es, daß die Rede in hohem Maße als das Ergebnis zweier Größen erscheint: nicht lediglich aus dem Haupte des Redenden entsp‐ rungen, sondern gemeinsames Erzeugnis des Sprechenden und des Hörers“ (Behagel 1927: 15). 109 Dieser Kommunikationskontext wiederum überschneidet sich mit den zuvor genannten Faktoren wie Gesprächspartner, Ort, Thema etc. Damit soll ausgedrückt werden, daß die Kontextfaktoren ganz allgemein sowohl a priori determinierend sind, als auch immer wieder die folgenden einzelnen Selektionsprozesse mitbestimmen. die Wahl der adäquaten Varietät sind, wird schon bei Behagel deutlich. 108 Aus den Ausführungen Behagels geht aber auch der wie bei Nabrings und auch sonst nicht selten als sous-entendu verstandene Sprecher bzw. Produzent der Äuße‐ rung als wichtiger Determinant der Kommunikation hervor. Dies bestätigt auch - um hier einmal den größtmöglichsten zeitlichen Sprung machen - die Untersuchung von Massicot (2014), die als wichtige Faktoren neben dem Thema und dem Medium die Sprecheridentität aufführt. Die Tatsache, daß auch das Kommunikationsziel ein beeinflussender Faktor bei der Wahl der Varietät sein kann, läßt sich aus den bekannten Kommunikationsmodellen bei Bühler (1934: 28) und Jakobson (1979: 88) ableiten. Dies sei dahingehend interpretiert, daß nicht allein das Gegenüber ausschlaggebendes Kriterium ist, sondern unter Umständen eben auch relevant für das, was der Sprecher erreichen möchte, welche Varietät die dafür angemessene ist. Determinierend sind außerdem die gewählte oder vorgegebene Diskurstra‐ dition sowie der soziale und situative Kommunikationskontext (cf. field, tenor, mode) im Sinne Hallidays (cf. Martin / Williams 2004: 121) (v. supra). 109 Diese Pa‐ rameter beeinflussen alle Selektionsvorgänge entscheidend mit. Die erste Selektion, die dann getroffen wird, und zwar aufgrund der deter‐ minierenden Faktoren der Sprechsituation, ist die bezüglich des Mediums. Damit soll hervorgehoben werden, daß das Medium hier nicht irgendein Teil‐ aspekt des Diasystems ist, sondern diesem sozusagen vorgeschaltet, denn zuerst wählt der Sprecher das Medium (code phonique oder code graphique), sofern es nicht durch eine Kommunikationssituation vorgegeben ist, dann die Sprache und die Varietät. Die Versprachlichung der konzeptionellen Nähe bzw. Distanz, ist dabei als sekundär einzustufen, d. h. sie erfolgt unter den Bedingungen der Kommunikationssituation. Eine diamesische Ebene überlagert sozusagen alle weiteren Varietätendimensionen, insofern es sowohl bezüglich des Standards eine mündliche und schriftliche (medial und konzpetionell) Ebene gibt als auch bezüglich aller weiteren Non-Standard-Ebenen, also der Dialekte, Situolekte, Soziolekte etc. (z. B. mündlich vs. schriftlicher Dialektgebrauch). 69 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="70"?> 110 Dabei ist zu bedenken, daß kein Sprecher über alle hier vorgestellten bzw. denkbaren Varietäten verfügt, sondern immer nur über ein begrenztes Inventar, welches je nach Kompetenz größer oder kleiner sein kann. 111 Mit Betonung auf der diatopischen Abstufung ist diese Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Varietäten bereits bei Hermann Paul dokumentiert (cf. Paul 1886: 357). In Kommunikationssituationen, die mehr oder weniger das Medium vor‐ geben, also z. B. bei einem Telefongespräch, einem Vortrag oder ein Bewer‐ bungsschreiben, liegt hier natürlich keine Wahl mehr im eigentliche Sinne vor, doch es bleibt zunächst die Situation (z. B. Wunsch / Pflicht, jmd. zurückzurufen, einen Vortrag zu halten; Notwendigkeit sich zu bewerben), die das Medium de‐ terminiert und womöglich auch die Varietät (z. B. das Stilregister für ein Be‐ werbungsschreiben qua Diskurstradition). Falls es sich nun um eine Kommunikationssituation handelt, bei der nicht bereits eine Sprache bereits a priori feststeht, und in der der Sprecher über meh‐ rere Sprachen verfügt - und dies muß nicht nur im Sinne eines bilingualen Sprechers zu verstehen sein -, aus denen er wählen kann (L 1 , L 2 , L 3 - L x ), un‐ abhängig von der Kompetenz in der jeweiligen Sprache, dann wäre diese Se‐ lektion vom Sprecher vor der Frage nach einer bestimmten Varietät einer Sprache zu treffen. Erst im Folgenden stellt sich für ihn die Wahl, sofern seine Kompetenz in der bestimmten Sprache dies überhaupt zuläßt, ob er sich im un‐ markierten Standard verständigt oder sich für eine wie auch immer markierte Varietät entscheidet. Dies kann jedoch durch Medium oder Diskurstradition auch bereits vorgegeben sein (z. B. in der Schriftsprache eher kein Dialekt, je nach Textsorte ein bestimmtes Stilregister). 110 Die determinierende Sprechsituation ist dabei immer die gleiche, also die Ausgangssituation (cf. determinierende Faktoren), denn die im Modell darge‐ stellten Abfolgen von Selektionen sind in Wirklichkeit Entscheidungen, die der Sprecher aufgrund der einen gegebenen Situation innerhalb eines gesamten Entscheidungsprozesses zur in dieser Kommunikationssituation adäquaten Art des Sprechens trifft. 111 Wichtig erscheint im Folgenden noch einmal zu betonen, daß die Situation, in der sich ein Sprecher befindet - und dies soll bei obigem Modell deutlich werden - nicht nur die Wahl des Stilregisters, also die diaphasische Ebene de‐ terminiert, sondern im gleichen Maße die Frage bestimmt, ob ein Dialekt oder Soziolekt etc. in der nämlichen Situation adäquat ist oder eben nicht. Ändert sich die Sprechsituation insgesamt oder auch nur einzelne Komponenten dieser Situation, so wird unter Umständen wieder aufs Neue nachjustiert. Die Anordnung der determinierenden Faktoren für die Varietätenwahl in obigem Modell ist nicht zufällig, sondern folgt der Rangfolge einer postulierten 70 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="71"?> 112 Cf. vor allem supra, aber auch nochmal explizit Schlieben-Lange (1978: 75): „Ebenso ist es möglich, daß die niedrigen Soziolekte in der Sprache der höheren Schichten die un‐ gezwungenere Stilebene repräsentieren. (Überschneidung diastratisch - diaphasisch)“. Cf. dazu auch die Varietätenkette nach Koch / Oesterreicher supra. 113 Auch heute kann man die Dialekte noch als eigenständige Sprachsysteme mit innerer Variation sehen, sie sind aber zum einen oftmals von der Standardsprache beeinflusst oder überformt und zum anderen in das Diasystem der Gesamtsprache eingegliedert, mit einem deutlichen Bezug zu einer übergeordneten Standardsprache. 114 Cf. dazu Löffler (2003: 56), der diesen Terminus geprägt hat: „Sprachvergleich zwischen mehreren Sprechergruppen ist Soziolinguistik oder diasozialer (diastratischer) System‐ Dominanz, d. h. der wichtigste Faktor ist der der Situation (formell vs. informell, offiziell vs. privat, etc.), gefolgt vom Gesprächspartner (mit Parametern wie be‐ kannt vs. unbekannt, Dialektsprecher vs. Standardsprecher, etc.) und dem Ort der Kommunikation (in Abgrenzung zur Situation rein regional zur verstehen). In nicht so eindeutiger Hierarchisierung stehen folgen schließlich noch die Fak‐ toren Thema (des Gesprächs), der Sprecher selbst (individuelle Disposition) und das Kommunikationsziel. Die Faktoren sind dabei in Bezug auf ihre Prominenz in einer bestimmten Kommunikationssituation als interagierend und interde‐ pendent anzusehen. Was nun die Erfassung des Varietätenraumes mit Hilfe des Diasystems an‐ belangt, so muß man wohl mit bestimmten Aporien leben. Dazu gehört zum einen die, aufgrund der in der sprachlichen Realität engen Verquickung dieser beiden Aspekte, oft unscharfe oder gar unmögliche Trennung von diaphasischer und diastratischer Dimension 112 sowie die Frage, welche Bereiche unter die Di‐ astratik fallen, da ja letztendlich fast alle sprachliche Variation an größere oder kleinere soziale Gruppen gebunden ist (schichtenspezifisches Sprechen, alters‐ spezifisches, berufsspezifisches, etc.). Die diatopische Ebene bleibt zudem eine besondere, da es sich hierbei um historisch gewachsene (Regional-)Sprachen handelt, die einst, in Epochen vor der Herausbildung und Verbreitung einer nationalen Standardsprache, in sich geschlossene vollständige Sprachsysteme bildeten 113 (mit entsprechender Variationsbreite auf allen Dia-Ebenen) und für alle Sprecher, bzw. noch lange für viele, das einzige Kommunikationsidiom dar‐ stellten. So kann auch heute noch die diatopische Ebene für manche Sprecher die Basis der mündlichen Verständigung bilden und ist situationsbedingt nicht zwingend auf gleiche Weise auszublenden bzw. abrufbar wie Varietäten der Di‐ astratik oder der Diaphasik. Für vorliegendes Modell wurde aus diesen Gründen neben der unstrittigen diatopischen Ebene, weiterhin die Unterscheidung von diastratischer und dia‐ phasischer Ebene beibehalten, allerdings mit der Einschränkung, daß anstelle von ‚diastratisch‘ hier der Begriff ‚diasozial‘ bevorzugt wird. 114 Dies sei damit 71 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="72"?> vergleich“. begründet, daß aufgrund seiner etymologischen Herleitung sowie aufgrund seiner häufigen Verwendung im Kontext mit schichtenspezifischem Sprechen dieser Terminus eine zu geringe Extension suggeriert, insofern das in den mo‐ dernen Gesellschaften - und nicht nur dort - dominierende gruppenspezifische Sprechen hier als sekundäres und nicht primäres Verständnis konnotiert wird. Mit ‚diasozial‘ ist demnach also ganz allgemein und neutral das an eine spezi‐ fische soziale Gruppe gebundene Sprechen gemeint - und dies kann natürlich auch ein schichtenspezifisches sein. Deshalb soll im weiteren der Begriff ‚dias‐ tratisch‘ rein auf die Varietäten in Abhängigkeit von sozialen Schichten und Klassen appliziert werden. Für das gruppenspezifische Sprechen hingegen sei in Anlehnung an die homogene griechische Prägung der anderen Begriffe ‚diakoinonisch‘ (zu griech. κοινωνία ‚Gesellschaft, Gemeinschaft‘ bzw. κοινός ‚Teil‐ nehmer, Genosse‘) vorgeschlagen. Beide Begriffe sollen demnach Teilbereiche der diasozialen Dimensionen konstituieren. Alternativ müsste man zur Ver‐ deutlichung von ‚diastratisch im weiteren Sinne‘ (also schichten- und gruppen‐ spezifisch) und ‚diastratisch im engeren Sinne‘ (also nur schichtenspezifisch) sprechen, wobei dann trotzdem eine terminologische Lücke für die rein grup‐ pensprachlichen Varietäten bliebe. Die grundsätzliche Frage, ob es legitim ist, über das Coseriu’sche Dreier-Schema hinaus weitere dia-Dimensionen anzunehmen, sei dahingehend salomonisch beantwortet, daß dies davon abhängt, ob man weitere Varietäten identifizieren kann. Das Problem sei also auf die bereits gestellte Problematik (v. supra), wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät zu sprechen, verla‐ gert. Das extreme Beispiel einer Proliferation von dia-Ebenen war das Modell von Schmidt-Radefeldt, der quasi 1: 1 die metalexikographische dia-Kategori‐ sierung (wie z. B. bei Hausmann 1979) auf die Beschreibung des Varietäten‐ raumes übertragen hat. Wo ist hier also eine Grenze zu ziehen bzw. gibt es eine? Das Grundkriterium ist dabei m. E. nicht die Frage nach der Anzahl der sprachlichen Varianten, die nötig sind, um eine eigenständige Varietät zu pos‐ tulieren, sondern, ob es eine soziale Gruppe gibt, der eine oder mehrere Vari‐ anten klar attribuiert werden kann. Es sei also definiert, daß man von einer Varietät sprechen kann (und nicht nur allge‐ mein von sprachlicher Variation), wenn ein oder mehrere zusammenhängende, spe‐ zifische (markierte) Varianten eindeutig und stabil (über einer längeren Zeitraum) einer bestimmten abgrenzbaren sozialen Gruppe von Sprechern zuzuordnen sind oder eindeutig und stabil in einer bestimmten Sprechsituation zum Tragen kommen. Eine 72 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="73"?> 115 Dies setzt ein strukturalistisch inspiriertes Verständnis von Sprache als Sprachsystem voraus. Cf. dazu Coseriu (1973: 32): „In diesem Sinne ist eine historische Sprache niemals ein einziges ‚Sprachsystem‘, sondern ein Diasystem: eine Summe von Sprachsys‐ temen […].“ 116 Cf. dazu auch das bei Krefeld (2020: 238-239) angesprochene Problem der Einordnung einer hybriden Varietät in das Schema von Koch / Oestrereicher (2011). 117 Gleiches gilt mutatis mutandis für dianormativ, diasituativ, diatextuell etc. 118 Nabrings (1981: 110, FN 111) sieht in der Zuordnung der Fachsprachen zur diastratischen Ebene eine gewisse Willkür - in der Romanistik so etabliert z. B. durch Schlieben-Lange (1978: 73) - da sie sowohl typisch für die sie tragenden sozialen Gruppen sind, also auch für die Situationen und Bereiche in denen sie gebraucht werden (diasituative bzw. di‐ aphasische Ebene). Dies sei aber damit zu rechtfertigen ist, daß viele Varietäten inner‐ halb mehrerer Dimensionen beschreibbar seien und eine rigide Abgrenzung ohnehin nicht durchführbar. Für vorliegende Entscheidung die diatechnische Ebene aus der Di‐ astratik auszugliedern wäre dies aber genau das entscheidende Argument, nämlich die unklare Zuordnung und der sehr eigene stark diversifizierte Bereich der zahlreichen existierenden Fach- und Berufssprachen. Varietät ist dabei immer als ein Teilsystem einer bestimmten Sprache zu verstehen, die durch einen mehrdimensionalen Varietätenraum konstituiert ist. 115 In diesem Sinne ist es zwar nach wie vor der Normalfall, daß eine bestimmte Anzahl von spezifischen sprachlichen Varianten eine Varietät ausmacht, im äu‐ ßersten Fall kann aber eben auch ein Merkmal konstitutiv sein. 116 So wäre dies der Fall der r-Ausprache in den Untersuchungen Labovs (1966), wo allein durch diese Abweichung von der Norm eine soziale Gruppe identifiziert werden kann (hier diastratisch bzw. diasozial zu verstehen) oder die norditalienischen Aus‐ sprache des r-Lautes (uvular), die eine diatopische Zuordnung erlaubt. Aus diesem Grunde sind Bezeichnungen wie ‚diafrequent‘ oder ‚diaplanerisch‘ un‐ passend, da hier zwar auf eine bestimmte Art der Variation innerhalb einer Sprache abgehoben wird, aber die Tatsache, daß bestimmte Lexeme, die allge‐ mein häufiger oder seltener gebraucht werden, oder eben solche, die durch be‐ stimmte Normierungsversuche in die Sprache gelangen, nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zugeordnet werden können. 117 Auf diese Weise kann auch die Existenz einer diatechnischen, diasexuellen sowie diagenerationellen Ebene be‐ gründet werden, d. h. als Varietäten einer bestimmten sozialen Gruppe. Dabei ist zu beachten, daß alle drei Ebenen prinzipiell auch als Subebenen der dias‐ tratischen bzw. diasozialen (genauer: diakoinonischen) Ebene gesehen werden könnten. Aber gerade der Bereich der Fachsprachen nimmt sowohl in der sprachlichen Realität der heutigen Gesellschaft als auch in der sprachwissen‐ schaftlichen Forschung einen sehr breiten Raum ein, so daß eine eigene Ebene durchaus vertretbar erscheint. 118 Die beiden weiteren Ebenen (diasexuell und diagenerationell) sind hingegen womöglich nicht in jeder Sprachgemeinschaft 73 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="74"?> 119 Dittmar (1997: 180-181), versteht ‚Lekt‘ und ‚Varietät‘ als Synonyme und sieht in der Unterscheidung ein rein nominalistisches Problem. Dies sei hier jedoch differenzierter betrachtet, und zwar insofern, als mit ‚Varietät‘ ganz dezidiert zum einen auf die vari‐ etätenlinguistische Perspektive (cf. eigene Definition supra) und die konstitutiven dia-Dimensionen verwiesen sei und damit eine Referenz zu einer historischen Sprache im Sinne Coserius einhergeht, während mit ‚Lekt‘ auf die Definition von Löffler re‐ kurriert wird und darunter allgemein auf eine „Art des Sprechens“ bzw. auf „bestimmte Bereiche des Sprechens“ verstanden werden soll, d. h. auch, daß es Lekte gibt, wie z. B. Xenolekte, Idiolekte etc., die keine Varietät konstituieren - beide Begriffe haben also Überschneidungsbereiche, sind aber nicht synonym. 120 Zu einer Kritik cf. Veith (2005: 75-77). Hinzuweisen wäre zusätzlich noch auf die Son‐ derstellung des Idiolektes, der eigentlich nicht wirklich in dieses Schema paßt, da In‐ dividuen und ihre spezifische Sprechweise ja an alle anderen Arten des Sprechens ebenfalls immer beteiligt sind. Zu einer profunden Auseinandersetzung mit dem Phä‐ nomen des Idiolektes und zu verschiedenen Definitionen cf. Blum (2013: 22-24). klar abgrenzbar oder identifizierbar; sofern dies jedoch möglich ist und ausrei‐ chend Merkmale ermittelbar sind, sind sie als eigenständige Varietätenebenen etablierbar. Schließlich soll in vorliegendem Modell auch der Erkenntnis der vorherigen beiden Kapitel zur Genese und Interaktion sozio- und varietätenlinguistischer Ansätze Rechnung getragen werden, und zwar dahingehend, daß die aus der anglistischen (variationslinguistischen) und germanistischen (soziolinguisti‐ schen) Tradition stammenden Begrifflichkeiten der Lekte konsequenter als bisher, den dia-Begrifflichkeiten gegenübergestellt werden. 119 Löffler ( 1 1985, ²1994: 86) entwickelt dazu ein diversifiziertes Modell, in dem er „Großbereiche des Sprechens“ (Lekte) annimt, die sich überlagern, und zwar in Form von Mediolekten (nach Medium), Funktiolekten (nach Funktion), Dialekte (nach arealer Verteilung), Soziolekten (nach sozialer Gruppe), Sexolekten / Genderlekten (nach Geschlecht), Situolekten (nach Situation / Interaktionstyp) und Idiolekten (nach Individuum). Das Modell macht zweifellos die Vielfalt der Arten des Sprechens deutlich, über die ein Individuum verfügen kann, jedoch fehlt eine gewisse Systematik. 120 Auf der Ebene der Diatopik, gibt es nun neben dem traditionellen Dialekt-Be‐ griff, der im Verständnis Coserius zunächst vor allem primäre Dialekte be‐ zeichnet und terminologischer Ausgangspunkt aller weiteren Lekte ist, den sehr nützlichen Begriff des Regiolektes. Hiermit wird üblicherweise auf die bei Co‐ seriu als tertiärer Dialekt bezeichnete Varietät referiert, die zwischen Standard‐ varietät und primärem Dialekt angesiedelt ist. Dabei ist der Begriff des Regio‐ lektes hier sehr viel eindeutiger und transparenter als die Coseriu’sche Denomination. Was die Abgrenzung großvs. kleinräumig angeht, kann man entsprechend dem in der strukturellen Areallinguistik üblichen 74 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="75"?> 121 Der Begriff ‚Lokolekt‘ geht auf Staib (1980: 85) zurück: „Das Ideal struktureller Sprach‐ betrachtung ist deshalb der homogene, funktionelle Lokolekt, der weder diastratische noch diaphasische Unterschiede aufweist. […] Im Hinblick auf größere regionale Spracheinheiten stellt sich somit die Frage, wie sich dieser Lokolekt nach oben in Rich‐ tung auf den (Regional-)Dialekt und nach unten in Richtung auf den sogenannten ‚Idi‐ olekt‘ abgrenzt.“ In der Romanistik wurde der Begriff beispielsweise von Lang (1982: 148) aufgegriffen und tradiert. 122 Stadtsprachen (Urbanolekte) haben eine eigene Dynamik, insofern sie sich meist durch Migration entwickelt haben; sie sind zwar in erster Linie diatopisch geprägt, haben aber auch eine diastratische Komponente. Die städtischen Zentren bilden einen wichtigen Bezugspunkt, insofern die dortige Varietät sowohl als Ausgleichsidiom für den ihr zu‐ gehörigen Dialektraum funktioniert und zur Standardisierung des entsprechenden Di‐ alektes beitragen kann, andererseits sind diese Kulturzentren meist auch Orte, in denen ein Ausgleichsprozeß zwischen dem hochsprachlichen Standard und der regionalen Umgangssprache stattfindet (Dittmar 1997: 193-195). Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013: 7) bringen noch den Begriff ‚Dorflekt‘ ins Spiel - keine sehr glückliche Prägung. 123 Der Begriff des sociolects or social dialects wurde in den 1960er Jahren in der amerika‐ nischen Variationslinguistik entwickelt, unter maßgeblicher Beteiligung der Studien von Labov (1966, 1972), aufgegriffen u. a. von Hammarström (1967) und Nabrings (1981). bottom-to-top-Konzept zwischen den Gradationsstufen Standardlekt - Dialekt - Regiolekt - Lokolekt unterscheiden (cf. Ebneter 1989: 872). 121 Mit Urbanolekt (cf. Dittmar 1997: 193) wird hingegen eher eine spezifische diatopische Situation von Metropolen oder größeren städtischen Zentren beschrieben. 122 Was die Ebene der Diaphasik angeht, so ist festzustellen, daß die bisherigen Begrifflichkeiten eher schwankend sind, und zwar insofern als hier von Stilre‐ gistern, Stilen, Registern oder Sprachregistern gesprochen wird, so daß mit Situolekt (cf. Dittmar 1997: 206) eine gewisse Einheitlichkeit möglich wäre, zumal auch dieser Begriff relativ transparent ist. Die inzwischen recht übliche Bezeichnung Soziolekt (cf. Dittmar 1997: 189) im Bereich der diastratischen Ebene, erscheint eine recht gute Lösung, um glei‐ chermaßen neutral sowohl gruppenspezifisches als auch schichtenspezifisches Sprechen zu umreißen. 123 Hinzu kommt, daß man hier eine sehr transparente begriffliche Parallele zu diasozial ziehen kann. Das gleiche Argument wäre be‐ züglich des Technolekts vorzubringen, mit der Ergänzung und Präzisierung, daß hierbei nicht allein auf Sprachvariation im Bereich der Technik abgehoben wird, sondern jegliches berufs- und wissenschaftsspezifisches Sprechen miteinbe‐ zogen werden soll. Bei dem noch neueren Feld der diagenerationellen Differenzierung sind auch die Begrifflichkeiten noch recht schwankend und zum Teil wenig etabliert. Am ehesten untersucht ist in der Regel die Jugendsprache, die beispielsweise bei Michel (2011: 194) als Juventulekt bezeichnet wird; eher selten zum Tragen kommt die Sprache der älteren Generation, die mitunter als Gerontolekt (cf. 75 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="76"?> 124 Der Überbegriff ‚Helikialekt‘ erscheint deshalb notwendig, um solchem ambigen und etymologisch auch nicht sehr sinnigen Gebrauch wie bei Merlan / Schmidt-Radefeldt (2013: 7) vorzubeugen, die unter ‚Gerontolekt‘ Kinder- und Jugendsprache sowie Al‐ tersprechweisen verstehen. 125 Veith (2005: 157) differenziert zwischen der Sprache der Frauen / Männer in Bezug auf das natürliche Geschlecht (Sexolekt) und den sprachlichen Abweichungen in Bezug auf das soziale Geschlecht (Genderlekt). Ob man das jedoch sinnvoll unterscheiden kann, erscheint mehr als fraglich, denn sprachliche Variation, die nicht an eine bestimmte Sozialisation gebunden ist, wird es wohl kaum geben. Abgesehen von der Tatsache, ob man diese Art der Markiertheit nicht eher der Diaphasik zurechnen sollte - wie es Veith vorschlägt, sei hier dem Begriff des Sexolektes der Vorzug gegeben, und zwar aufgrund seiner Eindeutigkeit, Transparenz und seiner Parallelität zu diasexuell. Es soll eben auf ein je unterschiedliches Sprachverhalten je nach Geschlecht abgehoben werden (wel‐ ches sich unweigerlich durch soziale Prägung ergibt), ohne deshalb jedoch deshalb Genderlinguistik strictu sensu betreiben zu wollen. 126 Einige Lekte, die im Modell von Löffler (1994: 86) zum Tragen kommen, wurden hier nicht beachtet, und zwar aufgrund der Tatsache, daß die primäre Perspektive hier eine varietätenlinguistische sein soll, also die Ermittlung von Varietäten im Vordergrund steht. Entsprechend der oben gegeben Definition von Varietäten fallen werden be‐ stimmte Lekte hier nicht als Varietäten identifiziert: Idiolekte sind an Individuen ge‐ bunden, nicht an soziale Gruppen, Funktiolekte sind teils der Diaphasik, teils der Dia‐ technik oder Teil eines Spektrums von Textsorten und Diskurstraditionen; Mediolekten wiederum fehlt jegliche spezifische Zuordnung zu einer Gruppe oder Situation. Den bei Dittmar (1997: 216) besprochenen Xenolekten fehlt in der Regel der Faktor der Stabilität. Dittmar 1997: 229-231) oder Gerolekt (Veith 2005: 173) benannt wird. Diesbezüg‐ lich sollte man eine gewisse Konsequenz und Kohärenz in Bezug auf die Be‐ zeichnungen einführen, weshalb hier der Vorschlag sowohl eines neutralen Hy‐ peronyms notwendig erscheint, als auch einer homogenen griechischen Denomination. Aus diesem Grund sollte man sinnvollerweise von Helikialekten (zu griech. ʿηλικία ‚Lebensalter‘), also altersbedingten Sprachunterschieden sprechen, die man in Gerontolekte (griech. γέρων ‚alter Mann‘, ‚alt‘) und Neoto‐ lekte (zu griech. νεότης ‚Jugend‘) differenzieren könnte. 124 Analog zu diesem Vorschlag wären auch die Begrifflichkeiten im Bereich der diasexuellen Ebene zu gestalten, so daß hier neben dem bereits etablierten, neutralen Sexolekt (cf. Dittmar 1997: 228-229) zwischen Androlekt (zu griech. ʾανδρός ‚Mann‘) und Gynaikolekt (zu griech. γυναικός ‚Frau‘) unterschieden werden sollte. 125 Unabhängig von den einzelnen Begrifflichkeiten und ihrer etymologischen Transparenz und Adäquatheit, geht es vor allem darum, mit der Koppelung des Spektrums der Lekte-Denominationen den Termini, die mit der Konzeption des Diasystems einhergehen, ein Begriffsinventar zur Seite zu stellen, das die Vari‐ ation im Varietätenraum einer Sprache so präzise wie möglich zu erfassen hilft. 126 Ziel ist es ja letztlich, die Architektur einer Sprache so exakt wie möglich 76 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="77"?> 127 Da bei der Beschreibung des Lateinischen als Sprache hier nicht einzelne Dokumente analysiert werden, reduziert sich das Modell auf die Darstellung des Varietätenraumes. In Bezug auf die sprachtheoretischen Traktate des 15./ 16. Jh. jedoch, wird im Zuge der Rekontextualisierung durchaus auf determinierende Faktoren wie ‚Diskurstraditionen‘ zurückgegriffen, um die Art der Darstellung herauszuarbeiten. in der gesamten Bandbreiten ihrer Heterogenität beschreiben zu können, dabei die Kategorisierung aber nur so weit zu treiben, als den einzelnen Kategorien dann auch ihnen attribuierbare sprachliche Realitäten gegenüberstehen, die - soweit möglich - klar voneinander abgrenzbar sind. Mit vorliegendem Modell soll also versucht werden, die Gesamtheit des Va‐ rietätenraumes zu erfassen, um auf diese Weise das Verständnis für die sprach‐ liche Realität zu schärfen. Ein Anliegen des Modells war es dabei, deutlich zu machen, daß auch bei einer Darstellung mit dem Fokus auf den Varietäten, die Sprechsituation, d. h. die konstitutiven Faktoren bei der Wahl einer Varietät mehr Raum einnehmen müßten bzw. vielmehr ohne diese zusätzliche Perspek‐ tive die Beschreibung defizitär bleibt. Dies bedeutet auch, daß sowohl dem Spre‐ cher als auch dem Hörer sowie der sozialen Gruppe mehr Gewicht in der Be‐ trachtung einer varietätenlinguistischen Untersuchung zukommen müßte. Diese Überlegungen zu Sprechsituation gelten in erster Linie für zeitgenös‐ sische synchrone Kommunikationssituationen, da nur in diesen die Determi‐ niertheit des Sprechers (und Hörers) adäquat eingeschätzt werden kann. Für eine historische Kommunikationssituation, bei der man auf rein schriftliche Dokumente angewiesen ist, fällt der erste Bereich (‚schriftlich / mündlich‘) der Selektion in obigem Modell weg. Es bleiben dennoch determinierende Faktoren bei der Sprach- und Varietätenwahl, vor allem die Diskurstraditionen, allerdings sind manche Faktoren ungleich schwerer zu ermitteln. Die vorgeschlagene Er‐ weiterung bzw. Präzisierung des Varietätenraumes mit Rückgriff auf die ver‐ schiedenen Terminologien der dia- und der lekte-Begriffe ist hingegen prinzi‐ piell auch in einem historischen Kontext anwendbar. In der vorliegenden Untersuchung soll daher dieses Begriffssystem auch bei der Beschreibung des Lateinischen verwendet werden (cf. Kap. 4). 127 Wie ausdifferenziert dies dabei möglich ist, hängt grundsätzlich von der Dokumentationslage bezüglich der einzelnen sprachlichen Phänomene ab. Was den metasprachlichen Diskurs des 15. und 16. Jh. anbelangt (cf. Kap. 6), so wird diese hier vorgestellte Begriffssystem nicht vollständig zum Tragen kommen können. Dies liegt vor allem darin begründet, daß die Beschreibung des antiken Lateins durch die Humanisten nicht mit gleicher Präzision geleistet werden konnte, wie das heutzutage möglich ist. Die Möglichkeiten, die von den damaligen Gelehrten beschriebenen Phänomene des antiken Lateins im Sinne 77 3.1 Die Anwendung moderner varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Modelle <?page no="78"?> einer modernen Interpretation in einer sozio- und varietätenlinguistische Ter‐ minologie darzustellen, sind daher begrenzt und nur vereinzelt wird es sich an‐ bieten, begrifflich weiter zu differenzieren. In diesem Teil wird deshalb im We‐ sentlichen auf „traditionelle“ Begrifflichkeiten wie ‚diatopisch‘, ‚diastratisch‘, ‚diaphasisch‘ etc. rekurriert. 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung Die methodische Vorgehensweise zur Analyse der frühneuzeitlichen Traktate, die sich mit der Frage nach der Art des Lateins in der Antike auseinandersetzen, soll in vorliegender Arbeit zwei Facetten umfassen (cf. Kap. 1.4). In den vorhe‐ rigen Kapiteln wurde dazu das Inventar der aktuellen varietätenlinguistischen und soziolinguistischen Begrifflichkeiten vorgestellt und diskutiert, mit deren Hilfe die zu untersuchenden Texte aus einem modernen sprachwissenschaftli‐ chen Blickwinkel heraus analysiert werden, zum Teil unter bewußter Ausblen‐ dung zeitgenössischer Implikationen der jeweiligen Epoche (cf. Kap. 3.1.1- 3.1.3). In vorliegendem Kapitel soll hingegen die zweite Perspektive näher dargelegt werden, die dazu dient, die zuvor durch die Applikation moderner Termini und Konzepte entkontextualisierten Traktate dann in ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu rekontextualisieren. Ziel ist es also, im Rahmen einer tradi‐ tionellen philologischen Analyse die literarischen, geschichtlichen und philo‐ sophischen Bezüge, die den einzelnen Texten immanent sind, in Bezug auf die hier relevante Fragestellung adäquat herauszuarbeiten. Dies ist vor dem Hin‐ tergrund zu sehen, daß nur eine möglichst exakte Verortung eines Textes in seinem geistes- und ideengeschichtlichen Kontext die Möglichkeit eröffnet, die im vorliegenden Fall angestrebte Nachzeichnung einer sich verändernden Vor‐ stellung über das Latein der Antike angemessen zu erfassen. Die Kontrastierung mit der modernen sprachwissenschaftlichen Perspektive dient dabei der Schär‐ fung des Blicks auf die untersuchte Fragestellung, so daß auf diese Weise die Ursprünge und frühen Ansätze aktueller sprachgeschichtlicher Erkenntnisse besser herauspräpariert werden können. Im Rahmen dieser zweiten Sichtweise auf die hier zu untersuchenden Trak‐ tate, in der wie eben dargelegt der Text in seinen historischen Bedeutungszu‐ sammenhang eingebettet werden soll, sind die Verfahren der Hermeneutik ein wesentlicher Bestandteil. Dabei sei Hermeneutik ganz allgemein als „Theorie 78 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="79"?> 128 Zu aktuellen Tendenzen der hermeneutischen Forschung cf. beispielsweise Geisenhanslüke (2004: 67-68), Rusterholz (2005b: 157-177), Joisten (2009: 197-210) oder Jung (2012: 136-155). 129 Birus (1982: 19) sieht Schleiermacher nicht nur als „Klassiker“ der Hermeneutik, sondern auch ganz dezidiert als jemanden, der insofern einen Neuanfang begründet, als er die (mittelalterliche, frühneuzeitliche) Lehre vom mehrfachen Schriftsinn überwindet und zugleich dem Autor und seiner Intention eine zentrale Bedeutung beimißt. 130 „Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens für den Einzelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig, und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst. Aber wo der Denkende nötig findet, den Gedanken sich selbst zu fixieren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des ursprünglichen [sic! ], und wird hernach auch Auslegung nötig“ (Schleiermacher 1977: 76). und Methodik […] des Verstehens, Interpretierens und Anwendens von Texten“ (Zabka 2007: 313) verstanden. Ziel der Erkenntnis ist es, einen kohärenten Bedeutungszusammenhang des Inter‐ pretationsgegenstands zu bestimmen oder das Fehlen eines solchen Zusammenhangs kohärent zu erklären. […] Als eine Theorie und Methodik des historischen Fremdverstehens zielt die Herme‐ neutik auf die Rekonstruktion jener Bedeutungen, die einem Text im Kontext seiner Entstehung zukamen. (Zabka 2007: 313) In dieser Definition des hermeneutischen Grundgedankens ist für vorliegende Zielsetzung vor allem der zweite Teil relevant, insofern das Anliegen der Un‐ tersuchung die Rekonstruktion einer geistesgeschichtlichen Entwicklung dar‐ stellt, die anhand ausgewählter frühneuzeitlicher Traktate sichtbar gemacht werden soll. Im Folgenden seien einige Aspekte traditioneller Modelle und Konzepte der Hermeneutik, die für das hier angestrebte Vorgehen von Relevanz sind, heraus‐ gegriffen und vorgestellt. 128 Der Ausgangspunkt der modernen Textanalyse- und interpretation ist der heutigen communis opinio folgend die Hermeneutik Fried‐ rich Schleiermachers (1768-1834), die in Bezug auf die zuvor von der herme‐ neutica sacra und der hermeneutica profana geprägten Zweiteilung der theolo‐ gischen und juristischen Perspektive einen Neuanfang markierte. 129 Dabei war der Ansatz Schleiermachers insofern neu, als er das Verstehen an sich sowie die Auslegung als Dreh- und Angelpunkte eines Textverständnisses formulierte und problematisierte (cf. Geisenhanslüke 2004: 44; Rusterholz 2005a: 113). 130 Für die hier vorzunehmende Textanalyse bedeutet dies, daß die Kunst des Verstehens darin liegt, die zur Verfügung stehenden Schriftzeugnisse hinsichtlich ihrer sprachlichen Eigenart, ihrer Zielsetzung und ihrer geistesgeschichtlichen Verankerung entsprechend einzuordnen und nur vor diesem Hintergrund vor‐ 79 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung <?page no="80"?> 131 „Darin liegt die unermeßliche Bedeutung der Literatur für unser Verständnis des geis‐ tigen Lebens und der Geschichte, daß in der Sprache allein das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet. Daher hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpre‐ tation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins“ (Dilthey 1990: 319). 132 Das reine Verstehen ist auch bei Heidegger wichtigster Bestandteil des hermeneuti‐ schen Verständnisses: „Alle Auslegung gründet im Verstehen. Das in der Auslegung Gegliederte als solches und im Verstehen überhaupt als Gliederbares Vorgezeichnete ist der Sinn“ (Heidegger 1957: 153). sichtige Schlüsse über das darin ausgedrückte Denken zu ziehen bzw. die da‐ hinterstehenden Ideen und Vorstellungswelten zu rekonstruieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt hinsichtlich des vorliegenden Anliegens findet sich in den Schriften Wilhelm Diltheys (1833-1911). Die von Dilthey entwickelte Hermeneutik basiert zunächst auf den theoretischen Ausführungen Schleier‐ machers, geht aber darüber hinaus. Er erweitert beispielweise die „Kunst des Verstehens“ zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie, zu einer „methodischen Auseinandersetzung mit Gegenständen der Kultur“ (Rusterholz 2005a: 119). In Bezug auf schriftliche Äußerungen, die ein Teil davon sind, präzisiert er seine Vorstellung eines methodisch angelegten Erkenntnisprozesses als „kunstmä‐ ßige[s] Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen“, welches er wie‐ derum als „Auslegung oder Interpretation“ (Dilthey 1990: 319) benannt haben möchte. Diese schriftlich fixierten Äußerungen, vornehmlich in Form von Li‐ teratur (aber nicht nur), sind Ausdruck des menschlichen Seins und Schaffens; der Zugang erfolgt dabei über die Sprache. 131 Es soll nun eine letzte Anleihe bei der „klassischen“ Hermeneutik vorge‐ nommen und diesbezüglich einige Überlegungen aus den Schriften Hans-Georg Gadamers (1900-2002) dargelegt werden. Gadamers Blick auf das Verstehen von Texten bzw. von Äußerungen im Allgemeinen ist von einem auf Martin Hei‐ degger (1889-1976) zurückgehenden Wahrheitsanspruch geprägt, d. h. Anliegen ist es, „eine Erfahrung von Wahrheit auszumachen, die speziell in der Kunst zutage tritt“ (Geisenhanslüke 2004: 54), um so die Geisteswissenschaften im Ver‐ gleich mit den Naturwissenschaften entsprechend aufzuwerten. Schlüssel für das Verstehen ist dabei wiederum die Sprache, wobei es ihm vorrangig nicht rein um das Verstehen geht, sondern um Verständigung. 132 Basis ist deshalb in erster Linie die lebendige Rede, die schriftlichen Erzeugnisse müssen deshalb sozusagen erst wieder zum Sprechen gebracht werden, denn die „Urszene des Verstehens ist das Gespräch“ (Watzka 2014: 213). Zentraler Punkt der Herme‐ neutik Gadamers ist der Aspekt der Historizität im Verstehen (cf. Gander 80 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="81"?> 133 „Eine Überlieferung verstehen, verlangt also gewiß historischen Horizont. Aber es kann sich nicht darum handeln, daß man diesen Horizont gewinnt, indem man sich in eine historische Situation versetzt. Man muß vielmehr immer schon Horizont haben, um sich dergestalt in eine Situation versetzen zu können“ (Gadamer 2010: 309-310). 134 Weitere wichtige Elemente der vielfältigen Betrachtungen Gadamers zur Hermeneutik in diesem Kontext, wären beispielsweise das „kritisch reflektierte Verstehen“, die „in‐ haltlichen Vormeinungen“ oder die beiden Arten von „Vorurteilen“ („persönliche“ und „undurchschaute“), die es bei der Textinterpretation zu überwinden gilt; cf. dazu Gander (2011: 94-97). 135 Bezüglich Gadamer weist Koselleck daraufhin, daß dieser die Hermeneutik umfas‐ sender versteht: „Gadamers Hermeneutik enthält implizit, teils explizit, den Anspruch, die Historik zu umgreifen“ (Koselleck 1987: 10). Koselleck (1987: 11) selbst möchte jedoch die Historik, d. h. die Theorie der Geschichte, nicht als Unterkategorie der Hermeneutik verstanden wissen. 2011: 93). 133 Dabei ist hervorzuheben, daß die von ihm angesprochenen Hori‐ zonte nicht im eigentlichen Sinne verschmelzen, sondern daß es unter Berück‐ sichtigung von Traditionsprozessen darum geht, einen Gegenwartshorizont von anderen historischen Horizonten zu isolieren. Dieser kann jedoch nicht für sich bestehen, sondern nur im Kontext der anderen bzw. aller, die es als Rezipient immer wieder neu zu bestimmen gilt (cf. Rusterholz 2005a: 126). 134 Aus den bisher angeführten Ausführungen Schleiermachers, Diltheys und Gadamers sind deshalb folgende hier zentrale Elemente herauszugreifen: Aus‐ gangspunkt der Untersuchung bilden schriftliche Zeugnisse, die wiederum Ge‐ dankengänge ihrer Autoren widerspiegeln. Um nun wie für vorliegende Unter‐ suchung erstrebt, die Vorstellungswelt einer vergangenen Zeit zu rekonstruieren, ist es nötig, bei der Untersuchung der zur Verfügung stehenden Texte die historischen Implikationen der Epoche zu berücksichtigen und bei der Interpretation und Auslegung die Schlüsselfunktion der Sprache dahingehend in Betracht zu ziehen, daß die Diskrepanz zwischen je unterschiedlich ver‐ sprachlichtem Text und daraus ableitbaren Gedankengängen bzw. erschließ‐ baren Vorstellungen und Konzepten berücksichtigt wird. Dies bedeutet letzt‐ endlich vor allem Vorsicht bei den interpretatorischen Schlußfolgerungen aus dem vorhandenen Textmaterial obwalten zu lassen und dabei alle zeitgeschicht‐ lichen Implikationen möglichst adäquat einzubeziehen. An diesem Punkt trifft die Hermeneutik, die nicht selten literarische Texte im Fokus hat, also Texte mit einem ästhetischen Anspruch und einer entsprech‐ enden, dezidierten Wirkungsabsicht, auch auf die Geschichtswissenschaft, die ebenfalls an der Auslegung von Schriftzeugnissen interessiert ist. 135 Historio‐ graphische Texte dienen zwar dazu, historische Ereignisse und Abläufe ent‐ sprechend der Wahrheit darzustellen (Simon 1996: 277), so der grundsätzliche Anspruch, nichtsdestoweniger ist es auch möglich, diese als literarische Er‐ 81 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung <?page no="82"?> 136 Zum narrativen Element in der Geschichtsschreibung cf. Stempel (1973), der auch der Frage des Verhältnisses von Historiographie und Literatur nachgeht (1973: 344). 137 Die Verschränkung von Hermeneutik und Geschichtswissenschaft geht bereits auf Jo‐ hann Gustav Droysen (1808-1884) zurück, der den Umgang mit den historischen Quellen in drei methodische Schritte einteilt, nämlich die Heuristik (Festlegung eines Themas und Formulierung einer Fragestellung), die Kritik (methodische Vorüberlegung für ein Verstehen bzw. Ergebnis) und schließlich die Interpretation (Lehre vom Ver‐ stehen). Insbesondere die letzten beiden Arbeitsschritte sind dabei stark von der zeit‐ genössischen und älteren Hermeneutik inspiriert (cf. Jordan 2013: 48-49). Die herme‐ neutischen Methoden bleiben jedoch auch in den moderneren Strömungen der historischen Untersuchungsansätze präsent (cf. Jordan 2013: 107, 120-122). 138 Daß die Hermeneutik am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen anzusiedeln ist, zeigt sich schon allein an den bisher aufgeführten Wissenschaftlern, die daraus gewinnbrin‐ gende Anleihen für ihr eigenes Fach reklamieren - z. B. Schleiermacher (Philologie), Gadamer (Philosophie), Koselleck (Historik, Historiographie), Stempel (Sprachwissen‐ schaft) - zugleich aber auch koproduktiv arbeiten. zeugnisse im weiteren Sinne (d. h. Schriftzeugnisse mit spezifischen Inszenie‐ rungsstrategien und Kommunikationsabsichten) mit hermeneutischen Me‐ thoden zu beleuchten oder wie es Simon (1996: 277) prägnant formuliert: „Historiographie ist Literatur, also der Literaturgeschichte und -kritik zugäng‐ lich […].“ 136 Die Wechselwirkung zwischen literaturwissenschaftlichen herme‐ neutischen Methoden und der Perspektive des Historikers besteht demnach darin, daß der zu untersuchende Text einerseits als sprachliches und damit in sensu largo literarisches Produkt zu sehen ist, und andererseits als ein geistes‐ geschichtliches, welches in einen entsprechenden Diskurs eingebunden ist, der wiederum den Zugang zu historischen Fakten ermöglicht (soweit objekti‐ vierbar). 137 Dies ist für vorliegende Untersuchung insofern relevant, da aus den Traktaten des Korpus, die ja mit je unterschiedlichen Zielsetzungen (literaturtheoretische, historiographische, sprachtheoretische, etc.) konzipiert wurden und keine lite‐ rarischen Produkte im engsten Sinne sind, der jeweilige Kenntnisstand in der Debatte um das antike Latein herausgelesen werden soll, d. h. als historische Fakten eines Diskurses zu rekonstruieren ist. Anschließend an diese kursorischen Ausführungen zur Hermeneutik, die in erster Linie dem Traditionsstrang der traditionell verstandenen Philologie zu‐ zurechnen ist, aber auch in anderen Disziplinen gewinnbringend Anwendung findet, 138 sollen nun die disiecta membra der Literatur- und Sprachwissenschaft wieder zusammengeführt werden und zusätzlich Aspekte der Nützlichkeit 82 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="83"?> 139 Einige moderne Ansätze, die sich die angesprochenen Konvergenzen zu Nutze machen, für vorliegende Belange aber überwiegend nicht zentral sein können, finden sich bei‐ spielsweise in dem Sammelband von Hermanns / Holly (2010). 140 Spitzer selbst führt seinen „Zirkel“ auf Dilthey bzw. Schleiermacher zurück: „Und der Zirkel […] ist auch kein circulus vitiosus, sondern stellt ganz im Gegenteil das Grund‐ verfahren der Geisteswissenschaften dar: den Zirkel des Verstehens hat Dilthey die Ent‐ deckung des romantischen Gelehrten und Theologen Schleiermacher genannt, daß Er‐ kenntnis in der Philologie nicht nur durch das allmähliche Fortschreiten von Detail zu Detail erreicht wird, sondern auch durch das ahnende Begreifen des Ganzen […]“ (Spitzer 1969: 24-25). Zu weiteren Aspekten von Spitzers ganzheitlicher Perspektive cf. Huszai (2007: 141-147); zu den verschiedenen Arten der Bedeutungen und damit zu‐ gleich Problemstellungen oder Dilemmata des hermeneutischen Zirkels im Allge‐ meinen cf. Stegmüller (2008: 198). dieser Vorgehensweise auch für die linguistische Analyse herausgestellt werden. 139 Auf bestimmte Konvergenzen beider Fachdisziplinen hat auch Leo Spitzer (1887-1960) hingewiesen, der sich in seinen Schriften oft sowohl mit literatur‐ wissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hat als auch mit solchen der schwer einzuordnenden Stilistik. In seinem erstmals auf Englisch erschienen Buch Linguistics and Literary History (1948) gibt er in seinem einleitenden Aufsatz einige wichtige, eher praxisorientierte Leitge‐ danken zum Umgang mit literarischen Texten. Warum behaupte ich so nachdrücklich, daß es unmöglich ist, dem Leser eine schritt‐ weise Anleitung zum Verständnis eines Kunstwerks an die Hand zu geben? In erster Linie, weil der erste Schritt, von dem alles abhängen kann, nie im Vorhinein geplant werden kann: er muß schon stattgefunden haben. (Spitzer 1969: 31) Im Weiteren präzisiert Spitzer (1969: 31) diesen ersten Schritt, der darin bestehen sollte, daß man über ein bestimmtes Detail eine Erkenntnis gewinnt, sodann diese mit dem gesamten literarischen (Kunst)Werk in Relation setzt, dazu eine Theorie konzipiert und aus dieser Konstellation heraus eine bestimmte Frage‐ stellung an den Text heranträgt. Voraussetzung ist dabei nicht nur eine gewisse Erfahrung, Begabung und ein methodisches Vorgehen, sondern auch ein wie‐ derholtes Lesen. Die Untersuchung eines Textes ist dabei von einer gewissen Zirkularität geprägt, denn erst wenn für einen bereits einen Zugang besteht, kann man weiteren bzw. tieferen Zugang erlangen, was er tautologisch dahin‐ gehend synthetisiert, „daß Lesen wirklich bedeutet, gelesen zu haben, und daß Verstehen bedeutet, verstanden zu haben“ (Spitzer 1969: 32). 140 Ein anderer wichtiger Hinweis Spitzers in Bezug auf das hermeneutische Vorgehen ist in der Mahnung zur Vorsicht bei der Analyse verschiedener Kunst‐ 83 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung <?page no="84"?> 141 Für eine exaktere Relation zwischen der Rekontextualisierung Oesterreichers und der recontextualization Fleischmans cf. auch Schöntag (2017b: 113). 142 Hierbei sei auf die besondere Problematik auf die in der Frühen Neuzeit nicht selten auftretende Form der dialoghaften Abhandlung verwiesen, die im Rahmen einer Dis‐ kurstradition des ‚platonischen Dialogs‘ und der fingierten Mündlichkeit zu sehen ist. werke zu sehen, da die Verschlüsselung durch die Sprache eine je spezifische darstellt. Der Grund dafür, daß der Schlüssel zum Verständnis nicht mechanisch von einem Kunstwerk auf das andere übertragen werden kann, liegt in der künstlerischen Aus‐ drucksweise selbst. (Spitzer 1969: 33) Dieser Gedanke ist insofern von Belang, als bei einer Analyse jeder Text und vor allem Texte verschiedener Produzenten immer wieder auf die Art ihrer Zu‐ gänglichkeit hin befragt werden müssen oder konkreter ausgedrückt: Ist die applizierte Methode in vorliegendem Fall noch valide oder womöglich zu vari‐ ieren? Spitzers Ausführungen sind dabei unabhängig davon zu sehen, ob die Frage einen eher literaturwissenschaftlichen oder sprachwissenschaftlichen Hinter‐ grund hat, und somit für vorliegende Untersuchung in jedem Fall von Relevanz. Die Erarbeitung einer Fragestellung, die nicht ohne vorheriges Sich-Ausei‐ nander-Setzen mit dem schriftlichen, künstlerischen Produkt - dazu zählt auch ein Traktat - möglich ist, soll hier genauso Beachtung finden wie die Berück‐ sichtigung der sprachlichen (bzw. stilistischen) Implikationen der je einzelnen Texte, die unter Umständen eine andere Herangehensweise erfordern könnten. Zuletzt sei nun auf den bereits mehrfach formulierten (cf. Kap. 1) zentralen Aspekt der hier geplanten analytischen Methode eingegangen, nämlich auf die Rekontextualisierung. Diesen Terminus verwendet Oesterreicher (1998: 21-22) mit Rückgriff auf Fleischman (1990: 37) als Schlüsselbegriff, 141 um auf die Be‐ deutung der notwendigen Rekonstruktion des Kommunikationsraumes (bzw. des Produktions- und Rezeptionskontextes), in dem ein historischer Text einst funktionierte, hinzuweisen. Seine Herangehensweise ist vor dem Hintergrund des von ihm mitentwickelten Konzeptes von Nähe-Distanz zu sehen (cf. Koch / Oesterreicher 2011), so daß für ihn die zentrale Frage zunächst lautet, welche Kommunikationsbedingungen bei einem bestimmten Text anzusetzen sind (cf. Kap. 3.1.1). Jeder Diskurs und jeder Text ist eingebettet in einen be‐ stimmten Handlungszusammenhang mit wiederum spezifischen Kommunika‐ tionsbedingungen wie ‚Grad der Öffentlichkeit‘, ‚Grad der Vertrautheit der Partner‘, ‚Grad der emotionalen Beteiligung‘ und ’physischen Nähe der Kom‐ munikationspartner‘, ‚Grad der Kooperation‘, ‚Grad der Dialogizität‘ 142 oder 84 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="85"?> 143 Zur vollständigen Liste der Kommunikationsbedingungen und weiteren Explikationen sowie der damit zusammenhängenden Problematik cf. Koch / Oesterreicher (2011: 7-10) sowie Kap. 3.1.1. 144 Auch Watzka (2014: 211) weist auf die scheinbar triviale Tatsache hin, daß das Verstehen von Texten im Gegensatz zu mündlichen Sprechakten u. a. dadurch erschwert wird, daß keine Rückfragen an den Autor möglich sind, zudem man - und dies gilt insbesondere bei literarischen Texten - die Intention des Autors und den transportierten Textsinn nicht als identisch annehmen sollte. Dies liegt vor allem an der komplexen Struktur eines schriftlichen Textes, dessen Charakteristika er treffend beschreibt: „Ein Text ist mehr als eine Verkettung von Sätzen, er ist ein durchgearbeitetes Ganzes (Werk, Kom‐ position), er exemplifiziert eine oder mehrere Formen und Gattungen, er besitzt indi‐ viduelle oder epochenspezifische Stilmerkmale, er verweist auf frühere oder spätere Texte, er entfaltet eine Wirkungsgeschichte, er ist in einer fremden oder nicht mehr gebräuchlichen Sprache geschrieben, usw.“ (Watzka 2014: 211). ‚Grad der Themenfixierung‘. 143 Während (mündliche) Nähediskurse im Allge‐ meinen stark von einer außersprachlichen Situations- und Handlungseinbet‐ tung gekennzeichnet sind, so daß deren Bedeutung nur unter Kenntnis dieses Kotextes rekonstruierbar ist, sind (schriftliche) Distanzdiskurse prinzipiell mit expliziteren Referenzbezügen ausgestattet. Handelt es sich jedoch um Schrift‐ produkte, deren Entstehungszeit nicht mehr ohne weiteres mit den aktuellen Parametern bestimmt werden kann, so kann sich die adäquate Einordnung - insbesondere von literarischen Texten, aber auch von juristischen, historiogra‐ phischen, theologischen und anderen komplexen Gebrauchstexten - deutlich schwieriger gestalten. 144 Dies liegt unter anderem daran, daß vor allem bei his‐ torisch weiter zurückliegenden Kommunikationssituationen, in denen einst ein bestimmter Text eingebettet war, die Beleglage für die Zeit womöglich lücken‐ haft ist - sicherlich jedoch in irgendeiner Weise defizitär. Ganz prinzipiell ist es jedoch auch der Tatsache geschuldet, daß es bei schriftlich niedergelegten Dis‐ kursen immer zu einer, wie es Oesterreicher (1998: 22) nennt, „raum-zeitliche[n] Entkoppelung der Kommunikationssituation“ kommt oder, wie es Ehlich (2010: 542) ausdrückt, zu einer „zerdehnten Sprechsituation“. Aus dieser Kons‐ tellation heraus plädiert Oesterreicher für eine umso größere Notwendigkeit, diachrone Schriftzeugnisse in ihre ursprüngliche Kommunikationssituation zu rekontextualisieren: Die texthermeneutische Frage stellt sich jedoch insofern verschärft, als sich unter Umständen keine oder nur unvollständige oder einfach zu wenig historische Infor‐ mationen zum jeweiligen kommunikativen Geschehen beibringen lassen. Trotzdem sind diese Texte grundsätzlich daraufhin zu befragen, wie sich ihre uns vorliegende schriftlich fixierte Form zu einem originären kommunikativen Geschehen verhält, das in der Regel zumindest in seiner Grundstruktur rekonstruiert werden kann. Den all‐ 85 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung <?page no="86"?> 145 Zu den Begrifflichkeiten und Konzepten ‚Diskurstradition‘, ‚Verschriftung‘ und ‚Ver‐ schriftlichung‘ cf. Kap. 3.1.1. 146 „Der Betrachter ist gezwungen, hier grundsätzlich von einer De-Kontextualisierung, einer De-Inszenierung und einer Reduktion der vielfältigen semiotischen Modi des ur‐ sprünglichen kommunikativen Geschehens auszugehen“ (Oesterreicher 1998: 24). gemein hermeneutisch zu konzipierenden Prozeß dieser Rekonstruktion der ver‐ schiedenen semiotischen Bezüge der Texte durch den Betrachter bezeichne ich im folgenden als Rekontextualisierung, die teilweise auch als eine Re-Inszenierung von Texten verstanden werden kann. (Oesterreicher 1998: 22-23) Im Zuge dieses hermeneutischen Vorgehens sind sowohl Implikationen, die aus der jeweiligen diskurstraditionellen Verankerung eines Textes resultieren, zu berücksichtigen, als auch solche, die sich durch den Verschriftungs- und Ver‐ schriftlichungsprozeß ergeben. 145 Ziel ist es dabei, letztendlich die „Verluste“ des kommunikativen Rahmens einer historischen Konstellation soweit als möglich auszugleichen und die einstige „diskursive Einbettung“ wiederherzustellen (Oesterreicher 1998: 24). 146 Im Zuge seiner Überlegungen zur Problematik historischer Schrifterzeug‐ nisse führt Oesterreicher (1998: 26-27) noch einen weiteren Begriff ein, nämlich den der Textzentrierung. Darunter versteht er einen „schriftkulturelle[n] Prozeß, bei dem die ‚Ausblendung‘ der mit Diskursen ursprünglich verbundenen Vielfalt semiotischer Ausdrucksmodalitäten sich historisch sukzessive fixieren und dis‐ kurstraditionell festschreiben kann“ (Oesterreicher 1988: 26). Dabei geht es vor allem um die beispielsweise in der mittelalterlichen Dichtung sichtbar werd‐ enden Verfahren bei der Herausbildung von schriftlichen Diskurstraditionen, die zum Teil auf mündlichen Vorläufern basieren. In diesem Prozeß der Neu‐ konstituierung treten bestimmte semiotische Verfahren eines Nähediskurses in den Hintergrund, während andererseits Textualitätsanteile zunehmen (Oester‐ reicher 1998: 27). Ohne prinzipiell diesen Prozeß und die damit verbundenen Veränderungen in der Kommunikation in Abrede stellen zu wollen, erscheint doch der wesent‐ lichere Aspekt dieser beiden, die Oesterreicher (1998: 27) „wohlunterschieden“ wissen möchte, derjenige der Rekontextualisierung zu sein. Aus diesem Grund soll dieses Prinzip, welches wichtige hermeneutische Verfahren impliziert, auch in vorliegender Untersuchung zentraler Bestandteil sein und als „Gegenge‐ wicht“ zu einer rein nach modernen linguistischen Termini ausgerichteten Tex‐ tinterpretation (cf. Kap. 3.1) fungieren. Im Rahmen der in der einleitenden Zielsetzung beschriebenen Methodik des Vorgehens in Bezug auf die Analyse der frühneuzeitlichen Texte (cf. Kap. 1.4) 86 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="87"?> 147 Zu einer Art modernen Variante der hermeneutischen Analyse aus Sicht der Kommu‐ nikations- und Sozialforschung cf. Mayring, der seinen Ansatz folgendermaßen cha‐ rakterisiert: „Der Grundgedanke des hier vorgestellten Ansatzes ist dabei, die Vorteile der in den Kommunikationswissenschaften entwickelten quantitativen Inhaltsanalyse zu bewahren und auf qualitativ-interpretative Auswertungsschritte zu übertragen und weiter zu entwickeln“ (Mayring 2000: § 2). bildet die Herangehensweise mittels aktueller varietätenlinguistischer und so‐ ziolinguistischer Begrifflichkeiten, deren Grundlagen bereits erläutert wurden (cf. Kap. 3.1), den Fokus vorliegender Untersuchung. Eine rein auf dieser Me‐ thode fußende Analyse würde jedoch Gefahr laufen, voreilige oder ganz allge‐ mein zu kurz greifende Ergebnisse zu folgern, vor allem im Hinblick auf eine womöglich überinterpretierte Modernität - im Sinne eines aktuellen linguisti‐ schen Verständnisses - der untersuchten Texte. Daher ist die hier vorgestellte Rekontextualisierung, im Sinne einer adäquaten zeitgeschichtlichen Veror‐ tung - und diese impliziert allgemein historische Epochenbezüge genauso wie spezifisch literarische -, unabdingbar, um eine geistesgeschichtliche Entwick‐ lung, wie hier geplant, nachzuzeichnen. Diese Rekontextualisierung, wie sie von Oesterreicher (1998) im Hinblick auf eine sprachwissenschaftliche Nutzbarkeit hin konzipiert wurde, ist dabei nicht denkbar ohne die Tradition der klassischen Hermeneutik, spricht er doch selbst von der „Hermeneutik der Rekontextuali‐ sierung“ (Oesterreicher 1998: 21). 147 Unabhängig von den bei Oesterreicher nur kursorisch angesprochenen Be‐ zügen zu dieser Disziplin, schien es daher notwendig, einige entscheidende As‐ pekte der hermeneutischen Analyse aufzugreifen. Dabei ging es nicht darum, sich dezidiert einem der großen Klassiker (Schleiermacher et al.) anzuschließen, sondern Überlegungen herauszustellen, die ganz konkreten Nutzen für die vor‐ liegende diachrone Konstellation der Textinterpretation haben und als metho‐ dische Grundpfeiler fungieren können. Die Arbeit mit Texten einer vergangenen Epoche zwingt einen somit unter Beachtung grundlegender hermeneutischer Prinzipien dazu, Relationen wie Vorstellungen bzw. Denkprozesse, Schriftzeugnisse, sprachliche Realisierung und zeitgenössischen Diskurs nur mit äußerster Vorsicht in Bezug zueinander zu setzen bzw. immer wieder neu zu überdenken und zu hinterfragen. Dieser Versuch einer Verankerung und Verortung der Korpustexte soll aus diesem Grund den zweiten methodischen Pfeiler vorliegender Untersuchung bilden und unter dem Schlagwort der Rekontextualisierung figurieren. Das konkrete Vorgehen im Einzelnen ist dabei natürlich abhängig von der Art des Textes, seiner Strukturierung, seiner Intentionalität und seiner Bedeu‐ tung innerhalb des Diskurses. Ganz allgemein besteht das Ziel darin, jeden Text 87 3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung <?page no="88"?> des Korpus in seinem zeitgeschichtlichen Kontext adäquat zu verorten. Bei dieser Vorgehensweise, die eine exakte Lektüre und eine umsichtige, aber den‐ noch dezidierte Interpretation beinhaltet, sollen die vorgestellten hermeneuti‐ schen Verfahren eine methodisch wichtige Grundlage bilden. Es geht letztend‐ lich darum, den gegebenen Text so zu interpretieren, daß alle für die vorliegende Fragestellung relevanten Bezüge aufgedeckt werden, d. h. das untersuchte Traktat ist daraufhin zu bestimmen, welchen Platz es in der geschilderten De‐ batte um das Latein der Antike einnimmt, in welcher Relation es zu den anderen an diesem Disput involvierten Texten (und Autoren) steht, welche historische gesellschaftspolitische Implikationen hierbei zum Tragen kommen, welche grundlegende Zielsetzung bzw. Intentionalität ermittelt werden kann, im Rahmen welcher Diskurstradition es verfaßt wurde bzw. welche Textsorte oder Textgattung vorliegt und welche Versprachlichungsstrategien damit verbunden sind bzw. welcher stilistische Duktus damit einhergeht. Dies sei nur beispielhaft dafür angeführt, was es zu beachten gilt, wenn es darum geht, die Aufgabe der Rekontextualisierung durchzuführen. Dabei soll allerdings nicht eine Analyse der aufgezeigten Aspekte in vollem Umfang angestrebt, also z. B. alle intra- und intertextuellen Bezüge aufgezeigt werden, sondern nur solche die für die Be‐ antwortung der vorliegenden Fragestellung von Relevanz sind und die dabei helfen, den untersuchten Text in seiner Entstehungszeit und seinen historischen Kommunikationsraum angemessen einzuordnen und ihn damit so zu verstehen, wie er intendiert wurde. 88 3. Methodik: Zwei Ebenen der Untersuchungsperspektive <?page no="89"?> 148 Zur internen Sprachentwicklung des Lateinischen anhand einzelner Merkmale cf. z. B. Kramer (1997: 129-151), Steinbauer (2003: 509-514) oder Willms (2013: 227-249). 149 Zu der Metapher der „toten“ Sprache cf. Lüdtke (2005: 21-29) sowie Kap. 4.2 der vor‐ liegenden Arbeit. 4. Die Architektur des Lateins Nachdem im vorherigen Kapitel zur Methodik der Vorgehensweise die beiden Untersuchungsebenen für die vorliegende Analyse der frühneuzeitlichen Trak‐ tatliteratur vorgestellt wurden (cf. Kap. 3) und dabei im Rahmen der varietäten- und soziolinguistischen Theorie auch ein Entwurf für ein allgemein applizier‐ bares diasystematisches Beschreibungsmodell ausgearbeitet wurde (Kap. 3.1.3), soll nun im Folgenden eine Bestandsaufnahme der Architektur des Lateins ge‐ leistet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch, die Varietätenvielfalt des Lateins in der Antike aus moderner linguistischer Perspektive so adäquat wie möglich zu erfassen und zu beschreiben. Der Fokus sei dabei auf das Latein der Antike gerichtet, also aus soziolingu‐ istischer Perspektive auf seine Entwicklung bezüglich des Ausbaus als lingua viva und sein Verhältnis zu den Kontaktsprachen (Diglossie, Mehrsprachigkeit) sowie aus varietätenlinguistischer Perspektive auf seine Architektur. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht wie in der Literaturgeschichte auf der Zeit des Klassi‐ schen und Nachklassischen Lateins, sondern auf der Entstehungsphase, in der die Herausbildung von bestimmten schriftsprachlichen Diskurstraditionen und der damit zusammenhängende erste Ausbau der Sprache stattfindet (cf. Kap. 4.1). 148 Weieterhin soll aber auch ein Ausblick gegeben werden auf die weitere Ge‐ schichte - d. h. in erster Linie externe - des Lateinischen im Mittelalter, seinen Übergang von einer lebendigen Sprache zu einer immer weiter erstarrenden, d. h. seine Transformation von einer lingua viva in eine lingua morta viva bzw. später in eine lingua morta (cf. Kap. 4.2). 149 Im Rahmen dieses Versuches, die aktuellen sprachwissenschaftlichen Er‐ kenntnisse zur Frage der Differenziertheit des Lateins auf verschiedenen diasystematischen Ebenen zu synthetisieren, soll schließlich zur Verdeutlichung der zuvor entworfene Beschreibungsrahmen, der auf der Basis der Modelle von Coseriu und Koch / Oesterreicher beruht (cf. Kap. 3.1.3), auf die Situation des antiken Lateins angewandt werden (cf. Kap. 4.3). <?page no="90"?> 150 Die genetische Zuordnung des Venetischen ist umstritten (cf. Meier-Brügger 2002: 34, E430; Haarmann 2004: 206; cf. Steinbauer 2006: 506). 151 Exemplarisch sei zu den Inschriften der italischen Sprachen auf das Wörterbuch des Oskisch-Umbrischen von Untermann (2000) verwiesen sowie auf die Sabellischen Texte von Rix (2002); weitere Spezialliteratur findet sich bei Knobloch (1996: 29-31) und Meier-Brügger (2002: 32-34). 152 Zu folgenden italischen Sprachen cf. Baldi (2002: 118-142) mit je einer Kurzcharakte‐ ristik und Sprachbeispielen aus Inschriften: Äquisch, Faliskisch, Latein, Marrukinisch, Marsisch, Oskisch, Pälignisch, Sabinisch, Südpikenisch, Umbrisch, Vestinisch und Vols‐ kisch; zu weiteren nicht-italischen Sprachen wie Ligurisch, Messapisch, Nordpikenisch, Rätisch, Sikulisch und Venetisch cf. Baldi (2002: 149-160). 153 Die Frage, ob das Ethnonym (und damit auch das Glottonym) das Toponym bedingt oder umgekehrt, ist nicht eindeutig zu klären. Schmidt beispielsweise (1996: 1) gibt an, daß die Sprache nach der Landschaft benannt wurde. Coseriu (2008: 5) hingegen sug‐ geriert, daß Latium nach den dort eingewanderten Latinern benannt wurde. 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike Die lateinische Sprache ist Teil des italischen Sprachzweigs der indogermani‐ schen Sprachfamilie, der sich weiter in eine latino-faliskische und eine osko-um‐ brische (sabellische) Untergruppe aufgliedern läßt. Die Sprachen der Italiker, die im Zuge der sukzessiven Landnahme der Indoeuropäer den geographischen Raum der italienischen Halbinsel besiedelten und die bereits bestehenden alt‐ mediterranen Sprachen und Kulturen marginalisierten, differenzierten sich ver‐ mutlich zwischen dem 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. aus (cf. Haarmann 2010: 65), werden aber erst durch ihre ersten schriftlichen Zeugnisse wirklich faßbar und kategorisierbar: Das Venetische ist ab dem 6. Jh. v. Chr. in Inschriften dokumen‐ tiert, 150 das Oskische ab dem 3. Jh. v. Chr, das Umbrische ab dem 3.-2. Jh. v. Chr, das Südpikenische ab dem 6. Jh. v. Chr., das Faliskische ebenso wie das Latein in gleicher Weise ab dem 6. Jh. v. Chr. (cf. Meier-Brügger 2002: 32-34; E 427-430). 151 Alle weiteren italischen Sprachen und Varietäten bleiben (weitgehend) schriftlos. 152 Das Lateinische hat zu Beginn seiner für uns faßbaren Sprachgeschichte eine äußerst begrenzte Reichweite, fungiert es doch im Wesentlichen allein als Mut‐ tersprache einer relativ kleinen Sprechergruppe, den Latinern (lat. Latini), die den Namen der ihnen zugehörigen Landschaft Latium tragen, 153 doch diese nur zu einem Teil besiedeln. Im Süden sind sie begrenzt durch die Rutiler (lat. Ru‐ tili), Volsker (lat. Volsci) und Aurunker (lat. Aurunci), dahinter im Südosten durch die Samniten (lat. Samnites), im Osten durch die Sabiner (lat. Sabini), Äquer (lat. Aequi), Marser (lat. Marsi) und Herniker (lat. Hernici), im Norden durch die Fa‐ lisker (lat. Falisci) und vor allem die Etrusker (lat. Etrusci, Tusci), die militärisch 90 4. Die Architektur des Lateins <?page no="91"?> 154 Die Ethnogenese der Etrusker (Selbstbezeichnung *Tursa-, cf. griech. Τυρσηνοί) ist um‐ stritten, d. h. ob autochthon oder durch Migration im 12./ 11. Jh. aus dem kleinasiatischen Raum oder aber durch eine Symbiose beider Elemente entstanden (cf. Knobloch 1996: 26-27). Zu Inschriften cf. Meiser / Rix (2010). 155 In der Forschung stehen sich eine Gründungsthese, mit der ein gewollter politischer Zusammenschluß (Synoikismus) favorisiert wird und eine Stadtwerdungsthese gegen‐ über, die eher ein langsames Zusammenwachsen beeinhaltet (cf. Kolb 2002: 54-61). 156 Zur administrativen Gliederung des römischen Reiches auf dem Höhepunkt seiner Macht cf. die Karte bei Christ (2002: 310-311) mit den zugehörigen Datierungen. wie kulturell in Mittelitalien dominierend waren (8.-4. Jh. v. Chr.) und bei der Stadtwerdung von Rom (etrusk. Ruma) einen entscheidenden Anteil hatten. 154 Im Zentrum des Interesses soll hier jedoch nicht die Diskussion um die An‐ fänge des Lateinischen oder die Datierung einer Ausgliederung aus dem Indo‐ germanischen stehen, sondern es soll damit vielmehr auf die ungeheure Dy‐ namik des Lateinischen verwiesen werden, welches sich von einer begrenzten Lokalvarietät weniger Sprecher zu einer vollausgebauten Schriftsprache entwi‐ ckelt hat, zu einer Herrschaftssprache, die im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche andere Sprachen und Varietäten überdacht hat und nach der koiné des Griechi‐ schen zur wichtigsten lingua franca des sogenannten klassischen Altertums wurde. Neben der Entwicklung hinsichtlich ihres Ausbaugrades und der Zu‐ nahme der Sprecher - sowohl der native speakers als auch solcher, die es als Verkehrssprache verwendeten - sei auch auf den Zeitraum des Aufstiegs ver‐ wiesen. Dabei deckt sich die sprachliche Entwicklungszeitspanne weitgehend mit der politischen, ganz nach dem Diktum Nebrijas (2011: 3) „que siempre la lengua fue compañera del imperio“: Fundiert man das mythische Gründungsdatum Roms (753 v. Chr.) archäolo‐ gisch, so bekommt man ein ab urbe condita, welches ca. im 8./ 7. Jh. v. Chr. an‐ zusetzen ist; 155 die Expansion beginnt ab dem 5. Jh. v. Chr. und ist bis ins 3./ 2. Jh. v. Chr. zunächst auf Italien beschränkt, bevor dann vor allem auf Herr‐ schaftsgebiete rund um das spätere mare nostrum ausgegriffen wird. Die größte Ausdehnung erreicht das Imperium Romanum in den Jahren 115-117 n. Chr. unter Trajan (Nerva Traianus Augustus, 98-117 n. Chr.), der durch weitreichende Eroberungen die Provinzen Dacia (106), Arabia (106), Armenia (114-117), Me‐ soptomia (115-117) und Assyria (115-117) einrichten konnte. 156 Wichtige Etappen bzgl. sozio-politischer Veränderungen sind im Folgenden vor allem die Reichsreform (Tetrarchie, Dominat) unter Diokletian (Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus, 284-305 n. Chr.) und Konstantin (Flavius Valerius Aurelius Constantinus, 306-337 n. Chr.) sowie die Reichsteilung nach Theodosius (Flavius Theodosius, 379-395 n. Chr.) im Jahre 395 n. Chr. mit je entsprechender neuer Provinzialordnung. Sein formales Ende findet das weströmische, lateinisch ge‐ 91 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="92"?> 157 Die Latinisierung der Sabiner, Äquer und Herniker war wohl bis zum 3. Jh. v. Chr. er‐ reicht, die der Volsker, Falisker, Marser sowie der Landschaften Umbrien, Ligurien, Ve‐ netien und Oberitaliens (Gallia cisalpina) im 2. Jh. v. Chr. und die der Paligner, Marru‐ kiner und Südetruriens ca. im 1. Jh. v. Chr. Nach den Auseinandersetzungen im Zuge des Bundesgenossenkrieges (bellum sociale, 90 / 91-88 v. Chr.) und der Verleihung des römischen Bürgerrechts an die socii (Lex Plautia Papiria und Lex Pompeia de Transpa‐ danis, 89 v. Chr) wurde Latein dann auch offizielle Sprache Italiens (cf. Irmscher 1986: 84). 158 In manchen Regionen des römischen Reiches erfolgte entweder keine (vollständige) Latinisierung, wie z. B. im Baskenland, oder sie wurde in den folgenden Jahrhunderten wieder rückgängig gemacht, weil andere Völker ihre Sprache durchsetzen konnten. Diese Gebiete rechnet man üblicherweise zur Romania submersa (Rätien, Teile Germa‐ niens, Teile Nordafrikas, Noricum, Pannonien, Moesien, Illyricum, Britannien), wobei streng genommen eigentlich eine Latinitas submersa (z. B. Nordafrika) von einer Ro‐ manitas submersa (z. B. Moselromania, Dalmatien) unterschieden werden müßte (zu dieser Unterteilung cf. Kramer 2008: 131). 159 Nur hier würde, wenn überhaupt, in einer groben Vereinfachung der Ausspruch Meil‐ lets (1928: 222) zutreffen: „Mais ces variations ne vont pas loin: le latin est une langue une, sans dialectes, sans passé.“ prägte Reich, welches ab dem 3./ 4. Jh. n. Chr. der beginnenden Völkerwande‐ rung und zunehmenden innenpolitischen Wirren ausgesetzt ist, schließlich im Jahre 476 n. Chr. mit der Abdankung des letzten Kaisers Romulus Augustulus (475-476 n. Chr.). Die sprachliche Parallele besteht darin, daß die ersten schriftlichen Zeugnisse bereits kurze Zeit nach der Stadtgründung auftreten (7./ 6. Jh. v. Chr.), erste län‐ gere Inschriften ab dem 5./ 4. Jh. v. Chr., literarische Texte ab dem 3. Jh. v. Chr. und das Latein seinen vermutlich größten Ausbaugrad in der klassischen und nachklassischen Periode der lateinischen Literatur erreichte (ca. 1. Jh. v. Chr.-2. Jh. n. Chr.). Der Prozeß der Romanisierung und Latinisierung, also die kulturelle und sprachliche Durchdringung der eroberten Gesellschaften, der in Italien selbst bis ins 1. Jh. v. Chr. dauerte, 157 intensivierte sich in den an‐ deren Provinzen oft erst ab dem 2./ 3. Jh. und war in manchen Regionen hingegen erst gegen Ende des Imperium abgeschlossen ist (3.-5. Jh.). 158 Hiermit soll deutlich gemacht werden, daß man der internen Variabilität und der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Lateins der Antike nicht gerecht würde, es als eine synchrone Einheit darzustellen - dies wäre höchstens in Bezug auf das klassische Latein denkbar, welches sich innerhalb einer relativ kurzen Periode zu einer Norm- und Standardsprache entwickelte (ca. 100 Jahre). 159 Das Lateinische umfaßt schließlich eine Zeitspanne von wenigstens 1200 Jahren, in der sich die Sprache sowohl in Bezug auf ihre Natur (Struktur, Lexikon, Strati‐ fikation) als auch hinsichtlich ihres Platzes in der Gesellschaft maßgeblich ge‐ wandelt hat. 92 4. Die Architektur des Lateins <?page no="93"?> 160 Nicht selten wird die Epoche des Frühlateins zusammen mit der des Altlateins als ‚Ar‐ chaisches Latein‘ bezeichnet (cf. Meiser 2010: 2, § 2), doch Steinbauer (2003: 511-512) wendet zurecht ein, daß mit ‚archaisch‘ oft ein sehr relativer Zeitbezug ausgedrückt wird, was zu vermeiden sei. 4.1.1 Die Periodisierung Bevor nun die hier zentrale Frage nach den Varietätendimensionen des Lateins aufgegriffen wird, sei zuvor noch kurz ein Überblick über die Periodisierung der Sprache in historischer Zeit gegeben und damit auch gleichzeitig die historische Dimension des Lateinischen hervorgehoben. Die verschiedenen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte seien mit geringen Abweichungen im Wesentli‐ chen nach dem verbreiteten Periodisierungsmodell von Meiser (2010: 2, § 2) dar‐ gestellt (cf. Steinbauer 2003: 509-514; Michel 2005: 183-184; Müller-Lancé 2006; 21-45; Willms 2013: 223), welches zwar vor allem auf syntaktischen und stilis‐ tischen Veränderungen basiert (cf. Willms 2013: 223), sich damit aber auch mit den traditionellen literarischen Epochen in Einklang befindet, so daß hier ka‐ noniserte Periodisierung mit einigen linguistischen Fakten untermauert wird. Bei anderen mehr oder weniger stark davon abweichenden Modellen ist meist insbesondere die Periode des klassischen Lateins zeitlich divergierend verortet, d. h. über das augusteische Zeitalter hinaus bis ins 3./ 4. Jh. n. Chr. (cf. Weiss 2009: 23) oder gar bis um 400 n. Chr. (cf. Dietrich / Geckeler 2007: 130 bzw. Coseriu 1987: 264) ausgedehnt. Die Frage, ab wann das Spätlatein einerseits in das Romanische und ande‐ rerseits ins Mittellatein überging, ist wiederum eher Gegenstand einer anderen Diskussion, die vornehmlich die Romanistik und Vulgärlateinforschung be‐ schäftigt (cf. Kap. 4.2). 4.1.1.1 Frühlatein Die erste Phase der lateinischen Sprachgeschichte wird meistens als ‚Frühla‐ tein‘ 160 bezeichnet und umfaßt die Zeit von den ersten schriftlichen Zeugnissen bis zum Beginn der literarischen Textproduktion, woraus sich eine Datierung vom ca. 7./ 6. Jh. - 240 v. Chr. ergibt. Voraussetzung für die Verschriftung des Lateins war die Übernahme der Alphabetschrift von den Etruskern, deren Schriftsystem wiederum auf ein westgriechisches zurückgeht, nämlich das eu‐ böisch-chalkidische (cf. Aigner-Foresti 2003: 18; Haarmann 2004: 66). Die Über‐ nahme des etruskischen Alphabets durch die Römer und dessen Weiterentwick‐ lung auch unter direktem griechischen Einfluß (cf. Brekle 1994: 185) zu einem eigenen lateinischen Alphabet, welches der zu verschriftenden Sprache mög‐ lichst gerecht wird, ist dabei eine kaum zu unterschätzende Kulturleistung für 93 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="94"?> 161 Die Echtheit dieses Artefakts ist umstritten, es galt lange Zeit als Fälschung, was bisher aber nicht nachgewiesen wurde. Die heutige Tendenz geht dahin, die Fibula Praenestina (nach dem Fundort des römischen Praeneste, heute: Palestrina) als echt zu werten (cf. Schmidt 1996: 3; Eck 1997: 100; Steinbauer 2003: 504). Eine äußerst ausführliche Darstel‐ lung aller bisherigen Positionen seit ihrer Entdeckung 1887, zudem eine detaillierte (naturwissenschaftliche) Analyse des Materials, den Nachweis einer womöglich un‐ sachgemäßen Restaurierung des Objekts sowie eine graphologische Untersuchung lie‐ fert Hartmann (2005: 69-106), der trotz diverser Widersprüche bzgl. der Fundumstände dafür plädiert, die Echtheit anzunehmen, solange es keinen stichhaltigen Fälschungs‐ beweis gebe. 162 Die Inschrift befindet sich in Wirklichkeit auf einer Stele (lat. cippus), die man unter einer schwarzen Marmorplatte gefunden hat. Es handelt sich dabei um ein Kultgesetz, welches nur fragmentarisch erhalten ist. Die Schrift, welche noch boustrophedon ver‐ läuft, weist archaische Elemente auf, d. h. griechische bzw. etruskische Buchstaben (cf. Kolb 2002: 79). 163 Unter Einbeziehung möglichst zahlreicher Positionen gibt Hartmann (2005: 68, 107, 112, 129, 132, 139) für folgende frühlateinische Inschriften die maximale Spannbreite in der Datierung an: Duenos-Inschrift (7. Jh.-Mitte 3. Jh. v. Chr.), Forum-Inschrift bzw. Lapis Niger (7. Jh.-390 v. Chr.), Sockel v. Tibur (6. Jh.-4. Jh. v. Chr.), Lapis Satricanus (725-5. Jh. v. Chr.), Fibula Praenestina (Mitte 8. Jh.-6. Jh. v. Chr.), Madonetta v. Lavinium (6.-5. Jh. v. Chr.). Zusätzlich führt er noch die Vetusia-Inschrift aus Praeneste an, die normalerweise als etruskisch klassifiziert wird, die er aber als frühlateinisch einordnet (ibid. 39-40). Anhand derartiger Zweifelsfälle sieht man sehr deutlich, wie die ver‐ schiedenen Schrifttypen (griechisch, etruskisch, lateinisch) voneinander abhängen und in ihrer historischen Entwicklung ineinander übergehen (v. supra auch zum Lapis Niger). die westliche Welt, wenn man aus einer ex post-Perspektive die heutige Ver‐ breitung dieser Alphabetschrift und die damit geschaffene Literatur und ihre Verwendung bei Gebrauchstexten betrachtet. Die ersten Inschriften sind oft in scriptio continua, links- oder rechtsläufig, verfaßt - manche auch boustrophedon - und zeugen von einer Entstehungsphase vor der orthographischen Normierung, d. h. z. B. Verwendung von Buchstaben wie z oder k und Schriftzeichen, die eher als griechisch oder etruskisch zu klas‐ sifizieren sind (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 191-192; Brekle 1994: 185). Zu den wichtigsten frühen Dokumenten in lateinischer Sprache werden mit stark schwankender Datierung üblicherweise die folgenden gerechnet: die Ma‐ nios-Spange (Fibula Praenestina, 7. Jh. v. Chr.), 161 die Duenos-Inschrift (2. Viertel 6. Jh. v. Chr.) auf einem Drillingsgefäß, der Lapis Satricanus (6. Jh. v. Chr.), die Altarbasis von Tibur (6. Jh. v. Chr.), die Madonetta von Lavinium (Bronzeplatte, 6. Jh. v. Chr.), das Gefäß von Ardea (2. Hälfte 6. Jh. v. Chr.), der Lapis Niger (ca. 1. Viertel 6. Jh. v. Chr.), 162 die Cista Ficoroni (cista aus Bronze, 315 v. Chr.) und das Scipionenelogium (Grabinschrift der Scipionen, Ende 3. Jh. v. Chr.) (Schmidt 1996: 3; Meiser 2010: 2-9, § 2-5). 163 94 4. Die Architektur des Lateins <?page no="95"?> 164 Das Priesterkollegium der salii (Tanzpriester; cf. ab salitando ‚vom Tanzen‘) bestand aus den 12 Mitgliedern der salii Palatini im Dienste des Mars und den 12 Mitgliedern der salii Collini im Dienste des Quirinus mit je eigener curia sowie eigenem Vorsteher (magister), Vorsänger (vates) und Vortänzer (praesul) der jeweiligen sodalitas (cf. Neue Pauly X: 1249-1250). Ein wichtiges, aber nicht unproblematisches Zeugnis des Frühlateins ist das Zwölftafelgesetz (Leges duodecim tabularum), der erste längere zusammenhän‐ gende Text des Lateinischen. Ursprünglich auf Bronzetafeln festgehalten, die auf der Rednerbühne (rostra) vor dem Senatsgebäude (curia) am Forum Ro‐ manum aufgestellt waren, wurden sie womöglich im Zuge der Gallierkata‐ strophe (dies ater von 387 o. 390 v. Chr.) zerstört. Die uns überlieferten Textpas‐ sagen (Paraphrase oder Zitat), wie sie beispielsweise in Werken Ciceros (Marcus Tullius Cicero, 106-43 v. Chr.; De re publica, De legibus) und anderen Autoren zu finden sind, wurden partiell „modernisiert“, d. h. dem jeweiligen Sprachstand angepaßt, wodurch sie als Referenz für die Frühzeit nur eingeschränkten Wert haben (cf. Palmer 1990: 67; Steinbauer 2003: 511). Ebenfalls nur indirekt überliefert sind die rituellen Gesänge der carmina sa‐ linaria und des carmen arvale. Letzteres ist ein altes Kultlied, welches die Pries‐ terkooperation der fratres Arvales zu Ehren des Kultes der Dea Dia am 2. Festtag sang bzw. aufführte (Tanz mit Dreischritt). Überliefert ist es dank des Brauches der Bruderschaft (12 Mitglieder), Acta zu führen, so daß es in einer Inschrift auf Marmor aus dem Jahre 218 v. Chr. erhalten ist, die wahrscheinlich aber eine Kopie einer älteren Vorlage darstellt; die Sprache ist so archaisch, daß sie in historischer Zeit bereits nicht mehr verstanden wurde (cf. Kleiner Pauly IV : 1511). In gleicher Weise unverständlich, auch den Priestern selbst, waren die carmina salinaria (cf. Quintilian, Inst. orat. I, 6, 40; 2001 I: 180), die von den salii zu Ehren des Mars und Quirinus gesungen wurden und nur in ver‐ schiedenen späteren Fragmenten erhalten sind (cf. z. B. Varro, De ling. lat. VII , 26, 27; 1958 I: 292-294). 164 Das für uns in Dokumenten faßbare Latein der Frühzeit und die Umstände seiner Entstehung sind vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt und des Austausches innerhalb der italienischen Halbinsel bzw. kleinräumiger gesehen am Unterlauf des Tibers zu betrachten. Hier entsteht eine pluriethnische Ge‐ sellschaft, bestehend aus zu dieser Zeit autochthonen Elementen wie der falis‐ kischen Kultur, der sabinischen, etruskischen und schließlich der latinischen sowie aus kolonialen wie der griechischen und phönizischen Kultur. In diesem Umfeld entsteht und formt sich die lateinische Sprache im Sprachkontakt mit ihren Nachbarn, bevor sie sich zur koiné Italiens und der westlichen Welt ent‐ wickelt: 95 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="96"?> 165 Die frühen Fundorte von Schriftzeugnissen auf dem Boden der italienischen Halbinsel hängen womöglich mit den Orakelstätten zusammen. So sind die Inschriften (ca. 7. Jh. v. Chr.) aus Cumae (Griechisch), Caere (Etruskisch), Falerii (Faliskisch), Tibur und Praeneste (Latein) in Zusammenhang mit dem dort praktizierten kleromantischen Ora‐ kelkult zu sehen, da bei den Losorakeln (sortes) die Schrift einen wichtigen Bestandteil darstellt (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 183-184). 166 Zum Einfluß des sabellischen Substrates auf das Lateinische cf. Seidl (2015). 167 Die Sabiner stehen in einem engen Verwandtschaftsverhältnis mit den Samniten (Teil der Osker), d. h. sie sind sprachlich als sabellisch bzw. oskisch-umbrisch zu klassifizieren und waren vornehmlich in der Region Latium beheimatet. Da sie in nächster Umgebung zu Rom bzw. später auch dort selbst siedelten, wird unter ‚sabinisch‘ oft allgemein das indigene, vorrömische-italische Element in der Forschung verstanden. Die ‚Herausbildung‘ des Lateins der Stadt Rom (so wie parallel dazu der verschiedenen lokalen Varietäten des Lateins außerhalb Roms) schon in archaischer Zeit ist daher das Ergebnis eines sprachlich-kulturellen Pluralismus […]. (Poccetti / Poli / Santini 2005: 65) Diese Durchdringung der einzelnen Kultur- und Sprachgemeinschaften zeigt sich beispielsweise daran, daß man sowohl etruskische Inschriften auf latini‐ schem Gebiet gefunden hat (in Roma, Praeneste, Satricum), als auch lateinische (Tita Vendia-Vase in Caere) und altitalische (Setums-Krater in Tolfa) auf etrus‐ kischem Territorium sowie griechische (Gabii) und phönizische (Caere-Pyrgi) in beiden Regionen. 165 Weitere Indizien für die Kohabitation der Kulturen sind z. B. die etruskische tessera hospitalis aus Rom (6. Jh. v. Chr.) sowie im Bereich der Anthroponomastik die sabinischen und etruskischen Namen (sab. Titus Tatius, Numa Pompilius; etrusk. Tarquinius, Servius Tullius) der stadtrömischen Ge‐ schichte (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 64-68). Die wie Meier-Brügger (2002: 32, E426) es formuliert „kulturelle Koine“ unter Beteiligung der Etrusker, Latiner, Falisker und Sabeller ist dadurch charakterisiert, daß es sich um pluri‐ linguale Gesellschaften handelt, Mehrsprachigkeit war also der Normalfall und nicht die Ausnahme. 166 Poccetti / Poli / Santini (2005: 66) gehen demgemäß davon aus, daß in Rom so‐ wohl eine sabinische 167 Varietät gesprochen wurde als auch eine etruskische Varietät. Dies ist vor dem Hintergrund der „Homogenisierung“ der wichtigsten Sprachräume Mittelitaliens zu sehen (mit entsprechenden Konvergenzen), dem des Etruskischen, dem des Latinischen und dem des Sabinischen (Oskischen) sowie in Zusammenhang mit den damit verbundenen gemeinsamen Akkultu‐ rationsprozessen, wie z. B. der Alphabetisierung (ibid.: 76). Dabei besteht insofern ein wichtiger Unterschied zwischen den beteiligten Kontaktsprachen, als aufgrund der engen Verwandtschaft die gegenseitigen In‐ terferenzen zwischen dem Sabinischen und Lateinischen recht groß waren und 96 4. Die Architektur des Lateins <?page no="97"?> 168 Einer imperativischen Apodosis folgt eine Protasis, die durch eine Verneinung (nei) eingeleitet wird sowie eine Protasis mit der Konjunktion as(t) ‚und wenn‘, die eine Verneinung *noinosio ‚keiner‘ enthält (cf. Steinbauer 1996: 510). 169 Es ist anzunehmen, daß Steinbauer (1996: 511) mit der etwas unklaren Formulierung der „vorhistorisch einsetzenden […] Fähigkeit“ eine mündliche Diskurstradition von Rechtsformeln meint. im Zuge der Expansion des Lateinischen das Sabinische wie auch das Faliskische Teil des lateinischen Diasystems wurden. Die sich herausbildende Standard‐ sprache selegiert dabei aus allen Varietäten dieses erweiterten Sprachsystems. Das Etruskische hingegen, dessen Andersartigkeit auch im Sprachbewußtsein der Latiner verankert war, hatte in Rom noch längere Zeit den Status einer wichtigen Prestigesprache bis ins 4. Jh. v. Chr., dokumentiert bei Livius ( IX , 36), der davon berichtet, daß der Nachwuchs der Oberschicht in den etruskischen litterae unterwiesen wird (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 67). Versucht man die Sprachsituation im Rom der Frühzeit im Lichte des sozio-linguistischen Modells von Ferguson (1959) und Fishman (1967) zu er‐ fassen, so ergeben sich mehrere low-varieties mit dem wohl mehrheitlich ver‐ wendeten Latein sowie weiteren italischen Sprachen (Faliskisch, Sabinisch bevor sie vom Latein absorbiert wurden) und einem „umgangssprachlichen Et‐ ruskisch“, während auf der Seite der high-varieties wohl vor allem zwei Sprachen zu verorten sind, nämlich Etruskisch als lokale Distanzsprache in Etrurien sowie Griechisch als quasi omnipräsente Adstratsprache und Distanzsprache von „in‐ ternationaler“ Reichweite mit einem übergeordneten Prestige. Hinzu kommt nun an dieser Bruchstelle der Sprachgeschichte das nun nach und nach ver‐ schriftete Latein, welches sich aber wohl letztlich erst mit Beginn der literari‐ schen Periode (Altlatein) und einer konzeptionell elaborierten Verschriftlichung den Status einer vollgültigen Distanz- und Prestigesprache erarbeiten kann. Betrachtet man nun die Frage nach dem Ausbaugrad des Lateins im Zuge der Konzeption von Kloss (1978, 1987), so ist zu konstatieren, daß sich das Latein, was die Schriftlichkeit anbelangt, zunächst nur in wenigen Diskurstraditionen bewegt, dort aber bereits einen beachtlichen Grad an sprachlicher Elaboriertheit aufweist. Steinbauer (1996: 510-511), der das komplexe Bedingungssatzgefüge der Duenos-Inschrift analysiert, 168 charakterisiert diese Tatsache sogar als „ver‐ blüffend“ und erklärt den scheinbar ebenfalls ex nihilo entstandenen komplexen juristischen Text des Zwölftafelgesetzes aus einer „vorhistorischen“ Fähigkeit, 169 derartige Rechtsinhalte adäquat auszudrücken. Bei genauerer Betrachtung läßt sich jedoch relativ klar nachzeichnen, daß die ersten Schriftprodukte des Lateinischen im Rahmen von verschiedenen bereits etablierten Diskurstraditionen entstanden sind, es sich dabei jedoch um eine 97 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="98"?> 170 Die ersten Kolonien auf dem Boden der italienischen Halbinsel waren vermutlich 770 v. Chr. Pythekoussai (Πιθηκούσσαι) auf Ischia und 750 v. Chr. Cumae (Κύμη) bei Ne‐ apel. 171 Die Kalokagathia war Teil des griechischen Ideals der Arete (ἀρετή). Verschiebung der Sprache und / oder von der Mündlichkeit zur konzeptionellen Schriftlichkeit vollzogen hat. Die wichtigsten Diskurstraditionen werden dabei von der im östlichen Mit‐ telmeer und Vorderen Orient dominierenden griechischen Kultur übernommen, und zwar bereits vor der Zeit des Hellenismus, in der griechische Staaten poli‐ tische Großmächte wurden. Es scheint wohl kein Zufall, daß der Beginn der griechischen Kolonisation (ab ca. 750 v. Chr.) mit dem Beginn der Schriftlichkeit in Italien zusammenfällt, denn der daraus entstehende Kultur- und Sprachkon‐ takt ist in dieser Hinsicht entscheidend. Im Bewußtsein der Römer sind die Griechen nicht nur Nachbarn in der Magna Graecia (Μεγάλη ʾΕλλάς), 170 sondern übergeordnete Referenzkultur mit dem Zentrum in Griechenland selbst; aber auch die Griechen selbst vereinnahmen Rom als πόλις ʾΕλληνίς (Herakleides Pontikos, Fr. 102) und sehen die Völker Italiens als Teil ihres Kosmos. Die Übernahme von Diskurstraditionen durch die Römer bzw. Latiner sei dabei zunächst anhand von zwei Beispielen der frühesten Schriftlichkeit illust‐ riert: So zeitigt ein Tonkrug (Ende 7. Jh. v. Chr.) aus der latinischen Stadt Gabii die lateinische Inschrift salvetod Tita (‚zum Wohl / auf das Wohl von Tita‘), was im Zuge eines convivium wohl als an eine Frau gerichtetes Hochzeitsgeschenk zu interpretieren ist. Der Brauch des wohlmeinenden Grußes auf einem Trink‐ gefäß ist auch durch ähnliche griechische Funde in Lavinium und Rom doku‐ mentiert, wobei die Aufschrift hier χαῖρε (‚seid gegrüßt‘) lautet. Auch wenn hier die Diskurstradition in ihrer konkreten sprachlichen Realisierung nur aus ein bis zwei Lexemen besteht, ist sie doch als eine solche anzusehen, da hier eine gewisse nicht zufällige Formelhaftigkeit im Sinne einer Wiedergebrauchsrede dokumentiert ist. Auch im Text der Inschrift des Duenos-Gefäßes, eines der ältesten Dokumente des Lateinischen, finden sich sprachliche Elemente, die auf eine griechische Vorlage deuten, und zwar gemahnt einerseits das duenos (lat. bonus) an die grie‐ chische Formel 171 καλός καὶ ἀγαθός und die Zweigliedrigkeit der Konstruktion mit duenos …duenoi entspricht Verschriftungen auf griechischen Gefäßen mit καλός …καλῷ, und andererseits ist auch die Schlußformel ne med malos tatod an eine ähnliche apotropäische bei griechischen Funden angelehnt (zu den Exempla cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 97-98). Bezüglich des ersten längeren und bereits elaborierten Text, des Zwölftafel‐ gesetzes, verweist die römische Tradition der Entstehung selbst explizit darauf, 98 4. Die Architektur des Lateins <?page no="99"?> 172 Die Verschmelzung der Kulturen bzw. der Vorbildcharakter der griechischen zeigt sich auch an den nicht erhaltenen Sibyllinischen Büchern (libri Sibyllini), die der Überliefe‐ rung zufolge (Laktanz, Div. Inst. I, 6, 6-17 (22-25); 2009: 23-28) die mythische Seherin Sibylle von Cumae dem römischen König Tarquinius Priscus verkauft haben soll, die in der Folge von den decemviri sacris faciundis für staatliche Sühnerituale benutzt wurden oder auf Senatsbeschluß hin befragt bzw. eingesehen wurde. Diese geheimen Schriften waren auf Griechisch abgefaßt (Hexameter), wurden aber beim Brand des Jupiter-Tem‐ pels auf dem Kapitol 83 v. Chr. vernichtet, woraufhin man neue Sprüche aus der grie‐ chischen Welt zusammentrug, die aber dann im 4. Jh. n. Chr. verloren gingen (cf. Neue Pauly XI: 501). Das Griechische übernahm in diesem Kontext somit die Funktion einer hermetischen Geheimsprache mit kultischer Funktion. daß man sich bei der Konzeption von Gesetzestexten verschiedener griechischer poleis hat inspirieren lassen, insbesondere von denen Solons in Athen, zu wel‐ chem Zweck vom Senat eine Zehnmännerkollegium (decemviri) ausgesandt wurde. Auch sprachlicher Einfluß wie die lexikalischen Entlehnungen dolus (δόλος) oder poena (ποινή) sowie syntaktische Übereinstimmungen dokumen‐ tieren das diskurstraditionelle Vorbildmodell im griechischen Kulturraum. Da es sich bei den genannten Beispielen, auch denen aus den frühen In‐ schriften, keinesfalls um zufällige sprachliche Übereinstimmungen handelt, sondern um tragende Versprachlichungsstrategien bestimmter Kommunikati‐ onsformen (cf. die Exempla supra), ist es hier durchaus legitim, von der Über‐ nahme von Diskurstraditionen zu sprechen. Der dafür notwendige Kultur- und Sprachkontakt im Sinne einer Prämisse für die Tradierung von Diskurstraditi‐ onen läßt sich insofern belegen, als das Griechische nicht nur an sich früher verschriftet (und verschriftlicht) wurde, sondern auch in Latium die griechi‐ schen Schriftzeugnisse vor den lateinischen nachweisbar sind, so z. B. in Gabii (1. Hälfte 8. Jh. v. Chr.) und auch in Rom selbst (7. Jh. v. Chr.), aber auch rein sprachlich gesehen an den Gräzismen, die schon in der ersten lateinischen Do‐ kumenten auftreten (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 98-99). 172 Ein anderer Entstehungsstrang der frühen lateinischen Zeugnisse ist auf ita‐ lische bzw. italisch-etruskische Diskurstraditionen zurückzuführen. Für den Be‐ reich des Rechts, der erstmals in den genannten 12 leges seinen Niederschlag fand, ist eine von Rechtsformeln- und -verfahren bestimmte mündliche Dis‐ kurstradition zu konstatieren, die lateinischen bzw. italischen Ursprung hat. Dies ist u. a. an der Etymologie und Verwendungsweise einzelner Fachtermini ersichtlich. Das mündliche Element der lateinischen Rechtsprechung schwingt in Lexemen und Ausdrücken wie ius dicere, testamentum nuncupare, provocatio, appellatio oder advocatus mit sowie in solchen, die die Gestik zum Gegenstand haben, wie z. B. manu missio. Diese „versteckte“ Mündlichkeit läßt auf eine Rechtstradition mit festgelegten Verfahren und sprachlichen Formeln schließen, 99 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="100"?> 173 Albrecht (2012 I: 37) spricht aus literaturwissenschaftlicher Perspektive hierbei von „feierlicher Mündlichkeit“ und gibt als Beispiel u. a. das carmen an. 174 Zu diesem Bereich sind auch die sogenannten tabellae defixionum zu nennen (cf. Kropp 2018), Malediktionstexte, die sowohl in der Magna Graecia nachgewiesen sind (ab 6. Jh. v. Chr.) als auch im italischen Kulturkreis (ab 4. Jh.), als römische Praxis sich aber erst sehr viel später etablierte (auf Latein ab 1. Jh. v. Chr.), dann aber in der Kaiserzeit weite Verbreitung fand (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 219). 175 Es handelt sich dabei um Bronzetafeln aus Gubbio, von denen die ältesten in umbrischer Sprache abgefaßt sind, die jüngeren ab dem 2. Jh. v. Chr. auf Latein (cf. Meiser 2010: 11, § 8). 176 Inwieweit die nicht mehr erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen des etruskischen Kultus (disciplina etrusca), d. h. solche bzgl. der Blitzlehre (Libri fulgurales), der Leberbzw. Eingeweideschau (Libri haruspicini) und die Ritualbücher (Libri rituales), sich auf die römische Religionspraxis und damit auch auf evtl. diskurstraditionell relevante Formen ausgewirkt haben, ist nicht ganz eindeutig, insofern einerseits grundsätzliche Abweichungen in der religio der beiden Kulturen bestanden, andererseits aber durchaus gegenseitiger Einfluß nachweisbar ist. Zum etruskischen Kult sowie zur Frage nach dem Ursprung des auspicium cf. Prayon (2010: 63). die bereits vor der Schriftlichkeit existiert haben, dann aber in den Verschrift‐ lichungsprozeß miteingeflossen sind (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 205-206). Eine weitere Art der diskurstraditionellen origo der lateinischen Schriftlich‐ keit ist im religiös-rituellen Bereich der italischen Kultur zu verorten, und zwar im carmen. Diese Art des Gebets besteht üblicherweise aus einem rezi‐ tativ-rhythmischen Gesang, der mit einer Prozession oder Tanzdarbietung ein‐ hergeht. Auch hier liegen die Wurzeln in der Mündlichkeit, wobei hier von einer „distanzsprachlichen, elaborierten Mündlichkeit“ (Koch / Oesterreicher 1985: 31) auszugehen ist, 173 die einerseits fortgeführt wird, andererseits aber auch der schriftlichen Fixierung unterliegen kann (cf. carmen Arvale, carmina salinaria, carmen von Livius Andronicus an Iuno regina, v. infra) (cf. Gärtner 1990: 101; Poccetti / Poli / Santini 2005: 215-217). 174 Ebenfalls im religiösen Bereich anzusiedeln ist der im etruskischen, samniti‐ schen und römischen Umfeld anzutreffende Brauch der libri lintei (nicht er‐ halten), listenartige Zusammenstellungen der Amtspersonen sowie weitere kurze Ausführungen, die die Grundlage der späteren Annalistik bildeten. Die tabulae Iguvinae (6.-1. Jh. v. Chr.) 175 enthalten Sühne- und Reinigungsformeln, stehen also auch in einem Kontext einer etruskisch-italischen Diskurstradition bezüglich religiöser, ritualisierter Texte, die zunächst mündlich (z. B. pompa fu‐ nebris), später schriftlich konzeptionalisiert wurden (zu den Exempla cf. Poc‐ cetti / Poli / Santini 2005: 219; Albrecht 2012 I: 314-315). 176 Resümiert man nun noch einmal die Frage nach dem Ausbau des Frühlateins, so ist festzustellen, daß die ersten Zeugnisse zum einen nur bestimmte Bereiche mit spezifischen Textsorten abdecken ( Jus: Gesetztestexte; Religion: Weihege‐ 100 4. Die Architektur des Lateins <?page no="101"?> schenke, Grabinschriften, Kultlieder), andererseits dort aber partiell bereits einen gewissen Grad an Elaboriertheit erreicht haben, der sich auf der Über‐ nahme von schon vorhandenen Diskurstraditionen gründet, und zwar mündli‐ chen wie schriftlichen, etruskisch-italischen und auch griechischen. Charakteristisch für die Frühzeit ist also parallel zu den Prozessen die Koch / Oesterreicher (2011: 136) in Anlehnung an Kloss für die romanischen Sprachen herausgearbeitet haben, die Erarbeitung erster Distanzdiskurstraditi‐ onen im Rahmen eines extensiven Ausbaus der Sprache und dem damit ver‐ bundenen intensiven Ausbau, d. h. der Erweiterung der Ausdrucksmittel. Be‐ züglich des Ausbaugrades ist zunächst noch von einem insgesamt eher niedrigen auszugehen, auch wenn bereits gewisse Ansätze sprachlicher Elaboriertheit in bestimmten Kontexten auftreten. In Anlehnung an die bei Krefeld (1988: 749-750) beschriebene „Vorausbaustufe“ und die bei Kloss (1987: 304) für die deutschen Varietäten beschriebenen Phasen muß man das Lateinische dieser Epoche entsprechend der Art der auftretenden Schriftlichkeit zwischen zu‐ nächst Vorausbau und dann erster Ausbauphase situieren. 4.1.1.2 Altlatein Der Beginn der zweite Periode, die des Altlateins (240 v. Chr-80 v. Chr.), wird durch die Konfrontation mit der auf literarischem Gebiet bis dahin dominier‐ enden griechischen Kultur markiert, und zwar insofern für das „Epochenjahr“ (Albrecht 2012 I: 45) 240 v. Chr. anläßlich der ludi Romani die erste Aufführung eines Dramas in lateinischer Sprache nachgewiesen ist, welches auf einer grie‐ chischen Vorlage beruhte, die durch den ersten namentlich bekannten latein‐ ischen Dichter Livius (Livius Andronicus, 3./ 2. Jh. v. Chr.) umgearbeitet wurde. Vermutlich als griechischer Kriegsgefangener im Zuge des Krieges gegen Ta‐ rent nach Rom verschleppt, wirkte Livius zunächst als grammaticus, hatte somit im Haus seines Herrn die Aufgabe, die griechischen Literatur zu übersetzen und zu erläutern (interpretari) sowie vorzutragen (praelegere). Als Dichter schuf er unter anderem eine lateinische Adaption der homerischen Odyssee (Odusia), das wohl erste römische Epos, wobei er die griechischen Hexameter in das Versmaß des Saturnier übertrug, dazu Tragödien - vor allem Cothurnatae, aber auch Palliatae - (z. B. Danae, Equos Troianus, Achilles, Aegisthus) und zumindest eine Komödie (Gladiolus) sowie ein nicht erhaltenes carmen (207 v. Chr.) zu Ehren der Iuno Regina. Hervorzuheben ist in diesem Kontext, daß die Aufführung des Theaterstückes (fabula) in lateinischer Sprache auf eine staatliche Anordnung eines römischen Magistrats (Ädil) zurückgeht. Hintergrund ist die Tatsache, daß Rom als auf‐ strebende Herrschaftsmacht nach dem Gewinn des 1. Punischen Krieges 101 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="102"?> 177 Um der antirömischen Kriegspropaganda entgegenzuwirken, verfaßte Quintus Fabius Pictor (3./ 2. Jh. v. Chr.) die erste römische Geschichte, und zwar auf Griechisch. Die Wahl der Sprache ergab sich dabei nicht nur aus der Tatsache, daß Griechisch für (Süd)Italien die high-variety war, sondern auch aus Gründen der Propaganda, d. h. das anvisierte Zielpublikum waren die (publizistischen) Gegner der hellenistischen Staaten, aber auch, weil das Lateinische zu diesem Zeitpunkt in dieser Gattung noch nicht er‐ probt war, es eine lateinischsprachige Diskurstradition ‚Geschichtsschreibung‘ noch nicht gab - die Schriftlichkeit überhaupt erst am Beginn stand (cf. Baier 2010: 7-8). 178 Dabei zeugt es nicht unbedingt von Qualität, wenn die Nachahmung zu nah am Original bleibt, wie es bei Terenz bezeugt ist, der dies als eine Art diligentia obscura mißbilligt (Andria, 21) (cf. Baier 2010: 48). (264-241 v. Chr.) und der Einrichtung der ersten Provinzen (Sicilia, 241 v. Chr; Corsica et Sardinia, 238 v. Chr.) als neuer politischer Machtfaktor beargwöhnt wurde und man den Römern vor allem von Seiten der hellenistischen Staaten‐ welt kulturelle Rückständigkeit vorwarf (cf. Baier 2010: 7-11). 177 Diesen Vorwurf zu entkräften war Teil einer Staatspolitik, die damit auch gleichzeitig sprachpolitische Implikationen hatte. Modell und Maßstab mußte dabei das Griechische sein, zum einen um die Gleichwertigkeit nachzuweisen, zum anderen weil keine andere Sprache in diesem Kulturraum ein vergleich‐ bares Spektrum an literarischen Gattungen und Diskurstraditionen bot und damit auch die entsprechende sprachliche Elaboriertheit bzw. den hohen Grad an Ausbau. Die römische Literatur ist demgemäß von der griechischen inspiriert, wobei - wie Baier (2010: 8) hervorhebt - die römische Originalität jedoch nicht der mo‐ dernen Vorstellung einer absoluten Neuschöpfung verpflichtet ist, sondern unter dem Leitgedanken einer interpretatio Romana funktioniert. Hierbei gelten die Prinzipien der imitatio (‚Nachahmung‘) und aemulatio (‚wettbewerbsmäßige Nacheiferung‘), d. h. der zugrundeliegende Gedanke besteht darin, es dem Vor‐ bild gleichzutun bzw. es eventuell sogar zu übertreffen. 178 Übersetzungen bzw. mehr oder weniger freie Übertragungen spielen zu Be‐ ginn der Verschriftlichungsphase bzw. in der literarischen Frühphase einer Sprache ganz typischerweise eine wichtige Rolle, geht es doch meist darum, die in einer Modellsprache bereits abgefaßten Texte mit etablierten Diskurstraditi‐ onen zu übernehmen und den eigenen sprachlichen Ausbau mit Hilfe eben dieser Prestige-Sprache voranzutreiben, wobei dies sowohl bewußt im Sinne einer Sprachpolitik geschehen kann als auch eher unbewußt mangels Alterna‐ tiven bzw. vor dem Hintergrund des in diesem Kulturraum einzig funktionier‐ enden und anerkannten Modells. Man vergleiche dazu beispielsweise auch ähnliche Prozesse bei der Heraus‐ bildung von literarischen Diskurstraditionen in den romanischen Sprachen. 102 4. Die Architektur des Lateins <?page no="103"?> 179 Aus den Fragmenten der Komödien des Titinius ist ersichtlich, daß er italische Elemente miteinfließen ließ und dabei eine Präferenz für das Volskische hatte (cf. Kleine Pauly 1975 V: 872). Man spricht auch von „vertikaler“ Übersetzung, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit als descensus verstanden, d. h. vom Lateinischen (und später Griechi‐ schen) in die jeweiligen Volkssprachen. In Bezug auf das Italienische spricht man von volgarizzamento, d. h. die Übersetzung bzw. Übertragung lateinischer Texte (wissenschaftliche, sakrale, literarische) in die italienische Volkssprache (vol‐ gare), im Spanischen von romanceamiento, d. h. von einer Übersetzung ins ro‐ mance (hispánico) und im Französischen von vulgarisation (cf. Giovanardi 2006: 2198-2199; Endruschat / Schäfer-Prieß / Schöntag 2006: 1416-1419; Alb‐ recht / Plack 2018: 43). In diesem Sinne der oben angesprochenen imitatio ist auch die Nachdichtung der Römer in Bezug auf die griechische Tragödie zu werten und die Charakte‐ risierung Ciceros („non verba sed vim“, Ac. post. I, 10) ein schönes Dokument für diesen Prozeß sowie der reflektierten Selbstwahrnehmung. Als weitere frühe Vertreter der lateinischen Literatur sind der Dichter Nae‐ vius (Gnaeus Naevius, 3. Jh.-nach 204 v. Chr.), dessen Werk - Komödien (z. B. Tarentilla, Hariolus), Tragödien (z. B. Lycurgus), Praetextae (Clastidium / Mar‐ cellus, Romulus / Lupus) und ein Epos (Bellum Poenicum) - allerdings nur in we‐ nigen Fragmenten überliefert ist, sowie die Komödiendichter Plautus (Titus Maccius Plautus, ca. 250-184 v. Chr.) und Terenz (Publius Terentius Afer, ca. 195 / 185-159 v. Chr.) zu nennen. Von beiden letzteren sind zahlreiche Theater‐ stücke erhalten (von Plautus 21: z. B. Aulularia, Bacchides, Stichus, Mercator, Amphitruo, Miles Gloriosus (tragicocomoedia), Asinaria, Menaechmi; von Terenz 6: Hecyra, Andria, Adelphoi, Phormio, Eunuchus, Heautontimorumenos), die zudem eine wichtige Quelle des zeitgenössischen Lateins darstellen, da sie gat‐ tungsbedingt auch viele Elemente eines niedrigen Registers enthalten und sie somit im Spiegel einer fingierten Mündlichkeit vorsichtige Rückschlüsse auf die mutmaßlich gesprochenen Varietäten der Zeit zulassen. Während Plautus und Terenz die römische Komödie in griechischem Gewand pflegten, die Palliata (fabula palliata), transponierten ihre Epigonen Titinius 179 (2. Jh. v. Chr.) und Af‐ ranius (Lucius Afranius, 2./ 1. Jh. v. Chr.) die Handlung ins römische Milieu und schufen die Togata (fabula togata) (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 309-310; Baier 2010: 47-54). Prägend für die frühe lateinische Literatur und damit auch wichtige Prota‐ gonisten im Prozeß des Sprachausbaus sind Ennius (Quintus Ennius, 103 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="104"?> 180 Der Vorbildcharakter der griechischen Literatur (bzw. Kultur im Allgemeinen) kommt bei Ennius dadurch zum Ausdruck, daß er soweit geht, sich als alter Homerus zu be‐ zeichnen (cf. Fuhrmann 1999: 100). 239-169 v. Chr.), 180 der, fragmentarisch überliefert, zwanzig Tragödien (z. B. Eu‐ menides, Achilles, Andromacha aechmalotis, Iphigenia, Medea exul), Satiren (Sa‐ turae), zwei Prätextae (Sabinae, Ambracia) und ein Geschichtsepos (Annales) hinterlassen hat, sowie Cato d. Ä. (Marcus Porcius Cato Censorius, 234-149 v. Chr.), bekannt als prägender Staatsmann, Historiker (Origines) und Verfasser einer Abhandlung zur Landwirtschaft (De agri cultura) (Baier 2010: 40-43, 119). Insbesondere Cato ist hierzu als wegweisend zu betrachten, insofern er als Begründer der römischen Prosaliteratur gilt und bereits zahlreiche Textgat‐ tungen bedient, und zwar neben der Rhetorik und Geschichtsschreibung eine Reihe weiterer fachwissenschaftlicher Subdisziplinen erstmals auf Latein be‐ handelt (cf. Fuhrmann 1999: 100-102). In die altlateinische Periode fallen auch noch einige Inschriften, die norma‐ lerweise im Zuge der ersten schriftlichen Zeugnisse genannt werden (cf. z. B. Meiser 2010: 5, § 4), die aber aufgrund ihrer Sprachlichkeit nicht mehr zum Früh‐ latein zu rechnen sind, so z. B. der Senatus Consultum de Bacchanalibus (Bron‐ zetafel, 186 v. Chr.), der im Zuge des sog. Bacchanalienskandals entstand. Betrachtet man nun die sprachliche Situation in Rom und auf der italienischen Halbinsel in dieser Epoche, so ist ein tiefgreifender Wandel festzustellen. Zu Beginn der altlateinischen Zeit war die Eroberung bis zur Grenze des Po zwar abgeschlossen, doch eine tiefgreifende Romanisierung und damit einherge‐ hende Latinisierung setzte erst in den folgenden Jahrhunderten ein. Aus dem Stadtstaat Rom wird dabei kein Flächenstaat, aber eine polis mit einem ausge‐ dehnten Territorium, welches zunächst Italien und seine Inseln umfaßt, bis zu Beginn des 1. Jh. v. Chr. dann schließlich auch weitere Mittelmeerregionen in Ost und West vereinnahmt (Gallia Cisalpina, 222-197 v. Chr.; Hispania citerior, Hispania ulterior, 197 v. Chr; Macedonia, Illyricum, 168 v. Chr.; Achaia, Asia Minor, 146 v. Chr.; Gallia Narbonensis, 121 v. Chr.). Diese politische Expansion bleibt nicht ohne Auswirkung auf Sprache und Gesellschaft. Aus dem Stadtdi‐ alekt einer Kleinstadt in Latium wird eine internationale Verkehrssprache und es wird nach und nach die Muttersprache zahlreicher bis dato anderssprachiger Ethnien. Die Akkulturation und Latinisierung vollzieht sich in den verschie‐ denen Regionen unterschiedlich schnell, auch abhängig vom Grad der Ver‐ wandtschaft der jeweils betroffenen Sprache sowie von ihrem Prestige und der reinen Anzahl der Sprecher. 104 4. Die Architektur des Lateins <?page no="105"?> 181 Inschriften des Faliskischen gibt es vom 7./ 6.-2. Jh. v. Chr. (cf. Meier-Brügger 2002: 33; Meiser 2010: 9-10), so daß anzunehmen ist, daß bald danach die Sprache ausstarb. 182 Die Zuordnung des Sabinischen, von dem nur wenige Wörter überliefert sind, ist nicht gesichert und schwankt in der Forschung zwischen Oskisch, Oskisch-Umbrisch (bzw. Sabellisch) oder allgemein Italisch (v. supra). Cf. dazu der Neue Pauly (1979 IV: 1482, s. v. Săbīni): „Die Sprache der S[abiner] ähnelt der oskischen […].“ Daher wird das Sa‐ binische hier auch getrennt vom Oskischen im engeren Sinn aufgeführt. 183 Da Ennius in Rudiae in Messapien (heute: Salento, Kalabrien) geboren wurde, kann davon ausgegangen werden, daß er auch noch messapisch (wohl eine illyrische Sprache) gesprochen hat (cf. Radtke 2002: 14), also de facto sogar viersprachig war. Auch sein Name ist - davon ist auszugehen - messapischen Ursprungs (cf. Knoche 1982: 11). 184 Ab dem 2. Jh. v. Chr. wird die etruskische Oberschicht zunehmend in die römische Ge‐ sellschaft integriert, es finden sich Etrusker im Senat und das Lateinische nimmt mehr Raum ein. Zweisprachige Grabinschriften zeigen den Bilingualismus der Zeit, aber So ist das am nächsten verwandte Faliskische relativ bald ausgestorben (ca. 2.-1. Jh. v. Chr.) bzw. nicht mehr vom Latein zu differenzieren. 181 Auch das kaum dokumentierte Sabinische, welches in Rom und vor den Toren Roms gesprochen wurde und maßgeblichen Einfluß ausübte, hörte vermutlich im 2.-1. Jh. v. Chr. auf zu existieren bzw. wurde zunehmend latinisiert (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 67). 182 Ähnlich erging es anderen angrenzenden Völkern wie den Volskern, Äquern oder Aurunkern. Für diese Nachbarn kann man eine Phase des Bilin‐ gualismus postulieren, der zumindest teilweise diglossischen Charakter hatte, insofern Latein mit zunehmenden Prestige als high-variety funktionierte. Ein wenig anders gelagert ist die Situation für das Oskische, welches ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Kultursprache war (z. B. Atellane, v. infra). So sind Inschriften aus Pompeji und Herculaneum belegt, woraus man eine Vitalität der Sprache zumindestens bis ins 1. Jh. n. Chr. postulieren kann. Von Ennius ist überliefert, daß er Oskisch, Latein und Griechisch sprach (cf. Knobloch 1996: 25). 183 In Süditalien waren dabei alle drei Idiome beheimatet und damit auch Sprachen des täglichen Gebrauchs, wobei schriftsprachlich Griechisch zusätz‐ lich als high-variety einzustufen ist, und zwar deshalb, weil sie als Sprache des Handels, der Kultur sowie allgemein als meist verbreitete Schriftsprache fun‐ gierte. Eine Kultursprache war auch das Etruskische, welches in der Frühphase Roms aufgrund seiner politischen und kulturellen Dominanz ein wichtiges Element in der römischen Kultur wurde und auch sprachlich vielfältige Spuren (Lexikon, Akzentsetzung) im Lateinischen hinterlassen hat (cf. Knobloch 1996: 27). Nichts‐ destoweniger wurde das Etruskische durch das Lateinische abgelöst, in Resten existierte es wohl bis ins 1. Jh. n. Chr. (cf. Willms 2013: 212) - letzte Inschriften ca. 1. Jh. v. Chr. (cf. Haarmann 2004: 66) -, so daß eine relativ lange Phase der Zweisprachigkeit anzusetzen ist. 184 Das Etruskische weist zwar nachweislich 105 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="106"?> auch, daß das Etruskische immer noch Prestigesprache war, welches erst nach der lex Iulia (90 v. Chr.) als Amtssprache abgelöst wurde (cf. Prayon 2004: 63). 185 Poccetti / Poli / Santini (2005: 67) sprechen explizit von einer Diglossie zwischen Latein und Sabinisch und einem Bilingualismus zwischen Latein und Etruskisch. 186 Krefeld (2008: 558) sieht das Gallische in dieser Position, Poccetti / Poli / Santini (2005: 65-66) bleiben diesbezüglich hingegen unklar, insofern sie zwar die maßgeblichen indigenen Idiome Mittelitaliens (Latein, Sabinisch, Etruskisch) in einem Diasystem ver‐ orten, andererseits aber die Alterität des Etruskischen (mit Recht) hervorheben (v. supra), sowie wiederum an anderer Stelle (ibid.: 68-69) Kontakt- und Konvergenzphä‐ nomene innerhalb der italischen Sprachen betonen. einige Entlehnungen aus dem Griechischen auf und die Übernahme der Schrift deutet auf eine zumindest in der Oberschicht verbreitete Kenntnis des Griechi‐ schen; es scheint aber zweifelhaft, ob die gleiche Art der Diglossie wie für die Kontaktkonstellation Latein-Griechisch anzusetzen ist. 185 Die anderen Sprachen Italiens wie das Keltische, das Umbrische, das Messa‐ pische oder das Venetische sterben wohl im 1. Jh. v. Chr. aus. Auch für diese Substratsprachen ist eine gewisse Phase des Bilingualismus anzunehmen, bis sich der Sprachwechsel zum Latein vollzogen hat; wie dieser im Detail verlaufen ist, läßt sich mangels Belegen jedoch nur schwer nachvollziehen. Dabei besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den italischen Substrat‐ sprachen und den vorindogermanischen Substraten. Insbesondere das nah ver‐ wandte Faliskisch, aber auch die relativ nah verwandten Sprachen Oskisch, Umbrisch oder Sabinisch wurden in den Varietätenraum des Lateinischen in‐ tegriert, d. h. dialektisiert. Inwieweit das auf entfernter verwandte indogerma‐ nische Sprachen wie Keltisch, Venetisch oder Messapisch zutreffen würde, sei dahingestellt (cf. Krefeld 2003: 558). 186 Sicherlich nicht möglich ist diese Form der sprachlichen Vereinnahmung beim Etruskischen, Ligurischen oder anderen alt‐ mediterranen Sprachen. Die Phase des Altlateins ist auch die Periode, in der das Latein nach und nach zur high-variety wird, zumindest für weite Teile der Bevölkerung Italiens. Dieser Status ist zunächst vor allem auf die politische Expansion zurückzuführen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Dominanz der römischen Verwal‐ tung und Kultur. Im Bereich der Schriftlichkeit mußte sich das Latein erst nach und nach den Status einer Ausbau- und Literatursprache erarbeiten und war in der Anfangs‐ phase stark vom übermächtigen griechischen Vorbild abhängig. Erst allmählich zeitigte der Ausbau des Lateinischen Wirkung und das Lateinische konnte sich zumindest partiell emanzipieren, brachte eigene Diskurstraditionen hervor bzw. deckte zunehmend verschiedene Bereiche der distanzsprachlichen Kommuni‐ kation (schriftlich wie mündlich) ab. 106 4. Die Architektur des Lateins <?page no="107"?> 187 Überliefert ist zumindest, daß man in der Frühzeit etruskische Schauspieler (histriones) engagierte, um die Aufführungen zu professionalisieren (cf. Baier 2010: 39). 188 Kramer (2011), der eine kurzen Abriß des Ablöseprozesses bezüglich der Sprachwahl bei spezifischen Textsorten und Textgattungen gibt, faßt die Tendenz in der Frühzeit Am Beginn der lateinischen Literatur im engeren Sinne stand der Wille, sich aus staats- und kulturpolitischer Räson zu positionieren, und so griff man auf das prestigereichste Vorbild zurück und dies war zu jener Zeit die griechische Literatur. Was die Textgattung anbelangt, so wählte man zunächst das Genus mit der höchsten Dignität, nämlich das Epos, und formte es nach eigenen Zwe‐ cken um (v. supra Livius Andronicus). Die nicht viel minder geschätzte Tragödie wurde nach dem gleichen Prinzip vereinnahmt (v. supra Livius Andronicus, Naevius, Ennius), findet jedoch insbesondere in der Form der Prätexta (fabula praetexta), in der die eigene römische Historie thematisiert wird, ihre eigene Ausprägung. Die Gattung der Komödie (cf. Caecilius Statius († 168), Plautus, Terenz) hingegen speist sich aus verschiedenen Vorläufern. Neben der klassi‐ schen griechischen Komödie (z. B. Aristophanes) und vor allem der Neuen Ko‐ mödie, der Néa (cf. Menander, Μένανδρος, 342 / 341-290 v. Chr.), die in ihrer spezifisch römischen Ausformung, aber mit griechischem Bezug, zur Palliata führte, standen der aus der dorischen Volksposse entstandene sizilische Mimus mit Stegreifscherzen (paígnia) Pate sowie in Unteritalien die Phylakenposse (Götterburlesken, Mythentravestien) und die oskische Atellane (fabula Atel‐ lana, cf. Atella bei Neapel). Aus diesen komödiantischen Elementen sowie aus Spottliedern bei Triumphzügen (carmina triumphalia) aus heimischen Scherz- und Scheltreden (iocularia fundere), aus obszönen falisikischen Wechselge‐ sängen (fescennina, cf. Fescennium in Etrurien), die ebenfalls zur Entstehung der Komödie, teilweise auch des Dramas beitrugen, begründet sich aber auch die bei den Römern hochgeschätzte Satire (satura), wie sie in der Frühzeit Lucilius (Gaius Lucilius, 180 / 157-103 / 102 v. Chr.) vertritt (cf. Baier 2010: 37-39, 45-47). Hebt man nun diese Anfänge römischer Literaturproduktion auf die dis‐ kurstraditionelle Ebene, so ist deutlich nachzuvollziehen, wie das Lateinische in für diese Sprache neue Diskurstraditionen vordringt, diese besetzt und dabei variiert bzw. auch neue ausbildet (z. B. Satire, Palliata). Neben den dominier‐ enden griechischen Diskurstraditionen tragen dabei auch indigen latinische, fa‐ liskische, oskische und womöglich auch etruskische 187 dazu bei (v. supra), daß bestimmte römische Genera entstehen und das Lateinische dort wie auch in den bereits für andere Sprachen etablierten seinen Platz findet. Durch die Über‐ nahme dieser Diskurstraditionen und die steigende Textproduktion im Rahmen derselben wird zweifelsohne auch der sprachliche Ausbau vorangetrieben, da es gilt, neue Formen und Inhalte zu versprachlichen. 188 107 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="108"?> der römischen Literatur wie folgt zusammen: „Lateinisch zu formulieren wäre alles, was weite Bevölkerungskreise ansprach (Theater), fremde und vor allem eigene Tra‐ ditionen poetisch verabeitet (Epos) oder Rechtsverhältnisse ausdrückte (Gesetze), hin‐ gegen könnte man alles, was sich sowieso primär an eine sprachkundige Elite richtete, auf Griechisch ausdrücken (Fachschriftstellerei), was den Vorteil gehabt hätte, dass man für einen auf exakte Formulierungen angewiesenen Bereich keine neue lateinische Terminologie hätte entwerfen müssen“ (Kramer 2011: 195). 189 Ein typisches Element, welches die römische Geschichtsschreibung prägt, ist die Klage des Sittenverfalls, die zunehmende Mißachtung der mos maiorum (cf. Flach 1985: 72-75). Eine weitere Diskurstradition, in der das Lateinische Fuß faßt, ist die der Geschichtsschreibung. Hierbei sind im Wesentlichen zwei Entstehungsstränge auszumachen, und zwar einerseits die ca. ab dem 4. Jh. in Rom übliche Praxis, daß der pontifex maximus die wichtigsten Ereignisse (z. B. Amtsinhaber, Prodi‐ gien, Getreidepreis, Mondu. Sonnenfinsternis) jahreschronologisch auf‐ zeichnen ließ und auf Tafeln in der regia ausstellte sowie andererseits die bereits in vielen Facetten etablierte griechischen Historiographie. Aus der Tradition der Annales entstand somit die annalistische Geschichtsschreibung, deren Werke nach Amtsjahren der einzelnen Konsuln von Beginn der Stadtgründung bis zur Abfassungszeit geordnet war (cf. Ogilivie 1983: 18-19; Brodersen / Zimmermann 2000: 33). Die Umsetzung der römischen Chronologie - gesammelt als 80 Bücher in den Annales Maximi bis 133 v. Chr. - in ein Geschichtswerk wurde jedoch zu Beginn auf Griechisch geleistet, um einen größeren Leserkreis zu erreichen, so beim ersten Annalisten Fabius Pictor (Quintus Fabius Pictor, ca. 254-201 v. Chr.) in seinem Werk Rhomaíon Práxeis. Erst danach setzt sich in der sogenannten Älteren Annalistik das Lateinische durch und wird wie bei C. Hemina (Lucius Cassius Hemina, 2. Jh. v. Chr., Annales), Cn. Gellius (Gnaeus Gellius, 2. Jh. v. Chr.), Calpurnius Piso (Lucius Calpurnius Piso Frugi, 2. Jh. Chr.), Asellio (Sempronius Asellio), Coelius Antipater (Lucius Coelius Antipater, ca. 180-120 v. Chr., Bellum Punicum) oder C. Sisenna (Lucius Cornelius Sisenna, 118-67 v. Chr., Historiae) zur Sprache der Historiographie. Eine andere Art von Geschichtsschreibung wird das erste Mal auf Latein von Cato d. Ä. praktiziert (cf. brevitas Catonis), der mit seinen Origines an die hellenistische Textgattung der Gründungssage (κτίσεις) anknüpft (cf. Flach 1985: 56-79; Baier 2010: 81-84; Albrecht 2012 I: 307). Mit dem Vorrücken in diese neuen diskurstraditionellen Bereiche wird auch ein wesent‐ licher Beitrag zum Ausbau der lateinischen Prosa erbracht, insofern die Varia‐ tionsbreite und Anzahl der auf Latein verfaßten Texte zunimmt. 189 Dies gilt auch für einen Bereich, den man heutzutage der wissenschaftlichen Literatur zuordnen würde. Während die ersten Textgattungen Epos und Tra‐ gödie in Versen gedichtet wurden, ist mit De agri cultura Catos das erste voll‐ 108 4. Die Architektur des Lateins <?page no="109"?> 190 Der Begriff der res publica grenzt sich innerhalb des römischen Rechts- und Politik‐ verständnisses in erster Linie von der res privata ab. Das politische Verständnis der Republik als eine „Sache des Volkes“ bzw. der römischen Bürger und ihrer Vertreter (cf. senatus populusque romanus) ist dabei auch abzugrenzen gegenüber demjenigen in der benachbarten hellenistischen Staatenwelt, denn im Seleukidenreich beispielsweise war der Staat eine Angelegenheit (τὰ πράγματα) des Herrschers (cf. Heinen 2003: 76). Dies ist insofern wichtig, weil innerhalb eines solchen Staatswesens mit öffentlicher Dis‐ kussion der Rhetorik ein ganz anderer Stellenwert zukommt (cf. infra). 191 „Das Griechische war ohnehin ein dem lateinischen nahezu gleichberechtigtes Ver‐ ständigungsmittel in der Oberschicht“ (Baier 2010: 105). 192 Man vergleiche auch die Gegenüberstellung von Philosophie als vere loqui, der Rhetorik als recte loqui und von Grammatik als correcte loqui (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 402). 193 Die Rhetorik hatte nicht nur als ars ihren Ursprung in der griechischen Kultur, sondern auch ihre politische Anwendung ist im Rahmen griechischer Staatswesen zum Tragen gekommen - es sei dabei nicht nur auf berühmte Redner wie Demosthenes (Δημοσθένης, 384-322 v. Chr.) verwiesen, sondern auch auf Staatsmänner wie Perikles (Περικλῆς, ca. 490-429 v. Chr.), die gezielt ihre rhetorische Ausbildung entsprechend einsetzten, bis hin zu dem Phänomen des Demagogen, womit bezeichnenderweise zu Beginn (z. B. bei Perikles) noch keine negative Konnotierung einherging. Dennoch sei hier festgehalten, daß im römischen Kontext die Rhetorik insgesamt und à la longue durée gesehen tiefer im Staatswesen verankert war, während in Griechenland sie schon aufgrund der poli‐ tischen Heterogenität der einzelnen πόλεις nicht in gleichem Maße Wirkung entfalten konnte. ständige in Prosa verfaßte Werk überliefert und damit ein Grundstein für wei‐ tere Schriften und die wachsende Elaboriertheit der Sprache gelegt. Der Ausbau des Lateinischen wurde in der altlateinischen Epoche auch in Bezug auf die mündliche Distanzsprache vorangetrieben. Hierbei ist insbeson‐ dere der in der römischen res publica wichtige Bereich der Rhetorik zu nennen. 190 Im 2. Jh. v. Chr., als Rom auch vermehrt ins östliche Mittelmeer ausgriff, ergab sich allgemein eine vermehrte Rezeption griechischer Literatur, Philosophie und weiterer Wissenschaftsbereiche. Die Rhetorik, traditionell in der philosophi‐ schen Kontroverse zwischen den einzelnen Schulen (Stoa, Akademie, Peripatos) verortet, fand durch griechische Lehrer in der römischen Oberschicht Verbrei‐ tung, in der Griechisch alltägliche Bildungssprache war. 191 Dabei ist die Rhetorik zwischen der Auseinandersetzung um den logos und der in der ars grammatica fixierten richtigen Sprechweise (recte loqui) bzw. der ‚korrekten‘ Sprache (lati‐ nitas bzw. ̔ Ελληισμός) anzusiedeln (cf. Baier 2010: 105; Poccetti / Poli / Santini 2005: 389-390). 192 Im römischen Kontext erreicht die Rhetorik dann vor allem im öffentlichen Leben der republikanischen Institutionen einen wichtigen Stellen‐ wert und wurde ein geradezu konstitutiver Bestandteil der res publica. 193 Be‐ stimmte herausrragende Redner (cf. z. B. Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor, 185-129 v. Chr.; Tiberius Sempronius Gracchus, 162-133 v. Chr.; 109 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="110"?> 194 Man unterschied beispielsweise die Rede im Senat (dicere sententiam in senatu), vor der Volksversammlung (contio) und vor dem Heer (allocutio) sowie wie weitere Arten im öffentlichen Kontext wie z. B. die laudatio funebris (cf. Albrecht 2012 I: 412). Gaius Sempronius Gracchus, 153-121 v. Chr.) genossen daher ein hohes Prestige in der Gesellschaft (cf. Albrecht 2012 I: 413-414). 194 Die schriftliche Niederlegung der auf diese Weise neu ausgeformten Diskurstradition der öffentlichen Rede beginnt erst im Übergang zur folgenden Epoche (cf. Rhetorica ad Herennium, Cicero), genauso wie die der sich daran anschließenden Grammatik (cf. Varro). Insgesamt ist demzufolge für die Periode der altlateinischen Sprachgeschichte eine wichtiger Wendepunkt dahingehend festzustellen, daß der Ausbau des La‐ teinischen maßgeblich vorangetrieben wurde. Durch die Übernahme von Dis‐ kurstraditionen aus dem griechisch-hellenistischen Raum, aber auch aus dem italischen Kontext sowie aufgrund von deren Weiterentwicklung rückt das La‐ tein in dieser Epoche in immer mehr Bereiche der mündlichen, aber vor allem schriftlichen Kommunikation vor und wird zu einer vollfunktionsfähigen Dis‐ tanzsprache. Der maximale Ausbaugrad wird zwar erst in der nächsten Phase erreicht, doch sind bereits zahlreiche Grundsteine gelegt. Der Aufstieg des La‐ teinischen zur überregionalen und dann internationalen Prestigesprache be‐ dingt auf der anderen Seite auch einen Rückgang zahlreicher einheimischer Sprachen, so daß die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. weitestgehend vollzogen ist. Aus der einstigen Vielsprachigkeit bleibt für nicht wenige Teile der Bevölkerung Einsprachigkeit übrig, für die Oberschicht Di‐ glossie mit dem Griechischen. 4.1.1.3 Klassisches und Nachklassisches Latein In der Literaturgeschichte wird nicht selten der Beginn der Epoche des Klassi‐ schen Lateins mit der ersten Rede Cicero präzise im Jahre 81 / 80 v. Chr. verortet und man folgt dann der stark wertenden Feingliederung in „goldene“ (80 v. Chr.-14 n. Chr.) und „silberne“ (14-117 n. Chr.) Latinität (cf. Meiser 2010: 2, § 2) nach Maßgabe einer traditionell verankerten Beurteilung der Qualität der literarischen Produktion. Sprachwissenschaftlich gesehen ist es eher sinnvoll, den Beginn dieser Periode, die auch sprachliche Neuerungen zeitigt, gröber ins 1. Jh. v. Chr. zu datieren. Müller-Lancé (2006: 32) datiert die Epoche des „nachklassischen Lateins“ analog zu Meiser (2010: 2; § 2), der diese Zeit jedoch „archaisierende Periode“ nennt und ebenso exakt vom Tode Trajans (117 n. Chr.) bis zum Tode Marc Au‐ rels (180 n. Chr.) andauern läßt. In Anlehnung an die Datierung von Steinbauer (2003: 513), der diese Zeit durch eine an vorciceronianische Vorbilder anknüp‐ fende Literatur zwischen 120-200 n. Chr. verortet, sei hier diesem folgend, 110 4. Die Architektur des Lateins <?page no="111"?> 195 Zum möglichen Einfluß einheimischer, römischer mündlicher Diskurstraditionen wie Kultlieder oder Volksgesänge auf die Herausbildung der lateinischen Lyrik cf. Albrecht (2012 I: 275). gröber ein Ende an der Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr. postuliert. Klassisches und Nachklassisches Latein seien hier zusammengefaßt, da es einerseits in der nachklassischen Zeit keine signifikanten sprachlichen Änderungen im Ver‐ gleich zur klassischen Epoche gab und andererseits aus der hier fokussierten Perspektive von Ausbau, Diskurstraditionen und Sprachkonstellationen kein wirklicher Paradigmenwechsel zu verzeichnen ist. Es ist in diesem Rahmen weder möglich, noch notwendig den Umfang und die Breite der Literatur dieser Periode zu behandeln, sondern es soll sinnvoller‐ weise auf die wesentlichen Neuerungen in Bezug auf die diskurstraditionelle Perspektive eingegangen werden sowie den damit einhergehenden sprachlichen Ausbau, der zu dieser Zeit weitestgehend vollendet wird. Das bereits in altla‐ teinischer Zeit wichtige Modell der griechischen Textgattungen und Diskurstraditionen erfüllt diese Funktion auch weiterhin und zeitigt in der römischen Literatur neue Formen. Dabei sind die Griechen nicht nur Vorbild, sondern gleichzeitig Maßstab des zu Erreichenden, an dem sich die Römer in einer Art kulturellen ἀγών abarbeiten und dies ist nicht nur objektiv als Prozeß zu kon‐ statieren, sondern durchaus Teil der römischen Selbstreflexion wie bei Quinti‐ lian (Marcus Fabius Quintilianus, ca. 35-96 n. Chr.) dokumentiert: Elegia quoque Graecos prorocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime videtur auctor Tibullus. Sunt qui Propertium malint. Ovidius utroque lascivior, sicut durior Gallus. (Quintilian, Inst. orat., X, 1, 93; 2001 IV: 302) Tatsächlich wird erst in klassischer Zeit der ganze Bereich der Lyrik vom La‐ teinischen erschlossen, der zuvor nur ansatzweise in religiösen carmina ver‐ treten war. 195 Eine Textgattung, die bei den Griechen schon im 7. v. Chr. mit Mimnermos von Kolophon bzw. Smyrna (Μίμνερμος, 6. Jh. v. Chr.) den ersten Vertreter zeit‐ igte und bis in den Hellenismus gepflegt wurde, in der Kallimachos von Kyrene (Καλλίμαχος ὁ Κυρηναῖος, ca. 310-249 v. Chr.) mit seinen mythologischen Ur‐ sprungsgedichten, den αἰτία, hervorsticht, ist die der Elegie, die sich formal durch das elegische Distichon (alternierende Hexameter und Pentameter) ab‐ grenzt und inhaltlich durch mythologische Themen, allgemeine Reflexionen, Spott, Klage, Erotik oder persönliche Anliegen charakterisiert ist (cf. Bur‐ dorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 183-184). Im römischen Bereich wird die Form übernommen und inhaltlich oft Mythologisches mit Autobiographischem kombiniert, wie es uns in dem ersten elegischen Gedicht des Neoterikers Catull 111 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="112"?> 196 Die Ars amatoria nimmt wie viele der Werke Ovids eine Zwischenstellung ein, insofern sie formal eine Elegie ist, inhaltlich aber dem Lehrgedicht zuzuordnen ist. 197 Die sogenannte „goldene Latinität“ ist in ihrem Höhepunkt eng an die Regierungsjahre (31 v. Chr.-14 n. Chr.) des Kaisers Augustus (Gaius Octavius, 63 v. Chr.-14 n. Chr.) und seine pax romana gebunden, auch deshalb, weil nach dessen Tod die „silberne Latinität“ beginnt, die bis zum Tode Trajans (117 n. Chr.) reicht. Zu einer Zuordnung der einzelnen Schriftsteller und ihrer Werke streng nach diesen traditionellen Kriterien der Klassi‐ schen Philologie cf. z. B. auch Müller-Lancé (2006: 29-32). 198 Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Realisierung des Versmaßes in dieser Text‐ gattung (z. B. jambischer Trimeter mit jambischen Dimeter oder mit Elegiambus) cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff (2007: 200). 199 Zur literarische Nachwirkung bzw. Rezeptionsgeschichte in der europäischen Literatur cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff (2007: 678). (Gaius Valerius Catullus, 84-54 v. Chr.), der Allius-Elegie (carmen, Nr. 68) entge‐ gentritt. Neben Catull bedienen sich dieser Gedichtform mit thematischer Va‐ riation vor allem Gallus (Gaius Cornelius Gallus, 70 / 69-27 / 26 v. Chr.), Tibull (Albius Tibullus, ca. 50-19 v. Chr., Corpus Tibullianum), Properz (Sextus Proper‐ tius ca. 47-15 v. Chr., Monóbiblos) und Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr.-17 n. Chr., Ars amatoria, 196 Remedia amoris, Tristia, Epistulae ex Ponto), die auch insgesamt zu den maßgeblichen Vertretern der römischen Lyrik gehören (cf. Baier 2010: 59-77). Indem er in seinen Heroides die literarische Gattung des Briefes und die lyri‐ sche Form der Elegie miteinander verschmilzt sowie zusätzlich Elemente der Rhetorik miteinfließen läßt (Ethopoiie bzw. sermocinatio), beschreitet Ovid ganz selbstbewußt (ars 3, 346) neue Pfade in seinem Schaffen und der römischen Li‐ teratur (cf. Baier 2010: 71). Weitere Arten der Lyrik in lateinischer Sprache sind dem wie Ovid und Properz zum Kreis des Maecenas (Gaius Cilnius Maecenas, ca. 70-8 v. Chr.) ge‐ hörenden Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65-8 v. Chr.) zu verdanken, einem der wichtigsten Dichter der augusteischen Ära. 197 Nach dem Vorbild der grie‐ chischen Dichtung des Archilochos (Ἀρχίλοχος, ca. 680-645 v. Chr.) führt er durch seine Iambi die Textgattung der Epoden 198 - Distichon mit einem langen und einem kurzen Vers - erstmals in die lateinische Literatur ein. Seine Inno‐ vation ist ihm dabei durchaus bewußt (epist. I, 9, 19-25), genauso wie die erst‐ malige interpretatio Romana der Ode in den carmina, bei der er sich an berühmte Vorläufer wie Pindar (Πίνδαρος, 518-440 v. Chr.) oder Alkaios (Ἀλκαῖος, ca. 630-580 v. Chr.) anlehnt (cf. alkäische Dichtung) (cf. Baier 2010: 72-77). 199 Eine andere lyrische Textgattung, die in dieser Epoche Eingang in die römi‐ sche Literatur findet, ist das Epigramm, welches seinen Ursprung in Inschriften hat (v. supra. z. B. Grabinschrift der Scipionen), literarisch jedoch traditionell auf Simonides von Keos (Σιμωνίδης, 557 / 556-468 / 467 v. Chr.) zurückgeführt wird 112 4. Die Architektur des Lateins <?page no="113"?> 200 Weitere mögliche Versmaße im römischen Epigramm sind Hexameter, Hendekasyl‐ labos, Jambus, Hinkiambus, Saturnier (cf. Albrecht 2012 I: 281). und auf Latein erstmals von Catull gepflegt wird, dann aber vor allem bei Martial in seinem Epigrámmaton liber (Liber spectaculorum) variantenreich zur Geltung gebracht wird. In dieser Kurzform, die ursprünglich als elegisches Distichon realisiert wird, bei Martial aber auch metrisch variieren kann, 200 wird auf eine Pointe abgezielt, die alle Bereiche der conditio humana mal spöttisch, mal kri‐ tisch geistreich auf den Punkt bringt (cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 194-195; Albrecht 2012 I: 281-282). Nach dem Vorbild der eidýllia (aus dem Corpus Theocriteum) des sizilianischen Dichters Theokrit (Θεόκριτος, 1. Hälfte 3. Jh. v. Chr.) bringt der in Bezug auf seine Nachwirkung womöglich bedeutendste Dichter der römischen Antike, Vergil (Publius Vergilius Maro, 70-19 v. Chr.), in seinen in Hexameter gedichteten Bu‐ colica (Eclogae) die bukolische Lyrik in die römische Literatur. Ein Epigone Ver‐ gils in späterer Zeit ist beispielsweise Calpurnius Siculus (Titus Calpurnius Si‐ culus, 1. Jh. n. Chr.) mit den von ihm verfaßten Eklogen, wobei bei ihm teilweise Hirtenpoesie und Herrscherpanegyrik vermischt werden (cf. Kleine Pauly 1964 I: 1026). Eine lyrische Sammlung mit Gedichten zu verschiedenen Anlässen und in unterschiedlicher Form stellen die Silvae des Statius (Publius Papinius Statius, 40 / 50-95 n. Chr.) dar. Die auch als „Gelegenheitsgedichte“ apostrophierten Verse thematisieren öffentliche (Panegyrikon) wie private Anlässe (Hochzeit, Trauer, Trost, Geburtstag) oder enthalten Kunst- und Baubeschreibungen (Ekphrasis) (cf. Baier 2010: 77-78). An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Poesie ist das Lehrgedicht anzusiedeln, welches zwar mit den Ἒργα καὶ Ἡμέραι Hesiods (Ἡσίοδος, ca. * 700 v. Chr.) einen fernen Vorläufer hat, aber erst im Hellenismus seine eigent‐ liche Form findet, die dann vor allem durch Lukrez (Titus Lucretius Carus, 96-53 v. Chr.) in seinem sechs Bücher umfassenden Werk De rerum natura erst‐ mals in lateinischer Sprache ausgearbeitet wurde (in Hexametern). Ähnlich wie Horaz ist sich Lukrez bewußt, daß er mit seinem physikalischen Lehrgedicht, in dem er auch zum Vermittler epikureischer Philosophie in Rom wird, neue Wege beschreitet, ganz im Sinne der neoterischen Bewegung (I, 926-927). Dabei weist er explizit auf die sprachliche Armut des Lateins hin, welches im Vergleich zum Griechischen eigentlich noch nicht ausgebaut genug ist, um ein derartiges Un‐ terfangen möglich zu machen - insofern ist es also eine Pionierleistung. Un‐ zweifelhaft an Hesiod knüpft die Georgica Vergils an, in der der Dichter seine Sicht des idealen Lebens in moralischer Hinsicht (labor improbus) und ganz 113 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="114"?> 201 Der Begriff des ‚Romans‘ wird erst in der mittelalterlichen europäischen Literatur he‐ rausbildet, insofern ist seine Übertragung auf die Erzählprosa der Antike anachronis‐ tisch, aber trotzdem gerechtfertigt, da inhaltlich und formal hier Übereinstimmungen festgestellt werden können. konkret in Bezug auf das gelobte Landleben (Ackerbau, Baum- und Weinkultur, Viehzucht, Bienenhaltung) in hexametrischer Form ausbreitet (cf. Baier 2010: 27-36). Eine Mischung aus klassischem griechischem Epos, der Kurzform des Epyl‐ lion und der des Lehrgedichtes sind die Werke Ovids. In seinen Metamorphoses greift er sowohl auf die Tradition der ätiologischen Dichtung zurück (v. supra) als auch auf die der Verwandlungssagen wie in den Ἑτεροιούμενα Nikanders von Kolophon (Νίκανδρος ὁ Κολοφώνιος, 3./ 2. Jh. v. Chr.), während er in den Fasti die Ereignisse des römischen Festtagkalenders literarisch überhöht (cf. Bur‐ dorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 194-195; Baier 2010: 34-35). Neu in der Klassischen Periode ist außer dem Aufkommen der verschiedenen Formen der Lyrik auch die Textgattung des Romans 201 bzw. der längeren, kom‐ plexen Prosaerzählung, die in dieser Zeit erstmals in lateinischer Sprache auf‐ tritt. Romanhafte Vorstufen sind in der Ἀνάβασις Xenophons (Ξενοφῶν, ca. 430-350 v. Chr.) oder den Berichten des Ktesias (Κτησίας, ca. um 400 v. Chr.), der Περσικά oder der Ἰνδικά, zu sehen, doch erst in hellenistischer Zeit bildet sich diese Erzählgattung im griechischen Raum vollständig heraus, so beispielsweise bei Iambulos (Ἰαμβοῦλος, 3. Jh. v. Chr.) oder Chariton von Aphrodisias (Χαρίτων Ἀφροδισεύς, 1./ 2. Jh. n. Chr.). Römische Adaptionen gibt es nur wenige, doch haben sie allesamt eine nicht unbedeutende Nachwirkung entfaltet. Dabei sind vor allem aus sprachlicher Sicht als wichtige Quelle substandardlichen Lateins die Satyricon libri des Petron (Gaius / Titus Petronius Arbiter, † 66 n. Chr.) zu nennen, und zwar insbesondere der dort enthaltene Part des Gastmahl des Tri‐ malchio (cena Trimalchionis). Hier knüpft der Autor explizit an seine hellenisti‐ schen Vorläufer an, insofern er einerseits griechische Reiseromane parodiert und andererseits formal an die Menippeische Satire anknüpft, indem er sowohl Vers als auch Prosapassagen verwendet (prosimetrum). Ebenfalls in die Reihe der romanhaften Darstellungen gehört der Eselsroman (Metamorphoseon libri XI ) des Apuleius (ca. 125-170 n. Chr.), der in sich wiederum verschiedene Ele‐ mente anderer Gattungen wie die des Märchens (Amor und Psyche) oder der Milesischen Novelle enthält sowie Aspekte der platonischen Philosophie. An‐ knüpfend an den populären Stoff der Eroberungsfeldzüge Alexander d. Großen (336-323 v. Chr.) verfaßte Curtius Rufus (Quintus Curtius Rufus, 1. Jh. v. Chr.) eine Alexandergeschichte (Historiae Alexandri Magni Macedonis), basierend u. a. auf den sogenannten Alexanderhistorikern Ptolemaios (Πτολεμαῖος, 114 4. Die Architektur des Lateins <?page no="115"?> 202 Briefe konnten jedoch ursprünglich auch privater Natur sein und dann erst nachträglich für die Publikation umgearbeitet worden sein. 366-283 v. Chr.) und Kleitarch (Κλείταρχος, 4. Jh. v. Chr.), mit teilweise moral‐ isierendem Unterton - Alexander als Gegenbild römischer Tugenden, der ge‐ trieben von Affekten und mit Maßlosigkeit agiert (cf. Baier 2010: 96-101). Eine andere neue Textgattung, die in der klassischen Zeit erstmals für das Lateinische erschlossen wird und damit das Spektrum des diskurstraditionellen Ausbaus vergrößert, ist der Brief, nicht so sehr als Gebrauchstext, sondern viel‐ mehr als literarische, für die öffentliche Rezeption bestimmte Form. 202 Auch hier gibt es griechische Vorbilder wie die Lehrbriefe Epikurs (Ἐπίκουρος, 342 / 341-271 / 270 v. Chr.) als spezifische Ausformung der Gattung, an die Se‐ neca (Lucius Annaeus Seneca, ca. 1-65 n. Chr.) mit seinen Epistulae morales ad Lucilium anknüpft. Frühester römischer Gebrauch ist jedoch bei Cornelia, der Mutter der berühmten Volksstribunen Tiberius und Gaius Gracchus bezeugt (Quint. I, 1, 6). Die wichtigsten Korpora von Briefen, die literarisch über die Antike hinausgewirkt haben, sind diejenigen von Cicero (Ad familiares, Ad At‐ ticum, Ad Quintum fratrem) und von Plinius d. J. (Gaius Plinius Secundus, 61 / 62-112 / 113 n. Chr.), die auch sprachlich insofern bemerkenswert sind, als die ciceronischen mitunter stilistisch stark von seinem sonstigen elaborierten Duktus abweichen und als Quelle für vulgärlateinische Phänomene gelten, während die Episteln des Plinius eine elaborierte Kunstform in verschiedenster Ausprägung darstellen (Ekphrasis, Essay, Panegyrikon) und als einzige die For‐ derungen nach der brevitas und der Monothematizität weitgehend einlösen. Während diese beiden Autoren die Briefe in Prosa abfaßten, waren die Epistulae des Horaz, in denen auch die Ars poetica enthalten ist, in hexametrischen Versen abgefaßt und demnach ab ovo für die Publikation bestimmt (cf. Baier 2010: 101-104; Albrecht 2012 I: 430-435). Die römische Literatur wird hierbei um eine neue Gattung bereichert, indem auf verschiedene Spielarten einer Textsorte zurückgegriffen wird (Privatbrief, Lehrbrief, öffentlicher Brief, essayistischer Brief etc.), der partiell zwar in der griechischen Literatur (und auch in anderen Kulturkreisen) bereits vorgegeben ist. Von den Römern wurde sie aber weiter ausdifferenziert und zu einem festen neu interpretierten Bestandteil der literarischen Ausdrucksmöglichkeiten wurde, wobei aus diskurstraditioneller Perspektive das Lateinische in einen weiteren Bereich vorrückt, der Ausbau der Sprache durch die neuen Arten der Versprachlichung vorangetrieben wird. Die bereits in altlateinischer Zeit sich herausbildende Tradition der Rhetorik bzw. der öffentlichen Rede bei den Römern wurde in der klassischen Periode 115 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="116"?> nun auch schriftlich fixiert, und zwar sowohl in Form von Lehrbüchern bzw. Anleitungen zur richtigen Anwendung rhetorischer Ausdrucksmittel und Ver‐ haltensweisen als auch durch konkret gehaltene oder zu haltende Reden. Dies‐ bezüglich ist vor allem Cicero zu nennen, der nach der ersten - ihm nur zuge‐ schriebenen - Rhetorik Auctor ad Herennium die Werke De oratore, Brutus und Orator verfaßte. An konkreten Reden seien auswahlweise nur Pro Sexto Roscio Amerino, Divinatio in Q. Caecilium, Pro Marcello, Pro Ligario und Pro rege Deio‐ taro, genannt. Wegweisend im Bereich der Rhetorik ist außerdem Quintilian, der mit seiner Institutio oratoria ebenfalls einen erheblichen Einfluß auf spätere Grammatikwerke ausübte (v. infra Varro et al.). (cf. Baier 2010: 107-114). Eine Textgattung, die bei den Römern nicht zur Literatur sensu strictu gehörte, die Fabel, wurde von Phaedrus (Φαῖδρος, 1. Jh. n. Chr.), einem Freigelassenen griechischer Herkunft, erstmals in lateinischer Sprache etabliert. Vorbild für die von Phaedrus im der Komödie nahestehenden altertümlichen Versmaß des Se‐ naren nachgedichteten, sich durch ihre brevitas auszeichnenden Tierparabeln mit gesellschaftskritischen Unterton und bisweilen moralisierender Tendenz (cf. Promythien, Epimythien) sind die Fabeln von Äsop (Αἴσωπος, 6. Jh. v. Chr.) (cf. Baier 2010: 79-80). Im Zuge der aemulatio entfernt sich Phaedrus dabei zuneh‐ mend von seinem Modellautor und übernimmt nach und nach weniger Motive und programmatische Schlußfolgerungen (cf. Kleine Pauly 1964 I: 199). Auch wenn innerhalb der römischen Literatur die Rezeption eher verhalten ist und eine Nachwirkung erst in neuzeitlichem europäischen Kontext einsetzt (La Fon‐ taine, Lessing), ist die Erweiterung der lateinischen Prosa um ein weiteres Genre sprachwissenschaftlich insofern von Bedeutung, als hier neue diskurstraditio‐ nelle Bereiche mit bestimmten Versprachlichungsstrategien (d. h. unterschied‐ lichen stilistischen Mitteln) erschlossen werden (cf. Baier 2010: 79-80). Es sei an dieser Stelle dezidiert darauf verwiesen, daß alle bisher aufgezählten Textgattungen in der römischen Literatur bisher nicht zum Tragen kamen, also neue Formen und Inhalte mit der lateinischen Sprache ausgedrückt wurden. In der Periode des klassischen Lateins wurden aber auch in Ansätzen bereits existierende Textgattungen weiter ausgebaut. Dies gilt beispielsweise für das Epos als die literarische Form mit dem größten Prestige, welches durch die Aeneis von Vergil ihren unbestreitbaren Höhepunkt erfuhr. Aus einer ex post Perspektive läßt sich konstatieren, daß der größte römische Dichter den größten griechischen zum Vorbild nahm. Ganz im Sinne der interpretatio Romana gibt Vergil den Römern ein Identifikationswerk in geschliffenen Hexametern mit Elementen der Ilias (Ἰλιάς) und Odysee (Ὀδύσσεια) von Homer ( Ὅμηρος, ca. 7./ 8. Jh. v. Chr.). In der Nachfolge von Vergil dichten Lukan (Marcus Annaeus Lucanus, 39-65 n. Chr.), der neben kleineren Dichtungen (Iliaca, Orpheus, 116 4. Die Architektur des Lateins <?page no="117"?> 203 Zur Gattung der Biographie in der römischen Literatur, die im griechischen Raum vor allem durch Plutarch (Πλούταρχος, 45-125 n. Chr.) und seine βίοι παράλληλοι (Vitae parallelae) geprägt wurde, cf. Albrecht (2012: 392-396). Silvae), das Epos Pharsalia (bellum civile) über den Bürgerkrieg schreibt, unter anderem Silius Italicus (Tiberius Catius Asconius Silius Italicus, ca. 25-100 n. Chr., Punica) und Statius, der mit seiner Thebais antithetisch an die Aeneis anknüpft (cf. Baier 2010: 17-27). Die Satire, die bereits in altlateinischer Zeit von Lucilius gepflegt wurde (v. supra), erfährt mit den saturae des Horaz ihre sprachliche und literarische Voll‐ endung. Auch wenn er auf ein römisches Vorbild zurückgreifen kann, bleibt der Rekurs auf die griechische Tradition bestehen - so knüpft er beispielsweise an die kynische Diatribe im Stile des Bion von Borythenes (Βίων Βορυσθενίτης, ca. 335-252 v. Chr.) an. Satirendichtung betreiben im Folgenden auch Persius Flaccus (Aulus Persius Flaccus, 34-62 n. Chr.) und Juvenal (Decimus Iunius Iuve‐ nalis, ca. 67-127 n. Chr.), wobei insbesondere letzterem nicht zuletzt durch ei‐ nige bonmots (z. B. panem et circenses, 10, 81; mens sana in corpore sano, 10, 356; difficile est satiram non scribere, I, 30) eine nicht unerhebliche Nachwirkung be‐ schieden war. Eine dezidierte Anknüpfung an die Menippeische Satire, mit der sich schon Varro (Marcus Terentius Varro, 116-27 v. Chr.) beschäftigt hat (De compositione saturarum), findet sich dann bei Seneca (d. J.) in seiner Apocolo‐ cyntosis Divi Claudii. Auch wenn die Textgattung der Satire keine „Erfindung“ der Römer war, bekam sie in der lateinischen Sprache und Literaturtradition doch eine ganz eigene Ausformung und Prägung, so daß Quintilian sie schließ‐ lich pointiert ganz vereinnahmen kann: „Satura quidem tota nostra est […]“ (Inst. orat. X, 1, 93; 2001 IV : 302) (cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 677-679; Baier 2010: 56-58). In den Bereichen, die man im weiten Sinne der Wissenschaft zuordnen kann und die in der Periode des Altalteins bereits Werke in lateinischer Sprache ge‐ zeitigt haben, ist für die Epoche des Klassischen Lateins ein weiterer intensiver Ausbau dieser Diskurstraditionen zu konstatieren. So erlebt die Geschichtsschreibung eine Blüte mit zentralen Autoren wie Sal‐ lust (Gaius Sallustius Crispus, 86-35 v. Chr., Bellum Catilinae, Bellum Iugur‐ thinum, Historiae) Livius (Titus Livius, 64 / 59 v. Chr.-12 / 17 n. Chr., Ab urbe con‐ dita libri), Tacitus (Publius Cornelius Tacitus, ca. 56-120 n. Chr., Annales, Historiae) und Sueton (Cornelius Suetonius Tranquillus, ca. 70-140 n. Chr., De vita Caesarum, De viris illustribus). Letzterer steht hierbei zwischen Historio‐ graphie und biographischer Literatur. 203 Neue, sozusagen römische Wege be‐ schreitet hierbei Caesar (Gaius Iulius Caesar, 100-44 v. Chr.), der mit seinen commentarii eine ganz eigene Art von Hybridwerk zwischen militärischem Be‐ 117 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="118"?> 204 Man kann in der Historiographie folgende Subgenera unterscheiden: annales, histo‐ riae, res gestae, historische Monographien, Universalgeschichten, Epitome und com‐ mentarii (cf. Albrecht 2012 I: 305-307). 205 Weiteren Fachdisziplinen, in denen römische Literatur fortgesetzt wird bzw. entsteht, wäre beispielsweise Landwirtschaft durch Columella (Lucius Iunius Moderatus Colu‐ mella, 1. Jh. n. Chr.) mit De re rustica und Varro (De re rustica), Architektur durch Frontin (Sextus Iulius Frontinus, ca. 35-103 n. Chr.) mit De aquaeductu urbis Romae, Geographie durch Varro (Antiquitates rerum humanarum) oder wie Feldmeßkunst ebenfalls durch Varro (De mensuris) sowie Frontin (De arte mensoria). Zu einer umfangreicheren Auf‐ schlüsselung und Charakterisierung der einzelnen Wissenschaftszweige cf. Albrecht (2012 I: 473-479). richt, historischer Darstellung und autobiographischer 204 Rechtfertigung schafft, auch mit einem sehr eigenen spezifischen sprachlichen Duktus (cf. Baier 2010: 93-94). Die Rechtsprechung zeitigt wichtige Werke von Autoren wie Gaius (ca. 120-180 n. Chr.) mit seinen Institutiones oder Papinian (Aemilius Papinianus, 142-212 n. Chr.) mit den Quaestiones, um nur eine Auswahl zu nennen (cf. Alb‐ recht 2012 II : 1294). Gerade in diesem Wissenschaftsbereich, der eng an eine Praxis geknüpft ist, beginnt in der Kaiserzeit eine Diskurstradition sich voll‐ ständig zu konstituieren, die dann über die Spätantike eine enorme Nachwir‐ kung in Europa erlebt. Im Bereich der Philosophie sind vor allem Cicero mit zahlreichen Schriften (Hortensius, Academici libri, De finibus bonorum et malorum, De officiis, Tuscu‐ lanae Disputationes), auch zur Religion (De natura deorum, De divinatione), und Seneca (Dialogi, Ad Marciam de consolatione, De vita beata, De providentia, De beneficiis) zu nennen (cf. Baier 2010: 85-92, 111-116). Ein Universalgelehrter war Varro, der als Diskurstradition die Grammatikographie neu für die lateinische Sprache erschloß (De lingua latina). In den von ihm postulierten Kategorien blieb er eng angelehnt an die erste Grammatik des europäischen Kulturkreises von Dionysios Thrax (Διονύσιος ὁ Θρᾷξ, ca. 180 / 170-90 v. Chr., Τέχνη γραμματική). Einen neuen Wissenschaftsbereich erschloß Vitruv (Marcus Vitrvius Pollio, 1. Jh. v. Chr.) mit seinem Opus De architectura, welches vor allem in der Renais‐ sance ein breite Rezeption (und Umsetzung) erfuhr. Die Naturwissenschaft er‐ lebt in der Naturalis historia des älteren Plinius (Gaius Plinius Secundus, 23 / 24-79 n. Chr.) eine umfangreiche Darstellung zahlreicher Subdisziplinen in lateinischer Sprache (cf. Baier 2010: 120-122). 205 Aus soziolinguistischem Blickwinkel ist die Frage nach dem Ausbau der Sprache hier zentral und damit eng zusammenhängend nach dem Vorrücken in verschiedene diskurstraditionelle Bereiche. Literarische Textgattungen sind wie andere Textsorten auch (z. B. Gebrauchstexte), Teil des Spektrums der schriftli‐ 118 4. Die Architektur des Lateins <?page no="119"?> 206 Zur Sprache der einzelnen Textgattungen und Autoren cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: passim: z. B. Die Sprache der fabula palliata (Plautus und Terenz) (ibid.: 298-308), Die Sprache der nichtepischen Dichtung (ibid.: 311-320), Die Prosa von der Mitte des II. bis ins I. Jahrhundert v. Chr. (ibid.: 323-325), Die Sprache des Romans (ibid.: 346-356), Die Sprache der Wissenschaft und der Technik (ibid.: 358-376). Zu den spezifisch sprachlichen Charakteristika des Klassischen Lateins im Allgemeinen cf. Kramer (1997: 136-146). chen Diskurstraditionen und damit ein Indikator für den sprachlichen Ausbau. In diesem Sinne ist das Erschließen von neuen diskurstraditionellen Bereichen für das Lateinische (cf. zahlreiche lyrische Formen, fachwissenschaftliche Teil‐ gebiete), indem vor allem auf bereits existierende griechische Modelle rekurriert wurde, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer vollausgebauten Sprache. Dieser Status ist am Ende der klassischen bzw. nachklassischen Zeit für das Lateinische erreicht. Die Unterscheidung „klassische Phase“ und „nachklassische Phase“ wird aus sprachwissenschaftlicher Perspektive hier fallengelassen und - wie bereits ein‐ gangs festgelegt (v. supra) - unter dem Aspekt des Ausbaus insgesamt sozusagen als „Hochphase der literarischen Produktion“ klassifiziert. Rekapituliert man die in dieser wohl produktivsten und innovativsten Epoche entstandene Literatur - und dies ist hier der wichtigste Indikator, da der münd‐ liche Bereich genauso wie der der Gebrauchstexte nur schwer erschließbar bzw. wenig dokumentiert ist -, so zeigt sich, daß für das Lateinische zahlreiche neue Textgattungen erschlossen wurden, diese innovativ verändert und ausgebaut wurden sowie auch neue entstanden. Unabhängig von dem literarischen Ge‐ winn steht hier in erster Linie der sprachliche im Vordergrund, denn durch die Auseinandersetzung mit neuen Formen und Inhalten ergeben sich fast zwangs‐ läufig Innovationen auf den verschiedensten sprachlichen Ebenen (Lexikon, Se‐ mantik, Syntax, Stilistik). Die Sprache durchläuft einen Ausbauprozeß durch die Herausforderung, die durch literarische Gattungen gestellt werden, aber auch bei der Versprachlichung von Inhalten, die an bestimmte Textsorten geknüpft sind (z. B. fachwissenschaftliche) steigt der Grad der Elaboriertheit und der Grad des Ausbaus mit der dadurch „erzwungenen“ Erweiterung der Ausdrucks‐ mittel. 206 Was nun die sprachliche Situation im römischen Reich vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. anbelangt, so ist diese wiederum in enger Abhängigkeit zur Expansion des Imperiums einerseits und zum Grad der Romanisierung anderer‐ seits zu sehen. Auch diese Tatsache hat wiederum Rückwirkung auf den Ausbaugrad, da das Lateinische in zahlreiche Domänen vorrückt: „Das einheitliche Recht, der Handel, die politisch-militärische Organisation der römischen Herrschaft, die 119 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="120"?> fortgeschrittene Kultur, die einheitliche Literatur: all das führte zur Erweiterung der gesellschaftlichen Funktionen des Lateinischen“ (Irmscher 1986: 84). Mit den zunehmenden Eroberungen, durch die ausgetragenen Konflikte mit den im Mittelmeerraum noch verbliebenen Staatengefüge (Seleukidenreich, Ptomeläerreich etc.) sowie mit verschiedenen Ethnien am Rande des Reiches, wächst das römische Reich ab dem 1. Jh. v. Chr., insbesondere ab Augustus und der frühen Kaiserzeit stetig und geradezu exponentiell, so daß bald seine größte Ausdehnung erreicht wird (115-117 n. Chr., v. supra). Durch die Einrichtung von immer neuen Provinzen und der Stationierung von Truppenkontingenten (legiones) sowie der gezielten Kolonialisierung soll eine Konsolidierung der er‐ oberten Regionen erreicht werden. Die systematische Erschließung durch Neu‐ gründung von Städten (civitates, municipia, coloniae), dem Anlegen eines aus‐ gedehnten Straßennetzes und damit der Schaffung von Handels- und Verkehrsverbindungen (cf. itineraria) sowie die Errichtung einer einheitlichen zivilen und militärischen Verwaltungsstruktur (cf. mil.: proconsules, proprae‐ tores; ziv.: decuriones) fördert im Folgenden die Romanisierung. Die lateinische Sprache setzt sich dabei in den meisten eroberten Provinzen nach und nach durch, nicht gleichmäßig und zeitlich abhängig zum einen vom Eroberungszeitpunkt und vom womöglich fortgesetzten Widerstand der Bevöl‐ kerung, zum anderen von der vorgefundenen Infrastruktur und Art der Zivili‐ sation. Generell gilt, daß die Latinisierung zuerst in den städtischen Zentren griff und sich von dort auf das Land ausbreitete und ganz prinzipiell urban ge‐ prägte Kulturkreise sich schneller akkulturierten und sprachlich assimilierten (cf. z. B. Iberer) als solche, die zur Migration neigen oder zumindest wenig feste Infrastruktur aufweisen. Wie bereits erwähnt (v. supra) dürfte die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. im Wesentlich abgeschlossen sein - bis auf einige griechische Sprachinseln in Süditalien und Sizilien. Fuhrmann (1999: 19-20) datiert die Latinisierung der Iberischen Halbinsel auf das 1. Jh. n. Chr. und begründet die tiefgreifende sprachliche Assimilation mit dem Auftreten von lateinischen Schriftstellern wie Seneca oder Lukan. Hierbei ist allerdings einzuwenden, daß dies nicht ausschließt, daß die nördlichen Regionen wie das Baskenland oder Kantabrien zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht voll‐ ständig romanisiert und latinisiert waren bzw. nie wurden. Für Gallien und Nordafrika setzt er das 2. Jh. als Richtwert für eine weitgehend vollständige La‐ tinisierung an, während für Britannien und den Donauraum die Durchdringung mit der lateinischen Sprache auch in den folgenden Jahrhunderten nicht in gleichem Maße flächendeckend und tiefgreifend war. 120 4. Die Architektur des Lateins <?page no="121"?> 207 „All das, was aus der Umgangssprache ausgeschlossen ist, wird Standardsprache. Die Entstehung des klassischen Lateins und der Abstand zur Gemeinsprache bedingen sich also gegenseitig. Das klassische Latein bildet sich dadurch heraus, dass es sich be‐ stimmten Elementen gegenüber verschliest. Dadurch werden sie zu niedriger mar‐ kierten Elementen und in den Substandard abgedrängt. Das für die Geschichte der ro‐ Der Osten blieb weiterhin griechischsprachig und das Lateinische tat sich als Amtssprache schwer, auch wenn es durchaus bezeugte Bemühungen von Seiten der Griechen gab, das Lateinische zu erlernen (cf. Adams 2003: 15). Durch die massive Expansionspolitik in dieser Epoche wurde das Latein als Sprache der Eroberer in zahlreiche neue Regionen getragen, wirkte aber auch über die politischen Grenzen hinaus und wurde so zur Weltsprache in Rahmen der damaligen Welt (cf. röm. Anspruch der Herrschaft über den orbis terrarum). Für die Bevölkerung in den neu eroberten Gebieten ergab sich somit entweder ein zum Teil dauerhafter Bilingualismus bzw. eine Diglossie-Situation in den Regionen, die weniger latinisiert waren oder es vollzog sich über eine mehr oder weniger lange Phase der Mehrsprachigkeit ein Sprachwechsel hin zum Latein‐ ischen. Fuhrmann (1999: 19) postuliert dabei einen eher abrupten, schnellen Sprach‐ wechsel ohne eine größere Übergangsphase. Dies wäre aber womöglich en detail zu betrachten, da auch hier die Frage nach sozialer Stratifikation, urbaner oder ruraler Struktur u. ä. Kriterien eine Rolle spielen könnten. Für die Elite Roms und des römischen Reiches ist prinzipiell weiterhin eine Diglossie-Situation mit dem Griechischen anzusetzen. Während Fuhrmann (1999: 345) allerdings mit einem gewissen Rückgang des Philhellenismus in der nachklassischen Phase des Archaismus rechnet, sieht Kramer (1997: 146) eine „ausgeprägte Zweisprachigkeit“ gebildeter Kreise bis ca. 250 n. Chr., was auch an der Übernahme fremder Strukturen, d. h. vor allem im Bereich der Syntax, aber auch auf lautlicher, morphologischer und semantischer Ebene ersichtlich sei. Insgesamt ist dennoch zu konstatieren, daß das römische Reich in dieser Epoche nicht nur ein Vielvölkerstaat wurde (mehr denn je zuvor), sondern auch ein Vielsprachenstaat, in dem Bilingualismus und Mehrsprachigkeit durchaus gängig waren, nicht zuletzt auch bedingt durch die relativ hohe Mobilität bzw. Migration innerhalb des Imperiums. Als high-variety fungierte dabei einerseits das Latein, das inzwischen sowohl durch seine politisch-gesellschaftliche Stel‐ lung als auch durch seine nun reichhaltige Literatur zur unzweifelhaften Pres‐ tigesprache aufgestiegen war und in dieser Epoche einen Standardisierungs‐ prozeß durchlief, 207 andererseits auch das Griechische als „alte“ Kultursprache, 121 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="122"?> manischen Sprachen relevante Varietätengefüge entstand also erst mit der Standardisierung des Lateinischen in seiner klassischen Epoche“ (Lüdtke 2019: 452). aber auch als nach wie vor gültige Verkehrssprache im östlichen Teil des Impe‐ riums 4.1.1.4 Spätlatein Die Frage, ab wann die Epoche des Spätlateins anzusetzen ist, hängt eng mit der unterschiedlich gehandhabten Begrenzung des Klassischen bzw. vor allem des Nachklassischen Lateins zusammen (v. supra), während ihr unscharfes Ende in erster Linie mit der Herausbildung der Romanischen Sprachen verknüpft ist. Müller-Lancé (2006: 34) verweist deshalb mit Recht auf den Charakter einer Übergangsepoche. Es sei aus der dort gegebenen, relativ exakten Datierung (ca. 180-650 n. Chr.) und der ebenfalls präzisen, aber leicht verschobenen bei Stein‐ bauer (2003: 513), nämlich ca. 200-600 n. Chr, hier eine etwas fließenderen Grenze angenommen, d. h. ein Zeitraum vom 2./ 3. Jh. - 5./ 6. Jh. postuliert. Das etwas frühere Ende sei damit begründet, daß mit dem Fehlen der Reichseinheit spätestens ab dem 7. Jh. geistes- und kulturgeschichtlich genauso wie politisch eine andere Ära beginnt. Der Beginn der spätlateinischen Epoche fällt mit dem von Berschin (2012: 94) charakterisierten „dunklen III . Jahrhundert“ zusammen, in dem nicht viel von der lateinischen Kultur überliefert ist, aber sich ein Wandel in Schrift, Sprache und Literatur vollzog. Aus der soziolinguistischen Sicht des sprachlichen Ausbaus ist für die spät‐ lateinische Phase vor allem die neu aufkommende christliche Literatur von Re‐ levanz, die sich in vielen Facetten zeigt. Ohne in vollem Umfang auf alle Schrift‐ steller und Genres eingehen zu können, seien hier an erster Stelle die lateinischen Kirchenväter (patres ecclesiae) genannt, und zwar die kanonischen großen vier: Ambrosius (Aurelius Ambrosius, 339 / 340-397 n. Chr.), Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus, 345 / 348-420 n. Chr.), Augustinus (Aurelius Augustinus, 354-430 n. Chr.) und Gregor d. Große (Gregorius, 540-604 n. Chr.). Chronologisch sollen zunächst aber einige andere wichtige Vertreter aus der Reihe der Kirchenlehrer genannt sein, die den Ausbau der religiösen Fachlite‐ ratur maßgeblich vorangetrieben haben. Dabei ist sicherlich an erster Stelle Tertullian (Quintus Septimus Florens Tertullianus, ca. 150 / 170-220 n. Chr.) zu nennen, von dem ein umfangreiches und vielfältiges Schrifttum überliefert ist. Dabei kann man das Gesamtwerk in apologetische Schriften (z. B. Ad nationes, Apologeticum, De Testimonio animae, Adversos Iudeos), in praktisch-asketische Schriften (z. B. Ad martyras, De spectaculis, De baptismo) und in dogmatisch-po‐ lemische Schriften (z. B. De praescriptione haereticorum, Adversos Praxean) glie‐ 122 4. Die Architektur des Lateins <?page no="123"?> 208 Inwieweit das bestimmte Parallelen aufweisende Werk des Minucius Felix (Octavius) zur Schrift Apologeticum des Tertullian darauf schließen läßt, wer evtl. von wem sich hat inspirieren lassen bzw. abgeschrieben hat, ist umstritten. dern. Seine literarischen Modelle sind zum einen bei den zeitgenössischen christlichen griechischen Autoren zu suchen, aber auch in der klassischen Phi‐ losophie (Platon, Stoa). Ein prägendes Moment ist dabei auch die Auseinander‐ setzung mit aktuellen Strömungen wie dem aufkommenden Gnostizismus. Dabei legt Tertullian nicht nur die Grundlage für eine facettenreiche religiöse Literatur des Lateinischen im Allgemeinen, sondern schafft mit seiner Art der Apologetik (werbend und verteidigend zugleich) ein neues Subgenre, welches so zuvor weder in der lateinischen noch in der griechischen Tradition existierte (cf. Albrecht 2012 II : 1315-1324). Ein wahrscheinlich etwas jüngerer Zeitgenosse Tertullians ist Minucius Felix (2./ 3. Jh. n. Chr.), von dem nur die Schrift Octavius überliefert ist. 208 In dieser dialogisch gestalteten erstmaligen Auseinandersetzung mit den paganen Über‐ zeugungen aus christlicher Perspektive werden Vorbilder wie Homer, Platon, Cicero, Seneca oder Vergil sichtbar (cf. Albrecht 2012 II : 1337-1340). Als ein weiterer nicht unbedeutender Vertreter aus dem Kreis der frühen Kirchenlehrer ist Cyprian (Thascius Caecilius Cyprianus, ca. 200 / 210-258 n. Chr.) zu nennen, der im Zuge der Profilierung der frühen katholischen Lehre sowohl wichtige Bekehrungsschriften (z. B. Ad Donatum, Ad Detrianum, De ecc‐ lesiae catholicae unitate) wie auch die Gattung der Erbauungsschriften (z. B. De habitu virginum, De dominica oratione) hervorgebracht hat (cf. Albrecht 2012 II : 1348-1351). Ebenfalls zu den Großen und Einflußreichen gehört Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus Lactantius, ca. 250-320), der in seinen Divinae institutiones Elemente aus der juristischen Tradition mit solchen aus der Rhetorik verbindet. Neben weiteren wichtigen apologetischen Schriften wie De opificio Dei, De ira Dei oder De mortibus persecutorum - wobei vor allem letzteren eine größere Nachwir‐ kung beschieden war, nicht zuletzt als Geschichtsquelle - soll er auch weltliche Schriften verfaßt haben, die allerdings nicht erhalten sind (Symposium, Itinera‐ rium, Grammaticus) (cf. Albrecht 2012 II : 1370-1371). Was die sogenannten großen Kirchväter anbelangt, so ist zunächst Ambrosius zu nennen, der ein vielseitiges Œuvre hinterlassen hat, bestehend aus mora‐ lisch-asketischen Schriften (De officiis ministorum, Exhortatio virginitatis, De Tobia), dogmatischen Schriften (De fide, De spiritu sacto, De incarnationis domi‐ nicae sacramento), einer politischen Flugschrift (Contra Auxentium de basilicis tradendis), Trauerreden, Hymnen und einer verlorenen philosophischen Ab‐ handlung (De philosophia). Dabei war auch bei ihm, wie im Falle anderer Kir‐ 123 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="124"?> 209 Die ersten lateinischen Bibelübersetzungen sind zum Teil bereits früher verfaßt worden (2./ 3. Jh.) und werden unter dem Namen der Vetus latina zusammengefaßt, mit den Hauptbestandteilen Afra, Itala, Hispana. Die meisten Fragmente sind in die Vulgata eingegangen oder in den Schriften der Kirchenväter überliefert (Neue Pauly 1997 II: 630). chenlehrer, der griechische Einfluß durch seine klassische Vorbildung gegeben. Er hat unzweifelhaft Philosophen wie Plotin (Πλωτῖνος, 205-270 n. Chr.) oder Porphyrios (Πορφύριος, ca. 233-305 n. Chr.) genauso rezipiert wie römische ka‐ nonische Autoren (z. B. Cicero, Vergil) (cf. Albrecht 2012 II : 1402-1406). Hieronymus ist vor allem wegen seiner Bibelübersetzung in die Geschichte eingegangen, der Vulgata. 209 Dabei ist bemerkenswert, daß er nicht nur selbs‐ verständlicherweise Griechisch konnte, sondern auch Kenntnisse des Hebräi‐ schen hatte, um eine bessere Übertragung bzw. Exegese leisten zu können. Seine schriftstellerische Tätigkeit umfaßte auch weitere Übersetzungen (vor allem exegetischer Predigten), Kommentare zu biblischen Büchern, Briefe, Predigten sowie Streitschriften (z. B. Adversos Rufinum, Contra Pelegianos), Hagiographien und eine christliche Literaturgeschichte (De viris illustribus) nach griechischem Vorbild (cf. Albrecht 2012 II : 1415-1417). Der wirkungsmächtigste Kirchenvater war wohl Augustinus mit einem um‐ fangreichen Gesamt-Opus, darunter philosophische Schriften (Soliloquiorum libri duo, De magistro, De immortalitate animae), philosophisch-rhetorische (De grammatica, De doctrina christiana), apologetische (De divinatione daemonum, De civitate Dei), dogmatische (De fide et symbolo, De agone Christiano, De trinitate libri XV ), dogmatisch-polemische (De libro arbitro) und hermeneutische (De doctrina christiana), von denen viele für die christlichen Theologie fundamental wurden. Die breiteste Rezeption erfuhr er aber wohl mit seiner autobiographi‐ schen Schrift, den Confessiones. Augustinus bedient sich in seinen Einzelwerken der gesamten Bandbreite griechisch-lateinischer Literatur, die zu seiner Zeit gängig war (cf. Albrecht 2012 II : 1431-1436). Gregor d. Große (Gregorius, ca. 540-604 n. Chr.) schließlich, Papst (590-604 n. Chr.), verfaßte anhand eines Bibelkommentars eine Moraltheologie (Moralia in Job), zahlreiche Homilien, Pastoralen (Regula pastoralis) und hinter‐ ließ ein umfangreiches Korpus an Briefen. Insbesondere seine Heiligenlegenden in Form von Dialogen (Dialogi) wurden in den folgenden Jahrhunderten häufig rezipiert (cf. Heim 2001: 147). Der Wissenschaftsbereich der Historiographie wird durch Historiker wie Ammian (Ammianus Marcellinus, 330-395 n. Chr.) mit seinen an Tacitus an‐ knüpfenden in annalistischer Tradition stehenden Res gestae oder Jordanes (6. Jh.) mit seiner Gotengeschichte (Getica) und einer Weltchronik (De summa 124 4. Die Architektur des Lateins <?page no="125"?> 210 Als weitere Historiker der Spätzeit seien Aurelius Victor (Sextus Aurelius Victor, ca. 320-389 n. Chr., Caesares), Eutrop (Eutropius, 4. Jh. n. Chr., Breviarium ab urbe condita), Festus (ca. 320-390 n. Chr., Breviarium rerum gestarum populi Romani) und Orosius (4./ 5. Jh. n. Chr., Historiarum adversus paganos libri VII) genannt sowie das anonyme Werk der Historia Augusta (4./ 6. Jh.). 211 Von Symmachus selbst, der der senatorischen stadtrömischen Aristokratie zuzurechnen war, ist auch im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Kirchenlehrer Ambrosius von Mailand, ein Korpus von über 900 Briefen erhalten. Nicht zu verwechseln ist dieser mit dem späteren Symmachus (Quintus Fabius Memmius Symmachus, † 525 n. Chr.), einem Urenkel, der dem römischen Senat vorstand (485 consul), Schwiegervater des Boethius war und als Historiker eine römische Geschichte verfaßte, die allerdings nicht erhalten ist (cf. Neue Pauly 2001 XI: 1134-1135). temporum vel origine actibusque gentis Romanorum) weiter gepflegt (Kleine Pauly 1967 II : 1439). 210 In der Philosophie sei vor allem auf Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius, ca. 480-525 n. Chr.) verwiesen, der durch seine Consolatio philosophiae breite Nachwirkung erfuhr, aber auch durch seine Über‐ setzungen, Kommentare und weiteren Schriften zu anderen Fachbereichen wirkte (z. B. Logik: De categoria syllogismis, Mathematik: Institutio arithmetica) (cf. Albrecht 2012 II : 1470-1475). Die Grammatikschreibung zeitigt mit den Werken Donats (Aelius Donatus, ca. 310-380 n. Chr., Ars grammatica) und Pris‐ cians (Priscianus Caesariensis, 5./ 6. Jh., Institutio de arte grammaticae) in dieser spätlateinischen Phase die wichtigsten Inspirationsquellen der folgenden Jahr‐ hunderte (cf. Brodersen / Zimmermann 2000: 145, 492). Die schöne Literatur wird ebenfalls weiterhin gepflegt, wenn auch nicht mehr in gleichem Umfang und vor allem nicht mehr mit gleichem Rezeptionsgrad wie zuvor. Exemplarisch soll hier in erster Linie der Dichter Ausonius (Decimus Magnus Ausonius, ca. 310-393 / 394) genannt werden, dem mit Werken wie der Mosella, Bissula oder dem Ordo urbium nobilium ein gewisser Nachruhm be‐ schieden war. Gerade mit letzterem, bei dem er Elemente des griechischen Epi‐ gramms und der descriptiones verbindet, schafft er einen neuen Gedichttypus, genauso wie mit seiner commemoratio, dem Weih- oder Gedenkgedicht, welches eine Mischung aus laudatio und Epikedeion darstellt (cf. Albrecht 2012 II : 1129-1131). Erwähnt sei auch noch der Dichter Prudentius (Aurelius Pruden‐ tius, 348-405 n. Chr.), insofern sich in seinem Werk christliche Inhalte mit an‐ tiken Traditionen verbinden, wie beispielsweise in dem Lehrgedicht Psychoma‐ chia, in dem in Hexametern christliche Allegorien und Tugendvorstellungen mit Bezügen auf Vergils Aeneis ausgearbeitet wurden. In Contra Symmachum setzt er sich mit dem restaurativ-paganen Dichterkreis um Symmachus (Quintus Au‐ relius Symmachus, ca. 340-402 n. Chr.) auseinander, 211 während in anderen 125 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="126"?> Werken rein christliche Themen dominieren (Peristephanon, Apotheosis, Kathe‐ merinon) (cf. Brodersen / Zimmermann 2000: 497). Aus der Sicht des sprachlichen Ausbaus ist zu konstatieren, daß sich in der spätlateinischen Phase am Zustand des Lateins im Sinne einer vollausgebauten Sprache nichts Wesentliches ändert. Die meisten Diskurstraditionen wurden weiter gepflegt, mitunter nicht in gleichem Umfang, aber dafür kamen durch neue Themenbereiche, und zwar in erster Linie solche mit christlichem Bezug, neue Arten von Textgattungen auf, wie z. B. Hagiographien, Predigten, dogma‐ tische oder apologetische Schriften, die es zumindest in dieser Form zuvor im Lateinischen noch nicht gegeben hatte (v. supra). Der ganze Fachbereich der Theologie im weitesten Sinne erfuhr somit einen Ausbau, der vor allem mit zahlreichen Entlehnungen aus dem Griechischen einherging. Eine gewisse va‐ riatio ist aber durchaus auch bei etablierten Textgattungen festzustellen (cf. z. B. Lyrik des Ausonius), so daß sich vereinzelt neue Subgenres herausbildeten. Ein „Niedergang“, wie er aus der traditionellen, wertenden Perspektive der Klassischen Philologie meist festgestellt wurde, ist aus sozio-linguistischer Sicht, also in Form eines Rückbaus der Sprache, sicherlich nicht festzustellen, da ja nicht nur weiterhin die bereits kanonische Literatur tradiert und rezipiert wird, sondern eben neue Bereiche oder Subbereiche für das Lateinische er‐ schlossen werden. In Hinsicht auf die sprachliche Situation ist für die Spätantike mit einer wei‐ terhin zunehmenden Romanisierung und Latinisierung zu rechnen, vor allem in den Regionen des Imperium Romanum, die erst später erobert wurden, sowie solchen die infrastrukturell eher entlegen waren oder sozio-strukturell diver‐ gierend. So schließen beispielsweise Berschin / Felixberger / Goebl (2006: 162) aus einer Passage bei Hieronymus, daß gegen Ende des 4. Jh. in Trier an der Mosel (römische Randzone, aber auch Kaiserresidenz) noch Keltisch gesprochen wurde, immerhin über 400 Jahre nach der Eroberung Nordgalliens. Für die Ibe‐ rische Halbinsel, die wie Gallien insgesamt als bereits tiefgreifend romanisiert gelten kann, vermutet Curchin (1991: 179-181, 190-192), daß sich im Sied‐ lungsgebiet der Kantabrer (lat. Cantabrii) bedingt durch die dort vorherrsch‐ enden Gentilverbände und die fehlende urbane Struktur, die Romanisierung partiell bis ins 5. Jh. hingezogen habe, womöglich vollständig erst nach dem Zusammenbruch des Imperiums erfolgt sei. Trotz gewisser Einzelfälle und Rand‐ zonen wie Britannien oder Dakien mit geringerem Grad an Romanisierung und Latinisierung ist insgesamt für das Imperium im Laufe der Jahrhunderte von einer starken sprachlichen und kulturellen Assimilation von weiten Teilen der Bevölkerung auszugehen, nicht zuletzt auch durch die von Caracalla (Caesar Marcus Aurelius Antoninus Augustus, 188-217 n. Chr., Ks. ab 211) erlassene Con‐ 126 4. Die Architektur des Lateins <?page no="127"?> 212 Zu einem Modell, das diese Gleichzeitigkeit berücksichtigt und damit auch den poten‐ tiellen Sprachkontakt der Substratsprachen untereinander cf. Schöntag (2013: 290-292). Zur Geschichte des Strata-Modells und der zugehörigen Begriffe wie Substrat, Super‐ strat und Adstrat (bzw. Kulturadstrat) sowie seiner grundlegenden Problematik cf. Schöntag (2020b). 213 Inwieweit die Griechischkenntnisse der Elite zu früheren Jahrhunderten womöglich abnahmen, ist schwer zu ermitteln, man könnte es in der Spätphase eventuell korrelativ zur allgemein abnehmenden Alphabetisierungsrate bzw. dem schwindenen Anteil der Bildungsträger festmachen. stitutio Antoniniana (212 n. Chr.), mit der allen Reichsbewohnern das uneinge‐ schränkte Bürgerrecht verliehen wurde. Das römische Reich blieb zwar ein Raum der Mehrsprachigkeit, nicht zuletzt weil in der Spätphase größere Kon‐ tingente von Völkern mit verschiedenen germanischsprachigen Idiomen inner‐ halb der Reichsgrenzen angesiedelt wurden bzw. dorthin vordrangen, was ent‐ gegen dem gängigen Modell von Dietrich / Geckeler (2007: 172) eine Gleichzeitigkeit von Sub- und Superstratsprachen ergeben konnte. 212 Auf der anderen Seite nahm durch die zunehmende Latinisierung auch die Zahl der Personen, die muttersprachlich nur eine lateinische Varietät zur Verfügung hatten, deutlich zu. Wie man exemplarisch an den christlichen Kirchenlehrern sieht, blieb das Griechische dabei Bildungssprache für die römische Elite im gesamten Imperium, 213 die sich somit weiterhin in einer Art Diglossie-Situation befanden, wobei das Schriftlatein allerdings nun endgültig auch den Rang einer high-variety in allen Bereichen innehatte. Durch die Verbreitung und Etablierung des Lateins in zahlreichen Regionen Europas und rund ums Mittelmeer (mare nostrum) entsteht einerseits eine all‐ gemeine gesprochene lateinische Sprache, die man in Anlehnung an die grie‐ chische Konstellation als koiné bezeichnen kann, und andererseits isoliert sich ein vorwiegend schriftlich gebrauchtes Latein, welches als Bildungssprache morphologisch erstarrt und in seiner Grammatik konserviert ist (cf. latinitas perennis). Das nachmalig als „klassisch“ apostrophierte Latein entsteht, indem das Latein ausgewählter Autoren einer bestimmten historischen Epoche kano‐ nisiert wird und dem natürlichen sprachlichen Erneuerungszyklus enthoben wird (cf. Poccetti / Poli / Santini 2005: 325-326). 4.1.2 Der Varietätenraum Bei einer Beschreibung des Varietätenraumes des Lateinischen als lebendige Sprache ergibt sich zunächst einmal, wie aus oben ausgeführter Periodisierung hervorgeht, die Problematik, daß sich das Latein im Laufe seiner über tausend‐ jährigen Sprachgeschichte nicht nur bezüglich einzelner sprachlicher Merkmale 127 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="128"?> 214 Reichenkron (1965: 8-17) faßt prinzipiell alles unter ‚Vulgärlatein‘ zusammen und dif‐ ferenziert dann in Sprache der untersten Schichten, Volkssprache, Sprache der Mittel‐ klasse, Umgangssprache und Sprechsprache, wobei diastratische, diaphasische und dia‐ mesische Kriterien nicht getrennt werden. 215 Der Begriff ‚Umgangssprache‘ entsteht in der 2. Hälfte des 18. Jh. und war schon zur damaligen Zeit vieldeutig bzw. unpräzise. So gibt es u. a. Belege bei Johann Christoph Gottsched (1700-1766) und Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), die beide im Zuge von Stilbetrachtungen die Sprache des Umgang(e)s (1751) thematisieren, Christian Garve (17 742-1798), der die Sprache der Bücher mit der Sprache des Umgangs (1773) kontrastiert, bei Johann Christoph Adelung (1732-1806), der die Büchersprache mit der im täglichen Umgange (1774) vergleicht sowie Friedrich Gedicke (1754-1803), der ex‐ plizit die Umgangssprache der Büchersprache (1777) gegenüberstellt (cf. Takada 2012: 175-181), bevor schließlich Joachim Heinrich Campe (1746-1818) den Terminus verändert hat, sondern durch seine Expansionskraft auch seine Verbreitung in den verschiedenen Regionen der Welt sowie damit einhergehend die Zahl seiner Benutzer enorm gestiegen ist. Dies wiederum bedingt einen erheblichen Zu‐ wachs an sprachlicher Beeinflussung durch Substrat- und Adstratsprachen, die im Latein ihre Spuren hinterlassen haben. Durch diese im Laufe der Zeit sich stark verändernden Konstellationen ist es notwendig, daß auch eine historische Komponente bei der Erfassung der Architektur des Lateinischen Berücksichti‐ gung findet. Traditionell wird in der Klassischen Philologie der sprachlichen Variation relativ wenig Raum gegeben bzw. spielt allenfalls im Rahmen von stilistischen Betrachtungen eine Rolle. Die Frage nach der Existenz verschiedener Varietäten scheint hierbei eher untergeordnet und wird meist ohne größere Diskussion um eine eventuell mögliche linguistische Verortung abgehandelt, was nicht nur an der für das Lateinische als nicht mehr lebendige Sprache nicht immer einfachen Belegsituation zusammenhängt. Exemplarisch für die traditionelle Sicht und die ältere Forschung sei hier auf Leumann / Hoffmann (1928) verwiesen, die die komplette Variation inklusive diachroner Implikationen in einem einzigen Kapitel abhandeln (ibid.: 9-11), und zwar unter dem Titel Vulgärlatein und Romanisch, Umgangssprache, Schrift‐ sprache. Hierbei sind bereits mit den Termini ‚Umgangssprache‘ und ‚Vulgärla‐ tein‘ die beiden wichtigsten Varietäten jenseits der standardisierten Schrift‐ sprache in der traditionellen Betrachtung angesprochen. Diese finden sich genauso in der modernen Forschung: In dem Überblick bei Irmscher (1986: 84-85), bei Reichenkron (1965) 214 wie auch in der aktuellen Einführung zur Klassischen Philologie von Willms (2013: 230, 239). Dies bedeutet auch, daß die komplette diasystematische Variation im Wesentlichen an einem Begriff aus der Germanistik, der eigentlich Verhältnisse des Deutschen wiedergibt, aufge‐ hängt ist (‚Umgangssprache‘) 215 sowie an einem Terminus, der in der Forschung 128 4. Die Architektur des Lateins <?page no="129"?> ‚Umgangssprache‘ als Übersetzung für ‚Conversationssprache‘ in seinem Verdeut‐ schungswörterbuch verwendet (cf. Campe 1813: 226, s. v. Conversation) und ihn au‐ ßerdem im Zuge seiner Selektionskriterien in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache erörtert: „Es sollte nicht bloß aus Einer-Quelle des Deutschen Sprachschatzes (etwa nur aus Einer Mundart z. B. der Meißnerischen oder Obersächsischen), sondern aus allen Quellen, die für die allgemeine Deutsche Sprache, hochdeutsch genannt, etwas zu liefern haben, geschöpft werden. Kein Theil unsers gemeinsamen Vaterlandes, er heiße wie er wolle, soll sich anmaßen, seine besondere Mundart den anderen Theilen als Gemeinsprache aufzudringen, und sich zum Gesetzgeber in der Sprache aufwerfen. Keine unter den Landschaften ist dazu berechtigt; keine ist dazu fähig. In allen, ohne Ausnahme, wird in allgemeinen nur landschaftliches Deutsch geredet, aus welchem die gebildeteren Deutschen und die Schriftsteller aller Gegenden das Beste, Edelste und Sprachrichtigste für die allgemeine Deutsche Umgangs- und Schriftsprache ausgehoben haben und noch immer auszuheben rechtmäßig fortfahren. Nur dieses Beste, Edelste, Sprachrichtigste, nur dieser Aushub aus allen Mundarten, sollte in unserm Wörterbuche gesammelt werden; nur das, was den Ähnlichkeitsregeln der gemeindeutschen Sprache wider‐ strebt, sammt Allem, was pöbelhaft ist, folglich von gesitteten Menschen, weder ge‐ sprochen, noch geschrieben wird, sollte davon ausgeschlossen sein. Unsere Quellen also sind: die feinere Umgangssprache bin allen Deutschen Ländern, und alle in der Ge‐ meinssprache geschriebenen Deutsche Werke, von den ältesten Denkmälern unserer Schriftsprache an, bis auf die neuesten Schriften, welche die letzte Büchermesse gelie‐ fert hat, sie mögen von Oberdeutschen, Mitteldeutschen oder Niederdeutschen Schrift‐ stellern verfaßt worden sein“ (Campe 1807 I: VIII). Zum heutigen Verständnis von ‚Um‐ gangssprache‘ in der germanistische Forschung cf. Munske (1983: 1002-1003). 216 Der Begriff ‚Vulgärlatein‘ geht in seiner heutigen sprachwissenschaftlichen Verwen‐ dung im Wesentlichen auf Hugo Schuchardt (1842-1927) zurück, der ihn in seinem Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866-1868) einführt (v. infra Kap. 5). mit den unterschiedlichsten Konzepten aufgeladen wurde (‚Vulgärlatein‘). 216 An diese Tradition der Bezeichnung und Kategorisierung knüpft auch der Klassi‐ sche Philologe und Romanist Kramer (1997) an, der fast alle Varietäten in dem Kapitel Die lateinische Umgangssprache behandelt (ibid.: 156-162), dort aller‐ dings den Begriff, unter dem der größte Teil der Variation fällt, dann kritisch beleuchtet. Ein anderen Ansatz hat Müller (2001), der von den lateinischen Be‐ zeichnungen (sermo rusticus, sermo agrestis, sermo plebeius etc.) ausgeht und deren Verwendungsweisen bei den antiken Autoren analysiert, um daraus ab‐ zuleiten, welches Sprachbewußtsein im Hinblick auf Varietäten in der Antike herrschte. Im Folgenden soll jedoch versucht werden, die Variation im Lateinischen, soweit sie erfaßbar ist, mit Hilfe des Diasystems strukturiert darzustellen wie es in ersten Ansätzen bereits von Herman (1996), Müller-Lancé (2006: 45-58), Koch (2010: 188-189), Reutner (2014: 199-203) oder Lüdtke (2019: 450-453) ge‐ leistet wurde. 129 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="130"?> 217 Zu den einzelnen sprachlichen Merkmalen der verschiedenen diatopischen Varietäten cf. Seidl (2003: 521-524) und ausführlich Adams (2007), der einen tour d’horizon zu re‐ gionalen Merkmalen liefert, insbesondere bzgl. der Regionen Hispanien, Gallien und Africa (ibid.: 231-270), dabei auch die diachronische Dimension berücksichtigt, indem er seine Betrachtung nach Frühzeit (inscriptions), republikanischer Zeit (Republic) und Kaiserzeit (Empire) aufschlüsselt. 218 „En ce qui concerne la langue endore limitée au Latium, la recherché a cru détecter, dans le peu d’inscriptions qui nous sont parvenus des différentes bourgades […], des 4.1.2.1 Die diatopische Ebene Da die Verbreitung der lateinischen Sprache sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich verändert hat, d. h. ein regional sehr begrenztes Idiom entwickelte sich zur wichtigsten Sprache in großen Teilen Europas und darüber hinaus, ist auch eine Betrachtung der diatopischen Gliederung des Lateins nicht ohne eine dia‐ chrone Perspektive möglich (v. supra). 217 Die indogermanischen Proto-Latiner, Träger der lateinischen Sprache, die ab dem 10 Jh. v. Chr. in Teilen der Region Latium seßhaft wurden und dort Streu‐ siedlungen errichteten (präurbane Phase), die sich bis zum 6. Jh. v. Chr. teilweise zu kleineren urbanen Zentren entwickelten, gliederten sich ursprünglich in po‐ litisch gleichberechtigte populi in autonomen Gemeinden. Die sich in diesem Zeitraum konstituierende cultura laziale bildete mit ihren Ansiedlungen und Sakralverbänden eine lose Gemeinschaft. Mit dem Wandel zur Urbanität ab dem 6. Jh. v. Chr. und der Gründung des Latinischen Städtebundes (nomen Latinum bzw. nomen Latium) gewinnt die Gesellschaftsstruktur in Latium Kontur. Es ist anzunehmen, daß die einzelnen gentes dieser Region Träger von Idiomen mit sprachlichen Eigenheiten waren, die sich voneinander abgrenzten (cf. Palmer 1990: 62; Neue Pauly 1999 VI : 1165-1169; Aigner-Foresti 2003: 19-20). Appliziert man nun die auf sozio-politisch, historischen Merkmalen beru‐ hende Unterkategorisierung der dialektalen Ebene nach Coseriu (v. supra), so kann man mit Müller-Lancé (2006: 45) diese Varietäten der Latini als primäre Dialekte des Lateinischen deklarieren. Der Dialekt der Stadt Rom war dabei zu‐ nächst nur einer unter vielen. Erst mit der beginnenden regionalen Expansion Roms und den Auseinandersetzungen mit den latinischen Nachbarn (Latiner‐ kriege) ab dem frühen 5. Jh. v. Chr., die mit der Auflösung des Latinerbundes (338 v. Chr.) endeten, gewinnt das stadtrömische Latein an Prestige gegenüber den anderen verwandten Varietäten der Region. Angesichts der bescheidenen Quellenlage für die Frühzeit, für die nur wenige, laut Palmer (1990: 65) „nichtssagende Fragmente“ zur Verfügung stehen, ist es schwierig, den sprachlichen Abstand zwischen den einzelnen Varietäten fest‐ zustellen. Im Gegensatz zu Seidl (2003: 522), der die dialektalen Unterschiede im frühen Latium als eher gering einstuft, 218 postuliert Müller-Lancé (2006: 47), daß 130 4. Die Architektur des Lateins <?page no="131"?> divergences par rapport à la langue de Rome, mais ells sont probablement beaucoup moins importantes que ce que l’on a coutume de postuler“ (Seidl 2003: 522). 219 Zumindest, wenn man den Beginn des Altlatein wie üblich (v. supra) ab 240 v. Chr. ansetzt; anders hingegen Meier-Brügger (2002: 32), der die altlateinische Periode zwi‐ schen dem 5. und 1. Jh. v. Chr. datiert. 220 In anderen Inschriften gibt es zu diesem Phänomen weitere Belegen: z. B. falisk. sta (lat. stat), falisk. mate (lat. māter), falisk. zenatuo (lat. senātus) (cf. Palmer 1990: 63). 221 Der Digraph Digamma-h wird manchmal auch als <fh> transliteriert, die Version <vh> ist heute jedoch üblicher. der Dialekt der Stadt Rom „stark“ von denen seiner Nachbarn abwich. Allerdings zieht er zum Vergleich als erstes Beispiel eine Inschrift aus Falerii heran, die üblicherweise als faliskisch eingeordnet wird (cf. Meiser 2010: 9-10, § 6.1) und nicht als lateinisch. Hinzu kommt, daß er diese frühfaliskische Inschrift aus dem 4. Jh. v. Chr. dem klassischen Latein und nicht dem Altlatein gegenüberstellt, doch selbst zur altlateinische Periode wäre eine noch nicht unerhebliche zeit‐ liche Diskrepanz zu konstatieren. 219 Das faliskische Original lautet: foied uino pipafo cra carefo - foied uino pafo cra carefo (cf. Baldi 2002: 125). Dies würde im Altlatein die Entsprechung hodie vinom bibabo, cras carebo (cf. Quiles 2009: 63) haben und im klassischen Latein hodiē vīnum bibam, crās carēbō (cf. Baldi 2002: 125), also übersetzt ‚heute will ich Wein trinken, morgen werde ich es mir versagen‘ (Müller-Lancé 2006: 47). Immerhin ist aber auf diese Weise der Abstand vom nah verwandten Faliskischen zum Lateinischen zumindest nährungsweise erkennbar. So ist intervokalisch faliskisch f bzw. lateinisch b aus indgerm. bh > b (lat.) bzw. > f (falisk.) zu erklären (cf. carefo vs. carebo), im Faliskischen ist der Verlust der Auslautkonsonanten (cf. uino vs. vinom; cra vs. cras) sichtbar 220 und im Lateinischen die Weiterentwicklung zu h, also indogerm. g h > f > h (cf. foied vs. hodie). Morphologisch ist die Futurbildung mit f im Faliskischen auffällig wie in carefo und pipafo (Palmer 1990: 62-63; Quiles 2009: 63). Das zweite Beispiel, um den großen Abstand der latinischen Varietäten auf‐ zuzeigen, ist von Müller-Lancé (2006: 47), der hier Palmer (1990: 63-64) folgt, ebenfalls nicht optimal gewählt, da die Echtheit der Fibula praenestina als um‐ stritten gilt (v. supra). Geht man jedoch von einer authentischen Inschrift aus, zeigen sich an dem Wortlaut Manios : med : vhe : vhaked : Numasioi (klat. Manius mē fēcit Numerio, dt. ‚Manius hat mich für Numerius gemacht‘) einige Eigen‐ heiten der Varietät von Praeneste. 221 Dazu gehört die Endung der 3. Person Sin‐ gular auf -d, die Dativendung -oi und das reduplizierte Perfekt (cf. vhe vhaked), in der sich auch die Verwandtschaft zum Oskischen zeigt (cf. osk. fefakid, fefa‐ cust). Palmer (1990: 64-65) gibt im Folgenden noch weitere sprachliche Phäno‐ mene der frülateinischen Inschriften an, die in Lautung und Morphologie vom späteren standardisierten Latein abweichen, wie z. B. die Entwicklung von d > r 131 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="132"?> 222 Dieser Vergleich hinkt insofern, als Rom nicht wie Paris im Zentrum - sowohl geogra‐ phisch-infrastrukturell als auch dialektal - lag, sondern an der Peripherie, denn der Tiber war die Grenze zu Etrurien. Zudem ist die Konstellation für das antike Rom auch dahingehend anders, daß in Rom nicht primär verschiedene Varietäten zusammen‐ vor Labial, was eventuell lat. arbiter als Dialektwort identifizierbar machen würde, außerdem häufige Synkope unbetonter Vokale (z. B. dedront vs. klat. dedērunt) oder die Bewahrung des Nominativ Plural auf -ās (z. B. matronas vs. klat. mātrōnae). Aufgrund der Tatsache, daß das Lateinische erst ab dem 3. Jh. v. Chr. in län‐ geren Texten faßbar wird, ist ein Vergleich für die Frühzeit schwierig. Es kann allerdings wie anhand der Beispiele ersichtlich, festgehalten werden, daß es eine diatopische Differenzierung gab, über den Grad der Abweichungen insgesamt Aussagen zu treffen bleibt problematisch, genauso wie das Verhältnis zum nah‐ verwandten Faliskischen - also ist hier der Abstand tatsächlich deutlich größer als zu den Dialekten Latiums bzw. um wieviel größer? Ausgehend von der fest‐ gestellten Variation ist jedoch festzuhalten, daß der zu Beginn recht kleine ge‐ ographische Raum - Müller-Lancé (2006: 45) spricht von einer Nord-Süd-Aus‐ dehnung von ca. 50 km - in noch kleinere sprachliche Varietäten gegliedert ist. Bei den primären Dialekten des Lateins handelt es sich nach gängigem Ver‐ ständnis eher um Mundarten (frz. parlers locaux, cf. Müller 1975: 109), also areal sehr begrenzte diatopische Varietäten (cf. Sinner 2014: 92; v. supra), d. h. kleine urbane Zentren mit dem zugehörigen Umland. Rekurrieren wir auf die Fundorte der frühen Inschriften sowie auf die Städte des Latinerbundes, die die einzelnen populi repräsentieren, so können wir für das Lateinische die Mundarten des Römischen, Pränestinischen, Lanuvinischen, Tiburinischen, Tusculanischen, Satricanischen, Aricianischen, etc. postulieren. Mit dem Ausgreifen Roms auf seine latinischen Nachbarn beginnt das Latei‐ nische, die anderen Varietäten zu überdachen, zunächst nur aufgrund seiner politischen Vormachtstellung im mündlichen Bereich, später auch im schriftli‐ chen. In Bezug auf die Schriftsprache stand das Latein, außer natürlich mit dem Griechischen und Etruskischen, anfänglich auch in Konkurrenz mit dem Falis‐ kischen, Oskischen, Umbrischen oder Volskischen (nur wenige Inschriften, cf. Meier-Brügger 2002: 34, E 429). Bei der Frage nach der Herausbildung des stadtrömischen Dialekts, der uns zu einem späteren Zeitpunkt in der schriftlichen, standardisierten Form des Klassischen Lateins gegenübertritt, zieht Müller-Lancé (2006: 48) die Parallele zur Herausbildung des Französischen aus dem Franzischen von Paris bzw. der Île-de-France. 222 Es ist jedoch passender den Befund von Poccetti / Poli / Santini (2005: 65) zugrundezulegen, die für Praeneste analog zu Rom von einem Latein 132 4. Die Architektur des Lateins <?page no="133"?> fanden, sondern hier vor allem unterschiedlichste Sprachen koexistierten, vor allem das Sabinische und das Etruskische. 223 Cf. dazu auch Palmer (1990: 76-77): „Als Roms Macht wuchs und es zur politischen Vormachtstellung in Italien aufstieg, erhielt und absorbierte es neue Einwanderer aus Latium und schließlich von der ganzen Halbinsel einschließlich der Magna Graecia, und es war keineswegs nur die regierende Aristokratie, die sich auf diese Weise ergänzte. Bereits im sechsten Jahrhundert war Rom die reichste Stadt Italiens nördlich der Magna Graecia geworden, die Einwanderer anzog und auch willkommen hieß […]. Der Zu‐ strom dieser neuen Elemente konnte nicht ohne sprachliche Konsequenzen bleiben.“ 224 Palmer (1990: 72) spricht von dem „Zustrom nichtrömischer Elemente in den römischen Staat“, und zwar ab dem 5. Jh. v. Chr. und verstärkt nach der Unterwerfung der Latiner (letzter Latinerkrieg 340-338 v. Chr.) und anderer italischer Nachbarn (Falisker, Äquer, Volsker, Sabiner), deren Eliten dann auch in Rom eine tragende Rolle spielen konnten. Durch diese kulturelle „Absorbierung“ sei in sprachlicher Hinsicht aus dem Dialekt Roms ein „hauptstädtisches Latein“ geworden. Dies ist sicherlich richtig, klärt jedoch unter der Berücksichtigung der kulturellen und sprachlichen Heterogenität auch der anderen latinischen Städte, nicht den spezifischen Beitrag der anderen lateinischen Varietäten zum stadtrömischen Latein. 225 Poccetti / Poli / Santini (2005: 69) sehen das Latein eingebettet in einem Sprachbund mit den anderen Sprachen und Varietäten der italienischen Halbinsel, vor allem mit dem Etruskischen und den benachbarten italischen Idiomen: „Die sehr engen Beziehungen zwischen Latein und der ‚italischen‘ Welt sind Teil eines Kontinuums, das von der Früh‐ zeit an, aus der wir noch keine Belege haben, die ganze Geschichte des Lateinischen mit dreifacher Wurzel sprechen, nämlich einer latinischen, einer etruskischen und einer italischen, welches zusätzlich von griechischen und phönizischen Einflüssen überlagert wird, so scheint es vielmehr so, daß Rom wie auch andere zentrale Orte in Latium ganz allgemein in einem viel größeren Raum kultureller Schnittstellen lagen. 223 Der Beitrag der latinischen Nachbarvarietäten zur For‐ mung des stadtrömischen Lateins war sicherlich gegeben, 224 ist aber schwierig einzuschätzen. Eindeutig hingegen ist, daß diese Varietäten die lateinischen koiné beeinflußt haben, die sich in der Folgezeit durch die Expansion Roms he‐ rausgebildet hat. Durch das Ausgreifen Roms auf die benachbarten Regionen und die im Fol‐ genden sich in mehreren Etappen vollziehende Eroberung der gesamten italie‐ nischen Halbinsel sowie schlußendlich die Beherrschung des gesamten orbis entwickelten sich nach erfolgter Romanisierung und Latinisierung der ver‐ schiedenen Bevölkerungsgruppen im Westteil des Reiches sekundäre Dialekte des Lateinischen, welches weit über seinen autochthonen Entstehungsraum hi‐ nausgetragen wurde. Dabei erscheint es wichtig, neben der von Müller-Lancé (2006: 48-49) vorgenommenen arealen Unterscheidung von sekundären Dia‐ lekten innerhalb und außerhalb Italiens - was aufgrund einer gewissen Sprach‐ bund-Dynamik durchaus gerechtfertigt ist 225 - auch den sprachlichen bzw. ty‐ pologischen Abstand zwischen den Kontaktsprachen als Kriterium der 133 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="134"?> umfasst, sein Diasystem bildet und gleichzeitig auch die Prämissen für die romanische Fragmentierung schafft“ (ibid.: 68). 226 Eine Diglossie-Situation besteht auch für die mit dem Latein nicht direkt verwandten Sprachen wie Keltisch, Messapisch, Venetisch, Ligurisch etc., doch ist diese von anderer Art aufgrund des bestehenden sprachlichen Abstands (cf. Ferguson vs. Fishman supra). Differenzierung anzusetzen. Benachbarte nicht verwandte oder nur weitläufig verwandte Sprachen wie das Etruskische oder das Griechische hatten einen ge‐ wichtigen Einfluß auf die Herausbildung des Lateinischen, die nahverwandten italischen Sprachen hingegen unterlagen einer „progressiven Assimilation“ (Poccetti / Poli / Santini 2005: 89) und teilten nicht wenige Konvergenzphäno‐ mene mit dem Lateinischen mit zunehmender unidirektionaler Beeinflußung seitens der prestigeträchtigeren Sprache Roms. Während also die nicht direkt verwandten, durch einen größeren sprachli‐ chen Abstand gekennzeichneten Sprachen im Laufe des Latinisierungsprozesses eine Marginalisierung erfahren, die die Sprecher zum Sprachwechsel bewegt, so daß diese Sprachen schließlich untergehen und als Substrate wirken, unter‐ liegen die italischen Nachbaridiome zwar prinzipiell dem selben Prozeß, jedoch mit der Nuance, daß sie zuvor vom Lateinischen dialektalisiert werden. Im Zuge der Überdachung durch die lateinische koiné - mündlich wie schriftlich - werden Sprachen wie das Sabinische, Faliskische, Volskische, Samnitische in den Status von Dialekten zurückgedrängt, d. h. wie die meisten Dialekte, nur noch im mündlichen Nähebereich gebraucht. Poccetti / Poli / Santini (2005: 89) sprechen diesbezüglich von einer langen Phase der Diglossie, die bereits recht früh beginnt, also vor der systematischen Romanisierung nach dem Bundesgenossenkrieg (91-89 v. Chr.), was beispiels‐ weise aus der Bitte der Einwohner von Cumae hervorgeht, die im Jahre 180 v. Chr. den römischen Senat darum ersuchen, offiziell das Lateinische über‐ nehmen zu dürfen (cf. Livius XLI , 42). Das autochthone Idiom wird somit schriftlich wie mündlich in die Domänen der privaten Kommunikation und der lokalen religiösen Traditionen verwiesen. 226 Nach ihrem Untergang und ihrer Substratisierung, die womöglich aufgrund der zahlreichen Konvergenzen - bedingt durch die genetische Verwandtschaft und durch den sehr engen Sprachkontakt - in anderer, eventuell gradueller Form ablief als beispielsweise bei einem abrupten Sprachwechsel Etruskisch-Latei‐ nisch, trugen die italischen Sprachen wesentlich zur Entstehung von sekun‐ dären Dialekten des Lateinischen bei. Im Zuge der Verbreitung des Lateinischen, welches ab dem 2. Jh. v. Chr. und vor allem ab der Zeitenwende vermehrt in außeritalische Regionen vordringt und schließlich weitestgehend flächendeckende Verwendung in großen Teilen 134 4. Die Architektur des Lateins <?page no="135"?> 227 Man vergleiche diesbezüglich die Diskussion um das oskische Element im nördlichen Teil Hispaniens (cf. Baldinger 1958: 47-48). 228 Dies betrifft insbesondere die Wirkung derjenigen Idiome, die an der Herausbildung der lateinischen koiné in ihrer Entstehungsphase in der bereits aufgezeigten Kultur‐ kontaktzone Mittelitaliens (Latein-Etruskisch-Italisch-Griechisch) beteiligt waren (v. supra). 229 Cf. dazu Tagliavini (1998: 68): „Solange die politische Bindung an das Zentrum stark blieb, waren dieser Differenzierung [der diatopischen] Schranken gesetzt; als sie in der Folge der historischen Ereignisse schwächer wurde und schließlich völlig zerbrach, vertieften sich die Unterschiede.“ 230 Cf. dazu die eindeutige Aussage von Seidl (2003: 522): „Or, le fait que des variations diatopiques aient toujours existé est hors de doute, notamment sur le territoire consi‐ dérable de la basse époque où une langue qui en soit dépourvue est difficile à imaginer. Les traces directes qui transparaissent dans les documents écrits sont néanmoins très faibles.“ Westeuropas und Nordafrikas findet, ist zu berücksichtigen, daß hierbei nicht nur stadtrömisches Latein exportiert wird, sondern durch viele italische Kolo‐ nisten auch deren bereits bestehende sekundäre Varietäten des Lateins. 227 Man müßte demgemäß von verschiedenen Schichten sekundärer Dialekte ausgehen, denn die diatopische Differenzierung des Lateinischen in Italien ist früher anzusetzen als diejenige in den entfernteren Provinzen, die zunächst noch nicht romanisiert waren. Die dortigen sekundären diatopischen Varietäten konnten deshalb Elemente aus primären und sekundären Dialekten Italiens ent‐ halten, also z. B. sprachliche Charakteristika des ursprünglichen Latein von Praeneste, des Faliskischen, Oskischen, Etruskischen oder Griechischen. 228 Dieser zentrifugalen Verbreitung sprachlicher Eigenheiten aus Italien mit dem unbestrittenen Zentrum Rom sind Migrationsbewegungen verschiedenster Art (Legionen, Kolonisten, Händler, Sklaven, etc.) gegenüberzustellen, die in gewisser Weise quer dazu wirkten. Das stadtrömische Latein - mündlich wie schriftlich - war zwar Bezugspunkt und Referenzgröße, doch die Mobilität im späteren kaiserzeitlichen Reich war nicht unidirektional von der Mitte zur Pe‐ ripherie. Sprachlich hatte dies zur Folge, daß ein gewisser Ausgleichseffekt ent‐ stand, der eine starke Diatopisierung - die bei der Größe des Imperiums ja denkbar gewesen wäre - solange verhinderte, bis das Westreich unterging, die politische und administrative Klammer den Zusammenhalt nicht mehr gewähr‐ leistete. 229 Es scheint relativ zweifelsfrei, daß es in der Spätzeit des römischen Reiches eine diatopische Differenzierung gegeben hatte, 230 die Frage, wie stark diese war, ist jedoch schwer zu beantworten, da die Überlieferung rein aus schriftlichen Quellen besteht, bei denen trotz gelegentlich faßbarer Unterschiede letztlich 135 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="136"?> 231 Den wichtigen Punkt interner eigensprachlicher Dynamik scheint Seidl (2003: 524) hier übersehen zu haben, genauso wie den nur implizit angedeuteten Superstrateinfluß im Folgenden. eine möglicherweise zugrundeliegende Differenzierung im Mündlichen durch die mehr oder weniger am Standard ausgerichtete Verschriftung verdeckt wird. Seidl (2003: 522, 524) geht davon aus, daß die dialektale Differenzierung in der Spätzeit des Imperiums zunahm und sich nicht nur, aber vor allem auf lexikali‐ scher Ebene äußerte. Die diatopische Diversifizierung ist dabei einerseits auf die verschiedenen Substratsprachen in den einzelnen Provinzen bzw. Regionen des Reiches zurückzuführen, andererseits auch auf die sprachinhärente Eigendy‐ namik der Diversifizierung. 231 Ausgleichend und unifikatorisch hingegen wirkte die Strahlkraft des stadtrömischen Lateins, die urbanitas als high-variety-Modell, welches jedoch im Zuge des Auflösungsprozesses der Völkerwanderungszeit den Prozeß der weiteren Diatopisierung nicht mehr aufhalten konnte (v. supra auch die Dezentralisierung seit Diokletian und die Reichsteilung unter Theo‐ dosius). Die germanischen Superstratvölker wirkten insofern doppelt, als sie zum Einen dafür sorgten, daß das römische Reich sich destabilisierte und dann auflöste, was die sprachliche Einheit der Latinophonie zerstörte und anderer‐ seits, indem sie selbst das Latein als Sprache adaptierten und damit modifizierten (Superstratwirkung). Folgt man der Coseriu’schen Terminologie auf der diatopischen Ebene, so gibt es neben den primären und sekundären auch die tertiären Dialekte, oder in ger‐ manistischer Tradition, auch Regiolekte (v. supra). Im Gegensatz zu den bei Müller-Lancé (2006: 49) nur aus der Konfrontation mit sekundären Dialekten entstandenen regionalen Varietäten, die sich in der Überlieferung als „Akzente“ von Griechen, Kelten oder Nordafrikanern manifestieren, muß man auch hier diachron diversifizieren sowie unterschiedliche Arten der tertiären Dialekte in Betracht ziehen. Dies bedeutet, daß man in einer Frühphase der römischen Ge‐ schichte auch tertiäre diatopische Varietäten aus der Konfrontation sowohl mit primären Dialekten des Lateinischen, als auch mit verwandten und unver‐ wandten Nachbaridiomen (z. B. Faliskisch, Etruskisch) postulieren muß, auch wenn dies nicht explizit belegt ist. Zu unterscheiden sind zusätzlich prinzipiell tertiäre Dialekte, deren Basis ein primärer oder sekundärer Dialekt ist oder zu‐ mindest eine nah verwandte Sprache, so daß es hier ein Kontinuum an mehr oder weniger zahlreichen sprachlichen Charakteristika geben kann oder, ob die Basis eine wenig bzw. unverwandte Sprache ist, wo eben kein Kontinuum mög‐ lich ist (z. B. beim Keltischen, Griechischen oder Etruskischen). Voraussetzung für die Entstehung eines tertiären Dialekts ist eine entspre‐ chend verbreitete Standardsprache. Dies kann für das römische Reich natürlich 136 4. Die Architektur des Lateins <?page no="137"?> 232 „Quaesturam gessit Traiano quater et Articuleio consulibus, in qua cum orationem im‐ peratoris in senatu agrestius pronuntians risus esset, usque ad summam peritians et facundiam Latinis operam dedit“ (Historia Augusta, Hadrian III, 1). 233 Dies bedeutet, daß es sowohl Dialekte (kleinräumig und großräumig) wie auch Regio‐ lekte gegeben haben muß. nicht in gleicher Weise wie bei modernen normierten Sprachen angenommen werden, doch läßt sich wohl eine gewisse Verbreitung auch in den urbanen Zentren der verschiedenen Provinzen annehmen, in denen eine Oberschicht Träger einer Standard- und Normsprache war und somit zumindest einer ge‐ wissen Grad an Verbreitung gewährleistete. Bei den überlieferten Fällen, in denen die Zeitgenossen eine diatopisch mark‐ ierte Aussprache festgestellt haben, wäre grundsätzlich natürlich zunächst der Frage nachzugehen, ob es sich hierbei tatsächlich um einen lateinischen Dialekt handelt, also um einen primären oder sekundären oder, ob „nur“ eine regionale Färbung im Sinne eines regiolektalen Merkmals vorliegt. Betrachtet man nun den vielleicht berühmtesten Fall, nämlich der des aus Hispanien stammenden Kaisers Hadrian (Traianus Hadrianus Augustus, 117-138 n. Chr.), dem in der Historia Augusta eine ländliche Aussprache nach‐ gesagt wird (agrestius pronuntians), 232 so ist davon auszugehen, daß es sich hierbei um einen Sprecher aus der provinzialen Oberschicht handelt, mit ent‐ sprechendem Bildungshintergrund und einem Bewußtsein für die high-variety des stadtrömischen Lateins. Insofern ist es kaum wahrscheinlich, daß Hadrian tatsächlich Dialektsprecher war - auch unter der Prämisse einer vielleicht nicht allzu starken diatopischen Differenzierung des Lateins zu dieser Zeit -, sondern das eine oder andere regiolektale Merkmal in seiner Aussprache aufwies. Man kann also letztendlich davon ausgehen, daß das Latein alle Ebenen einer diatopischen Variation aufwies. 233 Auch die Römer selbst waren sich dieser Va‐ riation bewußt und unterschieden prinzipiell zwischen dem mit hohem Prestige behafteten sermo urbanus, in dem das Ideal der urbanitas, des stadtrömischen Lebens und Sprechens anklingt, welches sich mit elegantia und proprietas auf diaphasischer Ebene kreuzt, und dem sermo rusticus oder auch sermo agrestis, der Redeweise des Umlandes oder der Provinzen, die entsprechend negativ kon‐ notiert war. Sekundär ist das ‚ländliche Sprechen‘ deshalb immer auch diastra‐ tisch-diaphasisch als niedrig angesehen worden (cf. Müller-Lancé 2006: 52; Reutner 2014: 201-202). Lüdtke wiederum sieht die Diatopik des Lateinischen durch die zeitgenössische Kennzeichnung der peregrinitas widergespiegelt, was aber womöglich nur einen Teil der regionalen Abweichungen umfaßt. 137 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="138"?> 234 Zu den verschiedenen Positionen einzelner Vertreter von mehr oder weniger starker diatopischer Differenzierung, die je nach Theorie früher oder später eingesetzt haben soll, cf. Reutner (2014: 201). Nach der Ausbreitung des Lateinischen in den Provinzen konnen die diatopischen Unterschiede im Ganzen mit peregrinitas benannt werden. […] Der griechische Arzt Galen benennt im 2. nachchristlichen Jahrhundert einen zwei Sprachen sprechenden Mann mit dem Ausdruck diglossos ‚zweisprachig‘. Das ist eine umfassendere Charak‐ terisierung als die römische, die die Situation der Zweisprachigkeit nur als Art und Weise begreift, wie die Nicht-Lateiner Lateinisch sprechen, eben als peregrinitas. (Lüdtke 2019: 451) Die Tatsache, daß das Lateinische als lebendige Sprache, die sich über ein grö‐ ßeres Territorium erstreckte, eine diatopische Differenzierung aufwies, ergibt es letztlich auch daraus, daß sich aus dieser Konstellation die romanischen Sprachen entwickelt haben, die nichts anderes als regionale Varietäten des Lat‐ eins sind, die sich im Laufe der Zeit zum Teil relativ weit von ihrer Ursprungs‐ sprache entfernt haben. Die bisher strittige Frage ist dabei, zu welchem Zeit‐ punkt diese Ausdifferenzierung stattgefunden hat bzw. ob es regionale Variation bereits in entsprechender Ausprägung vor der frühromanischen Phase gegeben hat. 234 So steht prinzipiell die auch in der traditionellen Klassischen Philologie ver‐ tretene These von einer grundsätzlichen Einheitlichkeit des Lateins, die bei Väänänen (1983: 481, 490) als thèse unitaire apostrophiert wird, der Ansicht der thèse différentielle (ibid.) gegenüber, die besagt, daß das Latein seit der Kaiserzeit regional variiert oder zumindest deutlich vor 600 n. Chr., wobei dann wiederum die Meinungen zu ‚früher Variation‘ auch von der Auffassung abhängen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist bzw. welche zeitliche Periode dies betrifft (cf. Reutner 2014: 201). Tatsächlich ist die Art der diatopischen Variation - die zweifellos immer Überschneidung mit der diastratischen und diaphasischen aufweist - komplex, wie bereits dargelegt, und wie Adams (2007), der diachronisch geschichtet und nach Regionen gegliedert, zahlreiche Belege zur diatopischen Variation zusam‐ mengetragen hat, deutlich zum Ausdruck bringt: The metalinguistic evidence presented in this book makes nonsense of the unitarian thesis, and the differential thesis as formulated by Väänänen just quoted is itself not satisfactory, because the regional diversity of the language can be traced back at least to 200 BC and was not a new development of the Empire. That is not to say that the Romance languages were in any sense being foreshadowed already in 200 (though we will see some continuities […]). The patterns of local diversity in 200 were not the 138 4. Die Architektur des Lateins <?page no="139"?> 235 Zu sprachlichen Merkmalen auf der diastratischen Ebene cf. Seidl (2003: 524-526) sowie Clackson (2011: 505-526), der die social dialects des Lateinischen nach den Parametern male and female speech, age-related variation in speech und class-based variation auf‐ splittet. same as those to be found a millennium or more later, but the essential point is that the language always showed regional as well as social, educational and stylistic vari‐ ations. The nature of the diversity was not static but went on changing. (Adams 2007: 684) Mit anderen Worten, Latein präsentierte sich von je her als diasystematisch differenzierte Sprache. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, daß durch die besondere historische Konstellation der extremen Expansion - die, wie von Seidl (2003: 521) errechnet, ursprünglich ein Territorium von weniger als 2500 km² im 5. Jh. v. Chr. abdeckte, welches auf ca. 3 Mio km² in der Kaiserzeit anwuchs - sowie die über tausendjährige Geschichte (soweit faßbar und hier im Fokus) die lateinische Sprache in ihrer Architektur einem starken Wandel unterworfen war, nicht zuletzt auch durch die zahlreichen Sprachkontaktsituationen, Migra‐ tionen und den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. 4.1.2.2 Die diastratische Ebene Die lateinische Sprache unterlag, wie bereits angedeutet, auch der Variation auf diastratischer Ebene, was sowohl aus metasprachlichen Zeugnissen der Antike als auch an einigen wenigen sprachlichen Charakteristika festgemacht werden kann. Versucht man nun die Diastratik systematisch zu erfassen, so ist zunächst einmal das schichtenspezifische vom gruppenspezifischen Sprechen zu unter‐ scheiden (zur Kritik v. supra), denn im Gegensatz zu den modernen Gesell‐ schaften kann man für die Gesellschaftssituation der römischen Antike durchaus von ausgeprägten Schichten und dem zugehörigen Klassenbewußt‐ sein ausgehen. 235 Müller-Lancé (2006: 53) geht von einer dreigeteilten Gesellschaft aus, die sich aus rechtelosen Sklaven (servi), den Freigelassenen (liberti) und den freien Bür‐ gern (cives Romani) konstituierte, wobei letztere sich wiederum aus Plebejern und Patrizier zusammensetzten. Plebejer (plebeii, cf. plebs ‚Volk‘) und Patrizier (patricii) waren oft in einem Klientelverhältnis (clientela) gebunden, insofern eine patrizische Familie (gens) ihre politische Macht und gesellschaftliche Stel‐ lung durch die Bindung von Gruppen von Plebejern (und anderen Patriziern) zu festigen suchte. Dies ist allerdings eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Realität, die höchstens auf die Zeit der res publica anwendbar ist (plebs vs. nobiles), denn in 139 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="140"?> 236 Es gab zunächst drei Arten der Freilassung, vorausgesetzt der Sklave hatte sich das peculium erarbeiten können: die manumissio testamento, die manumissio censu und die manumissio vindicata. Seit dem 1. Jh. v. Chr. wurde dies meistens auf zwei Verfahren reduziert, nämlich die manumissio per epistulam und die manumissio inter amicos (cf. Christ 2002: 368). der Kaiserzeit mit dem Wachsen des Imperiums verändern sich auch die gesell‐ schaftlichen Strukturen. Doch auch schon in der wachsenden Republik diffe‐ renzierte sich die anfängliche Dichotomie der Frühzeit zwischen Plebejern und Patriziern weiter aus, was zum einen mit der gesellschaftlichen Differenzierung und zum anderen mit den sich ändernden Rechtsverhältnissen zu tun hat - beide Aspekte sind prinzipiell zu trennen. Die rechtliche Position der Sklaven blieb zwar während der Dauer des Impe‐ riums grundsätzlich die gleiche, sie wurden als Eigentum (res) behandelt und unterlagen der potestas ihres Herrn, doch ihre soziale Stellung und Herkunft konnte dabei erheblich variieren. Auch wenn das Gros womöglich der Unter‐ schicht zuzurechnen war, so ist beispielsweise davon auszugehen, daß die zahl‐ reichen Sklaven, die der familia Caesaris angehörten und in der Verwaltung arbeiteten, teilweise wirtschaftliche Großbetriebe leiteten, als Ärzte oder in der Finanzverwaltung tätig waren, womöglich über Untersklaven (vicarii) geboten, auch über einen entsprechenden Bildungshintergrund verfügten (cf. Christ 2002: 351-356). Aus ihrem rein rechtlichen Status, der sich durch Freilassung ja auch ändern konnte, ist deshalb per se noch kein Rückschluß auf ihre Sprache - falls sie überhaupt native speakers des Lateins waren - in diastratischer Hinsicht möglich. Die Tatsache, daß die Gesellschaftsstruktur durchlässig war, zeigt sich an den Freigelassenen, deren Zahl bereits in der späten Republik hoch war, aber im Prinzipat nochmals anstieg. Die ehemaligen Sklaven wurden nach ihrer manu‐ missio jedoch keine Vollbürger, 236 da sie ihrem patronus weiterhin zu obsequium (Bewahrung des Respekt- und Treueverhältnis) und officium (z. B. konkrete operae im Haus bzw. Betrieb) verpflichtet blieben. Ähnlich wie bei den Sklaven sagt die rechtliche Stellung zunächst nichts über den Bildungshintergrund und die ehemalige soziale Schicht vor der Versklavung aus - falls jemand nicht im Sklavenstatus geboren wurde. Nicht wenige jedoch nutzten ihre Freilassung und versuchten, sozial aufzusteigen, zumal ihre Nachkommen dann als Freigeborene (ingenui) römische Vollbürger sein konnten, und standen dabei unter erheb‐ lichem Legitimationsdruck, was sie wie bei Juvenal (Saturae I, 26) oder Petron (Satyricon c.71) zum Gegenstand der Satire werden ließ. Hier wird dann der typische Aufstieg vom untersten plebs zum reichen homo novus auch mit den entsprechenden sprachlichen Defiziten parodiert (cf. Christ 2002: 367-373). 140 4. Die Architektur des Lateins <?page no="141"?> Die römischen Bürger waren in ihrer Struktur ebenfalls nicht homogen, gab es doch schon in der späten Republik eine zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Schichten, da die Bürger der nichtaristokratischen Klasse sich nicht mehr nur aus Kleinbauern, Kleinhandwerkern und Kleinhändlern wie in der Frühzeit zusammensetzten. Man unterschied auf dieser Ebene zwischen der plebs urbana und der plebs rustica, was aber nur einen Teil der Realität abbildete, denn einerseits veränderte sich die Wirtschaft und andererseits, mit der Aus‐ dehnung des Bürgerrechtes auf die Bundesgenossen und andere Gruppen, dif‐ ferenzierte sich die Teilhabe an der res publica. Cives Romani wurden nämlich nicht nur die Bewohner Italiens, sondern auch regionale Führungseliten, ehe‐ malige nicht-römische Legionäre, Kolonisten und Angehörige der Municipala‐ ristokratie. Einen eigenen Stand konstituierten im römischen Staat die Sena‐ toren (senatores) sowie die Ritter (equites), auch sie gehörten aber rechtlich zu den Cives Romani, bildeten jedoch aus soziologischer Perspektive die Ober‐ schicht in Rom und belegten entsprechend einem mehr oder weniger bindenden cursus honorum die wichtigsten Ämter im Staat (cf. Christ 2002: 378-385). Den Großteil der Bewohner des römischen Reiches in der Kaiserzeit bildeten jedoch die nichtrömischen, aber freien Provinzbewohner (peregrini), zumindest bis sie 212 n. Chr. durch die Constitutio Antoniniana ebenfalls das römische Bür‐ gerrecht erhielten. Ihre rechtliche Stellung hing (zuvor) auch davon ab, ob sie unter Umständen Bewohner eines römischen municipiums waren, einer colonia Civium Romanorum, einer colonia Latina bzw. eines municipium Latinum, einer civitas foederata (mit foedus aequum oder foedus iniquum), einer civitas sine foe‐ dere, einer civitas libera, einer civitas stipendiaria, einer civitas immunis, einer civitas sine suffragio oder einer civitas optimo iure. Das römische Recht bot ver‐ schiedene Facetten von gruppen- und personenspezifischen Rechtstellungen, was jedoch nicht immer mit Ansehen, Reichtum und Macht einherging, welche durchaus auch quer dazu verteilt sein konnten (z. B. reiche peregrine Händler in einer Stadt). Eine eigene Oberschicht bildete innerhalb einer Stadt die Muni‐ zipalaristokratie, die den ordo decurionum bildete und unter Aufbringung der notwendigen summa honoriaria die Ämter bekleidete (cf. Neue Pauly 1997 II : 1224-1225, III : 76-84; Christ 2002: 373-374, 385-387). Die Gesellschaftsstruktur im Imperium Romanum ist somit reichlich komplex, erst recht, wenn man die notwendige diachrone Perspektive hinzunimmt und nicht wie Müller-Lancé (2006: 54) nur die Zeit der späten Republik betrachtet. Führt man sich die diversifizierte Gesellschaft des römischen Reiches und ihre 141 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="142"?> 237 In seiner Darstellung der Verhältnisse der Kaiserzeit bzw. der Entwicklung von den republikanischen Strukturen zu denen des Prinzipats macht Christ (2002: 431-433) deutlich, daß die römische Gesellschaft keineswegs streng nach ordines geprägt war, sondern die jeweilige rechtliche Stellung, Funktionen, Macht, Einfluß und Reichtum einzelner sozialer Gruppen ergab ein komplexes Gebilde. Dabei war die Unterschicht durch die vielfältigen Abhängigkeitsverhältnisse ebenso heterogen wie die Mittel‐ schicht, deren Status je nach Vermögen, Einfluß und Einbindung in die politisch-ge‐ sellschaftliche Struktur erheblich divergieren konnte. Auch die Oberschicht, die neben entsprechenden Finanzmitteln vor allem über die Leitungsfunktionen verfügte, war nicht homogen, bemaß sich die Stellung des Einzelnen außer durch die Zugehörigkeit zu Senatoren- oder Ritterstand oder Munizipalaristokratie durch die Gunst des princeps oder persönliche Leistungen. inhärente Dynamik vor Augen, 237 die zudem je nach Region variieren kann (ur‐ bane Zentren vs. entlegene rural geprägte Provinzen), so dürfte es wahrschein‐ lich sei, daß auch die Sprache entsprechend diastratisch ausdifferenziert war. Das Problem, warum nicht nur bei Müller-Lancé (2006), sondern auch bei Reutner (2014) und anderen meist „nur“ die Unterscheidung zwischen sermo plebeius und sermo vulgaris als Substandardvarietäten gegenüber dem sermo ur‐ banus getroffen wird, ist vor allem die dünne Beleglage und reduzierte meta‐ sprachliche Dokumentation. Neben der schichtenspezifischen Diastratik ist auch die gruppenspezifische Diastratik in Betracht zu ziehen, die in der lateinischen Sprache ebenfalls aus‐ zumachen war. La société romaine était dotée d’une vaste gamme de métiers hautement diversifies. Il est naturel que chacun d’entre eux ait dispose d’un technolecte spécifique. (Seidl 2003: 525). Entsprechend der gesellschaftlichen Diversifikation und der Charakteristik be‐ stimmter Gruppen kann man mit Seidl (2003: 525) davon ausgehen, daß sich ei‐ gene Soziolekte für die unterschiedlichsten (Fach-)Bereiche der Kommunikation wie der Religion, der Landwirtschaft, der Verwaltung, der Rechtsprechung, dem Militärwesen, der Medizin oder der Architektur herausgebildet haben. Müller-Lancé (2006: 53) nennt zwei gruppensprachliche Bereiche, die nicht nur durch spezifische Lexik zu ermitteln sind, sondern die bereits die Zeitge‐ nossen erfaßt und mit entsprechender metasprachlicher Begrifflichkeit gekenn‐ zeichnet haben. Dies ist einerseits die Soldatensprache (sermo castrensis bzw. sermo militaris) und andererseits die Sprache der frühen Christen. Beide sind nicht unbedingt schichtenspezifisch, da an diesen Gruppensprachen Personen bzw. Sprecher verschiedenster sozialer Herkunft partizipieren. Den für die 142 4. Die Architektur des Lateins <?page no="143"?> 238 Dabei ist jedoch zu beachten, daß die zentralen christlichen Autoren, die ja in der Regel einen hohen Bildungsgrad hatten und dementsprechend in der Lage waren, verschie‐ dene Stilebenen zu bedienen, nur einen Teil ihrer Schriften im sermo humilis verfaßten, andere hingegen, die eine komplexe Thematik beinhalteten (z. B. Tertullian, Apologe‐ ticum) auch in einer anderen Art von Sprache abfaßten (cf. Euler 2005: 21). Dies wider‐ spricht letztlich jedoch nicht der Tatsache, daß der sermo humilis als Sprachstil mit einer spezifischen sozialen Gruppe verbunden wurde und damit zumindest ein Stück weit diastratisch zu sehen ist. christlichen Schriften typischen sermo humilis sieht Müller-Lancé (2006: 58) eher diaphasisch als diastratisch. Aus der Sicht der traditionellen Rhetorik (cf. Cicero, Quintilian) ist dem si‐ cherlich beizupflichten; begreift man jedoch diesen Stil, der sich durch eine Syntax mit vorwiegend parataktischem Satzbau und zahlreichen Gräzismen (sowie einigen Hebraismen) auszeichnet, gerade ab der Spätantike als etwas typisch Christliches, so ist der gruppensprachliche Charakter doch ebenfalls recht deutlich. In diesem Kontext referiert dann sermo humilis zwar vorwiegend auf die medial schriftlichen Texte, könnte aber in einem modernen Verständnis durchaus auch auf die Mündlichkeit angewandt werden, z. B. bei Predigten. Löst man also den Begriff aus seiner frühen Interpretation der rhetorischen Stile‐ benen und legt man den Schwerpunkt auf die augustinischen Neubelegung (v. infra), so kann man ihn durchaus sinnvoll zur Kennzeichnung diastratischer Gegebenheiten verwenden, ohne der antiken Auffassung entgegenzustehen. 238 In Bezug auf die Soldatensprache sind einige Ergänzungen zur Struktur der römischen Armee sinnvoll. Diese war prinzipiell den freien römischen Bürgern vorbehalten, Sklaven und Freigelassene wurden nur im Krisenfall mitherange‐ zogen. Attraktiv war der Militärdienst vor allem als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, auch für Römer, aber in erster Linie für die Provinzialen, die dadurch am Ende der Dienstzeit, die in der Kaiserzeit zwischen 16 und 26 Jahren schwankte (je nach Dienstgrad und Bereich), das Bürgerrecht erwerben konnten. Aus diesem Grund waren Zwangsrekrutierungen eher selten und die im Prinzipat fortbestehende Wehrpflicht aus Zeiten der Republik wurde oft nicht eingefordert, da die Legion ausreichend Sold und Perspektiven bot. Der privi‐ legierte Stand der Senatoren (ordo senatorius) und der der Ritter (ordo equester) besetzten in der Regel die Offiziersämter in der Armee und wechselten häufig, zumindest in den höchsten Rangstufen, d. h. bei den Tribunen (tribuni) und Le‐ gionskommandanten (legati). Kontinuität und Verbundenheit mit der Truppe gewährleisteten der meist dem Ritterstand zugehörige Lagerkommandant (praefectus castrorum) sowie die einzelnen Zenturionen (centuriones) und deren ranghöchster, der primus pilus. Es gab in der römischen Armee nicht nur eine vertikale Schichtung nach Dienstgraden, sondern auch eine horizontale nach 143 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="144"?> 239 Dies erscheint in diesem Kontext deshalb besonders wichtig, weil in dieser Konstellation eine doppelte Art der Integration sichtbar wird, einmal die Akkulturation verschiedener Ethnien innerhalb der Armee und zum anderen durch die Migrationsbewegungen, da neu gebildete Einheiten aus fremden Stammesverbänden aus strategischen Gründen meist nicht an ihrem Ursprungsort eingesetzt wurden. 240 Man sollte dies jedoch auch nicht überschätzen wie Christ (2002: 422) herausstellt: „So groß das Zusammengehörigkeitsgefühl und so mächtig der Korpsgeist der verschie‐ denen Formationen der römischen Armee waren, so ausgeprägt blieb das Bedürfnis des einzelnen Soldaten, die eigene Individualität zu wahren.“ militärischen Einheiten. So war die überkommene traditionelle Grundeinheit der römischen Wehr die aus Fußsoldaten bestehende Legion (legio), deren 4000-5000 Mann in Kohorten (cohortes), Manipel (manipuli) und Zenturien (centuriae) gegliedert waren. Sie bestand zunächst meist aus Angehörigen der plebs rustica, später dann auch zunehmend aus Provinzialen. Ab der Kaiserzeit wurde das Heer (exercitus) durch Hilfstruppenverbände (auxilia) verstärkt, die mitunter komplett aus ethnisch geschlossenen Einheiten bestanden, mit denen ein Klientelvertrag bestand, die im Laufe der Zeit dann aber durch andere Sol‐ daten ergänzt wurden und nur noch den Namen beibehielten (z. B. cohors II Raetorum). 239 Weiterhin gab es Reitereinheiten verschiedener Stärke (ala quin‐ genaria, ala miliaria), gegliedert in turmae sowie gemischte Kavallerie- und In‐ fanterieeinheiten (cohortes equitatae). In der Spätzeit etablierten sich am Limes zudem sogenannte Benfiziarierstationen mit Soldaten (beneficiarii) in Vertrau‐ ensstellung und eher polizeidienstlicher Funktion. Nicht den gleichen Stellen‐ wert wie der Dienst in der Legion hatte der in der römischen Flotte, die im Wesentlichen aus Trieren bestand. Neben den Ruderern und Matrosen, die meist aus Provinzialen bestand, gab es die Decksoldaten, einen Kapitän (trierarchus) pro Schiff sowie den Kommandantenn (nauarchos), der über eine Flotilleneinheit (classis) gebot und zunächst oft ein qualifizierter Freigelassene war, später je‐ doch meist aus dem Ritterstand kam. Die Seestreitkräfte hatten demgemäß eine andere soziale Stratifikation als die Legion. Nicht zu vergessen ist auch, daß die römische Armee auch zahlreiche zivile Dienste verrichtete wie Landvermessung und Baumaßnahmen jeglicher Art (Wasserleitungen, Tunnel, Häfen, Lager), für die technische Spezialisten zur Planung und Ausführung nötig waren (cf. Christ 2002: 410-423). Die römische Armee spiegelt insofern ein Stück weit die komplexe Gesell‐ schaftsstruktur wider, mit verschiedenen sozialen Schichtungen und Gruppie‐ rungen, Römern, Provinzialen und foederierten Fremden, war aber dahingehend etwas Besonderes, als sie eine Einheit bildeten mit starker Integrationskraft, ohne deshalb die Pluralität ihrer Partizipanten völlig zu homogenisieren. 240 144 4. Die Architektur des Lateins <?page no="145"?> 241 Cicero attribuiert den Frauen eine konservativere Sprache, weil sie später im Leben weniger Kontakt zur Allgemeinheit hätten und deshalb ihre erste Sprechweise be‐ wahren würden. 242 Männer und Frauen gebrauchen - zumindest in den Belegen der Komödie - unter‐ schiedliche Interjektionen und Beteuerungsformeln, wie z. B. (e)castor (Frauen) vs. herc(u)le (Männer) oder Frauen benutzen häufig amabo für ‚bitte‘ (Clackson 2011: 509). 243 Cf. dazu insbesondere die Kapitel bei Clackson (2011: 508-511; 512-514): Male and Fe‐ male Speech und Age-related Variation in Speech. Es ist insofern deshalb wohl anzunehmen, daß die Soldatensprache eine Gruppensprache (cf. diakoinonisch, Kap. 3.1.3) war, an der prinzipiell alle sozi‐ alen Schichten partizipierten und dies vor allem anhand einer spezifischen Lexik deutlich wurde, darüberhinaus ist aber zu differenzieren, welchen gesellschaft‐ lichen Status einzelne Subgruppen innerhalb des Militärs innehatten. Dies gilt vor allem bezüglich der höhergestellten Offiziere gegenüber der Masse der Le‐ gionäre oder der Hilfstruppen, aber auch innerhalb der einzelnen Einheiten konnten Unterschiede bestehen, wie Müller (2001) dies exemplarisch verdeut‐ licht: Der sermo castrensis beispielsweise verband Caesar mit dem einfachen Soldaten der Auxiliartruppe, freilich bei großem Abstand zwischen der hochspezialisierten mili‐ tärischen Fachdiktion des einen und der banalen kriegshandwerklichen Redeweise des anderen; überlagert wurde jedoch die punktuelle Gemeinsamkeit von der Zuge‐ hörigkeit des Aristokraten zum diastratischen Sprachniveau des sermo urbanus und der des unfreien miles zu einer günstigenfalls dem niederen sermo vulgaris zurechen‐ baren Ausdrucksebene. Das Beispiel macht überdies klar, daß auch Fachsprachen je nach Spezialisierungsgrad der Sprecher in sich gestuft waren (Müller 2001: 275). Bei Müller (2001: 274) wird die Soldatensprache aufgrund der spezifischen Be‐ grifflichkeit als Technolekt klassifiziert. Sicherlich sind die militärtechnische Fachtermini prägend, allerdings scheint es aber wohl eher so, daß mit sermo castrensis vor allem auf den Soldatenjargon in der mündlichen Alltagskommu‐ nikation abgehoben wird. Weitere gruppensprachliche Differenzierungen sind die nach Alter sowie diejenige nach Geschlecht. Diese Tatsache, daß es solche diasystematisch er‐ faßbare Ausdruckweisen im Lateinischen gegeben haben muß, zeigen konkrete Hinweise bei Terenz und metasprachliche Kommentare von Cicero (De orat. III , 45 (12); 2007: 330), 241 die Rückschlüsse auf ein bestimmtes sprachliches Verhalten bei Frauen zulassen. 242 Was das altersspezifische Sprechen anbelangt, so gibt es schon seit langem Studien zur Kindersprache, seit neuerer Zeit auch zur Seni‐ orensprache und anderen Altersgruppen (cf. Müller 2001: 275; Willms 2013: 230). 243 145 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="146"?> 244 Zu den sprachlichen Merkmalen der diaphasischen Ebene bzw. zu den einzelnen Re‐ gister cf. Seidl (2003: 526-527) sowie Müller (2001: passim). Zu den rein literarischen Registermerkmalen cf. Clackson (2011: 319-501). Insgesamt ist demgemäß davon auszugehen, daß das Lateinische als eine Sprache, die von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen in den verschiedensten Regionen mit unterschiedlich tradierten Gesellschaftsstrukturen gesprochen wurde, im Hinblick auf die diastratische Ebene nicht viel weniger ausdifferen‐ ziert war als heutige internationale Standardsprachen. Nicht wenige dieser gruppensprachlichen Merkmale wurden bereits von den Zeitgenossen identifi‐ ziert und metasprachlich kommentiert bzw. terminologisch kategorisiert (v. supra). Gerade letzteres gilt zwar nicht für alle gruppensprachlichen Bereiche, dennoch ist deren Existenz mehr als wahrscheinlich. 4.1.2.3 Die diaphasische Ebene Im Zuge der Betrachtung der Diaphasik geht Müller-Lancé (2006: 55-57) auch der Frage nach, inwieweit hier die diamesische Dimension zu berücksichtigen wäre, und diskutiert die Anwendbarkeit der Kategorien von Söll (1985), also Konzeption und Medium, sowie die von Koch / Oesterreicher (2011), d. h. Nähe und Distanz. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß dies womöglich schwierig einzuschätzen sei, ob allein ein reiner Medienwechsel wie im Französischen schon nachweisliche Auswirkungen auf die Versprachlichung habe oder ob im Lateinischen nicht immer auch die Ebene der Stilregister eine Rolle spielen würde (Müller-Lancé 2006: 57). Entsprechend den in vorliegender Arbeit bereits dargelegten kritischen Überlegungen zur Möglichkeit der Integration der Söll’‐ schen Kategorien in das System von Koch / Oesterreicher (v. supra) und der Tat‐ sache, daß wir zwar einige Hinweise auf die Aussprachegewohnheiten der Römer haben, dies aber bei weitem nicht ausreicht, um voll umfänglich die me‐ dial und konzeptionell gesprochene Sprache zu charakterisieren, erscheint es sinnvoller, die diamesische Ebene als eigene Dimension im Coseriu’schen Dia‐ system auszuklammern. In Bezug auf historische Sprachformen ist es zwar unter Umständen erlaubt, aus einer überlieferten Schriftlichkeit vorsichtige Rück‐ schlüsse auf eventuelle mündliche Realisierungen zu ziehen, die Rekonstruktion der kompletten Ebene der Mündlichkeit bleibt aber hoch spekulativ. Konzentriert man sich auf die sprachlichen Register innerhalb der diaphasi‐ schen Ebene, 244 so ist für eine erste Orientierung und Kategorisierung die Per‐ spektive der traditionellen Rhetorik hilfreich. Diese unterscheidet prinzipiell drei Ausdrucksweisen bzw. Stilarten (genera dicendi), und zwar den niederen Stil (genus subtile oder genus humile), den mittleren Stil (genus mediocre) und den hohen Stil (genus sublime oder genus grande). Diese drei Arten der Redeweise 146 4. Die Architektur des Lateins <?page no="147"?> 245 Die zahlreichen Belegstellen zu den einzelnen sermones der diaphasischen Ebene hat Müller (2001: passim) in den entsprechenden Kapiteln seiner Arbeit zusammengetragen; sie werden hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nur in Ausnahmefällen reproduziert. 246 Ein gewisser Unterschied hinsichtlich der beiden Begriffe usus und consuetudo ist hin‐ sichtlich einer je unterschiedlichen Fokussierung zu sehen: „Die usus-Formen legen nämlich den Akzent auf die reine Gegenwärtigkeit des Sprachzustandes, während die consuetudo die vorfindbare Beschaffenheit oder Regelmäßigkeit als etwas Gewordenes, diachron Fundiertes nahebrachte“ (Müller 2001: 212). werden dabei den entsprechenden Absichten der Kommunikation zugeordnet, wobei für die Belehrung (docere) das genus humile geeignet sei, für die Unter‐ haltung (delectare) das genus mediocre und für die Rührung (movere) das genus grande (cf. Burdorf / Fasbender / Moennighoff 2007: 273). Diese kanonisierte Form der Unterscheidung von Sprachregistern in Anwendung je nach Kommu‐ nikationssituation gibt dennoch Hinweise auf Stilebenen bzw. diaphasische Re‐ gister, über die innerhalb der lateinischen Sprache die Sprecher verfügen konnten. 245 Hinzu kommt der bereits in der Rhetorica ad Herennium belegte Be‐ griff des cotidianus sermo (4, 14, 2) oder der consuetudo cotidiana (4, 17, 22) und des sermo vulgaris (4, 69) sowie der bei Cicero verwendete Terminus des sermo familiaris (Cic. Caecina orat. 52, 2), der jedoch keine wesentliche Fortsetzung findet. Des Weiteren ist für den Superstandard, also die sehr gehobene Sprache, der auch diatopisch markierte Begriff des sermo urbanus in Betracht zu ziehen sowie der mit einer Konnotation von Norm und Korrektheit versehener Begriff des sermo latinus. Angesichts dieser metasprachlichen Zeugnisse von Bezeich‐ nungen für verschiedene stilistisch bedingte Sprechweisen, die aufgrund der dominanten Stellung der Rhetorik viel zahlreicher sind als diatopische oder di‐ astratische Markierungen, stellt sich nun die Frage, inwieweit hiermit gesell‐ schaftliche Realitäten abgebildet werden und wenn ja welche. Um Aussagen über verschiedene Ebenen der gehobenen oder niederen Sprechweise treffen zu können, sei zunächst der unmarkierte Gebrauch defi‐ niert. Müller (2001: 209-213), der die fragliche Begrifflichkeit in der Rhetorica ad Herennium, bei Cicero, Horaz und Quintilian untersucht, sieht in dem bei Cicero und anderen späteren Autoren (nicht Quintilian) verwendeten sermo usitatus (Cicero, Brut. 259 (74); 1990: 196) eine Bezeichnung für eine Standardvarietät bzw. den allgemeinen Sprachgebrauch. Damit einher gehen die Begriffe usus und consuetudo, die nicht selten weitgehend deckungsgleich 246 verwendet werden und in der ein oder anderen Form bei den meisten Rhetorikern bzw. in sprachtheoretischen Betrachtungen vorkommen. Insbesondere bei Quintilian wird dabei deutlich, daß auch die Norm sich am Gebrauch ausrichtet, der als solcher durchaus positiv konnotiert ist (cf. Müller 2001: 211-212). Ebenfalls zur Bezeichnung eines allgemein üblichen Sprachgebrauchs wurde der Begriff des 147 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="148"?> sermo communis verwendet. Während bei Varro mit communis vor dem Hinter‐ grund einer consuetudo recta vs. einer consuetudo depravata bzw. mala auf den Sprachgebrauch des maßgeblichen Teils der Bevölkerung bzw. der periti referiert wird und dieser somit eher als gehoben zu charakterisieren ist, stuft Cicero die consuetudo communis als usuellen Standard unterhalb des Ideals des sermo ur‐ banus ein. Quintilian, der wohl erstmals diese Ebene als sermo communis be‐ zeichnet, zielt ähnlich wie Varro auf eine Sprechweise der eruditi. In der Spät‐ antike bei den christlichen Autoren umfaßt diese Bezeichnung jedoch den Sprachgebrauch des gesamten Volkes (cf. Müller 2001: 215-217). Eine diaphasisch neutrale, unmarkierte Redeweise zu definieren, ist auch für lebende Sprachen nicht immer ganz einfach. Geht man jedoch davon aus, daß im Lateinischen ähnlich wie in seinen heutigen Nachfolgesprachen sich der sti‐ listisch unmarkierte Standard prinzipiell am Sprachgebrauch der oberen Ge‐ sellschaftsschicht in eher informeller Situation orientiert - schriftlich tenden‐ ziell höher verortet als mündlich (cf. Koch / Oesterreicher supra) -, so dürfte dies mit der antiken Interpretation des sermo communis recht adäquat umrissen sein, der mit dem sermo usitatus korreliert, mit dem jedoch mehr der normative As‐ pekt im Vordergrund steht. Die Tatsache, daß am sermo communis in einer spä‐ teren Zeit eine breitere Bevölkerungsschicht partizipiert, ist womöglich den ge‐ sellschaftlichen Veränderungen geschuldet, die zwar keine Abschaffung von Eliten bedingte, aber womöglich ein Partizipieren breiterer Bevölkerungs‐ schichten an der römischen (Stadt-)Kultur: Die Romanisierung des Reichs und die als deren Konsequenz anzusehende Übertra‐ gung des römischen Bürgerrechts an immer mehr und schließlich fast alle Reichsbe‐ wohner führte zu einer starken Homogenisierung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Überall im Reich wurde nun als Muttersprache lateinisch bzw. griechisch gesprochen; der Götterhimmel war seiner Mannigfaltigkeit und Gebrochenheit in jedem Landstrich gleich oder ähnlich; das Bild der Städte wurde uniformer, ebenso die benutzten Gerätschaften, die Festlichkeiten und die Bibliotheken. (Bleicken 1994: 45) Durch diese Homogenisierung der Gesellschaftsschichten ergibt sich auf sprachlicher Seite eine weniger deutliche Trennung von Diaphasik und Dias‐ tratik. Versucht man sich von dieser Ausgangsbasis den Substandardregistern zu nähern, so sind in der antiken Literatur Begriffe wie sermo cotidianus, sermo familiaris, sermo humilis und sermo vulgaris in Betracht zu ziehen bzw. potentiell zu hierarchisieren. In der Rhetorica ad Herennium werden Bezeichnungen wie cotidiana locutio, cotidianus sermo oder consuetudo cotidiana verwendet, bei Cicero unter anderem 148 4. Die Architektur des Lateins <?page no="149"?> 247 Die Tatsache, daß in der heutigen Stilregistermarkierung der romanischen Sprachen diese Bezeichnung eine wichtige Stellung einnimmt (z. B. frz. familier, it. familiare, span. familiar), ist ein Erbe des Humanismus und spiegelt nicht die antiken Verhältnisse der Markierungspraxis wieder. sermo cotidianus, usus cotidianus und consuetudo sermonis cotidiani und bei Quintilian, der ebenfalls terminologisch variiert, wird der alltägliche Sprachge‐ brauch präferentiell mit cotidianus sermo charakterisiert. Müller (2001: 167-178), der die Verwendung der Begrifflichkeiten vergleichend analysiert, kommt zu dem Schluß, daß es sich hierbei um ein Register handelt, welches unterhalb des Standards auf der ersten Stufe des Substandards anzusiedeln ist. Die Einschät‐ zungen der einzelnen Rhetoriker sind dabei, wie Müller darlegt, nicht völlig kohärent. Der Anonymus der ersten Rhetorica sieht vor dem Hintergrund seiner Stilanalyse das niedrigste genus in zumindest partieller Korrelation mit der All‐ tagssprache, charakterisiert beispielsweise durch Wörter, die bei der Mehrzahl der Sprecher frequent sind, also der consuetudo cotidiana entsprechen. Cicero betont zudem die notwendige Aktualität der Lexeme, d. h. sein cotidianus sermo soll vor allem den zeitgenössischen Sprachgebrauch widerspiegeln und hat u. a. die Funktion innerhalb der öffentlichen Gerichtsrede Tatbestände und Sachver‐ halte klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Er sieht dieses Stilregister aber auch als angemessen für die Textgattung des Briefes (Epistulae ad fami‐ liares, 9, 21). Quintilian betont hingegen, daß die alltägliche Redeweise nicht ausreiche, rhetorische Zwecke zu erfüllen. Gemeinsamkeiten bezüglich der Charakterisierung eines sermo cotidianus sind auch unter Einbeziehung späterer metasprachlicher Zeugnisse darin zu sehen, daß es um einen schlichten Stil geht, ohne ornatus, mit einer knappen Satzgestaltung und gängigem Wortschatz, so daß eine allgemeine Verständlichkeit gewährleistet wird. In ähnlicher Funktion wie sermo cotidianus wird von Cicero der Terminus sermo familiaris eingeführt, allerdings mit Betonung auf dem engen Kontakt zwischen den Kommunikationspartnern in Anlehnung an lat. familia, die rö‐ mische Hausgemeinschaft. Im Weiteren bleibt die Verwendung dieses Begriffs jedoch marginal, dabei aber weiterhin mit der Konnotation der Nähe und Ver‐ trautheit belegt (cf. Müller 2001: 179-182). 247 Der sermo humilis erscheint als mehr oder weniger fest umrissenes Konzept erstmals bei Cicero, der allerdings im Rahmen seiner rhetorischen Abhand‐ lungen (Orator, De oratore, Brutus) in seinen Bezeichnungen nicht konsequent ist. Eindeutig handelt es sich dabei in Variation mit Beschreibungen wie tenuis, subtilis oder calidus um die Charakterisierung der untersten Stilebene der genera dicendi bzw. figurae orationis. In diesem Kontext ist der sermo humilis nicht un‐ bedingt negativ konnotiert, hat er doch seinen festen Platz im Gefüge der Stil‐ 149 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="150"?> 248 Cf. dazu die Ausführungen von Augustinus in De doctrina christiana (IV, 19, 34-38; 1995: 239-244), in denen er die Verwendung der Stilarten abhandelt; insbesondere folg‐ ender Passus, in dem es um die maximale Verständlichkeit für den Rezipienten geht: „Aut <quid> qui docet unitatem trinitatis debet nisi sumissa disputatione agere, ut res ad dinoscendum difficilis quantum datur possit intellegi? Numquid hic ornamenta et non documenta quaeruntur? Numquid ut aliquid agat est flectendus auditor et non potius ut discat instruendus? “ (Augustinus, doctr. christ. IV, 19, 38; 1995: 244). arten und ihren je spezifischen Anwendungen. Die davon unabhängige Ver‐ wendung von humilis bezeichnet hingegen eine niedrige und ärmliche Redeweise. Letztere Bedeutung übernimmt im Wesentlichen auch Quintilian, der im Gegenzug humilis nicht als Teil der drei Sitilregister sieht (genus subtile, genus medium, genus grande) und damit den Antagonismus von Cicero ver‐ meidet. Eine dezidierte Aufwertung des sermo humilis ist seit Augustinus zu verzeichnen, der in Anlehnung an Cicero zwar ebenfalls drei Stilarten entwirft (submisse, temperate, granditer), jedoch deren Anwendung nicht abhängig vom darzustellenden Stoff macht. Ihm geht es allein um die Vermittlung der doctrina christiana, eine Abstufung ist nicht nötig, was die Regeln der Rhetorik und des situationsbedingten Sprechens völlig neu definierte. Für das Lateinische der christlichen Autoren hat Augustinus damit die aptum-Regel der Rhetorik und Poetik außer Kraft gesetzt. Statt des Gebots, das Stilniveau dem Gewicht des Stoffes und dem Rang der zur Sprache kommenden Person anzupassen, ging seine Lehre zur Forderung über, das Sprachniveau allein im Hinblick auf den beabsichtigten Publikumseffekt zu bestimmen und zu variieren. Das stilästhetische Prinzip hatte hinter dem stilpragmatischen, also hörer- und leserorientierten, zurück‐ zutreten. Für die Gesamtarchitektur der lateinischen Sprache ergab sich eine folgen‐ reiche Neubewertung. Der bis dahin selbstverständliche Prioritätsanspruch des ge‐ hobenen Lateins über die einfacheren Varietäten war fortan in der christlichen Welt aufgehoben. (Müller 2001: 113) 248 Diese Neuorientierung hängt auch damit zusammen, daß die Sprache der Bibel nicht den üblichen gattungsbedingten Registern gehorchte. Vor diesem Hinter‐ grund erfährt der sermo humilis eine Aufwertung im Sinne eines klaren unprä‐ tentiösen Stils, der von jedem verstanden wird und damit den obersten Zweck der christlichen Autoren, den der Verständlichkeit, am ehesten erfüllt (cf. Müller 2001: 97-104, 111-116). Die aus heutiger Sicht wohl prominenteste Stilmarkierung ist der sermo vul‐ garis. Müller-Lancé (2006: 58) führt diese Ebene jedoch nicht als solche an, son‐ dern behandelt diese diaphasisch-diastratische Einordnung unter einem Son‐ derkapitel zum Vulgärlatein. Für eine Charakterisierung der Architektur der 150 4. Die Architektur des Lateins <?page no="151"?> 249 Dazu gehört die wachsende Distanz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, wobei letztere durch immer stärkere Kodifizierung und der Einforderung einer ge‐ wissen Norm von Seiten der sich zunehmend vom einfachen Volke entfernenden Bil‐ dungselite festgesetzt wurde, so daß das standardisierte Latein seine Rückbindung an den allgemein üblichen Sprachgebrauch immer mehr verlor (cf. Müller 2001: 160). lateinischen Sprache soll aber hier genau nicht eine Vermischung mit der Prob‐ lematik dieses modernen, daraus abgeleiteten Begriffs stattfinden, sondern der Fokus soll auf der antiken Sprachsituation liegen mit - soweit möglich - zeit‐ genössischer Terminologie, um andere Implikationen zu vermeiden (zur Prob‐ lematik ‚Vulgärlatein‘ v. infra). Bereits bei Plautus sind laut Müller (2001: 118-120) die frühesten Belege zu vulgatus zu verzeichnen und schon dort ist die Konnotation der als volgata verba bezeichneten Lexeme negativ, und zwar in dem Sinne von zwar verbreitet, aber unspezifiziert niederen Ursprunges (cf. dt. gemein). In der Rhetorica ad Heren‐ nium, in der erstmals die Wendung vulgaris sermo zu finden ist (4, 69), wird damit die allgemeine Sprache, die der breiten Masse, von derjenigen der Redner und Dichter abgegrenzt. Bei Cicero schließlich häufen sich verschiedene Kennzeich‐ nungen in Zusammenhang mit vulgaris, so beispielsweise vox vulgaris, oratio vulgaris, vulgaris sermo, verbum vulgi oder vulgare orationis genus. Semantisch wird dabei meist auf das Allgemeine, Verbreitete, Übliche referiert, d. h. viel‐ leicht nicht wertneutral, aber akzeptabel, während mit vulgaritas eindeutig nicht hinnehmbares niedriges Sprachniveau thematisiert wird - Cicero bleibt hier gewissermaßen ambig. Quintilian folgt ihm hier weitgehend, so daß vulgaris im Rahmen der rhetorischen Notwendigkeiten durchaus auch positiv konnotiert sein kann. Erst ab Gellius beginnt eine überwiegend negative Verwendung der von vulgus abgeleiteten Begriffe, wobei zunehmend die ursprünglich eindeutig diaphasische Bezeichnung eine diastratische Dimension bekommt und in die Nähe des sermo plebeius gerückt wird, was auch mit den in der späten Kaiserzeit sich verändernden gesellschaftlichen und sprachlichen Bedingungen zusam‐ menhängt, 249 so daß nur noch zwischen normiertem Standard im Sinne einer latinitas und dem nicht-konformen Sprechen unterschieden wurde (cf. Müller 2001: 155-160). Das Konzept der latinitas im Sinne einer überprüfbaren Sprachrichtlinie ist bei Varro, überliefert durch Diomedes (fragm. gramm. I, 439, 17; GLK 1857 I: 439), näher erläutert, und zwar mit den Kriterien natura, analogia, consuetudo und auctoritas und auch bei Quintilian (Inst. orat. I, 6, 1; 2001 I: 160-184), der als Kriterien ratio (analogia u. etymologia), vetustas, auctoritas und consuetudo zu‐ grunde legt (cf. Siebenborn 1976: 53). Das sich ab dem 2. Jh. v. Chr. konstituie‐ rende Sprachideal der latinitas, beruhend auf einem Kanon von auctores, den 151 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="152"?> 250 Müller (2001: 226) erläutert die Veränderung innerhalb des römischen Reiches in der (späten) Kaiserzeit, in der auf der einen Seiten zahlreiche Regionalzentren, aber auch Provinzhauptstädte (cf. kleinteiligere Provinzgliederung ab Diokletian, Konstantin u. Theodosius) sowie Teilhauptstädte (cf. Tetrarchie) entstanden, auf der anderen Seite auf dem Land eine zunehmende Armut und Rückständigkeit, auch in Sachen Bildung herrschte, was ein wachsendes sprachliches Gefälle bedingte. Bei Augustinus (Doctr. Christ. 4, 3) wird der daraus entstehende allgemeine Stadt-Land-Gegensatz im Sprach‐ verhalten deutlich (Städter kritisieren die Sprechweise der Leute vom Land): „Das Zeugnis ist von außerordentlichem Wert, denn es veranschaulicht, wie eine diatopische classici, grenzt sich gegenüber diatopischen Varietäten (cf. sermo rusticus, ag‐ restis) und diastratisch niedrig markierten Varietäten ab (cf. sermo vulgaris, co‐ tidianus, familiaris, plebeius) und ist gleichzeitig gekoppelt an ein gesellschaft‐ lich als vorbildlich angesehenes Verhalten (cf. recte vivere) und Denken (cf. recte sentiendi et cogitandi), was sich letztlich auch auf die Bereiche der Philosophie (cf. vere loqui), der Rhetorik (cf. bene loqui) und der Grammtik (cf. correcte loqui) ausdehnt; d. h. Teil eines gesamtgesellschaftlichen Ideals ist (cf. Poc‐ cetti / Poli / Santini 2005: 401-403). Im Bereich der Stilregister oberhalb des Standards sind aus der antiken me‐ taprachlichen Reflexion im Wesentlichen zwei Markierungen überliefert, und zwar die des sermo urbanus sowie die des sermo latinus mit den jeweils dahin‐ terstehenden Konzepten der urbanitas und der latinitas. Beides sind keine dia‐ phasischen Einordnungen sui generis, sondern je anderer Provenienz. Die Be‐ zeichnung sermo urbanus ist erstmals bei Livius belegt, und zwar im Sinne der diatopischen Abgrenzung gegenüber rusticus, d. h. es wird auf das stadtrömische Leben, der damit zusammenhängenden Kultur und der entsprechenden sprach‐ lichen Ausdrucksweise abgehoben (cf. die urbs ‚Stadt‘ schlechthin: Rom). Dies bedeutet auch, daß diese Kennzeichnung von Anbeginn neben einer rein lokalen Komponente eine dezidiert positive Konnotation hatte, und zwar im Sinne eines gehobenen Registers. Bei Cicero gewinnt letzterer Aspekt zunehmend an Ge‐ wicht, wobei er beispielsweise vage von einem urbanitas color spricht, ohne dies an sprachlichen Einzelelementen festzumachen; es sei jedoch ähnlich dem des ἀττικισμὸς im Griechischen. Quintilian schließlich schärft hier das Verständnis, indem er die Redeweise nicht nur mit der stadtrömischen Bevölkerung in Ver‐ bindung bringt, sondern auch mit entsprechender Bildung der Sprecher, so daß der sermo urbanus zumindest in partieller Korrelation mit der conversatio doc‐ torum steht. Eine ursprüngliche diatopische Markierung verschiebt sich hier demgemäß zu einer diastratisch-diaphasischen, ohne die lokale Komponente ganz zu verlieren, denn im Laufe der Zeit überträgt sich das Konzept der urba‐ nitas von Rom auch auf die Metropolen der Provinz, wobei die Abgrenzung zur Sprechweise auf dem Land (rusticus) erhalten bleibt. 250 Stilistisch wird mit dem 152 4. Die Architektur des Lateins <?page no="153"?> Differenzierung, die zunächst nur das stadtrömische Latein gegen das ländliche ab‐ setzte, im Imperium auf die überall entstehende Opposition Sprache der Städter: Sprache der ‚Provinzler‘ übertragen wurde“ (Müller 2001: 226). sermo urbanus somit letztendlich das gute, (haupt)städtische Sprechen ausge‐ drückt, welches sich von der mit sermo latinus gekennzeichneten Redeweise dadurch unterscheidet, daß bei letzterer eher die regelkonforme Korrektheit im Vordergrund steht und bei der als urban gekennzeichneten Redeweise, die damit verbundene Eleganz und Kultiviertheit zum Ausdruck gebracht wird (cf. Müller 2001: 219-230; Lüdtke 2019: 450-452). Es stellt sich nun die Frage, wie diese vornehmlich im Zuge der antiken Rhe‐ toriktheorien entstandenen Begrifflichkeiten zu bewerten sind. Dabei ist prin‐ zipiell zu berücksichtigen, daß die Verfasser der Rhetoriken oder andere Au‐ toren, die metasprachliche Betrachtungen anstellten, weniger die Beschreibung der sprachlichen Wirklichkeit zum Ziel ihrer Abhandlungen hatten, sondern die jeweilige Sprechweise auf ihre Funktionalität hin für öffentliche Reden unter‐ suchten. Nichtsdestoweniger ist darin in gewissem Grad ein Spiegelbild tat‐ sächlicher diaphasischer Ebenen zu erkennen. Allerdings stellt sich wie bei der Beschreibung moderner, lebender Sprachen auch das grundsätzliche Problem der Abgrenzung von diaphasischer und diastratischer Ebene, da diese eng zu‐ sammenhängen. Zusätzlich kommt angesichts der Ausdehnung des römischen Reiches der diatopische Aspekt zum Tragen. Auch dies ist grundsätzlich nicht anders als bei aktuellen, diversifizierten Sprachen, allerdings mit dem Unter‐ schied, daß die Standardsprache aufgrund geringerer Verbreitung von Schul‐ bildung, niedrigerer Alphabetisierungsrate und dem Fehlen der modernen Me‐ dien als Katalysator von Standardisierungsprozessen weniger präsent war als heutzutage bei den großen Nationalsprachen. Es bleibt als Parallele zu heute aber auch die Schwierigkeit der Bestimmung der Anzahl der diaphasischen Ebenen, die oft nicht scharf getrennt voneinander sind. Versucht man nun die Ergebnisse aus der metasprachlichen Analyse von Müller (2001) auf eine mög‐ liche Sprachrealität anzuwenden, so scheint es neben einem Standard, der als sermo usitatus oder communis gekennzeichnet ist, zumindest zwei Substandard‐ register gegeben zu haben, d. h. einerseits den sermo familiaris oder sermo coti‐ dianus und andererseits niedrig markierter den sermo humilis oder sermo vul‐ garis. Im Bereich des Superstandard ist mit sermo urbanus oder sermo latinus der gehobene Sprachgebrauch anzusetzen. Es ist wahrscheinlich, daß sich auch der schriftliche und der mündliche Gebrauch nochmal unterschieden, ganz nach dem von Koch / Oesterreicher (2011: 12) formulierten Diktum der jeweiligen Af‐ finitäten von phonischem Code zu Nähesprache und graphischem zu Distanz‐ sprache (v. supra). 153 4.1 Lingua viva: Latein in der Antike <?page no="154"?> 4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit Die Frage wann die Epoche des Mittellateins beginnt und damit auch die Phase, in der Latein - zumindest aus heutiger Sicht - nicht mehr als lebende Sprache wahrgenommen wird, ist untrennbar mit der Entstehungsgeschichte der ro‐ manischen Sprachen verbunden. Dabei ist die Frage nach einem mehr oder we‐ niger präzise datierbaren Ablösezeitpunkt prinzipiell nicht wirklich sinnvoll gestellt, wie Kramer (1997) unmißverständlich deutlich macht: Eine scharfe Grenze zwischen spätantikem und frühmittelalterlichem Latein läßt sich natürlich nicht ziehen. Die Frage, wann die spätlateinische zur frühromanischen Um‐ gangssprache wurde, mit anderen Worten, wann man aufhörte lateinisch, und wann man anfing, romanisch zu sprechen, ist in dieser Form falsch gestellt. Beide Sprach‐ formen folgen bruchlos aufeinander, und man kann nur sagen, daß die romanischen Charakteristika in dem Maße zunehmen, wie die lateinischen Wesensmerkmale ab‐ nehmen […]. (Kramer 1997: 151-152) Steinbauer (2003: 514) benennt als Richtwert die Zeit um 600 n. Chr., in der die gesprochene Sprache sich so weit von der Schrift- und Literatursprache entfernt habe, daß man von einer Diglossiesituation ausgehen muß, die schließlich im 9. Jh. in eine Verschriftung und Verschriftlichung einzelner Volkssprachen auf dem Boden des ehemaligen römischen Reiches mündet. Auch Müller-Lancé (2006: 40), der den Zeitraum ähnlich faßt (650 n. Chr. bzw. 6./ 7. Jh.), sieht aus linguistischer Sicht gravierende Veränderungen, die eine neue Epoche in der Sprachgeschichte rechtfertigen. Reutner (2014: 200) folgt ihm in dieser Datie‐ rung, genauso wie in der Gesamtperiodisierung. Meiser (1998: 2) hingegen da‐ tiert das Ende der spätlateinischen Phase auf Ende des 7. Jh. n. Chr. Paradigma‐ tische Autoren an dieser Epochenschwelle wie Gregor v. Tours (540-594 n. Chr.) oder Isidor v. Sevilla (560-636 n. Chr.) ordnet Müller-Lancé (2006: 37) aus lingu‐ istischer Sicht noch dem Spätlatein zu, wobei er doch bereits recht deutliche Abweichungen von der klassischen Morphologie und Syntax konzediert. Ber‐ schin (2012: 106) hingegen sieht die Sprache von Gregor nur noch in euphemis‐ tischem Sinne dem niedrigen Stil zugehörig, da sie in Wahrheit voller Barba‐ rismen und Solözismen sei. Wichtiger aber ist seine Beobachtung, daß im Spätlatein der sprachgeographische Schwerpunkt der Literaturproduktion in Nordafrika lag (christl. Autoren 2.-6. Jh.), während er sich dann nach Norden und spezieller nach England und vor allem nach Irland verschob, also in wenig bzw. gar nicht romanisierte Regionen Europas, wo eine insular-lateinische Li‐ teratur entstand (cf. Berschin 2012: 105). 154 4. Die Architektur des Lateins <?page no="155"?> 251 Die Metapher von der ‚toten Sprache‘ ist deshalb schief, wie Poccetti / Santini / Poli (2005: 12) richtigerweise darlegen, weil gar kein Todesdatum auszumachen ist, denn die Vitalität des Latein wurde weder mit dem Untergang des weströmischen Reiches, noch mit den karolingischen Reformen oder der Renaissance beerdigt. 252 Lüdtke (2005: 26) spricht von einer Varietät, die „eine von der Alltagssprache abgeho‐ bene, elaborierte unterrichtsmäßig tradierte consuetudo, eine Schriftsprache“ darstellt. 253 Berschin / Berschin (1987: 19) sehen diesen Prozeß ebenfalls bereits in der Antike be‐ ginnend, als die lateinische Literatursprache fixiert und „aus dem geschichtlichen Prozeß weitgehend herausgenommen“ wurde und vor allem dann mit jeder Renaissance oder Reform „jedesmal radikaler und auf einer immer enger gefaßten Basis von Auto‐ ritäten“ beschränkt wurde. Unabhängig von der jeweiligen Einschätzung des sprachlichen Befundes scheint es jedoch aus kultureller Perspektive in jedem Fall sinnvoller die ge‐ nannten Autoren, auch wenn sie partiell noch im Bildungshorizont der Antike verankert sind, doch der neuen Epoche zuzuweisen. Im Zuge vorliegender Zielsetzung und des anvisierten Schwerpunktes, die Architektur des Lateins zu untersuchen, soll hier im weiteren nicht auf um‐ fangreiche mittellateinische Literatur und die in diesem Kontext neu erschlos‐ senen Diskurstraditionen eingegangen werden, genausowenig wie auf die in‐ nerlateinischen Sprachentwicklungen. Von zentralem Interesse ist vielmehr die Frage nach der Erstarrung des Lateins, dem metaphorischen Tod und der Di‐ versifikation innerhalb dieser „toten“ Sprache. 251 Es gibt allerdings Phasen und Strömungen in der Geschichte der lateinischen Sprache, die dazu beitrugen, daß sich das Latein als „Kunstsprache“ etablierte und nach und nach von seiner volkssprachlichen Basis entfernte. Dies beginnt aber bereits in der Antike mit der engen Verknüpfung von Grammatik, Rhetorik und literarischer Schriftproduktion. Es hängt auch mit dem literarischen Ideal der imitatio zusammen, den stilistischen Vorgaben, die eine lexikalische und syntaktische Selektion zur Folge hatten, und vor allem mit der Reduktion des Lateins auf eine einzelne Varietät, die auf ihre Funktion als Logik-, Rhetorik- und Literatursprache reduziert wurde und in der schulischen Tradition kano‐ nisiert und isoliert wurde. 252 Dazu trugen sicherlich auch die Strömungen bei, die die lateinische Sprache auf genau diesen Aspekt reduzieren wollten und eine Bewahrung eines normativen Modells anstrebten, wie innerhalb der Karolingi‐ schen Renaissance, der ottonischen Renaissance, der Renaissance des 12. Jahr‐ hunderts und der humanistischen Renaissance (cf. Berschin / Berschin 1987: 18; Graphik). 253 Andererseits blieb das Lateinische während des gesamten Mittelal‐ ters und auch noch in der Frühen Neuzeit insofern eine sehr lebendige Sprache, als sie in vielen Bereichen die alternativlose Schriftsprache blieb, damit unwei‐ gerlich flexibel sein mußte, sich neuen Themen und Gegebenheiten anzupassen 155 4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit <?page no="156"?> 254 Curtius (1993: 34-35) hebt hervor, daß das geistige Leben im westlichen Mittelmeer durch die Völkerwanderung keinen wesentlichen Bruch erfahren hat, da die Germa‐ nenherrscher alle ihre Gesetze, Urkunden und Briefe auf Lateinisch abfassen ließen. Bis ins 8. Jh. gibt es auch noch eine (kleine) Laienschicht, die das Latein beherrscht, und gleichzeitig ist die Sprache des Alltags auch immer noch Latein, wenn auch „verderbtes“. hatte, aber auch in der Mündlichkeit als Sprache der Diplomaten, Gelehrten und der Kirche ungebrochene Vitalität erlebte. Dabei stand sie auch immer im Aus‐ tausch und im Spannungsfeld der jeweiligen Volkssprachen, auch der nicht-ro‐ manischen: Die geschichtlichen Phasen, in denen das Latein steril zu werden scheint, sind gerade diejenigen, in denen sich Spannungen zwischen den beiden Ebenen und vielseitige Aspekte am deutlichsten zeigen. Vitalität und Autonomie des mittelalterlichen Lateins und des Lateins der Humanisten (oder vielmehr der Varietäten des Lateins des Mit‐ telalters und des Humanismus) sind gerade in der Dualität einer Sprache des Geistes, der Schule und der Kirche, aber auch der internationalen Kommunikation, in der sich klassische Modelle und christliche Vorbilder […] vermischen, und einer breiten Skala von Ausprägungen im Raum, in der Zeit und in den persönlichen Erfahrungen zu finden. (Poccetti / Santini / Poli 2005: 13) Die Zeitgenossen jedenfalls erlebten das Lateinische jedenfalls nicht als tote Sprache, sondern als gelebte Sprache, die in ihrer Vielfalt wesentlich zur He‐ rausbildung der europäischen Literatur beitrug (cf. Curtius 1993: 34-40) bzw. zu Beginn zur Genese der volkssprachlichen Schriftlichkeit an sich, die ohne die lateinische Vorlage kaum denkbar gewesen wäre. Die [mittelalterlichen] Menschen selber nahmen die große Zäsur zwischen der Antike und ihrer eigenen Zeit, die unser von der Renaissance vermitteltes Geschichtsbild so entschieden prägt, vermutlich nicht in gleich starkem Maße wahr. (Stotz 2002: 23) Einen Bruch zur Spätantike gibt es insofern, als nach Lüdtke (2005: 22) irgend‐ wann die „Staffettenkontinuität“ verloren geht, d. h. die mündliche Tradierung von Generation zu Generation abbricht. Dies ist insofern zu präzisieren, als dies ja nur auf eine bestimmte Varietät des Lateins zutrifft, die meisten Varietäten münden in die romanischen Sprachen, bleiben also erhalten. Stotz (2002: 25) be‐ schreibt treffend die Rückbindung, die die Bildungsschicht der Antike viva voce an den Rest der Bevölkerung hatte und wie das von ihnen produzierte Schrifttum entsprechende Verbreitung fand. Dabei handelte es sich selbst noch in der Spät‐ antike um einen „Kreis rhetorisch-literarisch Gebildeter“, während im frühen Mittelalter nur noch eine „kastenartige Trägerschicht der Sprache“ (ibid.: 25) be‐ stand. 254 Diese konnte zwar noch Sprachelemente der normierten Schriftsprache 156 4. Die Architektur des Lateins <?page no="157"?> Dadurch bleibt bis in diese Zeit die Einheit der Romania bestehen. Dies ändert sich dann ab dem 9. Jh. unter den Karolingern, als nur noch der Klerus Gebildete hervorbringt, eine „Priesterkaste“ den Staat stark beeinflußt. Aber erst die Karolingische Renaissance ist dann schließlich „zugleich eine Wiederaufnahme der antiken Tradition und ein Bruch mit der zerstörten römischen Kultur“ (Curtius 1993: 35). Kramer (1997: 152), der diese Veränderungen ebenfalls sieht, ergänzt diese um den As‐ pekt des „tiefgreifende[n] Verfall[s] des antiken Schulwesens zwischen 600 und 800“, was zu einem starken Rückgang der Schreib- und Lesefähigkeit führte, die zumindest in der männlichen Bevölkerung der Kaiserzeit relativ verbreitet war. Die Situation der lateinischen Sprache, bei der Mündlichkeit und Schriftlichkeit sich stark veränderten, beschreibt er etwas zeitgemäßer als immer „brüchiger“ werdende „Rückbindung der [Schrift]Sprache an die klassischen Normen“, so daß sich die Abweichungen von den „tradierten Regeln“ in Orthographie, Morphologie, Syntax und Wortschatz häuften, auch unter Einfluß der Alltagssprache. mehr oder weniger beurteilen, aber nicht mehr spontan aufgrund ihrer mutter‐ sprachlichen Sprachkompetenz, sondern nur noch durch angelerntes Sprach‐ wissen und den Vergleich der literarischen Autoritäten. Lüdtke (2005: 23) bringt zusätzlich den Aspekt der Institutionalisierung ins Spiel, d. h. der bewußten Festlegung und kanonisierten Tradierung dieser selegierten Varietät und schlu‐ ßendlich die mehr oder weniger willkürliche Setzung einer bestimmten Aus‐ sprache, die eine ältere Sprachstufe widerspiegelt. Nichtsdestoweniger bewahrte sich die lateinische Sprache gerade durch ihre Wechselwirkung mit den einzelnen Volkssprachen, auf die sie zum Teil maßge‐ blichen Einfluß hatte, auch eine Variationsbreite in vielerlei Hinsicht. In ihrer mündlichen Ausprägung unterlag sie zweifelsohne einer diatopischen Varia‐ tion, regionale Unterschiede waren aber auch in der Schriftlichkeit nicht aus‐ zuschließen (Schreibschulen) und diaphasisch deckte sie zahlreiche Stilregister ab, entsprechend des allumfassenden Gebrauchs, der nur langsam durch die nach und nach in einzelne Domänen vordringenden jeweiligen Volkssprachen beschnitten wurde. Bei den durchaus gegebenen regionalen Unterschieden handelt es sich, wie Stotz (2002: 87) anmerkt, nicht um Dialekte im eigentlichen Sinn, sondern um Unterschiede, die zwar durchaus auch von sprachlichen Elementen bestimmt wurden, aber letztlich vor allem in einem kulturellen und sprachsoziologischem Rahmen zu beschreiben sind. Poccetti / Santini / Poli (2005: 13-14) zeigen auf, wie erst in der nachhumanis‐ tischen Ära das Lateinische soweit erstarrte, daß die Metapher von der „toten“ Sprache zumindest ein Stück weit zutreffend ist. Das Gefühl der mangelnden Lebendigkeit des Lateins erkannten zwar bereits die Gelehrten der Renaissance, 157 4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit <?page no="158"?> 255 Dies gilt aber auch schon für das Mittelalter, als es immer wieder produktive Schübe der lateinischen Literatur gab, und zwar nicht in Konkurrenz zu den einzelnen Volks‐ sprachen, sondern komplementär: „Das Aufblühen der volkssprachlichen Literaturen seit dem 12. und 13. Jahrhundert bedeutet keineswegs ein Versiegen oder Zurücktreten der lateinischen Literatur. Das 12. und 13. Jahrhundert sind sogar ein Höhepunkt la‐ teinischer Dichtung und Wissenschaft. Lateinische Sprache und Literatur reichen in dieser Zeit ’von Mittel- und Südeuropa und dem Norden bis hin nach Island, Skandi‐ navien, Finnland, im Südosten bis nach Palästina‘. […] Man übersetzt sogar volks‐ sprachliche Dichtungen ins Latein“ (Curtius 1993: 35). doch waren es gerade diese eruditi, die eine ungeheure Produktivität und Inno‐ vation in der von ihnen totgesagten Sprache an den Tag legten. 255 4.3 Die Darstellung des Lateins und seiner Entwicklung in einem varietätenlinguistischen Modell Beschäftigt man sich im Rahmen der Klassischen Philologie mit der lateinischen Sprache, so ist der Fokus aller Betrachtung in der Regel auf dem für diese Fach‐ disziplin namengebenden Klassischen Latein ausgerichtet. Nichtsdestoweniger gab es auch von jeher in bescheidenem Umfang Studien zum nicht normierten Latein. Hierbei wird üblicherweise, wie auch in der aktuellen Einführung von Willms (2013), jegliche Variation im Latein unter zwei Begrifflichkeiten subsu‐ miert, nämlich Vulgärlatein und lateinische Umgangssprache. Zu letzterem Ter‐ minus gibt Willms eine in mehrfacher Weise interessante Stellungnahme ab: Die lat. Umgangssprache ist eine sprachhistorisch-begriffliche Schöpfung Johann Baptist Hofmanns. Er hatte bei der Definition dieses Terminus und seiner Abgrenzung von anderen Varietäten des Lateinischen keine glückliche Hand, doch bleiben beide sachlich sinnvoll und in modifizierter Form praktikabel. Willms (2013: 239) Es ist bezeichnend, daß Willms hier zwar berechtigte Kritik übt, aber anderer‐ seits in seiner aktuellen Einführung genau diese Terminologie beibehält. Auch bezüglich des Umfangs der Ausführungen zum lateinischen Substandard, wird dieser ganz traditionell marginalisiert. Vor allem sei hier dezidiert widerspro‐ chen, daß der Begriff weiterhin praktikabel sei, denn es handelt sich dabei um einen Terminus zur Bezeichnung sprachlicher Verhältnisse im Deutschen, ob deren Adäquatheit man schon diesbezüglich in Zweifel ziehen kann, eine Über‐ tragung auf die Situation des Lateins der Antike, erscheint dabei problematisch, zumal hierunter die verschiedenster sprachlichen Ebenen gefaßt werden. Nicht unproblematisch ist auch die Definition der Umgangssprache, die Hof‐ mann zugrundelegt, setzt er diese doch mit dem sermo familiaris gleich und sieht 158 4. Die Architektur des Lateins <?page no="159"?> 256 Palmer (1990) unterscheidet beispielsweise zwischen gesprochenem Latein, Literatur‐ sprache und Vulgärlatein. Er behandelt zwar auch die Dialekte, aber nur in ihrer Ent‐ stehungsphase. sie als „die lebendige mündliche Redeweise der Gebildeten“ (Leumann / Hof‐ mann 1928: 10). Wie bereits dargelegt (v. supra) ist die Zuordnung zu dem vor‐ wiegend bei Cicero gebrauchten Terminus nicht so einfach. Innerhalb der Um‐ gangssprache wiederum erkennt er mehrere Abstufungen wie die gewählte Sprache der Konversation, den familiären Stil und den niedrigen Stil, während die Vulgärsprache einfach mit noch niedriger verankert wird. Trotz fehlender Differenzierung von diatopischer, diastratischer und diaphasischer Ebene hält sich diese Dreiteilung Schriftsprache (bzw. enger gefaßt Literatursprache) vs. Umgangssprache vs. Vulgärlatein hartnäckig, nicht nur in der Klassischen Phi‐ lologie (cf. Palmer 1990, Meiser 2010, Willms 2013). 256 In der Romanistik dagegen wird diese Trichotomie meist zu einer Dichotomie weiter verkürzt, indem eine Opposition Klassisches Latein vs. Vulgärlatein for‐ muliert wird (cf. z. B. Rohlfs 1951, Vossler 1954, Silva Neto 1957, Herman 1967, Väänänen 1 1963/ 4 2002, Coseriu 2008). Exemplarisch sei dabei auf Herman (1996) verwiesen, der relativ klar die diasystematische Vielfalt der lateinischen Sprache erkennt und definiert, in seiner weiteren Beschreibung dann jedoch in alte Muster verfällt: […] en effet les Anciens eux-mêmes étaient conscients de l’existence d’usages que nous appellerions dialectaux ou socio-culturels […], et la recherche relative au latin connaît depuis toujours une longue nomenclature de variétés conformes à différents paramètres, sans même parler des étapes chronologiques s’échelonnant au cours de la longue histoire de la langue. (Herman 1996: 45) In seiner folgenden Abhandlung der variationsbedingten Unterschiede im La‐ teinischen faßt er trotz dieser Erkenntnis jegliche substandardliche Abweichung unter ‚Vulgärlatein‘. Aus Sicht der Romanistik, die in einer diachronen Perspektive bestrebt ist die Ursprünge der romanischen Sprachen zu ergründen, ist diese Arbeitshypothese, auch im Sinne der im 19. Jh. formulierten genetischen Verwandtschaft der Spra‐ chen, bei der eine Sprachfamilie durch eine gemeinsame Ursprache definiert wurde, durchaus legitim und praxisnah. In dieser Hinsicht ist es ausreichend jegliche Abweichung vom standardisierten Latein unter einen Begriff zu fassen, welche Sprachrealität auch immer damit verbunden ist (zur Diskussion v. infra). Soll hingegen die lateinische Sprache als lebendige, sich wandelnde Sprache beschrieben und möglichst präzise in ihrer Vielfalt erfaßt werden, so ist diese Unterscheidung zu grobkörnig. Aus diesem Grund sei hier der Versuch unter‐ 159 4.3 Die Darstellung des Lateins in einem varietätenlinguistischen Modell <?page no="160"?> 257 Es ändert sich am Modell zur Sprach- und Varietätenwahl in Applikation auf das La‐ teinische eigentlich nichts, allein die Tatsache, daß zwar die Zeitgenossen die Wahl zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hatten, wir jedoch die mündliche Ebene kaum mehr nachvollziehen können, ist zu berücksichtigen. Die Sprachen, die zur Wahl stehen, hängen dabei von der jeweiligen Zeit (der Romanisierung) und Region des rö‐ mischen Reiches ab (z. B. Etruskisch, Griechisch, Keltisch etc.). 258 Das Mittellatein oder auch das Neulatein findet hier keine Berücksichtigung, insofern hier einerseits der Fokus auf der lebenden Sprache Latein liegen soll und andererseits nommen, auf Basis der analysierten Begrifflichkeiten und der bisherigen Sys‐ tematisierung der variationsbedingten Heterogenität des Lateins (siehe dazu das Modell zur Sprachenbzw. Varietätenwahl in Kap. 3.1.3) eine diasystematische Auffächerung darzustellen. 257 Soweit möglich sei dabei auf die antiken Termini rekurriert, diese aber, wenn nötig, um weitere ergänzt. 258 Diasystem des Lateinischen diatopische Ebene Dialekte Regiolekte (tertiäre Dia‐ lekte) Urbanolekte primäre Dialekte: (sermo rus‐ ticus / agrestis) Römisch Praenestinisch Lanuvinisch Tiburinisch Tusculanisch Satricanisch Aricianisch etc. Varietäten der Provinzen: (sermo rus‐ ticus / agrestis) Italia Belgica Lugdunensis Narbonensis Aquitania Tarraconensis Lusitania Baetica Britannia Raetia Noricum Mauretania Africa etc. Varietäten der Städte: (sermo urbanus) Roma Mediolanum Mogontiacum Lugdunum Tarraco Augusta Treverorum Nemausus Narbo Olisipo etc. sekundäre Dia‐ lekte: (sermo rus‐ ticus / agrestis) in Italien: mit oskischem mit umbrischem mit griechischem mit keltischem, etc. Einfluß außerhalb Italiens: mit iberischem mit germanischem mit lusitanischem etc. Einfluß 160 4. Die Architektur des Lateins <?page no="161"?> spätere Sprachstufen des Lateins wie bereits dargestellt (v. supra) anderen Gesetzmä‐ ßigkeiten und Differenzierungskriterien unterliegen. Diasystem des Lateinischen Soziolekte diastratische Ebene schichtenspezi‐ fisch sermo urbanus sermo usitatus / sermo communis sermo plebeius / sermo vulgaris Situolekte diaphasische Ebene Superstandard Standard Substandard sermo urbanus / sermo latinus sermo usitatus / sermo communis sermo familiaris / sermo cotidianus sermo humilis / sermo vulgaris Technolekte diatechnisch gruppenspezi‐ fisch (sermo tech‐ nicus) sermo philosphicus sermo medicus sermo religiosus sermo architecto‐ nicus sermo argrarius etc. Helikialekte diageneratio‐ nell altersspezifisch Gerontolekt (Sprache der Seni‐ oren) Neotolekt (Sprache der Kinder und Jugendlichen) Sexolekte diasexuell geschlechtsspezi‐ fisch Androlekt (Sprache der Männer) Gynaikolekt (Sprache der Frauen) Abb. 3: Das Diasystem des Lateinischen Diese hier präsentierte Idee einer Architektur des Lateinischen als lebende Sprache in der Antike ist natürlich insofern defizitär, als die diachronische Ent‐ wicklung und die sich daraus ergebenden Verschiebungen bzw. Nuancie‐ 161 4.3 Die Darstellung des Lateins in einem varietätenlinguistischen Modell <?page no="162"?> rungen - wie oben beschrieben - nicht abgebildet sind. Es bleibt weiterhin in vielerlei Hinsicht hypothetisch, da wir aus der historischen Konstellation heraus rein auf schriftsprachliche Zeugnisse angewiesen sind, die nicht nur die Frage nach der Mündlichkeit schwer beantwortbar machen, sondern jede Art der di‐ asystematischen Variation nur fragmentarisch hinter der weitgehend standar‐ disierte Schriftlichkeit sichtbar werden lassen. Insofern beruht das obige Schema zwar durchaus auf Studien und Belegmaterial, welches vorsichtige Rückschlüsse auf eine bestimmte Varietät zulassen, sie vollständig zu erfassen ist jedoch nicht möglich. Es sollte dabei jedoch im Anschluß an die neuere Forschung deutlich werden, daß das Lateinische der Antike eine vollausdifferenzierte Sprache war, deren Heterogenität sich eben nicht wie bisher üblich auf zwei oder drei Begriffe reduzieren läßt. 162 4. Die Architektur des Lateins <?page no="163"?> 259 Wunderli (2001: 140) zitiert in diesem Zusammenhang Diez mit der Kernbelegstelle „er‐ losch das vornehme Latein von selbst und das Volkslatein verfolgte, vorzugsweise in den Provinzen, seine Bahn nun um so rascher“ (Diez 3. Aufl. 1870: 4), gibt dazu allerdings irrtümlicherweise die Erstausgabe des ersten Bandes der Grammatik der romanischen Sprachen von 1836 an, in der der Passus in Wirklichkeit folgendermaßen lautet: „erlosch das vornehme Latein von selbst und die Volksmundart verfolgte ihre Bahn nun um so rascher“ (Diez 1836: 4; identisch mit 2. Aufl. Diez 1856: 4). Tatsächlich findet sich im ersten Band der ersten Auflage kein Beleg für ‚Volkslatein‘. Eine andere Stelle weiter unten in der Einleitung des ersten Bandes, auf die auch Kiesler (2006: 7, FN 1) abhebt, der Cano Aguilar dafür kritisiert, daß er Diez den Erstbeleg für ‚Vulgärlatein‘ zuschreibt, wurde ebenfalls abgeändert. Kiesler selbst unterschlägt dabei den Wandel in der Begrifflichkeit, indem er allein die vierte Ausgabe von 1876 zitiert. 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt Bei einer Darstellung, die der Frage nachgeht, wie ein tiefergehendes Ver‐ ständnis für das Latein der Antike entstanden ist und wie Sprachentwicklung in das Bewußtsein der Gelehrten rückte, ist es unumgänglich den zentralen Be‐ griff des Vulgärlateins zu betrachten. Dieser Terminus ist insofern entscheidend, als hierin zum Ausdruck kommt, daß es noch eine andere Form des Lateins gab, die nicht den gleichen Grad an Normiertheit und Invariabilität aufwies wie die Schriftsprache im Allgemeinen bzw. das sogenannte Klassische Latein im Be‐ sonderen. Dieser Unterschied wird bereits bei den antiken Autoren greifbar, die wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, verschiedene Arten des Lateins un‐ terschieden, wie auch immer die jeweilige diasystematische Abgrenzung ge‐ dacht war. Wenn man sich nun - wie hier vorgesehen - mit den Vorstellungswelten der Frühen Neuzeit und deren Begrifflichkeiten auseinandersetzt, so ist es für ein präzises Erfassen der damaligen Erkenntnisse durchaus sinnvoll, sich mit den Kerntermini auch im modernen Verständnis zu beschäftigen bzw. sich ihrer Problematik zu vergegenwärtigen. Dies wurde bereits für die varietäten- und soziolinguistischen Begriffe geleistet (cf. Kap 3.1), gilt aber umso mehr für den äußerst umstrittenen Begriff ‚Vulgärlatein‘ (frz. latin vulgaire, it. latino volgare). Die moderne sprachwissenschaftliche Forschung beginnt nach allgemeinem Verständnis in der Romanistik mit Friedrich Diez, der in diesem Kontext von ‚Volksmundart‘, ‚volksmäßigen Latein‘ und schließlich von ‚Volkslatein‘ spricht. 259 <?page no="164"?> Die fragliche Stelle lautet folgendermaßen: „daß das Romanische dem volksmäßigen Latein sein Dasein verdanke“ (Diez 1836: 6 und identisch in der 2. Aufl. Diez 1856: 6) bzw. „daß das Romanische dem Volkslatein sein Dasein danke“ (Diez 1870: 6; 3. Aufl. 1870 und 4. Aufl. 1876 sind diesbezügl. identisch). 260 Im ersten Zitat wurde in der zweisprachigen Aussgabe vulgari sermone mit „in ge‐ wöhnlicher Umgangssprache“ übersetzt, im zweiten mit „in der alltäglichsten Sprache“. 261 Bei Geckeler / Dietrich ( 3 2003: 157 bzw. 4 2007: 157) wird für die Übernahme von ‚Vulgär‐ latein‘ aus frz. latin vulgaire allerdings kein Beleg angeführt. Für den entscheidenden Anstoß in der Forschung zu diesem Thema und in Bezug auf die Verbreitung des Begriffes sorgte hingegen Hugo Schuchardt mit seinem mehrbändigen Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866-1868). Be‐ reits kurz zuvor gab es in Wien an der Akademie der Wissenschaften eine Aus‐ schreibung für die beste Darstellung des Vulgärlateins (1860) (cf. Kiesler 2006: 9). Der Begriff geht also auch im Deutschen nicht auf Schuchardt zurück, doch kann er, vor allem was die romanistische Forschung anbelangt, als Anfangspunkt für eine intensive und vor allem systematische Beschäftigung mit diesem Sujet ge‐ sehen werden. Abgeleitet ist der Begriff ‚Vulgärlatein‘ (wie auch ‚Volkslatein‘) von vulgaris sermo, der bereits in der anonymen Rhetorica ad Herennium ( IV , 56 (69) belegt ist, aber vor allem bei Cicero (Acad. I, 5) in der Bedeutung ‚Sprache des Volkes‘ bzw. ‚Umgangssprache‘ in erster Linie im Zuge einer rhetorischen Klassifizie‐ rung von Sprachstilen häufig verwendet wurde. Omnes rationes honestandae studiose collegimus elocutionis: in quibus, Herenni, si te diligentius exercueris, et gravitatem et dignitatem et suavitatem habere in dicundo poteris, ut oratorie plane loquaris, ne nuda atque inornata inventio vulgari sermone efferatur. (Rhet. ad Her. IV, 56 (69); 1994: 316-318) […] didicisti enim non posse nos Amalfinii aut Rabirii similes esse, qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant, […]. (Cicero, Acad. I, 5; 1990: 272) 260 Bei Kiesler (2006: 7) wird im Zuge eines Abrisses zur Begriffsgeschichte mit Ver‐ weis auf Geckeler / Dietrich (2003) 261 eine Übernahme des deutschen Begriffes ‚Vulgärlatein‘ bei Schuchardt aus der französischen Wissenschaftstradition ge‐ mutmaßt, mit dem zusätzlichen Hinweis auf einen Erstbeleg im Trésor de la langue française von 1524 (ohne weitere Angaben) sowie eine weitere vorsich‐ tige Mutmaßung mit Verweis auf den begriffsgeschichtlichen Überblick bei Ett‐ mayer (1916: 231) zu einer terminologischen Filiation ‚Italienisch - Französisch - Deutsch‘. 164 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="165"?> 262 „Sont ilz plus clercs que ne fut sainct Gregoire, / Ou sainct Jherome, Ambroise et Au‐ gustin, / Qui l’ont loué en vulgaire latin, / Et sainct Bernard, qui fut tant debonnaire, / Ignasce aussi, son prudent secretaire, / A qui le cueur de son corps on tira? ” (Gringore 1858: 331-332). 263 „Ainsi il ne faut pas juger du Latin vulgaire des provinces de l’empire Romain par celui que nous lisons dans Cicéron, Salluste, César, Tite-Live, & les autres auteurs de la bonne Latinité. Il n’y avoit, je le répète, que ceux qui avoient eu de l’éducation, & qui avoient étudié la langue Latine, qui la parlassent correctement, en suivant les règles de la gram‐ maire. Cette étude étoit devenue necessaire dès le temps de Cicéron, depuis que les Barbares, répandus dans l’Italie & dans Rome même, eurent apporté dans la langue Latine beaucoup de mots de leur propre langue“ (Bonamy 1975: 597 [16]). 264 „À Rome même, il y avait une grande différence entre le latin fixé par la culture littéraire, tel que les classes élevées se piquaient de le parler, et le latin populaire. Là, comme partout, la multitude tronquaient, altérait les formes des mots, les désinences caraté‐ risques destinées à ennuancer la valeur grammaticale. Aussi des hommes de beaucoups de sens et d’érudition ont-ils regardé le langage de l’ancienne populace romaine comme un dialecte vulgaire du latin, dont l’italien serait la continuation immédiate” (Fauriel 2011: 190-191). Diese These läßt sich problemlos erhärten, wenn man sich einerseits die all‐ gemeine Begriffsgeschichte von lat. (lingua) vulgaris im Sinne von ‚Volksprache‘ vor Augen führt, die von Brunetto Latini (ca. 1220-1294; Li livres dou tresor, ca. 1265: vulgar parleure) über Dante Alighieri (1265-1321; De vulgari eloquentia, 1302-1305: vulgaris locutio; Convivio, 1306: volgare) und Joachim du Bellay (1522-1560; Deffence et Illustration de la Langue Francoyse, 1549: vulgaument) zu Johann Gottfried Herder (1744-1803; Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und der bildenden Künste, 1794-196: Vulgar- und Pöbelsprache) führt (cf. Ueding 2009: 1245-1246) und andererseits die in vorliegender Arbeit (cf. infra) unter‐ suchte Diskussion um die Sprache der römischen Antike, in der der Begriff seit Flavio Biondo (1392-1463; De verbis romanae locutionis, 1435) in diesem Sinne Verwendung findet (hier noch auf Latein: vulgare) und schließlich nach einer Reihe weiterer Debatten über eineinhalb Jahrhunderte bei Celso Cittadini (1553-1627; Trattato della vera origine, 1601: latino volgare) präzisere Form ge‐ winnt. Ergänzt man dies durch die Angabe im TLF , hinter der sich die Schrift Le Blazon des Hérétiques (1524) von Pierre Gringore (1475-1539) verbirgt, 262 sowie durch einige Meilensteine in der französischen Forschungsdiskussion der folgenden Jahrhunderte wie Pierre-Nicolas Bonamy (1694-1770; Mémoire sur l’introduction de la langue Latine dans les Gaules, sous la domination Romains, 1751) 263 und Claude Fauriel (1772-1844; Histoire de la poésie provençale, 1846), 264 so schließt sich der Kreis. Grundlage der Verbreitung des Begriffs ist also der enge Kulturaustausch zwischen Italien und Frankreich in der Frühen Neuzeit 165 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="166"?> 265 Zur Verortung der jeweiligen Autoren in den Gesamtkontext der Vorgeschichte der Sprachwissenschaft cf. z. B. Kukenheim (1932: 171-197) und Swiggers (2014: 17-30). Zum Einfluß des Französischen und den daraus resultierenden Gallizismen cf. Thiele (1993: 6-8). 266 Mit Aufgabe ist hier die Preisfrage der Wiener Akademie der Wissenschaften gemeint (30. Mai 1860): „Von dem Vulgärlatein oder dem sermo plebeius ist in Autoren, bei Grammatikern und Glossographen und auf Inschriften eine beträchtliche Summe von Thatsachen erhalten, theils in eigenen Wörtern, theils in Formenbildungen und Struk‐ turen solcher Ausdrücke, deren sich auch die Schriftsprache bediente. Eine umfassende, quellenmässige Sammlung und Bearbeitung dieses Materials dürfte einen erheblichen Beitrag zur Bereicherung der lateinischen Grammatik und des lateinischen Lexikons ergeben. In der Untersuchung muss der Gesichtspunkt möglichst strenger Sonderung des vulgären von dem Schriftgebrauch massgebend sein, und in dem vulgären selbst neben dem, was überhaupt als plebejisch zu gelten hat, auch Rücksicht genommen werden auf das, was etwa nur einzelnen Provinzen des römischen Reiches eigenthüm‐ lich war. Als Grenzscheide für die Heranziehung von Autoren ist die Zeit des Justinian und schließlich die Übernahme ins Deutsche zu Zeiten des Höhepunktes fran‐ zösischer Dominanz im 17. und 18. Jahrhundert. 265 Schuchardt greift also bereits auf eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Vulgärlatein zurück und kann dabei vor dem Hintergrund der neu ent‐ standenen Sprachwissenschaft strictu sensu Begriff und Konzept noch einmal präzisieren und letztlich auch terminologisch im Rahmen einer eigenen Wis‐ senschaft institutionalisieren. Da die Sprachwissenschaft im Allgemeinen und speziell die lateinische Sprachwis‐ senschaft in den letzten Jahrzehnten einen so bedeutenden Aufschwung genommen hat, so muss es befremden, dass bis jetzt dem Vulgärlatein noch keine eingehende Berücksichtigung zu Theil geworden ist. Es verdient eine solche mit vollstem Rechte. Den Sprachforscher beschäftigt das Werden der Sprache. Ihm bietet daher das ‚gute Latein‘, welches in Folge litterarischer Evolutionen auch aus dem Strome der Sprach‐ entwicklung abgesondert hat und erstarrt ist, ein weit geringeres Interesse, als das ‚schlechte Latein‘, welches sich zu jenem verhält, wie Vielheit zur Einheit und Be‐ wegtes zu Unbewegtem. Das klassische Latein ist durch das Vulgärlatein auf der einen Seite mit den altitalischen, auf der anderen mit den romanischen Sprachen verbunden, sodass wir den Gang des Idioms, welches innerhalb der Mauern Roms seinen Ursitz hatte, ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrtausende hin verfolgen können, ein Fall, dem sich wenige ähnliche an die Seite stellen lassen. Ferner sind die rustiken Sprachformen nicht unwichtig als Kriterien sowohl bei der Bestimmung der Zeit von schriftlichen Denkmälern, als bei der Herstellung von Autorentexten aus verderbten Handschriften. (Schuchardt 1866: VII) Die Aufgabe 266 ist - abgesehen von dem äusseren Umstande, dass eine Vereinigung eingehender lateinischer und romanischer Sprachstudien der Tradition zuwiderläuft - 166 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="167"?> zu nehmen. Eine Umfassung des hierher gehörigen Materials würde für die Sache selbst an wünschenswerthesten sein; jedoch kann unter Umständen auch eine nur auf die Autoren sich beschränkende Bearbeitung als Lösung der Preisfrage angesehen werden.“ (Schuchardt 1866: IX) 267 Unter ‚Umgangssprache‘ wird bereits bei Winkelmann relativ allgemein und undiffe‐ renziert der diasystematisch nicht weiter aufgeschlüsselte Substandard des Latein‐ ischen verstanden: „wie auch in vielen Theilen des römischen Sprachgebietes dialect‐ artige Verschiedenheit in der Umgangssprache obwaltete“ (Winkelmann 1833: 501); „dass die Umgangssprache der Römer einen eigenen, von dem höhern Style geschie‐ denen Charakter gehabt hat“ (ibid. 1833: 503); „Die römische Umgangssprache hatte gewiss noch viele Bestandtheile ähnlicher Art, von welchen die geläuterte Sprache der Schriftsteller uns nichts sagt“ (ibid. 1833: 498). Zur latinistischen Tradition der Verwen‐ dung des Terminus ‚Umgangssprache‘ sowie seiner dann weieteren Anwendung auf romanische Sprachen, wie z. B. bei Spitzer (1922): Italienische Umgangssprache, cf. Bar‐ bera (2009: 160-164). allerdings eine sehr schwierige, da der Ausdruck ‚Vulgärlatein‘ strenggenommen nicht eine einzige Sprache, sondern eine Summe von Sprachstufen und Dialekten von der Zeit der ersten römischen bis zur Zeit der ersten wirklich romanischen Schrift‐ denkmäler bedeutet. Den meisten Zweifeln und Verlegenheiten ist man bei Begrün‐ dung der Lautlehre ausgesetzt, wo es gilt, die gesprochenen Formen aus ihren schrift‐ lichen Darstellungen richtig zu eruiren und sie bei ihrer oft sich widersprechenden Mannichfaltigkeit richtig zu ordnen. (Schuchardt 1866: IX-X) Wenn Schuchardt hier moniert, daß das Vulgärlatein bisher noch „keine einge‐ hende Berücksichtigung“ gefunden hätte, dann bezieht sich dies vor allem auf die systematische Auseinandersetzung mit dem, was er darunter versteht. Es gibt jedoch auch eine Forschungstradition der Latinisten, die von Winkelmann (1833) über Rebling (1873) zu Hofmann (1926) reicht, 267 in der ein Großteil des nicht-klassischen Lateins unter dem Begriff ‚Umgangssprache‘ abgehandelt wird. Dabei werden ebenfalls Phänomene untersucht und diskutiert, die sich mit denen überschneiden, die bei den Romanisten unter ‚Vulgärlatein‘ figurieren, dennoch sind beide Ansätze nicht deckungsgleich. Für die romanistische For‐ schung ist die Frage nach der Basis bzw. dem Ursprung der romanischen Spra‐ chen von eminenter Bedeutung sowie die damit verbundene diachrone Per‐ spektive, während die Latinisten tendenziell eher synchron die verschiedenen Arten des Lateins im Blick haben. Von den auf Schuchardt folgenden Generationen von Romanisten und Wis‐ senschaftlern anderer Fachdisziplinen, die sich der weiteren Untersuchung des Vulgärlateins gewidmet haben, sollen hier im vorliegenden Rahmen nur selektiv einige wenige mit ihren Werken genannt werden; für eine ausführlichere Zu‐ sammenstellung sei auf die einschlägigen forschungsgeschichtlichen Synopsen 167 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="168"?> 268 Als Teilübersetzung Coseriu (1978). 269 An den frühen nicht-monographischen Arbeiten sei hier aus romanistischer Sicht vor allem der Beitrag von Meyer-Lübke (1888) in Gröbers Grundriss der Romanischen Phi‐ lologie erwähnt. 270 Entgegen dem Titel stellt die Arbeit von Reichenkron jedoch in weiten Teilen keine Grammatik im eigentlichen Sinne da, da das mehrbändig konzipierte Werk nur hin‐ sichtlich der angeführten Einleitung, dem 1. Teil, fertiggestellt wurde. verwiesen (cf. z. B. Reichenkron 1965: 1-4; Herman 2003; Kiesler 2006: 3-13). Neben den bereits erwähnten latinistischen Arbeiten, von denen vor allem Hof‐ mann mit seiner Lateinischen Umgangssprache (1926) hervorsticht, da dieses Œuvre mehrfach neu aufgelegt und in weitere Sprachen übersetzt wurde (Spa‐ nisch, Italienisch), aber auch seinen Widerhall in der einschlägigen Grammatik von Leumann / Hofmann (1928) findet, sind folgende monographische Meilen‐ steine der vulgärlateinischen Forschung zu nennen: Grandgent (1907), An Int‐ roduction to Vulgar Latin; Muller (1929), A Chronology of Vulgar Latin; Battisti (1949), Avviamento allo studio del latino volgare; Voßler (1953), Einführung ins Vulgärlatein; Coseriu (1954), El llamado ‚latin vulgar‘ y las primeras diferencia‐ ciones romances; 268 Silva Neto (1957), História do latim vulgar; Löfstedt (1959), Late Latin; Väänänen ( 1 1963, 4 2002), Introduction au latin vulgaire; Sofer (1963), Zur Problematik des Vulgärlateins; Herman (1967), Le latin vulgaire. 269 Hinzu kommen Sammlungen mit Belegstellen bzw. wichtigen vulgärlateini‐ schen Texten wie beispielsweise Rohlfs (1951), Sermo vulgaris latinus, Iliescu / Slusanski (1991), Du latin aux langues romanes oder Kramer (1976), Li‐ terarische Quellen zur Aussprache des Vulgärlateins und Kramer (2007), Vulgär‐ lateinische Alltagsdokumente, aber auch spezifische Grammatiken wie Maurer (1959), Gramática do latim vulgar oder Reichenkron (1965), Historische latein-alt‐ romanische Grammatik. 270 Weiterhin sind Darstellungen, die sich auf den Über‐ gang vom Lateinischen zum Romanischen spezialisiert haben, zu erwähnen, wie z. B. Stefenelli (1992), Das Schicksal des lateinischen Wortschatzes in den roman‐ ischen Sprachen, Herman (1990), Du latin aux langues romanes, Zamboni (2000), Dell’italiano. Dinamiche e tipologie della transizione dal latino, Euler (2005), Vom Vulgärlatein zu den romanischen Einzelsprachen, Herman (2006), Du latin aux langues romanes II , Coseriu (2008), Latein-Romanisch oder schließlich Wright (1982), Late Latin and early Romance in Spain and Carolingian France, der mit seiner These zum Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der spätlateinischen und frühromanischen Phase für Aufsehen sorgte. Die aktuelle Forschung äußert sich vor allem in zahlreichen, verstreut pub‐ lizierten Aufsätzen, wofür stellvertretend hier jedoch die wichtigen Sammel‐ bände zu den Tagungen des Vulgär- und Spätlateins (latin vulgaire - latin 168 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="169"?> 271 Cf. dazu die angeführten Artikel in Kap. 4 vorliegender Arbeit. tardif) angeführt seien: Herman (1987), Calboli (1990), Iliescu / Marxgut (1992), Callebat (1995), Petersmann / Kettemann (1999), Solin / Leiwo / Halla-Aho (2003), Arias Abellán (2006), Wright (2008), Biville (2012), Molinelli / Cuzzolin / Fedriani (2014). Die aktuelle Forschung aus Sicht der Romanistik spiegelt sich vor allem in den einschlägigen Artikeln des Lexikons der Romanistischen Linguistik, des Handbuchs zur Geschichte der romanischen Sprachen und den neu erscheinenden Manuals of Romance Linguistics. 271 Durch die zunehmende Beschäftigung mit dem Sujet ‚Vulgärlatein‘ ergab sich auch eine Aufsplitterung des Begriffsinhaltes, so daß man sich heutzutage einer Vielzahl von Interpretationen gegenübersieht, was darunter genau zu verstehen sei. Auch wenn Kernelemente der Definition von Schuchardt bestehen bleiben, so ist die Frage, welcher Sprachzustand zu welcher Zeit damit bezeichnet werden soll, relativ umstritten, so daß sich hinter der Begriffsverwendung in einer ak‐ tuellen Publikation tendenziell immer zahlreiche Forschungsmeinungen ver‐ bergen können und der gemeinsame Nenner einer communis opinio sich denkbar klein ausnimmt, was nicht ganz unproblematisch im Sinne einer für alle prak‐ tikablen Begrifflichkeit ist. Es seien im Folgenden nun einige voneinander abweichende Positionen he‐ rausgegriffen, um diese Diskrepanz deutlich werden zu lassen: Das Vulgärlatein ist das gesprochene Latein. Es könnte auch Romanisch heißen. Die einzelnen rom. Sprachen sind nicht die Töchter des Vlt., sondern selbst Vlt., d. h. seine Spielart. Sie sind das Latein von heute. […] Vlt. hat es zu allen Zeiten gegeben. Auch ist das Vlt. nicht ohne weiteres als die Sprache der niederen Klassen anzusehen und das Schriftlatein nicht ohne weiteres als die Sprache der Gebildeten. Im täglichen Verkehr haben sich zweifellos auch die Gebil‐ deten nicht in kunstvollen Perioden ausgedrückt. Freilich mag die Sprache der Gebil‐ deten nicht ganz dieselbe gewesen sein wie die des niederen Volkes. Zwischen dem höchsten und kunstmäßigsten Latein und dem rohesten Vulgärlatein gab es eine Masse von Mittelstufen - wie es deren auch heute gibt. […] Der größte Teil der gesprochenen lat. Alltagsrede ist verhallt, für immer verhallt und verschollen. Man muß sich die Quellen für die Kenntnis des Vlt. erst mühsam zusam‐ mensuchen. (Voßler 1922: 48-49; Hervorhebungen im Original) Für Voßler ist ‚Vulgärlatein‘ demgemäß gleichzusetzen mit der gesprochenen Sprache, und zwar vor allem auch in konzeptioneller Hinsicht. Diese ist dabei zeitlich nicht limitiert bzw. an eine bestimmte Sprachstufe gebunden, also nicht etwa auf die spätlateinische Phase beschränkt, wie er eigens betont (cf. Voßler 169 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="170"?> 272 Welche Arten des Lateins die anderen Schichten der römischen Bevölkerung gespro‐ chen haben, ist dabei jedoch nicht ganz klar ausdifferenziert. 1922: 49). Er sieht das Vulgärlateinische als diastratisch nicht strikt an eine Spre‐ cherschicht gebunden und betont das diaphasisch-diastratische Kontinuum. Mit der begrifflichen direkten Gleichsetzung von Vulgärlatein und Romanisch (cf. Zitat supra) ist implizit auch die diatopische Variation des Vulgärlateins postu‐ liert. Das konzeptionell und gesprochene Latein ist schließlich nur in Aus‐ nahmen in medial schriftlichen Kontexten zu finden, und zwar „aus dem einfa‐ chen Grunde, weil man sich in der Schrift immer oder meistens eines grammatisch und stilistisch gereinigten, eines mehr oder weniger klassischen Lateins bediente“ (Voßler 1922: 49). Ebenfalls den Aspekt der Mündlichkeit betont Battisti (1949) in seiner Defi‐ nition, grenzt die Epoche, in der das Vulgärlatein sich äußert, jedoch relativ deutlich ein: Intendiamo con questa voce non una fase dialettale, ma la lingua normalmente parlata nel mondo latino dalla maggioranza della classe media nei due ultimi secoli della re‐ pubblica e nell’impero […]. (Battisti 1949: 23) Battisti verankert demgemäß das Vulgärlatein zwischen ca. 200 v. Chr. (die letzten zwei Jahrhunderte der römischen Republik) und 476 n. Chr. (Ende des römischen Kaiserreiches im Westen). Auffallend ist weiterhin die eindeutige diastratische Verankerung des Vulgärlateins, welches er als Sprache der classe media, also der Mittelschicht festmacht. 272 Eine Definition mit einer anderen Schwerpunktsetzung findet sich bei Vää‐ nänen (2002), der auch eine deutlich divergierende zeitliche Eingrenzung vorn‐ immt: Le latin vulgaire au contraire, tel que nous le concevons, comprend les états successifs depuis la fixation du latin commun, à l’issue de la période archaïque, jusqu’à la veille des premières consignations par écrit de textes en langue romane; il n’exclut ni les variations sociales, ni même régionales. (Väänänen 2002: 6) Wichtig in dieser Bestimmung des Vulgärlateins ist zum einen die Betonung der Variationsbreite, und zwar wie schon bei Voßler nicht nur in Bezug auf die Di‐ astratik, sondern auch hinsichtlich der Diatopik, und zum anderen die chrono‐ logische Verortung. Der Beginn des Vulgärlateins hängt mit der sich etablier‐ enden Schriftsprache bzw. deren Kodifizierung zusammen, so daß man Väänänen hier so interpretieren kann, daß dies mit der ersten literarischen Pro‐ duktion ab 240 v. Chr. zusammenfällt (cf. Kap. 4). Das Ende setzt er mit dem 170 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="171"?> 273 Dabei wird nicht berücksichtigt, daß die romanischen Sprachen sich im Mündlichen bereits zuvor konstituiert haben müssen, eine protoromanische Übergangsphase wird hierbei ausgeblendet. Aufkommen der ersten romanischen Texte gleich, so daß dies ins 9. Jh. zu da‐ tieren wäre (cf. Straßburger Eide 842). Dies ist - wie im weiteren noch zu sehen sein wird - eine chronologisch sehr weite Fassung der Epoche, in welcher das Vulgärlatein greifbar ist, insbesondere hinsichtlich des zeitlichen End‐ punktes. 273 Eine etwas anders gelagerte Bestimmung dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen sei, bietet Herman (1967), dessen Kerndefinition folgendermaßen lautet: Compte tenu de ces considérations, nous appelons latin vulgaire la langue parlée des couches peu influencées ou non influencées par l’enseignement scolaire et par les modèles littéraires. (Herman 1967: 16; Hervorhebungen im Original) Dies wird ergänzt durch drei weitere Spezifizierungen, deren grundlegende Aussagen die folgenden sind: Notre définition ne comporte aucune limitation chronologique. En effet, le latin vulg‐ aire étant la langue parlée des gens peu influencées par la tradition littéraire, on est en droit de parler de latin vulgaire à partir du moment où une tradition littéraire existe, c’est-à dire au moins depuis le dernier siècle de la République. […] Quant au point chronologique final, il coïncide nécessairement avec l’extinction du latin, langue vi‐ vante […]. Le latin vulgaire étant, par définition, une des variantes parlées du latin, il est en prin‐ cipe impossible de parler de texte vulgaire […]. Il doit être entendu d’emblée que le latin vulgaire était constitué d’un ensemble de faits complexes et mouvants: le latin vulgaire évoluait dans le temps et l’usage vulgaire du 1 er siècle de notre ère différait très certainement de celui du V e ; il y avait dans la latinité vulgaire des variations locales; […] enfin le latin vulgaire comportait lui-même, sans doute, divers „styles“, divers argots de métiers […]. (Herman 1967: 16-17; Her‐ vorhebungen im Original) Hierbei wird von Herman vor allem der Aspekt der gesprochenen Sprache be‐ tont und gerade in Punkt 2 der Ergänzungen verweist er nochmal darauf, daß es sich dabei nicht nur um einen konzeptionellen Aspekt handelt, sondern auch um einen medialen (cf. supra: „impossible de parler de textes (sic! ) vulgaires“). Ein gewisser Widerspruch besteht in der relativ eindeutigen Verankerung des Vulgärlateins in diastratischer Hinsicht (cf. couches peu influencées) und der an‐ dererseits allgemein postulierten diasystematischen Vielfalt, die diaphasische 171 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="172"?> 274 Allein ein Blick auf die bei Kiesler (2006: 12-13) zusammengetragenen gängigen Modelle zur Entwicklung des Lateinischen (Vulgärlateinischen) zum Romanischen zeigt die Un‐ einigkeit in der Forschung. 275 Dies hat beispielsweise bereits Lausberg eindeutig beantwortet: „Das Vulgärlatein war nun aber keine einheitliche Sprache: weder in sozialer noch in chronologischer noch in geographischer Hinsicht. Daß die Umgangssprache, wie im übrigen auch die Schrift‐ sprache, seit der Zeit des Plautus bis zum Ausgang des Altertums Wandlungen unter‐ worfen war, steht fest“ (Lausberg 1963: 67-68, § 34). Variation umfaßt (cf. divers „styles“), aber auch diatopische (cf. des variations locales) sowie gruppenspezifische diastratische (cf. divers argots de métiers). Der zeitliche Rahmen innerhalb dessen man laut Herman von Vulgärlatein sprechen könne, erstreckt sich für ihn vom 1. Jh. n. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. Die chrono‐ logische Verortung ist hierbei also deutlich enger gesteckt als bei Voßler oder Väänänen, insofern er den Beginn mit den Inschriften von Pompeij und dem Werk Petrons ansetzt, was gleichzeitig in die Zeit der Kodifizierung des Klassi‐ schen Lateins im engsten Sinne fällt bzw. bereits in die Spätzeit dieser Periode. Das Ende wiederum bleibt definitorisch vage, insofern er diese Zeitspanne zu‐ nächst durch „l’extinction du latin, langue vivante“ (Herman 1967: 16) umreißt, dann aber etwas konkreter ins 5. Jh. verlegt, und damit in die Zeit des Untergangs des Imperium Romanum (476 n. Chr.). Ein neues und wichtiges Element bei Herman ist das Hervorheben der Entwicklung des Vulgärlateins und seine Ver‐ änderlichkeit im Laufe der Jahrhunderte. Coseriu (1954, 1978, 2008) wiederum folgt zwar Herman hinsichtlich der di‐ asystematischen Vielfalt des Lateins, geht aber bezüglich der Terminologie und der Chronologie eigene Wege. Dabei resümiert er zunächst systematisch die „klassischen“ Probleme in der Bestimmung des Vulgärlateins, die wie folgt syn‐ thetisiert werden können: 1. Wie ist das Verhältnis zwischen Vulgärlatein und dem klassischen Latein bzw. dem Gesamtlatein? a. Ist das Vulgärlatein eine eigene, vom klassischen Latein abzugren‐ zende Sprache? b. Wenn es keine eigene Sprache ist, wie war dann das Verhältnis dieser spezifischen Form des Lateins zum Gesamtlatein? 2. Welcher Epoche ist das Vulgärlatein zuzurechnen bzw. ist es zeitlich überhaupt begrenzt? 274 3. Welcher Art ist die Charakteristik des Vulgärlateins - war es eine eher homogene oder eine heterogene Sprache? 275 4. Wie ist die Forschungsdiskrepanz zwischen Latinisten und Romanisten zu bewerten? 172 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="173"?> 276 Cf. dazu beispielsweise auch Tagliavini (1959: 166): „Prima di tutto si deve osservare che il nome di ‚Latino volgare‘, ormai comunemente adottato da linguisti e da filologi e che, come si è visto […], ha le sue origine nell’espressione sermo vulgaris, si può prestare a qualche equivoco.“ 277 Dies kann heutzutage doch als communis opinio angesehen werden, zumindest aus Per‐ spektive der Romanistik: „Wesentlich für die Kennzeichnung der lateinischen Basis der romanischen Idiome ist andererseits aber auch, dass gesprochenes ‚Vulgärlatein‘ und geschriebenes ‚klassisches Latein‘ als zwei Aspekte ein und derselben Sprache neben den Divergenzen auch zahlreiche ‚gemeinlateinische‘ Übereinstimmungen zeigen, so dass die Grundlage des Romanischen teilweise durchaus auch dem ‚klassischen‘ Schrift‐ latein entspricht“ (Stefenelli 2003: 530). 278 Zur Kritik an einer ausufernden Rekonstruktionspraxis, in der es wie in der Indoger‐ manistik dann nur noch (bzw. überwiegend) mit Asterisk gekennzeichnete Formen gibt, cf. Silva Neto (1957: 11-12). Die Unmöglichkeit, aus den schriftlichen Textzeugnisse der lateinischen Antike die da‐ malige Aussprache wirklich erschließen zu können einerseits, sowie andererseits das „Sammelsurium“ aus den spärlichen Eigenzeugnissen der römischen Schriftsteller im Sinne von explizit mit vulgo gekennzeichneten Ausdrücken und aus auf der Basis der romanischen Sprachen rekonstruierten Wörtern, veranlassen Sittl (1892: 226-228) zu einem vernichtendem Verdikt: „Das Vulgärlatein, mit welchem die Latinisten operieren, ist ein Phantasiegebilde“ (ibid. 1892: 226, im Original in Sperrdruck). a. Das Vulgärlatein besteht auch aus anderen Formen, die nicht im engen, latinistischen Sinne als ‚vulgär‘ zu charakterisieren sind. 276 b. Es gibt auch Formen im Vulgärlatein, die mit denen des klassischen Lateins übereinstimmen bzw. bei denen es keine Notwendigkeit der Differenzierung gibt. 277 c. Es gibt auch Formen, die man dem Vulgärlatein zurechnet, die nicht in Texten überliefert sind, die man aber aus den romanischen Spra‐ chen rekonstruieren kann. 278 Innerhalb dieser von Coseriu (2008: 108-110) aufgeworfenen Problemstellungen sind einige, die sich in der heutigen Forschung überholt haben bzw. marginali‐ siert sind (z. B. Problem der Konnotation von ‚vulgär‘), andere hingegen bleiben weiterhin virulent (z. B. Frage nach dem Verhältnis Vulgärlatein vs. Gesamtla‐ tein und die zeitl. Verortung). Coseriu verweist außerdem auf das Problem der Protosprache und der Rekonstruktion, denn für die Romanistik wird das Vul‐ gärlatein als Vorläufer (Ursprache) der einzelnen romanischen Sprachen ge‐ sehen und analog zur Tradition der Indogermanistik arbeitet man auch hier mit rekonstruierten Einzelformen (neben den zahlreichen belegten). Er löst dieses und die oben angeführten Probleme schließlich in streng strukturalistischer Manier und postuliert das Vulgärlatein und das klassische Latein als zwei ge‐ trennte, „funktionelle Sprachen“ (Coseriu 2008: 111), die innerhalb des Systems einer historischen Sprache existieren. Weiterhin versucht er dabei, latinistische 173 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="174"?> 279 Geckeler / Dietrich (2007: 161) haben basierend auf Coseriu (1978) seine Perioden des Lateinischen in einer Graphik dargestellt, die bei Coseriu (2008: 127) wiederaufgegriffen wurde. 280 Die Kritik Kieslers (2006: 13) bezüglich der zu engen chronologischen Grenzen weist Bertsch im Fußnotenapparat von Coseriu (2008: 127, FN 61) zurück und wirft ihm vor, Coseriu verkannt zu haben. Dies mag insofern stimmen, als man diesbezüglich Coseriu hier nicht wörtlich nehmen darf und er durchaus das „Vulgärlateinische“ auch in an‐ deren Epochen erkennt, aber allein durch die terminologische Umbesetzung und die damit verbundene Neuordnung der diachronen Phasen des Lateins ist die Kritik an dem Modell nicht ganz von der Hand zu weisen. 281 Diese Zeitspanne findet sich beispielsweise auch bei Reichenkron (1965: 77). und romanistische Positionen zu verschmelzen und entwickelt eine Chrono‐ logie, in der er das Gesamtlatein in fünf Perioden einteilt und jeweils der Ent‐ wicklung des Schriftlateins diejenige des mündlichen Sprachgebrauchs gegen‐ überstellt: Archaisches Latein vs. Latein ohne feste Norm, Literarisches Latein vs. Lateinische Umgangssprache, Klassisches Latein vs. Vulgärlatein, Spätlatein vs. Vorromanische Phase, Mittelalterliches Latein vs. Romanische Sprachen (cf. Co‐ seriu 2008: 127). 279 Dabei stellt er apodiktisch fest: „Es gab kein Vulgärlatein als solches vor der Existenz des klassischen Lateins“ (Coseriu 2008: 119). Anderer‐ seits wird in seinen Ausführungen doch deutlich, daß es vulgärlateinische Ele‐ mente auch in anderen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte gab - er benennt sie eben nur nicht so. Er versteht damit das Vulgärlatein dann doch vorwiegend aus romanistischer Sicht als Protoform der romanischen Sprachen und setzt den zugehörigen Zeitraum zwischen 100 n. Chr. - 400 n. Chr. an, bei gleichzeitiger - nicht gängiger - Verortung des klassischen Lateins in eben dieser Epoche. 280 Mit der Umgangssprache quasi als Vorläufer des Vulgärlateins in älterer Zeit zollt er offenbar der latinistischen Tradition Tribut, engt aber auch diesen Begriff damit deutlich ein. Coseriu erliegt hier womöglich einer Über‐ systematisierung, auch in Bezug auf die Chronologie, die er zuvor noch groß‐ zügiger handhabte und die Hauptperiode der vulgärlateinischen Elemente in die Zeit zwischen 200 v. Chr. - 600 n. Chr. verortet (cf. Coseriu 1978: 268). 281 Die inhaltliche Bestimmung dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist, bleibt in der Forschung umstritten, manchmal nur in Bezug auf bestimmte De‐ tails, mitunter geht es aber auch um grundsätzliche Vorstellungen, die vonei‐ nander abweichen. Bereits 1937 konstatiert Furman Sas leicht resigniert, ange‐ sichts der von ihm gezählten 19 existierenden Begriffe in der damaligen Forschung, um „non classical language spoken or written“ zu charakterisieren, daß zwar ‚Vulgärlatein‘ nicht einheitlich verwendet werde, weitere terminolo‐ 174 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="175"?> 282 „The lack of agreement concerning the exact meaning of the term has caused many writers to abandon it for others, thus increasing the confusion in terminology. We have counted over nineteen terms used to describe a non-classical language spoken or written between 200 B. C. (Plautus) and 800 A. D. (Charlemagne). There are ,sermo ple‐ beius‘, ,cotidianus‘, etc., ,latin populaire‘, ,vulgaris sermo‘, ,sermo semi-la‐ tinus‘, ,gallo-roman‘, etc.“ (Furman Sas 1937: 491). Partiell zitiert bei Reichenkron (1965: 5) und bei Kiesler (2006: 8) nurmehr reduziert auf die Erwähnung der 19 Defini‐ tionen (mit alleiniger Referenz Reichenkron), dabei ignorierend, daß es auch um andere Begrifflichkeiten geht. 283 Er verortet dabei das klassische Latein zeitlich und diasystematisch wie folgt: „Es liegt zeitlich zwischen dem Ende der Republik und der frühen Kaiserzeit. Es ist aber nicht die Sprache aller Römer, sondern synstratisch betrachtet ist es die Sprache der Ober‐ schichten, der honestiores, wie man seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. sagte, der Geho‐ benen, zu denen der Stand der Senatoren, der Ritter und der Dekurionen - das sind die Senatoren von Munizipien und Kolonien - gehörte […]“ (Lüdtke 2019: 442). gische Neuschöpfungen jedoch nur zur weiterer Verwirrung beitragen (Furman Sas 1937: 491). 282 An dieser Lage hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert, außer daß - horribile dictu - noch einige Definitionen mehr hinzugekommen sind. Möglichst vielen Einzelbestimmungen Spielraum einräumend, versucht Ste‐ fenelli (2003) eine definitorische Annährung an die Kernelemente, auf die man sich heute vielleicht - zumindest in der Romanistik - verständigen kann: Angesichts der diasystematischen und diachronischen Vielschichtigkeit bzw. Varia‐ tion des Sprechlateins versteht sich ‚Vulgärlatein‘ hierbei heute in der Regel als kom‐ plexer Sammelbegriff für verschiedene v. a. diastratische (soziokulturell), diatopisch (geographisch) und diachronisch differenzierte Varietäten der mündlich konzipierten Spontansprache (Stefenelli 2003: 530) Diese Umschreibung klammert freilich fast alle wichtigen Streitfragen aus und ist daher eher als ein kleinster gemeinsamer Nenner inhaltlicher Bestimmung zu begreifen. Lüdtke (2019) definiert Vulgärlatein vor allem als Abweichung vom klassi‐ schen Latein, das er wie folgt definiert: Das klassische Latein ist innerhalb der historischen Sprache Lateinisch eine geschrie‐ bene und gesprochene urbane Sprache. Wenn nun wenig Schreibgeübte und wenig Gebildete aus anderen Schichten als der Oberschicht in Rom und in romfernen Re‐ gionen des Imperiums schreiben, gelten die Abweichungen von der urbanen Tradition als Vulgärlatein. (Lüdtke 2019: 442) 283 Dabei weist er zusätzlich daraufhin, daß auch die nicht urbanen Varietäten von weniger gebildeten Personen wie Soldaten geschrieben wurden, so daß eine 175 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="176"?> 284 Leumann / Hofmann (1928: 10) unterscheiden in ihrer Grammatik nochmal zwischen ‚Umgangssprache‘ als „lebendige mündliche Redeweise der Gebildeten“ und ‚Vulgär‐ sprache‘ als „Sprache der unteren, aus der Zucht der Schule und den Vorbildern der Literatur längst entwöhnten oder von ihnen doch denkbar wenig beeinflußten Schichten.“ Hofmann (1951: IX) definiert hingegen ‚Vulgärlatein‘ - mit dem er sich nicht näher befassen will - als „Affektsprache niedrigen Stils, in der lateinischen Umgangs‐ sprache“ und kritisiert Winckelmann, der in seinem Aufsatz Über die Umgangssprache der Römer die ‚Umgangssprache‘ noch mit dem ‚Vulgärlatein‘ gleichgesetzt habe (cf. schlichte Dichotomie, in der das klassische Latein mit Schriftlichkeit und Vul‐ gärlatein mit Mündlichkeit gleichgesetzt wird, nicht greift (cf. Lüdtke 2019: 442-443). Selbst wenn man nun inhaltliche Differenzen und Nuancen großzügig bei‐ seite läßt und sich auf wenige konstituierende Aspekte konzentriert, bleibt die Frage der adäquaten Bezeichnung für diese Art des Lateins ebenfalls im Raume stehen. Durchforstet man die einschlägige Forschungsliteratur, so begegnet einem als roter Faden ein nicht enden wollendes Lamento über den Begriff ‚Vulgärlatein‘, der gleichsam gottgegeben wie unausrottbar scheint und mene‐ tekelhaft von weiterem terminologischen Unglück kündet oder die Wissen‐ schaft zu beeinträchtigen scheint, wie die wenigen Exzerpte deutlich machen: The present use of the term „Vulgar Latin“ is so vague that we find it used now to refer to the language of Plautus, now to the language of the royal charts of the 8th century, now to the language of Gregory of Tours, now to a theoretically constructed language which exists only in the minds of certain scholars. (Furman Sas 1937: 491) Il termine latino volgare, è ormai così radicato nei nostri studi, da non poter essere estirpato, quindi lo subiamo, prendendo nota della sua inadeguatezza ed imprecisione. (Battisti 1949: 23) N-o foi fácil problema estabelecer, rigorosamente, o conceito de latim vulgar. Durante muito tempo lavrou imensa confus-o, em prejuízo dos métodos e do progreso da Ro‐ manística. (Silva Neto 1957: 11) Sanctionné par un usage centenaire pour désigner les divers faits latins qui ne s’ac‐ cordent pas avec les norms classiques, le terme de latin vulgaire a les avantages et les inconvénients d’un terme consacré. (Väänänen 2002: 3) Couramment employée, en philologie latine et en linguistique romane, l’expression „latin vulgaire“ n’en constitue pas moins un des termes techniques les plus discutés de nos disciplines. (Herman 1967: 9) Den vorgeschlagenen Alternativen bzw. korrespondierenden Ausdrücken wie ‚lateinische Umgangssprache‘, 284 ‚Sprechlatein‘ (frz. latin parlée, it. latino par‐ 176 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="177"?> Hofmann 1951: V, FN 1). Die sogenannte ‚Umgangssprache‘ bleibt also in dieser An‐ wendung diffus, da weder die diastratische und diaphasische Verortung klar differen‐ ziert ist, noch die Relation ‚Umgangssprache‘ vs. ‚Vulgärsprache‘ eindeutig scheint. Die Grenzen bleiben aber in der Forschung auch weiterhin fließend; cf. die aktuellen latinistischen Darstellung bei Kramer (1997) oder Willms (2013) (dazu auch Kap. 4) und cf. Coseriu (2008) supra, der ‚Umgangssprache‘ auf eine sehr begrenzte Epoche anwendet. 285 Zur Verwendung von ,Spontanlatein‘ cf. Lüdtke (1978: 389), zu ‚Sprechlatein‘ cf. Ber‐ schin / Felixberger / Goebl (2008: 58-65). 286 Der Begriff latin commun ist äußerst ambig, da er wie bei Väänänen (2002: 6) im Sinne des vorklassischen Lateins, welches noch keine Kodifizierung erfahren hat und wohl diasystematisch kaum ausdifferenziert wäre, verwendet wird, weiterhin wie bei Iliescu (2013: 67) im Sinne des gesamten Lateins bzw. des Lateins tout court und schließlich wie bei Walter (1994: 115), für die latin commun weitestgehend latin vulgaire entspricht. Bei Tagliavini (1959: 166) wird latino volgare mit latino parlato, latino comune und koiné latina gleichgesetzt, Begriffe, die eigentlich en detail je etwas anderes bezeichnen. 287 Die Schöpfung des Begriffs ‚bürgerliches Latein‘ begründet Durante mit der diastratisch breit gefächerten Verankerung des Vulgärlateins in der römischen Bevölkerung: „Ep‐ pure il latino cosidetto volgare non è un prodotto d’incultura, né può considerarsi propriamente un latino popolare. Si obietterà che contadini, schiavi e gladiatori avranno parlato pressapoco nello stesso modo. […] In una società in cui l’aristocrazia è estro‐ messa dal potere e la sua cultura si isterilisce, il ceto emergente è format da coloro che svolgono un ruolo importante nel contest sociale: da uomini d’affari come Trimalcione, da militari, medici, veterinari, agrimensori, ecclesiastici, di cui pure abbiamo testimo‐ nianze volgari. Chi accetti queste considerazioni converrà che l’etichetta più appro‐ priate di questo latino volgare è quella di latino borghese“ (Durante 1994: 70-71, Her‐ vorhebungen R. S.). 288 Zu ,Volkslatein‘ cf. supra Diez (1870: 4). Bezüglich des Terminus̕ ‚Plattlatein‘ cf. Pott (1852: 385), der diesen Begriff jedoch nur in seinem Titel verwendet; ‚Hochlatein‘ als begriffliches Pendant hingegen überhaupt nicht, anders als bei Kiesler (2006: 7) sugge‐ riert. Meyer-Lübke (1888: 355 bzw. ²1904-1906: 456) setzt beispielsweise das ‚Hochlatein‘ dem ‚Schriftlatein‘ gleich und sieht dieses in Opposition zu ‚Vulgärlatein‘, verwendet jedoch unkommentiert beiläufig ebenfalls den Begriff ‚Plattlatein‘ (1888: 375). Zur Ein‐ ordnung dieser Termini in die frühe romanistische Forschung cf. Selig (2007). Weitere Termini wären die bei Väänänen (2002: 3) aufgeführten latin populaire, latin familier, latin de tous les jours, roman commun, protoroman, wobei genau diese Begriffs‐ reihung sich auch bei Reutner (2014: 202) wiederfindet - leider ohne Belegangabe - sowie die supra bei Furman Sas (1937: 491) angegeben Prägungen, die bereits in der antiken Literatur belegt sind (z. B. sermo plebeius). lato), Spontanlatein, 285 latin commun (it. latino comune) 286 oder latino borghese 287 haftet allerdings nicht selten eine ähnliche Problematik an - geschweige denn den heutzutage nicht mehr gebräuchlichen wie ‚Volkslatein‘ oder ‚Plattlatein‘, 288 so daß man nolens volens wieder zum ungeliebten ‚Vulgärlatein‘ zurückzufinden scheint und sich dabei tendenziell terminologisch möglichst wenig festlegt, um 177 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="178"?> 289 Cf. dazu z. B. die relativ „weite“ Definition von Stefenelli (2003) supra oder auch Reutner / Schwarze (2011: 2), die folgende stark vereinfachte Bestimmung geben: „Vul‐ gärlatein ist daher am besten negativ zu definieren und als Bezeichnung für alles zu verstehen, das nicht der Norm konzeptioneller Schriftlichkeit entspricht.“ Und ebenfalls reduktionistisch, aber eher im Verständnis einer Protosprache, ist folgende simple De‐ finition bei Kabatek (2009: 243): „Es liegt nahe anzunehmen, dass diejenigen Elemente, die sich in allen romanischen Sprachen finden, nicht aber im klassischen Latein vor‐ handen waren, auf die gemeinsame Grundlage, also das Vulgärlatein, zurückgehen.“ nicht immer über die oben aufgeführten Grundsatzfragestellungen zu stol‐ pern. 289 Dies führt schließlich dazu, daß auch in der aktuellen Forschung einerseits die Klage nach dem vertrauten, aber scheinbar unpassenden Begriff nicht auf‐ hört, man sich aber auch nicht durchringen kann ihn abzuschaffen: Obwohl es sich um einen nicht sehr glücklich gewählten Ausdruck handelt, ist der Terminus Vulgärlatein in der Romanistik stark verankert. Es scheint den Romanisten bis heute schwer zu fallen, sich von ihm zu trennen und sich für die Bezeichnung gesprochenes Latein zu entscheiden. (Pirazzini 2013: 13-14) Dies fällt natürlich u. a. deshalb so schwer, weil ‚gesprochenes Latein‘ eben nicht exakt das Gleiche beschreibt, was der ein oder andere Linguist mit ‚Vulgärlatein‘ ausdrücken möchte. Wenig glücklich erscheint auch eine Gliederung des Lateins, in der versucht wird, partieller Gradation zwischen literarischem Latein und Vulgärlatein zu etablieren, wie es in einer aktuellen Studie Nedeljković (2015) auf Basis von Banniard (1992) und Chahoud (2010) referiert: En résumé, ces considérations aboutissent à deux dichotomies indépendantes, l’une concernant les registres plus ou moins formels, l’autre le sociolecte haut ou bas. Leur croisement donne naissance à trois - et non pas quatre - variété linguistiques : 1° le „haut formel “, qui est le latin littéraire, 2° le „haut informel “, qui est le latin familier, et 3° le latin vulgaire, qui a l’air informel, puisqu’il ressemble bien plus au familier qu’au littéraire, mais qui, à proprement parler, n’est point susceptible de gradation sur l’axe de formalité. (Nedeljković 2015: 4) Die Verschränkung von diaphasischer und diastratischer Ebene sowie die Nicht‐ beachtung der Diskrepanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit läßt diese Unterteilung wenig systematisch erscheinen. Eine ergänzende, chronologische Unterteilung seitens Chahouds, die das Vulgärlatein als rein postaugusteisches Phänomen charakterisiert und dabei negativ bewertet, läßt die komplette Sys‐ tematik als „absurd“ erscheinen, wie Nedeljković (2015: 5) zurecht anmerkt, ohne jedoch selbst eine adäquate Alternative anzubieten. 178 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="179"?> 290 So spielt beispielsweise bei Steinbauer (2003), Seidl (2003) oder Poccetti / Poli / Santini (2005) das Konzept ‚Vulgärlatein‘ keine entscheidende Rolle in ihren Darstellungen zur lateinischen Sprachgeschichte. 291 Eine gewisse Berechtigung den Begriff ‚Vulgärlatein‘ nicht komplett ad acta zu legen, sondern ihn genau in diesem Sinne als Protovarietät der romanischen Sprachen zu bewahren sehen auch Berschin / Felixberger / Goebl (2008: 59): „Theoretisch gesehen versteht man unter ‚Vulgärlatein‘ eine Varietät des lateinischen Sprachsystems, die zur genetischen Erklärung der romanischen Nachfolgesysteme notwendig ist.“ In diesem Sinne implizit auch so verwendet beispielsweise bei Kaiser (2014). Eine Möglichkeit, die zumindest implizit in einigen anderen, neueren Publi‐ kationen zum Latein und seiner Geschichte anklingt, 290 aber nie wirklich dezi‐ diert verfolgt wurde, wäre eine Aufsplittung der Begriffe für eine rein diachrone romanistische Forschung einerseits und eine synchrone-diachrone Forschung zum Latein andererseits, ohne dabei die alte Sezession in latinistische und ro‐ manistische Tradition wiederaufleben zu lassen. In diesem Sinne sei hier auch im Interesse der vorliegenden Arbeit eine De‐ finition des Vulgärlateins versucht, die ausschließlich als terminologisches Kon‐ strukt zur Erfassung der Ursprache bzw. Protosprache der einzelnen roman‐ ischen Idiome heranzuziehen wäre - mit inhaltlich weitgehendem Bezug auf Voßler (1922) und unter Berücksichtigung weitere wichtiger Aspekte, wie sie u. a. bei Herman (1967) oder Coseriu (2008) zur Geltung kommen: 291 Vulgärlatein ist das gesprochene Latein der Antike, welches für uns nicht in einem homogenen Korpus von Texten erschließbar ist, sondern nur in Reflexen einzelner, vorwiegend substandardlich markierter Merkmale und Phänomene des geschriebenen Lateins aller Epochen, von den ersten Schrift‐ zeugnissen des Lateinischen bis zum Beginn romanischer Schriftlichkeit, wobei die vulgärlateinischen Elemente tendenziell in einer späteren Phase zunehmen, natürlich in Abhängigkeit von der Textsorte. Aufgrund der Kon‐ vergenzen zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache, die beide innerhalb des gleichen Diasystems verortet sind, ist das gut dokumen‐ tierte und als Referenzgröße am besten greifbare, sogenannte Klassische La‐ tein in Bezug auf zahlreiche Merkmale aller sprachlichen Ebenen überein‐ stimmend mit dem Vulgärlateinischen, so daß letzteres vor allem durch seine Abweichungen von der normierten Sprache faßbar wird, alle weiteren Er‐ scheinungen der Mündlichkeit sind zu rekonstruieren. Der Terminus ‚Vulgärlatein‘ könnte deshalb prinzipiell durch den Begriff ‚Sprechlatein‘ ersetzt werden, doch ist ersterer zu bevorzugen, und zwar nicht nur ob seiner langen Tradition in der Wissenschaft, sondern weil dadurch 179 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="180"?> 292 Eine Vermischung beider Konzepte, also einer diassystematischen Beschreibung des Lateins, in der das Vulgärlatein in verschiedenster Form, mit dann auch eben je unter‐ schiedlichen Inhalten, vermengt wird, führt meist zu einer latenten oder offenen Dis‐ paratheit in der Darstellung und dient nicht wirklich einer möglichst klaren Beschrei‐ bung sprachlicher Realitäten wie bei Herman (1996) oder Müller-Lancé (2006) zu beobachten ist. Letzterer beschreibt das Latein zwar vorrangig auf rein diasystemati‐ scher Ebene, versucht dann inkonsequenterweise in einem kurzen Ergänzungskapitel die zuvor durchgehaltene Systematik mit dem Konzept des Vulgärlateins zu harmoni‐ sieren, was eigentlich nicht wirklich glücken kann. auch das Problem der Faßbarkeit und Überlieferung deutlicher zum Ausdruck kommt und ‚Sprechlatein‘ oder ‚gesprochenes Latein‘ für die abstrakte diasystematische bzw. diamediale Betrachtung reserviert werden kann. Unter diesen Voraussetzungen erfüllt das Konstrukt ‚Vulgärlatein‘ eine ange‐ messene Funktion, indem es hilft die zentrale Fragestellung der diachronen ro‐ manistischen Forschung zu beantworten, nämlich die nach dem Ursprung der einzelnen romanischen Varietäten und Sprachen. Eine in einem romanischen Idiom auftretenden erbwörtliche Form kann somit kategorisch auf eine vulgär‐ lateinische Basis zurückgeführt werden; diese kann mit einer klassisch latein‐ ischen Form korrespondieren oder auch nicht, kann in einem antiken oder früh‐ mittelalterlichen Text belegt sein - aus welcher Epoche auch immer - oder aber rekonstruiert werden. Für eine synchrone Betrachtung des Lateins der Antike hingegen aus Per‐ spektive der Latinistik, wie sie in Kap. 4 vorliegender Arbeit vorgenommen wurde, bei der eben nicht die Weiterentwicklung zu den romanischen Sprachen im Vordergrund steht, sondern die Erfassung der diasystematischen Schichtung des Lateins - natürlich auch in Bezug auf seine Entwicklung innerhalb dieses als synchron gesetzten Zeitrahmens -, ist der Begriff des Vulgärlateins hingegen wenig dienlich. In diesem Kontext erscheint es vielmehr adäquat, darauf zu ver‐ zichten und stattdessen mit den Termini der Varietätenlinguistik zu operieren (diatopische, diastratische, diaphasische Varietäten des Lateins), um die Archi‐ tektur der Sprache zu erfassen. Dies erscheint umso wichtiger, als damit auch deutlich wird, daß das Latein als einst lebende Sprache die gleiche diasystema‐ tische Variationsbreite aufweist wie eine moderne Sprache und keineswegs von zwei Systemen, einem vulgärlateinischen und einem des klassischen Lateins auszugehen ist, wie einst suggeriert wurde (zu dieser reductio ad unum bzgl. des Urromanischen bzw. Protoromanischen cf. Vàrvaro 1977: 149). 292 Si deve insomma considerare la lingua di Roma e dell’Impero come un vero e proprio diasistema contenente varietà diatopiche (geografiche ed areali), diastratiche (sociali) 180 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="181"?> 293 Cf. dazu auch die Graphiken (dimensione verticale, dimensione orizzontale) zur dem sich verändernden Varietätengefüge - aufgrund der genannten Faktoren - im Laufe der Geschichte des Lateins bei Castellani (2000: 6). e diafasiche (attinenti ai diversi registri espressivi e di stile) oltre che ovviamente diamesiche (legate all’uso di mezzi espressivi diversi: in sostanza scritto ~ parlato) e non ultimo diachroniche o relative alla variabilità lungo l’asse temporale: in altre pa‐ role, un insieme (relativeamente) ordinato nel quale stratificazione, varietà e variabi‐ lità debbono necessariamente adeguarsi ai principi naturali ed universali che le de‐ terminano. (Zamboni 2000: 71-72) Der Übergang vom Lateinischen ins Romanische bzw. die einzelen sich ausdif‐ ferenzierenden romanischen Sprachen ist demgemäß ein schrittweiser Prozeß, währenddessen ein komplexes heterogenes Sprachsystem, nämlich das des La‐ teinischen, sich durch die verschiedensten Einflußfaktoren verändert (interne Sprachwandelprozesse, Sprachkontakte, Migrationen, Veränderung des Sprach‐ raumes und der Sprechergemeinschaften) 293 und neue Relationen zu den sich nach und nach abspalteten Teilsysteme aufbaut (Kontinuität und Diskontinu‐ ität), so daß am Ende eine Diglossie-Situation mit einem idealisierten mittelal‐ terlichen Latein der Scholastiker bzw. später der Humanisten und den roman‐ ischen Sprachen mit sich vom Schriftlatein emanzipierenden Literatursprachen steht (cf. Zamboni 2000: 80-81). Für vorliegende Arbeit wirft diese Synopse der neueren vulgärlateinischen Begriffsgeschichte, die eng an die Entstehung der Sprachwissenschaft gebunden ist und in der die terminologische Variationsbreite sowie das Ringen um eine adäquate Beschreibung des Lateins, aber vor allem der romanischen Ur- und Protosprache deutlich wird, die Frage auf, inwiefern diese Annährungsversuche an die sprachliche Realität sich von denen der frühneuzeitlichen Betrachtungen unterscheiden. Dies kann im Kern bereits a priori damit beantwortet werden, daß die neuere Forschung von einer dezidiert linguistischen Sichtweise geprägt ist, während die humanistischen Untersuchungen meist andere Zielsetzungen haben und die Sprachbetrachtung zu diesem Thema oft nur als ancilla einer anderen Debatte fungiert; zudem sich diese Diskussionen hinsichtlich der Lin‐ guistik in einem vorwissenschaftlichen Raum abspielen. Es bleibt dennoch zu klären, inwieweit einzelne Grundgedanken dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist, in dieser Vorphase der Sprachwissenschaftsgeschichte bereits zu Tage treten bzw. nach und nach Gestalt annehmen, sich verfestigen und welche Aspekte tatsächlich erst mit der Etablierung einer Forschung in der Tradition von Diez und Schuchardt erschließbar werden. 181 5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt <?page no="183"?> 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen der Antike in der Frühen Neuzeit 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua Die vorliegende Untersuchung zur Entstehung eines grundsätzlichen Verständ‐ nisses über die Sprachsituation der römischen Antike, d. h. die Überwindung der mittelalterlichen Vorstellung (cf. Kap. 6.1.5) von der statischen und überzeitlich gültigen Distribution der Sprachen sowie der Invariabilität von Sprachen an sich bzw. des Lateins insbesondere, ist eng verzahnt mit der in Italien über mehrere Jahrhunderte geführten Debatte zur Frage nach der adäquaten (Literatur-) Sprache, der sogenannten questione della lingua. Diese Sprachenfrage zeitigte verschiedene Aspekte, die je nach Epoche unterschiedlich virulent waren. Welche Teildebatten nun genau zur questione zu rechnen sind und über welchen Zeitraum sich diese letztendlich erstreckte, ist Bestandteil umfangreicher sprachwissenschaftlicher Forschungsdiskussion. Im Folgenden soll es jedoch nicht um die hinlänglich in allen Facetten untersuchte questione im eigentlichen Sinne gehen, sondern allein darum, die hier im Fokus stehende Fragestellung in den Rahmen des allgemeinen geistesgeschichtlichen Kontext der Zeit und dieser weitgefächerten Gelehrtendiskussion in einzuordnen. 6.1.1 Die questione vor dem Hintergrund von Renaissance und Humanismus Bevor nun einige Aspekte der italienspezifischen Sprachenfrage (it. questione della lingua) erläutert werden, um die vorliegende Fragestellung adäquat zu verorten, sei zunächst der allgemeine geistesgeschichtliche Hintergrund des hier untersuchten Zeitraumes abgesteckt. Zentrale Begriffe, die in vorliegender Arbeit eine tragende Rolle spielen, um das intellektuelle Klima und die historischen Implikationen dieser Epoche zu charakterisieren, sind ‚Renaissance‘, ‚Humanismus‘ und ‚Frühe Neuzeit‘. Nicht selten werden diese Termini quasi-synonym gebraucht, um eine bestimmte Geisteshaltung jener Zeit zum Ausdruck zu bringen. Dabei sind sie keineswegs deckungsgleich, betonen sie doch verschiedene Aspekte einer Strömung bzw. einer historischen Konstellation, die im Folgenden herauszustellen sind. <?page no="184"?> 294 An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts verändert, wie das Lexikon der Re‐ naissance deutlich macht: „Der Epochenbegriff der Renaissance, der im engeren Sinn eine Prägung des 19. Jahrhunderts ist, vermittelt ein unscharfes, schwebendes Bild. Unter (Kultur-)Historikern besteht selten Übereinstimmung darüber, welche geschicht‐ liche Epoche damit genau bezeichnet wird und was jeweils das Renaissancespezifische ausmacht“ (Münkler / Münkler 2005: 338). Die scheinbare Austauschbarkeit dieser Schlüsselbegriffe rührt auch daher, daß sie als Epochenbezeichnungen äußerst facettenreich und schwer zu fassen sind, wie schon Jacob Burckhardt bzgl. der ‚Renaissance‘ feststellte: Die ‚Renaissance‘ wäre nicht die hohe weltgeschichtliche Notwendigkeit gewesen, die sie war, wenn man so leicht von ihr abstrahieren könnte. (Burckhardt 2009: 137) 294 Mit ‚Renaissance‘ wird heutzutage tout court eine Kulturepoche bezeichnet, d. h. die Kunst und Literatur ist das konstituierende Element. In diesem Sinn definiert auch Schreiner (1995: 710-711) im Lexikon des Mittelalters den Begriff, der auf ein von verschiedenen Bezeichnungen der Gelehrten des 14. und 15. Jh. zurück‐ geht, um eine Lebens- und Wachstumsmetaphorik zu versprachlichen, d. h. neben rinascere wurden auch revivere, risuscitare, reflorescere verwendet. Dabei sollten das Wiederaufleben der Künste und Wissenschaften und die bewußte Hinwendung zur Antike sowie, damit einhergehend, die Erneuerung der Lati‐ nität zum Ausdruck gebracht werden. Mit der entsprechenden Bedeutung ver‐ wendet Giorgio Vasari (1511-1574) in seinen Vite (1550) erstmals diese Metapher als Substantiv (rinascità) und das französische renaissance schließlich der Na‐ turforscher Pierre Belon (1517-1564) in seinen Observations von 1553. Mit der heutigen Implikation, die eine Beschreibung einer bestimmten Geistesströmung und eines dezidierten Kunstideals einer Umbruchszeit beinhaltet, wird der Be‐ griff jedoch erst sehr viel später aufgeladen, und zwar vor allem durch die prä‐ genden Schriften Jean Michelets (Histoire de France, 1855) und insbesondere Jacob Burkhardts (Die Cultur der Renaissance in Italien, 1860): Als Kulturbegriff im allgemeinen Sinne erst seit Mitte des 19. Jh. in Gebrauch […], bezeichnet R[enaissance] seitdem in der Regel jene Epoche der europäischen Kunst- und Kulturgesch[ichte], die sich zeitl[ich] gesehen vom 14. Jh. bzw. Anfang des 15. Jh. bis zur Mitte des 16. Jh. erstreckt und deren Ursprungsland und fast ausschließl[iches] Verbreitungsgebiet während der hier interessierenden, bis ca. 1490 reichenden Periode der Früh-R[enaissance] Italien war. (Schreiner 1995: 710) Diese hier gegebene, interessensbedingte Begrenzung im Lexikon des Mittelal‐ ters zur Frührenaissance ist insofern zu ergänzen, als die Renaissance bald über Italien hinaus wirkte und ihre Rezeption meist zeitlich versetzt in Korrelation 184 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="185"?> 295 Zum Gebrauch des Italienischen im Frankreich der Frühen Neuzeit, dem Einfluß der italienischen Migrantengruppen (Ingenieure, Bankiers, Künstler, Entourage von Cate‐ rina deʼ Medici (1519-1589)), den daraus entstehenden Interferenzen sowie dem françois italianizé, cf. Scharinger (2018, insbes. ibid. 36-46). Zentren der italienischen Immig‐ ration im rinascimentalen Frankreich sind Genf, Lyon und Paris; Orte an denen auch polyglotte Wörterbücher und Sprachführer entstanden (ibid. 2018: 45). Der Kultur- und Sprachkontakt zwischen beiden Ländern ist seit jeher vielfältig, die Ursachen für das Prestige des Italienischen in jener Epoche in Frankreich faßt Scharinger folgender‐ maßen zusammen: „Als Gründe für den Sprachkontakt und somit für den Einfluß des Italienischen auf das Französische werden im Wesentlichen die Ausstrahlung der ita‐ lienischen Renaissancekultur, die Vorbildfunktion der italienischen Literatur, Überset‐ zungen aus dem Italienischen, die Italienkriege, die Präsenz italienischer Immigranten in Lyon sowie die Italianisierung des Hoflebens durch Catherine de Médicis genannt. Besonders betont wird zumeist auch die Vorbildfunktion der italienischen Vulgärhu‐ manisten, deren Schriften bezüglich der Emanzipation und des Ausbaus der Volks‐ sprache auch von französischen Sprachtheoretikern rezipiert wurden. Die questione della lingua wurde gewissermaßen ins Frankreich des 16. Jahrhunderts importiert“ (Scharinger 2018: 57-58). 296 Cf. die entsprechende Stelle bei dem in der Renaissance viel rezipierten Laktanz (Div. Inst. VI, 8.6-7 (508); 2009: 559: „[…] Marcus Tullius in libro de re publica tertio paene diuna noce depinxit; cuius ego, ne plura dicerem, uerbi subieci: ,est quidem vera lex recta ratio naturae congruens, diffusa in omnis, constans, sempiternae […]‘.“ Cf. dazu auch das Original bei Cicero mit dem Kernsatz: „Est quidem vera lex recta ratio, naturae congruens […]“ (Cicero De re pub. III, 22 (33); 1987: 204). zur räumlichen Distanz erfolgte. Von Florenz und Oberitalien wirkte sie vor allem nach Frankreich, 295 aber auch nach England und Deutschland, eher ein‐ geschränkt auf andere mitteleuropäische Regionen und die Iberische Halbinsel (Münkler / Münkler 2005: 341). Wichtige historische und geistesgeschichtliche Veränderungen, die für die Epoche der Renaissance konstitutive Elemente bilden, sind zum einen neben dem Auftreten neuer Adelsdynastien das Erstarken des Bürgertums in den ober- und mittelitalienischen Städten, das durch wirtschaftliche Prosperität, bedingt durch die zunehmende Bedeutung der Geldwirtschaft, ein politisches und ethi‐ sches Selbstbewußtsein ausprägte, welches sich unter anderem in der Forderung nach größerem Mitspracherecht und der Ausbildung einer standesbezogenen virtù äußerte. Zum anderen ist die Zeit der beginnenden Erneuerungsbewegung des 14.-16. Jh. geprägt von der Hinwendung zum Individuum, zur Weltlichkeit und dem Diesseits mit all seinen Erscheinungsformen; in den Wissenschaften verbinden sich dabei die Anerkennung einer ratio naturae, 296 die Beobachtungen der realen Welt sowie die lebenspraktischen Aspekte der Wissenschaften mit einer erstarkenden Modellbildung des theoretischen Wissens der Antike in Kunst, Architektur, Literatur und Philosophie (Schreiner 1995: 710-711). 185 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="186"?> 297 Historiker übernahmen im 19. Jh. den von Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848) geprägten Begriff ‚Humanismus‘ (cf. Der Streit des Philanthropismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs- Unterrichts unserer Zeit, 1808) und wen‐ deten ihn auf die Gelehrten der Renaissance an. Bei Niethammer war er in einem schul‐ pädagogischen Kontext als Gegenkonzept zu aufkommenden Forderungen nach na‐ turwissenschaftlicher und praxisorientierter Bildung entstanden, um auf diese Weise die Beschäftigung mit den lateinischen und griechischen Klassikern herauszustellen (cf. Kristeller 1973: 16). 298 Die Bezeichnung humanista wurde analog zu den im universitären Lehrbetrieb gän‐ gigen Begriffen wie legista, jurista, canonista oder artista geprägt (cf. Buck 1984: 23). 299 Im Mittelalter dominierten die studia divina, d. h. eigentliches Ziel eines universitären Studiums war die Theologie, die septem artes liberales, die an der Artistenfakultät gelehrt wurden, hatten nur propädeutischen Charakter und bestanden aus dem trivium mit Grammatik, Poetik (Rhetorik), Logik (Dialektik) und dem quadrivium mit Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik. Zu den höheren Fakultäten zählten neben der Theo‐ logie prinzipiell auch die Medizin und die Jurisprudenz. Zudem standen die artes libe‐ rales den artes mecanicae (Handwerk, Kriegskunst, Seefahrt, Landbau, Jagd, Heilkunde, Hofkünste) gegenüber, die nicht Teil der universitären Ausbildung waren (cf. Steinhoff 1990: 26-27). Die Renaissance kann demnach als eine weitgespannte Bewegung charak‐ terisiert werden, die in Korrelation mit bestimmten historischen Konstellati‐ onen, vor allem in Italien, einen Umbruch im Denken markierte und in den verschiedensten künstlerischen Ausdrucksformen ihre Wirkung entfaltete, zu‐ nächst in ihrem Entstehungsraum, dann weit darüber hinaus. Der Humanismus, zeitlich und ideengeschichtlich eng verknüpft mit der Re‐ naissance, ist laut Schweikle (1990: 208-209) ebenfalls eine Epochenbezeich‐ nung, aber vor allem die „erste gesamteuropäische Bildungsbewegung zwischen Mittelalter und Neuzeit (14.-16. Jh.), erwachsen aus der Wiederentdeckung, Pflege und Nachahmung der klass[ischen] lat[einischen] und griech[ischen] Sprache und Literatur.“ Der Begriff ‚Humanismus‘ wurde erst im 19. Jh. ge‐ prägt, 297 die Bezeichnung ‚Humanist‘ (it. umanista) ist hingegen zeitgenös‐ sisch, 298 wird sie doch ab dem ausgehenden 14. Jh. für einen (universitären) Ge‐ lehrten, einen vir humanus et doctissimus gebraucht, der sich den studia humanitatis (auch: studia humanitas) verschrieben hat, die im Rahmen der septem artes liberales eine Neuorientierung darstellten. 299 Dabei ergab sich im trivium aus einer ursprünglich dominanten Beschäftigung mit der Logik und Dialektik eine verstärkte Hinwendung zur Rhetorik und Grammatik, d. h. das oft sehr abstrakte, scholastische Analysieren und Argumentieren (cf. Kap. 6.1.5) trat vor dem Hintergrund der Aufwertung der Antike und des Lateins als Lite‐ ratur- und Verkehrssprache und der damit verbundenen Wissensvermittlung zugunsten der konkreteren rhetorischen und grammatischen Studien zurück (cf. Münkler / Münkler 2005: 153; Schweikle 1990: 209). Auch der Begriff des Huma‐ 186 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="187"?> 300 Der Terminus wurde außer in seiner modernen Verwendung auch auf andere histori‐ sche Kontexte projeziert; so sprechen manche vom Humanismus des Mittelalters oder von einem christlichen Humanismus (cf. Kristeller 1973: 16). nismus unterliegt wie derjenige der Renaissance der Gefahr einer womöglich zu breiten Anwendung, einer Generalisierung, die ihn semantisch aushöhlt oder zumindest stark reduziert, so daß, wie Kristeller (1973: 15) kritisch vermerkt, „nahezu jegliches Anliegen, das menschliche Werte zum Gegenstand hat, ‚hu‐ manistisch‘ genannt“ wird. Für vorliegende Arbeit, in der ja als eines der Haupt‐ ziele die Rekontextualisierung von zeitgenössischen Schriften und dem dort ausgedrückten Denken formuliert ist, soll jedoch der Begriff ‚Humanismus‘ - analog zu dem der ‚Renaissance‘ - nicht in diesem modernen allgemeinsprach‐ lichen Sinn des Humanistischen Verwendung finden, sondern strikt an die his‐ torischen Implikationen dieser Umbruchsepoche gebunden sein - ganz in Kon‐ kordanz mit der Forderung Kristellers: Wenn wir die Philosophie der Renaissance oder irgendeiner anderen Epoche ver‐ stehen wollen, müssen wir versuchen, nicht nur die Interpretation des authentischen Denkens dieses betreffenden Zeitraumes von der Wertbestimmung und Beurteilung seiner Leistungen zu trennen, sondern auch die ursprüngliche Bedeutung zurückge‐ winnen, in der jene Epoche bestimmte Kategorien und Klassifizierungen verwendete, mit denen wir entweder nicht mehr vertraut sind oder die verschiedene Nebenbe‐ deutungen angenommen haben. (Kristeller 1973: 16) Vor diesem Hintergrund sei deshalb nochmal betont, daß der Humanismus in seinem historischen Verständnis an die besagte Epoche gebunden 300 eine kul‐ turelle und geistesgeschichtliche Erneuerungsbewegung darstellt, die jedoch mitnichten alle Bereiche des Geistesleben jener Zeit erfaßte, sondern sich im Kern auf die erwähnten studia humanitatis beschränkte. Dies bedeutet auch, daß universitäre Fächer wie Mathematik, Astronomie, Medizin, Jurisprudenz und Theologie explizit ausgenommen waren und auch im Bereich der Philosophie blieben Logik, Naturphilosophie und Metaphysik weitestgehend den traditio‐ nellen Methoden verbunden; allein die Ethik war Gegenstand humanistischer Studien, die ansonsten von der Beschäftigung mit der Literatur (und ihrer Sprache) geprägt waren (cf. Kristeller 1973: 17-18). Allgemein lehnten die humanistischen Gelehrten die Spekulation über die Natur, wie sie in der Physik oder Naturphilosophie betrieben wurde, als sinn‐ loses Unterfangen ab, genauso wie die scholastischen Spitzfindigkeiten in der Logik, da für sie die konkreten Fragen des Lebens, der Lebensgestaltung und die möglichen Leitbilder (recte vivere), also Themen der Moralphilosophie, im Vor‐ dergrund standen (cf. Buck 1984: 15). 187 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="188"?> 301 Petrarca geht soweit, daß er die Begegnung mit Cicero als lebendiges Zwiegespräch stilisiert, mit ihm eine familiäre Lebensgemeinschaft empfindet und ihn als idealisierte Instanz der Moralphilosophie ansieht, an der er seine eigenen Lebensmaximen schulen kann, dessen exempla virtutis Ansporn für das eigene Verhalten sind (cf. Buck 1987: 137-139). 302 Die Geschichtsschreibung konstituiert sich in enger Anbindung an die Rhetorik und Poetik und leitet sich von Ciceros Diktum als magistra vitae ab (cf. Buck 1984: 17). Der Humanismus kann somit als Bildungsreform der Renaissance verstanden werden, geboren aus dem Wunsch einer Erneuerung des tradierten Wissens, dessen Ausdruck die studia humanitatis sind. Insofern sich die ‚studia humanitas‘ als eine Bildungsreform verstanden, gingen sie von der Überzeugung aus, daß die aus dem Mittelalter überlieferte Bildung überholt sei und durch eine neue ersetzt werden müsse. Von Petrarca angefangen kritisierten die Humanisten den zeitgenössischen Wissenschaftsbetrieb, vor allem den Rückgang des Studiums der Grammatik und Rhetorik mit der daraus resultierenden Entartung des Lateins, sowie das Ausufern der sich in einem unfruchtbaren Spiel mit Definiti‐ onen, Distinktionen und Syllogismen erschöpfenden Dialektik, die nicht nur im Tri‐ vium vorherrschte, sondern auch innerhalb der Philosophie der Ethik in den Hinter‐ grund gedrängt wurde. (Buck 1984: 14) Die Hinwendung zur Antike, zu ihrer Literatur, zu dem dort gepflegten Stil (der klassischen Autoren) und nicht zuletzt durch die auf diese Weise vermittelten Moralvorstellungen geht zu einem wesentlichen Anteil auf Petrarca zurück. 301 In seiner Dichterkrönung zum poeta laureatus (8. April 1341), die gleichzeitig eine theoretische Lehrberechtigung für die artes liberales enthält, wird die Be‐ geisterung für antike Literatur (Sprache, Form, Motivik) und Studieninhalte (studia humanitatis) gleichermaßen zum Ausdruck gebracht. Als systematisches Bildungsziel mit einem konkreten Programm werden die humanistischen Stu‐ dien jedoch erst von Coluccio Salutati (1331-1406) formuliert, der darin die Verwirklichung von virtus und doctrina sieht. Dies beinhaltet gleichzeitig eine bewußte Abkehr von den im (spät)mittelalterlichen Schulbetrieb dominierenden octo auctores morales hin zu den Studien nach dem Leitbild der ciceronianischen humanitas, den bonae artes, in denen ein nach neuen Kriterien geschultes, mo‐ ralisch agierendes Individuum ausgebildet werden sollte (cf. Buck 1984: 11-15). Die studia humanitatis wurden schließlich in fünf kanonische Fächer gefaßt, wie sie bei Tommaso Parentucelli (Nikolaus V., 1447-1455) überliefert sind: Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte, 302 Moralphilosophie. Die beherr‐ schende Sprache war zunächst das Lateinische, das die Grundlage jedweden 188 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="189"?> 303 Leonardo Bruni forderte in seiner Schrift De studiis et litteris, daß sprachliche Ausbil‐ dung und die zugehörigen inhaltlichen Kenntnisse Hand in Hand gehen müssen (cf. Buck 1987: 162). 304 Außerhalb Italiens propagierte vor allem Erasmus von Rotterdam (1466 / 1469-1536) das Griechische sowie in Deutschland beispielsweise Johann Reuchlin (1455-1522), Rudolf Agricola (1444-1485) und Conrad Celtis (1459-1508), in Frankreich wurde es von Guillaume Budé (1468-1540) und Julius Caesar Scaliger (1484-1558) verbreitet (cf. Buck 1987: 163-164). Eine der Folgen der Beschäftigung mit dem Griechischen war im Zuge der Wiederentdeckung der Schriften Platons die rinascimentale Vorliebe für Dia‐ loge als Form des philosophischen Disputs (cf. Münkler / Münkler 2004: 156). 305 „[…] libri medullitus delectant, colloquuntur, consulunt et viva quadam nobis atque arguta familiaritate iunguntur […]“ (Petrarca Fam. III, 18; 1978: 108; v. supra). Studiums bildete, 303 später kamen jedoch auch das Griechische und seine Lite‐ ratur als fachliche Bereicherung hinzu (cf. Buck 1987: 163). 304 In Florenz wurden erstmals auf Einladung von Coluccio Salutati und Niccolò Niccoli im Jahre 1397 Vorlesungen von Manuel Chrysoloras (1353-1415) ge‐ halten, die von einer Anzahl wichtiger italienischer Gelehrter, darunter Bruni, begeistert aufgenommen wurden. Chrysoloras, der auch im Folgenden noch zahlreiche Schüler hatte, die auf seine Anregung hin z. T. auch nach Konstanti‐ nopel gingen (z. B. Guarino Veronese), fungierte dabei - so könnte man postu‐ lieren - durch seine Vermittlung des Griechischen und des byzantinischen Kul‐ turschatzes als „Katalysator“ für die humanistische Bewegung. Ein wichtiger Part innerhalb der humanistischen Erneuerungsbewegung war die Reform des Lateins. Vorbild sollte der Sprachgebrauch der „klassischen“ an‐ tiken Autoren sein (nicht unbedingt das Ideal der antiken Grammatiker), wobei in erster Linie Cicero hierbei als Maßstab diente (sowie Quintilian), später dann zunehmend Tacitus. Zu diesem Zweck wurden auch neue Lehrbücher und Grammatiken verfaßt, wie beispielsweise die Elegantiae Lorenzo Vallas (1407-1457), der ganz konkret eine restitutio linguae latinae fordert (cf. Buck 1984: 16; Münkler / Münkler 2004: 164-165). Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Paradigmenwechsels des 14./ 15. Jh., der eng mit dem gesteigerten Interesse an der Antike zusammenhängt, ist die Be‐ geisterung für Bücher und Handschriften. Auch hier spielt Petrarca eine wich‐ tige Vorreiterrolle. Das Buch wird für ihn gleichsam zum Lebensbegleiter. Die tiefe Verbundenheit mit den antiken Autoren, mit denen er im Geiste vertrau‐ liches Zwiegespräch hält, bringt ihn dazu, seinen „Freunden“ und Vorbildern Briefe zu schreiben. 305 So finden wir in den Familiares Episteln, die an Cicero, Seneca, Varro, Quintilian, Livius, Pollio oder Homer adressiert sind. Petrarca stellt nicht nur eine Liste mit seinen Lieblingsbüchern zusammen (libri mei pe‐ 189 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="190"?> 306 „Et habeo plures forte quam oportet; sed sicut in ceteris rebus, sic et in libris accidit: querendi successus avaritie calcar est. Quinimo, singulare quiddam in libris est: aurum, argentum, gemme, purpurea vestis, marmorea donus, cultus ager, picte tabule, phaler‐ atus sonipes, ceteraque id genus, mutam habent et superficiarium voluptatem; libri medullitus delectant, colloquuntur, consulunt et viva quadam nobis atque arguta fami‐ liaritate iunguntur, neque solum se se lectoribus quisque suis insinuat, sed et aliorum nomen ingerit et alter alterius desiderium facit“ (Petrarca, Fam. III, 18; 1978: 108). Pet‐ rarcas Bücherkollektion galt außerdem als die umfangreichste seit denen der spätan‐ tiken Gelehrten Cassiodor (ca. 485-580) und Boethius (ca. 480-524). culiares), sondern kommentiert auch einzelne Schriften und setzt sie in bewußte Korrelation zu Ereignissen aus seinem eigenen Leben. (cf. Buck 1987: 138-141). Diese tiefe Wertschätzung für die alten Autoren in Zusammenhang mit dem erwachenden Interesse am Historischen führt schließlich dazu, daß sich die Hu‐ manisten auf die Suche nach Originalausgaben bzw. alten Handschriften ihrer geliebten Werke machen und die europäischen Archive und Klosterbibliotheken durchforsten: Petrarca findet in Lüttich zwei in Vergessenheit geratene Reden Ciceros (1333) und ein Manuskript mit Ciceros Briefen (Epistolae ad familiares) in Verona (1345), Coluccio Salutati entdeckt weitere Cicero-Briefe (v. supra Kap. 1.1), Niccolò Niccoli (1365-1437) läßt aus den Klöstern Corvey und Monte Cassino das historische Œuvre des Tacitus zusammentragen und Poggio Brac‐ ciolini (1380-1459) erwirbt bei seinen Reisen rund um das Konstanzer Konzil (1414-1418) neben weiteren Reden Ciceros und zahlreichen Manuskripten un‐ terschiedlichster Autoren (Silius Italicus, Lukrez, Manlius, Ammianus Marcel‐ linus, Valerius Flaccus, Statius, Petron, etc.) in St. Gallen die bisher nur frag‐ mentarisch bekannte Rhetorik Quintilians (Institutio oratoria). Dies bildet letztendlich den Auftakt für eine umfangreiche Recherche nach alten Hand‐ schriften und möglichst originalgetreuen Ausgaben (cf. Walther 2007: 671-672). Zu den sogenannten „Bücherjägern“ (engl. book-hunters) gehörten außer den bereits Genannten auch Gelehrte wie Leonardo Bruni (1370-1444), Guarino Ve‐ ronese (1374-1460), Giovanni Aurispa (1376-1459) oder Palla Strozzi (1373-1462) (cf. Niederkorn-Bruck 2012: 106-107; Frank 2014: 217-218). Ein weiterer Folgeeffekt der Liebe zum Buch und zu den Schriften der alten Autoren ist die Entstehung von zahlreichen Bibliotheken, zunächst vor allem Privatsammlungen, die erst später in öffentliche Bibliotheken umgewandelt werden bzw. deren Bestand dort Eingang findet. Auch hier spielte wiederum Petrarca eine wichtige Rolle, und zwar insofern er seine Bibliophilie zum Aus‐ druck brachte - „Che anzi nei libri c’è un fascino particolare“ (Petrarca, Fam. III , 18; 1978: 109). 306 Die Privatsammlungen der Humanisten waren - soweit rekon‐ struierbar - zum Teil beträchtlich: Die Bibliothek Coluccio Salutatis wird auf ca. 800 Bände geschätzt, diejenige von Niccolò Niccoli soll ca. 600-800 Bücher um‐ 190 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="191"?> 307 So hatte beispielsweise auch Montaigne eine umfangreiche Privatbibliothek im Turm seines Wohnhauses, wie er sie im Kapitel Des trois commerces seiner Essais (1580-1588) beschreibt: „Chez moy, je me destourne un peu plus souvent à ma librairie, d’où tout d’une main je commande à mon mesnage. Je suis sur l’entrée et vois soubs moy mon jardin, ma basse court, ma court, et dans la pluspart des membres de ma maison. Là, je feuillette à cette heure un livre, à cette heure un autre, sans ordre et sans dessein, à pièces descousues; tantost je resve, tantost j’enregistre et dicte en me promenant, mes songes que voicy. Elle est au troisiesme estage d’une tour“ (Montaigne, Essais III, 3, b-c; 1962: 806). faßt haben, Giovanni Pico della Mirandola (1469-1533) brachte es auf 1160 und Willibald Pirckheimer (1470-1530) sogar auf 2100. Eine der ersten halb-öffent‐ lichen Bibliotheken war die von Oddo Colonna (Martin V., 1417-1431) im Jahre 1417 begründete Biblioteca Vaticana, in deren Archiv 1455 immerhin schon 1200 Bände aufgenommen waren (cf. Buck 1987: 142-143). 307 Dies sind nur einige sehr selektive Aspekte des Humanismus, und zwar solche, die im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung von Relevanz sind, denn das Interesse an Historischem und Philologischem der Humanisten bildet den Nährboden für die daraus entstehenden sprachtheoretischen Fragestel‐ lungen. Als letztes sei noch auf die Datierungs- und Strukturierungsproblematik von Renaissance und Humanismus verwiesen. Im Supplementband des Kleinen Pauly zur Rezeption der Antike in eben jener Zeit arbeitet Landfester mit dem Doppelbegriff des ,Renaissance-Humanismus‘, wobei er den Terminus der ‚Re‐ naissance‘ als Epochenbegriff auffaßt und ‚Humanismus‘ als Kulturbegriff. Re‐ naissance ist für ihn damit die erste Phase der Frühen Neuzeit im westeuropäi‐ schen Kulturkreis, einer Epoche, die durch eine neue aus politischer Sicht plurale Ordnung anstelle der mittelalterlichen Universalmonarchie gekennzeichnet ist, in der sich die humanistische Kulturbewegung entfaltet. Diese umfaßt zahl‐ reiche Bereiche der Kultur und löst die von christlichen Dogmen bestimmte Weltanschauung des Mittelalters ab, durch eben ihr Leitbild der humanitas. In diesem Sinne läßt Landfester den Renaissance-Humanismus im 14. Jh. beginnen, symbolisch mit Petrarcas Dichterkrönung (1341), und setzt ihr Ende mit der beginnenden Konfessionalisierung ab der zweiten Hälfte des 16. Jh. an. So wie sich die Bewegung aus den engen, theologisch bestimmten Lehrpfaden des Mit‐ telalters emanzipierte, findet sie auch ihr Ende in der Beschränkung der freien Betrachtung der paganen Antike durch die im Zuge der Konfessionsspaltung entstehenden Denkverbote, was man ebenfalls mit einem symbolischen Datum fixieren könnte, nämlich der Verbrennung Giordano Brunos im Jahre 1600. Der Aspekt des Religiösen ist hierbei ein wichtiger, aber nicht der einzige, der die Dynamik von der Genese und dem langsamen Ausklingen dieser Bewegung 191 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="192"?> 308 Dabei sei nochmals betont, daß Renaissance und Humanismus nicht gleichzusetzen sind: „Heute neigt die Forschung, bes. die angelsächsische, dazu, H[umanismus] und Renaissance miteinander zu identifizieren. Dies ist hist. falsch, denn die Protagonisten der Renaissance wie z. B. Niccolò Machiavelli, Leonardo da Vinci, Paracelsus oder Ga‐ lileo Galilei interessierten sich vorrangig weder für Sprachkultur noch für die Rekon‐ struktion der Antike, sondern für die empirischen Gesetze der Politik, Schönheit oder Natur. Deshalb sind sie nur mit starken Einschränkungen als ‚Humanisten‘ […] zu be‐ zeichnen. Umgekehrt wäre es geradezu absurd, humanistische […] Literaten wie Poggio Bracciolini, Erasmus von Rotterdam oder Beatus Rhenanus als ‚Renaissancemenschen‘ charakterisieren zu wollen. Weniger sachliche als vielmehr weltanschauliche Gründe also bedingen eine solche Gleichsetzung“ (Walther 2007: 666-667). bedingt, zahlreiche weitere externe und interne Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle (cf. Landfester 2014b: IX ). Eine Periodisierung zu erstellen ist insofern kaum möglich, da schon inner‐ halb Italiens die einzelnen Regionen unterschiedlich von dieser Erneuerungs‐ bewegung betroffen sind und unter Einbezug anderer europäischer Länder erst recht mit einer zeitlichen Diskrepanz zu rechnen ist; hinzu kommt, daß auch bezüglich der einzelnen Kulturbereiche wie Architektur, Malerei, Bildhauerei oder Literatur der Paradigmenwechsel nicht einheitlich verläuft. Landfester (2014b: X- XI ) strukturiert deshalb sehr grob in einen Humanismus der Früh- und Hochrenaissance mit der groben Datierung ca. 1350 / 1400 - ca. 1550 und einen Humanismus der Spätrenaissance mit dem zeitlichen Rahmen von ca. 1550-1600 / 1630. Alle weiteren Unterteilungen sollten an einzelnen Regionen und Kulturfeldern festgemacht werden. 308 Die Datierungen sind dabei nur grobe Anhaltspunkte, denn wie Kristeller (1973: 11-12) deutlich macht, gibt es zweifellos Kontinuitäten, wobei die schwie‐ rige Faßbarkeit der Epoche nicht dazu berechtigt, ihr eine eigene Prägung und Identität abzusprechen. Zuletzt sei in vorliegendem Kontext noch auf den Begriff der ‚Frühen Neuzeit‘ hingewiesen, mit dem ebenfalls gelegentlich operiert wird. Dieser Terminus ist vor dem Hintergrund der historischen Periodisierung Antike - Mittelalter - Neuzeit zu sehen und gehört zur Geschichtswissenschaft, in der damit übli‐ cherweise die Zeit zwischen ca. 1450 / 1500 und 1800 / 1850 - vor allem im ang‐ lophonen Raum oft tout court 1500-1800 - umrissen wird, deren Eckdaten ge‐ kennzeichnet sind von der Erfindung des Buchdrucks einerseits und dem Aufkommen der Eisenbahn als transnationales Transportmittel andererseits. In diesem allgemeinen historischen Verständnis ist der Begriff seit den 1950er Jahren geläufig, wurde aber schon zuvor in ähnlicher Form in der Wirtschafts‐ geschichte (Werner Sombart: Frühkapitalismus) und dann in der Soziologie (Max Weber: beginnende Neuzeit) verwendet, die ihn wiederum aus der in der Sprach‐ 192 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="193"?> 309 Zur frühneuzeitlichen Staats- und Gesellschaftsentwicklung und ihren jeweiligen Strukturveränderungen im Allgemeinen sowie unter dem zentralen Aspekt der Sozial‐ disziplinierung im Speziellen cf. Gerhard Oestreich (1980), der vor allem in den 1960er und 1970er Jahren den Begriff der ‚Frühen Neuzeit‘ mitetablierte. 310 Weitere frühe Werke zur Sprachenfrage sind beispielsweise Furnari (1900), Belardinelli (1904), Labande-Jeanroy (1925), Hall (1942), Sozzi (1955) oder Klein (1957). Cf. auch Kap. 2 vorliegender Arbeit zum Forschungsüberblick. wissenschaft üblichen Kategorie des ,Frühneuhochdeutschen‘ (1350-1650) ab‐ leitet, wie sie von Jacob Grimm eingeführt (Kriterium: Lautverschiebungen) und von Wilhelm Scherer schließlich als Epoche etabliert wurde. Kennzeichen dieser weitgespannten Zwischenepoche sind die politischen Veränderungen in Europa (Staatsbildung und diplomatische Beziehungen), der Frühkapitalismus, die pro‐ testantische Ethik, Wissenschaftsrevolution, Agrarrevolution und der Beginn der Industriellen Revolution. Es sind also Umbrüche in der Politik, in der Kom‐ munikation, dem Finanzwesen, dem Erziehungswesen und im kulturellen Be‐ reich, die diesen Zeitraum situieren (cf. Behringer 2006: 81-85). 309 Die in vorliegender Arbeit wichtigen kultur- und geistesgeschichtlichen Rah‐ menbedingungen, die durch die Begriffe ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ab‐ gesteckt wurden, sind durchaus Teil dieses historischen Gesamtkomplexes ‚Frühe Neuzeit‘ und der damit bezeichneten Neuorientierungen, wobei diese Epochenbezeichnung jedoch sowohl inhaltlich wie auch zeitlich weit über das abgesteckte Thema hinausreicht. Für vorliegende Fragestellung bilden diese geistesgeschichtlichen Strömungen den unabdingbaren Hintergrund; nur in diesem Kontext lassen sich die dann hervortretenden Diskussionen zu den ver‐ schiedenen Aspekten der Sprache (historisch und zeitgenössisch) adäquat ein‐ ordnen und erklären. 6.1.2 Kurzcharakteristik der questione della lingua: Fragestellungen und Periodisierung Die questione della lingua als Leitfrage einer Normdiskussion bezüglich der He‐ rausbildung der italienischen Literatur- und Standardsprache ist ein Produkt der linguistischen Forschung des 20. Jahrhunderts. Der Begriff fand seine wesent‐ liche Verbreitung mit dem gleichnamigen Werk von Vitale (1984 [ 1 1960]); das Phänomen dieser metasprachlichen Diskussion wurde aber bereits von Vivaldi (1894-1898) und Luzzato (1893) im ausgehenden 19. Jahrhundert beschrieben, wobei jedoch z. B. Vivaldi noch von controversie und Luzzato von polemica spricht (cf. Ellena 2011: 20-22). 310 193 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="194"?> Vitale beschreibt in seiner grundlegenden Monographie sowohl den zugrun‐ deliegenden sprachlichen Prozeß der Selektion und Normierung unter dem Ein‐ fluß der literarischen Produktion der tre corone und ihrer prestigeträchtigen Nachwirkung bzw. ihrer Kanonisierung als Autoritäten, als auch den meta‐ sprachlichen Diskurs mitsamt seinen Fragestellungen bzw. kontroversen Ein‐ zeloptionen. Il fiorentino antico e scritto, quale si fissa con procedimenti d’arte nei grandi scrittori trecenteschi, e si impone mediante il prestigio letterario e culturale dei sommi auctores fiorentini e nel solco della prodigiosa fortuna di Firenze borghese e mercantile nell’età comunale, ed è codificato dalla regolamentazione grammaticale cinquecentesca, è il fondamento dell’italiano comune; si può dir meglio che la lingua comune e nazionale italiana è il fiorentino quale è venuto affermandosi e imponendosi attraverso una serie complessa di vicende culturali e sociali in Italia come lingua di tutta la nazione nel corso della nostra storia civile. (Vitale 1984: 9) Dieser Prozeß der Herausbildung der italienischen Sprache im Sinne einer Li‐ teratursprache und einer Gemeinsprache ist in der Sprachbetrachtung syste‐ matisch strikt zu trennen (cf. Ellena 2011: 17) von der über mehrere Jahrhunderte unter verschiedenen Vorzeichen sich vollziehenden Kontroverse über die „rich‐ tige“ Art eines zu normierenden Italienischen. Il complesso dei problemi intorno al volgare, alla lingua grammaticale nuova che di‐ venta lingua nazionale e comune d’Italia, che si pongono e si discutono con appassi‐ onato e vivace calore per tutti i secoli nel corso della nostra storia letteraria e gram‐ maticale in conseguenza delle condizioni che si sono sommariamente illustrate (natura della lingua: fiorentina o italiana; norma del suo impiego: lingua scritta e lingua par‐ lata; dilatabilità dei suoi confini: lingua antica e lingua moderna; adattabilità ai tempi nuovi: lingua morta e lingua viva; funzionalità in circostanze storiche rinnovate: lingua come letteratura o lingua come strumento sociale; etc.) costituisce la cosiddetta questione della lingua le cui ragioni hanno, dunque, profonde e salde radici storiche. (Vitale 1984: 12) Die questione della lingua umreißt dementsprechend den Findungsprozeß einer adäquaten Literatursprache (und später auch mündlichen Standardsprache) des Italienischen zu Beginn der Frühen Neuzeit im Kontext der Renaissance und eines sich entwickelnden Bewußtseins für die eigene Volkssprache in Ausei‐ nandersetzung mit dem Lateinischen. Die damit zusammenhängende Gelehr‐ tendebatte, die sich über einen Zeitraum von mindestens mehr als einem Jahr‐ 194 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="195"?> 311 „Essa [la questione della lingua] è il prodotto delle riflessioni nate dall’incertezza della norma linguistica nei primi decenni del secolo [il Cinquecento] e dal desiderio di porvi remedio“ (Migliorini 2007: 310). 312 Diese Auseinandersetzung zwischen dem Latein als etablierter Schrift- und Kultur‐ sprache und der Volkssprache wurde beispielsweise in Frankreich und Spanien sowie auch in anderen europäischen Ländern bereits im Mittelalter zugunsten der Volks‐ sprache entschieden, auch wenn die komplette Verdrängung des Lateins sich dann noch viele weitere Jahrhunderte hinzog (cf. Klein 1957: 97). Zu einigen Exempeln bezüglich der Auseinandersetzung der europäischen Sprachen mit dem Latein cf. den Sammel‐ band von Guthmüller (1998). hundert erstreckt, ist in erster Linie als eine Normdiskussion zu begreifen, 311 in der versucht wird, vor dem Hintergrund des bereits seit der Antike normierten und diskurstraditionell weit gefächerten Lateins, auf der Basis einer schon früh kanonisierten Literatur mit stilistisch elaborierten Texten mit entsprechendem Prestige, das Italienische auf ein mehr oder weniger gleichwertiges Niveau zu heben. 312 Das Prestige sollte dabei durch die Selektion von Varietäten - und dann im Einzelnen auch von Varianten - erreicht werden, sowie durch die im Zuge dieses Prozesses normative Fixierung dieser selegierten sprachlichen Formen. Die Selektion betrifft dabei sowohl grammatische wie auch lexikalische Formen bzw. Konstruktionen bzw. anders ausgedrückt, spielt sich unter Einbeziehung der dann später hinzukommenden Frage nach dem mündlichen Gebrauch auf allen Ebenen der Sprache ab (phonetischer, morphologischer, syntaktischer, le‐ xikalischer). Referenz ist dabei vorrangig die noch „junge“ volkssprachliche Li‐ teratur mit ihren Hauptvertretern Dante, Petrarca, Boccaccio und den dadurch abgedeckten Literaturgattungen und Stilregistern. Marazzini (1993a) faßt dieses Gesamtphänomen mit seinen wichtigsten Einzelproblemstellungen konzis zu‐ sammen: Risolvere questi problemi [di selezione] significa stabilire in via prioritaria che cosa l’italiano fosse, in qual luogo avesse avuto origine, quale città o regione potesse essere considerata culla della lingua, e potesse pertanto attribuirsi il diritto di controllare la lingua stessa nella sua crescita ed evoluzione […]; si dovevano stabilire i modelli della lingua, fissando l’elenco delle relative auctoritates. (Marazzini 1993a: 231-232) Daraus ergeben sich wiederum ganz konkrete Fragestellungen, darunter solche, wie eine adäquate Sprache der Poesie oder der Prosa und ihrer verschiedenen Gattungen beschaffen sein sollte, wieviel Varianz man dabei zulassen kann, welche Sprachform man als Modell für den Schulunterricht sinnvollerweise wählen sollte, wie im einzelnen entsprechende Grammatiken und Wörterbücher zu verfassen sind und vor allem auf Basis welcher Autoren und Werke sowie welcher Epoche dies geschehen solle (cf. Marazzini 1993a: 232). 195 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="196"?> 313 Auch wenn vielleicht ein wenig zu apodiktisch formuliert, sei diesbezüglich auf Ma‐ razzini (2013: 19) verwiesen: „In nessun paese del mondo, però, le discussioni sulla lingua si protrassero così a lungo come in Italia e furono altrettanto ricche e varie, alimentando il dibattito culturale al più alto livello.“ Die Frage nach der zeitlichen Verortung der questione della lingua hängt eng mit der Extension dieses Begriffes zusammen. Tatsächlich ist die italienische Sprachgeschichte - wie auch die anderer romanischer bzw. europäischer Spra‐ chen - von dem Prozeß der Herausbildung einer adäquaten Varietät zum Aus‐ druck der distanzsprachlichen Kommunikation geprägt, wobei dieses potenti‐ elle Idiom sich vor allem in einer Frühphase in Konkurrenz zu der bisherigen dominierenden Kultursprache befand. Die italienische Situation ist jedoch in‐ sofern eine spezifische, als hier bedingt durch die politische und gesellschaft‐ liche Heterogenität im Laufe der Geschichte die verschiedensten Optionen be‐ standen, die in der schließlich als questione bekannt gewordenen Kontroverse über Jahrhunderte von Gelehrten diskutiert wurden. 313 Dabei ist es durchaus möglich, diese Suche nach einer Literatur- und Standardsprache ab ovo, also ab Beginn der Literaturproduktion im volgare, bis zur deren flächendeckender Ver‐ breitung am Ende des 19. Jh. (Einigung Italiens, Einführung der Schulpflicht, Industrialisierung, Binnenmigration, etc.) und in letzter Konsequenz im 20. Jh. (Rückgang der Dialekte, Massenmedien, etc.) zu fassen oder aber dezidiert auf den Kern der Debatte im 15. und 16. Jh. zu begrenzen. Peter Koch (1988b) geht hierbei insofern einen Mittelweg in seiner Periodi‐ sierung, als er sowohl eine Vor- und Frühphase aufzeigt als auch auf die ent‐ sprechenden Ausläufer bzw. Nachwirkungen verweist, die eigentliche questione aber deutlich in der Frühen Neuzeit verortet. Die Sprachgeschichte des Italie‐ nischen ist für ihn in ihrer ersten Periode der beginnenden Schriftlichkeit, die er nach Krefeld (1988: 750) „polyzentrische Ausbauphase“ nennt, gekennzeichnet durch die „Sprachenfrage“ Latein oder Italienisch (volgare), wobei zu dieser Zeit das Lateinische noch relativ unangefochten die Literatur und die Gebrauchs‐ texte dominiert, das volgare sich hingegen nur nach und nach in einigen wenigen Bereichen etabliert (z. B. frühe Lyrik, einzelne Gebrauchstexte). Innerhalb des Italienischen wiederum ergibt sich dabei eine weitere Option, und zwar stellt sich potentiell die Wahl zwischen einem eher latinisierenden Modell mit schwa‐ cher Diatopik (Zentrum Bologna) oder einer stark regional markierten Schrift‐ sprachlichkeit, wie sie sich vor allem in Florenz (Toskana), aber auch in Sizilien, Umbrien oder Venetien herausbildet. Retrospektiv läßt sich dabei bereits die sich später noch verstärkende Dominanz der tre corone-Dichter erkennen und damit eine gewisse Präferenz für das Florentinische. Die geschilderte potentielle Wahl‐ möglichkeit zwischen verschiedenen diatopischen Varietäten, oder vielmehr 196 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="197"?> 314 Reutner / Schwarze (2011: 101) formulieren den Paradigmenwechsel innerhalb der Lati‐ nität besonders drastisch, wobei sie jedoch in gewisser Weise Ursache und Wirkung wenn nicht vertauschen, dann doch in eine einseitige Relation stellen: „Da diese [die Sprachenfrage] letztendlich zugunsten der Volkssprache entschieden wird, wird die starke Rückanbindung des Lateins an die antike Sprache in gewisser Weise zu seinem Todesstoß als lebendige Sprachform.“ Die Diskussion um das adäquate Latein und die Debatte, ob das volgare auch Schriftsprache sein kann, hängen zwar voneinander ab, aber wohl keineswegs in der Weise, daß die Ausdehnung des Italienischen auf ver‐ schiedene Bereiche der Schriftlichkeit den Untergang des „lebendigen“ Lateins verur‐ sacht, sondern wenn, dann indem die Purifizierung des Lateins zur Abkopplung von den Varietäten des Italienischen führt. zwischen Diskurstraditionen, beschränkt sich dabei auf die sogenannte hohe Literatur. Was die Gebrauchstexte anbelangt, so herrscht diesbezüglich weitge‐ hend ein latinisierendes volgare-Modell mit eher schwacher diatopischer Aus‐ prägung vor. Im Zuge des Humanismus und einer erneuten Aufwertung des ohnehin schon seit jeher prestigereichen Lateins entsteht eine „Sprachenfrage“, die durchaus an die eigentliche questione gekoppelt ist, ihr jedoch chronologisch vorausgeht und deren zentrale Fragestellung ist, welche Art des Lateins für Literatur und Wissenschaft adäquat sei. Zur Disposition stehen dabei ein an dem Modellautor Cicero orientiertes Latein sowie ein eher eklektisches, sich aus verschiedenen Vorbildern speisendes (cf. Koch 1988b: 345-346). Nachdem sich jedoch das ciceronianische durchsetzt und zur Leitvarietät des Lateinhumanismus wird, verschärft sich dadurch der Gegensatz zwischen Ita‐ lienisch (mündlich, schriftlich) und Latein (schriftlich) und es kommt endgültig zu einer stark ausgeprägten Diglossiesituation, welche im Mittelalter, zumindest von Gelehrten, mitunter noch als standard-with-dialect wahrgenommen worden war. 314 Während die Sprachenfrage ‚Latein oder Volkssprache‘ im Prinzip alle west‐ europäischen Sprachgemeinschaften tangierte, insofern überall dort, wo das Latein als dominierende Kultursprache die Schriftlichkeit beherrschte, die je‐ weilige Volkssprache ihr einzelne Bereiche nur mühsam abtrotzen konnte und sich dieser Prozeß meist über Jahrhunderte hinzog sowie die „Sprachenfrage“ innerhalb des Lateins eine des gesamten europäischen Humanismus war, ist die darauf folgende eigentliche questione della lingua eine sehr spezifisch italieni‐ sche. Koch (1988b: 346) greift die bisher von ihm ausgemachten Diskussionen in‐ nerhalb der italienischen Sprachgeschichte, also ,Latein (ciceronianisch vs. ek‐ lektisch) vs. Volgare (schwach diatopisch, eklektisch und stark latinisierend vs. stark diatopisch)‘, noch einmal auf und integriert darin die eigentliche Spra‐ 197 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="198"?> 315 Zur „italienischen“ Schriftsprache in Süditalien cf. Michel (2005: 363-364), zu den nord‐ italienischen verschrifteten Varietäten im Rahmen dieser Diskussion cf. Ellena (2011), insbesondere im Hinblick auf eine koiné padana bzw. alto-italiana (ibid. 2011: 43) und zur scuola senese als Opposition zur dominanten Academia della Crusca im Rahmen der lexikographischen Produktion cf. Della Valle (1993: 51-54). chenfrage innerhalb der Gesamt-questione: d. h. die zentralen Alternativen, die dann den Kern der questione-Debatte ausmachen, sind vor allem innerhalb der Option ‚stark diatopisches Volgare‘ angesiedelt, und zwar mit den Möglich‐ keiten, sich zwischen einer florentinischen Varietät als Grundlage der Litera‐ tursprache oder einer anderen toskanischen Varietät (z. B. dem Senesischen) bzw. einer ganz anderen italienischen Varietät zu entscheiden, 315 wobei sich in Bezug auf die Option ‚Florentinisch‘ daran anschließend die Frage stellt, ob man auf das Florentinisch der tre corone oder ein eher aktuelles, zeitgenössisches zurückgreifen sollte; diesen Alternativen steht schließlich noch die Möglichkeit einer lingua cortigiana als spezifische Ausformung des schwach diatopischen, eklektischen Modells gegenüber. Die hier aufgeführten Alternativen werden dabei nur zu Optionen vor dem Hintergrund der Aufwertung der Volkssprache im Zuge eines vor allem in Florenz aufkommenden Vulgärhumanismus (um‐ anesimo volgare), der das Italienische als Ausdrucksmöglichkeit neben dem im Lateinhumanismus (umanesimo latino) präferierten ciceronianischen Lateins überhaupt erst in größerem Maße möglich macht. Koch (1988b: 346, 357) periodisiert die questione della lingua meist eher im‐ plizit als explizit, jedoch ist deutlich herauszulesen, daß für ihn der Höhepunkt der Kerndebatte im Cinquecento stattfand (Phase III ), mit entsprechenden Vor‐ läufern im Quattrocento. Zu dieser Frühphase gehört bei ihm sowohl die Frage ‚Latein oder Volgare‘ (Phase II ) als auch die Diskussion um das adäquate Latein (Phase I). Als eine Art Vorphase kann man in seinem Sinne die von Krefeld (v. supra) als „polyzentrische Ausbauphase“ bezeichnete Periode ab ca. 1200 be‐ trachten, in der das volgare Bereiche der Schriftlichkeit erobert. Analog dazu kann man die Periode vom 17. Jahrhundert bis zu Manzoni (I Promessi sposi: Ventisettana 1827 / Quarantana 1840-42) und zur Einigung Italiens (1861) als eine Art Spätphase (bzw. Nachphase) betrachten, da trotz einer sich bereits ab‐ zeichnenden tendenziellen Ausrichtung am tre corone-Modell, gestützt durch die Academia della Crusca, die Diskussion um Details und Alternativen weiterge‐ führt wird. Koch (1988b: 357) schematisiert dabei diese letzte Phase durch die Optionen ,cruscanisches (tre corone-) Florentinisch vs. aktuelles gebildetes Flo‐ rentinisch vs. anticruscanisches (eklektisch liberales) Italienisch‘. Da zwar einerseits tatsächlich (fast) die gesamte italienische Sprachge‐ schichte von Sprachenfragen geprägt ist, andererseits die metasprachliche Aus‐ 198 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="199"?> 316 So numeriert er zwar die Sprachenfrage ,Latein vs. Volgare‘ als Phase I und gibt gleich‐ zeitig den völlig treffenden Hinweis, daß diese Diskussion nicht auf Italien beschränkt sei und auch nicht den Kern der questione beträfe, jedoch diese beeinflussen würde (cf. Koch 1988b: 346), aber hat gleichzeitig für die auch in seinem Schema präsente Periode nach dem Cinquecento, in dem immer noch wichtige Aspekte diskutiert werden, kei‐ nerlei Nummerierung übrig; er bezeichnet dabei diese Epoche auch gar nicht als Phase, obwohl er deutlich aufzeigt, wie die Themen des 16. Jh. weitergeführt werden (cf. ibid.: 357). 317 Michel (2005: 354) wandelt hier Nietzsche ab, der nicht von monumentalistischer, son‐ dern von monumentalischer Historie (Nietzsche 1984: 19, 25) oder monumentaler His‐ torie (cf. ibid.: 25) spricht (v. infra). 318 Die Arten der Historie werden bei Nietzsche - den Michel (2005: 354) zwar erwähnt, ohne jedoch irgendeinen Beleg dazu anzuführen - folgendermaßen vorgestellt: „Dass das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muß ebenso deutlich begriffen werden als der Satz, der später zu beweisen sein wird - daß ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schade. In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist, eine monumen‐ talische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden“ (Nietz‐ sche 1984: 19). einandersetzung nur ein bis zwei Jahrhunderte besonders virulent ist, spiegelt sich dies auch ein wenig in der Darstellung von Koch, der sich nicht ganz ent‐ scheiden kann, was genau er nun zur questione della lingua in Italien strictu sensu rechnen möchte. 316 Hier sei als Kernphase der questione das 16. Jh. definiert, wie es auch sonst in der Forschung meist üblich ist (v. infra). Michel (2005) übernimmt weitgehend das Modell von Koch, d. h. sowohl die Kategorisierung (Arten der einzelnen Sprachenfragen) als auch die Periodisie‐ rung, erweitert dies jedoch in entscheidender Weise dadurch, daß er es mit der Geschichtstheorie Nietzsches in Verbindung bringt. Dessen Geschichtsauffas‐ sung, die er im zweiten Teil seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1874 unter dem Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben dargelegt hat und die drei Arten der Historie bzw. der historischen Betrachtung beinhaltet, näm‐ lich die monumentalistische, 317 die antiquarische und die kritische, ergänzt nun Michel (2005: 354) noch um die eklektische Perspektive, bei gleichzeitiger Syn‐ thetisierung der antiquarischen und monumentalistischen, da diese beiden in der Renaissance in Bezug auf die questione nicht unterscheidbar seien. 318 Dies führt ihn schließlich dazu, daß er anhand dieser Kriterien die Vertreter der Kern-Diskussion der questione della lingua im 16. Jh. folgendermaßen zuordnet: 199 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="200"?> Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase I / II Latein Volgare Apologeten des Lateins Trecento-Floren‐ tinisch Modernes Floren‐ tinisch Höfische Koiné andere Varietäten R O M O L O A M A S E O (1489-1552) (De linguae usu reti‐ nendo, 1529) P I E T R O B E M B O (1470 - 1547) (Prose della volgar lingua, 1525) N I C C O LÒ M A C H I A ‐ V E L L I (1469 - 1527) (Dialogo intorno alla nostra lingua, ca. 1515) V I N C E N Z O C O L L I (C A L M E T A ) (ca. 1460-1508) (Della volgar lingua, in: Bembo, Castelvetro) F R A N C E S C O F L O R I D O (S A B I N O ) (1511-1547) (Apologia, 1537) S P E R O N E S P E R O N I (1500-1588) (Dialogo delle lingue, ca. 1542) C L A U D I O T O L O M E I (1492 - 1556) (Il Cesano, 1555) A N G E L O C O L O C C I (1474-1549) (in: Piero Valeriano, Dialogo della volgar lingua) C E L I O C A L C A G N I N I (1479-1541) (De institutione Commentatio, 1544) A C C A D E M I A D E L L A C R U S C A (Vocabulario degli Accademici della Crusca, 1612) G I O V A N B A T T I S T A G E L L I (1498 - 1553) (Ragionamento sopra le difficoltà del mettere in regola la nostra lingua, 1551) G I O V A N N I F I L O T E O A C H I L L I N I (1466-1538) (Annotazioni della volgar lingua, 1536) Gemäßigte Apo‐ logeten-Position L E O N A R D O S A L V A T I (1540-1589) (Avvertimenti della lingua sopra ’l „De‐ camerone“, 1586) P I E R F R A N C E S C O G I ‐ A M B U L L A R I (1495-1555) (Gello, 1546) (Della lingua che si parla e si scrive in Firenze, 1551) B A L D A S S A R E C A S ‐ T I G L I O N E (1478-1529) (Il Cortegiano, 1528) C A R L O S I G O M I O (1520-1584) (De Latinae linguae usu retinendo, 1566) B E N E D E T T O V A R C H I (1503-1565) (L’Ercolano, 1570) G I A N G I O R G I O T R I S ‐ S I N O (1478-1550) (Il castellano, 1529) U M B E R T O F O G L I E T T A (1518-1581) (De linguae Latinae usu et praesentia, 1574) C A R L O L E N Z O N I (1501-1551) (Difesa della lingua fiorentina e di Dante, 1556) M A R I O E Q U I C O L A (1470-1525) (Istituzioni al com‐ porre in ogni sorta di rima volgare, 1541) Gegner des Latein (Volgare Befürworter) A L B E R T O L O L L I O (ca. 1508-1568) (Orazione in laude della lingua toscano, 1555) Sienesisch A L E S S A N D R O C I T O ‐ L I N I G I R O L A M O R U S C E L L I (1504 / 1518-1566) O R A Z I O L O M B A R D ‐ E L L I 200 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="201"?> Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase I / II (ca. 1500-1582) (Lettere in difesa de la lingua volgare, 1540) (De‘ Comentarii della lingua ita‐ liana, 1581) (ca. 1542-1608) (Della pronunzia toscana, 1568) V A L E R I O M A R C E L ‐ L I N O (ca. 1536-1593) (Lettera, over Dis‐ corso intorno alla lingua volgare, 1564) B E R N A R D I N O T O M I ‐ T A N O (1517-1576) (Ragionamento della lingua toscana, 1545) Bolognesisch F I L O T E O A C H I L L I N I (1466-1538) (Annotazioni della volgar lingua, 1536) Abb. 4: Hauptvertreter der questione Phase I / II (modifiziert und ergänzt; Michel 2005: 359, Tab.147) Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase III Florentinisch Antiquarisch-monu‐ mentalistische Position (Altflorentinisch) Eklektische Position (Alt- und Neuflorenti‐ nisch) Geschichtskritische Po‐ sition (Neuflorenti‐ nisch) G I O V A N N I F R A N C E S C O F O R ‐ T U N I O (ca. 1470-1517) (Regole grammaticali della volgar lingua, 1516) N I C C O LÒ L I B U R N I O (ca. 1474-1557) (Le vulgari elegantie, 1521) N I C C O LÒ M A C H I A V E L L I (1469 - 1527) (Dialogo intorno alla nostra lingua, ca. 1515) P I E T R O B E M B O (1470 - 1547) (Prose della volgar lingua, 1525) F A B R I C I O L U N A (Vocabulario di cinquemila Vocabuli Toschi, 1536) C L A U D I O T O L O M E I (1492 - 1556) (Il Cesano, 1555) N I C C O LÒ L I B U R N I O (ca. 1474-1557) (Tre fontane, 1526) G I O V A N B A T T I S T A G E L L I (1498 - 1553) (Ragionamento sopra le dif‐ ficoltà del mettere in regola la nostra lingua, 1551) L U C I L I O M I N E R B I (15./ 16. Jh.) (Il Decamerone di M. Gio‐ vanni Boccaccio col Vocabu‐ P I E R F R A N C E S C O G I A M B U L ‐ L A R I (1495-1555) (Gello, 1546) 201 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="202"?> 319 Cf. dazu auch die hier diskutierten Vertreter in den folgenden Kapiteln. Hauptvertreter der questione della lingua (16. Jh.) - Phase III lario di M. Lucilio Minerbi, 1535) (Della lingua che si parla e si scrive in Firenze, 1551) F R A N C E S C O A L U N N O (ca. 1485-1556) (Osservazioni sopra il Pet‐ rarca, 1539) (Ricchezze della lingua vol‐ gare sopra il Boccaccio, 1543) (Fabrica del mondo, 1548) A L B E R T O A C A R I S I O (ca. 1497-1544) (Vocabulario, Grammatica, et ortographia della lingua volgare, 1543) S P E R O N E S P E R O N I (1500-1588) (Dialogo delle lingue, ca. 1542) L E O N A R D O S A L V A T I (1540-1589) (Avvertimenti della lingua sopra ’l „Decamerone“, 1586) Abb. 5: Hauptvertreter der questione Phase III (modifiziert und ergänzt; Michel 2005: 359, Tab. 148) Bei vorliegender Zusammenstellung von Michel ist zu beachten, daß die ein‐ zelnen zum Teil ex post aufgestellten Kategorien und Zuordnungen nicht immer zweifelsfrei sind, da es durchaus Positionen gibt, die nicht prototypisch sind bzw. auch weitere Vertreter nicht immer eindeutig auf eine bestimmte Position reduzierbar sind; 319 zudem haben nicht alle veritable Traktate zu dieser Debatte verfaßt, sondern ihre Meinung eher implizit in Grammatiken, Wörterbüchern oder anderen Schriften zum Ausdruck gebracht. Nichtsdestoweniger hilft die Strukturierung der questione in Bezug auf einzelne Auffassungen wie auch hin‐ sichtlich des zeitlichen Verlaufes, wie sie von Koch (1988b) und Michel (2005) unternommen wurde, das komplexe Ineinandergreifen verschiedener Vorstel‐ lungen und deren Verteidigung - auch in Form von Invektiven - im Ringen der 202 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="203"?> 320 Bezüglich der Tatsache, daß eine solche Kategorisierung auch immer die Gefahr der Vereinfachung und Reduktion einer komplexen Sichtweise birgt sowie der Vernach‐ lässigung von Traktaten bzw. Meinungen, die abseits der Hauptströmungen zu finden sind, führt sehr schlüssig Ellena (2011: 23-24) in ihrer kritischen Betrachtung des Mo‐ dells von Hall (1942: 7) aus, der mit den zwei Kategorienpaaren tuscan vs. antituscan und archaistic vs. anti-archaistic im Sinne einer Matrix arbeitet. 321 Cf. Kap. 6.3.9 Die Hauptströmungen der Questione della lingua vom frühen 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert anhand von Wörterbüchern, Grammatiken und Polemiken (Michel 2005: 384-393) und Kap. 6. 3. 10 Die Hauptströmungen der Questione della lingua vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Herrschaft Napoleons (ibid. 2005: 394-401). 322 Bei den ersten Erwähnungen wird die questione della lingua relativ eindeutig allein mit dem 16. Jh. in Verbindung gebracht (cf. Reutner / Schwarze 2011: 70, 78) und gerade nicht mit der Zeit Dantes; in einer allgemeinen Charakterisierung des Konflikts ,Latein vs. Volgare‘ (ibid. 2011: 80) wird dieser jedoch ebenfalls der questione zugeordnet und die Suche nach der geeigneten Schrift- und Standardsprache ebenfalls, und zwar bis in die aktuelle Gegenwart, ohne dies jedoch weiter zu spezifizieren. An anderer Stelle wird wiederum von der „eigentlichen“ questione gesprochen (ibid. 2011: 116-117), die ihren Höhepunkt in den ersten drei Jahrzehnten des 16. Jh. gehabt hätte - hier also wiederum eine extreme zeitliche Eingrenzung. Renaissance-Gelehrten um eine gemeinitalienische Literatur- und Standard‐ sprache besser zu verstehen. 320 Im Gegensatz zu Koch spricht Michel (2005: 394) auch noch für die Zeit vom 17.-19. Jh. explizit von der questione della lingua und handelt die jeweiligen Diskussionsschwerpunkte nach Jahrhunderten ab, 321 wobei das 19. Jh. allgem‐ einer unter dem Aspekt Sprachtheorie und Sprachpraxis (cf. Kap. 6. 3. 11 bei Mi‐ chel 2005: 401-408) betrachtet wird und nur die Zeit bis Manzoni ausdrücklich der questione zugeordnet wird (cf. ibid. 2005: 401). Die Sprachgeschichte von Reutner / Schwarze (2011), scheint sich bezüglich vorliegender Fragestellung mutatis mutandis an der Gliederung von Marazzini (dt. 2011, it. 2004) zu orientieren, der die storia della lingua italiana strikt nach Jahrhunderten abhandelt. Dabei decken sich hier vor allem zwei wichtige Sub‐ kapitel: Der 1. Punkt im IV . Kapitel (Das 15. Jahrhundert) von Marazzini (2011: 87) heißt dort Latein und Volgare und im V. Kapitel (Das 16. Jahrhundert) ist das 1. Unterkapitel als Italienisch und Latein überschrieben, was bei Reutner / Schwarze (2011: 101, 117) als die entsprechenden Subtitel 5.1 Latein und Volgare in Konkurrenz und 6.2 Die Questione della lingua im 16. Jahrhundert übernommen wird. Daraus läßt sich auch ableiten, daß sich für sie die questione im Wesentlichen auf diese Zeitspanne reduziert - wirklich eindeutig beziehen sie dabei jedoch nicht Position. 322 Für Vitale (1984: 39) beginnt die questione della lingua im 16. Jh. und reicht bis Manzoni (Mitte 19. Jh.), die vorangehende Debatte um ,Latein vs. Volkssprache‘, beginnend bei Dante und dann vor allem virulent im 15. Jh., faßt er unter preli‐ 203 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="204"?> 323 „I temi di essa, s’è già detto, differiscono radicalmente da quelli del passato“ (Vitale 1984: 614). 324 Die im letzten Satz des Zitats angesprochene Diskussion um die Benennung der po‐ tentiellen allgemeinen Schrift-, Literatur- und Standardsprache ist wiederum eine Teil‐ debatte (initiiert vor allem von Machiavelli), wobei die aufgeführten Denominationen nicht mit den üblichen grundsätzlichen Positionen innerhalb der Sprachenfrage gleich‐ gesetzt werden dürfen; hierbei gibt es Konvergenzen, aber keine Deckungsgleichheit. Zu einzelnen Positionen bezüglich der Benennung in Abhängigkeit von der zugrunde‐ liegenden Favorisierung (modello toscano bzw. fiorentino moderno, modello fiorentino arcaizzante oder modello eclettico bzw. lingua cortigiana, cf. Migliorini 2007: 310), d. h. toscano, italiano oder fiorentino cf. Michel (2005: 366-367) sowie Reutner / Schwarze (2011: 126), die weitere Bezeichnungen dieser Debatte wie toscan volgare, tosco, tosco-fi‐ orentino, lingua del sì oder lingua volgare auflisten. Zur reinen Wortgeschichte von latino und volgare cf. Holtus (1987). minari zusammen (cf. Vitale 1984: 15-37); Diskussionen nach der unificazione, die dann die lingua nazionale und ihre Verbreitung betreffen, sowie allgemein moderne Entwicklungstendenzen aufgrund von beispielsweise Massenmedien gehören für ihn nicht mehr zu dieser historischen Debatte. 323 Während bei Koch und Michel die zeitlichen Grenzen der questione nicht immer ganz eindeutig sind - so wird bei beiden Autoren nicht expliziert, ob der polyzentrische Ausbau des Italienischen mit zu einer Früh- oder Vorphase ge‐ hört, die Spätphase ist eher diffus abgegrenzt - ist Marazzini (2013) in seiner Monographie zur Sprachenfrage schon dahingehend programmatisch und ein‐ deutig, insofern er in seiner Neuauflage den Titel entsprechend abändert und damit gleichzeitig ein Statement zum zeitlichen Rahmen abgibt, dessen Eck‐ punkte für ihn eben durch Da Dante alle lingue del Web charakterisiert sind, also einerseits wirklich auch aktuellste Entwicklung mitumfaßt und andererseits Dante klar als Beginn positioniert. Sotto il nome di „questione della lingua“ si indicano, nella tradizione culturale italiana, tutte le discussioni e le polemiche, svoltesi nell’arco di diversi secoli, da Dante ai nostri tempi, relative alla norma linguistica e ai temi essa connessi. Questi temi, pur nella sostanziale analogia, non furono uguali in tutti i periodi storici. All’inizio, nel Medi‐ oevo e durante l’Umanesimo, si trattò di riconoscere e rivendicare la dignità del vol‐ gare, o di negarla, in nome della superiorità del latino. Nel Cinquecento si discusse a lungo sul nome da attribuire all’idioma letterario, se dovesse essere detto toscano, fiorentino, lingua comune o lingua italiana. (Marazzini 2013: 15) 324 Auch Marazzini (2013) sieht durchaus den Kern der Debatte - vor allem la questione della norma (ibid. 2013: 19) - im Cinquecento, insofern erst zu dieser Zeit (mit gewissen Vorläufern und anderen Schwerpunkten im vorhergehenden Jahrhundert) la „totalità degli uomini di lettere“ (Marazzini 2013: 23) betroffen 204 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="205"?> 325 Cf. dazu auch Ellena (2011: 18): „Umgekehrt ist die Normdiskussion auch Spiegel sprach‐ licher Entwicklung. Es scheint unmöglich zu bestimmen, bis zu welchem Grad die Questione della lingua schon manifeste sprachliche Verhältnisse abbildet und verarbeitet und inwieweit der Vorstoß der Leitvarietät in immer mehr Kommunikationsbereiche und ihr letztendlicher Ausbau zur italienischen Nationalsprache hauptsächlich durch die literarischen Modelle und damit auch ohne eine solch ausgeprägte Debatte erfolgt wären, wie sie in Italien über lange Zeiträume hinweg belegt werden.“ 326 Die einzelnen involvierten Bereichen könnte man ohne weiteres noch ergänzen, z. B. Historiographie, Philosophie, Sprachreflexion, Poetik, etc. war. Er rechtfertigt aber Dante als initium mit der Tatsache, daß in De vulgari eloquentia und im Convivio das erste Mal diesbezügliche metasprachliche Re‐ flexionen angestellt wurden, auch wenn eine gewisse zeitliche Lücke bis zur Wiederaufnahme dieser Argumente zu konstatieren ist. Dabei betont er auch nochmal, daß die questione della lingua, trotz dieser weiten zeitlichen Klamme‐ rung, keinesfalls in toto mit der italienischen Sprachgeschichte gleichzusetzen ist, jedoch ein wichtiger Teil von ihr sei. 325 Die Vielfältigkeit der Debatte im Laufe der Jahrhunderte äußert sich zum einen in Bezug auf die behandelten Frage‐ stellungen (v. supra), aber auch hinsichtlich der betroffenen Fachbereiche (Li‐ teratur, Rhetorik, Grammatik) 326 und der konkreten Auswirkungen (Schule, Bil‐ dung i.w.S., Politik und Sprachpolitik, Verwaltung, Jurisprudenz, Wissenschafts- und Kulturbetrieb) (cf. Marazzini 2013: 17). Führt man sich die verschiedenen implizit oder auch explizit formulierten Vorstellungen zur zeitlichen Einordnung bzw. Begrenzung der questione della lingua vor Augen, so kann man als conclusio zumindest eine grundsätzliche Zweiteilung vornehmen, und zwar dahingehend, daß man die allgemeine Sprachreflexion in Bezug auf das Italienische - dazu gehört auch sein Verhältnis zum Latein - zumindest theoretisch strikt von der eigentlichen Normdiskussion trennt, wobei beide Ebenen in einem Inklusionsverhältnis zueinander stehen. Dies hat zur Folge, daß der früheste Zeitpunkt, wie auch bei Marazzini dargelegt (v. supra), der Diskurs bei Dante ist; da aber sein volgare illustre erst mit der (Neu)Veröffentlichung durch Trissino (1529) in gewissem Maße Einfluß auf die Debatte um das adäquate Italienisch der Literatur bzw. der Schriftlichkeit all‐ gemein haben konnte, bleibt Dante erratisch und die Debatte ist in ihrem Kern im 16. Jh. anzusiedeln (cf. Vitale supra). Auf der anderen Seite kann man von der Zeit nach Manzoni oder spätestens nach der Einigung Italiens und den damit verbundenen sprachlichen Folgen nicht mehr im engsten Sinne von der einst in der Renaissance begonnenen Sprachenfrage sprechen. Es verbleibt zwar wei‐ terhin Diskussionspotential - man denke dabei an die nuova questione della lingua, die Pier Paolo Pasolini (1922-1975) in der Zeitschrift Rinascita (26. 12. 1964) aufwirft (cf. Parlangèli 1979) oder die Frage, ob es ein neo-standard 205 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="206"?> gäbe (Berruto 1987, v. supra) - dennoch berührt dies nicht mehr den Kern der einstigen diatopischen und normativen Problematik. In einer Graphik kann man die verschiedenen zeitlichen Rahmen deshalb folgendermaßen darstellen: Abb. 6: Chronologie der questione della lingua in Italien Es bleibt festzuhalten, daß die Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache in Italien eine intensive war, die sich über viele Jahrhunderte erstreckte, in denen je unterschiedliche Kernfragestellungen virulent waren, die von einer mehr oder weniger großen Anzahl von Gelehrten aufgegriffen wurden. Bis an die Schwelle zum 20. Jh. blieb jedoch sowohl die metasprachliche Diskussion um die adäquate Sprache als auch das sich herausbildende italiano (comune) „das Ausdrucksmittel einer sozialen Oberschicht“ (Bagola 1991: 21) bzw. „kulturellen Führungsschicht“ (ibid.), die unabhängig von politischen Differenzen und der vielfachen staatli‐ chen Zersplitterung Italiens existierte und für die die gemeinsame Sprache einen kulturellen Identifikationsfaktor darstellte. Schließlich verbleibt noch zur Verortung des hier fokussierten Themas die Frage nach der Sprache der Römer bzw., welche Art(en) von Latein in der Antike gesprochen bzw. geschrieben wurden. Sicherlich gehören die im Zuge jener De‐ batte aufgeworfenen sprachhistorischen Probleme nicht zum Kern der ques‐ tione, aber zweifelsohne handelt es sich dabei auch um eine Sprachenfrage, eine, die sehr wohl eng mit den einzelnen Positionen innerhalb der questione ver‐ knüpft ist. Die Vorstellungen von der je eigenen zeitgenössischen Situation in Bezug auf das Verhältnis volgare vs. Latein sowie hinsichtlich der Frage nach Stilregistern und der Adäquatheit einer bestimmten Varietät für einen be‐ stimmten Anlaß werden immer wieder auf die antike Situation übertragen, aber auch umgekehrt liefert die in der antiken Rhetorik sich widerspiegelnde Ver‐ flechtung von einzelnen Varietäten Denkanstöße zur Lösung der eigenen aktu‐ 206 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="207"?> ellen Problematik. Insofern kann man diese Diskussion, deren Chronologie in vorliegender Untersuchung durch die Eckdaten 1435 und 1601 begrenzt wurde, durchaus als Teil der questione im weiteren bzw. weitesten Sinne sehen. Dar‐ überhinaus sind die Positionen der einzelnen Humanisten bezüglich der hier diskutierten antiken Sprachenfrage, oft nicht ohne den Kontext ihrer vertre‐ tenen Ansichten in der questione im engen Sinne, verständlich (cf. Rekontextu‐ alisierung). 6.1.3 Die „Barbarenthese“ im Kontext von generatio, alteratio und corruptio In der Renaissance findet ein Paradigmenwechsel in der Historiographie statt, der auch wichtig für die Sprachbetrachtung ist. Man löst sich in der Vorstellung der eigenen geschichtlichen Verortung von einer teleologischen Linearität und christlichen Determiniertheit. Mit der Wiederentdeckung der Antike und der Positionierung des Individuums verändert sich auch der Blick auf die eigene unmittelbare Geschichte und die vergangener Jahrhunderte sowie auf die in dem jeweiligen historischen Kontext Agierenden, die nicht mehr unter dem Aspekt eines göttlichen Plans betrachten werden. Verglichen mit den vorangehenden Jahrhunderten zeichnet sich die Renaissance durch ein gesteigertes Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Epoche aus: Man begreift sich nicht länger in der Kontinuität einer Zeitspanne, sondern nimmt vor allem Abstand und Distanz zu früheren Epochen wahr. Dieser Wandel der histo‐ rischen Wissensordnung resultiert im wesentlichen aus der Ersetzung heilstheologi‐ scher Vorgaben durch profane Ereignisgeschichte als Orientierungsmaßstab des his‐ torischen Bewußtseins: An die Stelle göttlichen Eingreifens in den Gang der weltlichen Angelegenheiten tritt die klassische Antike. (Münkler / Münkler 2005: 132) Dieses veränderte Verständnis von Geschichte und ihrem Verlauf hat einen ganz anderen Umgang mit den zugrundeliegenden Quellen zur Folge und mündet in eine andere Form der Darstellung von Ereignissen und Zusammenhängen. Die Loslösung von einer heilsgeschichtlichen Orientierung sowie die kritische Er‐ schließung der historischen Zeugnisse und nicht zuletzt die Reflexion der ei‐ genen historiographischen Tätigkeit legen den Grundstein für eine moderne Geschichtsschreibung. Dies zeigt sich beispielsweise bei Leonardo Bruni (1370-1444), in dessen Historiarum Florentinarum libri XII (1416-1444) die Le‐ 207 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="208"?> 327 Giovanni Villani (ca. 1280-1348) läßt seine Nuova Cronica (ca. 1315-1348) in biblischer Zeit beginnen, wobei die Verteilung der Schilderung der historischen Ereignisse inso‐ fern äußerst ungleichmäßig verteilt ist, als die ersten sieben Bücher vom Ursprung bis 1265 reichen und die folgenden sechs jedoch allein der jüngsten zeitgenössischen His‐ torie gewidmet sind (cf. Luzzati 2002: 434). Sein Bruder Matteo Villani (ca. 1280-1363) und dessen Sohn Filippo Villani (ca. 1325-1404) führen die Chronik fort und ergänzen die Ereignisse der jüngsten, vor allem florentinischen Geschichte. 328 Platon nimmt ein zyklisches Modell von Staatsformen an: Aristokratie, Timokratie, Oligarchie, Demokratie, Tyrannis (cf. Platon Polit. VIII, 1-2 (543a-545c); 2000: 648-655). Er rekurriert dabei aber auch auf das Werden und Vergehen im Tier- und Pflanzenreich: „Da aber alles Gewordene untergehen muß […], wenn für jede Gattung die Lebenspe‐ riode ihren Kreislauf schließt […]“ (Platon; Polit. VIII, 3 (546a); 2000: 655-657). genden, Fabeln und Wunder der von ihm konsultierten Chronik von Villani 327 als Erklärungsmodell keinen Eingang fanden, sondern er das Handeln der ein‐ zelnen Protagonisten durch Interessenslagen und rationale Entscheidungen zu begründen sucht. Der Abstand der eigenen Epoche zu anderen Jahrhunderten, die eben auch durch eine andere Geisteshaltung zu charakterisieren sind, wird bei Flavio Biondo (1392-1463) in seinem Werk Historiarum ab inclinatione Ro‐ manorum decade (1440-1452) deutlich, der für die Zeit zwischen der Antike und der eigenen den Begriff medium aevum einführt (cf. Münkler / Münkler 2005: 132-133). In diesem Kontext ist es letztendlich auch nicht verwunderlich, daß man sich im Zuge der Sprachreflexion, die ja bereits mit Dante einsetzt, für geschichtliche Prozesse interessiert bzw. für das, was man heute als Sprachwandel bezeichnet. Erste Indizien für die Frage, was mit der von Generation zu Generation weiter‐ gebenden Sprache passiert, wie sie sich verändert, finden sich schon in De vul‐ gari eloquentia, doch erst im Kontext des sich verändernden Geschichtsbe‐ wußtseins - diesbezüglich war Dante noch ganz dem Mittelalter verhaftet - gewinnt diese Fragestellung eine neue Bedeutung und Virulenz. Das allgemeine neu entstandene Bewußtsein für Historizität wird dabei über‐ lagert von dem Konzept des zyklischen Verlaufs der Geschichte, welches in seinen Ursprüngen auf antike Vorstellungen von einer Abfolge von Kulturen, Herrschaften oder dem allgemeinen Werden und Vergehen zurückgeht. Bereits bei Platon (Politeia, VIII ) 328 finden sich Aspekte der Zyklentheorie, aber für die Auffassung in der Renaissance sind es vor allem die Konzepte von generatio, alteratio und corruptio, die in der aristotelischen Schrift De generatione et cor‐ ruptione (Περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς) ausgeführt werden und in die Argumenta‐ tion zum Sprachwandel der rinascimentalen Gelehrten Eingang findet. De generatione autem et alteratione dicamus, quid differunt: dicimus enim alteras esse has transmutationes ad invicem. Quoniam igitur est aliquid subiectum et aliud passio, 208 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="209"?> 329 Zum griechischen Original cf. Aristotle (De gen. et corrupt. (gr.) I, 4, 5-20 (319b); 1955: 201-203; ). que de subiecto innata est dici, et est transmutatio utriusque horum, alteratio quidem est, quando manente subiecto sensato ente transmutat in eius passionibus aut con‐ trariis aut mediis, puta corpus sanum est rursus laborat manens illud idem; et metallum rotundum, quandoque autem angulare, idem ens. Quando autem totum transmutat non manente aliquo sensato ut subiecto eodem, sed quasi ex semine sanguis toto aut ex aqua aer aut ex aere omni aqua, generatio iam hoc tale, huius autem corruptio, maxime autem, si transmutatio generabitur ex insensato in sensatum aut tactu aut omnibus sensibus, puta quando aqua generatur aut corrumpitur in aerens: aer enim valde insensatum. (Aristoteles De gen. et corrupt. (lat.) I, 4, 5-20 (319b); 1986: 23-24) 329 Aristoteles versteht demnach unter alteratio eine Veränderung, die jedoch keine grundlegende ist, da die Substanz der Sache oder des Wesens davon unberührt bleibt, wie das Beispiel des einmal kranken und dann wieder gesunden Men‐ schen oder des sich verändernden Metalls deutlich macht (idem ens). Wenn hin‐ gegen etwas vollkommen Neues entsteht (totum transmutat), wie eben aus dem Samen Blut (ex semine sanguis) oder aus dem Wasser Luft (ex aqua aer) bzw. umgekehrt, dann wird dieser Prozeß als generatio bezeichnet, während der damit einhergehende Verfall als corruptio definiert wird. In diesem Sinne bedingen sich corruptio und generatio gegenseitig und können im Rahmen eines Ablöseproz‐ esses als zyklisch interpretiert werden. In der Renaissance kommt diese Vorstellung vom Werden und Vergehen in‐ sofern wieder zum Tragen, als man sich zu dieser Zeit selbst am Ende eines abgeschlossenen Zyklus’ sieht und damit gleichzeitig am Anfang eines epo‐ chalen Neubeginns (cf. rinascere, rinascita), mit dem Ziel einer Abgrenzung vom vorangehenden Zeitalter (cf. medium aevum) und der Anknüpfung an die An‐ tike. In Parallelität zum Kreislauf des Lebens beim Menschen (Geburt, Wachstum, Tod) sowie bei den Pflanzen (Wachstum, Blühen, Vergehen) oder schlicht des Tagesablaufes wird auch ein Zyklus der Kulturen angenommen und dies letztendlich auch auf die Sprache übertragen (cf. Schunck 2003: 10-11). Prägnant wird das von Giovan Giorgio Trissino (1478-1550) in seinem Castel‐ lano (1570) formuliert: „Tutte le lingue hanno il principio, lo augmento, il stato, la declinazione e la rovina […]“ (Trissino 1570: 33-34). Der erste, der im 15. Jh. das zyklische Modell auf den Sprachwandel über‐ tragen hat, war Flavio Biondo, der in seinem Brief Leonardus Flavio Forolivi‐ ensi S. Quaerit an vulgus et literati eodem modo per Terentii Tulliique tempora Romae locuti sint (1435) die Verderbtheit des Lateins, verursacht vor allem durch germanische „Barbaren“ (v. infra: Gothi, Vandali) als grundlegendes Erklärungs‐ 209 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="210"?> 330 „Tavoni (1984: 165-168) bestreitet, daß bereits im 15. Jh. diese Auffassungen durch eine direkte Aristoteles-Rezeption bedingt seien: „Ma è del tutto indimostrato che Biondo Flavio e Leon Battista Alberti, come gli altri della linea-Biondo che il Faithfull non prende in esame, ragionassero in termini di alteratio“ (ibid. 1984: 167). Insbesondere für Alberti sieht er das nicht, da dieser in seiner Grammatica della lingua toscana (ca. 1450) das Italienische als eine „lingua perfettamente autonoma“ (ibid.) beschreiben würde. Zudem sei zwar die Unterscheidung bei Faithfull in eine humanistische und eine vitalistische Argumentationsweise zutreffend, jedoch würde sich nur letztere aus der Naturphilosophie des Aristoteles speisen können (ibid.). Allerdings führt er auch kein weiteres Erklärungsmodell an, wie es sein kann, daß die Gelehrten des Quattrocento dieses aristotelische Gedankengut ignoriert hätten, dann aber ein Jahrhundert später, wie beispielsweise bei Varchi in seinem Ercolano (1570), explizit darauf Bezug ge‐ nommen wird und dies alles im gleichen Kontext der Korruptionsthese: „la corruzione d’una cosa è (come ne insegna Aristotile) la generazione d’un’altra“ (Varchi, Ercol., 1804 II: 32). Schunck (2003: 18, FN 57) hält zwar einerseits an der Unterscheidung alteratio vs. generatio auch für das Quattrocento fest und wendet sich in Bezug auf Biondo gegen Marazzini (1989: 18), der von Biondos volgare als einer „nuova lingua“ im Sinne von generatio spricht, andererseits beschränkt sie sich explizit aufs Cinquecento und weicht somit der Problemstellung Tavonis aus. 331 Die Datierung des Proemio ist hier wichtig, da sonst Ungereimtheiten in Bezug auf die Chronologie entstehen - insbesondere bezüglich Biondo vs. Alberti - wie bei Schunck modell zur Entstehung des Italienischen entwickelt. Für die folgenden knapp zwei Jahrhunderte wird es ein kontroverses Thema bleiben, welches heutzutage als „Barbarenthese“, „Germanenthese“ bzw. italienspezifisch als „Langobarden‐ these“ (it. teoria della catastrofe) oder „Korruptionsthese“ (bzw. „cor‐ ruptio-These“) Eingang in die Wissenschaftsliteratur gefunden hat. Temporibus vides quae Ciceronis aetatem praecesserant illos qui aut extra Romam vixerant, aut Romae domesticam habuerant aliquam barbariem, a nitore locutionis romanae aliqualiter recessisse, et barbarie illa infuscatos fuisse: postea vero quam urbs a Gothis et Vandalis capta inhabitarique coepta est, non unus iam aut duo infiscati, sed omnes sermone barbaro inquinati ac penitus sordidati fuerunt; sensimque factum est, ut pro romana latinitate adulterinam hanc barbarica mixtam loquelam habeamus vulgarem. (Biondo, De verb Rom. XXV, 109-110; 1984: 214) In Bezug auf Biondo geht Faithfull (1953: 284-285) vom Fall der alteratio aus, da diesem - wie auch anderen Gelehrten des Quattrocento - bewußt wurde, daß die zeitgenössische Volkssprache etwas Neues war und somit nicht ab antiquo existierte, jedoch in ihrer Substanz immer noch Latein war, sich also nur die Akzidenz geändert hatte. 330 Bereits kurze Zeit später wird die Theorie von den Barbaren als Verursacher eines korrumpierten Lateins von Leon Battista Alberti (1404-1472) wiederauf‐ gegriffen, und zwar insofern, als er im Proemio (1437) 331 des dritten Buches von 210 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="211"?> (2003: 19, FN 61), die Della famiglia nur mit 1432 datiert. Hier sei auf Tavoni (1984: 42) rekurriert, der das Proemio des 3. Buches explizit auf 1437 festlegt, während die ersten drei Bücher ansonsten wohl in den Jahren 1432-1434 entstanden sind, das vierte hin‐ gegen erst etwa zwischen 1437 und 1440 / 1441 (cf. Alberti, Della fam.; 1994: IX; cf. Scarpa 2012: 71). 332 „[…] la corruzione di quelle n’ha un’altra molto leggiadra e molto nobile generata“ (Tolomei, Ces. 43v (47-48); 1996: 37). I libri della famiglia (1432-1441) die Entstehung des zeitgenössischen volgare in Italien auf die zahlreichen Invasionen der fremden Völker zurückführt (v. infra: Gallici, Gothi, Vandali, Longobardi e altri simili barbare), die so die Sprache ver‐ dorben hätten. Cosa maravigliosa intanto trovarsi corrotto o mancato quello che per uso si conserva, e a tutti in que’ tempi certo era in uso. Forse potrebbesi giudicare questo conseguisse la nostra suprema calamità. Fu Italia più volte occupata e posseduta da varie nazioni, Gallici, Gothi, Vandali, Longobardi e altre simili barbare e molto asprissime gente. E, come necessità o volontà inducea, i popoli, parte per bene essere intesi parte per far più ragionando piacere a chi essi obediano, così apprendevano quella o quell’altra lingua forastiera, e quelli strani e adventizi uomini il simile se consuefaceano alla nostra, credo con molti barbarismi o corruptela del proferire. Onde per questa mistura di dí in dí insalvatichí e viziossi la nostra prima e cultissima e emendatissima lingua. (Alberti, Fam., Della fam. III, proemio, 24-37; 1994: 188) Aus der Verwendung der Begriffe corruptela, insalvatichire oder viziarsi leitet Faithfull (1953: 285) ab, daß es sich auch bei Alberti um eine Veränderung im Sinne von alteratio handelt, da er nicht die Entstehung einer völlig neuen Sprache annimmt, sondern das Italienische als eine Art von korrumpiertem La‐ tein begreift. Die Frage, ob etwas Neues entstehe, also generatio vorliegt, oder ob nur eine Veränderung von bereits Existierendem anzunehmen ist (alteratio), beschäftigt dann vor allem die Gelehrten im 16. Jh., die diesen Gegensatz auch explizit the‐ matisieren, wie beispielsweise Claudio Tolomei (1492-1556) in seinem Werk Il Cesano (1555) 332 oder auch Benedetto Varchi (1503-1565), der im Ercolano (1570) ein ganzes Kapitel dieser Problematik widmet: Se la lingua volgare è una nuova lingua da se, o pure l’antica latina guasta e corrotta (cf. Varchi, Ercol., 1804 II : 30). Schunck (2003: 18-21) weist in diesem Kontext darauf hin, daß im 16. Jh. im Gegensatz zum 15. Jh. die Entstehung der italienischen Volkssprache als gene‐ ratio verstanden wird und damit als etwas Positives, trotz der vorangehenden corruptio durch die Germanen (bzw. Barbaren). Dies zeigt sich - wenn auch noch nicht so explizit wie bei späteren Autoren - bereits bei Pietro Bembo 211 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="212"?> 333 Cf. auch Bahner (1983: 181): „Gegenüber dem Geschichtsbild des späten Mittelalters, in dem die Idee des Niedergangs und der moralischen Korruption thematisiert wurde, brachte die von den italienischen Humanisten vertretene Kreislauftheorie eine opti‐ mistische Perspektive. Die eigene Zeit verstand man als vielversprechenden Neubeginn, durch Wiedereroberung der antiken Kultur einem neuen Höhepunkt entgegenzu‐ streben.“ 334 Manche der für die „Korrumpierung“ verantwortlich gemachten Superstratvölker waren jedoch keine Germanen, wie die gelegentlich angeführten Hunnen oder Alanen. (1470-1547) in den Prose della volgar lingua (1525), der den Protago‐ nisten M. Ercole fragen läßt, „se la nostra lingua non era a quʼ tempi nata, neʼ quali la latina fiorì, quando e in che modo nacque ella? “ (Bembo, Prose, 1966: 86), woraufhin ihm M. Frederigo antwortet, daß dies nach der Invasion der Barbari geschehen sei und daraus eine neue Sprache geboren wurde („nascessene una nuova“ (ibid.)), wobei er auch auf die Pflanzenmetapher (v. supra) rekurriert („le piante che naturalmente vi nascono“ (ibid.)). 333 Unabhängig von der Frage, ob eine Veränderung im Sinne von alteratio oder eine dadurch verursachte generatio als Neubeginn vorliegt, ist der These Biondos von der corruptio des Lateins durch die Barbaren und dem daraus entstehenden volgare eine große Nachwirkung beschieden gewesen. Bereits innerhalb we‐ niger Jahrzehnte wird das Thema von verschiedenen Gelehrten wiederaufge‐ griffen und bleibt auch im folgenden Jahrhundert als Argument und Kontroverse virulent. Die ersten, die dies in ihren Schriften als Diskussionsgegenstand auf‐ nahmen, waren neben Leon Battista Alberti vor allem Poggio Bracciolini (1380-1459), Guarino Veronese (1374-1460), Francesco Filelfo (1398-1481), Lo‐ renzo Valla (1407-1457) und Paolo Pompilio (1455-1491) (cf. Coseriu 2003: 149-159; Ellena 2011: 64-66). Im 16. Jh. schließlich griffen das Thema, wie bereits erwähnt, vor allem Pietro Bembo (1470-1547) wieder auf, der die corruptio in seine „Mischsprachenthe‐ orie“ integrierte, die im Folgenden dominierte. Weitere wichtige Autoren, die mit entsprechenden Modifikationen Biondos Grundidee weitertradierten, waren neben Claudio Tolomei (1492-1556) und Benedetto Varchi (1503-1565), unter anderem Baldassare Castiglione (1478-1529), Girolamo Muzio (1496-1576) und Lodovico Castelvetro (1505-1571). Während bei der Mehrzahl der Humanisten die germanischen Superstratvölker als Auslöser für die Kor‐ rumpierung des Lateins ausgemacht wurde und man deshalb auch von der „Germanenthese“ sprechen kann, 334 gab es auch einige, die die Substratvölker in den Vordergrund rückten, ohne daß die zeitliche Schichtung der Beeinflus‐ sung immer deutlich wird. Hierzu wären vor allem Pier Francesco Giambullari (1495-1555) und Giovan Battista Gelli (1498-1553) zu nennen, die einen ara‐ 212 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="213"?> 335 Zu den einzelnen Thesen zum Ursprung des Französischen (griechisch, hebräisch / se‐ mitisch, keltisch) cf. Coseriu (2020: 145-169). 336 Der Superstrattheorie geht die Substrattherorie von Graziado Isaia Ascoli (1829-1907) voraus, die nach einem ähnlichem Prinzip funktioniert. Zu Entstehung der Substrat‐ theorie cf. Schöntag (2013: 281-283, 290-292). mäisch-etruskischen Ursprung postulierten und mit Tolomei mitunter als Ver‐ treter der sogenannten „Etruskerthese“ kategorisiert werden. Die Korruptionsthese fand schließlich auch in Frankreich weite Verbreitung wie beispielsweise bei Joachim du Bellay (1522-1560), Estienne Pasquier (1529-1615), Claude Fauchet (1530-1602) oder César Chesneau Du Marsais (1676-1756), aber auch in Spanien bei Antonio de Nebrija (1441-1522) und Ber‐ nardo Aldrete (1560-1641) oder in Portugal bei Duarte Nunes de Le-o (1530-1608). Unabhängig davon wie stark die corruptio betont wurde oder teil‐ weise ganz in den Hintergrund trat, entwickelten sich in Frankreich im Zuge der allgemeinen Debatte zum Sprachursprung verschiedene Thesen zur Her‐ kunft der Volkssprachen, in denen das Germanische meist mit Substrat- oder Adstratsprachen verknüpft wurde. Als Grundlage wurde hierbei oft das Gallo‐ lateinische angenommen, in übersteigerte Form eines keltischen Einflusses wie z. B. bei Jean Picard de Toutry (15./ 16. Jh.) in De prisca Celtopaedia (1556) auch als „Keltenthese“ zu apostrophieren (cf. auch Pasquier, Fauchet). In dem Ringen um Prestige und eine einzigartige Charakteristik der eigenen Volkssprache ge‐ genüber den romanischen Nachbarsprachen und dem Latein, wurde auch ein übersteigerter griechischer Einfluß postuliert; so zunächst bei Joachim Périon (ca. 1499-1559) in seinem Dialogorum de linguae Gallicae origine ejusque cum Graeca cognatione libri IV , 1554-1555) oder auch bei Henri Estienne (1528-1598). 335 In Spanien wurde im Gegenzug von einigen Gelehrten außer dem Griechischen (z. B. Juan de Valdés, 1490-1541) und Arabischen (Adstrat) mit‐ unter wie bei Andrés de Poza Yarza (ca. 1530-1595) in seinem Werk De la antigua lengua, poblaciones y comarcas de las Españas (1587) das baskische Element (Substrat) stark hervorgehoben und als wesentliche Grundlage der kastilischen Volkssprache angesehen, weshalb man diesbezüglich von der „Baskenthese“ sprechen kann (cf. Strauss 1938: 105-123; Bahner 1983: 185-189; Schlemmer 1983a: 54-66; Schunck 2003: 17-31). Biondos Korruptionsthese wurde auch über die folgenden Jahrhunderte weiter tradiert und über Adam Smith (1723-1790) und August Wilhelm Schlegel (1767-1845) fand sie schließlich Eingang in die sich neu konstituierende sprach‐ wissenschaftliche Forschung. In modifizierter Form und mit entsprechender Neubewertung finden sich letzte Anklänge in Walther von Wartburgs (1888-1971) Superstratheorie (cf. Coseriu 2003: 159). 336 213 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="214"?> 337 Klein (1957: 57-60), der die rhetorische Argumentation der Lateinhumanisten - wie z. B. von Romolo Amaseo (1481-1552) oder Lazzaro Bonamico (1479-1552) - schildert, die mit Hilfe eben jener Barbarenthese gegen das volgare vorgingen, faßt deren Motto in die Formel: La lingua volgare è la lingua latina guasta e corrotta (ibid. 1957: 57) (cf. Varchi supra). Cf. auch Marazzini (1989: 25): „La teoria delle ‚origini barbare‘ serviva perfetta‐ mente come argomento per i nemici dell’italiano […].“ Doch bereits bei Bembo, Cas‐ tiglione und Muzio wird durch die Begründung, daß durch die corruptio etwas Neues geschaffen würde (generatio), die Korrumpierung des Lateins letztlich in etwas Positives gewendet und die Volkssprache aufgewertet (cf. Schunck 2003: 19-21). Wie allgemein in Europa aus der metasprachlichen Betrachtung einer historischen Situation das Be‐ wußtsein für die eigene Volkssprache geschärft wurde und in den einzelnen Ländern daraus sich eine Aufwertung dieser gegenüber dem Lateinischen entwickelte cf. Haßler (2011: 55-59). 338 Zu einer Definition von Sprachbewußtsein in einer linguistischen metasprachlichen Perspektive cf. Haßler / Niederehe (2000: 8): „Vorgeschlagen wurde als gemeinsame Basis ein Verständnis des Sprachbewußtseins als nachweisbare Reflexion über sprachliche Mittel oder deren Gebrauch, die sich als Erlebnis der sprachlichen Identität oder Alte‐ rität, als Wertung eines bestimmten Sprachgebrauchs, als Akzeptieren, funktionales Einschränken, Verwerfen oder Empfehlen bestimmter sprachlicher Formen darstellen kann.“ 339 Zu allgemeinen Betrachtungen bezüglich lingua morta und lingua viva cf. Lüdtke (2005: 21-29). Die „Barbarenthese“ ist letztlich ein Baustein in der questione della lingua, weil die Frage nach dem Ursprung des volgare immer auch als Argument für oder gegen eine Aufwertung der zeitgenössischen Volkssprache herangezogen werden kann; 337 sie ist aber auch eine Problemstellung, die eng mit dem auf‐ kommenden historischen Interesse in der Renaissance zusammenhängt (v. supra) und erstmals so etwas wie ein dezidiertes historischen Sprachbewußt‐ sein 338 schafft oder wie es Fubini formuliert: „L’operetta del Biondo segna in‐ dubbiamente una data importante nella storia della cultura umanistica: s’era stabilito un rapporto positivo tra lingua e storia […]“ (Fubini 1961: 536). Schlu‐ ßendlich ist die bei Biondo behandelte These zur Entstehung der Volkssprache auch unweigerlich mit der vorliegenden Frage nach der Vorstellung von der Sprachkonstellation in der Antike verbunden. 6.1.4 Das Verständnis von Sprache: lingua morta vs. lingua viva Eng mit der soeben erläuterten Problematik der Barbarenthese verbunden ist die Frage nach der „Lebendigkeit“ des Lateins und des Italienischen bzw. was eine lingua viva ausmacht oder sie von einer lingua morta abgrenzt. 339 Dies wie‐ derum berührt im humanistischen Gelehrtendiskurs ein grundsätzliches Ver‐ ständnis von dem, was unter Sprache zu begreifen sei und wozu sie diene. 214 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="215"?> 340 „ut silvae foliis pronos mutantur in annos, prima cadunt: ita verborum vetus interit aetas, et iuvenum ritu florent modo nata vigentque. […] mortalia facta peribunt, nedum sermonum stet honos et gratia vivax. multa renascentur quae iam cecidere cadentque quae nunc sunt in honore vocabula, si volet usus, quem penes arbitrium est et ius et norma loquendi“ (Horaz, Ars poet., v. 60-72; 1984: 8). Dieses Bild wird auch in der Re‐ naissance wiederaufgegriffen, wie z. B. von Liburnio in seinen Volgari eleganze (1521) oder von Castiglione im Cortegiano (1528) (cf. Faithfull 1953: 280). Ob Horaz mit den verba und vocabula nur auf den lexikalischen Wandel referiert oder diese sinnbildlich für den Sprachwandel an sich stehen, sei dahingestellt. 341 Bereits in seinem unter dem Pseudonym Adriano Franci erschienenen Werk Il Polito (1531), welches vermutlich um 1525 verfaßt wurde, macht er von der Metapher Ge‐ brauch, wenn auch noch nicht so explizit (cf. Faithfull 1953: 280-281). Der Cesano ist als Manuskript wohl spätestens 1529 entstanden, gelangte aber erst 1555 zur Drucklegung (cf. Castellani Pollidori 1996: XLIII-XLVI). 342 Die Datierung der Veröffentlichung liefert unter Umständen nur einen groben An‐ haltspunkt zur relativen Chronologie einzelner Werke in der Renaissance, da nicht selten die Manuskripte schon Jahre zuvor zirkulierten und es so oft schwer feststellbar ist, wer von wem was übernommen hat (cf. Faithfull 1953: 279, FN 3). In vorliegendem Fall ist es unabhängig von der Datierung der Werke, daß Tolomei die Quelle für Citolini ist (cf. Faithfull 1953: 282). Bereits Horaz bringt in der berühmten Passage seiner Ars Poetica die Lebens‐ metapher in Verbindung zur Sprache, indem er die verba bzw. vocabula mit dem Werden und Vergehen der Blätter an einem Baum vergleicht. 340 Auch in der Sprachreflexion der Humanisten seit Dante wird der Sprachwandel thematisiert und dabei mitunter auch indirekt die Lebendigkeit einer Sprache bzw. deren Inexistenz zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, doch erstmals expliziter findet sich das Konzept vom Leben und Tod einer Sprache bei Tolomei, am deutlichsten formuliert in seinem Cesano (1555) (cf. Faithfull 1953: 279-281). 341 Non di meno a me non par giusta cosa lassiarci dalle costoro inique mani ingiuriosa‐ mente percuotere, e la nostra lingua, nel più bel fior de gli anni suoi, quando che ella più viva si mostra, per morta seppellire. (Tolomei Ces., 50v (27); 1996: 43) In engem freundschaftlichen Kontakt mit Tolomei stand Alessandro Citolini (ca. 1500-1582), der jenem auch in seinen gelehrten Betrachtungen wohl einiges verdankt. In seiner 1540 erschienenen Lettera in difesa della lingua volgare 342 wendet er schließlich das Konzept der lingua viva vs. lingua morta auf die beiden in der questione konkurrierenden Sprachen Latein und Italienisch (volgare) an (cf. Faithfull 1953: 280-282). l’altro error’è; che essi parlano di queste due lingue, come s’elle fussero in un mede‐ simo termine: e’ non s’aveggono; che la latina è morta, e’ sepolta ne libri; e’ che la 215 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="216"?> 343 Zum Verständnis des Sprachtodes als Ende einer „Staffettenkontinuität“ cf. Lüdtke (2005: 22), der anhand der Beispiele, Latein, Griechisch und Hebräisch resümiert: „,Tote‘ Sprachen entstehen als solche, d. h. die werden ‚gemacht‘ oder ‚instituiert‘, als beson‐ deres Kulturphänomen in Krisensituationen“ (ibid. 2005: 23). volgare è viva; e’ tiene hora in Italia quel medesimo luogo; che tenne la latina, mentre visse. (Citolini 1540, Lettera, 6-7 (B-B2) [unpaginiert]) Hierbei versteht Citolini unter einer toten Sprache nicht - genausowenig wie wir heute 343 - unbedingt eine völlig ausgelöschte Sprache, von der keine Spuren mehr existieren, wie es beispielsweise Castiglione für das Oskische annahm („della lingua Osca non avemo più notizia alcuna“; Castiglione, Corteg. XXXVI .; 1964: 145), sondern eine, die sepolta in libri (v. supra) ist, d. h. nur über ihre Schriftlichkeit zugänglich. Lebendig hingegen ist eine Sprache, die man auch spricht oder wie Citolini (1540, Lettera, 7 (B2) [unpaginiert]) es formuliert: „ella è viva; e’ come viva crescie, genera, crea, produce, partorisce, e’ sempre si fà piu ricca, e’ piu abondante“. Im Folgenden wird dieses Konzept von verschiedenen Gelehrten aufgegriffen und konstituiert sich als ein Teil der questione della lingua. Die elaborierteste Version findet sich schließlich bei Varchi in seinem Erco‐ lano, der die den lingue vive entgegengesetzte Kategorie der lingue non vive in lingue morte affatto und lingue mezze vive aufschlüsselt, weil ihm klar wird, daß die bestehende Dichotomie die Realität nicht ausreichend abbildet. Dabei bettet er diese Unterteilung in eine Gesamtklassifikation der Sprachen ein, die durch zahlreiche Oppositionen gegliedert ist. Neben der Kategorie der ‚Lebendigkeit‘, d. h. den lingue vive (bzw. non vive), gibt es lingue originali (bzw. non originali), lingue articolate (bzw. non articolate), lingue nobili (bzw. non nobili) und lingue natie, o proprie, o nostrali (bzw. non natie, o aliene, o forestiere) (cf. Marazzini 1993a: 271). Er stellt dabei eine Sprachtypologie auf, die verschiedenen Kriterien gehorcht, die aus heutiger Perspektive mit Begrifflichkeiten wie Sprachtod, Migration, Verschriftlichung, Ausbaugrad, sprachgenetischer Verwandtschaftsgrad, sprachlicher Abstand oder Grad an Interferenz beschrieben werden können. 216 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="217"?> 344 Interessanterweise sieht Varchi hier sehr deutlich die Verbreitung des Lateins außerhalb von Latium im Rahmen der römischen Expansion, so daß alle romanischen Sprachen für ihn lingue non originali sind: „[…] quelle poi, le quali si favellano in alcun luogo, dove elle non abbiano avuto l’origine, e principio loro, ma si sappia che vi siano state portate d’altronde, si chiamano non originali, come fu non solo alla Toscana, e a tutta Italia, dal Lazio in fuori, ma ancora alle Spagne, e alla Francia la Lingua Latina, ment‐ rechè non solo i Toscani, e gl‘ Italiani, ma i Franzesi ancora, e gli Spagnuoli favellano nelle loro provincie Latinamente“ (Varchi 1804 I: 209). 345 Zu den lingue non nobili gibt er kein konkretes Beispiel, es sind aber solche, die entweder gar keine Schriftsteller haben, oder aber zwar ein gewisses Schrifttum aufweisen, jedoch ohne prestigeträchtige Literatur sind bzw. nicht alle Gattungen abdecken (cf. Varchi, Ercol.; 1804 I: 210). 346 „Alcune altre, sebbene non si favellano naturalmente da alcun popolo in luogo nessuno, si possono nondimeno imparare o da’ maestri, o da’ libri, e poi favellarle, o scriverle, come sono la Greca, e la Latina, e ancora la Provenzale; e queste così fatte chiameremo mezze vive, perché dove quelle prime sono morte e nella voce, e nelle scritture, non si Abb. 7: Klassifikation der Sprachen bei Varchi (1804 I: 214) Für Varchi (Ercol., 1804 I: 207-214) sind Sprachen, die er unter originali ein‐ ordnet, autochthone, d. h. solche, die nicht durch die Migration von Völkern in eine Region kamen (Latein, Griechisch); 344 eine lingua articolata ist eine ver‐ schriftete Sprache und eine non articolata entsprechend eine nur mündlich ge‐ brauchte (z. B. die der Brettoni Brettonanti). Als lingue nobili betrachtet er neben dem Latein und dem Griechischen selbstredend das Italienische, welches in dieser prestigeträchtigen Reihung - so ist unschwer herauszulesen - eine Auf‐ wertung erfahren soll; Kriterium ist dabei eine Literatur, die zahlreiche Gat‐ tungen abdeckt. 345 Unter einer lingua morta affatto versteht er eine ausgestor‐ bene Sprache wie beispielsweise das Etruskische und eine lingua mezza viva ist für ihn eine Sprache, die man nicht mehr spricht, aber noch schreibt, was pro‐ totypischerweise für das Lateinische oder (Alt)Griechische zutrifft. 346 217 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="218"?> favellando più, e non s’intendendo, queste seconde sono morte nella voce solamente, perché se non si favellano, s’intendono da chi apparare le vuole“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 210). Mit Provenzale meint Varchi das Altokzitanische der mittelalterlichen Trouba‐ dourlyrik, den Bezug zum zeitgenössischen Okzitanisch sieht er hier noch nicht. 347 Unter lingue natie versteht Varchi solche, die man natürlich lernt, d. h. „nel sentire fa‐ vellare le balie“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 211), und lingue non natie „sono quelle le quali non si favellano naturalmente, ma s’apprendono con tempo e fatica, o da chi le insegna, o da chi le favella, o da’ libri“ (ibid.). 348 Zu einer kurzen Synthese der Kategorisierung von Varchi (mit Graphik) cf. auch Ma‐ razzini (1993a: 271-272). Bezüglich der lingue forestiere (bzw. non natie, aliene) 347 trifft er zusätzlich noch die Unterscheidung zwischen altre und diverse, wobei innerhalb der altre (z. B. (la lingua) Turca, Inghilese, Tedesca) noch unterschieden wird zwischen semplicemente altre, d. h. solchen die für einen Toskanischsprecher komplett unverständlich sind wie das Indische oder Arabische (großer sprachlicher Ab‐ stand bzw. genetisch kaum verwandt), und den non semplicemente altre, welche zwar ebenso unverständlich sind, aber in einer gewissen Beziehung zum Tos‐ kanischen stehen (Entlehnungen, Interferenzen), wie es bei Latein und Grie‐ chisch der Fall sei. Bei den lingue diverse wiederum differenziert er nochmals in diverse uguali, wobei er als Beispiel die griechischen Dialekte (z. B. (la lingua) Attica, Dorica, Eolica, Gionica) anführt, die untereinander verständlich seien und alle als gleich‐ berechtigt ausgebaute Schriftsprachen fungierten, und in diverse diseguali mit dem Beispiel der italienischen Dialekte (z. B. (la lingua) Bergamasca, Vicentina, Padovana, Viniziana), die ebenfalls eine gegenseitige Verständigung gewähr‐ leisten würden, aber in Bezug auf den Ausbaugrad hinter dem Toskanischen zurückblieben. 348 Varchi trifft also nicht nur eine präzisere Unterscheidung hinsichtlich der Frage nach der Lebendigkeit der Sprachen, er bettet diese auch ein in ein allge‐ meines System der Kategorisierung von Sprachen an sich (Kap. Divisione, e di‐ chiarazione delle lingue, Varchi, Ercol., 1804 I: 207), wobei die zugrundeliegenden Kriterien aus heutiger Sicht zwar prinzipiell valide sind - deshalb hier auch in moderner Terminologie gekennzeichnet (nicht so bei Marazzini 1993a) - jedoch stark heterogen. Hinzu kommt, daß bei ihm diese Klassifikation nur ein Teil weiterer metasprachlicher Fragestellungen ist, die alle eng miteinander ver‐ knüpft sind, darunter auch die bereits angesprochene Diskussion um alteratio und generatio (v. supra), aber auch eine so grundlegende Problematik wie Che cosa sia favellare (Varchi, Ercol., 1804 I: 47), Che cosa sia lingua (ibid. 1804 I: 196) und Che si conoscono le lingue (ibid. 1804 I: 202). Dabei ist für ihn die Verständ‐ lichkeit untereinander bzw. die Möglichkeit zur Kommunikation das entschei‐ 218 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="219"?> 349 Zur Verdeutlichung der Differenzierung von Varchis Begrifflichkeiten, könnte man hier diese mit aller Vorsicht und grosso modo mit den Sassure’schen Begrifflichkeiten pa‐ rallelisieren; so wäre favella im Sinne von langage zu verstehen: „[…] il favellare è naturale all’uomo“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 47; cf. auch Dante, Div. Comm., Par. XXVI, 130; 1988 III: 316: „Opera naturale è che’uom favella“) und im Sinne von langue individu‐ elle: „[…] ciascuno uomo nasce con una sua propria, e naturale favella“ (Varchi, Ercol.; 1804 I: 47); favellare kann natürlich genauso wie parlare auch den individuellen Sprechakt ausdrücken (parole). 350 Im Mittelalter gab es zwar im Zuge der scholastischen Sprachphilosophie ebenfalls eine intensive Beschäftigung mit Sprache, doch war dies eher abstrakt und abgehoben von der Einzelsprache und ihrer Geschichte. Zu allgemeinen Charakteristika des scholasti‐ schen Sprachphilosophie sowie zur Sprachtheorie der Modisten cf. Bossong (1990: 17-32) und Kap. 6.1.5. dende Kriterium. Zudem unterscheidet er zwischen favellare bzw. favella, wel‐ ches einerseits die individuelle Sprache des einzelnen sein kann (langue individuelle) und andererseits das menschliche Sprechen per se bzw. die Sprach‐ fertigkeit (langage) sowie lingua, was die Sprache einer Sprachgemeinschaft be‐ zeichnet (langue). 349 Il parlare, ovvero favellare umano esteriore non è altro che manifestare ad alcuno i concetti dell’animo mediante le parole. (Varchi, Ercol.; 1804 I: 48) Lingua, ovvero Linguaggio, non è altro che un favellare d’uno, o più popoli, il quale, o i quali usano, nello sprimere i loro concetti, i medesimi vocaboli nelle medesime significazioni, e co’ medesimi accidenti. (Varchi, Ercol.; 1804 I: 196) Le lingue si conoscono da due cose, dal favellarle, e dall’intenderle. (Varchi, Ercol.; 1804 I: 202) Das Begreifen, was Sprache ausmacht, in welcher Relation einzelne Sprachen zueinander stehen, wie sie sich gegenseitig beeinflussen, welchen Status sie haben und wofür sie verwendet werden bzw. bei welcher Gelegenheit, sind wichtige Grundparameter für das allgemeine Verständnis, wie Sprache funkti‐ oniert, ein Verstehen, welches sich in der Renaissance durch die verstärkte Be‐ schäftigung mit der (eigenen) Sprache erst langsam herausbildet. 350 Exemplarisch zeigt sich bei Varchi dabei auch sehr deutlich die Verknüpfung mit den verschiedenen einzelnen Fragestellungen, die Teil der questione im wei‐ testen Sinne sind, bzw. wie unterschiedliche Einzelkontroversen im Rahmen einer bestimmten Argumentation eingebettet sind und wie all dies Teil einer Epoche ist, in der die metasprachliche Reflexion einen großen Stellenwert ein‐ nimmt. Die obigen Ausführungen haben deutlich gemacht, inwieweit sich die vor‐ liegende Fragestellung nach der Sichtweise der Renaissance-Gelehrten auf die Sprachkonstellation der römischen Antike und dem Beginn eines Verständ‐ 219 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="220"?> 351 In der Philosophiegeschichte löst die Scholastik die spätantike frühmittelalterliche Epoche der Patristik (2.-7. Jh.) ab, die durch die großen Kirchenväter (lat. patres eccle‐ siae) und Kirchenlehrer (lat. doctores ecclesiae) geprägt ist, ab. Als die vier kanonischen Kirchenväter des Westens gelten Ambrosius (ca. 339-397), Hieronymus (ca. 345-420), Augustinus (354-430) und Papst Gregor I. der Große (590-420), als die des Ostens Athanasius (ca. 296-373), Basilius der Große (ca. 330-379), Gregor von Nazianz (329 / 330-389 / 390) und Johannes Chrysostomus (347-407). Weitere wichtige Philoso‐ phen der Patristik, die vor allem (neu)platonisches Gedankengut tradierten, sind u. a. Boethius (ca. 480-524), Pseudo-Dionysius Areopagita (ca. um 500), Isidor von Sevilla nisses dessen, was wir heute mit Vulgärlatein bezeichnen, in die geistesge‐ schichtlichen Zusammenhänge einfügt. Dabei sei in erster Linie nochmals auf die Voraussetzungen des epochalen Neubeginns durch die Bewegungen des Humanismus und der Renaissance verwiesen, die nicht nur das verstärkte In‐ teresse an Geschichte begründeten, sondern vor allem das Bewußtsein für His‐ torizität schufen. Vor dem Hintergrund der spezifischen Konstellationen in Ita‐ lien entstand zudem eine Kontroverse, die heutzutage als questione della lingua faßbar gemacht wird, realiter aber aus verschiedenen Sprachenfragen bestand, die wiederum eng mit den Bewegungen des Latein- und Vulgärhumanismus verknüpft waren. Innerhalb dieser questione - wenn man diese in sensu largo begreift - oder auch davon unabhängig zu betrachten und dennoch nicht ganz losgelöst, fanden verschiedene Teildebatten der Sprachreflexion statt, worunter insbesondere die um die Entstehung des volgare und diejenige bezüglich der Lebendigkeit einer Sprache einen integraler Bestandteil der hier fokussierten Fragestellung nach der antiken Sprachsituation darstellten. 6.1.5 Die Sprachauffassung im Mittelalter Im Folgenden soll ein kurzer Abriß zum sprachtheoretischen Denken im Mit‐ telalter, einigen Schlüsselbegriffen und den Bildungsinstitutionen gegeben werden, was als Hintergrundfolie für die sich dann in der Renaissance bzw. im Humanismus entwickelnde Neuerungen dienen soll. Die Kontinuität des mit‐ telalterlichen Denkens ist insbesondere bei Dante sichtbar (cf. Kap. 6.2.2), der an der Epochenschwelle steht, aber auch bei vielen Humanisten des 15. und 16. Jhs., die in dieser Tradition ausgebildet wurden (cf. Kap. 6.2.3-6. 2. 18). Die Sprachauffassung des Mittelalters, also jener Epoche, von der sich die Humanisten abgrenzen wollten (cf. media tempestas), ist vor allem durch den schulischen und dann auch universitären Betrieb geprägt, weshalb man sowohl bezüglich der Sprachtheorie als auch ganz allgemein hinsichtlich der philoso‐ phisch-theologischen Denkansätze von der Scholastik (cf. lat. schola, scola) spricht. 351 Man kann demgemäß die philosophischen Kontroversen dieser Zeit, 220 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="221"?> (560-636 n. Chr.), Beda Venerabilis (ca. 672-735) und Johannes Damascenus (ca. 650-754). Im Vordergrund der patristischen Philosophie stehen Probleme wie das Ver‐ hältnis von Glauben und Wissen (cf. credo, ut intelligam), die Frage nach der Existenz und dem Wesen Gottes sowie die Lehre vom logos (cf. Hirschberger 1965: 58-61, 69; Heim 1998: 251, 255, s. v. Kirchenlehrer, Kirchenväter). 352 Für Angehörige des Hochadels gab es auch ggf. Privatunterricht, der aber ebenfalls durch Kleriker erfolgte. 353 „Papst Gregor VII. [1073-1085] schrieb 1079 vor, an allen Bischofssitzen Schulen zu errichten, ein Appell, den das III. Laterankonzil 1179 dahingehend präzisierte, dass je‐ weils ein Schulmeister mit eigenem Einkommen angestellt werden solle“ (Müller 2015: 164). zu denen auch solche über die Sprache gehören, nicht ohne den institutionellen Rahmen betrachten. Die Ausbildung lag dabei ausschließlich in klerikaler Hand, denn die Elementarschulen, d. h. die Klosterschulen und die sogenannten Ka‐ thedral- oder Domschulen der Domkapiteln waren kirchliche Einrichtungen, in denen einerseits der Klerikernachwuchs ausgebildet wurde, andererseits auch die Söhne (nur zum Teil die Töchter, cf. Frauenklöster) der bürgerlichen Ober‐ schicht und des Adels. 352 Im frühen Mittelalter dominierten die Klosterschulen als Kernzellen des tradierten Wissens und der Ausbildung, ab dem 11./ 12. Jh. gewannen demgegenüber die bischöflichen Schulen an Bedeutung, d. h. die Ka‐ thedral- und Domschulen, aus denen dann oft auch Universitäten hervor‐ gingen. 353 In größeren Pfarreien wurde vor allem ab dem 13. Jh. (cf. Beschluß des IV . Laterankonzils von 1215) ebenfalls Schulunterricht erteilt, was insbesondere in den Städten von Bedeutung wurde, insofern dort Pfarrschulen entstanden, für die dann ein städtisch besoldeter Schulmeister eingestellt wurde. In diesen Lateinschulen erhielten auch solche Bürgersöhne eine Ausbildung, die später in Handel und Gewerbe tätig waren, in der kommunalen Jurisdiktion, Politik und Verwaltung, also überall dort, wo Grundkenntnisse des Lesens und Schreibens erforderlich wurden. Die Lese- und Schreibfähigkeit weitete sich somit vom Klerikerstand und Feudaladel auf das städtische Patriziat, auf Kaufleute und schließlich auch auf Handwerker aus (cf. Gauger 1994: 75; Volkert 2004: 235-236, s. v. Schule; Müller 2015: 164-165). Die Kathedralbzw. Domschulen unter der Leitung eines Domscholasters (scholasticus) und die Kloster- oder Stiftsschulen waren oft auch im Besitz von Bibliotheken, zum Teil mit zugehörigen Skriptorien, in denen die Handschriften und Bücher aufbewahrt und tradiert wurden (cf. Flasch 2013: 157-170). Hier wurde das überlieferte Wissen der Antike bewahrt, wenn auch oft nur kompi‐ liert und selektiert nach christlichen Interessensschwerpunkten. Die europäischen Universitäten entstanden ebenfalls aus der Tradition der frühmittelalterlichen Klosterschulen sowie der dann später für die höhere Aus‐ 221 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="222"?> 354 Ein exaktes Gründungsdatum bzw. -jahr für eine Universität festzulegen fällt oft schwer, da die Konstituierung einer universitas bzw. des studium generale oft in mehreren Etappen erfolgte (z. B. Privilegien vom König, Kaiser und / oder Papst, Erweiterung der Rechtsstatuten) bzw. der Übergang von einer (Kathedral)Schule zur Universität nicht eindeutig belegt ist. So gibt die Universität Bologna selbst als unbelegtes Gründungs‐ datum 1088 an. Eine Rechtsschule hat es Ende des 11. Jhs. allerdings wohl schon ge‐ geben, genauso wie in Oxford seit Ende des 12. Jhs. oder eine Medizinschule in Salerno bereits seit dem Ende des 10. Jhs., in Montpellier (universitas medicorum) seit Ende des 12. Jhs., die dann je als Universitäten neugegründet wurden. 355 So entstanden zu Beginn nicht selten Universitäten durch den Auszug der Scholaren und Magister, so z. B. in Padua durch Bologneser Studenten, Cambridge durch einige Oxforder Studenten. Es gab jedoch unter den ersten Universitäten auch einige Gründ‐ ungen durch Herrscher wie z. B. Salamanca (1219 / 1254) durch Alfons IX. (1188-1230) und Alfons X. (1252-1284), Neapel (1224) durch Friedrich II. (Kg. 1198 / 1212-1250, Ks. ab 1220), Lissabon (1288 / 1290) durch Dionysius I. (1279-1325) (cf. Weber 2002: 22-23). Die königlichen Stiftungsuniversitäten wurden ins Leben gerufen, um Fachkräfte zu gewinnen oder / und die Abwanderung der Studenten zu verhindern bzw. zum allge‐ meinen Nutzen des Staatswesens (cf. Signori 2007: 86). bildung wichtigeren Dom- und Kathedralschulen. Die ersten beiden Universi‐ täten, Bologna (1155 / 1252) 354 und Paris (1215 / 1231) entstanden um 1200 in ur‐ banen Zentren, die für die Kurie in Rom wichtig für die Verbreitung der päpstlichen Theologie waren, bevor weitere Gründungen nach demselben Mo‐ dell in ganz Europa folgten. 355 Bologna entwickelte sich seit dem frühen 11. Jh. zu einem Zentrum der Auseinandersetzungen einerseits der Emanzipationsbe‐ strebungen des städtischen Patriziats dem herrschenden Adel gegenüber und andererseits des Kaisertums mit dem Papst. Diese Konflikte, die oft Rechtskontroversen waren, in denen verschiedene Rechtsauffassungen und -traditi‐ onen miteinander konkurrierten (cf. kanonisches Recht, Kaiserrecht, kommu‐ nales Recht) begünstigten die Entstehung von Rechtsschulen, die bald großen Zulauf erhielten und deren Prestige sich bis jenseits der Alpen verbreitete (cf. Bononia docet). Die zahlreichen Studenten (lat. scholares) aus dem In- und Aus‐ land, die in regionalen bzw. landsmannschaftlichen Verbänden (lat. nationes) organisiert waren - in eine universitas ultramontanorum und universitas citra‐ montanorum (cf. Grundmann 1976: 47) -, brachten nicht nur Geld in die Stadt, sondern stellten auch ein gesellschaftliches und ordnungspolitisches Problem dar. Durch die Intervention des Kaisers, der die Scholaren vor der kommunalen Gerichtsbarkeit in Schutz nahm, gelang es ihnen, sich selbst effektiver in den nationes übergeordneten Schwurgemeinschaften zu organisieren (coniurationes, universitates). Auf diese Weise entstand in Bologna eine italienische und eine außeritalienische Rechtsuniversität sowie eine Artisten- und Medizinuniver‐ sität. Die Lehrer, d. h. die Magister (lat. magistri) und Doktoren (lat. doctores), schlossen sich ebenfalls übergreifend sowie fachlich spezifisch zusammen (cf. 222 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="223"?> 356 Die Bolognesische Studenten standen künftig unter kaiserlichem Schutz und konnten im Falle eines Rechtsstreites die Gerichtsbarkeit wählen, d. h. den zuständigen Bischof oder ihren Magister der Universität. Diese Privilegiengewährung ist auch vor dem Hin‐ tergrund zu sehen, daß die Studenten, um ihren Wissensdurst zu stillen (amor scien‐ tiae), dorthin zogen, wo es entsprechende Lehrer gab, um die sich dann eine schola oder familia bildete; sie waren also potentiell fremd (cf. peregrinus) und schutzlos (cf. Müller 2015: 164-165). 357 Die Universität war als zunächst eine Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, d. h. eine universitas magistrorum et discipulorum bzw. universitas magistrorum et schola‐ rium, erst unter Humboldt wurde dies zu einer Gesamtheit der Wissenschaften (uni‐ versitas litterarum) umgedeutet (cf. Curtius 1993: 64, § 6). Dabei war universitas zunächst ein Begriff des Körperschaftsrechts, da diese Vereinigungen danach strebten, möglichst autonom zu sein und eigene Statuten zu erlangen und sich durch Rechte und Privilegien von den Kommunen, den Herrschern und der Kirchenobrigkeit abzugrenzen. Dennoch gingen die Gründungen der Universitäten vor allem ab dem 14. Jh. meist auf die Initi‐ ative von Herrschern zurück und es erfolgte zudem eine Approbation durch den Papst. Kirchliche Autoritäten regierten auch durch die Einsetzung eines entsprechenden Kanzlers in die inneren Angelegenheiten der Universitäten, der wiederum für die Er‐ teilung der Lehrbefugnis (licentia docendi) an bestimmte Personen verantwortlich war (cf. Schupp 2003: 315). z. B. collegium doctorum). Grundlegende Vereinbarungen, die die universitas nach und festigten und die auch den potentiellen Konflikt der studentischen Organisationen mit der Stadt beilegen sollten, stellten dann das 1155 von Kaiser Friedrich I. Barbarossa (Kg. 1152-1190, Ks. ab 1155) gewährte Scholarenprivileg (authentica habita) dar, 356 die Universitätsstatuten von 1252 und die 1274 sowie 1290 vom Papst gewährten Rechte (cf. libertas scholastica bzw. libertas schola‐ rium), worunter u. a. das Recht auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung, das Recht Prüfungen abzuhalten und Titel zu vergeben, fiel. Die Kommune, die aus dem Standortvorteil eines allgemeinen Bildungszentrums ökonomisch und prestigemäßig profitierte, verpflichte sich im Gegenzug zur Besoldung der Pro‐ fessoren (cf. Verger 1993: 60-61; Weber 2002: 16-18). In Paris war die Situation ein wenig anders gelagert. Hier hatte sich durch zahlreiche in der Stadt vertretene kirchliche Orden und verschiedene Partiku‐ larinteressen (des Bischofs, der Kommune) eine wichtige theologische Schul- und Lehrtradition entwickelt, insbesondere ausgehend von der Kathedralschule von Notre-Dame, so daß auch hier eine Vielzahl von Scholaren und Magister von dem renommierten Bildungsangebot angezogen wurden, mit einem ähnli‐ chen Effekt wie in Bologna, nämlich daß die Versorgung der zugezogenen Stu‐ denten (Kost und Logis) zum Problem wurde, aber auch die aus Sicht der Ob‐ rigkeit nicht duldbare Proliferation der theologischen Denkansätze. Auch hier kam es dann um 1200 zu einer Vereinigung der bisherigen Bruderschaften (corporationes, sodalitates) zu einer universitas. 357 Diese Gründung - nur eine 223 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="224"?> einzige im Gegensatz zu Bologna - wurde vor dem Hintergrund von schwelenden Konflikten mit Papst, Bischof, Kommune und König in einem päpstlichen Statut 1215 und der Bulle von 1231 bestätigt und mit entsprechenden Organisationsformen (cf. z. B. concilium generale) und Rechten ausgestattet, da‐ runter ab 1233 auch das Privileg für die Magister überall in Europa lehren zu dürfen (cf. licentia ubique docendi). Während die Universität von Bologna primär eine der Rechte war, lag der Schwerpunkt der Pariser Universität auf der The‐ ologie. Entsprechend ihrer jeweiligen Gründungsgeschichte und der damit ein‐ hergehenden Organisationsform spricht man bezüglich der frühen europä‐ ischen Universitäten auch vom modus Bononiensis (‚Studenten-Universität‘) und dem modus Parisiensis (‚Professoren-Universität‘) (cf. Weber 2002: 19-21; Schupp 2003: 315-316; Müller 2015: 165-167). In der Folgezeit (13./ 14. Jh.) entstanden Ableger dieser Ur-Universitäten oder eigenständige Neugründungen, zunächst mit eindeutigem Schwerpunkt auf den Mittelmeerländern (v. infra). Nach der ersten Gründungswelle - eine Zäsur wäre das Große Abendländischen Schisma (1378-1417), da dies eine Lockerung der päpstlichen Kontrolle zur Folge hatte - mit ca. 30 Universitäten bis Ende des 14. Jhs. erfolgte eine zweite, die vor allem auch Mittel- und Nordeuropa erfasste (z. B. Würzburg 1402, Leipzig 1409, Freiburg i. Br. 1457, Basel 1459, Glasgow 1451, Uppsala 1477, Kopenhagen 1479), so daß es um 1500 bereits knapp 70 Universitäten gab (cf. Verger 1993: 65-66; Weber 2002: 22-23, 79-80; Müller 2015: 166-167): • Italien: z. B. Vicenza (1204), Arezzo (1215 / 1355), Padua (1222), Neapel (1224), Vercelli (1228), Salerno (1231), Siena (1245 / 1357), Piacenza (1248), röm. Kurie (1245), Rom (1303), Perugia (1308), Treviso (1318), Pisa (1343), Florenz (1349), Pavia (1361), Ferrara (1391 / 1394) • Frankreich: z. B. Montpellier (1220), Toulouse (1234), Orléans (ca. 1235 / 1306), Angers (ca. 1250), Avignon (1303), Cahors (1332), Grenoble (1339), Perpignan (1350), Orange (1365) • England: z. B. Oxford (1214), Cambridge (1225) • Spanien: z. B. Palencia (1208), Salamanca (1219 / 1254), Sevilla (1254), Val‐ ladolid (ca. 1290), Lérida (1300), Huesca (1354) • Portugal: z. B. Lissabon (ca. 1288 / 1290), Coimbra (1308) • Deutsche Herrschaftsräume: z. B. Prag (1348), Wien (1365), Erfurt (1379), Heidelberg (1385), Köln (1388) • Ungarn: z. B. Pécs (1367), Buda (1395) • Polen: z. B. Krakau (1364) 224 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="225"?> 358 Die Philosphie galt vielfach als ancilla theologiae - wie es als Ausdruck Petrus Damiani (ca. 1007-1072) zugeschrieben wird -, da sie Teil der artes liberales war, d. h. für die theologischen Studien propädeutisch im universitären Curriculum. 359 Die frühe Auseinandersetzung mit dem vorchristlichen Wissen prägte die Studenten nachhaltig und begründete letztendlich auch Konflikte für die Theologie und ihr Selbst‐ verständnis: „Wenn ein Student nach absolviertem artes-Studium die Theologische Fa‐ kultät besuchte, so dürfte er über die genannten logischen Schriften hinaus auch die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles - insbesondere die Physik und De anima - gekannt haben, zudem die als moralische Schriften zusammengefassten Bücher über die Politik und die Ethik sowie die Metaphysik: Man wurde also mit dem vollen Programm aristotelischer Philosophie konfrontiert, ehe man das erste Mal als Jurist mit Gesetzestexten oder als Theologe mit dogmatischen Inhalten konfrontiert wurde“ (Leppin 2003: 20-21). 360 Hugo von St. Viktor listet in seinem Werk Didascalicon folgende artes mechanicae auf: Weberkunst (lanificium), d. h. im weiten Sinne textilverarbeitendes Gewerbe; Waffen‐ handwerk (armatura) sowie weitere technische Handwerke bis hin zu Baugewerbe, Malerei und Bildhauerei; Schiffahrtskunst (navigatio), d. h. Handel zu Wasser und im weiteren Sinne auch zu Lande; Landbau (agricultura); Jagdkunst (venatio) bzw. im wei‐ testen Sinne Beschaffung von Lebensmitteln und deren Handel; praktische Heilkunst (medicina); Schauspiel (theatrica) (cf. Müller 2015: 177). Was Struktur und Inhalt der Universitäten anbelangt, die als Anstalten auch studium generale hießen, so mußten die nach Regionen und Bildungsschichten erfaßten Studenten (cf. scholares nobiles, scholares divites, scholares pauperes) als Grundstudium zunächst die septem artes liberales absolvieren. Diese seit der Antike überlieferten und von den frühchristlichen Autoren angepaßten Grund‐ wissenschaften, die sich in das Trivium (Grammatik, Dialektik bzw. Logik, Rhe‐ torik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) glie‐ derten, bildeten das Fundament einer jeden Ausbildung (cf. Artistenfakultät), bevor die Scholaren sich den verschiedenen höheren Fachbereichen (lat. facul‐ tates), d. h. der Theologie, 358 der Jurisprudenz oder der Medizin, zuwandten. 359 Prinzipiell gab es verschiedene Abschlüsse mit Titeln, die im Rahmen des Stu‐ diums möglich waren: Baccalaureus, Lizenziat, Magister, Doktor. Die ange‐ wandten Wissensbereiche, die artes mechanicae, waren an den Universitäten nicht vertreten. Diese wurden z. B. von Johannes Scotus Eriugena oder Hugo von St. Viktor als ebenfalls sieben Künste kategorisiert, wenn auch je unter‐ schiedlich. 360 Für letzteren galten die mechanischen Künste zwar nicht als ei‐ gentliche Kunst (ars), jedoch als Wissenschaft (scientia), da auch zu ihnen ein theoretisches Hintergrundwissen gehöre. Eine breitere Wertschätzung erfuhren diese handwerklichen Künste und der mechanicus allerdings erst in der Renais‐ sance, u. a. durch Leonardo da Vinci oder Leon Battista Alberti, die durch ihre Ingenieurs- und Baumeisterkunst zur Aufwertung dieser Metiers beitrugen (cf. Curtius 1993: 64, § 6; Weber 2002: 32-37; Müller 2015: 177-179). 225 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="226"?> 361 In der Antike referiert das liberales auf die gesellschaftliche Schicht, für die sie konzi‐ piert wurden, nämlich die freien römischen Bürger. Es ist also eine Grundausbildung - keine spezifische für Ämter o. ä. -, ein elementares Bildungs- und Erziehungsprogramm für alle Bürger; also artes, die nicht dem Geldwerb dienen und derer ein freier Mann bzw. römischer Bürger würdig ist (cf. Lausberg 1990: 33, § 12; Curtius 1993: 47, § 1). Die in der schulischen und universitären Lehre so zentralen artes liberales, 361 deren oben genannte Einteilung auf den Enzyklopädisten Martianus Capella (5. Jh.) (cf. De nuptiis Mercurii et Philologiae), der ars als ‚Lehrfach‘ oder ‚Dis‐ ziplin‘ verstand, und den Historiographen und Enzyklopädisten Magnus Aure‐ lius Cassiodorus (ca. 485-580) (cf. Institutiones divinarum et saecularium litte‐ rarum) zurückgeht, seien auch nochmal begrifflich definiert (Flasch 2013: 154-155; Regenbogen / Meyer 2013: 67, s. v. artes liberales): ars, lat. ‚die durch Übung erlangte Fertigkeit‘, die Kunde, im engeren Sinne die Kunst, d. h. der Umfang des Könnens und der Kenntnisse, derer es bedarf, um ein Handwerk (artes mechanicae, artes vulgares), eine künstlerische Tätigkeit oder Wissenschaften (artes liberales) mit Erfolg auszuüben. Die spätantiken, stoischen artes […] und scien‐ tiae (Wissenschaften) umfaßten den praktischen und theoretischen Gehalt der artes liberales, deren Beherrschung in ihrer Gesamtheit dem Erwerb von sapientia (Weis‐ heit) dienen sollte. (Regenbogen / Meyer 2013: 65-66, s. v. ars) In der mittelalterlichen Bildungslehre speist sich die Auffassung von den artes zum einen aus der patristischen Tradition (cf. v. a. Augustinus, Cassiodor) und zum anderen aus einer weltlich-schulmäßigen (cf. z. B. Thierry von Chartres (ca. 1085-1155)), in der der Ursprung der artes nicht in der göttlichen Weisheit und der heiligen Schrift verortet wurde, sondern in der Natur oder bei heidnischen Göttern. In jedem Fall bildeten die artes im mittelalterlichen Bildungs- und Wis‐ senskosmos bis zum 12. Jh. die „Fundamentalordnung des Geistes“ (Curtius 1993: 52, § 2). An den Universitäten wurden sie dann einerseits zum Propädeu‐ tikum der weiterführenden theologischen Studien, andererseits wuchs auch die Philosophie - so die Gleichsetzung mit den artes, deren naturwissenschaftlicher Anteil untergeordnet wurde - aus diesem engen Korsett hinaus, wie Thomas von Aquin konstatiert (cf. Curtius 1993: 49-52, § 2): Ad tertium dicendum quod septem artes liberales non sufficienter dividunt philoso‐ phiam theoricam, sed ideo, ut dicit Hugo de sancto Victore in III sui Didascalicon, praetermissis quibusdam aliis septem connumerantur, quia his primum erudiebantur, qui philosophiam discere volebant […]. (Thomas von Aquin, Boeth. De trin. q5, a1, ad3; 2007: 68) 226 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="227"?> 362 Es gab zwei Arten von Vorlesungen (lectiones, lecturae), solche in denen auf das Text‐ verständnis abgezielt wurde (cursorie) und solche, in denen Streitfragen (quaestiones) behandelt wurden (ordinarie) (cf. Schupp 2003: 317). Aus den an den Universitäten sich konstituierenden Lehrtraditionen entwi‐ ckelte sich die philosophische bzw. im engeren Sinne theologische Methode der Scholastik, die in Abgrenzung vom folgenden Humanismus ab dem 18. Jh. na‐ mensgebend für diese geistesgeschichtliche Epoche wurde und die geprägt ist durch die Rezeption der Schriften des Aristoteles (soweit bekannt, v. infra), der zum Philosophen schlechthin avancierte und mannigfach kommentiert wurde, sowie durch ihr geschlossenes Lehrgebäude, der Summe des Wissens, innerhalb dessen nach festen Regeln disputiert wurde (v. infra), wie beispielsweise im be‐ rühmten Universalienstreit (Realismus vs. Nominalismus) (cf. Regen‐ bogen / Meyer 2013: 585-686, s. v. Scholastik, scholastische Methode). Der universitäre Unterricht war in seinem Ablauf streng gegliedert; es gab die Vorlesung (lectio) 362 und das Lehr- und Streitgespräch (disputatio). In den Vorlesungen, die manchmal auch reine Diktiervorlesungen (pronunciationes) waren, wurden die kanonisierten Schriften gelesen, wobei man formell in der Rangordnung bezüglich libri ordinarii und libri extraordinarii unterschied; die Studenten machten sich dazu Notizen (reportationes). In den lectiones wurde eine Lehr- und Leitfrage (quaestio) gestellt, die man nach einer genauen Abfolge durch ein Argumentationsverfahren mit mehreren (studentischen) Teilnehmern (opponentes) in verschiedenen Antworten (respondentes) zu lösen versuchte. Dazu wurden zudem die Meinungen der Autoritäten befragt (sententiae auc‐ torum), d. h. die Bibel, die Kirchenväter und andere christliche Denker, die ge‐ gebenenfalls den Argumenten der heidnischen Philosophen gegenübergestellt wurden. Der Magister präsentierte schließlich die kirchlich sanktionierte kor‐ rekte Lösung (determinatio), in der die widersprüchlichen Standpunkte mitei‐ nander versöhnt wurden (concordantia catholica). Ergänzt wurde dies durch weitere Übungen (exercitationes) und Wiederholungen (repetitiones, resump‐ tiones). Das präsentierte Wissen kann als Offenbarungswissen bezeichnet werden, eine in sich abgeschlossene Lehre (doctrina sacra), innerhalb derer man bestimmte Prämissen definierte und eine Beweisführung nach dem Ur‐ sache-Wirkung-Prinzip zu erbringen hatte, und zwar zu bestimmten Phäno‐ menen, die man versuchte in der göttlichen Ordnung durch Analogie- und Ver‐ gleichsschlüsse zu verankern (cf. Weber 2002: 38-41; Schupp 2003: 315-320; Regenbogen / Meyer 2013: 586, s. v. scholastische Methode). Aus den hochformalisierten Abläufen des Unterrichts und der Disputationen mit dem Abwägen von Gründen, begrifflichen Definitionen (distinctiones) sowie den syllogistischen Schlüssen (conclusiones, solutiones) entwickelten sich auch 227 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="228"?> 363 Monumentale Zusammenstellungen des Wissens gab es dabei in den verschiedensten Bereichen: z. B. Lo codi (1149 / 1176); Thomas von Cantimpré (ca. 1201-1270 / 1272), Liber de natura rerum (ca. 1225 / 1226-1241); Bartholomäus Anglicus (ca. 1190-nach 1250), De proprietatibus rerum (nach 1235); Vinzenz von Beauvais (vor 1200-1264), Speculum maius (1256), bestehend aus Speculum historiale, Speculum doctrinale und Speculum na‐ turale; Brunetto Latini (ca. 1220-1294), Li livres dou tresor (ca. 1265); Thomas von Aquin (1224 / 1225-1274), Summa theologiae (ca. 1265-1273); Giovanni Balbi (ca.† 1298), Summa grammaticalis bzw. Catholicon (ca. 1286) (cf. Signori 2007: 92-95). 364 Anselm von Canterbury gilt als „Vater der Scholastik“, dessen zentraler Grundsatz fidens quaerens intellectum die typische scholastische Suche nach der Vereinbarkeit von ratio und fides ausdrückt, d. h. Glaubenswahrheiten sollten intellektuell verstehbar sein, auf dem Vernunftwege ergründbar (cf. Schupp 2003: 163). bestimmte wissenschaftliche Literaturformen: die Summen (summae), die Kom‐ mentare (commentarii), d. h. die Literalkommentare, bei denen Zeile für Zeile kommentiert wird (zu lat. littera ‚Buchstabe‘) und die die frühmittelalterlichen Glossen, Marginalien und Scholien ablösten, sowie die Quaestionenkommen‐ tare oder Problemerörterungen (quaestiones disputatae, quaestiones quodlibe‐ tales), bei denen eine Disputation mit Pro und Contra nach strengem Schema stattfindet (cf. Gombocz 1992: 57). Die Scholastik war eine Epoche, in der vor allem Wissen bewahrt wurde bzw. man setzte sich mit dem tradierten Wissen auseinander und kommentierte es. Daraus resultieren die zahlreichen Zusam‐ menfassungen (z. T. sehr umfangreich mit Enzyklopädie- oder Handbuchcha‐ rakter), 363 Zitatensammlungen (Florilegien) und Kommentare zu den aner‐ kannten Autoritäten wie vor allem der Bibel und den maßgeblichen kirchlichen Denkern wie Augustinus sowie zu den kanonisierten antiken Philosophen, allen voran Aristoteles, der die scholastische Methode prägte. Dort, wo die Philoso‐ phen und Theologen sich widersprachen, arbeitete man rational und formallo‐ gisch, d. h. dialektisch, mit Syllogismen. (cf. Hirschberger 1961: 70-71). Auf diese Weise erklärt es sich, daß die „scholastische Form der Rationalität […] einen alle Wissensgebiete umfassenden Anspruch [erhebt]“ (Scherer 1999: 525, s. v. Scho‐ lastik). Als maßgebliche Denker der Frühscholastik (9.-11. Jh.) gelten Johannes Scotus Eriugena (ca. 810-877), Anselm von Canterbury (Anselmo d’Aosta, 1033-1109), 364 Peter Abaelard (1079-1142) und Petrus Lombardus (ca. 1095-1160), hinsichtlich der Philosophen der Hochscholastik (12.-13. Jh.) sind vor allem Robert Grosseteste (Robertus Lincolnensis, vor 1170-1253), Roger Bacon (doctor mirabilis, ca. 1214 / 1220-1292), Bonaventura (Giovanni Fidanza, ca. 1217 / 1221-1274), Ramon Llull (Raymundus Lullus, 1232 / 1233-1316), Al‐ bertus Magnus (doctor universalis, ca. 1200-1280), Thomas von Aquin (doctor angelicus, 1224 / 1225-1274), Johannes Duns Scotus (doctor subtilis, 228 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="229"?> 365 Zu den allgemeinen ökonomischen-gesellschaftlichen (z. B. der Übergang von einer ag‐ rarischen zu einer vermehrt urbanen Zivilisation, v. a. in Frankreich, England, Flandern, im Rheingebiet sowie in Ober- und Mittelitalien) und religiösen Umbrüchen des 12. Jhs., die als „geschichtliche Wasserscheide“ interpretiert werden können, cf. Flasch (2013: 210-215). 366 Bisher war Aristoteles vor allem über Boethius und zum Teil über Porphyrios (ca. 234-305) rezipiert worden, was aber zunächst nur einen Teil seiner logischen Schriften, die sog. logica vetus, betraf (Categoriae, De interpretatione), erst ab ca. 1120 folgten suk‐ zessive die sog. logica nova (Analytica Priora, Topica, Sophistici elenchi) sowie die rest‐ liche Bücher des Organon, außerdem die Physica, De anima, Teile von Parva naturalia und die Metaphysica (cf. Gombocz 1992: 58). 367 Dieser Zusammenhang zwischen Buchstaben (griech. γράμματα, lat. litterae) und Gram‐ matik (griech. γραμματική, lat. grammatica) blieb auch in der Spätantike noch präsent: „Grammatica a litteris nomen accepit, sicut vocabuli ipsius derivatus sonus ostendit“ (Cassiodor, Inst. II, 1, 1, 1-5 (93); 2003 II: 300). 1265 / 1266-1308) sowie Meister Eckhart (ca. 1260-1328) zu nennen und für die Spätscholastik (14.-15. Jh.) Wilhelm von Ockham (ca. 1280 / 1285-1347) und Ni‐ kolaus von Kues (Cusanus, 1401-1464) (cf. Hirschberger 1961: 70-101; Regen‐ bogen / Meyer 2013: 585, s. v. Scholastik). Die Hochscholastik wird im 12. Jh. durch eine geistige Erneuerungsbewegung geformt, 365 die vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen ist: a) die Übernahme der arabischen Aristoteles-Rezeption (cf. insbesondere Avicenna (Ibn Sina, 980-1037) und Averroes (Ibn Ruschd, ca. 1126-1198) sowie das pseudo-aristo‐ telische Liber de Causis) und der jüdischen (cf. Avencebrol / Avicebron (Ibn Ga‐ birol, ca. 1021-1070) und Maimonides (Mose ben Maimon, 1135-1204)), meist über Spanien, sowie durch direkte Übersetzungen aus dem Griechischen, u. a. über Sizilien (z. B. Henricus Aristippus (1105-1162), Wilhelm von Moerbeke (1215-1286)), 366 b) das Entstehen und Aufblühen der Universitäten (v. supra) und c) die zunehmende wissenschaftliche Tätigkeit der großen kirchlichen Orden, insbesondere der Franziskaner und der Dominikaner (cf. Hirschberger 1961: 75-77). Vor dem Hintergrund der Lehrinstitutionen, d. h. sowohl der Dom- und Klos‐ terschulen als auch der Universitäten, in denen sich die scholastische Methode entwickelt hatte, ist auch die mittelalterliche Sprachreflexion zu sehen. Für deren Herausbildung ist die erste und wichtigste Disziplin der artes bzw. genauer des propädeutischen Triviums innerhalb eines curricularen Studiums maßge‐ bend gewesen, nämlich die Grammatik. Abgeleitet von griech. gramma (dt. ‚Buchstabe‘) bezeichnet es zu Zeiten von Platon und Aristoteles zunächst die reine Fähigkeit Lesen und Schreiben zu können (dt. ‚Buchstabenlehre‘, ‚Lese‐ fertigkeit‘), 367 im Hellenismus tritt schließlich noch die Bedeutung der literari‐ schen Befähigung hinzu, d. h. ein Dichter sollte die Sprache grammatisch richtig 229 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="230"?> 368 Ein grammaticus war im Mittelalter zwar in erster Linie immer noch ein Mensch, der Lesen und Schreiben konnte, aber durch die damit verbundenen Implikationen des Stu‐ diums und der literarischen Befähigung eben auch ein ,gebildeter Mensch‘ (cf. Jungen / Lohnstein 2007: 90). beherrschen und in ihr den Konventionen entsprechend richtig dichten können. 368 Dementsprechend unterscheidet Quintilian (Inst. orat. I, 4, 2) zwi‐ schen recte loquendi scientiam et poetarum enarrationem. Zu dieser Zeit entsteht auch der synonyme Sprachgebrauch von grammatica und litteratura, d. h. wie Grammatik von gramma abgeleitet wurde, hat man im Lateinischen litteratura von littera (dt. ‚Buchstabe‘) abgeleitet (cf. Curtius 1993: 49-52). Dabei wird zwischen einem litteratus und einem illit(t)eratus unterschieden (cf. Kap. 6.2.3.1), was sich zuvorderst auf die Lese- und Schreibfähigkeit bezieht. Diese Opposition referiert zunächst auf verschiedene Fähigkeiten innerhalb des Klerikerstandes, zu Beginn ohne weitere soziale Disktinktion, denn es war durchaus üblich, daß man sich in gehobener Position Personal für diese Tätigkeit hielt. Obendrein waren Lesen und Schreiben im Mittelalter separate kognitive Prozesse, bei denen das Lesen die Grundlage bildete. Selbst wer gelernt hatte, Buchstaben und Texte zu entziffern und zu verstehen, musste nicht mit der eigenen Hand schreiben können; dies setzte eine eigene Übung voraus. Umgekehrt dürfte der Schreibkundige auch in der Lage gewesen sein zu lesen. Das lateinische Wort illiteratus (von littera „Buch‐ stabe“) zielte nicht auf den Analphabeten im heutigen Sinne, sondern auf hohe Geist‐ liche, die trotz ihre Ranges und ihrer Funktion nicht lesen konnten. Demgegenüber bezeichnete litteratus den Gebildeten im Sinne des Belesenen. Bildung und Schreib‐ fähigkeit waren zweierlei. (Müller 2015: 133) Das Lesen war zunächst Teil der monastischen Kultur, es gehörte zum studium legendi, dem Lernen durch Lesen, welches in einem ersten Schritt die cogitatio und in einem zweiten die meditatio, also ein intensiveres Nachdenken über das Gelesene beinhaltete. Das Lesen in der Klostergemeinschaft konnte eigen‐ ständig sein (sibi legere) oder für andere (clara lectio), oftmals gefolgt von der ruminatio, ein Murmeln, bei dem man das Gelesene sich nochmals genauer me‐ morierte und einverleibte (cf. Gauger 1994: 74). Die Lese- und Schreibfähigkeit war also zunächst eng mit dem (monastischen) Kleriker verbunden, so daß die Opposition litteratus vs. illiteratus auch den Gegensatz clericus vs. laicus wider‐ spiegeln konnte. Erst später mit der Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten auf etwas größere Teile des Bürgertums (14./ 15. Jh.) (v. supra: Pfarrschulen, Kathedralschulen, Uni‐ versitäten) wurde der Begriff litteratus auch auf Laien mit mehr oder weniger 230 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="231"?> 369 Diese Aussage wird in einem Donat-Kommentar (Expositio in Donatum) des 9. Jhs. zu origo et fundamentum omnium liberalium artium abgewandelt. Auch Johannes von Sa‐ lisbury präsentiert einen ähnlichen Gedanken, indem er die Grammatik als ,Wiege allen philosophischen Wissens‘ bezeichnet (cf. Lawler 2018: 231): „Est enim grammatica scientia recte loquendi scribendique, et origo omnium liberalium disciplinarum. Eadem quoque est totius philosophiae cunabulum […]“ ( Johannes von Salisbury, Metalogicon I, 13, 840a; 1991: 32). 370 „In quo libro primum nobis dicendum est de arte grammatica, quae est videlicet origo et fundamentum liberalium litterarum“ (Cassiodor, Inst. II, Praef. 4, 8-10 (91); 2003 II: 294). „Grammatica est scientia recte loquendi, et origo et fundamentum liberalium litterarum“ (Isidor, Etym. I, 5, 1-2 ; 1911: s. p.). 371 Dante assoziert diese erste der sieben Künste unweigerlich mit Donat, d. h. mit dessen Grammatik: „[…] e quel Donato / Ch’alla prim’arte degnò porre mano“ (Div. Comm., Par. XII, 137-138; 1988 III: 148). Auch Priscian wird von Dante erwähnt (ibid. Inf. XV, 109; 1988 I: 182), den er allerdings in der Hölle bei den Sodomiten ansiedelt, wohl auf‐ grund einer Legende, die womöglich auf einer Verwechslung mit dem ketzerischen hohem Bildungsgrad ausgedehnt (cf. auch: eruditus, sapiens). Damit ging nach und nach auch eine gesellschaftliche Differenzierung einher, so daß sich in dieser Dichotomie auch die gesellschaftlichen Unterschiede widerspiegelten (cf. Müller 2015: 133, 171). Die Analphabetenrate blieb trotzdem weiterhin hoch, denn um 1500 kann man beispielsweise für Deutschland annehmen, daß nur ca. 5 % der Stadtbevölkerung eine Lesefähigkeit hatten, d. h. ca. 1 % der Gesamtbe‐ völkerung (max. 3-4 %). Der Anteil derer, die regelmäßig lesen, war dabei noch geringer; es handelte sich zudem hauptsächlich um solche Personen, die aus Berufsgründen lesen, d. h. vor allem religiöse Literatur sowie Fachliteratur (cf. Gauger 1994: 76). Hinzu kommt eine weitere Konnotation, die mit litteratus verknüpft ist, näm‐ lich die Sprachkompetenz (im Lateinischen) sowie Kenntnis in der Literatur und die Befähigung solche auch selbst produzieren zu können: Das Wort litteratura bedeutet also zunächst nicht Literatur in unserem Sinne; der litteratus ist ein Kenner der Grammatik und der Poesie (wie der lettré in Frankreich), aber nicht notwendigerweise Schriftsteller. (Curtius 1993: 52, § 3) Die Tatsache, daß das Trivium innerhalb eines Grundstudiums meist ausführ‐ licher betrieben wurde als das Quadrivium, und innerhalb der sieben artes der Grammatik eine besondere Stellung zukam, zeigt sich beispielsweise am reinen Umfang, die diese innerhalb der Etymologiae (Origines) des Isidor von Sevilla (560-636 n. Chr.) einnimmt, der sie wie Cassiodor als origo et fundamentum li‐ beralium litterarium 369 bezeichnet, 370 oder auch an der Bemerkung Dantes, daß sie la prima arte sei, 371 d. h. die ,erste Kunst‘ innerhalb der artes liberales (cf. Curtius 1993: 52-53, § 3). 231 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="232"?> Bischof von Avila Priscillian (ca. 345-386 / 387) beruht, dessen „Irrlehre“ (cf. Priszillia‐ nismus) der Gnosis und dem Manichäismus nahestand, und dem man, wie auch seinen Anhängern, homophile Neigungen unterstellte (cf. ibid. 1988 IV: 252-253, s. v. Priscian). 372 Cf. dazu insbesondere Flavio Biondo, der sprachliche Differenzierung mit Hilfe der genera dicendi der Rhetorik darzustellen versucht (cf. Kap. 6.2.3.2). 373 Die latinitas hing wiederum ab vom Sprachgebrauch (consuetedo) der maßgeblichen literarischen Autoritäten (auctoritas), dem belegten Alter eines Ausdrucks oder einer sprachlichen Wendung (vetustas) und der Gesetzmäigkeit (ratio) einer Wendung in Bezug auf Analogie und Etymologie (cf. Göttert 2009: 43). Die Rhetorik wiederum spielte diesbezüglich eine eher untergeordnete Rolle. Dennoch wurde auch diese antike ars entsprechend tradiert und gewann dann im Humanismus wieder vermehrt an Geltung (cf. Kap. 6.2). 372 Aus den wich‐ tigsten antiken lateinischen Schriften, d. h. der Rhetorica ad Herennium, Ciceros De inventione und Quintilians Institutio oratoria entwickelte sich ein weitgehend geschlossenes Modell: Es gibt fünf Bearbeitungsphasen oder Teile der Rede (partes artis): Erfindung der Gedanken / Findungslehre (inventio), Gliederung der Gedanken / Anordnung (dispositio), Einprägen der Rede ins Gedächtnis (memoria), sprachliche Darstel‐ lung der Gedanken / Ausdruck (elocutio) und Vortrag der Rede (pronuntiatio). Gegenstand der Rhetorik (materia artis) sind drei Redegattungen (genera ora‐ tionis): die Gerichtsrede (genus iudiciale), die Beratungsrede (genus delibera‐ tivum) und die Lob- oder Prunkrede (genus demonstrativum). Zentral ist die Lehre von der Auffindung des Stoffes bzw. der Gedankenfindung (inventio), die folgende Gliederung der Rede nach sich zieht: Einleitung (exordium / prooe‐ mium), Erzählung bzw. Darlegung des Sachverhaltes (narratio), Beweis bzw. Begründung (argumentatio / probatio), Widerlegung von Behauptungen (refu‐ tatio) und Schluß (peroratio / epilogus). Der Bereich der elocutio wird durch die Redegattungen (genera dicendi) geprägt (cf. genus humile, genus mediocre, genus sublime), wozu auch der Bereich der Topik, d. h. der allgemeinen Ausdrücke (topoi, loci communes) (z. B. Bescheidenheitsformel, Devotionsformel, Einlei‐ tungs- und Schlußformel) sowie der Tropen (tropi), also der Redefiguren bzw. Wortfiguren (figurae elocutiones), gehört. Bezüglich der sprachlichen Darstel‐ lung wurden die Tugenden (virtutes elocutiones) wie Eleganz (elegantia), Sprach‐ richtigkeit (latinitas, puritas), 373 Klarheit (explanatio), syntaktische Zusammen‐ setzung der Wörter (compositio) sowie Ausschmückung der Rede (ornatus) oder auch deren Kürze (brevitas), Angemessenheit (aptum) und Klarheit (perspi‐ cuitas) herausgestellt und die Verstöße (vitia) wie Barbarismus (Verstoß gegen eine Ausdrucksbzw. Wortform), Metaplasmus (Verstoß gegen eine Wortform aus metrischen Gründen) und Solözismus (Verstoß gegen die Wortverbindung 232 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="233"?> 374 Das lat. dictare im Sinne von ,diktieren‘ gewann im Mittelalter die zusätzliche und dann vornehmliche Bedeutung ,schreiben’ oder auch ,poetische Werke schreiben‘ (cf. auch dictatores illustres bei Dante (DVE II, 6, 4; 2007: 144) im Sinne von ,Dichter‘) (cf. Curtius 1993: 86, § 8). 375 Zu den Briefstellern bzw. manuels épistolaires des 17.-21. Jhs. cf. z. B. Große (2017). 376 In Bezug auf die romanischen Sprachen kann man eine Diglossie-Konstellation gemäß Ferguson (1959) postulieren, hinsichtlich anderer (west)europäischer Sprachen wie dem Deutschen oder Englischen eine nach Fishman (1967), da hier die bei Ferguson voraus‐ gesetzte enge Verwandtschaft der Idiome nicht gegeben ist. bzw. Syntax) gebrandmarkt (cf. Lausberg 1990: 51-85; § 53-138; Curtius 1993: 71-88, § 1-10; Göttert 2009: 23-65; Fuhrmann 2011: 112-128). Im Mittelalter, d. h. ab dem 11. Jh., bildetet sich aus dem System der latein‐ ischen Rhetorik (basierend auf dem der griechischen) die Stilkunst (ornatus) und vor allem die Kunst des Briefstils oder die Brieflehre (ars dictaminis oder ars dictandi) 374 heraus, d. h es wird dem wachsenden Bedürfnis der Jurisdiktions- und Verwaltungspraxis sowie der allgemeinen offiziellen Korrespondenz Rech‐ nung getragen. Neben der ars dictandi entwickelte sich so auch die ars notaria (Kanzlei- und Beurkundungspraxis), der modus scribendi (Schriftwesen) und die ars praedicandi (Predigtwesen). Aus den mittelalterlichen Briefmustern (for‐ mulae) mit ihren Anweisungen zum Briefschreiben und entsprechenden Bei‐ spielsammlungen entwickelten sich die neuzeitlichen Briefsteller. 375 Die Rhe‐ torik wirkte insbesondere auf die Poetik, aber auch in manchen Bereichen auf die Grammatik (z. B. vitia) und die Sprachtheorie (z. B. ordo naturalis vs. ordo artificalis) (cf. Curtius 1993: 85-86, § 8; Tischler 1994: 546). Sie tritt aber in ihrer mittelalterlichen erstarrten Form deutlich hinter die Grammatik und Dialektik (bzw. Logik) zurück, von denen sie ein Stück weit aufgesogen wird (cf. Bossong 1990: 32). Angesichts der beschriebenen Tradition der lateinischen Grammatik und Rhetorik erscheint es nicht verwunderlich, daß alle Schüler die Grundfertig‐ keiten des Schreibens und Lesens an der lateinischen Sprache erlernen mussten - was im Gegensatz zu heute auch den mündlichen Gebrauch impli‐ zierte (v. infra), d. h. es war intensiver und aufwendiger - und darüberhinaus war diese Universalsprache alleinige Sprache der Wissenschaft und trotz be‐ ginnender Emanzipation der europäischen Volkssprachen weiterhin auch Sprache der Literatur, nicht nur der antiken, sondern auch der zeitgenössischen mittelalterlichen und später der frühneuzeitlichen. Latein fungierte also in jeder Hinsicht als high variety innerhalb der mittelalterlichen Diglossie-Situation, 376 wobei dies nicht nur die Schriftlichkeit betraf, sondern partiell auch die Münd‐ lichkeit, insofern hauptsächlich formale Redesituationen, wie der Unterricht in den Schulen und an den Universitäten, Verhandlungen in Kanzleien und bei 233 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="234"?> 377 Die Internationalität der mittelalterlichen Universität zeigt sich nicht nur an den nam‐ haften Lehrern aus anderen Ländern, die dort unterrichteten, sondern auch an den Studenten, die sich wie am Beispiel von Bologna gezeigt in nationes organisierten (v. supra). Die Strahlkraft der dort gelehrten Rechtstraditionen ist so groß, daß man auch von der Bolognesischen Renaissance spricht, die in ganz Europa wirkt, was auf einen entsprechenden personellen und kulturellen Austausch hinweist. So sind beispielsweise im 13. Jh. 119 katalanische Studenten, die in Bologna Jurisdiktion studierten, namentlich bekannt sowie mehrere Portugiesen, die in Bologna als Lehrer wirkten (cf. Kabatek 2005: 95, 108) (cf. auch peregrinatio academica; Müller 2015: 200). Zu einem Beispiel der sprachlich heterogenen Zusammensetzung eines Klosters sei auf das bei Léon gelegene Monasterio de San Benito de Sahagún am Jakobsweg (camino francés) verwiesen, das im 11. Jh. nach den Regeln von Cluny reformiert wurde und in dessen Skriptorium z. B. ein aragonesischer und ein französischer Schreiber (Beginn 12. Jh.) nachgewiesen sind (cf. Herbers 2006: 164-165). 378 Die Liste derer, die in der supranationalen mittelalterlichen Gelehrtenwelt, die durch die lingua franca Latein zusammengehalten wurde, kosmopolitisch agierten, ließe sich beliebig fortsetzen: z. B. Petrus Lombardus (Novara-Bologna / Lucca-Paris), Johannes von Salisbury (Salisbury-Paris-Canterbury-Chartres), Roger Bacon (Oxford-Paris), Wil‐ helm von Ockham (Oxford-London-Avignon-München). Gericht oder im diplomatischen Verkehr auf Lateinisch stattfanden (cf. Bossong 1990: 18) (cf. auch Kap. 4.2). Aufgrund des Austausches über die Sprachgrenzen hinweg wurde Latein in manchen Bereichen auch zu einer „Art Umgangssprache“ (Flasch 2013: 152); dies gilt für die international frequentierten Universitäten genauso wie für Klöster, deren Angehörige oft nicht aus dem autochthonen Sprachraum kamen und sich zudem mitunter auf Reisen zu anderen Institutionen begaben. 377 Dahingehend war das Latein eine Art lebendige Sprache, die flexibel war, in der durchaus subjektive Gefühle anschaulich ausgedrückt werden konnten (cf. z. B. die Ora‐ tiones sive mediationes Anselms von Canterbury (11. Jh.) oder die Vagantenlieder der Carmina Burana (12. Jh.)), und die auch einem entsprechenden Wandel un‐ terlag (cf. ibid.) - wenn auch nicht in gleicher Weise wie eine Muttersprache. In einer Zeit, in der die europäischen Nationalsprachen erst im Entstehen waren, bot allein das Lateinische die Möglichkeit einer überregionalen Kommunikation. Die übernationalen Einrichtungen - die Kirche, die Universitäten, das Imperium - waren auf das Lateinische angewiesen und begründeten mit seiner Hilfe eine relativ ein‐ heitliche europäische Kultur. Philosophische Diskussionen hatten einen internatio‐ nalen Charakter, wie er seit dem 18. Jahrhundert zunehmend verlorengegangen ist. Die Biographie der mittelalterlichen Denker zeigt, welche Beweglichkeit die interna‐ tionale Sprache ermöglichte: Wir treffen den Lombarden Anselm von Canterbury in Bec (Normandie) und in Canterbury, den Süditaliener Thomas d’Aquino in Köln, in Orvieto und mehrfach in Paris. 378 (Flasch 2013: 152-153) 234 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="235"?> 379 Die Ars minor ist ein „grammatischer Katechismus“, der nach den kanonisierten acht Wortarten (partes orationis) gegliedert ist (De nomine, De pronomine, De verbo, De ad‐ verbo, De participio, De coniunctione, De praepositione, De interiectione) und der nach einem strengen Frage-Antwort-Schema die Redeteile und ihre grammatischen Eigen‐ schaften abhandelt (cf. Jungen / Lohnstein 2007: 68-69): „Partes orationis quot sunt? Octo. Quae? Nomen, pronomen, verbum, adverbium, participium, coniunctio, praepo‐ sitio, interiectio. Nomen quid est? Pars orationis cum casu corpus aut rem proprie com‐ muniterve significans. Nomina quot accidunt? Sex. Quae? Qualitas, conparatio, genus, numerus, figura, casus“ (Donat, Ars minor, De nomine; 2008: 10). Die Ars maior enthält zusätzlich Kapitel zur Lautlehre, Metrik und Interpunktion (cf. De voce, De littera, De syllaba, De pedibus, De tonis, De posituris) (cf. Donat, Ars maior, lib. I; 2009: 14-39). 380 Walther von Speyer listet folgende Autoren auf: Vergil, Homer (d. h. die Ilias latina), Martianus Capella, Horaz, Persius, Juvenal, Boethius, Statius, Terenz, Lucan (cf. Curtius 1993: 58-59, § 5). Zudem wurde das mittelalterliche Schriftlatein immer wieder reformiert (cf. z. B. Karolingische Renaissance, ottonische Renaissance, Renaissance des 12. Jahrhun‐ derts), d. h. es passte sich zwar einerseits den neuen Gegebenheiten an, unterlag einem gewissen lexikalischen und morpho-syntaktischen Wandel, wurde aber andererseits immer wieder nach dem als vorbildlich erachteten Latein be‐ stimmter antiker Schriftsteller (cf. Cicero, Quintilian) ausgerichtet (cf. Kap. 4.2). Der grammatische Unterricht der Lateinschüler orientierte sich vor allem an zwei Autoren, und zwar an Donat (ca. 310-380) und Priscian (5./ 6. Jh.) (cf. Kap. 4.1.1.3). Man begann mit der Ars grammatica des Donat (eigentl.: ars Donati grammatici urbis Romani), zunächst im Elementarunterricht mit der Ars minor, die eine Art Minimalgrammatik darstellte, 379 dann arbeitet man im höheren Schulunterricht mit der Ars maior sowie zusätzlich mit Priscians Institutio de arte grammaticae (auch: Institutiones grammaticae). Ergänzend wurden au‐ ßerdem die grammatischen Kapitel der Institutio oratoria Quintilians (ca. 35-96) studiert. Dabei kam Donat und Priscian rein die Funktion als Sprachlehrwerke zu, die dann später im Unterricht bereichert wurden durch die kanonisierten Autoren, d. h. die Autoritäten (auctoritates), denn die „Grammatik“ im Sinne der ersten Disziplin des Triviums umfaßte neben dem Erlernen von Lesen und Schreiben - und damit automatisch dem Erlernen der lateinischen Sprache - auch das Studium der Literatur (v. supra). Der im Verlaufe des Mittelalters immer wieder neu zusammengestellte und erweiterte Kanon antiker Autoren, vor allem römisch-lateinischer, aber auch einiger griechischer in lateinischer Übersetzung variierte um einen Kern an Schriftstellern und ihre Werke, wobei noch nicht wie später zwischen „silberner“ und „goldener“ Latinität unterschieden wurde und diese auch keineswegs mit den heute als „klassisch“ bezeichneten Autoren über‐ einstimmen mußten. So stellte beispielsweise Walther von Speyer (ca. 963-1027) im 10. Jh. zehn antike Autoritäten zusammen, 380 Konrad von Hirsau im 12. Jh. 235 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="236"?> nennt bereits 21 Schulautoren und Eberhard der Deutsche (Everardus Ale‐ mannus, 1. Hälfte 13. Jh.) listet im 13. Jh. in seinem Lehrgedicht Laborintus sogar 37 als maßgeblich auf, darunter auch viele mittelalterliche. Dabei werden un‐ geachtet der Chronologie oder einer Sachgliederung diverse heidnische und christliche Autoren, insbesondere der Spätantike, in eine je nach persönlichen Präferenzen ausgerichtete Rangfolge gebracht. Alle auctores sind dabei qua ihrer Eigenschaft als Quelle mit entsprechendem Prestige behaftet. Es kristallisieren sich dabei Autoren heraus, die dann in der Neuzeit als „Klassiker“ firmieren, wie Cato, Cicero, Sallust, Horaz, Ovid und Vergil, aber auch andere wie Terenz, Ju‐ venal, Persius, Lukan, Statius, Sidonius Apollinaris (ca. 430-486), Martianus Cappella (5. Jh.) oder Boethius (ca. 480-524) (cf. Kap. 4.1). Von diesen werden wiederum meist nur ein Teil der Schriften für lesenswert gehalten; so empfiehlt z. B. Konrad von Hirsau nur die moraltheoretischen Schriften Ciceros Laelius und Cato maior, von Horaz nur die Ars poetica und von Ovid nur die Fasti und Ex Ponto. Nicht immer werden aber „anstößige“ Werke - wie in diesem Fall die Schriften Ovids - ausgeklammert, denn Alexander Neckam (1157-1217) emp‐ fiehlt nicht nur die Metamophosen, sondern auch die Remedia amoris, und zwar als eine Art Gegengift; und Eberhard der Deutsche führt den ob seiner Obszö‐ nitäten umstrittenen Maximianus (6. Jh.) in seiner Liste, da er dessen rhetorische Kunstgriffe schätzte (cf. Curtius 1993: 58-60, § 5). Neben den Schulautoren rezipierten die Gelehrten des Mittelalters auch wei‐ tere antike Autoren, wie es beispielsweise für Johannes von Salisbury (ca. 1115-1180) überliefert ist, der Seneca d. Ä. (ca. 55v.-39 n. Chr.), Plinius d. Ä. (23 / 24-79 v. Chr.), den Redner Fronto (2. Jh.), den Fabeldichter Apuleius (2. Jh.), den augusteischen Bibliothekar Hygin (ca. 60 v.-10 n. Chr.), den Exempla-Dichter Valerius Maximus (1. Jh. v.-ca. 37 n. Chr.), den Militärschrift‐ steller Frontin (1. Jh.), den Historiker Florus (2. Jh.), den Anekdoten-Dichter Ge‐ llius (2. Jh.), den Historiker Eutrop (4. Jh.), den Redner und Dichter Ausonius (ca. 310-400), den Militär- und Fachschriftssteller Vegetius (4./ 5. Jh.), über Auszüge bei Justin (3. Jh.) den Historiker Pompeius Trogus (1. Jh. v. Chr.) sowie den christlichen Historiker Orosius (4./ 5. Jh.) und den Dichter und Kommentator Macrobius (5. Jh.) kannte, aber auch weitere, die in seinen Werken nachweisbar sind. Mit der Renaissance des 12. Jhs., dem Aufblühen mächtiger Kathedral‐ schulen, vor allem in Paris (z. B. Notre-Dame, Saint-Victor und Montagne 236 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="237"?> 381 In Notre Dame war beispielsweise Petrus Lombardus (ca. 1095-1160) Leiter der Ka‐ thedralschule, im Augustiner Chorherren-Stift von Saint-Victor wirkten die bedeu‐ tenden Scholastiker Wilhelm von Champeux (ca. 1070-1122) und Hugo von St. Viktor und im Regularkanoniker-Stift Montagne Sainte-Geneviève (Hügel der heiligen Geno‐ vefa) lehrte zeitweise Peter Abaelard (1079-1142). Chartres war auch bekannt für seine Platon-Rezeption im Gegensatz zu Paris und den meisten anderen Universitäten, die allein vom Aristotelismus geprägt waren. 382 Zur Schule von Chartres gehören illustre Scholastiker wie Bernhard von Chartres († nach 1124), Thierry von Chartres (ca. 1085-1155), Wilhelm von Conches (ca. 1080 / 1090-1154) oder Otto von Freising (1112-1158) (cf. Hirschberger 1961: 73-74). Sainte-Geneviève) 381 oder in Chartres, die berühmt für ihre Logik war, 382 schließ‐ lich dem Aufkommen der Universitäten sowie der neuen Aristoteles-Rezeption (v. supra) wurden die auctores auch in Frage gestellt, der Dialektik unterworfen und begrifflich kritisch analysiert (cf. Curtius 1993: 63-64, § 6). Diese Entwicklung nahm ihren Anfang mit der Boethius-Renaissance des 10. Jhs., als dessen logische Schriften von Gerbert von Aurillac (ca. 950-1003) wiederentdeckt wurden, und verschärfte sich ab dem 12. Jh., als die ersten großen Scholastiker wie Anselm von Canterbury, Gilbert von Poitiers (ca. 1080-1155) oder Abaelard auf Basis der Grammatik und der aristotelischen Logik Begriffe der terministischen Logik schufen, um geistigen Bewegungen (passiones) jenseits grammatischer Kategorien nachzugehen. Die Verschmel‐ zung von Grammatik und Logik war jedoch nicht vollständig, da zum einen sich auch Scholastiker wie Hugo von St. Viktor für eine Trennung der Disziplinen einsetzte, zum anderen die Grammatik zentral im Schulunterricht blieb (cf. Pin‐ borg 1967: 22-23). Die Sprachreflexion im Rahmen der mittelalterlichen Scholastik beruht also zunächst auf der lateinischen Schulgrammatik, denn Latein war - wie eben dar‐ gelegt - die erste Sprache des Unterrichts und auch die einzige Sprache aller weiterführenden Studien. Sie war Objekt- und Metasprache gleichermaßen, denn durch die Beschäftigung mit dieser nach strengen Regeln zu erlernenden Sprache ergaben sich erste Fragestellungen. Das Beherrschen derselben galt als eine ‚spezifische Fertigkeit‘ bzw. ‚Technik‘ oder ‚Kunst‘ (v. supra), wie Titel der Grammatiken von Dionysios Thrax (cf. Τέχνη γραμματική, téchnē grammatikē), 237 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="238"?> 383 Cf. z. B. Remmius Palaemon, Ars grammatica (1. Jh.); Marius Plotius Sacerdos, Artes grammaticae (3. Jh.); Flavius Sosipater Charisius, Ars grammatica (4. Jh.); Diomedes, Ars grammatica (4. Jh.); Aurelius Augustinus, Ars breviata (5. Jh.); Anonymus (Irland), Ars Ambrosiana (7. Jh.); Petrus von Pisa, Ars grammatica (8. Jh.); Paulus Diaconus, Ars minor (8. Jh.); Clemens Scotus, Ars grammatica (9. Jh.) (cf. Jungen / Lohnstein 2007: 56, 64-65, 82-84). 384 Gerade die Grammatik von Donat war so weit verbreitet und stark rezipiert, daß der Autor selbst zum nomen appellativum für eine Grammatik wurde, also eponymisch gebraucht wurde, wie sich beispielsweise an der frühen okzitanischen Grammatik Lo Donatz proensals (ca. 1225-1245) zeigt, an der ersten französischen Grammatik Donait françois (1400 / 1409) oder an der neuzeitlichen deutschen Grammatik von Isaac Poel‐ mann, Zu Gottes und der hoochdeutschen Sprache Lob und Ehren, Neuer hoochdeutscher Donat, zum Grunde gelegt der neuen hoochdeutschen Grammatik (1671). Donat (cf. Ars grammatica) oder anderen 383 nahelegen (cf. Stolz / De‐ brunner / Schmid 1966: 16-20; Bossong 1990: 19). 384 Die Grammatik vor allem ist sozusagen die fest-gestellte, verfügbare und ordentlich geregelte Sprache. Dies befördert die Vorstellung, daß eine Sprache erst dann eine „richtige“ Sprache ist, wenn sie eine Grammatik hat, d. h. wenn sie in eine buchför‐ mige, regelhafte Beschreibung überführt worden ist. (Trabant 2006: 41). Die Volkssprachen hingegen wurden als regellos betrachtet, eben weil ihnen die Würdigung einer grammatischen Beschreibung bisher nicht zugefallen war, aber auch weil sie nicht die gleiche alte und umfangreiche Literaturtradition hatten und als Sprachen des täglichen Umgangs im familiären und privaten Be‐ reich wenig Prestige genossen. Das Nachdenken über die Sprache konnte sich deshalb nur am Lateinischen entzünden, am Studium von Donat und Priscian, die ausführlich kommentiert wurden (cf. Bossong 1990: 18-19; Trabant 2006: 40-41). Diese Konstellation begünstigte zweifellos das Aufkommen eines eher theoriebe‐ tonten, universalistischen und rationalistischen Sprachdenkens: an der klar und streng aufgebauten Form dieser einen Kunstsprache glaubte man, die Form von Sprache schlechthin ablesen zu können; das scheinbare Chaos der primären Um‐ gangssprache in ihrer undurchschaubaren Vielgestaltigkeit verstellte nicht den Blick auf die interne Logik der semantischen und syntaktischen Mechanismen. (Bossong 1990: 19) Aus der Beschäftigung mit der Schulgrammatik, insbesondere des Priscian, dessen Kommentierungen immer ausführlicher und eigenständiger wurden, er‐ wuchs die sogenannte grammatica speculativa (später auch: grammatica uni‐ 238 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="239"?> 385 Das Adjektiv speculativa ist zum einen als Ableitung zu speculum (dt. ‚Spiegel‘) zu ver‐ stehen (fig. ‚Sprache als Spiegel der Wirklichkeit‘) und andererseits als Lehnüberset‐ zung zu griech. θεωρετικός (theōrētikós) (cf. Bossong 1990: 19; Leiss 2009: 60). Das uni‐ versalistische Prinzip ist erstmals 1240 belegt, in einer Quaestionensammlung der Pariser Artistenfakultät, in der deutlich ausgesprochen wird, daß es beim Studium der Grammatik nicht um die Struktur von Einzelsprachen geht, sondern um allgemeine Regeln der Sprache an sich (cf. virtutes generales) (cf. Pinborg 1967: 26). 386 „Das Prestige dieser Theorie [der Spekulativen Grammatik] muss groß gewesen sein: Europäische Studenten sollen sich als Muslime verkleidet nach Spanien begeben haben, um dort Vorlesungen über arabische Philosophie und Grammatik zu hören“ (Leiss 2009: 60). 387 Das Adjektiv trivialis bezieht sich auf das Trivium, d. h. die Grammatik als Teil der artes im Sinne eines grundlegenden Unterrichts der lateinischen Sprache (≠ dt. trivial) (cf. Leiss 2009: 60). 388 Der Begriff modus significandi tritt bereits bei Boethius auf, ist aber dort noch kein terminus technicus (cf. Pinborg 1967: 39). versalis), 385 d. h. die eigentliche Sprachtheorie der Scholastik. Die ersten, die sich von Priscian lösten und die Sprache auf weitere Funktionalitäten und Ursachen hin abfragten (cf. causae inventiones), waren Wilhelm von Conches (ca. 1080-1154) in De philosophia mundi und Petrus Helias (ca. 1100-166) aus Poi‐ tiers mit seiner Summa in Priscianum. Die Blütezeit der spekulativen Univer‐ salgrammatik (1240 / 50-1320 / 50) ist allerdings nach den entscheidenden Im‐ pulsen durch die jüdisch-arabische Aristoteles-Tradition anzusetzen, die insbesondere durch den aus Córdoba stammenden Averroes geprägt wurde, der einen umfangreichen Aristoteles-Kommentar geschaffen hat (u. a. zur Nikoma‐ chischen Ethik und zur Poetik) und dessen Schriften in Toledo an der berühmten Übersetzerschule ins Lateinische übertragen wurden, von wo aus sie ihren Weg an die europäischen Universitäten (insbesondere Paris) fanden. 386 Es entstand auf Basis des Aristotelismus eine neuer Begriff von Wissenschaftlichkeit, bei dem Theorie und Praxis getrennt wurden; so löste sich die praktische gramma‐ tica trivialis, 387 also der Lateinunterricht, von der grammatica speculativa als einer philosophisch-spekulativen Sprachbetrachtung, die sich mit dem Wesen der Syntax und Semantik auf Basis der ratio bzw. der Logik auseinandersetzte. Die erstere ist dabei dem Bereich der ars (griech. τέχνη, téchnē) zuzuordnen (v. supra), die zweite dem der sapientia (griech. ἐπιστήμη, epistēmē), d. h. allgemein der Weisheit, hier spezifisch im Sinne von Wissenschaft (scientia) (cf. Bossong 1990: 19-25). Die Philosophen, die sich jenseits der grammatischen Kategorien mit dem Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit auseinandersetzen, sind die sogenannten Modisten (modistae), basierend auf dem zentralen Begriff der modi signficandi, 388 in dem die verschiedenen Möglichkeiten oder Arten (modi) der 239 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="240"?> 389 Das Epitheton Dacus bzw. de Dacia bezieht sich im Mittelalter auf Dänemark (mitunter metonymisch auch auf ganz Skandinavien, d. h. v. a. auf Schweden), aus einer verwech‐ selten Lautähnlichkeit zwischen lat. Dacia (‚Rumänien‘) und lat. Dania (‚Dänemark‘) bzw. danica (‚dänisch‘). 390 Es gibt zudem weitere anonyme modistische Traktate. Insbesondere bei der ersten Ge‐ neration der Modisten ist die chronologische Reihenfolge der Entstehung der Schriften schwer zu ermitteln. Repräsentation eines Gegenstandes (res) zum Ausdruck kommen, die man durch die Sprache erfassen kann. Der erste Scholastiker, der derartige Denkmodelle präsentiert und dessen Werk die begriffliche Grundlage für die Epoche der Modisten legt, war Martin von Dacien (Martinus Dacus / Martinus de Dacia, 389 † 1304) mit seinem Tractatus de modis significandi (ca. 1255). Es folgen weitere dänische Autoren wie Boethius von Dacien (Boethius Dacus / Boethius de Dacia, † 1284) mit den Modi significandi sive quaestiones super Priscianum Maiorem (ca. 1270 / 1275), Simon von Dacien (Simon Dacus / Simon de Dacia, 13. Jh.) mit dem Domus grammaticae (ca. 1255 / 1270), Johann von Dacien (Johannes Dacus / Johannes de Dacia, 13. Jh.) mit einer Summa grammatica (ca. 1280) sowie der französische Modist Michael von Marbais (Michael de Marbasio / Morbosio, 13. Jh.), mit einem ihm zugeschriebenen Werk De modi significandi (ca. 1270 / 1300), welches sich eng an Boethius an‐ lehnt. Eine zweite Generation, die auch die Werke der ersten kommentierte, er‐ wächst durch Radulphus Brito (Raoul le Breton, ca. 1270-1320) mit den Quaes‐ tiones super Priscianum Minorem (ca. 1300), Siger von Courtrai (Sigerus de Cort‐ raco, ca. 1283-1341) mit der Summa modorum significandi (14. Jh.), Peter von Auvergne (Petrus de Alvernia, ca. 1240-1303 / 1304) mit seinen Literalkommen‐ taren zu Aristoteles, Simon von Faversham (Simon Anglicus, ca. 1260-1306 / 1307) und schließlich durch den einflußreichsten der Modisten, Thomas von Erfurt (Thomasus Erfordiensis bzw. de Erfordia † 1325) mit seiner Grammatica speculativa (1300 / 1310) (eigentl. De modis significandi, sive Gram‐ matica speculativa). Die Hauptwirkungsstätte der Modisten war die Artistenfa‐ kultät (facultas artium) der Universität von Paris, die wiederum auf die Hoch‐ schulen von Bologna und Erfurt ausstrahlte (cf. Rosier-Catach 1983: 18-22; Wolters 1992: 596-597; Leiss 2009: 65-66). 390 So wirkten in Bologna beispiels‐ weise Gentile da Cingoli (13. Jh.) mit seinen Quaestiones supra Prisciano minori sowie Matteo da Bologna (13. Jh.) mit den Questiones magistri Mathei Bononiensis super modos significandi et super grammaticam, die wohl beide auf Dante und seine sprachtheoretischen Betrachtungen im Convivio und in De vulgari elo‐ quentia wirkten (cf. Corti 1993: 79). 240 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="241"?> 391 Thomas von Erfurt illustriert diese Differenzierung anhand von Nomen und Pronomen, die den gleichen modus entis hätten, also die material identisch seien, aber formal un‐ terschiedlich, und dem Verb und Partizip, die den gleichen modus esse hätten, also in Die Lehre der Modisten verknüpfte die sprachphilosophische Tradition der Stoiker, Platons und vor allem Aristoteles᾽, mit der grammatischen, d. h. der ur‐ sprünglichen alexandrinischen (cf. Dionysios Thrax (ca. 180-90 v. Chr.), Apol‐ lonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.)), die dann durch die lateinische bis Donat und Priscian fortgesetzt wurde (v. supra). Hieraus ergibt sich eine modistische Be‐ trachtung, der allgemeine metaphysische Begriffe wie Materie (materia) vs. Form (forma) oder Substanz (substantia) vs. Akzidenz (accidentia) und zeichen‐ theoretische wie sprachlicher Ausdruck (vox), bedeutungstragende Einheit (dictio), bezeichneter Gegenstand (significatum speciale) oder Bezeichnungsre‐ lation (ratio consignificandi) zugrundeliegen sowie allgemeine grammatische, wie die Lehre von den Wortarten (partes orationis) (cf. Wolters 1992: 598). Die Sprache der Betrachtung konnte dabei nur das Lateinische sein, die dabei als Universalsprache fungierte, d. h. als Anschauungsobjekt jenseits einzel‐ sprachlicher (d. h. volkssprachlicher) Charakteristika. Die mittelalterliche Idee einer für alle Sprachen gültigen Grammatik ist eine Konse‐ quenz des allgemein akzeptierten aristotelischen Wissenschaftsbegriffs. Danach ist insbesondere für jede Wissenschaft ein allgemeiner und invarianter Gegenstandsbe‐ reich erforderlich. Folglich können die von Sprache zu Sprache verschiedenen sprach‐ lichen Ausdrücke der Einzelsprachen kein Gegenstand einer wissenschaftlichen Logik oder Grammatik sein. Vielmehr sind für Wissenschaft invariante sprachliche Phäno‐ mene erforderlich, „die für Sprache als Sprache charakteristisch sind“ […]. (Wolters 1992: 597-598) Die beiden Hauptprämissen der modistischen Sprachbetrachtung sind, daß a) eine bestimmte Ikonizität zwischen den Gegenständen der Welt und der Struktur der Sprache besteht, woraus sich eine universalistische Position in Bezug auf den Aufbau aller Sprachen ergibt, sowie, daß b) die Perspektive des Betrachters, d. h. des Sprachbenutzers, eine Rolle spielt, so daß in der Sprache die je spezifi‐ sche Form der Perspektive auf die Welt zum Ausdruck kommt (cf. Leiss 2009: 61). Es werden grundsätzlich drei Ebenen der Erfassung der Welt, d. h. der Rela‐ tionen zwischen res, conceptiones und voces, unterschieden: Die erste Ebene ist die ontologische Ebene, d. h. die der Dinge, die sich in den Modalitäten des Seins ausdrückt, den modi essendi. Diesbezüglich kann nochmal zwischen dem modus entis (Seinszustand) und dem modus esse (Seinstätigkeit bzw. -vorgang) unter‐ schieden werden 391 (cf. Bereich der Metphysik bzw. Ontologie). Die zweite Ebene ist die der mentalen Repräsentation, d. h. das Erkennen der realen Welt, welches 241 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="242"?> Bezug auf den Vorgang in ihrer Materie identisch seien, aber ebenfalls hinsichtlich ihrer Form verschieden (cf. Wolters 1992: 599). 392 Von Thomas von Erfurt wird noch eine weitere Differenzierung eingeführt, nämlich diejenige zwischen dem modus significandi passivus, d. h. wie die Eigenschaften eines Gegenstandes (proprietas rei) von der Sprache wiedergegeben werden, und dem modus significandi activus, der das Verhältnis des sprachlichen Ausdrucks zu seiner katego‐ rialen Bedeutung (proprietas voci) erfaßt. Bei den modi intellgendi wird auf analoge Weise unterschieden (cf. Coseriu 2015: 160). sich in den Modalitäten des Verstehens, den modi intelligendi ausdrückt. Auf dieser Ebene wirkt der Prozess der impositio, d. h. das Einwirken der Welt auf den Erkennenden, der noch weitgehend passiv ist, so daß die Eindrücke auf den Geist noch ungeformt sind. Auf dieser Ebene wird z. B. noch nicht zwischen den Wortarten unterschieden: So sind z. B. dolor (Nomen), dolēo (Verb), dolēns (Par‐ tizip) und dolenter (Adverb) als Teil einer bedeutungsgleichen Einheit (dictio) noch nicht weiter differenziert (cf. Bereich der Logik). Die dritte Ebene ist die‐ jenige, die sich auf die konkreten Wörter bezieht, d. h. die sprachlichen Ein‐ heiten, die die mentalen Repräsentationen widerspiegeln und die durch die modi significandi geformt werden. Hierbei findet ein zweiter Prozess der impositio statt, bei dem der Betrachter nun aktiv ist, während die Welt der Dinge (bzw. des Seins) passiv bleibt, und verschiedene Darstellungsmodalitäten der Wirk‐ lichkeit selektiert, was sich dann in grammatischen Kategorien äußert (cf. Be‐ reich der Grammatik). 392 Das Ganze kann als doppelter semiotischer Prozeß verstanden werden, bei dem auf ontologischer Ebene, d. h. der Ebene der Seinsweisen, die Dinge in Re‐ lation zueinander stehen, wodurch lexikalische Relationen abgebildet werden. Dabei findet eine Selektion von Merkmalen statt, da die Realität unendlich viel‐ fältig ist und in einem Abbildungsverfahren nur saliente Merkmale selektiert werden bzw. die Wirklichkeit manche als salient präsentiert. Es besteht also in diesem Fall zwischen der außersprachlichen Realität und der zeichenhaften Ab‐ bildung eine Motiviertheit, demgemäß ist ihre Beziehung nicht arbiträr. In einem zweiten Teil des Prozesses tritt der Betrachter, d. h. der Sprachbenutzer hinzu, der den durch den modus intelligendi erworbenen mentalen Eindruck kategori‐ siert, und zwar durch die grammatischen Kategorien. Durch die modi signifi‐ candi werden also Wortarten festgelegt und damit eine spezifische Sicht auf die Welt (auch modus consignificandi). Die Wortarten haben daher bei den Modisten einen hohen Stellenwert als maßgebliche Kategorien. Im gesamten Prozeß wird also erst durch die impositio 1 eine Beziehung zwi‐ schen dem rohen phonetischen Zeichen (vox) und dem Objekt (significatum (speciale)) hergestellt und zu einer bedeutungstragenden (lexikalischen) Einheit (dictio) geformt, wodurch eine Bezeichnungsrelation (ratio significandi) ent‐ 242 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="243"?> 393 Der Universalienstreit war eine Auseinandersetzung bezüglich des Status᾿ der Univer‐ salien, ob sie reine mentale Begriffe sind (Nominalismus) oder, ob diese allgemeinen Entitäten auch durch allgemeine Begriffe widergespiegelt werden (Realismus) bzw. ob diese allgemeinen Begriffe zwar die Universalien beinhalten, diese jedoch unabhängig davon existieren (gemäßigter Realismus). Es geht also darum, ob die Universalien von den individuellen Realitäten unabhängig sind oder selbstständig, ob sie diesen voraus‐ gehen, ihnen zugrundeliegen oder nur in Verbindung mit individuellen Wesen oder Namen bzw. Wörtern auftreten (cf. Regenbogen / Meyer 2013: 688, s. v. Universalia). steht. Diese Einheit wird dann schließlich durch die impositio 2 grammatischen Kategorien zugeordnet, so daß eine weitere semantische Relation (ratio consig‐ nificandi) entsteht, die sich auf die Merkmale der Wortarten und solche anderer grammatischer Kategorien (Numerus, Genus, Person, Tempus, Modus, Dia‐ these) bezieht (cf. Bossong 1990: 28-29; Wolters 1992: 598-599; Leiss 2009: 60-65). Thomas von Erfurt faßt beispielsweise diese zweifache Zuschreibung der le‐ xikalischen und der grammatischen Bedeutung eines lautlichen Zeichens (vox), die unser Verstand (intellectus) vornimmt, folgendermaßen zusammen: Intellectus duplicem rationem voci tribuit. Iuxta quod notandum quod cum intellectus vocem ad significandum, et consignificandum imponit, duplicem ei rationem tribuit, scilicet, rationem significandi quae vocatur significatio, per quam efficitur signum, vel significans; et sic formaliter est dictio; et rationem consignificandi, quae vocatur modus significandi activus, per quam vox significans fit consignum, vel consignifi‐ cans; et sic formaliter est pars orationis; […]. (Thomas von Erfurt, Gramm. spec. I, 3; 1972: 136) Die Modisten sind gemäßigte Realisten, 393 da sie zwar die sprachlichen Struk‐ turen von der Struktur der Wirklichkeit abhängig machen, aber nur indirekt, da intellektuelle Operationen nötig sind, um die Zuordnung der in den Einzel‐ dingen angelegten Universalien zu den sprachlichen Entitäten und den gram‐ matischen Kategorien zu gewährleisten. Die sprachliche Wirklichkeit, die nur eine einzige ist, kann dabei jedoch von einer universalen Grammatik widerge‐ spiegelt werden, die den einzelsprachlichen Gegebenheiten vorausgeht (cf. Wol‐ ters 1992: 599). Denkansätze der modistischen Sprachtheorie findet man auch in späteren sprachtheoretischen sowie modernen linguistischen Theorien. Was die univer‐ salistische Position anbelangt, so ergibt sich eine Linie zur Grammatik von Port-Royal, aber auch zum Universalismus Wilhelm von Humboldts (1767-1835) mit seinen dynamischen Prozessen (cf. energeia), bis hin zu Chomsky, in dessen Unterteilung in Oberflächen- und Tiefenstruktur man die Unterscheidung in modi significandi und modi intelligendi widererkennen kann. Dieser bezieht sich wie auch Tesnière mit seiner Dependenzgrammatik und 243 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="244"?> 394 Dies findet sich auch bei Dante wieder, für den Sprechen nichts anderes ist als das mentale Konzept, das in uns wohnt, anderen mitzuteilen (cf. nostre mentis enucleare aliis conceptum; DVE I, 2, 3; 2007: 24), was er vermutlich von Thomas von Aquin übernommen hat (cf. „Nihil est enim aliud loqui ad alterum, quam conceptum mentis alteri manifes‐ tare“; Sum. theol. I a , q.107, a.1 co. [32 891]; 2019: online) (cf. Apel 1963: 106). 395 In dieser eindimensionalen Bezüglichkeit zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem steht das Nomen für Substanz (bzw. Qualität) und das Verb für Tätigkeit (actio) oder Erleiden (passio) (cf. Bossong 1990: 27). 396 Die bekannteste nominalistische Maxime ist das Ökonomieprinzip, auch als Ockhams Rasiermesser bekannt (cf. Leiss 2009: 71, FN 12), da es Wilhelm von Ockham im 17. Jh. zugeschrieben wurde: entia non sunt multiplicanda sine necessitate. Neben der Meta‐ physik-Kritik (bzgl. der Entitäten des Universums) enthält dies auch einen zeichenthe‐ oretischen Aspekt, nämlich, daß jedem sprachlichen Ausdruck nicht auch eine einzelne außersprachliche Realität entsprechen müsse (also ,die Entitäten nicht ohne Not zu vervielfältigen sind‘) oder mit anderen Worten, daß das Zeichen nicht ikonographisch die Wirklichkeit widerspiegle (Realismus), sondern abriträr sei (Nominalismus). 397 Im Mittelalter setzt sich der bereits im Kratylos-Dialog von Platon angesprochene Streit zwischen der phýsei-Theorie (φύσει) und thései-Theorie (θέσει, νομῳ) fort, wird aber schließlich weitgehend zugunsten der nominalistischen thései-Position, also der Idee einer arbiträren Relation zwischen Sprachzeichen und Wirklichkeit, entschieden. deren Abhängigkeitsrelationen auf die Grammaire générale et raisonnée (1660) von Antoine Arnauld (1612-1694) und Claude Lancelot (1615-1695) als Vor‐ läufer. Die semiotischen Relationen, die auf antiken Vorarbeiten (cf. Stoiker, Platon, Aristoteles, Augustinus) basieren, avancieren zum scholastischen Diktum voces significant res mediantibus conceptibus, 394 welches das einfachere aliquid stat pro aliquo 395 ablöst und sich in den Zeichenmodellen von Peirce sowie auch Ogden und Richards wiederfindet. Auch wenn nach 1350 die modistische Lehre keine weiteren Innovationen erfuhr, wurde sie noch bis ins 16. Jh. tradiert, war also auch im Humanismus noch präsent. Die beherrschende Strömung, neben einer konservativen averro‐ istischen Kritik, wurde dann aber eine nominalistische Position, wie sie vor allem Wilhelm von Ockham vertreten hat, 396 der selbst allerdings keine Kennt‐ nisse der grammatica speculativa hatte, sondern sich direkt auf die traditionelle Grammatik (d. h. Priscian) und Logik bezog. Auch seine Nachwirkung blieb zu‐ nächst eher bescheiden (Wiederentdeckung im 19. Jh.), dennoch setzten sich die nominalistisch ausgerichteten Ansichten - d. h. a) die Arbitrarität des Zei‐ chens 397 und b) die Negierung der Ähnlichkeit zwischen der Struktur der Wirk‐ lichkeit und der des menschlichen Denkens - über andere wie z. B. Pierre d’Ailly (ca. 1350-1420) weitgehend durch. Die Differenziertheit und Komplexität der modistischen Sprachbetrachtung ging jedoch für die Grammatikschreibung zu‐ nächst verloren (cf. Bossong 1990: 29; Wolters 1992: 596-597; Jungen / Lohnstein 2007: 152-155; Leiss 2009: 70-72). 244 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="245"?> 398 So wurde vor allem griechische Literatur selten rezipiert bzw. meist nur in lateinischer Übersetzung, da die Kenntnis des Griechischen im Mittelalter selten war, was beispiels‐ weise Roger Bacon beklagt, der als einer der ersten dazu aufruft, sich die Bibelsprachen Griechisch und Hebräisch anzueignen. Die arabischen Texte der großen Aristo‐ teles-Kommentatoren wurden erst durch Übersetzungen aus Sizilien und vor allem Spanien (cf. Schule von Toledo) zugänglich. Stetige Dispute an den großen Universitäten wie Paris zeigen, daß man vielfach um die überlieferten Texte der großen Philosophen stritt, innerhalb bzw. zwischen den Schulen und vor allem mit dem Papst oder seinen Stellvertretern (cf. z. B. die Aristotelesverbote 1210, 1215, 1228, 1263, 1270, 1277; cf. Schupp 2003: 328-329; Signori 2007: 89). Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß es durchaus auch eine Offenheit für nicht kirchlich sanktioniertes Schriftgut gab, um wel‐ ches immer wieder gerungen wurde. 399 So finden sich in Dantes Divina Commedia nicht nur zahlreiche Autoren der klassischen Antike, wie an prominentester Stelle Vergil als Führer durch das Inferno, sondern auch Kirchenväter wie Hieronymus (cf. Div. Comm., Par. XXIX, 37; 1988 III: 344), Augustinus Neben der grammativa speculativa der Modisten gab es innerhalb der Scho‐ lastik auch noch weitere sprachtheoretische Strömungen wie die Lehre von den Suppositionen (von Wilhelm von Shyreswood (ca. 1200 / 1210-1266 / 1272) bis Wilhelm von Ockham), bei der verschiedene objekt- und metasprachliche Ver‐ wendungen von Ausdrücken diskutiert wurden (cf. Haupttypen: suppositio for‐ malis vs. suppositio materialis), sowie andere (terministische) semiotische Dis‐ kussionen (cf z. B. appellatio vs. significatio, proprietates significatorum, proprietates terminorum) wie beispielsweise bei Anselm von Canterbury, Petrus Hispanus, Roger Bacon oder Thomas von Aquin (cf. Gombocz 1992: 61-71; Nöth 2000: 9-12; Coseriu 2015: 148-169). Die Epoche der Scholastik legt in vielerlei Hinsicht die Grundlage für den anschließenden Humanismus und die Renaissance, denn auch wenn letztere die Wiederbelebung der Antike als eine ihre Grundmerkmale aufweist, wurde in der mittelalterlichen Gelehrtenkultur das Erbe der Antike weitertradiert, wenn auch, bedingt durch Sprach- und Glaubensbarrieren, 398 nicht umfänglich und sicherlich selektiv. Die Generation der Humanisten wird immer noch in den im Mittelalter geschaffenen Bildungsstrukturen ausgebildet, rezipiert zumindest zunächst die seit jeher tradierten Grammatiken sowie philosophischen und li‐ terarischen Autoren, wird an ihnen und an der lateinischen Sprache geschult. Dies zeigt sich insbesondere an dem an der Epochenschwelle stehenden Dante, der ohne Teil der universitären Strukturen zu sein auch allgemeines scholastisches Wissen des 13. Jhs. repräsentiert (beeinflußt u. a. wohl von Petrus Lombardus, Bonaventura, Albertus Magnus und Thomas von Aquin) und selbst scholastische Schriften wie die Qaestio de aqua et terra, De vulgari eloquentia, die Epistola XIII und das Convivio verfaßt, dabei jedoch eigene Wege geht (cf. Imbach 2015: X). 399 Dazu gehören auch die in seinem Werk nachweisbaren Ein‐ 245 6.1 Die Rahmenbedingung: La questione della lingua <?page no="246"?> und Johannes Chrysostomus sowie Scholastiker wie Bonaventura, Hugo von St. Viktor, Petrus Comestor (ca. 1100-1178) Petrus Hispanus (1220-1277), Anselm von Canterbury, Rhabanus (Hrabanus) Maurus (ca. 780 / 783-856), Thomas von Aquin (cf. u. a. ibid. Par. XII, 127-138; 1988 III: 148), oder Albertus Magnus (cf. ibid. Par. X, 98; 1988: III: 120), Petrus Lombardus (cf. ibid. Par. X, 107; 1988 III: 122), Siger von Brabant (ca. 1240-1284) (cf. ibid. Par. X, 134; 1988 III: 124) und Bernhard von Clairvaux (1090-1153) (cf. ibid. Par. XXXI, 103; 1988: 374) sowie die arabischen Aristoteles-Kommentatoren Avicenna und Averroes (ibid. Inf. IV, 143-144; 1988 I: 56). An einer anderen Stelle erscheinen der spät‐ antike Enzyklopädist Isidor von Sevilla, der Kirchenhistoriograph und Vertreter der northumbrischen Renaissance Beda Venerabilis (ca. 672-753) und der Mystiker Richard von St. Viktor (ca. 1110-1173) (cf. ibid. Par. X, 131; 1988 III: 124). 400 Das secundum placitum ist die gängige Formulierung, um die Arbitrarität des Zeichens auszudrücken, wie es beispielsweise bei Thomas von Aquin in seinem Aristoteles-Kom‐ mentar In libros Peri Hermeneias et Posteriorum Analyticorum Expositio (Lectio IV, Pa‐ ragr. 6) zu finden ist: „nomen significat secundum placitum, quia nullum nomen est naturaliter“. Zugrunde liegt hier die Übersetzung der aristotelischen Schrift Пερί ἑρμηνείας (De interpretatione) des Boethius, in der er griech. κατὰ συνθήκην (katà syn‐ théken) auf diese Weise widergibt: „Nomen ergo est vox significativa secundum pla‐ citum“ (zit. nach Coseriu 2015: 75; cf. auch ibid. 2015: 100-101). 401 Zu seiner eher anti-modistischen semiotischen Position cf. z. B. Ellena (2004: 74). Um‐ strittene Indizien für eine Rezeption Dantes der Modisten (z. B. Martin von Dacien, Boethius von Dacien oder Siger von Brabant) sind z. B. der Ausdruck modus tractandi im Schreiben an Cangrande della Scala (Dante, Epist. XIII, 27; 1993: 10), das im Übrigen ganz der universitären (scholastischen) Tradition der lectio gehorcht, oder auch der Ausdruck forma locutionis in De vulgari eloquentia (Dante, DVE I, 6, 4; 2007: 40) (cf. Curtius 1993: 229, § 3; Coseriu 2003: 146). Zur Diskussion um die Möglichkeit bzw. den Grad des Einflusses der Modisten auf Dante bezüglich einzelner Begriffe und Konzepte cf. z. B. Lo Piparo (1986), Corti (2003) oder Marmo (2014). flüsse der Modisten, an erster Stelle wohl durch Boethius von Dacien, wobei Dante hinsichtlich der Zeichentheorie eine eher nominalistische, d. h. anti-mo‐ distische Auffassung vertritt, da er das Zeichen als arbiträr ansieht, wie in dem Ausdruck ad placitum (Dante, DVE I, 3, 3; 2007: 28) deutlich wird, der eine ge‐ ringfügige Abwandlung des in der Scholastik üblichen secundum placitum 400 darstellt (cf. Kap. 6.2.2). 401 Was im Humanismus trotz der erkennbaren Kontinuität sicherlich aufgebro‐ chen wird, ist das rein formale Denken anhand der scholastischen Prinzipien und die Möglichkeit, auch außerhalb von Universitäten und klerikalen Ordens‐ strukturen zu wirken. Es entsteht vor dem Hintergrund der politischen und ge‐ sellschaftlichen Umbrüche sowie der maßgeblichen Erfindung des Buchdruckes eine neue Gelehrtenrepublik mit neuen Interessensschwerpunkten (z. B. Entde‐ ckung „neuer“ antiker Texte, Studium des Griechischen), woraus sich auch neue sprachtheoretische Fragestellungen ergeben (z. B. nach dem Ursprung der Volks‐ sprache, den Sprachen der Antike, questione della lingua) und neue Formen des 246 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="247"?> Austausches bzw. der Äußerung (z. B. Platonische Dialoge, Invektiven, volks‐ sprachliche Traktate, Grammatiken und Wörterbücher), im Spannungsfeld zwi‐ schen städtischem Patronat, höfischem und kurialem Mäzenatentum sowie Lehr- und Bildungsstrukturen in Universitäten und neugegründeten Akade‐ mien. (cf. Kap. 6.1.1, Kap. 6.2). 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini 6.2.1 Methodische Präliminarien In den nun folgenden Kapiteln werden nacheinander die wichtigsten Protago‐ nisten der Debatte zur antiken Sprachenfrage abgehandelt, d. h. im Wesentlichen wird pro Kapitel einer der hierbei maßgeblichen humanistischen Renais‐ sance-Gelehrten besprochen. Im Vordergrund stehen dabei immer die jeweiligen Traktate, welche die Schlüssel-Informationen enthalten, die in dieser Diskussion relevant sind. Darüber hinaus werden dann jedoch auch weitere Schriften des jeweiligen Gelehrten berücksichtigt, um das Gesamtbild seiner Stellungnahme bzw. seiner Überlegungen zu dieser Thematik abzurunden. Die Auswahl der Autoren und ihrer Texte richtet sich dabei zum einen nach den mehr oder weniger kanonisierten Protagonisten, die in der aktuellen For‐ schungsliteratur behandelt werden (cf. z. B. Schlemmer 1983a; Tavoni 1984; Ma‐ razzini 1989; Mazzocco 1993; Coseriu / Meisterfeld 2003; Marchiò 2008; Marcel‐ lino / Ammannati 2015, Eskhult 2018) und zum anderen danach, ob ein Humanist zu vorliegender Debatte inhaltlich einen neuen Aspekt beigesteuert hat und / oder in Bezug auf die Rezeption und Tradierung dieser Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Die einzelnen Kapitel sind unter Berücksichtigung der hier dargestellten Me‐ thodik wie folgt gegliedert: Zunächst wird der Inhalt der für diese Fragestellung zugrundegelegten Haupttexte zusammengefaßt bzw. die entscheidenden Pas‐ sagen im Hinblick auf das Vorkommen von Ausführungen zum lateinischen Varietätenraum und dem Sprachwandel samt seinen Einflußfaktoren selektiert und im Hinblick auf eine exakte Verortung mit einer ersten Kommentierung versehen (cf. jeweiliger Unterpunkt: Textanalyse); daraufhin erfolgt in einem zweiten Schritt eine Bestimmung im Rahmen einer sozio und varietätenlingu‐ istischen Einordnung (cf. jeweiliger Unterpunkt: Sozio- und varietätenlinguisti‐ sche Perspektive), im dritten Schritt dann eine Rekontextualisierung unter Be‐ rücksichtigung der zeitgenössischen Geistesgeschichte sowie gegebenenfalls 247 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="248"?> 402 So soll im Folgenden unter anderem der Aspekt des sprachlichen Zeichens bei Dante ausgeklammert werden (cf. rationale signum et sensuale (DVE I, 3, 2; 2007: 28), ad pla‐ citum (DVE I, 3, 3; 2007: 28), a nostro beneplacito (DVE I, 9, 6; 2007: 58); secondo che v’abella (Div. Comm., Par. XXVI, 132; 1988 III: 316)), die Frage nach dem Sprachursprung (cf. fuit ergo hebraicum ydioma (DVE I, 6, 7; 2007: 42), cf. la lingua ch’io parlai fu tutta spenta (Div. Comm., Par. XXVI, 124; 1988 III: 314)), der Sprechfähigkeit des Menschen an sich weiterer Schriften (cf. jeweiliger Unterpunkt: Rekontextualisierung) und schließ‐ lich ein kurzes Resümee (cf. jeweiliger Unterpunkt: Synthese). Es sei an dieser Stelle dezidiert darauf hingewiesen, daß die Analyse unter dem Gesichtspunkt einer aktuellen sozio- und varietätenlinguistischen Bestim‐ mung nur dazu dient, den Blick auf das zeitgenössische Verständnis der Huma‐ nisten von Latein, Vulgärlatein, Varietät und Variation sowie Sprachwandel zu schärfen und keinesfalls eine Erwartungshaltung darstellt, wie gut sie modernen Konzepten wie z. B. ‚Diglossie‘, ‚Ausbau‘, ‚Diasystem‘ ‚Varietät‘, ‚Substrat‘, ‚Su‐ perstrat‘ oder ‚Vulgärlatein‘ entsprechen. Ebensowenig soll hierbei eine telische Entwicklung unterstellt werden, im Sinne, daß die Humanisten in ihrer Diskus‐ sion und ihrem Bemühen um ein Verständnis der antiken Sprachkonstellation auf die heutige Erkenntnis hinsteuern. Die Geistesgeschichte ist in gewisser Weise kontingent und nicht linear auf ein Ziel ausgerichtet. Nichtsdestoweniger kann die folgende Debatte um das Verständnis des antiken Lateins und der Ent‐ wicklung hin zu den romanischen Sprachen als Vorgeschichte sprachwissen‐ schaftlicher Forschung gesehen werden. 6.2.2 Der unverzichtbare Vorläufer: Dante Alighieri Der Untersuchungszeitraum vorliegender Arbeit hat die konstitutiven Eckdaten 1435 (die besagten Schriften Leonardo Brunis und Flavio Biondos, v. supra) und 1601 (das Traktat Celso Cittadinis, v. supra), dennoch wäre die Abhandlung einer metasprachlichen bzw. sprachreflektorischen Fragestellung ohne die Einbezie‐ hung der zwar größtenteils intuitiven, aber deshalb nicht weniger bahnbrech‐ enden Überlegungen Dantes zur Sprache hochgradig defizitär, zumal insbeson‐ dere bezüglich der Thematik der Sprachvariation und des Sprachwandels seine dezidierten Vorstellungen wegbereitend für fast alle folgenden Darstellungen sind. Zur Sprachauffassung bei Dante Alighieri (1265-1321) sind grundsätzlich zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen, die vor allem in seiner lateinischen Schrift De vulgari eloquentia ( DVE , 1303 / 4) niedergelegt sind, aber auch im Convivio (1304-1307) sowie implizit an der ein oder anderen Stelle der Divina Commedia (1311-1321). 402 Seine volle Wirkung entfaltete das Traktat DVE je‐ 248 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="249"?> (cf. Soli homini datum fuit ut loquerentur (DVE I, 4, 1; 2007: 30)) sowie alle weiteren Aspekte der Sprachtheorie, die in vorliegendem Zusammenhang nicht direkt relevant sind. Zu diesen bei Dante thematisierten Bereichen cf. z. B. Bossong (1990: 53-56), Liver (1992: 41-45), Coseriu / Meisterfeld (2003: 125-128), Pötters (2005: 393-396), Ellena (2011: 54-60). 403 Bis zu diesem Zeitpunkt waren von De vulgari eloquentia nur wenige Manuskripte im Umlauf und wurde offensichtlich auch nur spärlich rezipiert: „[…] il libro circolò poc‐ chissimo (se ne conoscono solo tre codici) e cadde subito in oblio. Nel Trecento quasi nessuno accennò a quell’opera, a parte Boccaccio nel Trattatello in laude di Dante, Giovanni Villani nel suo schematico racconto della vita dell’Alighieri, Antonio Pucci nel poema Centiloquio, che del resto è una riduzione in terzine della Cronica del Villani, e dunque dipende da essa“ (Marazzini 2013: 31). 404 Cf. dazu auch die Einschätzung Marazzinis (1993a: 237) in Bezug auf die Gesamtwirkung des Traktats DVE auf die questione della lingua im Allgemeinen: „A partire dal Cinque‐ cento il De vulgari eloquentia fu un punto di riferimento costante nel corso del dibattito attorno alla ,questione della linguaʻ e stimolò in varia maniera (ma sempre in modo estremamente produttivo) l’elaborazione delle teorie linguistiche.“ doch erst mit seiner Wiederentdeckung (1515) und Übersetzung ins Italienische durch Gian Giorgio Trissino (1478-1550) im Jahre 1529, 403 so daß es auf diese Weise Eingang in die questione della lingua fand. Mazzocco (1993: 24, 29) nennt die Sprachtheorie Dantes in diesem Zusammenhang auch das elixir vitae der damit zusammenhängenden und hier fokussierten Sprachdebatte um die Frage nach dem Latein der Antike. Aus diesem Grund sollen in vorliegendem Rahmen einige wichtige Aspekte der Dante’schen Sprachauffassung dargelegt werden, und zwar mit besonderem Fokus auf seine Gedanken und Ausführungen, die sich mit der diasystematisch faßbaren Variation der Sprache auseinandersetzen sowie auf seine Reflexionen zur Veränderlichkeit und Entwicklung der Sprache, und schließlich soll vor allem das bei ihm oft nur implizit dargestellte Verhältnis von Latein und Volks‐ sprache herausgearbeitet werden. Dies ist dahingehend wichtig für vorliegende Untersuchung, da bestimmte Elemente der dantʼschen Argumentation bei den späteren Renaissance-Gelehrten regelmäßig wiedererscheinen, und zwar zum einen indirekt im Zuge einer allgemeinen mittelalterlichen Sprachauffassung, die sich in manchen Zügen auch bei Dante widerspiegelt und zum anderen direkt mit oder ohne expliziter Nennung Dantes als wichtige Referenzautorität. 404 Textanalyse Schon zu Beginn seines Traktats De vulgari eloquentia charakterisiert er die Volkssprache in Italien (vulgarem locutionem), also das zeitgenössische Italieni‐ sche (bzw. seine Varietäten). Diese sei eine Sprache, die die Kinder von ihrer Umgebung lernen (ab assistentibus), sobald sie anfangen Wörter zu unter‐ 249 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="250"?> scheiden (distinguere voces), oder anders ausgedrückt eine Sprache, die man ohne jede Regel lernt (sine omni regula), indem man die Amme nachahmt (nut‐ ricem imitantes). Sed quia unamquanque doctrina oportet non probare, sed suum aperire subiectum, ut sciatur quid sit super quod illa versatur, dicimus, celeriter actendentes, quod vulgarem locutionem appellamus eam qua infantes assuefiunt ab assistentibus cum primitus distinguere voces incipiunt; vel, quod brevius dici potest, vulgarem locutionem asse‐ rimus quam sine omni regula nutricem imitantes accipimus. (Dante, DVE I, 1, 2; 2007: 20) Das Lateinische seiner Zeit sieht Dante als sekundäre Sprache (locutio secun‐ daria) - und damit die Volkssprache ex silentio als primäre -, die man mit großem Zeitaufwand (per spatium temporis) durch das Studium derselben erlernen muß (studii assiduitatem); man nennt sie gramatica (sic! ) und sie ist eine künstliche Sprache (artificalis), während die Volkssprache naturgegeben sei (naturalis est nobis). Die Tatsache, daß die Volkssprache für Dante als primär einzustufen ist und das Lateinische als sekundär ist nach Bossong (1990: 52) in dreierlei Hinsicht gültig, und zwar a) in Bezug auf den Einzelnen, der erst die Muttersprache (bzw. die Sprache der Amme) lernt bzw. aufsaugt, das Latein als Kunstsprache aber erst später erwirbt und auch nicht auf „natürlichem“ Weg, sondern durch das schulische Erlernen, b) in Bezug auf die Gesellschaft, insofern nur manche Sprachgemeinschaften das Lateinische benutzen, wohingegen alle Völker eine Muttersprache haben und c) schließlich in Bezug auf die innere Beschaffenheit der Sprache, wodurch die Volkssprache als natürlich (primär) und das Lateini‐ sche als künstlich (sekundär) klassifiziert wird. Est et inde alia locutio secundaria nobis, quam Romani gramaticam vocaverunt. Hanc quidem secundariam Greci habent et alii, sed non omnes: ad habitum vero huius pauci perveniunt, quia non nisi per spatium temporis et studii assiduitatem regulamur et doctrinamur in illa. (Dante, DVE I, 1, 3; 2007: 22) Harum quoque duarum nobilior est vulgaris: tum quia prima fuit humano generi usi‐ tata; tum quia totus orbis ipsa perfruitur, licet in diversas prolationes et vocabula sit divisa: tum qui naturalis est nobis, cum illa potuis artificalis existat. Et de hac nobiliori nostra est intentio petractare. (Dante, DVE I, 1, 4; 2007: 22) Was das Latein anbelangt, so ist Dante ganz der mittelalterlichen Tradition ver‐ haftet (cf. Kap. 6.1.5) und sieht die Sprache als unveränderlich an (inalterabilis 250 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="251"?> 405 Die Unveränderlichkeit wird als adliges Distinktionsmerkmal angesehen, weil Unver‐ änderlichkeit als ontologisch höher stehend eingeordnet wird, als Veränderlichkeit (cf. Cheneval 1996: 127). 406 Im Convivio ist er diesbezüglich ebenfalls sehr deutlich: „[…] perchè lo latino è perpetuo e non corruttibile, e lo volgare è non stabile e corruttibile“ (Dante, Conv. I, 5, 7; 1996: 24). Vor allem erscheint hier auch das Argument der corruptio, welches in der Renais‐ sance-Debatte gut hundert Jahre später mit etwas anderen Vorzeichen zentral werden sollte (v. infra). 407 Die Unterscheidung der inventores gramatice facultatis (DVE I, 9, 11; 2007: 60) und den gramatice positores (DVE I, 10, 1; 2007: 62) geht auf den Scholastiker Boethius de Dacia (13. Jh.) zurück, der diese Differenzierung in seiner spekulativen Grammatik zu den modi signficandi trifft (cf. Scaglione 1990: 312). Cf. auch die direkten Vorläufer Dantes, den Philosophen Aegidius Romanus und den Grammatiker Henry de Crissey mit ähn‐ lichen Formulierungen (cf. Rizzo 2002: 21). 408 Welche Völker an der Aufrechterhaltung der (grammatischen) Regeln des Lateins (gra‐ matica) beteiligt sind, führt Dante allerdings nicht aus. Dabei ist anzunehmen, daß er jedoch in erster Linie an die romanischsprachigen Länder Europas dachte, evtl. noch an die deutschsprachigen oder an England. Tavoni (2015: 69-70) argumentiert es können nur Sprachen der zweiten ydioma tripharium (sì, oc, oïl) gemeint sein, da er dieses drei‐ geteilte Idiom als „unseres“ bezeichnet (Dante, DVE I, 9, 1; 2007: 54) und nur für Sprecher dieser Sprachgemeinschaft die positores gramatice durch ratio eine regulierte Sprache (gramatica) geschaffen hätten, um die babelische Verwirrung bzw. Diversifikation zu überwinden. locutionis), 405 und zwar in Zeit und Raum (diversibus temporibus atque locis), eben im Gegensatz zur Volksprache, 406 betont außerdem ihre Künstlichkeit, indem er von den „Erfindern“ der gramatica spricht (inventores gramatice) 407 und weist auf die verschiedenen Funktionen dieser auf einem gemeinsamen Konsens be‐ ruhende Sprache hin (comuni consensu multarum gentium). 408 Dabei, so kann man interpretieren, führt er die auch heute noch wichtigen Funktionen der Schriftlichkeit in einer Gesellschaft an, nämlich die Bewahrung und Tradierung des Wissens über größere Zeiträume hinweg (antiquorum autoritates et gesta) und unabhängig vom Raum (a nobis locorum diversitas), d. h. die Entkoppelung der Kommunikation von der Situationsgebundenheit wie bei einer face-to-face-Kommunikation. Hinc moti sunt inventores gramatice facultatis: que quidem gramatica nichil aliud est quam quedam inalterabilis locutionis ydemptitas diversibus temporibus atque locis. Hec cum de comuni consensu multarum gentium fuerit regulata, nulli singolari arbi‐ trio videtur obnoxia, et per consequens nec variabilis esse potest. Adinvenerunt ergo illam ne, propter variationem sermonis arbitrio singularium fluitantis, vel nullo modo vel saltim imperfecte antiquorum actingeremus autoritates et gesta, sive illorum quos a nobis locorum diversitas facit esse diversos. (Dante, DVE I, 9, 11; 2007: 60) 251 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="252"?> 409 Mit den Yspani sind hier die Okzitanen und Katalanen (inkl. Kgr. Aragón) gemeint (das Sprachgebiet westlich von Genua, DVE I, 8, 6; 2007: 52), die er unter einen Begriff sub‐ sumiert, wobei es in der Literatur der Zeit durchaus Belege für eine Differenzierung der beiden Regionen bzw. Sprachen gibt (z. B. bei Brunetto Latini), aber es wird eben auch gelegentlich unter Hispania der historische Raum bis zur Rhonemündung verstanden (cf. Mengaldo 1984a: 526). Die Bezeichnung Yspani bezieht sich dabei rein auf die Dich‐ tungssprache, wie Dante selbst darlegt: „Hoc etiam Yspani usi sunt - et dico Yspanos qui poetati sunt in vulgari oc“ (DVE II, 12, 3; 2007: 176). Vergegenwärtigt man sich die historisch literarische Einheit der okzitanischen-katalanischen Troubadourlyrik, so wird diese Klassifizierung Dantes mehr als nachvollziehbar. Darüberhinaus scheint es wenig wahrscheinlich, daß Dante keine Kenntnis von den weiter westlich gelegenen Regionen der Iberischen Halbinsel hatte, in denen ebenfalls si der Bejahungspartikel ist, auch unter Berücksichtigung des Einwandes von Ternes (1989: 66), daß die Recon‐ quista zu Dantes Zeit noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Es ist doch wohl eher davon auszugehen, daß er diese Kenntnis der heiligen Dreieinheit des ydioma tripha‐ riums opferte und damit auch das potentielle Problem weiterer Sprachen mit sì umging. Es bleibt das Problem der Abgrenzung der langue d’oïl von der langue d’oc durch die montibus Aragonie, womit wohl die Pyrenäen gemeint sind. Dabei ist davon auszugehen, daß Dantes Kenntnisse der Sprachgrenze im Westen (Loire bzw. Gironde) diffus waren, d. h. er hier die englisch besetzte Gascogne und das Toulousain hier irrtümlicherweise dem oïl-Gebiet zurechnete (cf. dazu Cecilia 1970: 343). Zur geographischen Situierung der Gallia, dem mare anglicum und den montes Aragonie cf. auch Mengaldo (1996: 68-70, FN 5). Zur sprachlichen und dialektalen Gliederung der Iberischen Halb‐ inseln nach phonischen Kriterien cf. Lang (2017: 195-210). 410 Zu anderen frühen vorwissenschaftlichen Gliederungsversuchen europäischer Spra‐ chen bzw. überhaupt nur deren Auflistung bei Rodrigo Jiménez de Rada (1170-1247), Raimon Vidal de Bezadun (1196-1252), Roger Bacon (1214-1294), Alfons dem Weisen (1221-1284, Kg. ab 1252) oder Oswald von Wolkenstein (1377-1445) cf. Holtus (1987: 350-351), Lüdtke (1981) und Schöntag (2020a). Im Gegensatz zum Lateinischen charakterisiert Dante die Volkssprache als ver‐ änderlich, und zwar in Zeit und Raum. Im Zuge seiner Betrachtung der Sprachen Europas unterteilt er mit Hilfe des Bejahungspartikels, ausgehend von einem ydioma tripharium, den Kontinent in drei sprachliche Großgruppen, nämlich die der nördlichen Region (septentrio‐ nalem regionem; Partikel: iò) die der südlichen Region (meridionalem regionem) und die der Griechen (Grecos) (cf. Dante, DVE I, 8, 2; 2007: 50). Er beschreibt nun ferner eine weitere sprachliche Aufsplittung, die er eben‐ falls anhand eines einzigen Kriteriums festmacht, nämlich wiederum durch den Bejahungspartikel. Für die südliche Region schließlich postuliert er also ein weiteres ydioma tripharium, welches wie das übergeordnete ebenfalls dreigeteilt ist und die Sprache der Spanier (Yspani; Partikel: oc), 409 der Franzosen (Franci; Partikel: oil) und der Italiener (Latini; Partikel: sì) repräsentiert (cf. Dante, DVE I, 8, 5; 2007: 52). 410 252 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="253"?> Anhand der Volkssprache(n) auf der Apennin-Halbinsel zeigt er im Folgenden weitere Arten der Variabilität auf. So veranschaulicht er die räumliche Variation, indem er die italienischen Dialekte, 14 an der Zahl (xiiii vulgaribus sola videtur Ytalia), rechts und links des Apennins auflistet (Latium bipartitum), wobei der Gebirgskamm (iugum Apenini) als sprachliche Trennlinie (linea dividente) fun‐ giert. Nos vero iudicium relinquentes in hoc et tractatum nostrum ad vulgare latium retra‐ hentes, et receptas in se variationes dicere nec non illas invicem comparare conemur. Dicimus ergo primo Latium bipartitum esse in dextrum et sinistrum. Si quis autem querat de linea dividente, breviter respondemus esse iugum Apenini, quod, ceu fistule culmen hinc inde ad diversa stillicida grundat aquas, ad alterna hinc inde litora per ymbricia longa distillat, ut Lucanus in secundo describit: dextrum quoque latus Ty‐ renum mare grundatorium habet, levum vero in Adriaticum cadit. Et dextri regiones sunt Apulia, sed non tota, Roma, Ducatus, Tuscia et Ianuensis Mar‐ chia; sinistri autem pars Apulie, Marchia Anconitana, Romandiola, Lombardia, Mar‐ chia Trivisiana cum Venetiis, Forum Iulii vero et Ystria non nisi leve Ytalia esse pos‐ sunt; nec insule Tyreni maris, videlicet Sicilia et Sardinia, non nisi dextre Ytalie sunt, vel ad dextram Ytaliam sociande. (Dante, DVE I, 10, 3-5; 2007: 64). So führt Dante im Folgenden aus, daß es nicht nur die angegebenen 14 Volks‐ prachen in Italien gäbe (v. supra), sondern auch innerhalb dieser eine weitere Differenzierung festzustellen sei (omnia vulgaria in sese variantur). Als Beispiel einer Feingliederung gibt er dabei das Senesische und Aretinische innerhalb des Toskanischen an sowie das Ferraresische und Piacentinische innerhalb des Lombardischen. Quare ad minus xiiii vulgaribus sola videtur Ytalia variari. Que adhuc omnia vulgaria in sese variantur, ut puta in Tuscia Senenses et Aretini, in Lombardia Ferrarenses et Placentini; nec non in eadem civitate aliqualem variationem perpendimus, ut superius in capitulo immediato posuimus. Quapropter, si primas et secundarias et subsecun‐ darias vulgaris Ytalia variationes calculare velimus, et in hoc minimo mundi angulo non solum ad millenam loquele variationem venire contigerit, sed etiam ad magis ultra. (Dante, DVE I, 10, 7; 2007: 66). Etwas komplexer ist der Fall seiner ebenfalls in diesem Zusammenhang ge‐ schilderten Diversität der Volksprache innerhalb einer Stadt, die er am Beispiel von Bologna festmacht. Hierbei stellt er weitere Unterschiede in der Sprache der Einwohner verschiedener Stadtviertel fest, was er an den beiden Bezirken Borgo San Felice (Bononienses Burgi Sancti Felicis) und der Strada Maggiore (Bononi‐ enses Strate Maioris) exemplifiziert. 253 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="254"?> Quare autem tripharie principalius variatum sit, investigemus; et quare quelibet is‐ tarum variationum in se ipsa variatur, puta dextre Ytalie locutio ab ea que est sinistre (nam aliter Paduani et aliter Pisani locuntur); et quare vicinus habitantes adhuc disc‐ repant in loquendo, ut Mediolanenses et Veronenses, Romani et Florentini, nec non convenientes in eodem genere gentis, ut Neapolitani et Caetani, Ravennates et Fa‐ ventini, et, quod mirabilius est, sub eadem civilitate morantes, ut Bonienses Burgi Sancti Felicis et Bonienses Strate Maioris. (Dante, DVE I, 9, 4; 2007: 56) Dante zeigt demnach die diatopische Variabilität der Volkssprache Stufe für Stufe auf, zunächst innerhalb Italiens, dann innerhalb der einzelnen Land‐ schaften, der einzelnen Städte und schließlich sogar innerhalb der Städte. Ein weiterer Aspekt der Sprachvariation, der sich aus De vulgari eloquentia herauslesen läßt, ist in einem Kapitel mit biblischen Implikationen angesiedelt. So schildert Dante, daß beim Turmbau zu Babel nach der göttlichen Sprachver‐ wirrung, durch die das Menschengeschlecht seines einheitlichen Idioms beraubt wurde, all diejenigen die gleiche Sprache unter sich behielten (loquela re‐ mansit), die die gleiche berufliche Tätigkeit ausübten (in uno convenientibus actu). Als Beispiel nennt er die Gruppe der Architekten bzw. Baumeister (cunctis architectoribus) und diejenige der Steineroller bzw. -transporteure (cunctis saxa volventibus) sowie unbestimmte weitere Berufsgruppen, deren Sprache im Sinne einer Diastratik interpretierbar wäre (v. infra). Solis etenim in uno convenientibus actu eadem loquela remansit: puta cunctis archi‐ tecoribus una, cunctis saxa volventibus una, cunctis ea parantibus una; et sic de sin‐ gulis operantibus accidit. Quot quot autem exercitii varietates tendebant ad opus, tot tot ydiomatibus tunc genus humanum disiungitur; et quanto excellentius exercebant, tanto rudius nunc barbariusque locuntur. (DVE I, 7, 7; 2007: 46) Als letzte Art der bei Dante dargestellten Sprachvariation sei die zeitliche Ebene bzw. der Sprachwandel angesprochen. Recht explizit manifestiert sich dies am Beispiel der Einwohner von Pavia. So schildert er anschaulich, daß im Falle des Wiederauferstehens früherer Einwohner der Stadt (vetustissimi Papienses), man sehen würde, daß diese in einer ganz anderen Sprache reden würden (sermone vario vel diversos) als die heutige Bevölkerung (modernis Papiensibus). Um das Phänomen für den Leser noch deutlicher zu gestalten, zieht Dante hier die Pa‐ rallele zu einer wenn nicht so starken, aber dennoch wahrnehmbaren Verände‐ rung der Sprache im Laufe eines Menschenlebens. So ist dies für ihn auch Indiz für eine vermeintliche Unveränderlichkeit der Sprache, denn - so seine Aus‐ führungen - wird man bei einem jungen Mann, den man aufwachsen sieht, die sich verändernde Sprache nicht wahrnehmen, weil dies so langsam vor sich geht. 254 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="255"?> 411 Zu Einzelheiten bezüglich der europäischen Dreiteilung der Sprachräume und schließ‐ lich der weiteren Unterteilung der Romania in wiederum drei Hauptsprachen cf. Men‐ galdo (1971: 659-660) und Mengaldo (1984b: 722-723). Nec dubitandum reor modo in eo quod diximus ‚temporum‘, sed potius opinamur tenendum: nam sia alia nostra opera perscrutemur, multo magis discrepare videmur a vetustissimis concivibus nostris quam a coetanis perlonginquis. Quapropter au‐ dacter testamur quod si vetustissimi Papienses nunc resurgerent, sermone vario vel diverso cum modernis Papiensibus loquerentur. Nec aliter mirum videatur quod dicimus quam percipere iuvenem exoletum quem exolescere non videmus: nam que paulatim moventur, minime perpenduntur a nobis, et quanto longiora tempora variatio rei ad perpendi requirit, tanto rem illam stabili‐ orem putamus. (Dante, DVE I, 9, 7-8; 2007: 58) Die Veränderlichkeit der Sprache in zeitlicher Dimension spricht er implizit wie auch explizit auch in Zusammenhang mit der Gliederung der europäischen Idiome an (v. supra). So erklärt er zunächst (cf. Dante, DVE I, 8, 3; 2007: 50), daß auch aus dem ersten ydioma tripharium verschiedene Volkssprachen entstanden (diversa vulgaria traxerunt originem), was zwangsläufig einen nicht unerhebli‐ chen Sprachwandel beinhaltet. In Bezug auf das zweite idioma tripharium wird er noch deutlicher und so ist bereits im Titel des 9. Kapitels zu lesen (cf. DVE I, 9; 2007: 54-60), daß sich die Volkssprache mit der Zeit verändert (per tempora idem idioma mutatur). 411 Im Folgenden führt er diesen Aspekt weiter aus und leitet ein, daß es nun um die Veränderung der ursprünglich einmal einheitlich gewesenen Sprache ginge (cf. Dante, DVE I, 9, 1; 2007: 54). Zieht man den ge‐ samten Zusammenhang der in diesen Abschnitten geschilderten Vorgänge in Betracht, so wird deutlich, daß es nicht allein um die Veränderlichkeit in der Zeit geht, sondern dies - angesichts des langen Zeitraumes - auch eine Verän‐ derung in der Art der Sprache nach sich zieht. Schließlich stellt Dante die zeit‐ liche und räumliche Variabilität der Sprache auch gegenüber und befindet, daß die sprachliche Distanz zu den entfernt hausenden Bewohner innerhalb eines Sprachraumes geringer sei als die als sehr groß empfundene (multo magis disc‐ repare) zwischen früheren (vetustissimis) und heutigen (coetaneis) Zeitgenossen, was er vor allem an den überlieferten schriftsprachlichen Werken (alia nostra opera) festmacht (cf. Dante, DVE I, 9, 7; 2007: 58). Ein wichtiges Moment in den Dante’schen Ausführungen zur Variabilität der Volkssprache sind die dargelegten Ursachen dieser Veränderlichkeit (cf. Dante, DVE I, 9, 6; 2007: 58). So begründet er die Tatsache, daß die Sprache nicht dau‐ erhaft ist bzw. nicht von Kontinuität geprägt ist (nec durabilis nec continua esse potest) damit, daß ja auch der Mensch ein unbeständiges und veränderliches 255 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="256"?> 412 Wunderli (1997: 119) verweist mit Recht darauf, daß eine sprachtypologische Einteilung aufgrund nur eines Kriteriums, nämlich des Bejahungspartikels, ein sehr hohes Ab‐ straktionsniveau impliziert und damit recht problematisch ist (was aber durchaus Pa‐ rallelen in der heutigen Linguistik hat). Cf. dazu auch Ternes (1989: 66, 69, 71-73). Zu den Vorläufern von Dantes Sprachklassifikation cf. Schöntag (2020a). 413 Es sei nochmals auf die Möglichkeit eines Systemzwanges hingewiesen (v. supra), dem Dante womöglich unterlag bzw. sich selbst unterworfen hatte, d. h. im Sinne einer ydioma tripharium waren weitere Regionen mit sì nicht in das Modell integrierbar. Lebewesen (instabilissimum atque variabilissimum animal) sei. Dabei paralleli‐ siert er zusätzlich die Sprache mit anderen Charakteristika der menschlichen Gesellschaft, nämlich mit den Sitten und Gebräuchen (mores et habitus), die ebenfalls veränderlich seien. Beide Gegebenheiten verändern sich dabei - wie er nochmals betont - in Raum und Zeit (per locorum temporumque distantis va‐ riari oportet). Die Instabilität der Volkssprache ist zwar aus seiner Sicht ein Nachteil, aber kein „difetto assoluto“ wie Vinay (1959: 241) deutlich macht, da durch einen großen Dichter, der genügend Kunstfertigkeit (ars) aufweist und ein entspre‐ chendes Opus schöpfen kann, die Sprache perfektioniert und mit entsprech‐ ender Dignität versehen werden kann (cf. Vinay 1959: 241-242). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Im Lichte einer Betrachtung von Dantes wichtigstem sprachtheoretischem Werk unter aktuellen linguistischen Vorzeichen, ist zunächst auf seine Katego‐ risierung hinzuweisen, die man als sprachtypologisch interpretieren kann. Auch wenn dieser Aspekt nicht im engeren Sinne für vorliegende Untersuchung zum zentralen Fokus gehört, soll er doch kurz erwähnt werden. In diesem sprachtypologischen Gliederungsversuch avant la lettre ordnet er die wichtigsten Sprachen Europas und dann nochmal genauer, die romanischen Sprachen, mit Hilfe eines einzigen Unterteilungskriteriums, nämlich des Beja‐ hungspartikels. 412 Bei dieser Einteilung aus moderner Sicht handelt es sich nicht wie üblicherweise in der Forschungsliteratur dargestellt um eine rein typologi‐ sche Einteilung (z. B. Ternes 1989: 67; Stammerjohann 2001: 152), sondern hier spielen zumindest additiv auch sprachgenealogische und areale Kriterien eine Rolle, denn die angesprochenen Sprachen sind sowohl miteinander verwandt als auch geographisch benachbart. Dabei bleiben gewisse Ungereimtheiten ungeklärt, so beispielsweise seine Vorstellungswelt von der Iberischen Halbinsel, da unter den Fragepartikel oc auch die Yspani subsumiert werden, was für das Katalanische zutrifft, nicht aber für das Spanische und Portugiesische. 413 Zudem bleibt unklar, welche Beja‐ hungspartikel in den einzelnen Sprachen, die unter iò gefaßt werden, er im Sinn 256 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="257"?> 414 Den Sprachwandel charakterisiert Keller (1994) dann als invisible hand process, einen Terminus den er von dem Moralphilosophen und Ökonomen Adam Smith (1723-1790) entlehnt hat, der diese Metapher auf wirtschaftliche Prozesse anwandte. hat (z. B. in Bezug auf das Ungarische oder Slawische) oder warum er keinen zum Griechischen angibt (v. supra). In diesem Kontext der gesamteuropäsischen Sprachklassifikation werden hier zusätzlich wichtige Feststellungen getroffen, die im Sinne der diachronen Migrationslinguistik (cf. Schöntag 2019) zu analysieren sind. So spricht Dante von jenen, die nach Europa einwanderten (primitus advenissent) und dort neu waren oder ursprünglich von dort stammten (ad Europam indigene repedas‐ sent), d. h. er ist sich bewußt, daß durch Bevölkerungsbewegungen Sprachräume sich verändern (cf. Dante, DVE I, 8, 2; 2007: 50). Was nun die italienische Volkssprache, das volgare bzw. bei Dante die locutio vulgaris (locutio primaria), anbelangt, so ist ein Hauptthema in diesem Traktat ihre Veränderlichkeit im Gegensatz zur Unveränderlichkeit des Lateinischen (gramatica, locutio secundaria). Linguistisch gesprochen geht es demnach um Sprachwandel, d. h. um den Prozeß einer allmählichen Veränderung in der Ge‐ schichte. Die Tatsache, daß die Volkssprache einem andauernden Wandel un‐ terworfen ist, wird dabei sowohl an den Einwohnern von Pavia, als auch an dem Beispiel eines jungen Mannes illustriert (v. supra). Er führt hier also nicht nur die verschiedenen Ebenen der Diachronie ein, also diachronische Variation über einen größeren Zeitraum und über einen kurzen (Makrodiachronie vs. Mikro‐ diachronie), sondern auch den Aspekt der Sprecherperzeption bezüglich des Sprachwandels, d. h. der individuellen Wahrnehmung von sprachlicher Verän‐ derung. Die diachrone Veränderlichkeit der Volkssprache wird von Dante mit den Eigenschaften der conditio humana erklärt, was grosso modo dem in moderner Terminologie von Keller (1994) geleisteten Ansatz entsprechen könnte, der all‐ gemeine gesellschaftbedingte Erscheinungen des menschlichen Daseins als Phänomene der dritten Art bezeichnet und die Sprache eben auch als ein solches ansieht, da sie weder ein Kulturnoch ein Naturphänomen sei. 414 Neben der Diachronie ist bei Dante vor allem die Variation von Sprache(n) im Raum ein Hauptthema. Im Sinne einer Areallinguistik ordnet er die ver‐ schiedenen Sprachräume europäischen Großregionen zu. Im engeren (Coseri‐ u’schen) Sinne diatopisch sind dann seine Ausführungen zur italienischen Volkssprache. Auch wenn heute die Hauptisoglossen in Italien tendenziell als von West nach Ost verlaufend registriert werden (z. B. Rimini-La Spezia; Ta‐ ranto-Brindisi bzw. Grottaglie-Ostuni; Diamante-Cassano; Einteilung in Nord-, Mittel- und Süditalienische Dialekte), erfaßt Dante aus aktueller linguistischer 257 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="258"?> 415 Ellena (2011: 54) betont in diesem Zusammenhang, daß es zwar tatsächlich viele Über‐ einstimmungen mit der heutigen Klassifikation gäbe, aber Dante sich vornehmlich nicht an sprachlichen, sondern an geographischen Gegebenheiten orientiere. Dem ist aller‐ dings hinzufügen, daß Dante neben den rein geographischen (cf. Apennin) wohl auch die historisch gewachsenen, politischen Landschaften, die natürlich auch geographisch basiert sind, im Sinn hatte. 416 Zu den einzelnen Aspekten der Dialektgliederung cf. Holtus (1989: 5-8) und Wunderli (1994a: 96-100). 417 Auch an einer anderen Stelle im Kapitel davor, spricht er bereits von den Unterschieden der einzelnen städtischen Sprachen, und zwar bezüglich der Sprache der Einwohner von Neapel und Gaeta (Neapoletani et Caetani) und jener von Ravenna und Faenza (Ravennates et Faventini), die ja je nah beieinander situiert seien (cf. Dante, DVE I, 9, 4; 2007: 56). 418 Wunderli (1994a: 103) verweist darauf, daß Dante die unterschiedliche Sprache der Be‐ rufsgruppen evtl. an den florentinischen Zünften beobachtet habe. 419 Zur Sozialtopographie in der mittelalterlichen Stadt cf. Engel (1993: 152-153), die darauf hinweist, daß die verstärkte Ansiedlung bestimmter Berufsgruppen durchaus nicht selten war, aber keineswegs zwingend. Die bürgerliche Oberschicht nahm in der Regel die besten Plätze im Zentrum der Stadt ein. 420 Zum Kommunikationsraum der mittelalterlichen Stadt sowie der grundsätzlichen Glie‐ derung des Raumes bzw. eines sprachlichen Territoriums, in dem entgegen einer nati‐ Perspektive die Dialekträume relativ genau (cf. Dante, DVE I, 10, 5-6; 2007: 64-66). 415 Ohne auf weitere hier für die allgemeine Variabilität der Volks‐ sprache nicht relevanten Details der Dialektgliederung einzugehen, 416 ist hin‐ gegen die weitere diatopische Variation, die in diesem Traktat dargelegt wird, durchaus ebenfalls von Interesse. Indem nämlich Dante hier den Einwohnern der einzelnen Städte (v. supra: in Tuscia Senenses et Aretini, in Lombardia Ferrarenses et Placentini) eine je eigene Art der jeweiligen Volksprache attribuiert, trifft er eine Unterscheidung zwi‐ schen diatopischer Makro- und Mikroebene bzw. zwischen Dialekt (groß‐ räumig) und Mundart (kleinräumig). 417 Das von ihm angeführte Beispiel kann man nun einerseits als eine weitere diatopische Auffächerung auf der Mikroebene betrachten, die gerade aufgrund der Siedlungsstrukturen in einer mittelalterlichen Stadt durchaus plausibel ist. Es ist aber unter Umständen auch noch eine diastratische Komponente zu be‐ rücksichtigen, und zwar angesichts der Tatsache, daß zu dieser Zeit Stadtviertel oft auch Berufsviertel waren, in dem Sinne, daß bestimmte Handwerker und andere Berufe sich in bestimmten Vierteln konzentrierten (cf. Arnaud 2018: 189), 418 was somit auch einen gruppensprachlichen Aspekt beisteuert, nicht zuletzt eventuell auch einen schichtenspezifischen, 419 wenn im Gegenzug auch die adligen oder bürgerliche Oberschicht bevorzugte Wohngegenden hatte (cf. Schmieder 2012: 47). 420 Genauso denkbar ist dabei auch eine Mikrodiatopik in‐ 258 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="259"?> onalphilologischen Geschichtsschreibung keine sprachliche Homogenität herrscht, und das in seiner Vielfalt von Städten, Dörfern, Klöstern, Burgen, Straßen und Markt‐ plätzen, die miteianander interagieren, gesehen muß, cf. Selig (2010: 316-320). 421 Laut Google.maps beträgt der Abstand zwischen der Porta San Felice und der Porta Maggiore auf kürzestem Weg, d. h. entlang der Via Rizzoli und der Strada Maggiore, die beide fast geradelinig verlaufen, immerhin ca. 2,6 km. 422 Zur unterschiedlichen Aussprache der Mundart von Bologna, ihrer Binnengliederung sowie ihrer historischen Dimension cf. Filipponio (2017), der auch frühe Zeugnisse des Bolognesischen auswertet (cf. ibid.: 251-252). Auch heute noch lassen sich Reste einer Binnendifferenzierung des Bolognesischen innerhalb der Stadt beobachten (cf. Filip‐ ponio 2013: 80-81, insbes. FN 53), die wahrscheinlich zu Zeiten Dantes deutlich stärker ausgeprägt war. nerhalb der Stadt Bologna, die für mittelalterliche Verhältnisse relativ groß war, 421 so daß die verschiedenen borghi unterschiedliche Stadtviertelvarietäten herausbildeten, wobei sich hierbei Diatopik und Diastratik durchaus überlagern konnte. 422 Diastratisch im weiteren Sinne oder auch diasozial, d. h. nicht nur schichten‐ spezifisch (diastratisch im engen Sinn), sondern auch gruppensprachlich (dia‐ koinonisch) (hier: fachsprachlich) (cf. Kap. 3.1.1), ist der Passus mit den Hand‐ werkern bzw. Berufsgruppen auf der Baustelle des Turmbaus zu Babel zu interpretieren (v. supra). Die Beurteilung dieser an einem biblischen Beispiel festgemachten Feststellung ist dabei nicht auf die gleiche Stufe zu stellen, wie die zuvor von Dante geschilderten Unterschiede im Gebrauch der Volkssprache, die sicherlich zum guten Teil aus eigener Anschauung resultieren. Nichtsdes‐ toweniger könnte man mit aller Vorsicht hier einen diatechnischen Aspekt der Sprachvariation hineininterpretieren, insofern die von ihm genannten Tätig‐ keitsgruppen sich in erster Linie durch ein spezifisches Fachvokabular aus‐ zeichnen, eine Beobachtung, die Dante sicherlich aus der eigenen mittelalterli‐ chen Sprachrealität kannte. Unter Berücksichtigung der von ihm geschilderten sprachlichen Unterschiede in den einzelnen Stadtvierteln (v. supra: Bologna), die vor dem Hintergrund mittelalterlicher Siedlungsstruktur wohl nicht nur einen mikrodiatopischen, sondern auch (oder vor allem) eine diastratische Kom‐ ponente enthalten, könnte man die spezifische Sprache der Berufsgruppen im Kontext des Turmbaus zu Babel wohl am ehesten als diastratisch-diatechnische Varietäten charakterisieren. Das von Dante zusätzlich noch geschilderte Phänomen der zunehmenden Rohheit bzw. Barbarizität der Sprache der Berufssparten in Abhängigkeit von ihrem Stand ist im Lichte der hier wiedergegeben göttlichen Bestrafung zu sehen. Dabei wird die „normale“ Verteilung des Prestiges einer Berufsgruppe und der damit zusammenhängenden Varietät auf den Kopf gestellt: diejenigen, 259 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="260"?> 423 Wer diese „anderen“ sind ist nicht eindeutig zu ermitteln, ein gewisser Konsens besteht darüber, daß wohl in erster Linie die Hebräer und die Araber in Frage kämen (cf. Im‐ bach / Suarez-Nani 2007: 75). 424 Cf. dazu Tavoni (2013: 10), der den grundlegenden Unterschied dieser beiden Sprach‐ systeme betont: „Il volgare e il latino, come si vede, sono concepiti come due lingue qualitativamente diverse, appartenenti a due tipi di linguaggio, ovvero due modi di espressione linguistica (locutio) ontologicamente distinte.“ 425 Zu einer genaueren Bestimmung des illustre, cardinale, aulicum et curiale vulgare, wel‐ ches als durch die Dichter erhöhte kultivierte Varietät Italiens fungieren soll und der die eine höhere Tätigkeit ausüben, sprechen zunehmend roher und barbarischer (cf. tanto rudius nunc barabariusque locuntur). Nichtsdestoweniger wäre hier immerhin eine implizite Abhängigkeit von Sprache bzw. einer Varietät vom Prestige ihrer Sprecher herauszulesen, was auch aus heutiger soziolinguisti‐ scher Perspektive ein wichtiger Faktor in der Sprachbetrachtung darstellt. Versucht man nun die Auffassung Dantes zum Lateinischen bzw. zur latein‐ ischen Schriftsprache diasystematisch zu kategorisieren, so wäre festzustellen, daß er sie vor allem diachronisch für unveränderlich hält (nec variabilis esse potest), also kein Sprachwandel stattfindet. Insofern er das Lateinische ja, wie angeführt, als im Gebrauch mehrerer Völker sieht, d. h. als lingua franca der Gelehrten, ist sie für ihn auch diatopisch invariabel, wobei er beide Aspekte im Sinne einer allgemeinen überzeitlichen und überregionalen Verständlichkeit als positiv wertet. Was die diastratisch-diaphasische Ebene anbelangt, so wird wohl auch Dante bewußt gewesen sein, daß das Latein von weniger Gebildeten als Schriftsprache eingesetzt wurde (Gebrauchstexte) und, daß es natürlich zu allen Zeiten stilistische Unterschiede bei den Schriftstellern und Wissenschaftlern gab, die es benutzten - doch er thematisiert diesen Aspekt nicht und betont rein die Unveränderlichkeit, um hier eine klare Abgrenzung von den Eigenschaften der Volkssprache zu schaffen. Wenn nun Dante zu Beginn des Traktats davon spricht, daß die Römer die sekundäre Sprache „Grammatik“ genannt haben (Romani gramaticam voca‐ verunt; DVE I, 1, 3; 2007: 22) und das so etwas auch die Griechen (Greci habent) und andere (et alii) hätten, 423 so könnte man aus aktueller soziolinguistischer Perspektive hier eine Diglossie-Situation nach Ferguson (1959) herauslesen (cf. Kap. 3.1.2). Dies ließe sich insofern begründen, als sich einerseits um zwei ver‐ schiedene Sprachsysteme handelt, die miteinander verwandt sind, jedoch un‐ terschiedliche kommunikative Funktionen aufweisen. 424 So übernimmt das La‐ teinische allein die distanzsprachliche Funktion der schriftlichen Verständigung, während die Volkssprache für die mündliche Kommunikation reserviert ist. In seiner Vision eines vulgare illustre 425 wird jedoch eine andere Funktions‐ aufteilung angestrebt. Mit dieser würde die diglossische Situation sich eher hin 260 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="261"?> ein ähnliches Prestige als Literatursprache wie dem Lateinischen zugedacht ist, cf. Bos‐ song (1990: 60-63) sowie infra. 426 Zu einer historischen und sozio-kulturellen Verortung ist prinzipiell auch ein biogra‐ phischer und werksgeschichtlicher Abriß hilfreich, auf den jedoch aufgrund der Pro‐ minenz des Dichters Dante Alighieri (lat. Dantes Aligherius / Alagherius) (1265-1321) und der diesbezüglich umfangreichen und leicht zugänglichen Literatur, an dieser Stelle verzichtet werden kann. Für die in den folgenden Kapiteln besprochenen Humanisten, die im Zentrum der Untersuchung stehen, soll dies jedoch in dienlichem Umfang ent‐ sprechend geliefert werden. Es sei hier unter den zahlreichen Übersichten und Publikation zu Dantes Leben und Werk nur auf die noch relativ rezenten Monographien von Prill (1999), Reynolds (2006) und Santagata (2012) sowie auf die Enciclopedia Dantesca (cf. Istituto della Enciclopedia Italiana 1970-1978), insbesondere den Appendice-Band (cf. Istituto della Enciclopedia zu einer Situation, die als standard-with-dialect (Ferguson 1959: 338) im Sinne von gesprochenem und geschriebenem Italienisch (diamesische Ebene) - was durch die Dichter des Duecento und ihn selbst und seine Zeitgenossen bereits dabei ist sich zu realisieren - einzuordnen ist, verschieben, und zwar mit der zusätzlichen Komponente des Lateinischen als Schriftsprache, dann aber teil‐ weise mit weniger klarer Funktionsabgrenzung als zuvor, als die grammatica noch (fast) alleinig alle Bereiche der Schriftlichkeit abdeckte. Aus der Perspektive einer modernen linguistischen Analyse lassen sich bei Dante demnach vor allem für die Volksprache zahlreiche Ebenen der diasyste‐ matischen Kategorisierung ausmachen. Hier ist an erster Stelle eine sehr diver‐ sifizierte diatopische Gliederung zu nennen, aber auch diastratische Aspekte werden vielfältig angesprochen. Hinzu kommt eine gewisse Vorstellung vom Phänomen des Sprachwandels. Soziolinguistisch läßt sich dabei die Relevanz von Prestige herauslesen (v. infra). Was das in der vorliegenden Untersuchung im Vordergrund stehende Latein anbelangt, so sind für Dante im Prinzip alle Eigenschaften der Volkssprache ex negativo zu attribuieren, d. h. das Lateinische ist diatopisch und diastratisch invariabel, eine von ihm wohl wahrgenommene diaphasische Variabilität thematisiert er allerdings nicht. Zudem wird die Inva‐ riabilität des Lateinischen und die Variabilität der Volkssprache in Bezug auf den Wandel der Sprache festgestellt, d. h. auch die die diachrone Entwicklung mit‐ berücksichtigt. Rekontextualisierung Entsprechend dem eingangs skizzierten methodischen Vorgehen, soll nun nach diesem Überblick über die aus dem Traktat herauslesbaren sozio- und varietä‐ tenlinguistischen Aspekte versucht werden, im Rahmen eine Rekontextualisie‐ rung zusätzlich die Aussagen Dantes entsprechend im zeitgenössischen Kontext zu verankern. 426 261 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="262"?> Italiana 1984) zu Biographie und Œuvre, und die Dante-Enzyklopädie von Lansing (2010) verwiesen. Es sei hier nun in medias res auf das dann bei den späteren Renaissance-Au‐ toren zentrale Thema des Verhältnisses von Latein vs. Volkssprache nochmals näher eingegangen, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund des zeitge‐ nössischen Kontextes. Diesbezüglich ist Dante nun zunächst einerseits sehr deutlich, insofern er die Eigenschaften der beiden Idiome - wie bereits beschrieben (v. supra) - klar he‐ rausstellt, wie in folgender Übersicht ersichtlich wird: Abb. 8: Das Verhältnis von Latein und Volkssprache bei Dante Die wichtigste Opposition in der Darstellung Dantes in Bezug auf vorliegende Thematik ist dabei die Künstlichkeit der lateinischen Sprache (artificalis), die der Natürlichkeit der Volkssprache (naturalis) gegenübersteht. Dabei rekurriert er auf eine gängige Opposition der mittelalterlichen Vorstellungswelt bzw. prä‐ 262 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="263"?> 427 Die Dichotomie ars vs. natura hat ihre Entsprechung in der griechischen Geisteswelt als techné vs. physis und fand über Aristoteles und Platon Eingang in die mittelalterliche Scholastik (cf. Pötters 2005: 394-395) und Kap. 6.1.5. 428 Im Convivio bezeichnet er die Sprache bzw. konkret das volgare auch als lo strumento (Dante, Conv. I, 11, 11; 1996: 56) und versucht in diesem Zusammenhang den Vorwurf zu entkräften, daß eben nostro volgare für bestimmte Zwecke (d. h. literarische) nicht geeignet sei, gleich einem schlechten Werkzeug oder Instrument. ziser der Sprach- und Dichtungstheorie, nämlich auf den Gegensatz zwischen ars und natura (cf. Tavoni 1999: 210; Ellena 2011: 61). 427 Dies geht im Wesentlichen zurück auf eine bereits in der griechischen Phi‐ losophie bestehende Opposition, im vorliegenden Fall ist diese Auffassung je‐ doch in erster Linie wohl der aus Cicero abgeleiteten Verwendung von Sprache zuzuschreiben. Atqui sic a summis hominibus eruditissimisque accepimus, ceterarum rerum studia et doctrina et praeceptis et arte constare poëtam natura ipsa valere, et mentis viribus excitari et quasi divino quodam spiritu inflari. (Cicero, Pro Arch. VIII, 18; 1965: 26) In Bezug auf diese in dieser Rede dargelegten Zusammenhänge zwischen Lite‐ ratur und Wissenschaft weist Chalkomatas (2007: 255) auf die hier deutlich zu Tage tretende Opposition im ciceronianischen Gedankengebäude hin, die er „Natur-Ars-Dialektik“ nennt. So spiegelt sich die Natur in der Dichtung (natura ipsa valere), während die Wissenschaft (rerum studia), die Bildung (doctrina) und die Lehre (praeceptis) der Kunst (arte) zugerechnet werden. Daraus ergibt sich in der mittelalterlichen Sprachtheorie eine Distribution der einzelnen Idiome, die eng an ihre kommunikative Zielsetzung und ihren „Charakter“ gebunden ist. 428 So geht für die Dante die Künstlichkeit des Latein‐ ischen soweit, daß er auch von den Erfindern der gramatica spricht (inventores gramatice facultatis; DVE I, 9, 11; 2007: 60). Dies meint jedoch nicht, daß es je‐ mand gäbe der diese Sprache erschaffen habe, sondern bezieht sich auf dieje‐ nigen, die in der Lage sind grammatische Strukturen in einer Sprache zu detek‐ tieren. Er referiert hier also auf die Philosophen bzw. Sprachtheoretiker, d. h. wahrscheinlich auf die zu dieser Zeit wirkenden Modisten wie Boethius von Dacien, die das Lateinische auf die modi essendi, die modi intellegendi und modi significandi hin prüfen (cf. Kap. 6.1.5). Das Lateinische stellt somit eine Sprache dar, die sprachphilosophisch strukturell erfaßt werden kann, für das volgare hingegen besteht diese Möglichkeit nicht. Das Lateinische wird erst vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Diglossie-Situation zu einer gram(m)atica, d. h. erst durch die Opposition zum volgare. Die locutio secundaria ist also eine Zweitsprache, die bestimmten Konventionen gehorcht und dadurch „er‐ 263 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="264"?> 429 „Daß natura in der ontologischen Hierarchie jedem menschlichen artificium überge‐ ordnet ist, ist eine bekannte scholastische Lehrmeinung. Vergleicht man jedoch diese Aussagen mit Dantes Einstellung im Convivio, so drängt sich die Vermutung auf, daß die im Convivio noch nicht so deutlich ausgesprochene Nobilisierung der Muttersprache vor allem gegen die soziale Exklusivität der lateinischen Bildung gerichtet ist und daß sie dem von Dante im Convivio entwickelten Postulat eines neuen Begriffs ethisch-geis‐ tiger nobilitas entspricht“ (Holtus / Schweickardt 1989: 37-38). schaffen“ wurde, um eine stabile Kommunikation über die Zeit hinweg zu ge‐ währleisten, was die volkssprachliche Erstsprache aufgrund ihrer Veränder‐ lichkeit nicht kann. Hinzu kommt die Stabilität bezüglich des Raumes, d. h. in erster Linie dient das Latein der Überwindung der zersplitterten Dialekt- und Sprachlandschaft Italiens, aber letztlich auch als lingua franca Europas. Ein wei‐ terer Effekt für Dante besteht darin, daß diese fixierte Sprache die Katastrophe der babylonischen Sprachverwirrung überwindet und quasi einen vorbabylo‐ nischen Zustand restituiert (cf. Tavoni 2010: 56-59). Diese Unveränderlichkeit des Lateinischen postuliert er auch für das Grie‐ chische (und andere Kultursprachen), unter der Annahme, daß auch hier eine locutio secundaria mit entsprechender Funktionsteilung zur mündlich ge‐ brauchten Sprache der entsprechenden Sprachgemeinschaft vorläge (v. supra). Dies ist dabei im Zusammenhang mit der Eigenschaft der gramatica als ars und des vulgare als natura zu sehen (v. supra), was nach gängiger mittelalterlicher Sprachauffassung als eine unüberwindbare Opposition dargestellt wird (cf. Kap. 6.1.5). 429 Die Sprachsituation im Mittelalter ist insofern realiter jedoch noch komplexer, da es - wie Ineichen (1973: 74) betont - keine eigentliche Rivalität unter den Sprachen gibt, sondern vielmehr eine klare Funktionsaufteilung, und zwar da‐ hingehend, daß die Sprache der Dichtung in der Romania bzw. in Italien das Okzitanische ist, seit Beginn des 13. Jh. in bestimmten lyrischen Bereichen auch das Italienische, die Sprache der Prosa bzw. romanhafter Erzählungen, das Fran‐ zösische und für die Wissenschaft sowie für alle Bereiche der schönen Literatur aber auch weiterhin das Lateinische dient. Dante selbst ist sich dieses ersten kürzlich erfolgten Ausbaus des Okzitanischen und Italienischen durchaus be‐ wußt. E segno che sia picciolo tempo, è che se volemo cercare in lingua d’oco e in quella di sì, noi non troviamo cose dette anzi lo presente tempo per cento e cinquanta anni (Dante, Vita Nuova, XXV, 4; 1973: 56) 264 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="265"?> 430 Bossong (1990: 57) weist daraufhin, daß die diachrone Veränderlichkeit der Sprache seit langem bekannt ist und in dem Topos der Metapher von der Vergänglichkeit der Blätter des Baumes und deren alljährlichen Wiedergeburt bei Horaz (Ars poet., 60-63, 70-72; 1984: 8) Eingang in die sprachtheoretische Betrachtung gefunden hat. Auch Dante selbst greift dieses Bild erneut in der Commedia wieder auf: „Opera naturale è ch’uom fa‐ vella; / ma così o così, natura lascia / poi fare a voi secondo v’abella / Pria ch’i scendessi a l’infernale ambascia, / I s’appellava in terra il sommo bene / onde vien la letizia che mi fascia; / e El si chiamò poi: e ciò convene, / ché l’uso d’i mortali è come fronda / in ramo, che sen va e altra vene“ (Dante, Div. Comm., Par. XXVI, 130-138; 1988 III: 316). Zusätzlich wäre z. B. noch Quintilian anzuführen, der anläßlich einer Stilanalyse des Gebrauch veralteter Wörter bei Vergil letztlich allgemein feststellt: „Quid multa? totus prope mutatus est sermo“ (Quintilian, Inst. orat. VIII, 3, 26; 2001 III: 354). Und ihm ist auch bewußt, daß das Okzitanische oder Französische (lo volgare altrui) zu diesem Moment noch mehr Prestige genießen als das Italienische unter den verschriftlichten volgare-Varietäten. A perpetuale infamia e depressione de li malvagi uomini d’Italia che commendano lo volgare altrui e lo loro proprio dispregiano […]. (Dante, Conv. I, 11, 1; 1996: 52) In De vulgari eloquentia (I, 10, 3; 2007: 64) spricht er von den primitus poetati des vulgare und meint damit die alten Meister (doctores) des oc-Idioms. Daraus läßt sich ableitet, daß Dante neben dem Latein auch das Okzitanische als Leitvarietät beim Ausbau des italienischen vulgare betrachtet (cf. Stammerjohann 2001: 154). In der Argumentation Dantes werden zusätzlich die Eigenschaften der Volks‐ sprache, die zunächst einmal als negativ erscheinen - dies betrifft vor allem ihre Natürlichkeit und damit ihre starke Veränderlichkeit in vielen Bereichen 430 - am Ende schließlich ins Positive gewendet, da er sich ja auf der Suche nach der idealen Dichtungssprache (illustre, cardinale, aulicum et curiale vulgare; DVE I, 16, 6; 2007: 94) aus der Vielzahl der italienischen Varietäten (vulgare latium) be‐ findet, die er alle einzeln analysiert, bis hin zu zahlreichen Stadtvarietäten (non curialia sed municipalia (vulgaria); DVE I, 13, 1; 2007: 78) und ihren einzelnen Charakteristika. Dieses Volgare ist illustre, weil es durch hervorragende Dichter von allen Mängeln befreit und zur vollkommenen Urbanität kultiviert worden ist; es ist cardinale, weil es in der bunten Sprachlandschaft Italiens als der Angelpunkt (cardo) wirkt, um den sich alles dreht; es ist aulicum, weil es wie ein Königshof allen und keinem gehört und im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens steht; und es ist curiale, weil es wie die Kurie den Ton im Lande angibt. (Bossong 1990: 62) Die von Dante aufgelisteten Merkmale bzw. Anwendungsbereiche des vulgare illustre, die er im zweiten Buch angibt, besagen, daß es in Prosa und Versdichtung 265 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="266"?> 431 Zu den rhetorischen Implikationen in Bezug auf die Konzepte vulgare latium und vul‐ gare illustre cf. Cecchin 1988: IX). 432 Dies spricht Dante auch bereits in der Vita Nuova (XXV, 4; 1973: 56) an: „E non è molto numero d’anni passati, che appariro prima questi poete volgari; chè dire per rima in volgare tanto è quanto dire per versi in latino, secondo alcuna proporzione.“ 433 Im Convivio gibt er auch noch das ästhetische Kriterium der bellezza an, die er dem volgare attribuiert (Dante, Conv. I, 7, 14; 1996: 36). Dabei ist, wie Ineichen (1973: 75) an‐ führt, nicht die Schönheit der Sprache an sich gemeint, sondern die Möglichkeit eines kunstvollen Satzbaues. Außerdem operiert er noch mit dem Argument, daß das volgare ja bereits von den litterati wie den non litterati verstanden wird (Conv. I, 7, 12; 1996: 36), die kommunikative Reichweite also bereits ab ovo größer ist als beim Lateinischen. Dabei hat allerdings auch das Lateinische bellezza und zudem noch nobilità und vertù (Conv. I, 5, 7; 1996: 24), wobei die Tugend, welche von Bossong (1990: 45) als „Tauglich‐ keit“ interpretiert wird, auf die kommunikative Reichweite und den höheren Ausbau‐ grad referiert. Beide Sprachen, das Lateinische wie auch die Volkssprache, haben also positive Qualitäten, es geht Dante eben nicht darum eine davon abzuqualifizieren, son‐ dern um die Begründung einer Erhöhung oder noch positiveren Bewertung des volgare für einen bestimmten Zweck. 434 Bereits in der Vita Nuova (XXV, 7; 1973: 57) spricht Dante von poete volgari, prosaici dittatori und dicitori per rima, also Schriftstellern der italienischen Volkssprache in den Bereichen von Prosa und Lyrik. 435 Imbach / Rosier-Catach (2007: XXIII) sprechen in diesem Zusammenhang von einem dritten Weg oder einer via media die Dante beschreitet, indem er eine Volkssprache ( DVE , II , 1, 1; 2007: 108) und nur von den besten Schriftstellern ( DVE , II , 1, 5; 2007: 110) verwendet werden dürfe sowie, daß der behandelte Gegenstand würdig sein müsse ( DVE , II , 1, 8; 2007: 112) (cf. Holtus 1989: 10-12). Tomasin (2013: 31) weist daraufhin, daß es um eine lingua letteraria geht, die keinem konkreten uso vivo entsprechen kann, sondern das Ergebnis eines raffinamento sovramunicipale sein muß, um den Ansprüchen einer Dichtungssprache zu ent‐ sprechen. Die einzelnen Volkssprachen Italiens (d. h. die Dialekte) genügen jedoch nicht oder nur unzureichend den Ansprüchen, die an das künftige vulgare illustre gestellt werden. Am Ende der Suche (cf. DVE I, 19, 1; 2007: 104) gibt Dante jedoch den Hinweis, daß es eine Sprache sein muß wie sie bereits von den bisherigen italienischen Dichtern (doctores illustres) aus den unterschiedlichen Regionen (Siculi, Apuli, Tusci, Romandioli, Lombardi et utriusque Marchie) gebraucht wurde und in dieser Form ist das vulgare illustre dann auch ein vulgare latium. 431 Indem Dante nun bestrebt ist das Prestige der Volkssprache zu heben, um sie später als Sprache der Dichtung dem Latein als ebenbürtig, 432 wenn nicht gar als geeigneter gegenüberzustellen (nobilior est vulgaris; DVE I, 1, 4; 2007: 22), 433 würde er damit auch gleichzeitig die kommunikative Reichweite der Volkssprache erweitern, 434 die damit zunehmend für Domänen zugänglich gemacht würden, die zuvor überwiegend dem Lateinischen vorbehalten waren. 435 266 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="267"?> anstrebt, die Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit mit der Regelmäßigkeit einer gramatica verknüpft. 436 Zu den imperialen Ideen Dantes auch in Zusammenhang mit der Konzeption des vulgare illustre bzw. aulico cf. Tavoni (2015: 39-50). 437 So sind auch seine beiden lateinisch verfaßten Eklogen der Versuch einer Rechtferti‐ gung des Gebrauchs der Volkssprache, denn „i dotti disprezzano gli scritti compilati in idiomi volgari“ (Sapegno 1987: 83). Das vulgare illustre ist damit zwar einerseits eine Volksprache, eine lingua popolare, aber andererseits, die Sprache einer aristokratischen oder gelehrten Elite, wie Rizzo (1969: 76) betont: „due caratteristiche contrastanti di popolare universalità e aristocratia ristrettezza“. Die Frage nach einem vulgare illustre außerhalb Italiens bleibt unbeantwortet (cf. ibid.), man könnte aber annehmen, daß für Frankreich (Französisch, Okzitanisch) und Nordspanien (Katalanisch) die etablierte okzitanische Literatursprache der Troubadoure diese Funktion weiter übernehmen sollte oder dieser Aspekt einfach außerhalb des auf die ei‐ gene Sprachsituation fokussierten Interesses Dantes lag. Wie er nun die Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Volkssprache unter‐ scheidet sei beispielhaft am Sizilianischen aufgezeigt (cf. DVE I, 12, 4-6; 2007: 74-76), welches er als mündliche Varietät, wie es aus dem Mund (ex ore) der mittleren Bevölkerungsschicht (terrigenis mediocribus) dort kommt, als ge‐ ring erachtet (honore minime), als schriftliche Varietät (cantionibus) der Dichter der scuola siciliana, also der vorzüglichsten Sizilianer (primorum Siculorum) am Hofe Friedrich II . (1198-1250) (Fredericus Cesar) und seines Sohnes Manfred (1258-1266) (Manfredus), jedoch als sehr lobenswert (laudabilissimum). 436 Das Lateinische ist für Dante jedoch weiterhin die unumstrittene Sprache der Wissenschaft, wie ja auch an der Wahl der Sprache in De vulgari eloquentia deutlich wird. Die italienische Volkssprache hingegen, welche zu seiner Zeit zwar bereits durchaus eine gewisse Tradition in der Literatur, vorwiegend in der Lyrik, aufweisen kann (z. B. scuola siciliana, dolce stile nuovo, religiöse Dich‐ tung), besitzt in der allgemeinen Wahrnehmung immer noch nicht das Prestige der lateinischen Literatursprache mit seiner glanzvollen Geschichte und seinen großen, längst kanonisierten Autoren (z. B. Cicero, Vergil, Horaz, Ovid). 437 Dante selbst ist maßgeblich am Ausbauprozeß des Italienischen beteiligt, indem er zu‐ nächst als Dichter des neuen süßen Stils wirkt (La Vita nuova, 1292 / 93-1300), weitere Werke schafft (Lyrik: Rime petrose, 1296-1305; Prosa: Il Fiore), dann mit seinem opus magnum, der Divina Commedia (1311-1321), eine neue Epoche in der italienischen Literatur einleitet und mit dem Convivio (1304-1307) die Volks‐ sprache sogar in den wissenschaftlichen Bereich trägt. Hierbei orientiert er sich wohl an seinem Lehrer Brunetto Latini und dessen enzyklopädischem Werk Li 267 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="268"?> 438 Cf. Petrocchi (1983: 105-117), der die beiden Werke unter dem Kapitel Enciclopedismo filosofico e teoresi della lingua abhandelt. livres dou tresor, der ebenfalls bereits im volgare schrieb. Zusätzlich ist hervor‐ zuheben, daß er in beiden Abhandlungen große Teile der Sprachbetrachtung widmet, d. h. auch der Verteidigung der Volkssprache, die er im Convivio zu‐ nächst zurückhaltend und dann in De vulgari eloquentia noch deutlicher positiv konnotiert. 438 Die klassische Einteilung der mittelalterlichen Gesellschaft in Gelehrte (cle‐ rici) und Ungebildete bzw. Laien (laïci), die mit der Beherrschung der Schrift korreliert und dies wiederum in der Regel mit der lateinischen Sprache, ist ge‐ wissermaßen hermetisch. Dante möchte aber dezidiert unter einer Neuintepre‐ tation des aristotelischen Diktums, daß der Mensch sich nach Wissen sehnt, die philosophische Betrachtung auch den non litterati im engen Sinne zugänglich, da jene oft sogar noch mehr nach Wissen dürsten als die litterati (cf. Im‐ bach / Rosier-Catach 2007: XII - XIII ). Kristeller resümiert zurecht, daß mit den tre corone speziell das Toskanische in diesem 14. Jh. seinen Ausbaugrad enorm erhöht hat und damit letztlich in Bezug auf die Frage nach dem Vorrang diverser italienischer Varietäten ein fait accompli geschaffen wurde: Wir können daher ohne Übertreibung sagen, daß am Ende des 14. Jh. die Toskana durch die Qualität ihrer drei großen Schriftsteller und die Menge ihrer sonstigen Dichter, Schriftsteller und Übersetzer in der volkssprachlichen Literatur einen Vor‐ sprung vor allen übrigen Provinzen Italiens hatte, der nicht mehr einzuholen war, während an der gleichzeitigen lateinischen Literatur alle Gegenden Italiens, auch die Toskana, gleichermaßen teilnahmen. (Kristeller 1984: 17) Das Lateinische behält Dante jedoch sowohl als Sprache der Wissenschaft oder theoretischen Abhandlung bei (Monarchia, 1310; Questio de aqua et terra bzw. De forma et situ duorum elementorum aque videlicet et terre, 1320), als auch als Sprache der Prosa (Epistole, insbes. Epistola XIII a Cangrande della Scala, 1310-1315) und in geringem Maße sogar als die der Dichtung (Ecloge, 1319 / 1320). In diesem Sinne läßt sich auch die in De vulgari eloquentia dargestellte sprach‐ liche Situation interpretieren, nämlich das Operieren mit einerseits zwei unter‐ schiedlichen Formen der high-variety, also dem Lateinischen und dem im Ausbau begriffene Italienischen auf Basis des Toskanischen bzw. Florentini‐ schen und andererseits mit den verschiedenen sprechsprachlichen Varietäten 268 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="269"?> 439 Zur Sprache der Frauen als Topos in den vorliegenden humanistischen Abhandlungen wie z. B. auch bei Leonardi Bruni cf. dort Kap. 6.2.3.1. des Italienischen bzw. im dante’schen Duktus, dem gesprochenen vulgare als der low-variety. Wie wichtig Dante die Verwendung der Volkssprache ist und er sie in be‐ stimmten literarischen Kontexten als die adäquateste Sprache sieht, zeigt sich an einer Stelle in seinem Brief (Epistula XIII ) an Cangrande I. della Scala, dem Stadtherren von Verona (1308-1329), woraus zudem deutlich wird, in welcher Verteidigungsposition er sich gegenüber seinen Zeitgenossen befindet. […] ad modum loquendi, remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris in qua et muliercule comunicant (Dante, Epist. XIII, 31; 1993: 12-14). Dantes Argumentation für die Sprachwahl in der Divina Commedia ist dabei so aufgebaut (cf. Dante, Epist. XIII , 30; 1993: 12), daß er zunächst auf Horaz und seine Ars poetica verweist, in der die Sprache bzw. das Sprachregister (modo loquendi) abhängig von der Gattung gemacht wird, wobei der Tragödie eine erhabene und verfeinerte Sprache (elate et sublime tragedia) zukommt und der Komödie eine lose und derbe (comedia vero remisse et humiliter). Da die Divina Commedia nun so strukturiert ist (cf. Dante, Epist. XIII , 31; 1993: 12), daß zu Beginn im Inferno der behandelte Stoff (materia) erschreckend und ekelerregend (a principio horribilis et fetida) ist und am Schluß im Paradies aber beglückend, begehrenswert und anmutig (in fine prospera, desiderabilis et grata) ergibt sich eben aufgrund dieser Abfolge - die umgekehrt ist wie in der Tragödie - die Wahl der Sprache, nämlich das vulgare, welches, wie oben expliziert, zudem den Vor‐ teil hat, auch von den Frauen verstanden zu werden. 439 Die Argumente Dantes sind also zum einen die Gebundenheit an den behandelten Stoff und die damit verbundene, kanonisierte Determination der literarischen Gattung und ande‐ rerseits die kommunikative Reichweite. Neben den explizit genannten Frauen als Lesepublikum wird Dante jedoch wohl auch an den Kreis der Adligen und Stadtbürger gedacht haben, die des Lateins nicht oder nur unzureichend mächtig waren. Die Übertragung Dantes der horaz’schen Bestimmung von unterschiedlichen diaphasischen Varietäten des Lateins für einzelne Literaturgattungen auf eine zu diskutierende Wahlmöglichkeit Latein-Italienisch zeigt die enge Verknüp‐ fung, die er zwischen diesen Sprachen sieht bzw. die er zumindest an dieser Stelle eher als Varietäten eines Systems wahrnimmt als zwei unterschiedliche Spra‐ chen. 269 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="270"?> 440 Die drei Beispiele aus der Dichtung lauten folgendermaßen (Dante, DVE I, 9, 3; 2007: 56): 1) für das Okzitanische, also die Franci: „Si-m sentis fezelz amics, / per ver encusera amor; “ von Gerardus de Brunel (Giraut de Bornelh, 1138-1215); 2) für das Katalanische, also die Yspani: „De fin amor si vient sen et bonté“ des Rex Navarre (Thibaud IV de Champagne, Th. I de Navarre, 1201-1253); 3) für das Italienische, also die Latini: „Né fe‘ amor prima che gentil core, / né gentil [cor] prima che amor, natura“ von Guido Guinizelli (1230-1276). Was nun die Frage des diachronischen Zusammenhangs zwischen dem La‐ teinischen und dem Italienischen bzw. der für ihn zeitgenössischen Volkssprache anbelangt, so deutet er in De vulgari eloquentia zumindest eine Entwicklung an, wie dies sich genauer vollzogen haben könnte, führt er jedoch nicht weiter aus, sondern legt den Fokus auf die Verwandtschaft der romanischen Sprachen. Signum autem quod ab uno eodemque ydiomate istarum trium gentium progrediantur vulgaria, in promptu est, quia multa per eadem vocabula nominare videntur, ut ‚Deum‘, ‚celum‘, ‚amorem‘, ‚mare‘, ‚terram‘, ‚est‘, ‚vivit‘, ‚moritur‘, ‚amat‘, alia fere omnia. (Dante, DVE, I, 8, 5; 2007: 52) Für die zeitgenössische Sprache der Yspani, Franci und Latini postuliert er eine Ursprache und nennt dazu auch etymologische Kennwörter, die in all jenen Sprachen identisch sein sollen. Interessanterweise gibt er dazu jedoch nur die lateinische Form der Wörter an und nicht die jeweiligen volkssprachlichen Bei‐ spiele. An anderer Stelle hingegen (cf. Dante, DVE I, 9, 3; 2007: 56) exemplifiziert er die Übereinstimmung der drei Sprachen hinsichtlich des Wortes amor. Noch einmal betont er die Ähnlichkeit zwischen den Idiomen (in multis conveniunt) und besonders bezüglich dieser Form (et maxime in hoc vocabula). 440 Diese Ursprache oder historisch ältere Sprache (ab uno eodemque ydiomate) selbst expliziert er nicht und es bleibt der Spekulation überlassen, ob Dante be‐ reits eine Idee von Vulgärlatein in diesem Zusammenhang hatte oder das Latein als Ganzes oder aber nur das Schriftlatein als zugrundeliegendes Idiom annimmt. Es bleibt für Dante in jedem Fall der Widerspruch zwischen der Unveränder‐ lichkeit des Lateins (ars, gramatica) und der Tatsache, daß die Volkssprache ir‐ gendwie damit zusammenhängen, in welcher Art und Weise genau wird aber von ihm konsequenterweise nicht ausgeführt (cf. Wunderli 1997: 117-118). Zu berücksichtigen ist dabei auch die Stelle im Convivio, in der er in Bezug auf Cicero von einer Kritik am latino romano spricht (cf. Dante, Conv. I, 11, 14; 1996: 56). In De finibus bonorum et malorum thematisiert Cicero, daß manche seiner Zeitgenossen (nicht er selbst) das Griechische höher erachten als das ein‐ heimische Latein und entsprechend mehr Mühe dem Studium des Griechischen widmen (cf. Cicero, De fin. I, 1, 3; 1988: 6). Dante greift dies auf und vergleicht 270 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="271"?> 441 Dante denkt hier wohl vor allem als Dichter und bezüglich der Poesie ist zu seiner Zeit sicherlich das Okzitanische der Troubadoure das allbeherrschende Vorbild, das aktuell Moderne, ohne daß deshalb das Lateinische als Literatursprache oder gar als Wissen‐ schaftssprache in Frage gestellt werden würde. Das volgare illustre des Italienischen ist hingegen noch nicht „geboren“. dieses Prestigegefälle mit dem seiner Zeit zwischen der italienischen Volks‐ sprache und dem Okzitanischen als Literatursprache. Er postuliert hier einen ähnlichen Parallelismus zwischen high und low variety wie später Pietro Bembo (cf. Kap. 6. 2. 11.), wobei bei beiden für die Antike die Sprachen Latein ( LV ) und Griechisch ( HV ) das entsprechende Verhältnis markieren, während für die ei‐ gene Epoche Dante hier das parlare di Provenza und nicht das Latein als Pres‐ tigesprache wählt ( HV ), demgegenüber dann das parlare italico ( LV ) steht. 441 Das einheimische, also (stadt)römische Latein Ciceros, auch im Sinne einer Mündlichkeit, die von der Schriftlichkeit dieser Epoche sowie der folgenden abweicht, kann Dante nicht wirklich erfassen (cf. Vinay 1959: 245). Die Grund‐ idee eines wie auch immer gearteten Lateins, welches von der gramatica ver‐ schieden ist, muß Dante demnach zwar gehabt haben, aber er expliziert keine weiteren Zusammenhänge bzw. gibt keine weiteren Details wie dies zu ver‐ stehen sei - wohl auch einfach deshalb, weil es für ihn in diesem Kontext nicht wirklich relevant war. Das einzige Indiz für eine konkrete Entwicklung vom Lateinischen zum Ita‐ lienischen bietet der Passus (cf. Dante, DVE I, 10, 1; 2007: 62), in welchem er die genauere Behandlung der Volkssprache in Italien damit begründet, daß jene Bewohner als Bejahungspartikel sì verwenden und dies - so die nicht explizierte Suggestion - dem Bejahungspartikel sic des Lateinischen am nächsten verwandt sei oder zumindest zwischen diesen beiden Sprache die größte Nähe bestünde. Allerdings spricht er gerade in diesem Zusammenhang erneut von den Erfindern der Grammatik (gramatice positores), was dem Ganzen wiederum einen eher statischen und mechanischen Charakter verleiht und wenig auf einen dyna‐ misch zu verstehenden Sprachwandel hindeutet. Im Folgenden (cf. DVE I, 10, 2; 2007: 62) wird noch zusätzlich herausgestellt, daß das Italienische Vorrang ge‐ nießt, unter anderem, weil seine Grammatik bzw. die Sprache von Cino da Pis‐ toia (ca. 1265 / 1270-1336 / 1337) und seinem Freund (Dante selbst) näher an der lateinischen Grammatik sei (magis videntur initi gramatice que comunis est). Wiederum geht es aber eher um die typologische Nähe und dem daraus resul‐ tierenden Prestigezuwachs, als um eine Entwicklung. Ein bei Tavoni (2015: 70) angeführtes Argument der Nähe des Lateinischen zur italienischen Volkssprache basiert auf der Namenswahl. Indem Dante be‐ wußt vom vulgare latium ( DVE I, 10, 3; I, 11, 1; I, 15, 7 etc.) sprechen würde, 271 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="272"?> wenn er das Italienische bzw. seine Varietäten meint oder von den Italienern als den Latii ( DVE I, 9, 7; 2007: 58; II , 5, 2; 2007: 136) sowie von Italien als Latium ( DVE I, 10, 4; 2007: 64), würde er die italianità der lateinischen Schriftsprache betonten bzw. die latinità des Italienischen. Nichtsdestoweniger bleibt hier eine genaue Relation in Bezug auf die sprachliche Filiation offen. Grundsätzlich besteht in der mittelalterlichen Vorstellungswelt erst einmal ein fundamentaler Gegensatz zwischen vulgare und latino, der nicht ohne wei‐ teres zu überwinden ist, schon allein deshalb nicht, weil die beiden Sprachsys‐ teme sich in ihrer Substanz unterscheiden, was für die Zeitgenossen nicht nur eine eine sprachliche, sondern auch eine philosophische Dimension hatte und sich in Dichotomien wie ars vs. natura oder usus vs. ratio ausdrückt. Tavoni (2013: 11) leitet daraus ab, daß zwischen beiden Sprachen kein genetischer Zu‐ sammenhang vorstellbar sei: „È dunque evidente che il volgare non può derivare dal latino: questo sarebbe stato un assoluto controsenso, nella logica degli uo‐ mini del Medioevo.“ Denkbar ist letztlich auch, daß dies nicht weiter in seinem Interessensfokus in diesen Ausführungen zur Sprache der Dichtung war, sondern er den gemein‐ samen romanischen Ursprung eher abstrakt bzw. theoretisch sah, in gleichem Sinne wie auch das ydioma tripharium. Denn sowohl die europäische dreigeteilte Sprache, wie auch die romanische gehorchen einer festgelegten Schematik, deren Grundidee zumindest nicht ausschließlich auf empirischer Beobachtung basiert, sondern Teil einer teleologischen Gesamtkonzeption bildet. Synthese Die für vorliegende Fragestellung zentralen Aspekte der Sprachtheorie Dantes seien nun noch einmal entsprechend der beiden hier angewandten Untersu‐ chungsmethoden, also der Rekontextualisierung und der sozio- und varietäten‐ linguistischen Verortung, zusammenfassend dargestellt. Versucht man die Ausführungen zur Sprache in De vulgari eloquentia in seinem geistesgeschichtlichen Kontext zu situieren, so ist in erster Linie dazu festzuhalten, daß Dantes primäres Ziel nicht darin lag, eine Abhandlung zu As‐ pekten der Eigenschaft von Sprache an sich zu verfassen, sondern ihm ging es um die Apologie der Verwendung der Volkssprache zu bestimmte literarischen Zwecken - Gebrauchstexte werden dabei nicht thematisiert, jedoch ist davon auszugehen, daß dafür das Italienische durchaus denkbar war. In Bezug auf seine Stellung innerhalb der Literatur war jedoch das Italienische zu Dantes Zeit noch deutlich in der Defensive, und zwar trotz bereits der ersten zarten Blüten (v. supra), die jedoch nicht ausreichten, um der sanktionierten lateinischen Schrift‐ 272 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="273"?> 442 Dante selbst schwankt zunächst noch und so attribuiert er im Convivio dem Latein‐ ischen noch deutlich mehr Prestige (lo latino è sovrano del volgare), wobei das volgare zur obedienza verpflichtet ist (cf. Conv. I, 7, 5-6; 1996: 32-34). Erst in De vulgari elo‐ quentia wendet sich das Verhältnis deutlicher in Richtung volgare, welches noch einmal deutlicher aufgewertet bzw. gestützt und als Dichtungssprache verteidigt wird (cf. Bos‐ song 1990: 52). 443 Tavoni (2015: 72) nennt das vulgare illustre eine „lingua poetica […] miracolosamente, insieme naturale e universale“. sprache an Prestige ebenbürtig zu sein. 442 Dies lag nicht zuletzt auch daran, daß das Italienische in jener Epoche noch kein einheitliche Literatursprache aufwies, sondern es verschiedene scriptae mit je eigenen Diskurstraditionen gab (v. supra), so daß sich Dante bemüßigt fühlte jenem berühmt werdenden vulgare illustre (auch: latium illustre, cf. DVE I, 15, 7; 2007: 90) hinterherzujagen (cf. Me‐ tapher des Panthers, DVE I, 16, 1; 2007: 90). Die „Jagd“ nach der Dichtungssprache im italienischen Sprachraum, die er mit der Jagd nach einem edlen Tier vergleicht (eben dem Panther) kann am Ende gar nicht erfolgreich sein, weil die gesuchte Sprache, das vulgare illustre, an keinem konkreten Ort zu finden ist, sondern sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt (cf. Bossong 1990: 60-62). Ellena (2005: 317) verweist darauf, daß man den von Dante angedeuteten Prozeß, oder vielmehr den von ihm ersehnten, als Koiné-Bildung interpretieren kann „im Zuge dessen sich unterschiedliche, häufig auch gegensätzliche dialektale Merkmale zu einer Sprachform homoge‐ nisieren, welche dann im Idealfall verbreitet und kodifiziert wird.“ Mazzocco (1993: 29) spricht von einer impliziten reductio ad unum der italienischen Dia‐ lekte zur Gewinnung des vulgare illustre. Wie jene sublime Sprache dann konkret zu fassen wäre bzw. welche Vari‐ etät(en) des Italienischen ihr am nächsten käme(n), wird in den folgenden Jahr‐ hunderten dann die zentrale Frage, die den innersten Bestandteil der Gelehr‐ tendiskussion ausmacht, die heute als questione della lingua Eingang in die Forschung gefunden hat. Ausgehend von diesem Telos des Traktates, d. h. die unermüdliche Suche nach der adäquaten Literaturbzw. Dichtungssprache (vulgare illustre), 443 sind alle geschilderten Überlegungen zur Sprache, sei es der Lateinischen oder der Volks‐ sprache, diesem Zwecke untergeordnet. Die Argumentation Dantes ist dabei geprägt von scholastischer Gelehrsamkeit und literarischer Kunstfertigkeit, in der philosophische, religiöse und literarische Wissensbestände der Zeit ge‐ schickt im Sinne dieser Verteidigung und dann Erhöhung der Volkssprache mit‐ einander verknüpft werden. Nichtsdestoweniger geht Dante auch bewußt über 273 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="274"?> 444 „Nos autem oportet quam nunc habemus rationem periclitari, cum inquirere inten‐ damus de hiis in quibus nullius autoritate fulcimur, hoc est de unius eiusdemque a principio ydiomatis variatione secuta“ (Dante, DVE I, 9, 1; 2007: 54). 445 Zur mittelalterlichen Sprachphilosophie im Gefolge der Aristoteles Rezeption (z. B. Thomas v. Aquin) sowie im Speziellen zum Modell der modi significandi (z. B. Thomas von Erfurt, cf. Modisten) oder der Lehre der suppositiones (z. B. Wilhelm von Ockham) cf. Coseriu / Meisterfeld (2003: 148-169) und Kap. 6.1.5. das traditionelle Wissen hinaus, beschreitet nach eigener Aussage eigene Wege, die nicht von den Autoritäten gedeckt ist (nullius autoritate). 444 In diesem Sinne bleibt Dante zwar gerade, was seine Vorstellungen zur la‐ teinischen Sprache anbelangt, weitgehend der Auffassung seiner Zeit verhaftet, die trotz der augenscheinlichen Diversität im Gebrauch des Lateinischen, vor allem was die Registerunterschiede anbelangt, vor allem die Unveränderlichkeit dieser Sprache betont, die in erster Linie auf eine gesetzte, „artifizielle“ Gram‐ matik zurückzuführen sei, woraus sich auch ihr Prestige ableitet. In Bezug auf die Volkssprache hingegen erweist sich Dante nicht nur aus zeitgenössischer Perspektive als außerordentlich progressiv, indem er sich nicht nur auf die Ei‐ genschaft der Natürlichkeit dieser Sprachform beschränkt, sondern auch alle Einzelaspekte, die damit zusammenhängen detailliert bespricht. Dabei darf na‐ türlich nicht vergessen werden, daß diese umfangreichen Überlegungen wie‐ derum dem bereits übergeordneten Zweck dienen und nicht um ihrer selbst willen dargelegt werden. Dennoch, Dante nimmt mit seiner im ersten Teil von De vulgari eloquentia ausgeführten sprachtheoretischen, offensichtlich auch aus eigener Anschauung abgeleiteten Darstellung zum Wesen der (Volks-)Sprache eine singuläre Stellung ein, gab es doch jenseits streng scholastischer, univer‐ salistischer Sprachbetrachtung bis zu diesem Zeitpunkt und noch lange darüber hinaus keine so fundierte und kenntnisreiche Darstellung zu den natürlichen Sprachen. 445 Marazzini (2013) resümiert die in De vulgari eloquentia dargelegten sprach‐ theoretischen Gedankengänge Dantes noch einmal aus moderner Perspektive sehr konzise, so daß seine Leistung auch in Bezug auf die heutige Sprachwis‐ senschaft deutlich wird: Dante riconosce il principio della variabilità delle lingue umane, mostra la possibilità di filiazione storiche e di mutamenti dai ceppi originari, illustra la possibilità di tras‐ migrazioni di popoli che portano con sé i propri idiomi e colonizzano intere aree, riconosce l’esistenza di famiglie di idiomi legate geneticamente, arriva a isolare le parlate dell’Europa, e tra esse il gruppo omogeneo delle parlate italiane. Pur muovendo da una prospettiva teologica, dunque, Dante definisce la natura e la funzione del lin‐ 274 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="275"?> 446 Dies wird auch nochmal in Bezug auf das volgare illustre betont, das durch Bildung (magistratu) und Macht (potestate) ihrer Sprecher an Prestige gewinnen soll (subli‐ matum est) und dessen Ehre (honore) und Ruhm (gloria) dann auch wieder auf die Spre‐ cher zurückstrahlen wird (Dante, DVE I, 17, 2; 2007: 96). guaggio, in quanto strumento razionale di comunicazione riservato solo agli uomini. (Marazzini 2013: 27-28) Im Sinne dieses zweiten Blickwinkels sei noch einmal resümierend hervorge‐ hoben, daß Dante in Bezug auf die Volkssprache, d. h. in erster Linie die italie‐ nischen Varietäten, eine bisher nicht erkannte bzw. zumindest nicht dargelegte Variabilität dieses Idioms auffächert. Dabei läßt sich insbesondere eine detail‐ lierte Darstellung des diatopischen Bereichs beobachten, der sowohl auf Mak‐ roebene (Dialekte), wie auch auf Mikroebene (Mundarten, Urbanolekte) mit Beispielen belegt wird. Mit gewisser Vorsicht sind auch diastratische und dia‐ technische Aspekte der Sprache herauszulesen. Die bei Wunderli (1994a: 105-106) angesprochene, dianormative Ebene im Sinne einer von ihm bei Dante attribuierten Opposition von ‚Gebrauchsnorm‘ vs. ‚präskriptive Norm‘ sei mit einiger Skepsis gesehen. Zweifellos impliziert die gramatica bzw. ars des Lateins eine Normiertheit, jedoch scheint der von Wun‐ derli erwähnte uso (Conv. I, 5, 14; 1996: 28) im Sinne einer Gebrauchsnorm wo‐ möglich überinterpretiert zu sein. Ein besonderes Augenmerk wird zusätzlich auf die diachrone Komponente gelegt, insofern der Sprachwandel ebenfalls ausführlich thematisiert wird. Die Veränderlichkeit der Volkssprache in Raum und Zeit ist dabei insgesamt einer der zentralen Aspekte in diesen Teilen des Traktats. Demgegenüber wird wie‐ derholt die Unveränderlichkeit des Lateinischen betont, so daß dieses im Ge‐ gensatz zum vulgare als diasystematisch invariabel aufgefaßt werden muß. Dem widerspricht ein wenig die Tatsache, daß Dante durchaus die Verwandtschaft des Lateinischen mit den romanischen Sprachen, und vor allem die starke Ähn‐ lichkeit mit dem Italienischen sieht, die damit einhergehenden sprachliche Ent‐ wicklung entweder tatsächlich nicht so deutlich vor Augen hat oder dieser As‐ pekt einfach konzeptionell in seiner Argumentation nicht von Relevanz für ihn ist. Bemerkenswert ist außerdem, daß er nicht nur varietätenlinguistische Be‐ reiche der Sprache thematisiert, sondern auch auf Konzepte rekurriert, die aus heutiger Sicht zum Kern soziolinguistischer Betrachtung gehören, darunter vor allem der Faktor ‚Prestige‘ in Bezug auf Sprecher und Sprache, 446 aber auch so etwas wie Domänen der Sprachverwendung (cf. aulico, curiale) und Kommuni‐ kationssituationen, die eng mit der diamesischen Ebene verknüpft sind (cf. 275 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="276"?> 447 Im Zuge von Unruhen in Zusammenhang mit dem Konzil von Basel (1431-1449) und innerrömischen gentilen Auseinandersetzungen mußte Papst Eugen IV. am 29. Mai 1434 aus Rom fliehen und ging ins Exil nach Florenz, wohin ihm die Kardinäle und die Kurialbehörde folgten (cf. Seppelt 1957: 286). 448 Wissenschaftsgeschichtlich sei darauf verwiesen, daß diese Diskussion bereits bei Schuchardt (1866: 44-45) thematisiert ist, wenn auch mit zweifelhafter Interpretation (bzgl. Nominalismus vs. Realismus). 449 Als einziger weitere Vertreter dieser ursprünglich mündlichen Diskussion bezog noch Poggio Bracciolini schriftlich Stellung, allerdings erst 15 Jahre später, da er vorher keine Zeit fand, wie er selbst sagt: „Et certe is mihi animus semper fuit, ut aliquid contra suam sententiam [Brunis] scriberem, sed variae occupationes fuere hactenus impedimento“ (Poggio, Utrum prisc., 10; 2008: 185). Schriftsprache vs. mündliche Sprache bzw. gesprochenes vs. geschriebenes vul‐ gare vs. geschriebenes Latein). 6.2.3 Der Beginn der Diskussion zur antiken Sprachkonstellation (1435) Die Frage nach dem Zusammenhang von Latein und Volkssprache, die bereits Dante behandelt, wird in einer Diskussion, die im Jahre 1435 im Vorzimmer des Papstes Eugen IV . (1431-1447) in Florenz 447 stattgefunden haben soll, um einen spezifischen Aspekt bereichert. Während sie auf die Audienz beim Papst war‐ teten, diskutierten die päpstlichen Sekretäre Antonio Loschi (1365-1441), Cencio Romano (1390-1445), Andrea Fiocchi (1400-1452), Poggio Bracciolini (1380-1459), Flavio Biondo (1392-1463) und Leonardo Bruni (1370-1444) die Frage, was die Römer der Antike wohl als alltägliche Umgangssprache gespro‐ chen hätten. Zur Wahl stand das in grammatische Regeln gefaßte Latein oder eine wie auch immer definierte Vulgärbzw. Volkssprache. Nebenbei wird auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den antiken Sprachen (bzw. Va‐ rietäten) und der bzw. den zeitgenössischen italienischen Volkssprache(n) auf‐ geworfen. Die beiden wichtigsten Protagonisten dieser Diskussion 448 sind Leo‐ nardo Bruni (lat. Leonardus Aretinus) und Flavio Biondo (lat. Flavius Blondus), zumindest insofern diese beiden ihre Stellungnahmen schriftlich in Briefen fest‐ hielten und dies dann den Ausgangspunkt einer weiteren Auseinanderset‐ zungen mit dieser historisch-linguistischen Fragestellung bildete, 449 die Teil der questione della lingua und der Debatte umanesimo volgare vs. umanesimo latino wurde oder zumindest im Kontext derselben weitergeführt wurde (Co‐ seriu / Meisterfeld 2003: 149-159; Ellena 2011: 64-66; Marazzini 1999: 27-29; Schöntag 2017b: 111-112, 116). Im Folgenden seien die Ansichten Leonardo Brunis als erste abgehandelt, da dies einerseits die Reihenfolge der mündlichen Diskussion war, andererseits 276 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="277"?> 450 Der relativ kurze Brief ist in verschiedenen Werken abgedruckt, u. a. bei Tavoni (1984: 216-221), Marchiò (2008: 154-158, Kommentar: 159-162) und Marcellino / Am‐ mannati (2015: 238-249, Kommentar: 253-261), wobei hier auf die aktuellste Ausgabe rekurriert werden soll, die außer über eine ausführliche Kommentierung auch noch über eine italienische Übersetzung verfügt. Eine weiterführende Diskussion der Posi‐ tionen von Bruni wie auch Biondo findet sich außer in den genannten Werken vor allem in Mazzocco (1993), Coseriu / Meisterfeld (2003) und Raffarin (2015). aber auch Brunis Standpunkt der konservativere und traditionellere ist und somit den logischen Ausgangspunkt weiterer Ideen, Argumente und Konzepti‐ onen in dieser Debatte darstellt. Nichtsdestoweniger ist darauf zu verweisen, daß das Traktat von Flavio Biondo früher vollendet wurde (1. April 1435) als dasjenige Brunis, welches in Form eines kurzen Antwortbriefes vorliegt (7. Mai 1435) (cf. Tavoni 1984: 3 FN 1). Die Abhandlung Biondos ist zudem weitaus aus‐ führlicher und ist auch diejenige, die das zugrundeliegende Rahmengeschehen, also die Diskussionsrunde im päpstlichen Antichambre schildert. Weiterhin ist es auch Biondo, der in seiner Darstellung die Position Brunis noch einmal aus‐ führlich wiedergibt, so daß bezüglich bestimmter Vorstellungen, die Bruni at‐ tribuiert werden, Vorsicht geboten ist. Ob man deshalb so weit gehen muß, die These Brunis als eine pseudo-bruniana (Marazzini 1993a: 263) zu bezeichnen, sei dahingestellt. Entsprechend der in vorliegender Untersuchung angewandten Methodik (cf. Kap. 3) sollen dabei die Positionen der beiden Protagonisten sowohl im Lichte moderner linguistischer Modelle analysiert werden, als auch rekontextualisie‐ rend im Sinne einer zeitgeschichtlichen Verankerung. Durch diesen doppelten Blickwinkel, der, soweit sinnvoll, getrennt dargestellt werden soll, sei eine mög‐ lichst scharfe Herauspräparierung einzelner sprachreflektorischer Standpunkte und ihrer kulturhistorischen Bedingtheit garantiert. 6.2.3.1 Leonardo Bruni (Leonardus Aretinus) In seinem Brief Leonardus Flavio Foroliviensi S. Quaerit an vulgus et literati eodem modo per Terentii Tulliique tempora Romae locuti sint (1435) 450 bezieht sich Leo‐ nardo Bruni (1370-1444) auf die mündliche Diskussion mit Flavio Biondo (1392-1463), sowie dessen Schrift, und legt noch einmal konzise die beiden Po‐ sitionen dar. Textanalyse Während Bruni seinen Kontrahenten Biondo dahingehend interpretiert, daß dieser für die römische Antike eine einheitliche lateinische Sprache annimmt, postuliert er selbst, daß es früher in Rom, wie auch in heutiger Zeit, zwei völlig 277 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="278"?> 451 Für Bruni bzw. seine Zeitgenossen ist dies die Kernphase der lateinischen Schriftlich‐ keit, die Unterscheidung Altlatein vs. Klassisches Latein ist trotz der bereits bewußten sprachlichen Unterschiede noch nicht verankert (cf. auch die Periodisierung bei Citta‐ dini). Dabei spielt immer auch die Assoziation zur Regierungsform eine Rolle, insofern die römische Republik bzw. ihre Hochzeit ja bereits bei den Römern selbst als der In‐ begriff des Römertums gesehen wurde. Zum Versuch einer Periodisierung der latein‐ ischen Sprache unter heutigem Blickwinkel cf. Kap. 4.1.1 der vorliegenden Arbeit. verschiedene Sprachen gegeben habe, nämlich einmal die Sprache der Literatur und andererseits eine gesprochene Volkssprache. Quaestio nostra in eo consistit, quod tu apud veteres unum eumdemque fuisse ser‐ monem omnium putas, nec alium vulgarem, alium litteratum. Ego autem, ut nunc est, sic etiam tunc distinctam fuisse vulgarem linguam a litterata existimo. La nostra disputa consiste in questo: tu ritieni che presso gli antichi sia stata una e uguale per tutti la lingua, e che non vi sia stata una lingua volgare e una letteraria; io invece ritengo che anche allora, così come adesso, la lingua volgare sia stata distinta da quella letteraria. (Bruni, An vulg. et lit. 2; 2015: 238-239) Im Weiteren präzisiert Bruni die beiden Thesen nochmals, wobei er die Position Biondos so versteht, daß es in früherer Zeit ein einheitliches Latein gegeben hätte und dieses Latein sei das literarische gewesen. Er hält dagegen, daß es eine Sprache des Volkes gegeben haben müsse und eine der Literaten. Zusätzlich verortet er die zu diskutierende Epoche, also diejenige, die er bzw. Biondo zuvor grob als apud veteres charakterisiert hatte, als einen Zeitraum, der sich in etwa zwischen den Dichtern Terenz (Publius Terentius Afer, ca. 195 / 185-159 v. Chr.) und Cicero (Marcus Tullius Cicero, 106-43 v. Chr.) ansiedeln läßt. Wenige Zeilen weiter ist noch von Plautus (Titus Maccius Plautus, ca. 250-184 v. Chr.) die Rede, so daß man unter Berücksichtigung der Tatsache der Schaffensperioden der Dichter, die von ihm anvisierte Epoche als die altlateinische und klassische aus‐ machen kann bzw. politisch gesehen, die der römischen Republik. 451 Sit igitur quaestio utrum Romae per Terentii poetae et M. Tullii tempora vulgus ita loquebatur ut loquuntur hi quos nunc latine litterateque loqui dicimus, vel alius fuerit vulgi sermo, alius litteratorum. Pertanto la questione sia questa: se a Roma ai tempi del poeta Terenzio e di Marco Tullio il volgo parlasse così come quelli che noi adesso diciamo che parlano in latino letterario, o se una sia stata la parlata del volgo e un’altra quella dei letterati. (Bruni, An vulg. et lit. 4; 2015: 238-239) 278 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="279"?> 452 Zu einer Diskussion zum Begriff des latine literateque v. infra. 453 Coseriu / Meisterfeld (2003: 153) geben hier korrekt lat. lanista mit dt. ‚Metzger‘ wieder, was in der Reihung mit pistores (‚Bäcker‘) auch wahrscheinlicher ist als lanista im Sinne von dt. ‚Gladiatorentrainer‘ (it. ‚maestro di gladiatori‘) wie bei Marcellini / Ammanati (2015: 241), auch wenn die Standardbedeutung eigentlich tatsächlich diesem entspräche und ‚Metzger‘ üblicherweise lanius wäre. Gerade im Mittelalteinischen ist jedoch lanista im Sinne von ‚Fleischer, Metzger‘ durchaus vertreten; etymologisch mit der Tätigkeit des Gladiators, der ebenfalls ‚Fleisch in Stücke haut‘ metonymisch verwandt. Bruni vereinfacht hier auch bewußt die These Biondos, die er im Folgenden nochmal resümiert und dann im Einzelnen zu widerlegen trachtet, um sich schließlich selbst zu dieser Thematik zu positionieren. Das Argument Biondos - nämlich daß die Komödien des Plautus und des Terenz, die in derselben Sprache, in der sie geschrieben, auch aufgeführt wurden, sinnigerweise auch von den Römern verstanden worden sein mußten, genauso wie die Reden im Senat, woraus sich ein einheitliches Latein ableiten lasse - interpretiert Bruni dezidiert in einer anderen Art und Weise. Er zieht vielmehr den Vergleich zur zeitgenössischen Situation, in der die des Lateins unkundigen Massen trotzdem passiv der lateinischen Liturgie folgen könnten und auch als Analphabeten die Worte des Evangeliums verstehen würden. Die von Biondo angeführten Sprechsituationen stellen sich deshalb für Bruni insofern anders dar, als er die Kompetenzen der beteiligten Sprecher, aber auch deren sozialen Status differenzierter bewertet. Im Senat und vor Gericht im Rahmen von Prozessen (in senatu iudiciisque) würden sich die Redner (oratores) ja an ein gebildetes Publikum (homines litte‐ ratos) wenden und insofern wäre der Gebrauch des Lateins der Gebildeten (Latine litterateque loquerentur), welches auch als Schrift- und Literatursprache fungiert, in diesem Kontext kein Problem (cf. Bruni, An vulg. et lit. 11; 2015: 240). 452 Aber sogar in der Volksversammlung, an der gleichermaßen Ge‐ bildete wie Ungebildete teilnahmen, hätten sich die Redner in erster Linie an die Gebildeteren gewandt. Bruni sieht dabei den populus innerhalb des römischen concilium, wie er selbst erklärt, durch Bürger repräsentiert, die ganz allgemein weniger privilegierten Schichten zugehörten (infirmae sortis homines), was aber weder etwas über ihre Herkunft (nobiles et ignobiles) noch über ihre Bildung (doctique et indocti) aussagen würde. Die Redner adressierten ihre Worte dem‐ nach nicht nur an die ungebildete Schicht - als Beispiel führt er dabei die Bäcker und Metzger (ad pistores tantum et lanistas) 453 an -, sondern vielmehr an dieje‐ nigen, die an den Entscheidungsprozessen der römischen Republik Anteil haben (in rei publicae gubernatione versabantur), also die Gebildeten, die selbstredend mit dem Verständnis des literarischen Lateins kein Problem gehabt hätten. Die anderen würden diese Reden dann eben nur so verstehen, wie die nicht alpha‐ 279 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="280"?> 454 Im Mittelalter, wie auch in der Renaissance und noch einige Zeit darüber hinaus be‐ deutete Alphabetisierung auch gleichzeitig Kenntnisse des Lateins, da Lesen und Schreiben entweder ausschließlich oder primär anhand des Lateinischen erfolgte. Dabei konnten bei geringer Schulbildung die Kenntnisse des Lateins auch bescheiden sein und mit zunehmender Relevanz der Volkssprache diese auch wieder weitgehend in Verges‐ senheit geraten. betisierten Zeitgenossen 454 die heilige Messe (nunc intelligunt Missarum so‐ lemnia), d. h. sie hätten bezüglich des Lateins der Gebildeten in den Reden nur eine passive Sprachkompetenz. Hinzu käme noch die zu berücksichtigende Tat‐ sache, daß die Reden, so wie sie uns überliefert seien, bei der Niederschrift sti‐ listisch nachbearbeitet worden seien. Dies verstehe sich von selbst, da bei der öffentlichen Rede vor Versammlungen oft klare und allgemein verständliche Worte (verbis forsan vulgatis et apertis) nötig seien, während man sich in der Schriftlichkeit mehr um Eleganz (ornatius et comptius) bemühe (cf. Bruni, An vulg. et lit. 13-17; 2015: 240). Was die sprachliche Situation im Theater anbelangt, so widerspricht hier Bruni auch ganz dezidiert Biondo, indem er den Impetus für den Theaterbesuch bei der breiten Masse nicht in der Rezeption einer poetischen Kunst sieht, son‐ dern in dem Genuß der gesamten theatralischen Darbietung, wozu neben der eigentlichen Darstellung mit viel Gestik und den traditionellen Masken auch Musik gehört sowie die Ausschmückung der Skene (lat. scaena). Aus diesem Grunde würde man beim Theater auch von Zuschauern (spectatores) und nicht von Zuhörern (auditores) sprechen und davon, daß ein Schauspiel aufgeführt wird (acta) und nicht aufgesagt (recitata). Letztlich würden noch nicht einmal die Schauspieler die Texte der Autoren genau verstehen und müßten diese erst wiederholt rezipieren, um ihren Sinn zu erfassen bzw. müßten dazu angeleitet werden. Daraus würde eindeutig hervorgehen, daß die antiken Komödien nicht in der Sprache des Volkes abgefaßt wurden (nichil eorum fabulae ad sermonem vulgi pertinent) und die Zuschauer die Aufführung nach der Gesamtdarstellung und der Flötenmusik beurteilen würden (cf. Bruni, An vulg. et lit. 18-29; 2015: 240-242). Ex his omnibus patet ad ludos scenicos et tibias et actorum personas spectandum multitudinem convenisse. Poetae autem verba ne actores quidem ipsos intellexisse, nisi prius docerentur. Nichil igitur poetae, nichil eorum fabulae ad sermonem vulgi pertinent. Non enim intellectum verborum, sed spectaculum ludorum vulgus seque‐ batur. Da tutti questi passi risulta evidente che la massa accorreva per gli spettacoli scenici, per i flauti e per vedere le maschere degli attori; le parole del poeta non erano comprese 280 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="281"?> 455 Tatsächlich ist in der Antike supellex, -ectilis ein nomen collectivum (Sing. Fem.), erst bei Ammianus Marcellinus (ca. 330-395 n. Chr.) tritt die Pluralform supellectiles auf. Im Mittelalter wird von den Grammatikern die Form supellectilia (Pl. Neutr.) empfohlen (cf. Marcellino / Ammanati 2015: 256). neanche dagli attori, se prima non venivano istruiti. Pertanto i poeti e le loro commedie non hanno a che vedere con la lingua del volgo. Infatti al volgo non importava della comprensione del testo, ma dello spettacolo scenico. (Bruni, An vulg. et lit. 29; 2015: 242-243) Um das Ausgeführte zu veranschaulichen, zieht Bruni wieder die Parallele zur zeitgenössischen Situation und gemahnt Biondo, der ja ein gelehrter Mann (vir doctus) sei, sich vorzustellen, ob es tatsächlich sein könne, daß seinerzeit Ammen, Frauen oder andere Personen des Volkes den gleichen Grad an Sprach‐ beherrschung gehabt hätten wie sie beide selbst nach vielen Jahren der Übung mit zahlreichen Lehrern und ob es sein könne, daß jene ein Latein (Latine litte‐ rateque loquuntur) gesprochen hätten so wie es die Gelehrten heute sprechen würden und sie die Komödien ohne weitere Erklärungen verstanden hätten. Diese Annahme, so Bruni an die Adresse von Biondo, wäre doch absurd: „Pro‐ fecto valde absurdum est ita credere“ (Bruni, An vulg. et lit. 31; 2015: 244). Die logische Konsequenz für Bruni ist hingegen die These von den verschiedenen Sprachen zu Zeiten der römischen Antike. Ein weiterer Argumentationspunkt für die Verschiedenheit des Lateins der Gebildeten von der Volkssprache ist der für Bruni offensichtliche strukturelle Unterschied auf quasi allen Ebenen der Sprache (in multis differt). Dabei führt er morphologische Kriterien an, semantische, syntaktische und prosodische. Atque Latina lingua a vulgari in multis differt, plurimum tamen terminatione, infle‐ xione, significatione, constructione et accentu […]. La lingua latina è differente in molte cose da quella volgare, soprattutto però nelle desinenze, nella flessione, nei significati, nella costruzione e nell’accento […]. (Bruni, An vulg. et lit. 32; 2015: 244-245) Im Folgenden listet er dazu verschiedene Beispiele auf, wobei als Repräsentanten der Volkssprache durchwegs Ammen (nutrices) und (niedere) Frauen (mulier‐ culae) angeführt werden: Deklinationsfehler, die diese machen würden, illust‐ riert er an dem Beispiel supellex (dt. ‚Hausrat, Ausrüstung, Rüstzeug‘), welches vor allem im Plural mit schwankenden Formen (supellectiles, supellectilia, su‐ pellectilium, supellectilibus) gebraucht würde, 455 aber sogar bei den einfachsten Wörtern wie dominus könnte man Unregelmäßigkeiten beobachten (z. B. domi‐ nabus); Konjugationsfehler äußerten sich beispielsweise bei unregelmäßigen 281 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="282"?> 456 Die Beispiele werden hier in der Form angeführt, wie sie bei Bruni zu finden sind, ohne Berücksichtigung der heute üblichen Markierung von Länge und Kürze sowie ggf. Ak‐ zentuierung. 457 Zur Kommentierung der gesamten Sprachbeispiele cf. Coseriu / Meisterfeld (2003: 151-152) und Marcellino / Ammannati (2015: 29-33, 256-258), bei letzteren auch Belege zu antiken Quellen. 458 Zur Opposition zwischen litteratus und illitteratus und den dazugehörigen Implikati‐ onen v. infra. Verben wie ferre (statt fero, tuli, latum, auch sustuli und sublatum), die die Un‐ gebildeten und Frauen nicht in der korrekten Form verwenden würden. Inwie‐ weit Akzentuierung und Semantik zusammenhängen, zeigt er anhand der auf‐ tretenden Verwechslung der Perfektform von cadere (dt. ‚fallen‘), die ein kurzes i in der zweiten Silbe aufweist (cécidi), während die von den Frauen und Ammen in diesem Sinne mitunter verwendete Form (cecìdi) mit langem wortinternen i tatsächlich die Perfektform zu caedere (dt. ‚fällen, niederhauen, schlachten‘) darstellt (cf. Bruni, An vulg. et lit. 33-35; 2015: 244). 456 Weiterhin führt Bruni noch einige andere Spezifika der lateinischen Sprache an, die er als Besonderheiten des literarischen Lateins ausmacht und die damit Schwierigkeiten bei den Angehörigen niederer Bildungsschichten hervorrufen würden: Dazu gehöre der Gebrauch von zwei verschiedenen Verben zum Aus‐ druck von Aktiv und Passiv (pulso ‚ich schlage‘ vs. vapulo ‚ich werde ge‐ schlagen‘), verschiedene Arten der Akzentuierung (sinàpis vs. Polìxena, cf. Pa‐ enultimagesetz) die Verwendung von unterschiedlichen Personalpronomen in der gleichen syntaktischen Konstruktion (video te vs. invideo tibi) oder lexika‐ lische Varianz, welche er an Ciceros Sprachgebrauch demonstriert, der für eine Seeschlacht das Wort duellius verwendet anstatt des üblichen Allgemeinbe‐ griffes bellus (cf. Bruni, An vulg. et lit. 36-43; 2015: 244-246). 457 Dies alles sind für ihn letztlich ausreichend Argumente für ein dem Volk un‐ verständliches Latein, welches er, wiederum aus seiner zeitgenössischen Situa‐ tion heraus argumentierend, als eine Sprache auffaßt, die nur durch ein ausrei‐ chendes Studium und der Kenntnis der zugrundeliegenden grammatischen Regeln (cum disciplina et regula) erworben werden kann. So insinuiert er rhe‐ torisch mehrfach, daß sein Argumentationspartner Biondo angesichts dieser aufgezeigten Komplexität der Sprache ja wohl nicht ernsthaft glauben könne, daß Ammen, Frauen bzw. gemeine Illiterate, d. h. das ungebildete und nicht al‐ phabetisierte Volk (vulgus illiteratum) diese Schwierigkeiten in gleicher Weise beherrschen konnten wie die Gebildeten, wobei er die damaligen mit den zeit‐ genössischen gleichsetzt, worunter er selbstredend auch Biondo und sich selbst versteht (nos litterati). 458 282 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="283"?> 459 Bei den genannten historischen Persönlichkeiten handelt es sich um Gaius Laelius (ca. 190-123 v. Chr.), dem Cicero die Abhandlung Laelius de amicitia widmete, um Cornelia (ca. * 190 v. Chr.), die Tochter des Publius Cornelius Scipio Africanus (235-183 v. Chr.) und Mutter von Tiberius (163-133 v. Chr.) und Gaius Sempronius Gracchus (153-121 v. Chr.) sowie um den sizilianischen Komödiendichter Epicharmos (1. Hälfte 5. Jh.). Vix merhercule cum disciplina et regula hoc facerent, nedum sine disciplina et regula! A stento, per Ercole, questo potrebbero farlo con cognizione delle regole grammaticali, firguriamoci senza! (Bruni, An vulg. et lit. 34; 2015: 245-246) Haec ne quaeso mulierculae et nutrices et vulgus illiteratum dicent, quae nos litterati vix dicere valemus? Dimmi: le donnette, le nutrici e il volgo ignorante diranno queste cose, che noi, uomini di lettere, a stento siamo in grado di dire? (Bruni, An vulg. et lit. 40; 2015: 246-247) Während Bruni im bisherigen Verlauf seiner Argumentation vor allem auf den erheblichen Unterschied zwischen dem Latein der Gebildeten und der Volks‐ sprache abgehoben hat, geht er nun einen Schritt zurück und zeigt scheinbare Überschneidungsbereiche auf, letztlich jedoch nur, um am Ende auch dadurch seine Position zu stärken. Ein Problem stellt für ihn zunächst eine Aussage Ciceros dar, bei der Anal‐ phabetentum und gute Lateinkenntnisse sich nicht zu widersprechen scheinen: „Putabatur bene latine loqui sed litteras nesciebat“ (Bruni, An vulg. et lit. 44; 2015: 246), wobei Latein (latine loqui) nicht näher spezifiziert wird, hier wohl aber primär im Sinne der gehobenen Sprache der Gebildeten zu verstehen ist, in Anlehnung an das Konzept der latinitas (‚Sprachrichtigkeit‘) der antiken Rhetorik (cf. Göttert 2009: 43-44 und Kap. 4.1.2.3) und nur sekundär im allge‐ meinen Verständnis als Sprache des antiken Roms und seiner Herrschaft. Bruni erklärt sich das so, daß Cicero dies nicht explizit bemerkt hätte, wenn es nicht eine außergewöhnliche Tatsache gewesen wäre, d. h. nicht den Normalfall dar‐ stellen würde. Er gesteht auch ein, daß es auch unter den sonst zur Gruppe der Ungebildeten gerechneten Frauen in der Geschichte schon immer auch solche gegeben hätte, die sich gut ausdrücken konnten bzw. das Latein beherrscht hätten; dazu gehöre beispielsweise die Tochter des Laelius (At filia Laelii prae‐ clare Latine), Cornelia, die Mutter der Gracchen sowie die Töchter des Dichters Epicarmus. 459 Auch heutzutage gäbe es Frauen (mulieres Romanae), die die ro‐ manische Volkssprache eleganter und mit größerer Klarheit sprechen würden als so manche Männer (elegantissime loquuntur, et purius certe quam viri), und auch wenn es sich dabei nicht um Latein handeln würde, trügen sie durch ihre 283 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="284"?> 460 Eine genauere Erklärung wie er sich das vorstellt, daß die Frauen bzw. Ammen eine gehobene Sprache sprechen und an die Kinder weitergeben würden, ohne jedoch das System des Lateins der Gebildeten zu beherrschen, läßt er offen. Es handelt sich wahr‐ scheinlich um eine Frage des Stils und der Vermeidung von als diastratisch und dia‐ phasisch niedrig einzuordnenden Lexemen. Ausdrucksweise zur Eloquenz in dieser Sprache bei (cf. Bruni, An vulg. et lit. 46-53; 2015: 246-248). Ganz allgemein, d. h. auch auf die antike Situation bezogen, sieht Bruni den Beitrag der Frauen und Ammen darin, daß sie durch eine klare und nicht-bar‐ barische, d. h. durch möglichst wenig niedere volkssprachliche Elemente beein‐ flusste Redeweise ihre Kinder dazu erziehen würden, sich gut auszudrücken und dies würde auch funktionieren, obwohl sie die Flexion des literarischen Lateins nicht beherrschten. 460 Hoc ego modo filiis matres, et nutrices alumnis profuisse ad elegantiam puto: non quod casus inflecterent, aut verba variarent ac terminarent litterate, sed quod purum et nitidum ac minime barbarum sermonem infunderent. Io credo che le madri contribuissero alla raffinatezza dei loro figli, e le nutrici a quella dei figli altrui, in tal modo: non perché declinassero i nomi o coniugassero i verbi secondo la lingua letteraria, ma perché infondevano un modo di parlare puro, nitido e per nulla imbarbarito. (Bruni, An vulg. et lit. 52; 2015: 248-249) Bruni konstruiert damit einen geschickten Übergang zum möglichen Prestige der eigenen Volkssprache. Insbesondere dadurch, daß er im Anschluß an diese Ausführungen Dante und einige ungenannte andere (Dantem poetam et alios) als Beispiel für die mögliche Qualität einer volkssprachliche Ausdrucksweise hervorhebt: „Nam et habet vulgaris sermo commendationem suam […]“ (Bruni, An vulg. et lit. 53; 2015: 248). Durch diese letzte Volte in seinem Brief gelingt es ihm den großen Autoren der eigenen Sprache Respekt zu erweisen und ihr Werk zu würdigen, ohne dabei von seiner Grundposition der Verschiedenheit von Latein und Volkssprache ab‐ zuweichen. Eine Schlüsselstellung nehmen dabei die Frauen ein, wobei es sich hier offenkundig nicht um die gleichen Frauen wie in der ersten Argumentati‐ onshälfte handelt, die für die Sprechweise des gemeinen Volkes stehen, sondern um Frauen der Oberschicht bzw. solche mit Bildung, die durch ihr Vorbild so‐ wohl eine „bessere“ Volkssprache vermitteln, als auch gewissermaßen die Grundlage für die dann zu erwerbenden Lateinkenntnisse legen (zur Sprache der Frauen v. infra). 284 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="285"?> 461 Zu den Problemen der Abgrenzung und der Kategorisierung der einzelnen Ebenen des Diasystems cf. Kap. 3.1.1 der vorliegenden Arbeit, zu einer möglichen Neuordnung cf. Kap. 3.1.3. 462 Zur Verankerung der ars in der antiken Rhetorik sei auf Lausberg verwiesen, der den Zusammenhang folgendermaßen darstellt: „Jedes Sprachkunstwerk (opus, also die Rede oder die Dichtung) besteht aus res und verba […]. Die Synthese von Gedankeninhalt (res) und sprachlicher Formulierung (verba) ergibt das Sprachkunstwerk (opus). Die Herrichtung des Gedankeninhalts (res) und der sprachlichen Form (verba) sowie die Synthese zwischen beiden sind Gegenstand der ars“ (Lausberg 1990: 48; § 45). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Versucht man nun die in diesem Brief-Traktat dargestellte Auffassung von der Sprachsituation der Antike varietäten- und soziolinguistisch zu erfassen und zu kategorisieren, 461 so scheint zunächst die Frage im Raum zu stehen, was genau Bruni unter ‚Sprache‘ versteht. Dies ist jedoch insofern nicht a priori zu lösen, da ein einheitliches Konzept von ‚Sprache‘ in der aus dem Mittelalter überkom‐ menen Vorstellung nicht existierte. Die zur alltäglichen Kommunikation verwendete Muttersprache (Volks‐ sprache) konnte nicht wirklich unter dem gleichen Aspekt betrachtet werden wie die durch regolae und ars 462 sich konstituierende Literatur- und Wissen‐ schaftssprache Latein, die im Zuge einer universalistischen Sprachreflexion das einzige legitime und unhinterfragbare Anschauungsobjekt bildete (cf. dazu Bos‐ song 1990: 18-19). Genau an diesem Punkt setzt die Sprachbetrachtung in der Renaissance an - Bruni und Biondo stehen dabei (ebenso wie Petrarca und Dante) am Anfang einer Entwicklung -, indem einerseits das volgare als Sprache aufgewertet wird und man andererseits beginnt, das Latein als historische Ein‐ zelsprache zu erfassen, d. h. sie nicht mehr unveränderlich und überzeitlich re‐ guliert zu begreifen (cf. grammatica), sondern als lebendige Sprache, die sich wie die Volkssprache(n) verändert. Die Tatsache, daß das Lateinische eine Kunstsprache ist, also durch Konven‐ tion erschaffen wurde und es so etwas wie impositores oder inventores der Grammatik gab, ist eine Tradition, die sich von der grammatica speculativa u. a. über Brunetto Latini (1220-1294), Aegidius Romanus (1243-1316), Dante (1265-1321) zu Henry de Crissey (14. Jh.) zieht. Grundsätzlich betraf dies auch andere Kultursprachen, die im Mittelalter als solche anerkannt wurde, d. h. auch das Griechische und Hebräische - mit dem Lateinischen die tres linguae sacrae (cf. Isidor, Etym. 9, 1, 3; 1911: s. p.) - sowie das Arabische und Chaldäische; de facto war aber allein das Lateinische im Fokus (cf. Rizzo 2002: 16, 21). In einer allgemeinen scholastischen Interpretation unterscheidet Roger Bacon (1214 / 1222-1292) zwischen der von den clerici et literati benutzten lingua (La‐ tein) als Substanz und den zugehörigen idiomata (Italienisch, Spanisch, Franzö‐ 285 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="286"?> 463 Den Vergleich mit der eigenen Sprachsituation betont Bruni immer wieder: so gleich zu Beginn bei der Skizzierung der Fragestellung (ut nunc est, sic etiam tunc, Bruni, An vulg. et lit. 2; 2015: 238); ut loquuntur hi quos nunc, ibid. 4; 2015: 238), beim Vergleich mit der passiven Verständnismöglichkeit des Lateins durch die zeitgenössischen Besucher der Messe (quam nunc sit Evangelia Missarumque solemnia, ibid. 7; 2015: 238; ut nunc intelligunt Missarum solemnia, ibid. 14, 16; 2015: 240), bezüglich der Schwierigkeiten bei der Erlernung und Beherrschung des literarischen Latein, wozu es Lehrer bedarf (nos tot magistris, ibid. 31; 2015: 244) und was nur Gelehrten (vir doctus ac litteris, ibid. 31; 2015: 244; nos litterati, ibid. 40; 2015: 246) möglich ist, einst wie zu seiner Zeit sowie beim Vergleich antiker und zeitgenössischer Frauen, die ebenfalls eloquent sein konnten (ibid. 46-51; 2015: 246-248). sisch, Deutsch, Englisch, etc.) als Akzidentien. Eine analoge Distribution for‐ muliert er für das Griechische und seine Dialekte (cf. Rizzo 1990: 37). Allgemein gesprochen wendet sich die Sprachbetrachtung weg von den modi significandi (cf. Thomas von Erfurt, grammatica speculativa) (cf. Kap. 6.1.5) und hin zu Über‐ legungen zum korrekten Sprechen, der konkreten Anwendung von Sprache nach einem usus loquendi. Dabei gehen eloquentia und sapientia wie bei Coluccio Salutati eine enge Bindung ein und Sprache bzw. eine kunstvolle Rede wird zum Ausdruck des Individuellen, von Bildung und einem von moralischen und sitt‐ lichen Normen geleiteten Leben (cf. Schneider 1993: 136). Bruni macht nun gleich zu Beginn seiner Ausführungen deutlich, daß er im Gegensatz zur postulierten Einheitlichkeit der Sprache von Biondo in der rö‐ mischen Antike zwei Redeweisen unterscheidet, nämlich einen sermo vulgaris und einen sermo litteratus. Appliziert man auf diese Aussage moderne linguis‐ tische Begrifflichkeit, so kann dies als die Beschreibung einer Diglossiesituation im Sinne von Ferguson (1959) verstanden werden, da zwei miteinander ver‐ wandte Sprachen bzw. Varietäten in einem Verhältnis von high-variety und low-variety stehen. Die Tatsache, daß die beiden Idiome miteinander verwandt sind bzw. es sprachliche Gemeinsamkeiten auf allen Ebenen gibt, wird von Bruni zwar nicht expliziert (nicht wie bei Dante), doch läßt sich dies einerseits aus der Tatsache ableiten, daß die Unterschiede nur an wenigen Beispielen festgemacht werden und andererseits eine gegenseitige Verständlichkeit bzw. die zumindest passive Rezeptionsmöglichkeit der ungebildeten Volksschichten angenommen wird. Die für eine Diglossie (im Gegensatz zum allgemeinen Bilingualismus) entscheidende Funktionsaufteilung der beteiligten Sprachen leitet Bruni aus seiner eigenen zeitgenössischen Sprachsituation ab, die er weitgehend unver‐ ändert auf die antike Konstellation überträgt. 463 Daraus ist jedoch nicht unbe‐ dingt abzuleiten, daß Bruni das antike volgare mit dem zeitgenössischen gleich‐ 286 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="287"?> 464 „La lingua trapassava così da soggetto ad oggetto dell’osservazione, per la prima volta occorreva soffermarsi di proposito sul suo aspetto istituzionale, al di fuori di un impegno letterario o filologico“ (Fubini 1961: 531). setzt, wie Tavoni (1982: 238) richtigerweise anmerkt, 464 sondern nur, daß eine klare Grenze zwischen der Verwendung der beiden Idiome zu ziehen ist. Was Bruni letztlich denkt steht wiederum auf einem anderen Blatt, ist doch das Antwortschreiben mit einer bestimmten Intention verfaßt, Biondos Auffas‐ sung zu widerlegen. Marcellino / Ammannati (2015: 22) greifen den Gedanken Tavonis auf, daß er wahrscheinlich nicht annahm, daß in der Antike ein volgare italiano gesprochen wurde, machen aber auch deutlich, daß Bruni sich nicht von der Vorstellung lösen konnte, daß das Latein eine substantiell andere Sprache ist und war. Das Prestige des Lateins wird bei Bruni nicht weiter thematisiert, versteht es sich im Zeitalter des Humanismus doch von selbst (Mazzocco 1993: 37) bzw. mehr denn je, daß diese Kultursprache als Maßstab aller Dinge gesehen wurde und daher high-variety war. Im Mittelalter war Latein ebenfalls die wichtigste Pres‐ tigesprache, aber es gab im Wesentlichen keinen Disput über ihre Stellung und damit auch keine besondere Wertschätzung, es war einfach die Sprache der Schriftlichkeit per se, d. h. gleichermaßen Sprache der Literatur und der Wis‐ senschaft. Dies ändert sich erst allmählich mit dem Aufkommen der altokzita‐ nischen Troubadourlyrik (samt erster romanischer Grammatik) und darauffolg‐ ender Produktivität in anderen romanischen Sprachen sowie den ersten größeren Gebrauchstexten bzw. dem wissenschaftlichen Schrifttum, z. B. unter Alfons dem Weisen. In der Renaissance bzw. im Zuge humanistischer Studien erfährt über das wiedererwachte Interesse am antiken Schrifttum jedoch das Lateinische auch als Sprache und nicht nur als Kulturträger eine erneute Auf‐ wertung (cf. aber auch Karolingische Renaissance etc.). Damit sind bei Bruni die in seinem Sinne grammatisch regulierte Volks‐ sprache bzw. die einzelnen volkssprachlichen Varietäten Italiens, wie sie schon bei Dante erfaßt werden, schon zwangsweise als low-variety anzusehen. Auch weitere Kriterien Fergusons (cf. Kap. 3.1.2 supra) weisen auf ein diglossisches Verständnis hin, wie kanonisierte Literatur in der prestigereicheren Sprache sowie eine Elite, die dieser Sprache bzw. Varietät mächtig ist. Letzteres wird bei Bruni insofern deutlich, als er eine klare Zweiteilung der jeweiligen Sprecher vornimmt. Das Lateinische attribuiert er den (homines) litterati, den (viri) docti, den oratores (des Senats und der Volksversammlung), den poetae, den nobiles oder allgemein den scientes, während die Volkssprache vom vulgus bzw. dem populus oder der turba, den illiterati, den indocti, ignobiles, den nutrices, den mulierculae, den pistores und lanistae sowie indirekt auch von den actores ge‐ 287 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="288"?> 465 Zu einen genaueren Verankerung der Dimensionen ‚diasexuell‘ (bzw. Gynaikolekt) und ‚diatechnisch‘ (bzw. Technolekte) im Diasystem bzw. dem System der Lekte cf. Kap. 3.1.1. 466 „[…] il sesso femminile, tradizionalmente, fin dal Medioevo, era sempre citato come esempio quando si doveva far riferimento a una condizione di ingenua ignoranza […]“ (Marazzini 2006: 87). sprochen wird. Bezüglich dieser Einteilung liegen verschiedene Parameter zu‐ grunde, nämlich Schichtenzugehörigkeit, Bildung, Geschlecht und Beruf, wobei eine Parallelisierung erfolgt, die die Oberschicht bzw. Adel mit (höherer) Bil‐ dung, prestigereichem Beruf und Männer gleichsetzt, während Frauen, Hand‐ werker, Nichtadelige die Unterschicht bzw. das restliche Volk oder noch abwer‐ tender, die Masse an sich, repräsentieren. Setzt man eine varietätenlinguistische Perspektive an, so steht und fällt eine weitere Analyse mit der Frage nach Sprache oder Varietät in der Gesamtkon‐ zeption Brunis. Legt man hier zugrunde, daß er die antike Sprachsituation ten‐ denziell eher als eine strikt bilinguale auffasst, so ist keine weitere diasystema‐ tische Aufgliederung interpretierbar. Versteht man Brunis dargestellte Konstellation eher im Sinne einer diglossischen Konstellation mit funktionell differenten Varietäten, so kann man zwar weiterhin keine Diatopik herauslesen, jedoch zumindest diastratische und diaphasische Aspekte. Die diastratische Ebene würde sich dann in den oben ausgeführten Sprechergruppen äußern (litterati / docti vs. illiterati / indocti bzw. populus), während die Diaphasik in den verschiedenen Sprechsituationen hervorscheint (z. B. formell: öffentliche Rede, Theater (Heilige Messe) vs. informell: Alltagskommunikation - nur implizit). Eine Interpretation im Sinne einer weiteren diastratischen Aufsplittung bzw. der Identifizierung weiteren diasystematisch faßbaren Ebenen wie diasexuell (d. h. Sprache der Frauen, cf. auch Gynaikolekt) oder diatechnisch (Berufe, cf. auch Technolekte) ist insofern nicht wirklich möglich, 465 da die genannten Gruppen mit der Gruppe der Ungebildeten bzw. Illiteraten korreliert (v. supra) und Bruni ihnen keine eigenen sprachlichen Merkmale attribuiert. Gerade die Sprache der Frauen wird für ihn nur insofern relevant als sie der Illustration dienen, wie auch bei den Ungebildeten die Möglichkeit bestünde, daß sie sich elegant ausdrücken könnten ohne das Lateinische im eigentlichen Sinne, d. h. die Sprache der Gebildeten und der Literatur, zu beherrschen. Ei‐ nerseits werden dabei zwar einzelne Beispiele herausgegriffen, andererseits fungiert die Sprache der Frauen (d. h. auch der Mütter und Ammen) in gewisser Weise als Topos für einen Teil der Gruppe der Illiteraten (cf. dazu auch schon Dante, Kap. 6.2.2), die zum Lateinischen als Bildungssprache keinen oder nur bedingten Zugang hat. 466 Dabei ist zu berücksichtigen, daß Bruni in seinem in 288 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="289"?> 467 Bruni setzt hier die Sprache des Theaters in eine Reihe mit der der Rede und anderen Formen elaborierter Sprachlichkeit. Auch wenn in Theaterstücken durchaus auch Nä‐ hesprache auftritt (cf. fingierte Mündlichkeit) und deren Grad abhängig von Genre (Komödie vs. Tragödie) und Autor ist, bleibt die Grundkonzeption ebenfalls eine dis‐ tanzsprachliche, also konzeptionell schriftliche. De studiis et litteris (1422-1429) niedergelegten Bildungsprogramm Frauen durchaus berücksichtigte und sie fördern wollte. Allerdings dahingehend ein‐ geschränkt, daß sie keine Kenntnisse in Rhetorik, Mathematik oder Astronomie bräuchten, sondern sie nur für Studien zur Ausübung der Religion (ohne scho‐ lastische Streitfragen) sowie zum guten und richtigen Leben im Sinne eines ethisch-politischen Handelns vorgesehen wären (cf. Flasch 2013: 611-612). Eine Schlüsselfunktion bei der Betrachtung der Darstellung Brunis hat die Diamesik bzw. die Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit, gewährt sie doch einen Zugang zu einer zumindest approximativen Lösung der Frage des Sprachverständnisses. So ist festzustellen, daß wenn vom Lateinischen in Zu‐ sammenhang mit Oralität die Rede ist, es sich ausschließlich um Fälle von Dis‐ tanzsprache handelt, d. h. Situationen, in denen konzeptionelle Schriftlichkeit mündlich verwendet wird; so bei den öffentlichen Reden, partiell auch im The‐ ater 467 oder mit zeitgenössischem Bezug bei der Heiligen Messe. Bei einer weiteren Betrachtung der Bezeichnungen für Sprache erschließt sich der Bezug noch eindeutiger. Bruni verwendet gleich zu Beginn seines Trak‐ tates die Wendung latine litterateque (An vulg. et lit. 4; 2015: 238) und drückt damit deutlich aus, daß die Sprache Latein hier als Sprache der Gebildeten (cf. litteratus) und somit auch als Schrift- und Literatursprache verstanden werden soll (v. infra), was zuvor bereits in der Bezeichnung sermo litteratus (im Text: sermonem …alium litteratum, ibid. An vulg. et lit. 2; 2015: 238) angedeutet wird, auch wenn er später auch von Latina lingua (ibid. 32; 2015: 244) oder nur von Latine (ibid. 46; 2015: 246) spricht, womit sowohl „neutral“ auf das Lateinische per se referiert werden kann als auch auf das normierte Latein im Sinne einer latinitas (cf. Kap. 4.1.2.3). Zieht man in Betracht, daß Bruni von der Sprachsitu‐ ation seiner eigenen Epoche ausging, in der Latein vor allem als Literatur- und Wissenschaftssprache mit einem beachtlichen, bereits hochgradig kanoni‐ sierten Schrifttum wahrgenommen wurde, so ist anzunehmen, daß auch sein antikes Sprachverständnis in erster Linie auf diese Eigenschaft abzielt. Bruni versteht unter Latein in der Antike demnach vor allem das konzeptionell schrift‐ liche Latein, welches in besonders elaborierter Form in den kanonisierten Texten der bekannten Autoren auftritt. Dies schließt jedoch Äußerungen, die medial mündlich, aber dennoch konzeptionell schriftlich sind, nicht aus (cf. Theater, Rede). Brunis Begriff von ‚Latein‘ ist damit eingeengt auf eine bestimmte Vari‐ 289 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="290"?> 468 Auch, wenn er zu Beginn des Briefes kursorisch die für ihn relevante Antike zwischen Terenz und Cicero verortet (v. supra), ist die Frage der zeitlichen Situierung für ihn untergeordnet, denn die Opposition zwischen Latein und Volkssprache ist für ihn im Wesentlichen überzeitlich (cf. dazu das Schema bei Coseriu / Meisterfeld 2003: 158 sowie Michel 2005: 6). etät des Lateins. Dabei handelt es sich wohl auch nicht um das heute als „klas‐ sisch“ bezeichnete Latein einer bestimmten Epoche der Antike, sondern, da Bruni weitgehend ahistorisch argumentiert, vielmehr um eine überzeitlichen Superstandard, d. h. eine schriftliche Varietät, die einem hohen Stilregister zu‐ zuordnen ist und eine entsprechende Elaboriertheit bedingt, beruhend auf den als vorbildlich erachteten Autoren. 468 Die Volkssprache hingegen, die er ausge‐ hend vom Lateinischen weitgehend ex negativo bestimmt, ist für ihn auf allen Ebenen des Sprachlichen weit entfernt (in multis differt) von seinem Referenzi‐ diom. Die wenigen Beispiele Brunis zur sprachlichen Differenzierung machen Rückschlüsse auf sein diesbezügliches Verständnis grundsätzlich schwierig. Ta‐ voni (1982: 240) konstatiert bezüglich des volgare: „It might be said that he thought of it as sharing the same lexical basis as Latin.“ Dagegen sprechen al‐ lerdings, die von Bruni angeführten lexikalischen Divergenzen (duellius vs. bellus, vella vs. villa, vellatura vs. vectura, Bruni, An vulg. et lit. 42-43; 2015: 246). Bruni selbst sieht die Unterschiede zwischen Latein und Volkssprachen auf allen Ebenen, d. h. morphologisch (terminatione, inflexione), syntaktisch (construc‐ tione), lexikalisch (significatione) und prosodisch (accentu) (Bruni, An vulg. et lit. 32; 2015: 244). Die Tatsache, daß Bruni bezüglich der Beispiele zum Teil irrt (cf. dazu Marcellino / Ammannati 2015: 30) spielt in der Argumentation keine wesentliche Rolle. Aus dieser starken sprachlichen Abgrenzung kann man folgern, daß Bruni zwar wohl eine Verwandtschaft zwischen der Volkssprache und dem Latein‐ ischen sieht, für ihn aber beide so strukturell unterschiedlich sind, also so dis‐ tante Varietäten, daß hier der Begriff der ‚Sprache‘ für beide Idiome seinem Verständnis am nächsten kommt und man seine Auffassung als eine bilinguale Sprachkonstellation interpretieren kann (cf. Michel 2005: 137). Ähnlich wie Dante erkennt Bruni wohl einen Zusammenhang, kann aber ganz der mittelal‐ terlichen Tradition verhaftet (cf. Kap. 6.1.5), beide Systeme nicht als Einheit denken bzw. will es auch nicht (v. infra). In diesem Sinn sei hier das Urteil von Tavoni (1982: 240) relativiert, der Bruni so interpretiert, daß für ihn die Volkssprache der Antike keine autonome Sprache darstelle: „Bruni did not see the vulgaris sermo as an autonomous lang‐ uage.“ Die Tatsache, daß das volgare in Brunis Augen nicht die gleiche „Perfek‐ 290 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="291"?> 469 Es handelt sich um Gaius Scribonius Curio (Volkstribun 90 v. Chr., † 54 v. Chr.), zeit‐ weiliger Gegner Caesars und Verbündeter Ciceros (cf. auch infra Kap. 6.2.3.2 zu Biondo). tion“ wie das Lateinische aufweist und damit auch nicht in gleicher Weise eine „vollwertige“ Sprache sein kann, erlaubt nicht den Umkehrschluß, daß es des‐ halb nicht auch als Sprache gelte. Bruni zeigt dies nicht nur dadurch, daß er immer wieder diese Opposition betont und damit implizit von zwei Systemen ausgeht, die er ja auch ansatzweise beschreibt, sondern auch durch die dann erfolgte Aufwertung des zeitgenössischen volgare. Die bisher dargestellte Sprachauffassung Brunis im Lichte der hier vorge‐ nommenen sprachwissenschaftlicher Betrachtung, die in erster Linie als diglos‐ sisch bezeichnet werden kann und so auch bisher mitunter in der aktuellen Sekundärliteratur dargestellt wurde (cf. z. B. Tavoni 1982: 239; Koch 1988b: 348; Marazzini 2013: 35; Raffarin 2015: 34; Marcellino / Ammannati 2015: 22), verkom‐ pliziert sich, wenn man die in den letzten Abschnitten seines Traktates hervor‐ gebrachten Argumente hinzuzieht (cf. Bruni, An vulg. et lit. 46-53; 2015: 246-248). So gesteht er gebildeten Frauen wie der Tochter des Laelius ganz explizit ebenfalls eine hohe Kompetenz im Lateinischen zu (praeclare Latine), Sappho als Parallelbeispiel aus dem griechischen Kulturraum sogar eine elabo‐ rierte Schriftlichkeit (praeclare Graecis versibus scripsit). Ob er auch jenen Aus‐ nahmefällen der römischen Frauen auch eine gute Beherrschung der Schrift‐ sprache bzw. literarische Kompetenz im Lateinischen zutraut, muß offen bleiben. Dem Redner Curio 469 attestiert er wiederum trotz Illiteratentum (d. h. Analphabetentum) eine große Eleganz in der Rede (splendore et copia optimorum verborum) und dies ohne größere Ausbildung. Und schließlich lobt er auch die Dichtung in romanischer Sprache bei Dante und anderen Poeten - des dolce stile nuovo wäre wohl zu ergänzen. Dies „verwässert“ in gewisser Weise seine bisher strikte Zuordnung der Spre‐ chergruppen, insofern die Gleichsetzung von (männlicher) Oberschicht, Bil‐ dung, Literarität und latinitas auf der einen Seite und Unterschicht, Volk, Masse, Nicht-Bildung, Illiterarität, Frauen und sermo vulgaris auf der anderen Seite durch diese Fallbeispiele partiell relativiert wird. Dies zeigt jedoch auch, daß es ihm um die Beherrschung eines bestimmten gehobenen Sprachstils geht, der zwar grundsätzlich an eine bestimmte Schicht oder Gruppe gebunden ist, aber auch erlernbar ist, wenn entsprechende Voraussetzungen vorliegen. Bruni (An vulg. et lit. 48; 2015: 247) erklärt das mit dem möglichen positiven Einfluß der Mütter, Lehrer und (gebildeten) Sklaven in einem (guten) Haushalt, der die Grundlage zur Erlernung des Lateins der Gebildeten schaffen würde. In Bezug auf die zeitgenössische Situation stellt er jedoch klar, daß auch wenn es Frauen 291 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="292"?> 470 Erst Bembo wird diesbezüglich deutlich, indem er für die Stellung der griechischen Sprache in der römischen Antike und in Bezug auf das Latein klar und funktional de‐ finiert (v. infra, Kap. 6. 2. 10). 471 Dieser Kreis um Salutati, zu dem auch noch Pietro Paolo Vergerio d. Ä. (1370-1444) gehörte, war keine Schule im formalen Sinne, sondern ein humanistischer Gelehrten‐ zirkel, in dem Petrarca als Vorbild (magistra vitae) galt, und zwar aufgrund seiner Le‐ gibt, die eine reine und elegante Sprache sprechen, so würden diese kein Latein im engen Sinne, d. h. das auch schriftlich bzw. literarisch verwendete Latein der Bildungsschicht gebrauchen (non litteratus sit earum sermo; ibid. An vulg. et lit. 49; 2015: 248). Was die funktionale Verteilung der Sprachen anbelangt, so sind letztendlich die Ausführungen Brunis in Richtung auf eine zeitgenössische Triglossie zu in‐ terpretieren, und zwar mit einer zeitgenössischen Volkssprache, die als low va‐ riety funktioniert sowie dem literarischen Latein als high variety für alle Be‐ reiche der Distanzsprache und einer elaborierten Volkssprache (toskanischer Prägung) als high variety allein im Bereich der Lyrik. Für die Antike bleibt es tendenziell bei einer Diglossie-Situation, die hier bei ihm beschrieben wird, denn die Funktion des Griechischen wird nicht weiter thematisiert; d. h. es ist zwar klar, daß für Bruni das (literarische) Griechisch ebenfalls eine high-variety ist, aber ihre Funktion in der römischen Gesellschaft wird nicht ausgeführt. 470 Rekontextualisierung Um das Verständnis Leonardo Brunis in Bezug auf die antike Sprachsituation möglichst klar erfassen zu können, soll zusätzlich neben dem Versuch einer Ka‐ tegorisierung mit Hilfe aktueller linguistischer Modelle, nun noch im Zuge einer Rekontextualisierung eine Verortung des hier Ausgeführten im kultur- und sprachhistorischen Zusammenhang vorgenommen werden, auch unter Heran‐ ziehung weiterer Schriften des Autors. Hierzu sei zunächst ein kurzer Überblick mit biographischen und werksge‐ schichtlichen Informationen vorangestellt, um eine bessere zeitgeschichtliche Verortung zu gewährleisten. Leonardo Bruni (lat. Leonardus Aretinus) (1370-1444) stammte aus Arezzo (cf. daher auch: Leonardo Aretino) und studierte wohl ab 1384 in Florenz Rhetorik bei Giovanni Malpaghini (1346-1417) sowie womöglich auch Jurisprudenz im Hinblick auf ein Auskommen als Notar. Er lernte außerdem Griechisch bei Ma‐ nuel Chrysoloras (auch: Chrysolaras) (1353-1415) und wurde in den Kreis um den Kanzler Coluccio Salutati (1331-1406) aufgenommen, zu dem auch andere illustre Persönlichkeiten wie Niccolò Niccoli (1364-1437), Poggio Bracciolini (1380-1459) oder Palla Strozzi (1373-1462) gehörten. 471 Im Jahre 1405 begab er 292 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="293"?> bensführung (ars vitae), seiner Moralphilosophie und seinen Schriften. Salutati holte jedoch auch aus Byzanz Manuel Chrysoloras nach Florenz und schuf den ersten Lehr‐ stuhl für Griechisch in Italien (cf. Ebbersmeyer 2010: 102-110). 472 Bruni übersetze aus dem Griechischen ins Lateinische, aber auch vereinzelt aus dem Griechischen ins Italienische sowie vom Italienischen ins Lateinische (cf. Bezner 2014: 200). 473 Allgemein zum Einfluß Dantes auf die hier behandelten Schriften von Bruni und Biondo cf. Schöntag (2017a). sich nach Rom an die Kurie, um das Amt als päpstlicher Sekretär anzutreten, welches er in den folgenden Jahren unter den Päpsten Innozenz VII . (1404-1406), Gregor XII . (1406-1409 / 1415), Alexander V. (1409-1410) und dem Gegenpapst Johannes XXIII . (1410-1415) ausübte. Letzteren begleitet Bruni auf das Konzil von Konstanz (1414-1418), kehrte dann aber wieder nach Florenz zurück. Dort wird er schließlich 1427 als Nachfolger Salutatis bis zu seinem Tod (1444) Kanzler (cancelliere) der Republik Florenz. Leonardo Bruni hat ein umfangreiches und vielfältiges Werk hinterlassen: So übersetzte er Platon (z. B. Phaidon, ca. 1405; Gorgias, ca. 1425), Aristoteles (Ni‐ komachische Ethik, 1416 / 1417; Politik, ca. 1429), einige Viten Plutarchs, Teile aus Homers Ilias (ca. 1421) sowie Reden von Demosthenes, Aischines und Xenophon und befaßte sich zudem theoretisch mit Übersetzungen (De interpretatione recta, ca. 1420). 472 Er verfaßte Biographien von Aristoteles (ca. 1429), Cicero (ca. 1415), Dante und Petrarca (Vite parallele di Dante e Petrarca, 1436). Des weiteren schrieb er moralphilosophische Traktate (z. B. Isagogicon moralis disciplinae, ca. 1421 / 1424), humanistische Lehr- und Programmschriften (z. B. De studiis et lit‐ teris, 1422-1429; Dialogi ad Petrum Paulum Histrum, 1401-1406) und politische Schriften (z. B. das panegyrische Gedicht Laudatio Florentinae urbis, 1403-1404; De militia, 1421) sowie wichtige historiographische Werke (z. B. Commentarii rerum Grecarum, 1439; Commentarii rerum suo tempore gestarum, ca. 1440; De bello Italico adversos Gothos, 1441; Historiae florentini populi, libri XII , ca. 1410-1440, publ. it. 1473). Hinzu kommen einige Gedichte, Komödien und zahl‐ reiche Briefe (cf. Vasoli 1972: 618-631; Jaumann 2004: 135; Bezner 2014: 199-201). Brunis Vorstellung von Sprache bzw. der lateinischen Sprache als Inbegriff dessen, was eine „korrekte“ Sprache darstellt, war noch eng mit den tradierten Konzepten von ars und grammatica verknüpft, wie es exemplarisch bei Dante überliefert ist. 473 Mazzocco (1993: 214, FN 1) bezweifelt nicht, daß Bruni zumin‐ dest mit dem Convivio Dantes vertraut war und mit nicht geringer Wahrschein‐ lichkeit auch mit De vulgaria eloquentia und Dantes Unterscheidung von locutio naturalis vs. locutio artificialis (v. supra). Dafür führt er als externen Grund an, daß Bruni über die intensive Beschäftigung mit Boccaccio, insbesondere mit dessen Tratatello in laude di Dante (1351 / 1360 / 1372) und der Teseida delle nozze 293 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="294"?> 474 Ohne Nennung eines Werkes gibt Bruni jedoch ganz explizit Dante als Quelle an: „Co‐ minciossi a dire in rima, secondo scrive Dante, innanzi a lui circa anni centocinquanta; e i primi furono in Italia Guido Guinizelli Bolognese, e Guittone Cavaliere Gaudente d’Arezzo, e Boniagiunta da Lucca, e Guido da Messina, i quali tutti Dante di gran lunga soverchiò di scienze, e di pulitezze, e d’eleganza, e di leggiadria“ (Bruni, Vita di Dante, 1672: 67-68). 475 „Scrisse ancora un’altro libro intitolato de vulgari eloquentia“ (Bruni, Vita di Dante, 1672: 78). 476 Cf dazu auch Fubini (2003: 13), der eher von einer indirekten Wirkung Dantes ausgeht, diese aber dennoch für wichtig erachtet. Für eine detaillierte früheste Rezeption von De vulgari eloquentia im Trecento cf. Klein (1953: 43-47). 477 Die Tatsache, daß Bruni hier die italienischen Varietäten nur der Lyrik für fähig hält, hängt wohl auch damit zusammen, daß, wie Kristeller (1984: 10-12) ausführt, außerhalb der Toskana im 15. Jh. noch kaum nennenswerte Prosawerke entstanden sind. d’Emilia (1339 / 1341), Kenntnis dieser Schrift hatte. Als internen Grund nennt Mazzocco Brunis Schilderung der Entstehung volkssprachlicher Dichtung in Italien in seiner eigenen Vita di Dante und die dortige Nennung maßgeblicher Autoren wie Guido Guiniz(z)elli (1230 / 1240-1276), Guitone d’Arezzo (1230-1294), Bonagiunta da Lucca (1220-1290 / 1300) und Guido da Messina bzw. delle Colonne (1210-1287), wobei vor allem letzterer nur in De vulgari eloquentia aufscheint (I, 12, 2; II , 5, 4; II , 6, 6), der allgemeine Ursprung der Dichtung zum Teil auch in der Vita Nuova ( XXV , 4). 474 Schließlich gibt es auch noch den expliziten Hinweis bei Bruni, daß ihm zumindest die Existenz diese lateinisches Traktat Dantes bekannt war. 475 Dies zeigt einerseits, trotz der nach‐ weislich allgemein geringen Verbreitung dieses Werkes bis zur Übersetzung Trissinos (1529), daß De vulgari eloquentia hinsichtlich seiner dort enthaltenen sprachtheoretischen Passagen wohl zumindest eine indirekte Wirkung auf wei‐ tere Sprachreflexionen des Quattrocento hatte, 476 andererseits, daß aufgrund einer mangelnden breiten Rezeption bestimmte Aspekte über die Diversität der Volkssprache noch lange unbeachtet blieben. Unabhängig also von der Art der Kenntnis und Anknüpfung Brunis an Dante zeigt sich in An vulgis et literati eine klare Auffassung des Lateinischen als re‐ gelbasierter, unveränderliche Kunstsprache (ars, grammatica) und des vulgare als grundsätzlich nicht grammatisch regulierter Sprache des ungebildeten Volkes. Inwieweit bzw. in welchem Ausmaß Bruni einer elaborierten Volkssprache, wie sie sich in Form der frühen Dichtung Italiens zeigt (scuola siciliana, dolce stile nuovo, tre corone) Prestige beimißt bzw. welche Wertschätzung er dafür aufbringt, 477 ist in der Forschung umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil seine 294 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="295"?> 478 Es ist wohl Bahner (1983: 180) beizupflichten, der in den Schriften Brunis eine Entwick‐ lung konstatiert, von einer anfänglichen Skepsis in Bezug auf das volgare als Schrift‐ sprache, hin zu einer mäßigen Befürwortung. 479 „Sola enim hec in tota Italia civitas purissimo ac nitidissimo sermone uti existimatur. Itaque omnes qui bene atque emendate loqui volunt ex hac una urbe sumunt exemplum“ (Bruni, Laud. Flor., 10; 1968: 263). Aussagen in seinem Œuvre nicht einheitlich ausfallen. 478 So spricht er in der relativ frühen Abhandlung Dialogi ad Petrum Paulum Histrum (1401) zwar den tre corone als Repräsentanten der volkssprachigen Literatur einen gewissen Ruhm zu, doch bedauert er es auch, daß sie nicht auf Latein geschrieben hätten. Dies wird beispielsweise durch die abwertende Bemerkung über die man‐ gelnden Lateinkenntnisse bzw. die fehlende stilistische Eleganz im Lateinischen bei Dante deutlich: Denique, ut alia omnia sibi affuissent, certe latinitas defuit. Nos vero non pudebit eum poetam appellare, et Virgilio etiam anteponere, qui latine loqui non possit ? Legi nuper quasdam eius litteras, quas ille videbatur peraccurate scripsisse: erant enim propria manu atque eius sigillo obsignate. At mehercule, nemo et tam rudis, quem tam inepte scripsisse non puderet. Infine, posto pure che Dante abbia avuto tutte le altre doti, certamente gli mancò la conoscenza della lingua latina. Non ci vergogneremo allora di chiamare poeta, ed anche di anteporre a Virgilio, uno che non era capace di esprimersi in latino? Poco fa ho letto alcune sue lettere, che pareva le avesse scritte con tanta cura: erano di sua mano e con apposto il suo sigillo. Ma, per Ercole, non c’è alcuno tanto rozzo che non si vergognerebbe di aver scritto così male. (Bruni, Dialogi, 44; 2012: 40, 43) Diese Aussage ist zwar im Kontext eines argumentativen Dialogs zu sehen, in dem rhetorisch stilisiert konträre Meinungen gegeneinander abgewogen werden (in utramquem partem disserere, cf. Reutner / Schwarze 2011: 102-103), dennoch bleibt der Vorrang des Lateinischen als suggestives Statement be‐ stehen. Die Exponierung Brunis für eine vernakulare Volkssprache in der zeitgenös‐ sischen Literatur - die oft durch seine vorwiegend lateinhumanistische Sicht verdeckt ist - zeigt sich beispielsweise in seiner Laudatio Florentinae Urbis (1403 / 1404), in der er ein Loblied auf das Florentinische anstimmt, welches in ganz Italien einzigartig wäre. 479 Dies wiederum korreliert mit seiner Verherrli‐ chung der Stadtgeschichte von Florenz (Historiae Florentini populi libri XII , 295 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="296"?> 480 Die Wertschätzung des florentinischen volgare steht auch in Zusammenhang mit der Städterivalität zwischen Florenz und Mailand, war dabei doch ein Streitpunkt die Wert‐ schätzung bzw. die Desavouierung der tre corone (cf. Raffarin 2015: 30). 481 Dies impliziert nicht nur eine literarische Verbundenheit, sondern auch eine politische, da sowohl Boccaccio als auch Dante in Florenz Ämter innehatten, was bezüglich letzt‐ erem, Bruni auch selbst erwähnt (cf. Bruni, Hist. IV, 10; 1968 I: 398-399). Zu Petrarca hat er ein besonderes Verhältnis, da er nicht nur schon früh vom ihm inspiriert wurde (cf. Episode über Bild in seinem Zimmer in Arezzo - ihrer beider Heimatstadt, cf. Bruni, Hist., M 16; 1968 III: 312-313), sondern durch Coluccio Salutati, der Schüler Petrarcas war und Brunis Lehrer, in einer direkten Filiation zu ihm stand (cf. Thumfart / Wasch‐ kuhn 2005: 135). Zudem stand Bruni, als er noch apostolischer Sekretär war, auch in direkter Korrespondenz mit Petrarca; cf. dazu z. B. den Brief Petrarcas vom 22. Juli 1368, in welchem er Bruni amicus nennt (cf. Petrarca, Epist. XI, 2: Ad Franciscam Bruni pape secretarium; 1978: 742-749). 482 „There emerged in a brief span of years a new style in political thinking, a new per‐ spective in historiography, new techniques in historical criticism, and changed ideals of human and civic conduct. In short, we assume in this view that Florentine Humanism after 1400 was marked by a rapid affirmation of new values and a fresh, realistic per‐ ceptiveness that in many respects meant the transition from medievalism to a more modern pattern of thinking“ (Baron 1968: 103). 1415-1444), in der ebenfalls das florentinische volgare hervorgehoben wird. 480 In der kurz nach dem Disput von 1435 entstandenen Vita di Dante (1436) pro‐ pagiert er schließlich sogar eine Art Gleichrangigkeit von Latein und der Volks‐ sprache, was jedoch insofern mit Vorsicht zu betrachten ist, als hier eher jedem Idiom sein eigener Charakter zugestanden wird und damit implizit die diesem entsprechende Leistungsfähigkeit. Es ist wohl nicht auszuschließen, daß die Lobpreisung der florentinischen Volkssprache mit Leonardo Brunis politischen Ambitionen in dieser Stadt zu‐ sammenhängt. Unabhängig von der Frage, inwieweit Brunis Meinung politi‐ schem Kalkül unterworfen war, übten Florenz und das dort von ihm bekleidete Amt einen Einfluß auf seine Auffassung bezüglich des volgare aus, und zwar insofern, als er einerseits in größerem Maße mit Gebrauchstexten in der Volks‐ sprache konfrontiert wurde, die in der cancelleria durchaus üblich war, und zum anderen, als dadurch womöglich eine noch engere geistige Verbindung zu den tre corone entstand. 481 Nicht zuletzt spielt hierbei der in Florenz entstandene umanesimo civile (Civic Humanism) eine Rolle, der ab 1400 - auch infolge einer vermehrten und inten‐ siveren Rezeption antiker Texte und Autoren - eine neues Selbstbewußtsein der eigenen Geschichte, politischer und wirtschaftlicher Macht generierte und in‐ nerhalb dessen Bruni eine zentrale Rolle spielte (cf. Baron 1968: 102-11). 482 Er folgte darin seinem Lehrer Coluccio Salutati, der bereits zuvor eine Invektive (Invectiva ad Antonium Luschum, 1403) gegen den florentinischen Rivalen Mai‐ 296 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="297"?> 483 Klein (1953: 50-51) sieht den in Brunis Schrift Dialogi ad Petrum Paulum Histrum (1401) dargestellten Niccolò Niccoli als typischen Vertreter des Lateinhumanismus. Brunis ei‐ gene Position interpretiert Klein als eher gemäßigt, aber dennoch lateinhumanistisch, innerhalb des Dialogs am ehesten durch die Meinung Coluccio Salutatis repräsentiert. 484 Dies erinnert an Dante, der Vergil, der ja aus Mantua stammte, lombardisch reden läßt: „Udimmo dire: ,O tu a cui io drizzo / La voce e che parlavi mo lombardo, / Dicendo: ,Issa ten va; più non t’adizzo‘[…]“ (Dante, Div. Comm., Inf. XXVII, 19-21; 1988 I: 318). Gleich‐ zeitig läßt Dante Sordello da Goito (ca. 1200 / 1210-169) das Lateinische Vergils als lingua nostra apostrophieren: „‚O gloria dei Latini‘, disse, ‚per cui / Mostrò ciò che potea la lingua nostra […]“ (Dante, Div. Comm. Purg. VII, 16-17; 1988 II: 78). land lancierte, als Antwort auf eine solche des Kanzlers von Mailand Antonio Loschi (cf. Raffarin 2015: 29-31). Es ist schließlich zu konstatieren, daß Bruni einer lateinhumanistischen Tra‐ dition verhaftet ist, 483 ist doch das von ihm als modellhaft propagierte literarische Latein für jegliche Wissenschaft und Literatur die adäquate Sprache, die Volks‐ sprache hingegen in ihrem Gebrauch limitiert, auch wenn er ihr in den späten Schriften ein gewisses Potential nicht abspricht. Dies gilt jedoch ganz offen‐ sichtlich nicht für das volgare des alten Roms, welches ganz dem Volk verhaftet bleibt und keine eigenständige Literatur hervorgebracht hat. Mazzocco mißinterpretiert doch eher die Textstelle Brunis „Ciascuna lingua ha sua perfezione e suo suono e suo parlare limato e scientifico“ (Bruni, Vita di Dante, 1672: 64-65) dahingehend, daß hier keineswegs ausgedrückt werden soll, „that it makes no difference whether one uses Latin or the vernacular“ (Maz‐ zocco 1993: 33), sondern, daß jedes Idiom für bestimmte Bereiche adäquat ist, d. h., daß zwar auf Latein alles ausgedrückt werden kann (parlare scientifico inkludiert hier Wissenschaft und Literatur, cf. Mazzocco 1993: 216, FN 13), aber eben auch, daß das volgare auf die Lyrik begrenzt ist. Bruni begründet das zum einen mit der schon bestehenden lyrischen Tradition im volgare Italiens (bzw. den italienischen Varietäten) und damit, daß Dante selbst auch besser in der Volkssprache dichten konnte als auf Latein (Bruni, Vita di Dante, 1672: 65-68). Davon ausgehend ist die Gesamteinschätzung einer Übertragung Brunis seiner zeitgenössischen Situation tel quel auf die römische Antike, 484 wie sie mitunter plakativ formuliert wurde (z. B. „Bruni proiettò nel passato la diglossia del suo tempo“, Marcellino / Ammannati 2015: 22), ein wenig zu relativieren, spricht er doch dadurch dem volgare antico zumindest indirekt einen anderen Charakter zu. Ein letzter Aspekt, der durch den Vergleich mit anderen Schriften Brunis nochmal deutlicher herauspräpariert werden kann, ist seine Auffassung einer lateinischen Modellvarietät. Bereits in An vulgus et literati spricht Bruni von sermo litteratus und identifiziert diesen mit der latenischen Sprache der Gebil‐ 297 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="298"?> 485 Cf. dazu auch die Definitionen im Mittellateinischen Glossar bei Habel / Gröbel (1989): „illiteratus: ungeschult, unwissend; Laie“; „litteratus: schriftkundig; wissenschaftlich, akademisch gebildet; gelehrt; Student, Akademiker; vir l[itteratus] Geistliche“. Daraus geht hervor, daß im Mittelalter mit der Beherrschung der Buchstaben (litterae) eine gewisse Bildung einherging und diese Gebildeten meistens der Geistlichkeit zuzu‐ rechnen war, da die Klöster und Kirchen diejenigen waren, die am ehesten Schriften aufbewahrten und tradierten (cf. Skriptorien) und auch Bildung förderten und weiter‐ gaben (cf. Klosterschulen, kirchliche Lehrer für Adlige etc.). Auch die Universitäten (ab 12./ 13. Jh.) waren zu Beginn stark kirchlich geprägt, nicht zuletzt durch den Primat der Theologie als auch durch ihre überwiegende Gründung durch kirchliche Institutionen. Zur Geschichte der Universitäten in Europa cf. Weber (2002). 486 Im Mittelalter referiert littera grundsätzlich auf Latein, als gesprochene Sprache und vor allem als Schriftsprache, so daß eine nicht-lateinische Literatur im Prinzip eine contradictio in adiecto wäre (cf. Grundmann 1958: 4). deten, indem er den Gegensatz von sermo vulgaris als latine litterateque loqui bezeichnet (cf. Bruni, An vulg. et lit. 1-4; 2015: 238). In der Vita di Dante (1436) und der Vita di Petrarca (1436) wird diese Auffassung dahingehend noch einmal wiederaufgenommen, daß er in diesen italienischsprachigen Traktaten in Bezug auf das Lateinische von istile litterato (Bruni, Vita di Dante, 1672: 64) spricht oder das Lateinische mit dem Stil der Gebildeten identifiziert (in latino, e litterato stilo, ibid. 1672: 65). In diesem Fall geht es allerdings nicht um die antike Sprach‐ situation, sondern um die zeitgenössische, wobei dem litterato stilo des Latein‐ ischen der stile vulgare in rima gegenübersteht, d. h. hier implizit auch auf be‐ stimmte Textsorten referiert wird (ibid. 1672: 65). Dies bedeutet, daß er in den volkssprachlichen Texten genauso wie in seiner lateinischen Abhandlung eine gewisse Interpretation offen läßt, da litteratus wie auch litterato sich zwar in erster Linie auf das Gebildetsein bezieht, 485 allerdings auch lat. littera im Sinne von Schriftsprachliches bzw. Literatur im engen Sinne mitschwingt, d. h. Sprache der Gebildeten und Literatursprache auch terminologisch nahe beiei‐ nander liegen (cf. Kap. 6.1.5). Diese wiederum ist im Mittelalter und auch noch in der Renaissance eng an das Lateinische geknüpft: „Das Wort littera kann daher geradezu die lateinische Sprache meinen, denn sie allein war d i e Schriftsprache. Literaliter loqui oder literate loqui heißt im Mittelalter: lateinisch reden“ (Grund‐ mann 1958: 4). 486 In beiden Fällen, d. h. bezüglich der Beschreibung der zeitgenössischen Situ‐ ation wie auch der antiken, spricht Bruni grundsätzlich von zwei Sprachen, verknüpft dies jedoch auch mit stilistischen Kriterien, was wiederum an eine Varietätenkonstellation innerhalb einer Sprache denken läßt; dennoch scheint erstere Interpretation aufgrund seiner Hinweise auf die Diskrepanz zwischen den Idiomen (v. supra) die plausiblere. 298 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="299"?> 487 Inwieweit grammatica und latinitas in der Antike deckungsgleich sind bzw. in welchem Maße Abweichungen tolerierbar waren, ohne daß die Norm und die sprachliche Kor‐ rektheit „beschädigt“ wurden, cf. Fesenmeier (2020: 65-68). 488 „Aber lesen und schreiben konnte auch das Deutsche, Französische, Italienische wei‐ terhin bis gegen Ende des Mittelalters zumeist nur der, der diese Kunst am Latein gelernt hatte, anders gesagt: wer die Grammatik erlernt hatte. Denn auch grammatica wie littera heiß im mittelalterlichen Sprachgebrauch oft geradezu: das Latein. […] Grammatice loqui bedeutet daher ebenso wie litterate loqui: lateinisch sprechen“ (Grundmann 1958: 5). Ähnlich formuliert diesen synonymen Gebrauch auch Schiewe (1996: 22): „Diese Identität von Latein und Schriftsprache ging so weit, daß die Wörter grammatica und littera im mittelalterlichen Sprachgebrauch mit der Bezeichnung lingua latina synonym gebraucht werden konnten.“ 489 Eine latinitas, im Sinne der rhetorischen Tradition (cf. Göttert 2009: 41), als Sprachrich‐ tigkeit zu interpretieren legt auch bereits die Rhetorica ad Herennium nahe: „Latinitas est, quae sermonem purum conservat ab omni vitio remotum. Vitia in sermone, quo minus is Latinus sit, duo possunt esse: soloecismus et barbarismus“ (Rhet. ad Her. IV, 17 (XII); 1994: 210). Ausführlich zu den Implikationen des Begriffs latinitas cf. auch Poccetti / Poli / Santini (2005: 389-390). Zur Abgrenzung von latinus und romanus cf. Kap. 6.2.8. Coseriu / Meisterfeld (2003: 150) charakterisieren die lingua litterata relativ allgemein und undifferenziert als „eine Sprache der Gebildeten oder der Lite‐ ratur, die Schriftsprache“, d. h. sie setzen hier verschiedene Aspekte einer Sprache bzw. Varietät gleich, indem sie die Sprecherschicht und den Anwen‐ dungsbereich (Schriftlichkeit, Literatur) gleichsetzen. Deutlich präziser wird die Problematik bei Tavoni (1984: 30-35) behandelt, der zunächst feststellt, daß la‐ tine litterateque loqui (bzw. latine ac litterate loqui) im Gegensatz zum sermo vulgaris bedeutet, daß man „grammatisch spricht“, d. h. sich im Sinne der Norm und den Anforderungen der latinitas äußert (id. 1984: 32). 487 Dabei seien die litterati dadurch definiert, daß sie schreiben könnten (scire litteras), was zunächst vor allem als Beherrschung der Buchstaben bzw. der Schrift zu interpretieren ist, in einem weiteren Schritt dann auch die Fähigkeit bestimmte Textsorten zu bedienen. Ein litteratus beinhalte deshalb zum einen allgemein die literarische Kultur und zum anderen referiere dies auch die zugrundeliegende Sprach‐ technik, d. h. die Grammatik. 488 Dies bedeute, daß bezüglich des Unterschiedes zur Volkssprache weniger lexikalische Einheiten betroffen seien, sondern die morpho-syntaktischen Charakteristika. In der quasi tautologischen Formulie‐ rung von latine litterateque (cf. Tavoni 1984: 32) verbindet sich also latinitas im Sinne des antiken Verständnisses einer regelkonformen lateinischen Sprache (cf. Kap. 4.2.1.3), die wiederum von einer Bildungsschicht getragen wird. 489 Diese Gebildeten sind es, die die Schriftsprache - und dies heißt vor allem die litera‐ rische lateinische Schriftsprache - beherrschen. 299 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="300"?> 490 Auch die italienische Übersetzung von Marcellino / Ammanati (2015) gibt diese Art des Lateins bei Bruni mit lingua letteraria wieder und Marchiò (2008: 30) charakterisiert es als „latino letterario in bocca agli oratori“. 491 Die Illiteraten sind allgemein gesprochen die Ungebildeten, da dies in der Opposition litteratus vs. illitteratus gesehen werden muß, eine mitunter neutrale Charakterisierung, im Mittelalter abhängig auch von Ständen und damit gewissen Bildungsformen. Was diese Illiterarität beinhaltet schwankt im Laufe der Zeiten. Ein illitteratus kann somit jemand sein, der nur die Buchstaben bzw. die Schrift nicht beherrscht oder dem gewisse literarische Fähigkeiten abgehen. Angesichts der geringen Alphabetisierungsquote im Mittelalter bedeutet jedoch illitteratus meist Analphabet (cf. Grundmann 1958: 3-4). Bei Bruni impliziert demgemäß illitteratus die Nicht-Beherrschung der Schrift und damit auch die Nicht-Kenntnis des Lateins sowie damit einhergehend eine Ungebildetheit, allerdings mit der Einschränkung, daß die Illiteraten ein gewisse Passivkompetenz des Lateins cf. (latine litterateque) haben konnten (v. supra). 492 Als cancelliere von Florenz und universaler Gelehrter weiß er wohl um die Existenz auch von verschiedenen volgare-Textsorten in Prosa, doch spielen sie in seiner Argu‐ mentation keine Rolle, da sie noch nicht die gleiche Elaboriertheit und literarische Tra‐ dition aufweisen wie die versifizierten Texte. Mazzocco (1993: 19-20), der diese bei Bruni beschriebene Sprache als litera‐ risches Latein (engl. literary Latin) beschreibt, 490 betont auch die von Bruni an‐ geführten lexikalischen Unterschiede, hält aber ebenso die grammatischen Ab‐ grenzung zwischen der Sprache der Illiteraten, also denjenigen, die nicht schreiben können und damit meist verknüpft auch keinen Zugang zur Bildung haben, 491 und dem sermo litteratus für das wichtigste Entscheidungskriterium bei Bruni. Da er jedoch gerade hinsichtlich der Definition des sermo vulgaris der Antike ein wenig unspezifisch bleibt (cf. Marcellino / Ammannati 2015: 27), ist auch die exakte Abgrenzung zum Latein der Gebildeten nicht in jeder Hinsicht zweifelsfrei zu leisten. Wichtig bleibt jedoch für Bruni die Opposition der Träger der Sprache, d. h. vulgus vs. litterati, und entsprechend deren Sprachformen sermo vulgaris und sermo litteratus (cf. Marchiò 2008: 33). Es wird insgesamt deutlich, daß Bruni unter ‚Latein‘ generell ein gehobenes, distanzsprachliches Stilregister des Lateinischen versteht, d. h. eine Varietät, die diaphasich hoch markiert ist und die von einer Bildungsschicht getragen wird und somit auch diastratisch als gehoben verorten werden kann. Diese Varietät des Lateinischen charakterisiert er dabei als eigenständige Sprache. 492 Für die zeitgenössische Sprachsituation sieht er eine gewisse Aufteilung der Sprachen nach Diskurstraditionen, wobei das Latein Bruni zufolge für Prosa und Lyrik adäquat ist, die zeitgenössische Volkssprache hingegen nur für die Poesie bzw. versifizierte Literatur. Die antike Volkssprache hat hingegen keine schriftlichen Dokumente hinterlassen, weshalb das volgare des Altertums nur in der münd‐ lichen Kommunikation vorkommt, das Lateinische hingegen die gesamte Schriftlichkeit abdeckt. 300 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="301"?> In folgender Textstelle zeigt sich in einem vergleichenden Werturteil über die beiden Dichter Dante und Petrarca, die beide die herausragende Werke im vol‐ gare verfaßt haben, implizit die ungebrochene Superiorität des Lateins und wie allgemein wichtig die gattungstechnischen Aspekte innerhalb einer Sprache sind. […] dire si può che in molte altre cose il Petrarca fu più dotto che Dante; perocchè nella scienza delle lettere, e nelle cognizione della lingua latina Dante fu molto infer‐ iore al Petrarca: Due parti sono nella lingua latina, cioè Prosa, e Versi, nell’una, e nell’altra è superiore il Petrarca; perocchè in Prosa lungamente è più eccellente, e nel verso ancora è più sublime, e più ornato, che non è il verso di Dante: Sicchè in tutta la lingua latina Dante per certo non è pari al Petrarca. (Bruni, Vita di Petrarca, 1672: 110-111) Wie sehr seine Perspektive von der Frage der Stilistik geprägt ist, zeigen auch seine Ausführungen in De interpretatione recta (1424), im Zuge derer er erläutert wie grundlegend bei der Übersetzung die Kenntnisse der jeweiligen Sprachen und die Bewahrung der stilistischen Elaboriertheit sei. Ego autem fateor me paulo vehementiorem in reprehendendo fuisse, sed accidit in‐ dignatione animi, quod, cum viderem eos libros in Greco plenos elegantie, plenos suavitatis, plenos inestimabilis cuiusdam decoris, dolebam profecto mecum ipse atque angebar tanta traductionis fece coinquinatos ac deturpatos eosdem libros in Latino videre. Quant à moi, j’admet que j’ai montré une certaine violence dans mes reproches, mais cela s’est produit sous le coup de l’indignation, parce que, voyant ces livres pleins d’élégance en grec, pleins de douceur, pleins d’une inestimable distinction, j’éprouvais une véritable douleur, et même de l’angoisse, à la vue des mêmes livres souillés et défigurés en latin par une traduction aussi abjecte. (Bruni, De interpret. 2; 2008: 627) Zieht man zusätzlich noch weitere theoretische Werke Brunis heran (z. B. De studiis et litteris 1422-1429; Epistola VII , 4), so wird deutlich, daß Bruni auch für das wissenschaftliche Schreiben die stilistische Ausdrucksfähigkeit als unab‐ dingbar ansieht. Aus diesem Grund sei auch die Volkssprache „nur“ für poetische Texte geeignet, da es keine grammatischen und orthographischen Regelwerke für sie gäbe, stilistische Eleganz könne deshalb letztendlich nur im Lateinischen erzielt werden (cf. Mazzocco 1993: 35). In der als Studienanleitung für eine Adelige konzipierten Schrift (De studiis et litteris liber. Ad dominam Baptistam de Malatestis) lobt er beispielsweise u. a. den Stil von Priscian bzw. macht darauf aufmerksam wie wichtig der sprachliche Ausdruck sei: „Haec enim non verba solum et syllabas, sed tropos et figuras et 301 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="302"?> 493 Die hier zentrale Stelle des Gesamturteils Piccoliminis, die deutlich macht, daß die Ele‐ ganz in Brunis Stil erwähnenswert bzw. auffällig ist und diese immerhin von einer ihm durchaus gleichrangigen Gelehrtengröße stammt, ist folgende: „scripsit hic admodum ornate“ (Piccolomini, DVI, 23; 1991: 34). Und auch sein Gegner im Disput um das volgare antico, Flavio Biondo, beginnt sein Traktat mit einem Lob auf die Eleganz von Brunis latinitas: „Cum multa sint, Leonarde clarissime, tuum nomen celebrantia, tum maxime illud illustrat Latini sermonis exquisita proprietas […]“ (Biondo, De verb. rom. 1; 2015: 148). 494 „Piccolomini assigns Bruni the role of protagonist, if not of true founder, of the renais‐ sance of classical Latin“ (Baker 2015: 40). 495 An anderer Stelle spricht Tavoni (1982: 239) davon, daß Bruni als Grammatiker argu‐ mentiert und Biondo als Rhetoriker. Bezüglich Biondo sind zweifellos beide Aspekte relevant, der rhetorische wie auch der historische (v. infra). omnem ornatum pulchritudinemque orationis aperit nobis atque ostendit“ (Bruni, De stud. et litt., 20; 1969: 7). In einem Brief an den Erzbischof von Mailand erläutert er das Problem von Wahrheit und Eleganz beim Übersetzen (cf. Bruni, Epist. VII , 4: Leonardus Archiepiscopo Mediolanensi, 9). Der qualitative Unter‐ schied zeigt sich dabei auch in der Wortwahl, verwendet er für das stilistisch gehobene volgare seiner Zeit - also bezüglich der Sprache Dantes - das Adjektiv emendate (cf. Bruni, An vulg. et lit. 53; 2015: 248), was bedeutet, daß es hier zwar positiv konnotiert ist, aber keinesfalls auf gleicher Ebene mit dem Latein ran‐ giert, welches ja als lingua litterata bzw. sermo litteratus bezeichnet wird (cf. Marcellino / Ammannati 2015: 260-261). Wie sehr Bruni dem Lateinischen ver‐ haftet ist und welche Wertigkeit er einer stilistischen Eleganz im Ausdruck bei‐ mißt, zeigt sich auch nochmal in der Außendarstellung. So attestiert ihm kein Geringerer als Enea Silvia Piccolomini (1405-1464) einen besonderen ornatus im Schreibstil seiner lateinischen Texte, 493 sowohl bezüglich seiner Überset‐ zungen aus dem Griechischen als auch seiner Eigenkompositionen (cf. Baker 2015: 40). 494 Synthese Wie ist nun - unter Berücksichtigung der Ergebnisse der doppelten Untersu‐ chungsmethode (sozio-/ varietätenlinguistisch vs. rekontextualisierend) - im Lichte seiner verschiedenen Werke die Sprachauffassung Brunis einzuschätzen, im Allgemeinen und in Bezug auf die Antike im Speziellen? Tavoni (1984: 9) charakterisiert Brunis Perspektive als die eines Grammati‐ kers, im Gegensatz zu derjenigen von Biondo und Poggio Bracciolini, die aus der Sicht von Historikern schrieben. 495 Es ist anzunehmen, daß auch Marchiò in diesem Punkte Tavoni folgt, wenn für ihn Brunis Sprachauffassung in der Grammatik wurzelt: 302 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="303"?> 496 Das Urteil von Mazzocco (1993: 32) „Bruni now concentrates on what really had con‐ cerned him throughout the debate: the capacities of the Florentine vernacular“ erscheint überspitzt, denn dafür ist seine Herausstellung des Prestiges und der Überlegenheit des Lateins gegenüber dem volgare nur allzu deutlich und die von ihm aufgezeigten Mög‐ lichkeiten der Vernakularsprache bzw. dessen Prestige doch eher eingeschränkt. Sein Hauptanliegen ist eher in der stilistischen Eleganz und Elaboriertheit zu suchen, zum Teil unabhängig von der Frage des Idioms (v. infra). 497 Wie stark die Anbindung an die antike Tradition und damit die lateinische (und bei Bruni auch griechische) Literatur ist, zeigt sein Selbstzeugnis am Ende seiner Chronik von Florenz: „Mihi quidem Ciceronis Demosthenesque tempora multo magis nota vi‐ dentur quam illa quae fuerunt iam annis sexaginta / The times of Cicero and Demos‐ thenes, indeed, seem much more familiar to me than those even of sixty years ago (Bruni, Hist., 1; 2007: 300-301). Se ai nostri tempi vi è una distinzione tra la lingua dei letterati e quella del volgo, analoga distinzione esisteva anticamente presso i Romani; in questo senso è da in‐ tendere l’affermazione del Bruni, coerente con la sua concezione linguistica che af‐ fondava le radici nella grammatica e lo induceva a scorgere nella vulgaris lingua, ap‐ partenente oggi come apparteneva un tempo agli illitterati, una forma di linguaggio non avente rapporto con le categorie della grammatica […] (Marchiò 2008: 30). Dies ist nach obiger Analyse wenn nicht zu revidieren, so doch zu präzisieren, und zwar dahingehend, daß Bruni seine Argumentationen eher aus der Per‐ spektive eines Stilistikers aufbaut, denn es geht ihm nicht allein um die gram‐ matische Korrektheit in der Sprache - die in gewisser Weise Voraussetzung ist -, sondern vor allem um Eleganz, wie er immer wieder betont. Dies erklärt auch, daß er unter bestimmten Umständen mit dem gängigen Schema bricht und bestimmte Frauen einer eloquenten Ausdrucksweise für fähig erachtet und schließlich auch in bestimmten Bereichen der Volkssprache eine mögliche Qua‐ lität im Ausdruck zubilligt, obwohl sie eigentlich regellos ist und nicht durch Kunst (ars) verfeinert. Bruni bleibt damit grundsätzlich dem auch bei Dante be‐ tonten Blickwinkel von ars vs. natura verhaftet (v. supra), gesteht aber der Volkssprache unter bestimmten Umständen bzw. in spezifischen Domänen eine natürliche Eleganz zu. Wie groß er das Potential des volgare einschätzt, ist schwierig herauszulesen, sollte aber nicht, wie des Öfteren in der Forschung postuliert (cf. Baron 1966, Mazzocco 1993), 496 positiv überschätzt werden, bleibt er doch prinzipiell der lateinhumanistischen Position verpflichtet. 497 Daraus kann man Brunis Vorstellung von der zeitgenössischen Sprachsituation als eine Art Triglossie (v. supra) mit dem stilistisch gehobenen, literarischen Latein als genereller Distanzsprache und high variety, einem florentinischen volgare als high variety, vor allem in bestimmten Textgattungen (insbes. versgebundenen), und dem konzeptionell und medial Mündlichen volgare als low variety ableiten. 303 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="304"?> 498 Cf. Kap. 6.2.1 vorliegender Arbeit und die dort aufgeführten verschiedenen Periodisie‐ rungsphasen der questione della lingua. Für die Antike kann zunächst einmal seine Auffassung dahingehend präzi‐ siert werden, daß er zwar tatsächlich keine eigentliche historische Perspektive einnimmt und seine zeitgenössische Situation auf das alte Rom überträgt, aller‐ dings insoweit modifiziert, daß das volgare allein für die Mündlichkeit bestimmt ist und keine literarische Ausprägung hat. Das volgare antico unterscheidet sich dabei für ihn auf allen Ebenen der Sprache und ist damit nicht, wie Tavoni (1982: 240) es pointiert ausdrückt, „Latin minus ‚grammar‘“. Dies bedeutet auch, daß hier für Bruni zwei getrennte Sprachsysteme vorliegen, d. h. eine Diglossie mit zwei (verwandten) Sprachen (nicht Varietäten) zu postulieren ist. Eine wei‐ tere diasystematische Variation ist dabei für ihn nicht wirklich relevant (v. supra). Entscheidend ist aber die Opposition der Sprechergruppen der literarisch Gebildeten bzw. Gelehrten zu den nicht Alphabetisierten, Ungebildeten bzw. dem Volk an sich. Dies wird einerseits immer wieder als wichtiges Unterschei‐ dungskriterium der jeweiligen Sprachkompetenz betont, andererseits gibt es durchaus Überschneidungsbereiche (z. B. gebildete Frauen). In Brunis Sprachauffassung wird deutlich, wie eng bereits zu Beginn des Dis‐ puts um die antike Sprachkonstellation, insbesondere um das volgare antico, die Strömungen von Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus sowie die ques‐ tione della lingua mit dieser spezifischen Fragestellung verknüpft sind. Klein (1953: 56) zeigt sehr deutlich, daß hier ein Zusammenhang besteht, denn die Akzeptanz einer lateinischen Volkssprache in Rom hätte die strikten Ver‐ treter des Lateinhumanismus konsequenterweise auch dazu genötigt dem zeit‐ genössischen volgare eine höheres Prestige zuzuerkennen, da es ja auf eine Form des Lateins zurückgehen könnte. Zum gleichen Urteil kommt letztlich auch Baron (1966: 343): „So much at least is obvious: fifteenth-century humanists could much use the historical theory that Latin and the Volgare coexisted in ancient Rome to support the conviction that the Volgare idiom, in addition to the sophisticated Latin speech, was playing a valuable and indispensable role in the education of their own time.“ Insofern sei an dieser Stelle auch dem an anderer Stelle ausgeführten Modell von Koch (1988b: 346) beigepflichtet, welches die hier indirekt mitthematisierte Diskussion ,Latein vs. volgare‘, als Phase II in einer erweiterten Auffassung der questione kategorisiert. 498 Stark synthetisiert könnte man demnach Brunis Position als eine lateinhu‐ manistische mit bestimmter Affinität zum florentinischen tre-corone-Modell be‐ trachten, im Zuge derer er die antike Situation im Wesentlichen im Spiegel seiner 304 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="305"?> 499 Ebenso wie die Schrift Brunis findet sich auch diejenige Biondos u. a. in Tavoni (1984: 197-215), Marchiò (2008: 131-144, Kommentar: 145-153) und Marcellino / Am‐ mannati (2015: 148-183, Kommentar: 187-234), wobei auch hier wiederum die über‐ setzte und kommentierte Ausgabe von 2015 zugrundegelegt werden soll; Weiterfüh‐ rendes außerdem vor allem bei Mazzocco (1993), Coseriu / Meisterfeld (2003) und Raffarin (2015) (v. supra Kap. 6.2.3.1 zu Bruni). Zeit betrachtet und dabei vor allem aus einer stilistischen Perspektive heraus sein eigentliches Anliegen formuliert, nämlich den Erhalt eines literarisch ela‐ borierten Lateins. In dieser Konzeption hat ein breitgefächerter Varietätenraum des Lateinischen keinen Platz. Die antike Sprachsituation gerät damit zum An‐ schauungsobjekt eines tatsächlich für ihn übergeordneten Skopus seines Trak‐ tates. 6.2.3.2 Flavio Biondo (Flavius Blondus) Das chronologisch erste Zeugnis des eingangs beschriebenen mündlichen Dis‐ putes um die Frage nach der Art des Lateins der antiken Römer, insbesondere bezüglich der gesprochenen Sprache des Volkes, welcher im Kreise der aposto‐ lischen Sekretäre stattfand, stellt der an Leonardo Bruni adressierte Brief Flavio Biondos dar, mit der entsprechenden Fragestellung im Titel: De verbis Romanae locutionis Blondi ad Leonardum Aretinum (1435). 499 Textanalyse Das im Vergleich zum kurzen Antwortschreiben Brunis sehr viel längere Traktat beginnt mit einem überaus ausführlichen Lob auf Brunis Gelehrsamkeit, seine sprachliche Kunstfertigkeit im Lateinischen, insbesondere seinen eleganten Stil, sowie auf seine Fähigkeiten als Übersetzer aus dem Griechischen (ins Lateini‐ sche) (cf. Biondo, De verb. rom. 1-5; 2015: 148-151). Nach dieser umfassenden captatio benevolentiae grenzt Biondo die Epoche ab, auf welche in der Diskussion Bezug genommen wurde (bzw. auf welche er referiert), nämlich vom Zeitalter der Königsherrschaft über die Republik bis hin zur Kaiserzeit (cf. ibid. 6; 2015: 151-151), und bringt daraufhin die Streitfrage prägnant auf den Punkt: Magna est apud doctos aetatis nostrae homines altercatio et cui saepenumero inter‐ fuerim contentio, maternone et passim apud rudem indoctamque multitudinem aetate nostra vulgata idiomate, an grammaticae artis usu, quod Latinum appellamus, insti‐ tuto loquendi more Romani orare fuerint soliti. Tra gli uomini dotti del nostro tempo è grande il disaccordo e il dibattito, a cui molte volte ho preso parte, sulla questione se i Romani in pubblico fossero soliti parlare l’idioma materno e diffuso al nostro tempo tra il volgo rozzo e ignorante, oppure se 305 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="306"?> 500 Zur Frage inwieweit bezüglich der hier angesprochenen Varietät des Lateins die Sprache der Gebildeten, die Schriftsprache und die Literatursprache gleichzusetzen sind cf. die Überlegungen dazu in Kap. 6.2.3.1 zu Leonardi Bruni. 501 Der hier erwähnte Nutzen des glücklichen Jahrhunderts (felicis saeculi beneficio; Biondo De verb. rom. III, 19; 2015: 154) bezieht sich wohl auf die Zeit des „klassischen“ Lateins, d. h. die Epoche der großen Redner wie Cicero oder Quintilian. Es ist jedoch nicht ein‐ deutig klar, ob hier Poggio (wiedergegeben von Biondo) der Meinung ist, daß die Ein‐ si esprimessero in una lingua plasmata dalle regole della grammatica, che noi defi‐ niamo latino. (Biondo, De verb. rom. I, 8; 2015: 150-151) Im Folgenden rekonstruiert Biondo noch einmal den mündlichen Disput und gibt wieder, wer welche Argumente für welche Position in der Streitfrage ins Feld geführt hatte (De verb. rom. II , 12- IV , 20; 2015: 150-155). So berichtet er, daß Andrea Loschi und Cencio Romano sich der Meinung Brunis angeschlossen hätten und ebenfalls davon ausgingen, daß die Römer der Antike zwei Sprachen besaßen, die Biondo hier als eine vom literarischen Latein entfernte Sprechweise charakterisiert (loquendi genus a litteris remotum; ibid. II , 13, 20; 2015: 152), 500 die dem Volk eigen war (vulgare quoddam et plebeium) und welche aber auch von den gebildetsten Rednern (doctissimi oratores) bei Ansprachen an das Volk ge‐ braucht wurde. Diese Reden wurden aber im Zuge ihrer Verschriftlichung mit viel Mühe (multa lucubratione) umgearbeitet, und zwar ins Lateinische, also in das Idiom, welches auch schon zuvor (v. supra) - wie auch bei Dante - als Grammatik bezeichnet wurde bzw. den Regeln der Grammatik entspreche (in grammaticam Latinitatem). Biondo betont noch einmal, daß Bruni nicht glauben wollte, daß das unge‐ bildete Volk (plebem indoctam) im Stande gewesen sei, die liebliche Redeweise (suavitatem sermonis) der nobiles oratores zu verstehen und allein deshalb für die Antike zwei Sprachen anzunehmen seien. Mit der Betonung der suavitas der Rede der berühmten römischen Redner zeigt sich wiederum, wie sehr Bruni in seiner Argumentation den Fokus auf die Stilistik richtet, und in diesem Zusam‐ menhang ist es dementsprechend auch nicht zufällig, daß die oratores als doc‐ tissimi oder nobiles charakterisiert werden, da nur die Gelehrtesten dieser Zunft zu einer außergewöhnlichen Kunstfertigkeit und stilistischen Eleganz fähig waren. So wird deutlich, daß auch durch die „Brille“ Biondos die Haltung Brunis hier indirekt bestätigt wird und stilistische Elaboriertheit einen Grundpfeiler seiner Position darstellt, wie im vorherigen Kapitel dargelegt wurde (cf. Kap. 6.2.2.1). Poggio Bracciolini hingegen teilte diese Meinung (wie letztlich Biondo selbst) nicht und hätte angemerkt, daß das Volk sich in diesem glücklichen Jahrhun‐ dert 501 an die Rede- und Schreibweise gewöhnt hätte und es deshalb kaum 306 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="307"?> heitlichkeit des Lateins nur während dieser „Hochzeit“ gegeben war, weil zu jener Zeit das Volk mit stilistisch kunstvollen Reden konfrontiert wurde und es deshalb diesen Duktus im Ohr hatte. 502 An dieser Stelle zeigt sich recht deutlich, daß die latinitas, wie bereits in der Antike, nicht unbedingt sprachenbezogen zu verstehen ist, sondern darunter vielmehr ein System von fixierten morpho-syntaktischen Regeln zu verstehen ist, welches eben mit grammatica gleichzusetzen ist. Nur unter dieser Prämisse ist hier die Überführung einer volkssprachlichen Literatur in eine Latinität zu verstehen; d. h. es handelt sich um einen Verschriftlichungsprozeß, der das volgare grammatikfähig macht: „[…] cum gramma‐ ticis astricto regulis sermone scripta videmus, in Latinitatem dicimus esse conversa“ (Biondo, De verb. rom. VI, 20; 2015: 154; cf. auch den Kommentar 2015: 196). 503 Der entsprechende Passus bei Livius lautet: „Terror ad hostes transit; et audiverant clara voce dictum, et magna pars Fidenatium, ut qui coloni additi Romanis essent, latine sciebant“ (Livius, Ab urbe cond. I, 27, 9; 1987 I: 76-77). Biondo interpretiert diese Stelle denkbar sei, daß die Redner nicht verstanden worden seien. Aus diesem Grund hätte auch Poggio dafür plädiert, daß es in der Antike eine Sprache gegeben habe, die von allen gebraucht worden wurde, also sowohl vom Volk als auch von den Rednern, in der mündlichen Kommunikation wie auch in der schriftli‐ chen (Biondo, De verb. rom. III , 17-19; 2015: 153-155). Daraufhin bilanziert Biondo zumindest dahingehend eine Gemeinsamkeit aller Diskussionsteilnehmer, daß es in der Antike unterschiedliche Arten des Sprechens gegeben habe (orationis diversitatem) und daß die großen zeitgenös‐ sischen Schriftsteller Dante und Boccaccio zwar in einem volgare geschrieben hätten, aber eben in einem, welches dem Latein, also einer regelhaften Sprache, gleichkäme, das sich von der Sprechweise des Volkes abhebe (cf. ibid., IV , 20; 2015: 154-155). 502 Im weiteren führt Biondo aus, daß er die Argumente Brunis bezüglich der lexikalischen Unterschiede zwischen diesem von ihm postulierten zwei Spra‐ chen ‚Latein der Gebildeten‘ und ‚Volkssprache‘ wie bei duellius und bellum nicht nachvollziehen könne, da diese Unterschiede nicht so gravierend seien und dar‐ überhinaus auch nur ein Unterschied im Register der Sprache bestünde; die Fol‐ gerung Brunis, aus diesem divergierenden Sprachgebrauch zwei verschiedene Idiome abzuleiten, lehnt er ab (cf. ibid., III , 24, VII , 33-34; 2015: 156-159). Das erste Mal macht Biondo seine Position von der Einheitlichkeit des Lateins anhand einer Episode aus Livius deutlich, die Cencio anders als er interpretiert hätte. Dieser leitete offensichtlich aus einer Anekdote der frühen römischen Geschichte, in der es um einen Konflikt Roms mit dem etruskischen Nachbarort Fidenae geht, ab, daß die Oberschicht im Gegensatz zum Volk ein literarisches Latein benutzte, was Biondo durch eine andere Interpretation der Livius-Stelle widerlegt und daraus folgernd das Postulat von den zwei unterschiedlichen Sprachen in der Antike explizit ablehnt (cf. ibid., VI 28-32; 2015: 156-159). 503 307 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="308"?> dahingehend korrekt, daß die Einwohner eigentlich Etrusker waren - so Livius (ibid. I, 15, 1) -, aber durch die Zeit als römische Kolonie auch das Lateinische beherrscht hätten. Die Tatsache, daß Fidenae eigentlich eine latinische Stadt war, spielt hier keine Rolle, da beide sich auf Livius berufen. Zu den möglicherweise von Biondo und Bruni kon‐ sultierten, textlich nicht identischen Livius-Editionen cf. Marcellino / Ammannati (2015: 200, Komm. 28). 504 Die angesprochene Stelle bei Cicero lautet folgendermaßen im Original: „Nec enim effugere possemus animadversionem, si semper isdem uteremur, quia nec numerosa esse ut poema neque extra numerum ut sermo volgi esse debet oratio - alterum nimis est vinctum, ut de industria factum appareat, alterum nimis dissolutum, ut pervagatum ac vulgare videatur […]“ (Cicero, Orat. 195). Zur Abweichung der von Biondo zitierten Stelle vom Original cf. Marcellino / Ammannati (2015: 203-204; Komm. 38). Im Anschluß an diese Ausführungen wird Biondo - wie er ganz explizit ein‐ leitet (ibid., VII , 36; 2015: 158-159) - deutlicher, was seine Position in dieser Debatte anbelangt. Er gibt zwar zu, daß die Gelehrten (doctos) die Mehrheit des ungebildeten Volkes (indoctam multitudinem) dahingehend überragten, daß sie ein Bildungslatein bzw. literarisches Latein (litterata orationis Latinitate) sprä‐ chen, postuliert aber auch, daß die lateinische Sprache eine Einheit bilde (unicam fuisse), in der die Sprache des Volkes inkludiert sei. Velim tamen cum certaturis mecum omnibus illud fore imprimis mihi commune: ut litterata orationis Latinitate, quam Romanis omnibus femellis pariter cum viris unicam fuisse constanter assevero, doctos longe multum indoctam multitudinem praestitisse concedam […]. Tuttavia con tutti coloro che combatteranno contro di me voglio avere un punto in comune, ammettendo che i dotti superavano di molto la massa ignorante nel parlare in latino letterario, latino che, lo ribadisco con fermezza, era comune a tutti i Romani, sia alle donnette che agli uomini. (Biondo, De verb. rom. VII, 37; 2015: 160-161) Eine der wichtigen Innovationen in der Betrachtung der Sprachsituation der römischen Antike wird von Biondo im folgenden Passus seines Traktates dar‐ gelegt. Dabei bezieht er sich auf eine Stelle in Ciceros Orator, also einer der wichtigsten Schriften zur Rhetorik, aus der er eine Schichtung der lateinischen Sprache ableitet. 504 Cicero bzw. der antiken Rhetorik folgend, postuliert Biondo dementsprechend mit einer gedachten Hierarchisierung nach dem Kriterium des Prestiges bzw. der Adäquatheit für bestimmte Redesituationen und Text‐ sorten eine poetische Form (forma poetica), eine Form der öffentlichen Rede (forma oratoria) sowie eine Form der volkssprachlichen Verständigung (forma vulgaris). Letztere charakterisiert er ganz in der Tradition Dantes bzw. des mit‐ telalterlichen Verständnisses als regellos (sine numero sine ordine), wie es auch bei Bruni zu finden ist (cf. Bruni, An vulg. et lit. 34). Die Verteilung bezüglich der 308 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="309"?> 505 Biondo bezieht sich hierbei auf eine Stelle in Ciceros Brutus, der rhetorische Betrach‐ tungen über den Politiker Lucius Aurelis Cotta (praetor im Jahre 95 v. Chr.) anstellt und Sprecher dieser jeweiligen Redeformen sieht er als selbstverständlich an, so daß er nur anmerkt, daß es eine Unterscheidung zwischen docti und indocti gibt, wer was spräche, sei ja offensichtlich. Cum enim inde colligi liceat tres Latinae dictionis formas tunc fuisse, poeticae unam numeris astrictam, oratoriae alteram nec contextam numeris nec carentem, vulgaris tertiam fluentem et quaquaversum sine numero sine ordine dilabentem, quae docti partes erant, quae indocti apparet. Poiché, infatti, da esso si può dedurre che vi erano tre forme della lingua latina - la prima poetica, vincolata dal metro, la seconda oratoria, non ordita con schemi metrici ma nemmeno priva di ritmo, la terza popolare, fluida e che scorreva in ogni direzione senza ritmo e senza ordine -, appare chiaro da che parte stessero i dotti e da che parte gli ignoranti. (Biondo, De verb. rom. VIII, 39; 2015: 160-161) Im Weiteren führt Biondo die Anwendungsbereiche der tres Latinae dictionis formas aus und betont daraufhin noch einmal, daß diese Verschiedenheit jedoch kein Grund sei, an der Einheit des Lateins zu zweifeln. Er opponiert hier direkt gegen die Auffassung Brunis, indem er ebenfalls den Vergleich zu zeitgenössi‐ schen Situation zieht, dabei aber betont, daß es gerade nicht so sei wie mit dem aktuellen volgare, welches eben keine Merkmale des Lateinischen aufweisen würde, sondern auch das genus tertium (ibid. VIII , 42; 2015: 160) - wie er das antike volgare in rhetorischer Interpretation nennt - latinitas besitzen würde. Die Tatsache, daß hierin ein wichtiger Unterschied zu Bruni besteht, der die Abgrenzung des antiken volgare vom zeitgenössischen nur eher implizit vornimmt (wenn überhaupt), betont auch Marchiò (2008: 24). Das Argument der Verständlichkeit bzw. Nicht-Verständlichkeit der Rede der oratores für das Volk, welches offensichtlich im vorausgehenden mündlichen Disput bereits eine Rolle gespielt hat und auch bei Bruni aufgegriffen wurde, versucht er dahingehend zu entkräften, daß er zugibt, daß bei Ansprachen an das Volk sicherlich auch Wörter des niedrigsten Stils verwendet worden waren oder zumindest solche des allgemeinen Gebrauchs (quod volgare secum etiam appellabo, verborum genere usos), dies aber trotzdem noch Latein gewesen sei - ganz im Gegensatz zu den Wörtern des zeitgenössischen volgare. Die Durch‐ lässigkeit zwischen den Registern verdeutlicht er an einem Beispiel aus Cicero, der von dem Prätor Cotta berichtet, daß besagter Politiker, um Altertümlichkeit in seiner Rede zu imitieren, äußerst ungeschliffene Wörter (quasi subrustico) des Volkes benutzte (Biondo, De verb. rom. X, 47-50; 2015: 162-165). 505 309 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="310"?> der durch die imitatio mit Hilfe von Wörtern, die durch rusticitas markiert sind, anti‐ quitas erzeugt hätte. Inwieweit Biondo bezüglich seiner weiteren Auslegung Cicero womöglich mißversteht cf. Marcellino / Ammannati (2015: 207-208, Komm. 50). Der fragliche Passus lautet: „L. etiam Cotta praetorius in mediocrium oratorum numero dicendi non ita multum laude processerat, sed de industria cum verbis tum etiam ipso sono quasi subrustico persequebatur atque imitabatur antiquitatem“ (Cicero, Brut. 137 (36); 1990: 102). Dabei sei auf das von Biondo wörtliche übernommen subrusticus zur Kennzeichnung einer ländlichen Aussprache hingewiesen. Cicero benutzt an anderer Stelle auch noch subagrestis (Brut. 259 (74); 1990: 196). 506 Bei Bruni werden aus den cetarii und lanii die Berufe der pistores und lanistae (v. supra.). Marcellino/ Ammanati (2015: 210, Komm. 56) gehen davon aus, daß hier Bruni lanius mit lanista (‚Gladiatorentrainer‘) verwechselt hat, es kann aber auch gut sein, daß er ein alternatives Lexem für ‚Metzger‘ benutzte (v. supra. Kap. 6.2.3.1). 507 Cf. dazu auch Cicero, der ebenfalls von den „guten Gewohnheiten“ bzw. dem „guten Gebrauch“ in Zusammenhang mit einer locutio emendata des Lateinischen spricht (Ci‐ cero, Brut. 258 (74); 1990: 194). 508 Biondo mißinterpretiert hier Cicero, der sich eigentlich auf eine ältere Zeit bezieht, worin ihm später Guarino Veronese und Francesco Filelfo folgen (cf. Marcellino / Am‐ mannati 2015: 211-212, Komm. 61). Ein weiteres argumentatives Vehikel, welches ebenfalls bei Bruni zu finden ist, schöpft Biondo wiederum aus Cicero und bezieht sich auf den Redner Gaius Curio (v. supra, Bruni), der aufgrund seines familiären Umfeldes bzw. seiner Erziehung zu einem brillanten Redner wurde, obwohl er illiterat war (cf. ibid. XI , 52- XII , 57; 2015: 164-167). Für Biondo ist dies ein eindeutiges Argument für die Einheit des Lateinischen, während Bruni dies als Ausnahme der eigentlichen Trennung der beiden Sprachsysteme anführt. Die Fähigkeit der antiken Römer, die lateinische Sprache zu beherrschen, und zwar unabhängig vom Bildungsgrad und der sozialen Herkunft - er führt als Beispiel die Fischverkäufer und Metzger (cetarii laniique) an -, 506 läßt Biondo für jene Epoche ein glückliches Zeitalter annehmen (aetatis illius felicitate, ibid. XIV , 63; 2015: 168), ist ihm doch bewußt, daß der Erwerb des Lateinischen für ihn und seine Zeitgenossen nur durch ein mühevolles Studium möglich ist. Er beruft sich dabei auf eine Wiedergabe Ciceros einer Aussage Caesars, daß alle Römer Latein konnten und nur einige durch ihre Eleganz hervorstachen, d. h. der Unterschied der Gebildeten nur darin lag, daß sie seit ihrer Kindheit einen guten Sprachgebrauch (consuetudinem bonam) 507 mitbekommen hatten. 508 Biondo formuliert aus diesen Beispielen der antiken Literatur eine Art Zwi‐ schenfazit, in dem er feststellt, daß in der Antike alle Römer die gleiche Sprache gesprochen hätten (omnes pariter Latinis verbis usos), d. h. die gleichen latein‐ ischen Wörter benutzt hätten, sowohl Frauen als auch Männer, Sklaven und Freie, Gebildete und Ungebildete (doctos et litterarum ignaros), wobei es jedoch durchaus wesentliche Unterschiede in der Art der Sprachbeherrschung gab 310 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="311"?> (qualitate dicendi facultatem) und damit letztlich auch in Bezug auf die Wort‐ wahl. Si enim quod dixi etiam stabit, omnes pariter Latinis verbis usos, mulieres et viros, servos et liberos, doctos et litterarum ignaros, cum diversam pro vitae et morum qua‐ litate dicendi facultatem plurimis fuisse concesserim, eos qui domestica consuetudine et studiorum flagrantia elegantissimae orationis praestantiam, quod de Caesare supra est dictum, consecuti fuerint, maioribus quam quae possent a multitudine intellegi verbis uti debuisse […]. Infatti, se ciò che ho detto è vero, cioè che tutti allo stesso modo utilizzavano parole latine, donne e uomini, servi e uomini liberi, dotti e ignoranti, dal momento che ho ammesso che molti ebbero una diversa capacità di parlare in base al tipo di vita e di abitudine, allora quelli che grazie alla consuetudine domestica e all’ardore per gli studî raggiunsero, come Cesare, l’eccellenza di un eloquio elegantissimo avrebbero dovuto utilizzare parole più elevate di quelle che erano alla portata del popolo. (Biondo, De verb. rom. XV, 64; 2015: 168-169) Im Folgenden greift Biondo das ihm offensichtlich wichtigste Exempel bzw. den Problemstrang, der ihn am meisten beschäftigt, wieder auf, nämlich die Frage, ob die Redner auch vom Volke verstanden wurden und welche Arten des Spre‐ chens sie beherrschten. In der zugrundeliegenden mündlichen Diskussion schien dies wohl ein Dreh- und Angelpunkt gewesen zu sein, zumal auch Bruni dieser Detailfrage viel Raum widmet. Biondos Argumentation gemäß verfügten die oratores über eine große Band‐ breite an Wörtern, die verschiedenen Stilebenen zuzurechnen waren, jedoch völlig unabhängig davon - und das betont er erneut - in jedem Fall Teil der lateinischen Sprache waren. Aus diesem Grund waren sie auch in der Lage, zum Volke in einem niedrigen Stil zu sprechen, so daß sie verstanden wurden. Dabei hebt er nochmals hervor, daß dieses von ihm gemeinte Latein, tatsächlich dem literarischen Latein seiner Zeit entspreche (dum pronuntiarentur, fuisse Latina, qualia dicimus litterata; ibid. XVI , 68; 2015: 170-171). In den sich anschließenden Paragraphen macht er sich Gedanken über die Unterschiede der drei Stilebenen, die er auch noch einmal benennt, diesmal als figuris orationis, wobei er zwischen den Registern grave, mediocre und attenuata differenziert und dabei deutlich macht, daß diese dicendi genera auf die Rhetorik zurückzuführen seien (ab intimis rhetorica artis), es ihm aber eigentlich nicht um die rhetorischen Techniken ginge, sondern um die Sprache und die Wörter (ibid. XVII , 72; 2015: 170-171). Es scheint hier durch, daß es ihm in gewisser Weise bewußt ist, daß die Rhetorik nur als ancilla eines Versuchs der Erklärung 311 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="312"?> 509 Mazzocco (1993: 39) spricht bezüglich Biondos Erklärungsansatz von einer sudden, drastic mutation, was angesichts des sensim im obigen Zitat zu relativieren ist. Sicherlich sieht Biondo hier die Völkerwanderung und damit die politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt sprachlichen Umwerfungen, die dadurch ausgelöst wurden, als ein einschneidendes Ereignis, doch Biondo erkennt offensichtlich durchaus auch das pro‐ zeßhafte Element dieser Veränderungen. sprachlicher Unterschiede innerhalb einer grundsätzlich einheitlichen Sprache fungiert. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation, die bei Biondo mitunter leicht zirkulär ist, greift er erneut die Frage der Verständlichkeit des gehobenen Stils bzw. der litterata Latinate (ibid. XX , 79; 2015: 174) auf, diesmal auch im Hinblick auf Theaterstücke, Epik und Poesie, das familiäre Umfeld und die Erziehung sowie die mangelnde Grammatikalität der Volkssprache. Er erkennt, daß es - wie bei Cicero überliefert - unterschiedliche Sprechweisen in der Stadt Rom und auf dem Land gegeben haben muß, betont aber angesichts dieser Differenzie‐ rung von urbanitas und rusticitas wiederum die Einheit der Sprache (unicum fuisse idioma Romanae multitudinem; ibid. XX , 88; 2015: 176). Gegen Ende seiner Ausführungen stellt Biondo noch eine entscheidende Frage, die bisher nicht diskutiert wurde und die in der Rezeption seines Traktates als die zentrale Aussage gehandhabt werden sollte, nämlich inwieweit das antike Latein mit dem zeitgenössischen volgare zusammenhängt und wie es dazu kam, daß man diese so hochgeschätzte Sprache aufgegeben hatte. Extremam mihi restare video responsionem: qua ratione, quibus temporibus causisque factum credam ut vulgaritatem hanc nostram cum universae multitudinis Latinitate, quam ostendere conatus sum apud priscos fuisse, permutaverimus. Vedo che mi rimane l’ultima questione a cui rispondere: in che modo, quando e per quali motivi io creda che abbiamo sostituito con questo nostro volgare quel latino adoperato da tutta la popolazione, che, come ho tentato di dimostrare, era in uso presso gli antichi. (Biondo, De verb. rom. XXV, 108; 2015: 180-181) Die Erklärung Biondos auf die hier aufgeworfene Frage liegt, wie er schon zuvor in einem Vergleich mit der schlechten Aussprache nicht-italienischer Latein‐ sprecher veranschaulicht hatte (cf. Biondo, De verb. rom. XVIII , 76; 2015: 172), für ihn in der „Barbarisierung“ und „Kontaminierung“ der lateinischen Sprache durch die einfallenden Germanen im Zuge der Völkerwanderung. 509 Postea vero quam Urbs a Gothis et Vandalis capta inhabitarique coepta est, non unus iam aut duo infuscati, sed omnes sermone barbaro inquinati ac penitus sordidati fu‐ 312 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="313"?> 510 Zur antiken Rhetorik bzw. zur Tradition der Rhetorik, ihren Stilebeben und Funktions‐ aufteilungen sowie Arten der Textstrukturierung im Allgemeinen cf. z. B. und Göttert (2009) und Fuhrmann (2011) sowie Kap. 6.1.5 vorliegender Arbeit. erunt; sensimque factum est ut pro Romana Latinitate adulterinam hanc barbarica mixtam loquelam habeamus vulgarem. Ma dopo che Roma fu presa e cominciò a essere abitata dai Goti e dai Vandali, non furono uno o due quelli contaminati, ma tutti furono inquinati e macchiati dalla lingua barbarica; e lentamente è successo che al posto del latino di Roma abbiamo adottato come lingua comune questa parlata impura e mescolata a quella barbarica. (Biondo, De verb. rom. XXV, 111; 2015: 182-183) Er schließt seine Abhandlung mit der nochmaligen Gegenüberstellung der beiden Positionen in der vorangegangenen mündlichen Diskussion, nämlich, daß die eine Seite neben einem literarischen Latein für die Antike ein volgare annimmt, welches dem heutigen ähnelt, während die andere Seite - so auch er selbst - davon ausgeht, daß es in jener Zeit nur eine Sprache gegeben habe, und zwar eine latinitas litterata (wenn auch mit interner Differenzierung). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Entsprechend der in dieser Arbeit verfolgten Methode zur detaillierten Heraus‐ arbeitung der einzelnen in den jeweiligen Traktaten dargelegten Ansichten in der Streitfrage um das volgare antico und deren Vergleich sei nun versucht, analog zu Bruni, die Sprachreflexionen Biondos in diasystematischer (d. h. va‐ rietätenlinguistischer) und soziolinguistischer Terminologie darzustellen. Wie schon in der synthetischen Wiedergabe seines Argumentationsverlaufes deutlich wurde, ist einer der zentralen Punkte seines Gesamtkonzeptes das Pos‐ tulat der Einheit des antiken Idioms. Hierbei positioniert er sich ganz bewußt gegen die These der zwei Sprachen, wie sie Bruni und andere Diskussionsteil‐ nehmer formuliert hatten und wie sie Bruni dann auch selbst in seiner eher kurz gehaltenen Replik deutlich zur Geltung bringt. Welcher Art diese Sprache nun sei, die Biondo als die einzige Sprache des gesamten Volkes, also aller Römer annimmt, beantwortet er ebenfalls sehr eindeutig, nämlich das literarische La‐ tein, wobei er auch den expliziten Vergleich zum zeitgenössisch verwendeten Latein zieht. Anders als bei Bruni, bei dem durch das Konzept der Diglossie eine weitere Aufschlüsselung der schichtenspezifisch verteilten Idiome nicht auf‐ scheint, ist Biondos Latein der Antike durchaus diasystematisch gegliedert. Die Verschiedenheit in Ausdruck und Stil erklärt er dabei mit Hilfe der Stilebenen der Rhetorik. 510 Äußerst bemerkenswert ist dabei, daß er sich offensichtlich be‐ wußt ist, daß dies eine Hilfskonstruktion ist, um die Vielschichtigkeit der 313 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="314"?> 511 Die angemessene Darstellung der Gedanken im Rahmen einer Rede (elocutio) bestand im Wesentlichen aus der Beachtung der virtutes elocutionis, d. h. der Sprachrichtigkeit (latinitas), der Klarheit (perspicuitas), des Schmuckes (ornatus) und der Angemessenheit (aptum) sowie der Rücksichtnahme auf die entsprechend dem Anlaß anzuwendene Stilgattung (genus dicendi), die vor allem durch die Art des Einsatzes des Redeschmuckes konstituiert wird (cf. Kap. 6.1.5), aber auch durch die Aufgaben des Redners (officia oratoris) bzw. Redeabsicht (z. B. docere, conciliare, movere) sowie das Thema (cf. Göttert 2009: 41-42, 63-64). 512 Zur Abgrenzung der Begriffe ‚Varietät‘, ‚Register‘ und ‚Stil‘ cf. Felder (2016: 43-51) sowie Kap. 4.1.2.3. Sprache darzustellen. Die kanonisierten genera dicendi der (antiken) Rhetorik (cf. Kap. 6.1.5) 511 verknüpft er dabei mit der Zuordnung von Textsorten und Sprecherschichten. Die Stilebenen der Rede, die grundsätzlich diaphasisch zu interpretieren sind, 512 bekommen bei ihm einen diastratischen Aspekt, insofern vor allem die unterste Ebene als Sprache des Volkes identifiziert wird. Man könnte vereinfacht sagen, daß Biondo aus dem niedrigen Register eines Red‐ ners - den man normalerweise einer Bildungselite zuzuordnen hat -, der ent‐ sprechend dem Anlaß diesen Stil wählt (cf. aptum bzw. decorum), wenn er zum Volke spricht, die Sprache der Rezipienten macht. Er ignoriert sozusagen die Kluft zwischen dem diaphasisch immer noch relativ hoch anzusiedelnden Dis‐ kurs in einer bestimmten Situation und der diastratisch (und diaphasisch) durchgängig als niedrig einzuschätzenden Varietät der unteren Volksschichten. Nichtsdestoweniger wird deutlich, daß Biondo die Einheit der Sprache nicht homogen konzipiert, sondern heterogen und die Architektur des Lateinischen in erster Linie diaphasisch und diastratisch auffaßt. Man könnte seine Ausfüh‐ rungen dahingehend interpretieren, daß er das Lateinische so geschichtet ver‐ steht, daß die Sprechergruppe der Gebildeten (docti, litterati, oratores, eruditi) über die Stilregister, die man als Varietäten deuten kann, der forma poetica (als prestigereichste und im Register höchststehende) und der forma oratoria ver‐ fügt, während die Ungebildeten bzw. das Volk (indocti, litterarum ignaros, illit‐ terati, populum, plebs indoctus, multitudine, vulgus) über die forma vulgaris ver‐ fügt. Wenn es hingegen um das Volk im Sinne aller geht, spricht er von den Römern an sich (Romani omnibus; ibid. VII , 37; 2015: 160). Es besteht insofern eine gewisse Durchlässigkeit als auch die Redner, damit sie von der breiten Masse verstanden werden, sich des niedrigsten Stils bedienen. Tavoni (1984: 22-23) spricht noch von einem weiteren Stil der oratores bei Biondo, nämlich von dem medius modus (Biondo, De verb. rom. XVI , 71; 2015: 170-171), den die Redner verwenden würden, wenn sie zum Volke sprä‐ chen, und der sich allein durch lexikalische Abweichungen äußern würde. Die fragliche Stelle ist jedoch alles andere als eindeutig und man könnte es auch so 314 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="315"?> 513 „Illud tamen constare certum est: paucas admodum orationes ut scriptae sunt a Cicerone habitas, praeter illas quae scripto fuerunt dictae, cum Pedianus ipsum nonnullas aliter pronunciasse quam ediderit scriptas, notariorum testimonio qui illarum singula exce‐ perunt verba, expresse affirmet […] / Ma una cosa risulta certa: veramente poche ora‐ zioni furono pronunciate da Cicerone così come sono scritto. Pediano afferma chiara‐ mente, sulla base della testimonianza degli stenografi che le registrarono, che Cicerone ne pronunciò diverse in una forma differente da quella in cui le pubblicò scritte […]“ (Biondo, De verb. rom. XXIV, 106; 2015: 180-181). 514 Marchiò (2008: 24) weist darauf hin, daß dabei bei Biondo das Wort eine Sonderstellung einnimmt, er ein spezifisches Bewußtsein für die dignità della parola hat. interpretieren, daß die Redner zum Volke in einem niedrigen Stil sprechen, ohne jedoch deswegen vollständig auf jedweden ornatus zu verzichten. Die Tatsache, daß ein Sprecher über mehrere Varietäten verfügen kann, ist also durchaus mitberücksichtigt. Dabei ist es bemerkenswert, daß Biondo diese Kompetenz nicht nur von der Bildungselite annahm, sondern zumindest auch von einzelnen Personen, die nicht dazugehörten, was implizit in den Exempla deutlich wird, in denen deren erworbene Redekunst trotz Illiterarität hervorge‐ hoben wird. In einem Beispiel, in dem Biondo von Cicero berichtet, daß er anders schrieb als seine Rede vortrug, zeigt sich nicht nur, daß dieser Sprecher über mehrere Varietäten verfügte, sondern hier scheint auch die diamesische Ebene durch, indem explizit der Medienwechsel thematisiert wird. Dabei ist sogar eine Unterscheidung von konzeptioneller und medialer Mündlichkeit bzw. Schrift‐ lichkeit auszumachen, denn Biondo betont, daß Reden, die Cicero nur vorliest, dezidiert anders seien als solche, die er frei spricht; als Beweis führt er die über‐ lieferten stenographischen Mitschriften an. 513 Hierbei werden wohl stilistische Unterschiede an eine bestimmte mediale Realisierung geknüpft. Es ist bei ihm aber auch in Ansätzen ein diatopisches Moment erkennbar, und zwar insofern er Cicero folgend das Latein der Sprecher außerhalb Roms mit dem Attribut der rusticitas belegt, während er das stadtrömische Latein durch urbanitas gekennzeichnet sieht. Er verknüpft diese Ebene jedoch nicht weiter mit seinem rhetorisch inspirierten Modell und sie bleibt in gewisser Weise ein erratischer Aspekt. Damit geht er auch nicht über die diesbezüglichen Ideen und Darstellungen antiker Autoren hinaus (cf. Kap. 4.1.2.1). Die Kriterien für die Unterschiede der einzelnen diasystematischen Ebenen liegen für Biondo auf der Ebene der Lexik sowie der Morphosyntax. Die Tat‐ sache, daß je nach Stilregister andere Wörter verwendet werden, expliziert er an verschiedenen Stellen seines Traktates. 514 Die Variation im morphosyntakti‐ schen Bereich ergibt sich einmal implizit aus der Hervorhebung der stilistischen Unterschiede der einzelnen Ebenen und zum anderen explizit aus der Negierung der „vollen“ Grammatikalität des niedrigsten Stils bzw. der Volkssprache (cf. z. B. 315 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="316"?> ibid. VIII , 42; 2015: 160-161) sowie der Thematisierung der möglichen Erlern‐ barkeit, rein durchs Zuhören bzw. die entsprechende Umgebung (cf. ibid. XXI , 93; 2015: 176-177). Raffarin (2015: 25) spricht davon, daß Biondo dem gespro‐ chenen Latein des Volkes eine grammaticalité minimale attribuiert sowie eine proximité lexicale zum Latein der Gebildeten. Es zeigt sich demnach, daß Biondo zahlreiche Aspekte der Variation einer Sprache berücksichtigt, ihm diese bewußt sind und er diese mit den ihm zur Verfügung stehenden Termini der Rhetorik zu beschreiben sucht. Ein, wie schon zuvor angedeutet, im weiteren Verlauf dieser Diskussion über die nächsten Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderte neuer Gedanke bei Bi‐ ondo, der keinerlei Entsprechung bei Bruni hat, ist seine Konzeption des Sprach‐ wandels. Er vergleicht damit nicht nur wie Bruni die Antike und die eigene Epoche, sondern setzt beide in eine direkte Kausalrelation. Indem er die Beein‐ flussung der Eroberer (für ihn zunächst nur Goten und Vandalen) als Ursache für die Veränderung des Lateinischen ausmacht, wird er zum Begründer der Superstratheorie ante litteram. Er beschreibt in dem kurzen Paragraphen, die er diesem Phänomen widmet, relativ genau, wie er sich diesen Wandel vorstellt. Die Germanenstämme erobern nicht nur das Imperium Romanum, sondern be‐ siedeln es auch, dabei eignen sie sich die Sprache der Eroberten an (das Latei‐ nische) und im Zuge des L2-Erwerbs der einzelnen Sprecher verändert sich schließlich die ganze Sprache. Das Lateinische wird „barbarisiert“, d. h. durch die Einflüsse der Eroberersprache „verunreinigt“, d. h. verändert, und entwickelt sich auf die Weise zum zeitgenössischen volgare, also den italienischen Varie‐ täten. Das Ergebnis ist in seinen Augen freilich eine „unreine“ Sprache, im Ver‐ gleich zum ehemals „reinen“ und „unverdorbenen“ Latein der Antike. Dabei betont er ausdrücklich, daß dieser Prozeß langsam abläuft (v. supra). Biondo macht zwar im Gegensatz zur heutigen Vorstellung vom prinzipiellen Primat des internen Wandels den externen Einfluß als den einzigen Grund für die Ver‐ änderung aus - wobei er zudem die Superstratvölker recht selektiv erfaßt -, doch beschreibt er das Wie dieses Sprachwandelprozesses, wenn auch negativ bewertend, relativ genau. Auf diese Weise gelingt es Biondo, ein weitgehend kohärentes Gesamtbild einer differenzierten Sprache der Antike zu entwerfen und gleichzeitig die eigene Sprachsituation mitzuerklären. Rekontextualisierung Im Folgenden sollen nun im Zuge der hier applizierten Analysemethode die Ansichten Biondos rekontextualisiert werden, d. h. seine Argumente noch einmal exakter als in der ersten Annäherung in der oben wiedergegebenen in‐ haltlichen Synthese seines Traktates in den historischen Zusammenhang ein‐ 316 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="317"?> 515 Zur mittelalterlichen Tradition und der sich überlagernden Dichotomien clerici vs. laici und litterati vs. illitterati sowie der lingua Latina (litterata) bzw. grammatica und der lingua Romana (locutio, loquela, sermo vulgaris) cf. Rizzo (2002: 15-27). 516 Zu weiteren Implikationen des ars-Begriffes cf. Kap. 6.2.2. gebettet werden. Vorangestellt sollen dazu zunächst einige biographische An‐ gaben als Hintergrundinformation. Geboren in Forlì, studierte Flavio Biondo (lat. Flavius Blondus) (1392-1463) Grammatik, Poetik und Rhetorik bei Giovanni Balestrieri (14./ 15 Jh.) in Cre‐ mona, anschließend Rechtswissenschaften in Piacenza (bis 1410) und ließ sich daraufhin, zurück in Forlì, zum Notar ausbilden. Bei Reisen im Dienste ver‐ schiedener lokaler Beamter (1420-1432) durch Ober- und Mittelitalien (z. B. Ve‐ rona, Vicenza, Imola, Ferrara) lernt er Guarino Veronese (1374-1460) kennen, der ihn zum intensiven Studium der Schriften Ciceros anregt. Im Jahre 1432 wurde er nach Rom an die Kurie berufen, und arbeitete dort zunächst als Notar, dann bis zu seinem Tode als päpstlicher Kanzleisekretär und scriptor unter den Päpsten Eugen IV . (1431-1447), dem er im Zuge der Verlegung des Kuriensitzes nach Ferrara und Florenz folgte, Nikolaus V. (1447-1455), Kalixt III . (1455-1458) und Pius II . (1458-1464). Zwischenzeitlich fiel er unter Nikolaus V. einige Jahre in Ungnade und nutzte dies für Aufenthalte in Mailand (Manuskriptrecherche), Venedig und Neapel am Hofe von Alfons V. von Aragón (1396-1458, Kg. ab 1416). Seine Hauptwerke als Historiker und Antiquar schrieb er erst nach dem hier vorgestellten Disput von 1435: Roma instaurata, libri III (1444-1446, publ. 1471), Historiarum ab inclinatione Romanorum imperii, Decades III (1435-1453, publ. 1474), De originibus et gestis Venetorum (1454), Italia illustrata (1448-1458, publ. 1453), Roma triumphans, libri X (1457-1459, publ. 1473-1475), Populi Veneti his‐ toriae, liber primus (1462). Weitere Werke wären z. B. De expeditione in Turcos (1453) zum Fall von Konstantinopel, Borsus sive de militia et iurisprudentia (1460), eine Abhandlung zum Verhältnis von Militärwesen und Jurisprudenz, sowie das hier relevante sprachtheoretische Traktat De verbis Romanae locu‐ tionis (1435) (cf. Fubini 1968: 536-556; Jaumann 2004: 103-104). Die Vorstellung Flavio Biondos von Sprache an sich und der Sprachsituation der römischen Antike im Besonderen ist, wie diejenige Brunis, grundsätzlich von der über das Mittelalter überlieferten Idee vom Lateinischen als Sprache der Literatur und Wissenschaft geprägt, 515 einer Sprache, die zu beherrschen eine Kunst (ars) darstellt, 516 weil sie durch grammatische Regeln fixiert ist, zu deren Erlernung es eines langen und mühevollen Studiums bedarf. Daraus sowie aus der damit verbundenen, kanonisierten Literatur erwächst ihr ein Prestige, welche sie allen anderen Sprachen überlegen macht. Ohne das Primat des La‐ 317 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="318"?> 517 Fubini (1961: 536) verweist auf die Wichtigkeit von Biondos Denkansatz im Rahmen des Humanismus, da er erstmals dezidiert die historische und die sprachliche Perspektive gewinnbringend vereint. teinischen in Frage zu stellen, ist Biondo jedoch derjenige, der die bis dahin so eindeutige Trennung von ars vs. natura, d. h. grammatica vs. volgare (cf. Dante), aufbricht und das Bild des Lateinischen in verschiedener Hinsicht grundsätzlich verändert. Marchiò (2008: 27) verweist darauf, daß für Biondo - im Gegensatz zu Bruni und der antiken und mittelalterlichen Tradition (cf. z. B. auch Varro in Kap. 4) - eben latinitas und grammatica gerade nicht identisch sind. Tavoni (1984) stellt zudem heraus, inwiefern sich Biondo hier terminologisch von Bruni unetrscheidet (cf. auch Kap. 6.2.3.1): Ciò che nel Bruni è contratto nella nozione di latine litterateque loqui viene sciolto da Biondo, e distinto in due termini, entrambi assenti nel Bruni: latinitas e grammatica. Si vede in questo una sesta e fondamentale opposiozione fra le due teorie: nella seconda si esse il latino, riconosciuto come lingua storico-naturale, non fa più tutt’uno con la coscienza riflessa di esso. (Tavoni 1984: 35) Diese Abweichung von der mittelalterlichen Konzeption der Sprache (cf. Kap. 6.1.5) wäre kaum denkbar ohne den kulturgeschichtlichen Hintergrund der Renaissance, die Begeisterung für die Antike, den aufkommenden studia hu‐ manistas und damit verbunden das antiquarische und historische Interesse an alten Quellen (cf. Kap. 6.1.1). Erst im Rahmen des Entstehens einer Geschichts‐ wissenschaft oder zumindest der ersten Ansätze eines historischen Verständ‐ nisses für frühere Epochen ist überhaupt die in der hier zu Beginn skizzierten mündlichen Diskussion auftretende Frage nach der Sprachsituation in der An‐ tike möglich geworden. Die Tatsache, daß dann im Zuge dieses Disputes bishe‐ rige Vorstellungen neu durchdacht und zum Teil revidiert wurden, ist ebenfalls nur in diesem historischen Kontext denkbar. Und endlich ist es wohl auch kein Zufall, daß derjenige, der entscheidend Neues in die Diskussion einbrachte, eben Flavio Biondo war. 517 Neben seinem historischen Interesse war auch die Passion für alte Manu‐ skripte (cf. Raffarin 2015: 24), die er mit Poggio Bracciolini teilte, womöglich eine wichtige Voraussetzung für die von ihm beleuchteten Thesen. Zumindest war dieses Phänomen zeittypisch und ein wichtiges Element in der Entstehung von Philologie und Geschichtswissenschaft. In Mailand entdeckte Biondo das einzig erhaltene Manuskript von Ciceros rhetorischer Schrift Brutus, die er unter an‐ derem zur Grundlage seiner Argumentation in vorliegendem Traktat benutzte. Auch Bruni, als einer der più dotti seiner Zeit, hatte eine umfassende Kenntnis über die antiken Schriften der Rhetorik, interpretiert sie jedoch nicht wie Bi‐ 318 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="319"?> 518 Cf. beispielsweise die ausführliche Erörterung der einzelnen Redestile im Orator. Cicero stellt die einzelnen genera orationis vor und deren Merkmale bezüglich des numerus, der verba, der conglutinatio bzw. coniunctio, der einzelnen sententiae sowie letztlich den ornatus in jeder Form (cf. Cicero, Orat. 75-100 (23-29); 1988: 62-81). In De oratore bringt er diese verschiedenen Aspekte an einer Stelle noch einmal auf den Punkt: „Exposui fere ut potui quae maxime as ornatum orationis pertinere arbitrabar; dixi enim de sin‐ gulorum laude verborum, dixi de coniunctione eorum, dixi de numero atque forma“ (Cicero, De orat. III, 199 (52); 2007: 406). 519 Beispielhaft sei dazu nur die Untersuchung von Cappelletto genannt, die bezüglich der antiken Quellen für Biondos Geschichtswerk u. a. folgende Autoren - die explizit bei ihm genannt sind oder rekonstruiert werden können - aufführt: Caesar (100-44 v. Chr.), Pompeius Trogus (1. Jh. v. Chr.), Cornelius Gallus (ca. 69 / 70-25 / 26 v. Chr.), Sallust (86-35 v. Chr.), Plinius d. Ä. (ca. 23 / 24 v.-79 n. Chr.), Tacitus (ca. 55-120 n. Chr.), Sueton (ca. 70-140 n. Chr.), Eusebius v. Caesarea (ca. 260-339 n. Chr.), Hieronymus (ca. 348-420 n. Chr.), Claudian (ca. 370-403 n. Chr.), Orosius (ca. 385-418 n. Chr.), Ablabius (5./ 6. Jh. n. Chr.), Paulus Diaconus (ca. 725 / 730-799 n. Chr.) sowie die Historia Augusta (4./ 5. Jh. n. Chr.) (cf. Cappelletto 1983: 51-78). 520 Cf. bereits das Bekenntnis Petrarcas ein Ciceronianer zu sein: „Si mirari autem Cice‐ ronem, hoc est ciceronianum esse, ciceronianus sum“ (Petrarca, De ign. 1993: 124). ondo, der sie noch intensiver als historische Quelle zur Sprachsituation der An‐ tike benutzt und nicht rein als antike (und überzeitlich gültige) Anleitung zur Redekunst. Tavoni spitzt die Gegenüberstellung dahingehend zu, daß er allein Biondos These als quellenbasiert postuliert: „Tutta l’ampia parte innovativa del trattato di Biondo, orgogliosamente indicata come tale […], si fonda su fonti: fonti coeve alla situazione di cui si discute […]“ (Tavoni 1984: 13). Biondo rekurriert dabei meist auf Cicero und dessen Schriften zur Rhetorik, d. h. auf den Orator, auf De oratore sowie den von ihm mit wiederentdeckten Brutus, 518 der ihm ganz offensichtlich viel bedeutet (cf. dazu Tavoni 1984: 20-21). Weiterhin ist belegt, daß er auch die pseudo-ciceronianische, anonyme Schrift Rhetorica ad Herennium kannte sowie die von Poggio Bracciolini wiederent‐ deckte Institutio oratoria Quintilians. Daneben ist als historische Quelle für die Frühzeit vor allem Livius seine Referenz. Die Tatsache, daß Biondo ebenso wie Bruni und andere der zeitgenössischen eruditi über ein breites Spektrum an Kenntnissen der antiken Autoren und deren Schriften verfügt - neben den bei Bruni erwähnten frühen Komödiendichtern Plautus und Terenz, weiteren Schriften Ciceros, Caesars und anderen kanonisierten Autoren sowie der bereits im Mittelalter weitverbreiteten Grammatik Priscians, versteht sich von selbst und muß an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. 519 Erwähnenswert ist jedoch sicherlich die Präponderanz der Cicero-Referenz, welche sich unzwei‐ felhaft in das Bild der in der Renaissance, vor allem auch von Bruni, eingeleiteten Reform des Lateins nach dem ciceronianischen Modell, einfügt. 520 Hier wird die Wiedergeburt der Antike auch in der Sprache greifbar. 319 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="320"?> 521 Die Tatsache, daß das Latein der Humanisten im Vergleich zu heute immer noch eine gewisse Lebendigkeit aufwies, ist evident: „On notera […] que le latin des humanistes n’est pas une langue morte, mais bien vivante, utilisée dans les discours, les correspon‐ dances, les écoles, les conversations“ (Raffarin 2015: 24). Biondo selbst äußerst sich dies‐ bezüglich jedoch nicht, die Unterscheidung zwischen lingua viva und lingua morta sowie Zwischenstufen ist Teil einer späteren humanistischen Diskussion (cf. Faithfull 1953: 280-282 sowie ausführlich Kap. 6.1.4 vorliegender Arbeit). 522 Bruni war zwar auch eine Lebendigkeit des Lateinischen in der Antike bewußt, er bleibt aber durch seine eher am zeitgenössischen Latein ausgerichteten synchronen Analyse in diesem Aspekt deutlich hinter Biondo zurück, so daß die Veränderlichkeit bei ihm in den Hintergrund tritt. Biondo verändert die Sicht auf die Vorstellung der Sprache radikaler als es zunächst scheint. Auch wenn er grundsätzlich, was das Prestige und den Cha‐ rakter des Lateinischen anbelangt, traditionellen Mustern verhaftet bleibt, ge‐ lingt es ihm mit Hilfe der in der Rhetorik verankerten Stilebenen das Lateinische aus seiner „Erstarrung“ als Kunstsprache zum Leben zu erwecken. So wie bereits Dante das volgare seiner Zeit als lebendige Sprache mit seiner diasystematischen Vielfalt beschrieben hat, stellt nun Biondo auch das Lateinische als lingua viva dar, 521 zumindest in seinem Gebrauch in der Antike. 522 Er erkennt deutlich, daß es in einer Sprache Heterogenität geben kann, also variationelle Vielfalt, und sie trotzdem als Einheit, also als eine klar umrissene Sprache bestehen bleibt (cf. Coseriu / Meisterfeld 2003: 156). Damit verknüpft ist für ihn auch eine etwas andere Sicht auf die Grammati‐ kalität des Lateinischen. Denn durch das Postulat einer graduellen Abstufung zwischen der Sprache des Volkes und der eigentlichen grammatica, also dem literarischen Latein der docti, gesteht er dem volgare bzw. dem niedrigsten Stil zumindest gewisse Grundlagen von grammatischen Strukturen zu, die es den Sprechern ermöglichen, auch die prestigereichere Varietät zu erlernen (cf. Co‐ seriu / Meisterfeld 2003: 156). Das zweite Novum bei Biondo besteht darin, daß er die bis dahin vorherr‐ schende Vorstellung von der / den Sprache(n) der Antike, die gleichsam statisch bis in die eigenen Epoche existieren würde(n), durchbricht. Die Tatsache, daß Sprache sich wandelt, also einer Dynamik unterliegt, hat prinzipiell zwar schon Dante erkannt, aber nicht in Bezug auf das Latein bzw. er hat dies nicht explizit formuliert, obwohl er die Verwandtschaft der zeitgenössischen Volkssprache und des Lateins thematisiert hatte. Dieser von Biondo in wenigen, aber klaren Worten formulierte historische Kausalnexus wird in der modernen Forschung im Rahmen der Beschreibung dieses dann expandierenden Diskurses im früh‐ neuzeitlichen Europa „Barbarenthese“ oder „Korruptionsthese“ genannt (it. 320 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="321"?> 523 Auch als „Germanenthese“ oder speziell in Italien als „Langobardenthese“ benannt (cf. Coseriu / Meisterfeld 2003: 159). 524 Zur Rekonstruktion der Geschichte der Langobarden-Herrschaft in Italien und dem daraus abgeleiteten Einfluß dieser germanischen gens auf die historischen Entwick‐ lungen stützt sich Biondo vor allem auf die Historia Langobardorum (Ende 8. Jh.) von Paulus Diaconus (725 / 730-799) (cf. Marcellino 2016: 50). teoria della catastrofe, cf. Marrazzini 1993: 259-260), 523 die Grundlage des Jahr‐ hunderte später von Walther von Wartburg formulierten Superstratmodells. Zeitgenössisch ist hingegen von corruptio zu sprechen (noch nicht explizit bei Biondo) in Anlehnung an die aristotelischen Konzepte von generatio, alteratio und corruptio (cf. Schunck 2003: 17-18; Neis 2009 bzw. Kap. 6.1.3). Biondo selbst erweitert sein Konzept dahingehend, daß er in seiner späteren Schrift Italia illustrata zu den Superstratvölkern Goten und Vandalen noch die für Italien so wichtigen Langobarden hinzunimmt, deren Wichtigkeit ihm nach eigenem Bekunden erst zu jenem Zeitpunkt bewußt wurde. 524 Nam Longobardi omnium qui Italiam invaserint externorum superbissimi, Romani imperii et Italiae dignitatem evertere ac omnino delere conati, leges novas quae alicubi in Italia exstant condidere, mores ritus gentium et rerum vocabula immutavere, ut affirmare audeamus locutionis Romanae Latinis verbis qua nedum Italia sed Romano quoque imperio subiecti plerique populi utebantur, mutationem factam in vulgarem Italicam nunc appellatam, per Longobardorum tempora inchoasse. (Biondo, Ital. Il‐ lustr., 374 G; 2005: 166). Die Langobarden sind dabei für ihn die Hauptzerstörer der römischen Kultur, veränderten sie doch sogar die rerum vocabula und sind schließlich dafür ver‐ antwortlich, daß das Lateinische sich zum zeitgenössischen volgare entwickelt hat (in vulgarem Italicam) (cf. Mazzocco 1993: 41). Dieses so innovative Modell durch die Invasion der Barbaren und ihren sermo barbarus die Veränderungen des Lateins zu erklären, ist in Zusammenhang mit der für die Zeitgenossen bestehenden Unerklärbarkeit des Untergangs des Im‐ perium Romanums mit seiner überlegenen Kultur zu sehen, eine Aporie, für die es keine Lösung zu geben schien. Wie hoch die zivilisatorische Leistung der Römer von Biondo angesetzt wird, zeigt sich im Vorwort seines Werkes Roma triumphans, wobei er auch - und dieser bisher in der Forschung vernachlässigte Aspekt sei hier besonders hervorgehoben - die Integrationskraft der latein‐ ischen Sprache anspricht (Latinae linguae communionem) und demnach indirekt so etwas wie den Beitrag der Latinisierung im Rahmen einer Romanisierung zu einer pax romana thematisiert. 321 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="322"?> 525 Biondo erklärt in seinen Decades (Beginn der dritten Dekade des ersten Buches), daß er der Erste sei, der diesbzüglich auch über den „Sprachverfall“ (vocabulorum mutatio) berichtet: „Unde primis et presenti tempore solis incumbet nobis onus periculum faci‐ undi, quo pacto barbaris et omnino insolitis verborum ineptiis latinitas possit elegan‐ tiave servari. Erunt vero multa in quibus nos circumlocutio adiuvabit, sed rerum sin‐ gularum quas omnino ut sunt intelligi oportet vocabulorum mutatio talis est facta, ut si vetusta illis exponendis attulero, mea ipse relegens scripta non intelligam“ (Biondo, Decad. I, 3 (F), 21-23). Romani enim maximam orbis partem suae subactam dictioni ita pacaverunt cultamque bonis moribus et artibus reddiderunt, ut disiunctae mari montibusque et fluminibus separatae gentes ac linguis litteraturaque differentes populi per Latinae linguae com‐ munionem perque communes omnibus Romanos magistratus una eademque civitas sint effecti […]. (Biondo, Roma trium., Prooemium, 2; 2016: 6) Umso drängender ergibt sich daraus die vexata quaestio, wie es sein konnte, daß ungebildete Barbarenvölker über ein Volk triumphierten und es zum Untergang brachten, welches den Inbegriff der Hochkultur verkörperte (cf. Maz‐ zocco1993: 40-41), literarische Werke wie diejenigen Ciceros, Vergils und Ho‐ razens hervorbrachte sowie Bauwerke und Statuen, wie sie in Rom und ganz Italien noch sichtbar waren? Diese für die von der Antike faszinierten Gelehrten der Renaissance als zivilisatorische Urkatastrophe verstandene Veränderung im Verlauf der Geschichte als Erklärungsvehikel zu verwenden, war für den über historisch weitreichende Kenntnisse verfügenden Biondo offensichtlich eine naheliegende Möglichkeit, den Verlust der antiken Latinität in seiner volle‐ ndeten Form zu erklären und gleichzeitig die schon bei Dante „gefühlte“ Ver‐ wandtschaft zum eigenen volgare plausibel zu machen. Mazzoccos (1993: 39) Einschätzung „Nevertheless, Biondo, by viewing this evolution in historical rather than in biblical terms, demonstrates a greater his‐ torical perspicacity than Dante“ ist nur insofern zuzustimmen, daß Biondo si‐ cherlich mit einem historischen Bewußtsein an die Auseinandersetzung mit der Antike herangeht, welches bei Dante entsprechend seiner noch großenteils mit‐ telalterlich geprägten Auffassung noch nicht in dieser Weise ausgebildet war; dennoch entwickelt Dante seine These zur Veränderlichkeit und Historizität der Volkssprache nicht allein am biblischen Modell, sondern vielmehr aufgrund ei‐ gener Beobachtungen der Wandelbarkeit von Sprache im Raum und innerhalb auch kurzfristiger Zeitperioden. Marcellino (2016: 48) verweist dabei auf die Parallelen zu Biondos historischen Schriften, sowohl was die Ursache des corrompimento anbelangt, als auch be‐ züglich der zeitlichen Verortung. 525 In den Decades legt Biondo den Beginn der declinatio des Imperiums auf die Plünderung Roms durch Alarich (455 n. Chr.), 322 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="323"?> 526 So verurteilt Biondo beispielsweise die Vereinfachung der Benennung eines Turmes: „quam turrim vulgo nunc verbo, ut ferme in omnibus multarum syllabarum nominibus assolet, sincopato Mesam pro Maecenatianam appellant, sicut pontem Milvium pari corruptela Mollem dicunt“ (Biondo, Roma Inst. I, C; 2005: 121). was in De Verbis mit dem von ihm postulierten Niedergang des Lateinischen durch die beginnende „Barbarisierung“ des Lateinischen und dem Wandel zum volgare im 5. Jh. durch die Westgoten korreliert. Was in De verbis nicht explizit wird, weil nur von den Goti die Rede ist, zeigt sich in Biondos Italia Illustrata: Aus einer Bewunderung für Theoderich und die Ostgoten, abgeleitet aus der Lektüre der Variae von Cassiodor (ca. 485-580 n. Chr.) sowie der Historiae adversos paganos von Orosius (4./ 5. Jh. n. Chr.), spricht Biondo jene vom Stigma der Verantwortung für den Niedergang des römischen Reiches und der Kultur frei und lastet es den zuvor nur kurz in Italien weilenden Westgoten an (cf. Marcellino 2016: 51-52). Raffarin (2015: 20) macht darauf aufmerksam, daß es hier eine Parallele zwi‐ schen den von Biondo in Roma instaurata beschriebenen Veränderungen in den Bezeichnungen der römischen Bauwerke gibt, die die „Barbaren“ zu verant‐ worten hätten, und dem allgemeinen Niedergang der lateinischen Sprache. 526 Sed illud maxime impellit, quod tanta fuit praeteritorum diu saeculorum hominibus studiorum humanitatis ignoratio, ut cum pauca singulis in urbis ipsius aedificiorum partibus quae olim fuerint, non ab imperita solum multitudine, sed ab his etiam qui doctrina cultiores sunt sciantur, tum multa ac paene omnia falsis et barbaris appella‐ tionibus inquinata vel potius infamata cernamus. (Biondo, Roma Inst. I, praefatio; 2005: 11) Es ist gewissermaßen bezeichnend, wie dieses Element des kulturellen decline sich bei Biondo durch seine Gesamtwerk zieht - durchaus auch zeittypisch, aber bemerkenswert in Bezug auf den sprachlichen Fokus. Synthese Flavio Biondo hat mit seinem Traktat dankenswerterweise den mündlichen Disput aus dem Vorzimmer des Papstes überliefert, wenn auch zweifellos mit einer persönlichen Darstellung der Ereignisse und der einzelnen Argumente. Seine gleichsam doppelte Perspektive, nämlich die eines Rhetorikers und eines Historikers, und seine Bereitschaft, in Teilen mit dem traditionellen Weltbild der Sprache zu brechen, ermöglicht es ihm, daß er dem Latein zum ersten Mal in der bisherigen Sprachreflexion den Status einer lingua viva zuerkennt. Er attri‐ buiert dem Latein dabei eine innere Differenzierung, die wir heute als zumindest in Teilen diasystematisch diversifiziert benennen können sowie - was aus da‐ 323 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="324"?> 527 Ein direkter Hinweis auf De vulgari eloquentia ist bei Biondo nicht zu finden, jedoch verweist Campana (1984: 634) auf die Verbundenheit Biondos mit Dante (und Petrarca) und darauf, daß er auch verlorene Briefe Dantes in seinem Geschichtswerk zitiert. 528 Mazzocco (1993: 39) spricht in Bezug auf die gemeinsame Sprachauffassung bei Dante und Biondo von languages als evolutionary entities und social phenomena. Dazu ist nochmals zu ergänzen, daß bei Dante dies für das Lateinische als eine durch Konvention erschaffene regulierte Kunstsprache nicht gilt. maliger Sicht durchaus noch radikaler ist - eine diachronische Entwicklung, die er zudem mit historisch externen Faktoren untermauert. All diese potentiellen Eigenschaften einer Sprache hatte im Prinzip bereits Dante geschildert, 527 jedoch betraf dies immer nur das volgare, also die Muttersprache, die der conditio hu‐ mana folgend unbeständig war, 528 die Kunstsprache Latein hatte genau das Ge‐ genteil zu sein und ihre Funktion als Schriftsprache und Kulturträger zu erfüllen. Biondo liefert demnach mit seiner „Barbarenthese“ die erste Erklärung für den Ursprung des volgare und damit indirekt für den der romanischen Sprachen. Daraus wäre nach der Argumentationlogik im Rahmen der questione della lingua, die in vielerlei Hinsicht mit der Frage nach dem volgare antico verknüpft ist, ein größeres Prestige der eigenen Volkssprache ableitbar. Biondo verzichtet jedoch darauf weitgehend. Hierin zeigt sich auch ein wenig die Komplexität der einzelnen Positionen, denn er ist keineswegs ein eindeutiger Antipode zu Bruni, auch wenn er in wesentlichen Punkten nicht dessen Meinung ist. Die Intention Biondos ist eben nicht die Schwächung des Prestiges des Lateinischen, das für ihn nach wie vor die wichtigsten Kultursprache und high variety ist (cf. Tavoni 1984: 27), sondern der Versuch einer historischen Erklärung des Niedergangs des römischen Reiches und des damit verbundenen Verlustes dieser - vor allem literarischen - Hochkultur, die die res publica literaria der Renaissance wieder‐ aufleben lassen möchte. Obwohl er also scheinbar dem Image des Lateinischen Schaden zufügt, ist er überzeugter Lateinhumanist. 6.2.3.3 Resümee des Initialdisputs Der Beginn der Debatte um die Sprachkonstellation der Antike, die über mehr als hundertfünfzig Jahre mehr oder weniger explizit in den Streitschriften und Traktaten der Humanisten lebendig gehalten wird, nimmt ihren Ausgang in den soeben beschriebenen beiden Stellungnahmen von Leonardo Bruni und Flavio Biondo, weshalb diesen in vorliegender Untersuchung ein breiterer Raum der Darstellung gewährt wird; auch trotz und wegen der vor allem in jüngster Zeit dazu erwachsenen relativ umfangreichen Forschungsliteratur. Um den Blick für die sprachtheoretischen Feinheiten der Diskussion zu op‐ timieren, wurde entsprechend der zugrundegelegten Methode eine doppelte 324 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="325"?> 529 Zu einer schematischen Gegenüberstellung der diasystematischen Aspekte sowie des damit verknüpften Sprachwandels bei Bruni und Biondo cf. Schöntag (2017a: 560, 563). Perspektive in der Analyse der Traktate eingenommen: diasystematisch / sozi‐ olinguistisch vs. rekontextualiserend. Dadurch konnten einige Details deutli‐ cher herausgearbeitet werden, zumal in der bisherigen Forschung - wenn über‐ haupt - Begriffe wie ‚diastratisch‘ oder ‚diglossisch‘ eher unsystematisch angewandt wurden bzw. im Rahmen einer traditionellen, gesamt-philologischen Betrachtung nur kursorisch erschienen (cf. Kap. 2). Der hier nun geleistete Ver‐ such, die jeweilige, inhärente Sprachtheorie systematisch unter dem Blick‐ winkel moderner sprachwissenschaftlicher Begrifflichkeit zu erfassen, zeitigte folgende Resultate: Ausgehend von der Erfahrung der eigenen zeitgenössischen Sprachkonstel‐ lation formuliert Leonardo Bruni für die römische Antike grundsätzlich eine Diglossie-Situation mit zwei funktionell getrennten, verwandten Sprachen. Diese auch bereits in der Forschung aufscheinende Grundthese ist bei genauerer Betrachtung jedoch dahingehend zu präzisieren, daß Bruni nicht nur das Latein im Sinne der grammatica als high-variety interpretiert, sondern einem elabo‐ rierten volgare in bestimmten Textsorten diese Funktion der Distanzsprachlich‐ keit durchaus zugesteht und somit sein Sprachmodell eher als triglossisch ein‐ zustufen wäre. Nicht zu vernachlässigen und bisher ebenfalls kaum thematisiert ist auch die Tatsache, daß er zwar die Beherrschung der high-variety, welche eine zu erlernende ist, nur den Gelehrten (docti) zuspricht, während die low-va‐ riety, also das volgare, die Sprache des illiteraten, d. h. ungebildeten und schreib‐ unkundigen Volkes sei, dabei jedoch an einigen Exempeln durchaus die Mög‐ lichkeit einer gewissen „Durchlässigkeit“ der Bildungsschichten zeigt bzw. die potentielle Fähigkeit, sich elegant und „korrekt“ auszudrücken. Flavio Biondo argumentiert keineswegs in allen Punkten gegen Bruni, liegt ihm doch der Erhalt und die Pflege der lateinischen Sprache in gleicher Weise am Herzen. In Bezug auf die Kernaussage Brunis, nämlich der so deutlichen Diskrepanz zwischen der antiken Volkssprache und dem Latein der Gebildeten bzw. dem literarischen Latein, widerspricht er jedoch vehement. Für ihn bildet die Latinität in jener „klassischen“ Zeit der Antike eine Einheit, die er immer wieder betont. Nichtsdestoweniger sieht er Unterschiede im Gebrauch des La‐ teinischen zwischen den verschiedenen Volksschichten, die er allerdings nicht dichotomisch faßt, sondern graduell. Mit Hilfe der rhetorischen Schriften Ci‐ ceros und den dort formulierten Redestilen konstruiert er ein in sich dreifach abgestuftes Schema der Sprachverwendung, welches man diasystematisch be‐ trachtet als diastratisch und diaphasisch differenziert klassifizieren kann. 529 325 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="326"?> 530 Cf. dazu in Kap. 3.1.1 vorliegender Arbeit die nicht unberechtigte Kritik am Modell von Koch / Oesterreicher (2011) an der strikten Trennung von Medium und Konzeption bzw. an der nicht zu ignorierenden Korrelation von Diaphasik und Medium. Bisher in der Forschung keine Erwähnung fand die Tatsache, daß bei beiden Disputanten auch eine diamesische Komponente erkennbar ist, denn der Un‐ terschied zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist ihnen durchaus bewußt, auch wenn dies in der jeweiligen Argumentationskette nicht im Vordergrund steht. Vielmehr werden hierbei stilistische, also diaphasische Auffälligkeiten und damit konzeptionelle Merkmale mit dem entsprechendem Medium ver‐ mischt. 530 Biondo formuliert letztlich nicht nur eine Architektur der lateinischen Sprache und attribuiert ihr somit eine zuvor nicht wahrgenommene Lebendig‐ keit, sondern skizziert auch eine diachrone Entwicklung. Mit der sogenannten „Barbarenthese“ liefert er zudem ein erfolgreiches Erklärungsmodell, welches im Kern die Grundlage des heutigen Strata-Modells darstellt. Die bei Biondo noch feststellbare Ausschließlichkeit, die andere als die von ihm genannten ex‐ ternen Faktoren ausblendet - eine quasi absolute Superstratheorie - schmälert seine innovative Kraft nicht; eine Relativierung bleibt späteren Disputanten der Debatte überlassen (cf. z. B. Castelvetro, Cittadini). Im Rahmen einer rekontextualisierenden Betrachtung der Argumente der beiden Kontrahenten, also der zeitgeschichtlichen Verortung, sei zunächst mit Fubini auf die nicht zu unterschätzende potentielle Offenheit in der Debatte hingewiesen, dahingehend, daß die Renaissance-Kultur Italiens ein intellektu‐ elles Klima generierte, welches es möglich machte, überholte Konzepte zu hin‐ terfragen - wenn sicherlich auch nicht alle - und neue anzudenken: […] that the dispute did not turn on providing the justification of a particular thesis (for or against the vernacular or for or against this or that kind of ideal Latin eloquence) but that the dispute itself was significant, as if it were testing the consistency of tra‐ ditional concepts conventionally accepted up until that moment, such as the notion of the mother language and the grammatical one, of rough versus eloquent speech. (Fubini 2003: 11) Zuvörderst steht sicherlich die Frage im Raum, warum gerade zu jenem Zeit‐ punkt diese Fragestellung aufkam, die dann so fruchtbar immer wieder aufge‐ nommen wurde. Abgesehen davon, daß historische Ereignisse stets auch in ge‐ wisser Weise der Kontingenz unterliegen, verdichten sich hier jedoch bestimmte Faktoren, die letztendlich diesen Disput begünstigt haben. Die bereits thematisierte Grundvoraussetzung war sicherlich die Hinwen‐ dung zur Antike, das verstärkte Interesse an den Relikten der römischen Epoche, 326 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="327"?> 531 Cf. beispielsweise den Auftrag Papst Eugen IV. an Bruni, die Monumente Roms zu ka‐ talogisieren, was zu dessen Schrift Roma instaurata führte. 532 Das Mittelalter war im Wesentlichen in Italien und Westeuropa ein lateinisches, so daß die Wiederentdeckung der griechischen Antike als ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal der Renaissance identifiziert werden kann. So ist es auch erklärbar, daß zu jener Zeit eine Charakterisierung Brunis als ein Gelehrter in utraque lingua als lobende Referenz in Bezug auf seine Griechischkenntnisse zu verstehen ist, in einer zuvor vorwiegend einsprachig lateinischen Schriftkultur (cf. Maaß 2005: 11). 533 Bereits Petrarca rühmt sich seiner umfassenden Bibliothek mit sonst nicht verfügbaren Schriften Platons: „Nec literatus ego, nec Grecus, sedecim vel eo amplius Platonis libros domi habeo; quorum nescio an ullius isti unquam nomen audierint“ (Petrarca, De ign. 1993: 120). 534 Später wird Poggio Bracciolini gegenüber Lorenzo Valla die imitatio des ciceroniani‐ schen Stils explizit als wichtigstes Element der Erneuerung vertreten, während Valla Quintilian den Vorzug gibt. Die ganze querelle des Ciceronianismus läßt sich in ihrem Höhepunkt ca. zwischen 1450 und 1530 verorten, doch ist die Grundproblematik schon zuvor präsent (cf. Raffarin 2015: 26-27). insbesondere was die Architektur und die Literatur anbelangt. 531 In diesem Kon‐ text ist auch die Entstehung der studia humanitas zu sehen und damit einher‐ gehend ein verstärktes Interesse an antiken Manuskripten, nicht nur latein‐ ischen, sondern auch griechischen. Gerade das Griechische fungiert gewissermaßen als „Katalysator“ einer Erneuerungsbewegung hin zu den Quellen (ad fontes) und der Schaffung eines neuen Bewußtseins. 532 Das anti‐ quarische Interesse mündet schließlich in ein philologisches, die „Bücherjäger“ Petrarca, Coluccio Salutati, Niccolò Niccoli, Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni u. a. werden zu Editoren und ersten Rezipienten verlorener antiker Schriften (cf. Kap. 6.1.1). 533 Mit diesen Schriften und der allgemeinen intensiveren Beschäfti‐ gung auch bereits bekannter sowie dem Wunsch, sich der „klassischen“ Antike auch sprachlich wieder anzunähern, entsteht die Erneuerungsbewegung des zeitgenössischen Lateins, vor allem auf Basis der kanonischen Texte Ciceros (cf. Clavuot 2002: 59-61). Neben dem allgemeinen historischen Interesse, der auf‐ keimenden Geschichtswissenschaft, ist der Ciceronianismus und die Erneue‐ rung des Lateins nach klassischem Vorbild im Rahmen des Lateinhumanismus ein wichtiger Movens für diese Diskussion: 534 Le débat ne fut pas seulement motivé par une curiosité académique mais par l’exigence de comprendre la nature de ce latin classique que les humanistes, par leurs études infatigables, s’employaient à restaurer. (Raffarin 2015: 24) Der Blick auf die Antike verhilft den Gelehrten einerseits zu einem geschärften Blick auf die Sprachkonstellation der eigenen Zeit, andererseits dient die eigene Epoche als Modell für ein Postulat im Hinblick auf die Verhältnisse im alten 327 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="328"?> 535 Die Verknüpfung von Leben und Werk der beiden Protagonisten Bruni und Biondo ist auf mehreren Ebenen angesiedelt: bezüglich ihrer Ämter, ihrer persönlichen Bekannt‐ schaft und der zu anderen maßgeblichen Gelehrten der Zeit, dem gleichzeitig histori‐ schen und philologischen Interesse sowie der lateinhumanistischen Grundeinstellung. Rom. Bei beiden Disputanten hängt dabei die Frage der Verständlichkeit eng mit der Konsultation der rhetorischen Schriften Ciceros (Orator, De oratore, Brutus) zusammen (Raffarin 2015: 24), weil bei Cicero Latine loqui mit ‚sich dem Volke verständlich machen‘ gleichgesetzt wird, d. h. es geht um die passive Rezept‐ ionsfähigkeit, was ja für die Rhetoriklehre logischerweise im Vordergrund steht. Dadurch ergibt sich eine gewisse Schieflage in der Betrachtung, da die aktive Sprachbeherrschung entweder in den Hintergrund rückt oder mit der passiven gleichgesetzt wird. Die Humanisten sind jedoch zu stark von diesen antiken Quellen beeinflusst und lösen sich nur schwer davon. In Bezug auf die in der Forschung mitunter betriebene starke Polarisierung der beiden Positionen Brunis und Biondos sei hier dezidiert noch einmal auf wenigsten zwei Faktoren hingewiesen: Zum einen handelt sich bei dem Brief Brunis nur um ein kurzes Antwortschreiben auf das weitaus umfassendere Traktat Biondos, so daß vor allem bezüglich der eigentlichen Meinung Brunis einiges im Unklaren bleibt (cf. tesi pseudo-bruniana, Marazzini 1993a: 263). Dieser Einschätzung eines Mißverständnisses zwischen Bruni und Biondo ist bereits von Tavoni (1984: 30) postuliert worden, der sich die Frage stellt, ob Bruni wirk‐ lich dachte bzw. darlegen wollte, daß das Volk (vulgus) kein Latein gesprochen hätte oder nicht vielmehr nur eine bestimmte Art von Latein, d. h. das gram‐ matische, regelhafte und elaborierte der Gebildeten. Das Mißverständnis beruhe also laut Tavoni darauf, daß Biondo in dem Hendiadyoin Latine litterateque eine Opposition zwischen sermo latinus und sermo vulgaris herausgelesen hätte, Bruni dies jedoch im Sinne von Lateinisch, aber Latein der Bildungsschicht bzw. literarisches Latein intendiert hätte, also einen sermo litteratus. Diese „Überin‐ terpretation“ seitens Tavonis wurde mitunter jedoch auch kritisch gesehen (cf. Marcellino / Ammannati 2015: 25-26). Dies läßt sich jedoch partiell dadurch heilen, indem man - wie hier ge‐ schehen - das Gesamtwerk der beiden Autoren in den Blick nimmt, da dies nicht nur einiges an dem Gedankengut Brunis ergänzt, sondern es auch hilft, die Po‐ sition Biondos besser einzuordnen. Zum anderen sei auch hervorgehoben, daß beide Gelehrten demselben Umfeld entstammen, sich in der gleichen Traditi‐ onsfiliation bewegen. 535 So ist die in Teilen relativ eindimensional gehaltene Abhandlung Brunis, die nur auf bestimmte Argumente Biondos eingeht, und die insgesamt so deutlich formulierte Position bei Bruni sicherlich partiell damit zu erklären, daß es ihm 328 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="329"?> 536 „E sopravennero in Italia Goti, e Longobardi nazioni barbare, e strane, i quali affatto spensero quasi ogni cognizione di lettere, come appare per gli strumenti in que‘ tempi rogati, e fatti, de’ quali niente potrebbe esser più material cosa, ne più grossa, e rozza“ (Bruni, Vita di Petrarca 1672: 88). Bruni interpretiert die Situation zwar eher historisch, aber die Veränderung der Sprache schwingt durchaus mit. 537 Wenn sich aus der Gesamtheit des antiken Lateins, welches als im Wesentlichen lite‐ rarisches aufgefaßt wird, das zeitgenössische volgare entwickelt, bleibt eine Erklä‐ rungslücke in Bezug auf die Entstehung des zeitgenössischen Schriftlateins. 538 Cicero verweist indirekt auf seine doppelte Kulturprägung, die griechische und die la‐ teinische, indem er es sich zu Aufgabe macht, seinen Mitbürger die Literatur und Phi‐ losophie beider Kulturkreise nahezubringen: „[…] et iis servire, qui vel utrisque litteris uti velint sunt, si suas habent, illas non magnopere desiderent“ (Cicero, De fin. I, 10; 1988: 14). in aller Kürze darum ging, seine Sorge um den Verlust des Prestiges der latein‐ ischen Sprache zum Ausdruck zu bringen. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk - wie im entsprechenden Kapitel herausgearbeitet wurde (cf. 6.2.1) - auf der sti‐ listischen Eleganz der Sprache und nicht nur, wie bisher betont (cf. Tavoni 1982, Marchiò 2008), auf der grammatischen Korrektheit. Dies geht sogar so weit, daß er auch unter bestimmten Umständen ein elaboriertes volgare akzep‐ tiert. Obwohl also Bruni durch seine in De verbis dargestellte radikale und ver‐ einfachende Position als typisch lateinhumanistisch argumentierend klassifi‐ ziert werden könnte, zeigt sich bei genauerer Betrachtung und unter Hinzuziehung anderer Werke eine durchaus vorhandene Aufgeschlossenheit gegenüber dem volgare, welche wiederum bei Biondo weniger zu finden ist, der im Gegensatz zu Bruni seine Hauptwerke ausschließlich auf Latein verfaßt. In späteren Werke (cf. Vita di Petrarca) scheint bei Bruni zudem durch, daß er der von Biondo angeführten Korruptionsthese wohl doch eine gewisse Plausibilität zuspricht. 536 Biondo wiederum, dem zweifellos das Verdienst zukommt, zum ersten Mal die Heterogenität des Lateinischen erfaßt zu haben und so etwas wie Sprach‐ wandel aufzuzeigen, wodurch er die unveränderliche Kunstsprache grammatica zu einer in der Antike lebendigen Sprache macht, bleibt in Bezug auf das Ver‐ hältnis des zeitgenössischen Schriftlateins zur antiken latinitas (cf. Kap. 4.1.2.3) genauso undeutlich wie Bruni. 537 Ebenfalls nicht deutlich wird bei beiden Gelehrten die Rolle des Griechischen in der Antike, welches ja einerseits aus Cicero als wichtig erkannt werden mußte (cf. utrisque litteris), 538 andererseits auch aus der zeitgenössischen byzantini‐ schen Nachbarschaft sowie der einsetzenden verstärkten Rezeption griechischer 329 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="330"?> 539 Ein wohl nicht unwesentliches Detail ist dabei, daß, im Gegensatz zu dem aufgrund seiner hervorragenden Sprachkenntnisse als Griechisch-Übersetzer tätigen Bruni, Bi‐ ondo kein Griechisch beherrschte. Texte (cf. Mazzocco 1993: 33; Raffarin 2015: 27-28). 539 Wirklich deutlich be‐ schrieben - auch wenn bereits bei Bruni und Biondo angedeutet - wird diese Konstellation der römischen Antike erst bei Bembo (v. infra, Kap. 6. 2. 10). Letztlich bleibt bei exakter Betrachtung der Schriften Brunis und Biondos sowie unter der Zusammenführung der modernen sprachwissenschaftlichen und der philologisch rekontextualisierenden Perspektive zwar im Kern eine deutlich unterschiedliche Auffassung über die Art der latinitas der Antike (cf. Kap. 4.1.2.3), die dabei kaum von den Anliegen der jeweiligen Position im Rahmen zeitgenössischer Diskussionen zu Latein und volgare zu trennen ist, dennoch stellt sich die Gemengelage der einzelnen Standpunkte und Argumente als weniger unvereinbar und konträr dar, als es auf den ersten Blick scheint. 6.2.4 Leon Battista Alberti (Leo Baptista Alberti) Der in den vorherigen Kapiteln nachgezeichnete Beginn des Disputes um die Frage der antiken Sprachsituation in Italien bzw. im Imperium Romanum wird von manchen Forschern im Kern auf die Diskussion zwischen den beiden Pro‐ tagonisten Leonardo Bruni und Flavio Biondo reduziert; die weitere Rezeption dieser Thematik wird dann nur noch kursorisch dargestellt oder im Rahmen eines weiteren Kontextes (z. B. Korruptionsthese, Lateinvs. Vulgärhuma‐ nismus) angesprochen (cf. Klein 1957; Marazzini 1993a; Reutner / Schwarze 2011; Marcellino / Ammannati 2015). Neben der grundlegenden Monographie von Tavoni (1984) sind jedoch gerade auch in neuerer Zeit weitere größere Ab‐ handlungen entstanden, die diese Diskussion zumindest im Quattrocento als weiterhin virulent thematisieren und entsprechend mehr oder weniger aus‐ führlich auch noch andere Disputanten behandeln (cf. Mazzocco 1993; Co‐ seriu / Meisterfeld 2003; Marchiò 2008; Raffarin 2015). Der erste Gelehrte, der den Disput um das volgare antico wiederaufgriff, war Leon Battista Alberti, der im Gegensatz zu Poggio Bracciolini, der der mündli‐ chen Diskussion zwar beiwohnte, sich aber erst später dazu schriftlich äußerte, nicht Teil der Gesprächsrunde im apostolischen Antichambre war. Alberti legt seine Gedanken zur antiken Sprachsituation im Vorwort zu seinem dritten Buch der Quattro libri della famiglia (1433-1440) dar. Dieses Proömium verfaßt er dabei relativ unmittelbar nach den Schriften Brunis und Biondos (ca. 1436-1437) 330 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="331"?> 540 Es wird im Vorliegenden auf die Gesamtausgabe von Della famiglia rekurriert (Alberti, Della fam. 1994), da auch einige Stellen außerhalb des besagten Vorwortes von Relevanz sind. Allein das proemio des dritten Buches als zentrale Abhandlung zur Sprachreflexion Albertis findet sich auch leicht gekürzt bei Tavoni (1984: 222-225) und Marchiò (2008: 163-165, Kommentar: 166-169) sowie vollständig in der Anthologie von Scarpa (2012: 73-77). 541 Zu einem Stammbaum der weitverzweigten und einflußreichen Familie Alberti cf. Schalk (1962, Ahnentafel der gens Alberti, unpaginierter Anhang der Einleitung). 542 Wahrscheinlich ist hier die Villa del Paradiso (bzw. Paradiso degli Alberti), der Landsitz des Kaufmanns Antonio Albertis in Pian di Ripoli (Gavinana, Florenz), gemeint (cf. Mazzocco 1993: 86). 543 Hier liegt eine Referenz an Cicero vor, der für Alberti (und andere) in vielerlei Hinsicht maßgebliches Vorbild ist: „quam iuvare, vixitque tam diu, quam licuit in civitate bene beateque vivere“ (Cicero, Brut. 4 (1); 1990: 8). Das zur Formel gewordene bene beateque und als einziger der frühen Partizipanten des Disputs äußert er sich auf Italie‐ nisch, was in diesem Kontext nicht ganz zufällig ist (cf. infra). 540 Textanalyse Die Vorrede zum Dritten Buch Über das Hauswesen - so der deutsche Titel (cf. Alberti, Hausw. 1962) - ist an Francesco D’Altobianco Alberti (1401-1479) ad‐ ressiert, einen Cousin Leon Battistas, 541 der sich auch als Dichter hervortat, aber vor allem der letzte Gesellschafter der Bank der Familie Alberti in Rom (Alberti di Ponente) war (cf. Boschetto 2000: 52-53). Die freundschaftliche Widmung dieses ökonomischen Leitfadens beginnt mit der Erinnerung; wie einst Leon Battistas Vater Lorenzo di Benedetto Alberti und der Onkel Francescos, Antonio Alberti, im heimischen Garten 542 die Frage erörterten, welche Tatsache ein grö‐ ßerer Verlust für die Menschheit bzw. die Zivilisation war, der Untergang des römischen Reiches oder der Niedergang der antiken Latinität. Messere Antonio Alberti, uomo litteratissmo tuo zio, Francesco, quanto nostro padre Lorenzo Alberti a noi spesso referiva, non raro solea co’ suoi studiosi amici in que‘ vostri bellissimi orti passeggiando disputare quale stata fosse perdita maggiore o quella dello antiquo amplissimo nostro imperio, o della antiqua gentilissima lingua latina. (Alberti, Della fam. III, proemio 1-6; 1994: 187) Ergebnis dieser Überlegung für Lorenzo, den Vater Albertis, und damit auch für ihn selbst, ist die Einschätzung, daß der Verlust der lateinischen Sprache und damit auch ihrer Literatur schwerer wiegt als die nicht mehr bestehende Un‐ tertänigkeit der einstmals durch Rom besiegten Völker. Der Grund für dieses Verdikt wird indirekt ebenfalls genannt: Diese Sprache (quella emendatissima lingua) fungiert als Träger für die Anleitungen zu einem guten und glücklichen Leben (bene e beato vivere), 543 die die so geschätzten antiken Schriftsteller (no‐ 331 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="332"?> vivere geht jedoch eigentlich auf Aristoteles zurück, der dies als Staatsziel formuliert hat (eudaimonia). bilissimi scrittori) verfaßt hatten, was für Alberti hier in humanistisch philoso‐ phischer Interpretation das Essentielle darstellt. Né dubitava nostro padre a noi populi italici cosí trovarci privati della quasi devuta a noi per le nostre virtú da tutte le genti riverenza e obedienza, molto essere minore infelicità che vederci così spogliati di quella emendatissima lingua, in quale tanti no‐ bilissimi scrittori notorono tutte le buone arti e bene e beato vivere. (Alberti, Della fam. III, proemio 6-12; 1994: 187) Im Folgenden drückt Alberti noch einmal den von ihm empfundenen Vorrang der Sprache und der damit verbundenen Kultur vor dem politischen Konstrukt aus. Wenn er formuliert, daß das Prestige des römischen Reiches (lo splendo del nostro imperio), seine Strahlkraft auf den Okzident, in direkter Abhängigkeit von der Lebendigkeit des Lateinischen (ogni lume e notizia) zu sehen ist bzw. von der intakten Tradierung der in dieser Sprache abgefaßten Schriften sowie der da‐ durch transportierten Inhalte, so zeigt dies sehr deutlich, welche Bedeutung er der lateinischen Schriftkultur beimißt. E pare a me non prima fusse estinto lo splendor del nostro imperio che occecato quasi ogni lume e notizia della lingua e lettere latine. (Alberti, Della fam. III, proemio 22-24; 1994: 188) Der Verlust der antiken Latinität oder vielmehr ihrer Blüte ist für Alberti das zentrale Thema, welches er zu erklären sucht, und so ist auch in seinen Aus‐ führungen der nächste Schritt, diese kulturelle „Urkatastrophe“ mit der Kor‐ ruptionsthese zu veranschaulichen, indem er varie nazioni für die sprachlichen Veränderungen verantwortlich macht (Gallici, Goti, Vandali, Longobardi). Dabei geht es ihm auch um die Details des Spracherwerbs und der dadurch hervorge‐ rufenen Vermischung (questa mistura) bzw. „Verwilderung“ (insalvatichí e vizi‐ ossi) des Lateinischen, der alles überragenden Kultursprache (nostra prima cul‐ tissima ed emendatissima lingua). Fu Italia più volte occupata e posseduta da varie nazioni: Gallici, Goti, Vandali, Long‐ obardi, e altre simili barbare e molto asprissime genti. E, come o necessità o volontà inducea, i popoli, parte per bene essere intesi, parte per più ragionando piacere a chi essi obediano, così apprendevano quella o quell’altra lingua forestiera, e quelli strani e avventizii uomini el simile se consuefaceano alla nostra, credo con molti barbarismi e corrutela del proferire. Onde per questa mistura di dí in dí insalvatichí e viziossi la 332 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="333"?> 544 Abgesehen von inhaltlichen Anhaltspunkten sind auch der persönliche Kontakt zu Bruni und die Kenntnisse seines Schrifttums bezeugt (z. B. Brief Brunis an Alberti, cf. Bruni, Epist. IX, 11; 2014 II: 415). Im Widmungsschreiben Albertis in seinen Intercenales spricht er ihn als den größten Gelehrten an („ut me docti, tuque in primis hac etate litterarum princeps, Leonarde“, Intercen. II, prohemium, 21-22; 2003: 84), was sicherlich eine captatio benevolentiae ist, aber andererseits auch in das Bild von Brunis tatsächli‐ cher Reputation und Wertschätzung seiner Arbeiten paßt (cf. dazu Kap. 6.2.3.1 vorlieg‐ ender Arbeit). 545 Die Charakterisierung als invenzione scolastica weist sowohl auf das ad placitum einer „schulmäßigen“ Übereinkunft hin, als auch auf die konkrete sprachreflektorische Ent‐ stehungsgeschichte in der Scholastik (zu den inventores cf. Kap. 6.2.1 und 6.1.5). Ob damit an dieser Stelle eine Abwertung scholastischer Philosophie ausgedrückt werden soll, sei dahingestellt. Grundsätzlich ist Alberti zwar kritisch in Bezug auf scholastisches Lehrwissen (cf. Ebbersmeyer 2010: 262), dennoch geht es hier in erster Linie um eine überkommene Definition des Lateinischen. nostra prima cultissima ed emendatissima lingua. (Alberti, Della fam. III, proemio 27-37; 1994: 188) Direkt im Anschluß an diesen Passus zeigt sich, daß Alberti über den Disput um das volgare antico und die Frage, welche Art von Latein im alten Rom gesprochen wurde, bestens informiert sein mußte, da er, ohne Namen zu nennen, die kont‐ roversen Meinungen der Diskussion anspricht und dazu sehr eindeutig Stellung bezieht. Né a me qui pare da udire coloro, e’ quali di tanta perdita maravigliandosi, affermano in que’ tempi e prima sempre in Italia essere stata questa una qual oggi adoperiamo lingua commune, e dicono non poter credere che in que’ tempi le femmine sapessero quante cose oggi sono in quella lingua latina molto a’ bene dottissimi difficile e oscure, e per questo concludono la lingua in quale scrissero e’ dotti essere una quasi arte e invenzione scolastica più tosto intesa che saputa da’ molti. (Alberti, Della fam. III, proemio 38-46; 1994: 188-189) Er lehnt entschieden die Position ab, innerhalb der eine seit jeher in Italien ge‐ sprochene Gemeinsprache (lingua commune) angenommen wird, die sich seit damals nicht verändert habe (in queʼ tempi e prima) und auch heute noch so in Gebrauch sei. Damit spielt er unzweifelhaft auf die These Brunis an, 544 wobei er wohl diesen im Sinne einer Überinterpretation dahingehend sehr wörtlich aus‐ legt, daß er ihm bezüglich dieser gesprochenen Sprache, also dem volgare, die Annahme einer absoluten Unveränderlichkeit unterstellt (cf. tesi pseudo-bru‐ niana; cf. Kap. 6.2.3.1). Dieser von allen gesprochenen Sprache stellt er im Sinne der von ihm wiedergegeben, aber abzulehnenden Meinung eine durch Überein‐ kunft erschaffene Kunstsprache (quasi arte e invenzione scolastica) gegenüber, 545 333 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="334"?> die von den Gelehrten (dotti) als Schriftsprache benutzt und von allen anderen nur passiv verstanden würde. Hierbei referiert er unzweifelhaft auf die von Bruni angenommene lateinische Schrift- und Literatursprache (Latine littera‐ teque; cf. Kap. 6.2.3.1). Die Tatsache, daß Alberti die Schriften Brunis und Biondos gekannt haben mußte, geht auch aus den im vorherigen Kapitel, bereits dargelegten typischen Argumenten und Beispielen hervor. Dies betrifft nicht nur die in diesem Zitat angesprochene Frage nach der Beherrschung der lateinischen Schriftsprache durch die Frauen, sondern auch die im Folgenden bei Alberti geschilderte Streit‐ frage um die Verständlichkeit der Redner bzw. Gebrauch der Sprache im öffent‐ lichen und privaten Bereich. Nach dieser deutlichen Ablehnung einer für die Antike postulierten bilingu‐ alen Sprachkonstellation plädiert er für die Annahme einer einheitlichen Sprache, einer lingua commune, die in allen Kommunikationssituationen (in publico o privato) Anwendung findet, d. h. Alberti nahm an, daß die Römer in der gleichen Sprache schrieben (scrivevano), in der sie auch sprachen (profer‐ iano). E domanderei chi in publico o privato alcuno ragionamento mai usasse se non quella una, quale perché a tutti era commune, però in quella tutti scrivevano quanto e al popolo e tra gli amici proferiano. (Alberti, Della fam. III, proemio 50-53; 1994: 189) Diese für ihn so offensichtliche Tatsache begründet er zum einen dadurch, daß er explizit betont, daß es selbstverständlich sei, daß die antichi nicht nur über gelehrte Gegenstandsbereiche (in arti scolastice e scienze) in dieser Gemein‐ sprache geschrieben hätten, sondern auch, wenn sie sich mit alltäglichen, nie‐ deren Dingen (cose ben vulgari e domestice) an ihre Frauen, Kinder oder Sklaven gewandt hätten (cf. Alberti, Della fam. III proemio 46-49; 1994: 188-189). Zum anderen zieht er - ganz wie Bruni und Biondo - die Parallele zur eigenen Ge‐ genwart, wenn auch mit einem bis dato nicht ins Feld geführten Exempel: er führt die Schwierigkeiten der Sprecher anderer Sprachen (strane genti) bei der korrekten Erlernung der italienischen Volkssprache (oggi nostra quale usiamo lingua) an und vergleicht dies mit den Schwierigkeiten, die seine Zeitgenossen bei der Erlernung dieser antiken Sprache haben, also dem Lateinischen. Diese sehr weitsichtige und plausible Erklärung wird ergänzt durch den Vergleich, daß auch die Bediensteten (servi nostri) nicht ohne weiteres in der Lage seien, die zeitgenössische Sprache fehlerfrei zu gebrauchen, Probleme bei Kasus und Tempus sowie der Konkordanz hätten (né per uso possono variare casi e tempi, e concordare), was die Sprache jedoch verlangte (cf. Alberti, Della fam. III , proemio 56-60; 1994: 189). Hier läßt Alberti ein Verständnis einer italienischen oder zu‐ 334 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="335"?> mindest florentinischen Norm durchblicken, die Sprecher einer niedrigen Schicht nicht fehlerfrei beherrschten. Im Weiteren bewegt er sich dann wieder im bereits bekannten argumenta‐ tiven Fahrwasser seiner Vorgänger und führt die Exempla der erfolgreichen Redner ohne größere Schulbildung (sanza niuna lettera) sowie Frauen der Antike an, die ebenfalls in der Lage waren, sich lobenswert in dieser allgemeinen la‐ teinischen Sprache auszudrücken (ben proferire la lingua latina), wobei dies daher komme - und diese Begründung Albertis ist neu -, daß sie weniger von außen beeinflusst worden seien (meno contaminata) als die Männer (cf. Alberti, Della fam. III proemio 60-64; 1994: 189). Alberti beschließt diese kurzen Ausführungen zur antiken Sprachkonstella‐ tion mit der Feststellung, daß es nicht anders sein könne, als daß die antichi scrittori in der Art und Weise schrieben, damit sie von allen verstanden würden, allein auch deshalb, weil sie ja ihren Mitbürgern dienlich sein wollten, ihnen - so die Implikation - Wissen vermitteln wollten, und zwar, wie bereits erwähnt, für ein bene e beato vivere (v. supra). E con che ragione arebbono gli antichi scrittori cerco con sí lunga fatica essere utili a tutti e’ suoi cittadini scrivendo in lingua da pochi conosciuta? […] Benché stimo niuno dotto negarà quanto a me pare qui da credere, che tutti gli antichi scrittori scrivessero in modo che da tutti e’ suoi molto voleano essere intesi. (Alberti, Della fam. III, proemio 64-71; 1994: 189-190) An den daraufhin folgenden Ausführungen erkennt man, worauf Alberti mit seinen einleitenden Anmerkungen zur antiken Sprachsituation eigentlich hi‐ naus will. Geschickt leitet er argumentativ in die sich an die letzte Aussage zu den antichi anknüpfende Frage über, warum nicht auch er in einer Weise schreiben sollte, um von allen verstanden zu werden (in modo che ciascuno m’intenda). Damit - so seine Begründung - könne er einer Vielzahl von Rezip‐ ienten nützlich sein (giovare a molti che piacere a pochi) und nicht nur den we‐ nigen Gelehrten (litterati) im Land und dies sei schließlich nicht zu tadeln, so seine rhetorische quaestio. E chi sarà quel temerario che pur mi perseguiti biasimando s’io non scrivo in modo che lui non m’intenda? Più tosto forse e’ prudenti mi loderanno s’io, scrivendo in modo che ciascuno m’intenda, prima cerco giovare a molti che piacere a pochi, ché dai quanto siano pochissimo a questi dí e’ litterati? (Alberti, Della fam. III, proemio 74-79; 1994: 190) Alberti macht in seiner folgenden Argumentation deutlich, daß er keineswegs abstreitet, daß die lateinische Sprache copiosa und ornatissima sei, aber verwehrt 335 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="336"?> 546 Die Tatsache, daß es ihm mehr um die Verständlichkeit als um die Eleganz geht, stellt McLaughlin (1995: 156-157) anhand einer Anmerkung in De re aedificatoria heraus: „Et, ni fallor, quo scripsimus, ita scripsimus, ut esse Latina non neges et satis intelligantur (Alberti, De re aed. VI, 1 (92v); 1966 II: 445). Dabei sollte allerdings nicht vernachlässigt werden, daß Alberti an anderen Stellen seines Werkes durchaus auch auf stilistische Elaboriertheit Wert legt (v. infra). sich dabei dem von anderen gezogenen Umkehrschluß, nämlich die Inadäquat‐ heit im Ausdruck und der mangelnde ornatus der Volkssprache, welche er als la nostra oggi toscana (lingua) bezeichnet. Er wirft dabei den Kritikern des volgare vor, daß sie die Sprache tadeln und schmähen, die sie selbst verwenden, und diejenige loben, die sie nicht verstehen. Zudem greift er in Abwandlung ein weiteres Mal das Argument der Verständlichkeit auf und verknüpft es mit dem Geständnis, daß es auch für ihn leichter sei, in der Volkssprache genau das aus‐ zudrücken, was er vermitteln möchte. 546 Ungeachtet der Tatsache, daß dies wohl auch der Wahrheit entspricht, ist es hier vor allem ein argumentativer Kunst‐ griff, um für den Gebrauch des volgare zu plädieren. Dies zeigt sich auch daran, daß er im nächsten Schritt zum direkten Angriff übergeht und behauptet, daß, wer sich als gelehrter einschätzt als der Verfasser dieser Zeilen, der auch in der Lage sein würde nicht weniger ornamenti in der Volkssprache zu finden als im Lateinischen (cf. Alberti, Della fam. III , proemio 80-94; 1994: 190). In seinem Schlußplädoyer für den Gebrauch des volgare stellt er noch einmal ganz explizit das Prestige des Lateinischen heraus, sein Ansehen, das auf der Verbreitung bei so vielen beruht sowie auf der Schriftproduktion der Gelehrten, um dann darauf zu verweisen, daß die Volkssprache genauso sein könnte, wenn die Gelehrten nur genug Eifer darauf verwenden würden, diese in ihrem Stil auszufeilen. E sia quanto dicono quella antica apresso di tutte le genti piena d’autorità, solo perché in essa molti dotti scrissero, simile certo sarà la nostra s’e’ dotti la vorranno molto con suo studio e vigilie essere elimata e polita. (Alberti, Della fam. III, proemio 94-98; 1994: 190-191) Er formuliert damit einerseits das Potential der toskanischen Volkssprache (essere elimata e polita, cf. Alberti, Della fam. III , proemio 98; 1994: 191), ande‐ rerseits zeigt er auch indirekt auf, daß er sie zumindest noch nicht für dem Lateinischen gleichrangig hält. Hier wäre womöglich Tateo (1971: 24) zu widersprechen, der die Gleichran‐ gigkeit etwas zu drastisch darstellt, doch im Kern sicherlich Recht hat, wenn er von dem Glaube Albertis an die maturità des volgare spricht, d. h. für ihn sei die Zeit gekommen, daß die Volkssprache mit dem Lateinischen gleichziehen könne. 336 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="337"?> 547 Eine sozio- und varietätenlinguistische Klassifizierung der Ausführungen Albertis ist noch weniger in der einschlägigen Forschungsliteratur anzutreffen als bei Bruni und Biondo, in Bezug auf deren Position zumindest ab und zu kursorisch und unsystema‐ tisch mit Begriffen wie ‚Diglossie‘ oder ,diastatisch’ operiert wird (v. supra und cf. Kap. 2). 548 Während sich bei Alberti der Begriff latino eindeutig auf das Lateinische bezieht, konnte latino bei Dante auch noch im ganz abstrakten Sinne ‚Sprache‘ bedeuten und bei Boc‐ caccio favella latino oder parlare latino sich in einigen Fällen sogar rein auf das Italie‐ nische beziehen, ganz in der Tradition eines mittelalterlichen Gebrauchs (cf. Kramer 1998: 100-104). Das proemio endet mit einer captatio benevolentiae an Francesco, daß er, Al‐ berti, alles versucht habe, ihm, seinem Adressaten, auf diese Weise - und hier implizit auch zu verstehen in eben dieser Sprache, d. h. dem volgare - nützlich zu sein, was besser wäre, als aus Angst vor Mißgunst zu schweigen. Mit daran anschließenden Ausführungen zum Inhalt der einzelnen Bücher endet das Vor‐ wort zum dritten Buch (Liber oeconomicus). Sozio- und varietätenlinguistische Perspektive Versucht man nun in der Perspektive moderner sozio- und varietätenlinguisti‐ scher Analyse der Auffassung Albertis nahezukommen, was bisher in den gän‐ gigen Monographien zu diesem Thema nicht vorgenommen wurde (cf. Kap. 2), 547 so läßt sich aus den knappen Ausführungen folgendes herauslesen: Für die römische Antike geht Alberti von einer einheitlichen Sprache aus, einem latino, 548 welches allen commune war, im schriftlichen wie auch im mündlichen Gebrauch, und die er auch la nostra prima cultissima ed emendatissima lingua nennt. Er stellt diese Sprache als homogen dar, ohne weitere diasystematische Variation. Dabei erwähnt er zwar den diamesischen Aspekt von Skripturalität und Oralität, ohne jedoch daraus sprachliche Konsequenzen zu ziehen, d. h. er ordnet der jeweiligen potentiellen Varietät keine Merkmale zu. Es handelt sich hier zweifellos um eine Vereinfachung, da er einerseits of‐ fensichtlich die Traktate von Bruni und Biondo als bekannt voraussetzt und sich weitere Details spart, andererseits sein Fokus mehr auf der Frage nach der sprachlichen Veränderung im Zuge der Völkerwanderung liegt. Nichtsdesto‐ weniger kann man zumindest implizit erkennen, daß er grundsätzlich eine in‐ nere Variation des Lateinischen annimmt, da er die Sprache der Gelehrten deut‐ lich von der der Frauen, Kinder und Sklaven bzw. des Volkes abgrenzt, indem er - wie oben dargelegt (v. supra) - rhetorisch fragt, daß es wohl kaum sein könne, daß man - d. h. die Gelehrten - gegenüber eben diesen Gruppen schrift‐ lich wie mündlich, privat oder öffentlich sich je anders geäußert hätte als auf Latein. Es ist wohl nicht zu viel hineininterpretiert in diese Stelle, wenn man 337 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="338"?> 549 Für die Franken existierte auch die Bezeichnung Gallici comati. daraus schließt, daß Alberti sich zwar einer inneren Variation - zumindest Ge‐ lehrtenlatein vs. Volkslatein - bewußt war, aber hier eben auf die Einheit des antiken Idioms abheben möchte und deshalb aus argumentativer Drastik heraus auf weitere Details verzichtet. Allein die Erwähnung von ‚öffentlich‘ vs. ‚privat‘ zeigt, daß angesichts der Parameter ‚formelle Gesprächssituation‘ vs. ‚infor‐ melle‘ ihm offensichtlich ein Registerunterschied vorschwebte, d. h. es für ihn Abstufungen in der Diaphasik gegeben haben mußte. Prima vista leugnet er zwar genau jene Unterschiede, aber die damit zusammenhängenden Ausfüh‐ rungen machen deutlich, daß es ihm um die Betonung einer lingua commune geht. Für ihn ist der Abstand eben nicht so groß gewesen, daß sich daraus ein Verständlichkeitsproblem entwickeln hätte können. Was den Sprachwandel betrifft, so führt er die Korruptionsthese als Erklärung an. Dabei ergänzt Alberti die These Biondos durch wenigstens zwei wichtige Aspekte: Zum ersten ist hierbei bemerkenswert, daß er den Kanon der zerstörerischen Völker von Biondo, der in seinem ersten Traktat nur die Goten und Vandalen nennt, in der Italia Illustrata dann noch die Langobarden hinzufügt, erweitert, und zwar um die Gallici. Theoretisch könnte man, da es keine weiteren Aus‐ führungen von Alberti dazu gibt, diese auch als die Franken interpretieren (no‐ minelle Herrschaft), 549 allerdings würde dies aber die ansonsten hier beachtete chronologische Reihung sprengen. Versteht man die Gallici hier also nahelie‐ gend als Gallier, also Kelten, dann führt Alberti hier als erster auch ein Sub‐ stratvolk bzw. eine dazugehörige Substratsprache an, die dazu beitrug, daß sich das Latein im Laufe seiner Geschichte gewandelt hat. Diese Lesart ist auch in‐ sofern nicht unplausibel, als später Poggio Bracciolini weitere Substratvölker in die Diskussion miteinbringt (cf. Kap. 6.2.6): neben den Galliern auch die Sabiner, Etrusker, Osker und Samniten, ein Gedanke, der historisch gesehen in gewisser Weise auch naheliegt. Wer die simili barbare und die asprissime genti waren, führt Alberti nicht weiter aus. Es könnte ein allgemeiner Topos sein oder, wie bei Cittadini später präzisiert (cf. Kap. 6. 2. 17), Leute vom Land und aus anderen Teilen des römischen Reiches. Zum zweiten beschreibt er den Prozeß des Sprachwandels relativ präzise, und zwar dahingehend, daß er hier eine Veränderung sieht, an der zwei verschiedene Sprechergruppen beteiligt sind. Auf der einen Seite tragen die Invasoren, also die Nicht-Muttersprachler, die beginnen, die Sprache der eroberten Mehrheit der Bevölkerung Italiens zu lernen (se consuefaceano alla nostra), durch ihre Schwierigkeiten im L2-Erwerb - der ja nicht gesteuert verlief, d. h. meist ohne 338 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="339"?> 550 Zu Barbarismen und Solözismen, die in der Rhetorik als vitia gebrandmarkt werden, cf. bei Alberti die vizi del favellare in seiner Grammatichetta (cf. Alberti, Gramm. 11r-11v; 1964: 60-61) und auch die entsprechende Stelle (soloecismus et barbarismus) bei Guarino Veronese (De ling. lat. diff. 9; 2008; 175) sowie die Arbeit von Schmauser (2017), die die wechselnden Nuancen dessen, welche „Fehler“ diese beiden Begriffe bei den verschie‐ denen frühneuzeitlichen Grammatikern umreißen können, behandelt (cf. auch Kap. 6.1.5). Scholarisierung - dazu bei, das Latein zu verändern, so daß viele „Fehler“ bzw. neutral formuliert Abweichungen entstanden, und zwar lexikalischer und mor‐ phosyntaktischer Art (con molti barbarismi) sowie in der Aussprache (e corrutela del proferire). 550 Auf der anderen Seite verändern dadurch auch die native-speaker des Lateinischen ihre Sprache, denn - so Alberti - viele würden aus Opportu‐ nismus die Sprache der Eroberer lernen. Die implizit ableitbare Folge daraus ist wohl, daß sowohl durch die Erlernung der fremden Sprache(n) als auch durch das der fehlerhaften Sprache der Neuankömmlinge ständige Ausgesetztsein die Lateiner selbst ihre Sprache veränderten. Das Ergebnis ist für Alberti eine Mi‐ schung der beiden Sprachen (questa mistura), der Prozeß ist das „Verwildern“ des Lateinischen (insalvatichí e viziossi), d. h. eine große Veränderung, natürlich hier stark wertend beurteilt. Schließlich beschreibt er noch den Prozeß der sprachlichen Veränderung als sehr allmählich, etwas was Tag für Tag geschieht (di dí in dí); die Veränderung (das „Verwildern“ der Sprache) geht also - aus heutiger Perspektive völlig kor‐ rekt eingeschätzt - sehr langsam, schleichend vonstatten. Diesbezüglich ist er zumindest deutlicher als Biondo, der ebenfalls bereits das Prozeßhafte anspricht (cf. Kap. 6.2.3.2). Rekontextualisierung Wenn man nun die hier vorgestellten Überlegungen Albertis in den zeitgenös‐ sischen Diskurs einzuordnen versucht, also eine Rekontextualisierung vornimmt, dann stellt sich zuvörderst die Frage, warum Alberti den von Bruni und Biondo ausgetragen Disput wiederaufgreift und warum an dieser Stelle in seinem Gesamtwerk. Um diesem Movens auf die Spur zu kommen, seien zunächst ein paar bio‐ graphische Informationen vorausgeschickt: Gebürtig aus Genua war Leon Bat‐ tista Alberti (lat. Leo Baptista Alberti) (1404-1472) vielleicht das Paradebeispiel für einen doctus bzw. eruditus, ein tatsächlicher uomo universale des rinasci‐ mentalen Humanismus (cf. Stackelberg 1964: 316). Er kam aus einer florentini‐ schen Kaufmannsfamilie (verbannt 1401-1428), lernte zunächst (1416-1418) bei Gasparino Barzizza (ca. 1360-1431), studierte dann in Padua und Bologna ius 339 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="340"?> 551 Obwohl Alberti aus einer reichen Florentiner Kaufmannsfamilie stammte, die trotz ihrer zeitweisen Exilierung weiterhin nicht arm war, befand sich Leon Battista selbst, als illegitimer Sohn, nach dem Tod seines Vaters Lorenzo (1421) in einer prekären finanz‐ iellen Situation, was ihn für einen kritischen Blick auf die damalige Gesellschaft sen‐ sibilisierte, auch in Bezug auf die Ausbildung bzw. die akademische Laufbahn im All‐ gemeinen, die für ihn die einzige Möglichkeit des sozialen Aufstiegs darstellte (cf. Grafton 2002: 49-67). Wie sehr er sich den lettere aus Gründen der persönlichen Vor‐ liebe, aber auch der beruflichen Perspektive verschrieben hat, wird in seiner Diatribe De commodis litteram atque incommodis deutlich: „Ego autem qui me totium tradidi litteris“ (Alberti, De comm. 1971: 42, 9-10). 552 Der Lehrer Leonellos war Guarino Veronese, der wiederum selbst Schüler von Manuel Chrysoloras war, der durch seine Etablierung des Griechischen in Italien sowie auch durch seine allgemeinen Unterrichtsmethoden - z. B. tägliches Wiederholen und Er‐ stellen von Notizbüchern mit thematischen Standardformeln (loci) - eine maßgebliche Wende im italienischen Humanismus einleitete (cf. Vickers 1999: 43-45). Es sei hier dezidiert auf die vielfältigen persönlichen Verknüpfungen der in vorliegender Arbeit relevanten Humanisten hingewiesen (zu Chrysoloras cf. auch Kap. 6.1.1, 6.2.3 u. 6.2.5), aber auch deren thematischen Verflechtung in Bezug auf die verschiedensten Aspekte ihres jeweiligen Œuvres. Exemplarisch sei hier u. a. auf die Mahnung Albertis ver‐ wiesen, die Bildung nicht nur aus Notizbüchern (cartule) und Florilegien (gregismi) zu beziehen, sondern Tullio, Livio und Sallustio im Original zu konsultieren (cf. Alberti, Della fam. I, 2080-2085; 1994: 87-88). Zu c(h)artula und grecismus cf. auch McLaughlin (1995: 149). 553 (Marcus) Vitruvius Pollio (1. Jh. v. Chr.) wurde mit seinem zehnbändigen Werk De ar‐ chitectura zu dem wichtigsten Referenzautor für die Baukunst, wozu vor allem Alberti beitrug, später auch Palladio (1508-1580). Die von Leonardo da Vinci (1452-1519) ent‐ worfene berühmte Proportionsfigur geht ebenfalls auf Vitruv zurück. 554 Alberti ist Architekt u. a. folgender Bauwerke bzw. baulicher Veränderungen an bereits bestehenden Monumenten: Palazzo Ruccellai (Florenz), Santa Maria Novella (Florenz), San Pancrazio (capella) (Florenz), San Francesco (Rimini), San Sebastiano (Mantua), Sant’ Andrea (Mantua). und artes, letzteres bei Francesco Filelfo, aber auch Physik und Mathematik und schloß schließlich sein Studium in diritto canonico ab (1428). 551 Nach dem Stu‐ dium trat er in den Dienst der Kurie (1432-1464), zunächst unter Papst Eugen IV . (1431-1447), blieb aber auch unter den folgenden Päpsten Mitglied des Collegio degli Abbreviatori Apostolici, arbeitete also als Abbreviator, d. h. je‐ mand, der in der päpstlichen Kanzlei juristische Dokumente aufsetzte und ent‐ warf, z. B. päpstl. Bullen (litterae apostolicae sub plumbo). Auf Anregung des Markgrafen Leonello d’Este (1441-1450) von Ferrara, einem seiner Förderer, 552 wandte er sich dann der Architekturtheorie zu - vor allem von Vitruv als dem antikem Vorbild schlechthin inspiriert -, 553 schrieb dazu einige theoretische Traktate und führte schließlich ab den 1450er und 1460er Jahren selbst Bautä‐ tigkeiten aus, auch Umbauten und Renovierungen. 554 Unter Papst Nikolaus V. (1447-1455) war er außerdem für die Konservierung und Restaurierung der an‐ 340 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="341"?> 555 Cf. dazu auch Albertis eigene Aussagen, die zeigen, daß er hier ganz im Sinne des Re‐ naissance-Gedankens einen Neuanfang sieht: „Ma poi che io dal lungo essilio in quale siamo noi Alberti invechiati, qui fui in questa nostra sopra l’altre ornatissima patria ridutto, compresi in molti ma prima in te, Filippo, e in quel nostro amicissimo Donato scultore e in quegli altri Nencio e Luca e Masaccio, essere a ogni lodata cosa ingegno da non posporli a qual si sia stato antiquo e famoso in queste arti“ (Alberti, De pict., Prologus; 1975: 7, 11-16). Trotz aller Bewunderung für die Antike und ihre Leistungen entsteht ein Selbstbewußtsein, welches die eigene Fähigkeit zu schätzen weiß, und man zeigt seinen Stolz, künstlerisch nicht nur zur imitatio fähig zu sein, sondern sozusagen tiken römischen und frühchristlichen Bauten in Rom zuständig sowie für die Stadtplanung. Er war dabei einer der ersten, die für die Erhaltung der antiken Monumente plädierte. Neben seinen Architekturtraktaten betätigte er sich schon seit seinem Studium als orator, also als gelehrter Schriftsteller, und deckte dabei die verschiedensten Bereiche ab; er verfaßte Komödien, Schriften zu Re‐ ligion, Staat, Familie und Haushalt, Moral- und Lebensphilosophie, Dichtung und, für uns besonders wichtig, auch zur Sprache. Er schrieb dabei sowohl auf Latein als auch auf Italienisch: z. B. De commodis litterarum atque incommodis (1428-1435), Intercenales (1440), Philodoxeos (1424), De religione (1429 / 1432), Descriptio urbis Romae (1430-1450), De Pictura (1435), De Statua (1435 / 1436), I Libri della famiglia. (1433-1441), Momus o del principe (1440), De re aedificatoria (1443-1452), Grammatica della lingua toscana (Grammatichetta vaticana) (ca. 1450), Ludi rerum Mathematicarum (ca. 1452), De re aedificatoria (1452). (cf. Schalk 1962: V-X; Grayson 1975: V- XI ). Albertis Ansichten zur Sprachenfrage, die er in seinem Werk zum Hauswesen niederlegt, sind in engem Zusammenhang mit dem umanesimo civile (v. supra) in Florenz zu sehen und seinen persönlichen „Erweckungserlebnissen“ als Exi‐ lierter bei der Rückkehr in diese Stadt. After his arrival in the city in 1434 for an extensive stay, not only did the language of his work have to be profoundly remolded to conform with the living usage of the Florentine vernacular, but Alberti’s outlook became intensely influenced by the cur‐ rents and cross-currents of Florentine cultural life. (Baron 1966: 348) Nach eigenem Bekunden erkannte Alberti in der Konfrontation mit der vita activa der Arnostadt, daß die kulturellen Leistungen der Menschen nicht nach einem Höhepunkt in der vielbewunderten griechisch-römischen Antike zum Stillstand gekommen waren, sondern hier vor seinen Augen im Rahmen einer vita civile weiterhin erbracht wurden. Beeindruckt von zeitgenössischen Künst‐ lern wie Brunelleschi (1377-1446), Donatello (1386-1466) oder Masaccio (1401-1428) öffnet er sich diesen Strömungen und rückt von einer starren Be‐ wunderung der Antike ab (cf. Baron 1966: 348-349). 555 341 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="342"?> ab experto etwas Neues, bisher Unerreichtes zu schaffen, so daß Alberti verlauten lassen kann: troviamo arti e scienze non udite e mai vedute (ibid., 23-24). 556 Zu einer Einbettung von Della famiglia in die Moralphilosophie der Epoche, auch ge‐ genüber unmittelbaren Zeitgenossen wie Salutati, Bruni, Poggio Bracciolini oder Valla cf. Ebbersmeyer (2010). Die Entstehung des Werkes Della famiglia, welches Alberti bereits vor seiner Übersiedlung nach Florenz ( Juni 1434) in Rom begonnen hatte (1433-1434) (cf. Tateo 1971: 24), ist vor dem Hintergrund des Niedergangs des Bildungswesens in Italien zu sehen. Zu Beginn des 15. Jh. ist ein Verfall von Schulen und Uni‐ versitäten zu verzeichnen, während die Fürsten zunehmend Privaterzieher ein‐ stellten. In der Tradition der humanistischen Gelehrten, die sich nach dem Vor‐ bild des antiken zoon politikon einem politischen Engagement für das Gemeinwesen verpflichtet fühlten (cf. auch Matteo Palmieri (1406-1475), An‐ gelo Decembrio (1415-1467)), wollte auch Alberti einen gewissen Einfluß auf das Erziehungswesen nehmen und reihte sich damit in die wichtigen in dieser Zeit zu diesem Thema entstandenen Schriften ein: Paolo Vergerio da Capo‐ distria, De ingenuis moribus et liberalibus studiis adolescentiae (1400-1402); Fran‐ cesco Barbaros, De re uxoria (1415); Palmieri, Della vita civile (1438); Maffeo Veggio, De educatione liberorum clarisque eorum moribus (1443), Dominici, Re‐ gola del governo di cura famigliare (15. Jh.). Direktes Vorbild ist dabei vor allem der ebenfalls in der italienischen Volkssprache schreibende Palmieri, dessen Werk mehr oder weniger zeitgleich entstand (cf. Schalk 1962: VIII - XII ; Baron 1966: 348, Tateo 1971: 7). 556 Diese Art der Literatur und ihre Rezeption ist auch in Zusammenhang mit der Partizipation vieler Humanisten an den Staatsgeschäften einzelner Stadt‐ staaten zu sehen, so daß diese theoretische Reflexion und Praxis miteinander verbanden, sowie dem wachsenden Interesse des aufstrebenden Bürgertums in Städten wie Florenz, Venedig, Mailand und Rom an der Lektüre von humanisti‐ schen Schriften, vor allem eben solchen Texten, die ihr Leben mehr oder weniger direkt betrafen. Diese politische Einbindung des Staates und seiner Bürger durch den Humanismus steht in Opposition zu dem bis ins Trecento vorherrschenden Konzept der vita solitaria, der inneren Abkehr, des Armutsideals und des Ge‐ lehrten ohne jegliche Bedürfnisse. Auch Glaube und Religion (fede, religione) treten in den Hintergrund zugunsten der Leitideen von mediocritas und tran‐ quillitas animi, die das humanistische Tugendideal konstituieren. Das neue Ver‐ ständnis des Humanismus zu Beginn des 15. Jh., der auch immer ein Städtehu‐ manismus mit spezifischer Ausprägung ist, vereint dabei antike Vorstellungen und Vorbilder mit zeitgenössischen Denkformen und konkreten Anliegen, wie 342 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="343"?> 557 Albertis Della famiglia nimmt in der Traktatsliteratur zu Beginn des 15. Jh. eine Schlüs‐ selstellung ein, so daß Tateo (1971: 6) von einem felice incontro sprechen kann, da es ein Ausdruck einer in dieser Zeit stattfindenden, glücklichen Kooperation von regionaler städtischer Politik in großen (Florenz, Mailand, Rom) und kleinen (Mantua, Ferrara, Rimini, Urbino) Zentren der Macht und künstlerischer Betätigung war und zudem in seiner moralphilosophischen Grunddisposition richtungsweisend wurde. Zur Bedeu‐ tung dieses Werkes in der Philosophie der Renaissance auch über Italien hinaus cf. Kuhn (2014: 61-62), der Albertis wohl wichtigster Schrift in seiner Gesamtdarstellung ein ei‐ genes Kapitel widmet und in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte die Rolle Jacob Burk‐ hardts betont, der Alberti eine wichtige Stellung im aufkommenden Individualismus dieser Epoche zuweist (zu Burkhardt siehe auch Kap. 6.1.1 vorliegender Arbeit). z. B. Aufstieg, Freiheit und Glanz des florentinische Staatswesens zu preisen (Florentinitas). Mazzocco (1993: 90) betont, daß Alberti zumindest kein militanter Vertreter der republikanischen Florentinitas oder des sogenannten campanilismo ist, son‐ dern eher ein „pragmatic thinker“. Dies ist sicherlich richtig, dennoch darf der Aspekt der stadtbezogenen Kultur des Humanismus dabei nicht übersehen werden. Dies gilt auch für Alberti, dessen Familie aus Florenz stammt, womit eine gewisse Verbundenheit einhergeht, und der dort in einen intensiven Aus‐ tausch mit anderen Gelehrten und Künstlern kommt, bedingt durch ein politi‐ sches und sozio-kulturelles Klima, welches eben nicht völlig austauschbar ist, sondern durch ein je spezifisches städtisches Leben entsteht. Albertis Schreiben ist in dieser Form eben nicht als reine imitatio antiker Literatur und Motive zu verstehen (cf. Schalk 1962: X- XVIII ). Das Anliegen dieses in diesem Kontext so wichtigen Werkes Albertis, 557 in dem durch den starken Bezug auf Xenophons Oikonomikos sich auch der innovative Einfluß der wachsenden Rezeption der griechischen Originalwerke im Humanismus be‐ merkbar macht (v. supra), läßt sich folgendermaßen formulieren: Es steht in Zusammenhang mit der neuen Art, die Wirklichkeit zu gewahren und zu gestalten, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts hervorgetreten ist und das traditionelle Denken vielfach umgebildet hat. Es wurde als eine wesentliche Aufgabe angesehen, nicht nur das innere Leben des Einzelnen, Liebe, Ehe, sondern das gesamte Leben aus der Fülle einer nicht nur nach innen gekehrten, sondern auch der Politik zugewandten Bildung zu reformieren. (Schalk 1962: XI) Alberti selbst geht es im Sinne des hier angesprochenen Willens zur Mitgestal‐ tung um die Nützlichkeit des Individuums innerhalb der Familie bzw. des Haus‐ wesens (oikos), wobei er immer wieder seine Praxisorientierung deutlich macht, auch in Bezug auf das traditionelle Buchwissen, welches eben nicht nur rein 343 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="344"?> theoretischer Natur sein sollte, sondern einen homo agens verlangt, der virtutes auch umsetzt (cf. Ebbersmeyer 2010: 264-270). Die eingangs gestellte Frage nach dem Wie und Warum von Albertis Aus‐ führungen zur antiken Sprachsituation lassen sich also somit teilweise aus den eben dargelegten zeitgenössischen Konstellationen und Albertis persönlichen Anliegen und Erfahrungen erklären. Das Vorwort verfaßt er zu einem Zeitpunkt, als er einen Teil des Werkes bereits geschrieben hatte, und unter dem Eindruck der geschilderten Erlebnisse bei seiner Ankunft in Florenz, was zusammen mit der Widmung genau dieses dritten Buches an seinen Freund und Verwandten diese Position der Sprachenfrage um die antichi im Gesamtwerk zum Hauswesen erklären mag. Das Hauptanliegen in diesem proemio ist jedoch eine defensio der Volks‐ sprache bzw. eine Rechtfertigung für den Gebrauch derselben in vorliegendem Buch. Die Ausführungen zur Antike dienen dabei wiederum hauptsächlich der Stützung der Verteidigung des zeitgenössischen volgare - und hierin liegt der letzte noch fehlende Punkt zu Klärung der Frage, warum Alberti dieses Thema genau an der besagten Stelle seines Œuvres aufgreift. Tavoni (1984: 45) sieht aus diesem Grund auch Alberti als den Verantwortlichen für eine anti-volgare-Re‐ zeption Brunis. Ob dies tatsächlich so eindeutig zu formulieren ist, sei zumindest dahingestellt, beziehen sich doch spätere Disputanten auch immer wieder auf Brunis eigene Argumente. Geht man nun in die Details seiner Ausführungen zur antiken Sprachkons‐ tellation bzw. an die Rekontextualisierung der einzelnen von ihm angeführten Argumente, so lassen sich folgende Verknüpfungen zu den bisherigen Positi‐ onen herausfiltern: Ein Hauptanliegen Albertis innerhalb der quaestio um die Antike besteht darin, den für die Gelehrten dieser Zeit so unfaßbaren Zusammenbruch des rö‐ mischen Reiches und vor allem dessen Hochkultur verständlich zu machen. Um diesen kulturellen, aber eben auch sprachlichen Untergang zu erklären, bedient sich Alberti der von Biondo aufgestellten Barbarenthese bzw. Korruptionsthese, d. h. der Verlust der Latinität wird durch die Völkerwanderung, also die Erobe‐ rung des Imperium Romanums, insbesondere Italiens, durch germanische Völ‐ kerschaften erklärt. Dabei versucht Alberti sich den Impetus der Eroberer damit plausibel zu machen, indem er postuliert, ihr naturgegebener Freiheitsdrang (da natura cupide di libertà) sei so groß gewesen, daß sie die kulturellen Vorteile des Imperiums verschmäht hätten, um sich dagegen aufzulehnen. Wie tief dieser Niedergang empfunden wurde, wie sehr das dem Weltbild des Humanismus und der Renaissance widersprach, zeigt auch die Wortwahl, wenn Alberti von la nostra suprema calamità spricht (cf. Alberti, Della fam. III , proemio 18, 27; 344 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="345"?> 558 „Hingegen ist es bis ins 16. Jahrhundert hinein humanistische (optimistische) Grund‐ überzeugung, dass Freiheit nicht nur abstrakt individuell (als Wahlfreiheit […]) oder formal-politisch (als Ausdruck nur einer Staatsform) zu verstehen sei, sondern konkret als kultureller Faktor: Nur da, wo Freiheit ist und die Träger oder Adressaten von Frei‐ heit sich aktiv in die civitas einbringen, da befinden sich die menschlichen Dinge in einem prosperierenden Zustand, unabhängig davon, ob Demokratie, Aristokratie oder Monarchie vorherrscht […]“ (Leinkauf 2017 I: 884). 559 Auch in seiner später entstandenen Grammatichetta opponiert er noch implizit gegen die These Brunis, indem er sowohl die lexikalische Ähnlichkeit des Lateinischen mit dem zeitgenössischen volgare nachweist, als auch deren genetische Verwandtschaft bzw. die Entstehung der italienischen (toskanischen) Volkssprache aus dem antiken latino auch in Bezug auf grammatische Charakteristika aufzeigt (cf. Passarelli 1999: 48-50). 1994: 187, 188). Da jedoch ‚Freiheit‘ in verschiedenster Ausprägung (libertas, liberum arbitrium), aber vor allem auch individuelle Freiheit, für jene Epoche ein neu gewonnenes Konzept und ein wichtiger Wert war (cf. Leinkauf 2017 I: 669-675, 675-683), 558 ist dies für Alberti (und seine Leser) ein legitimer Erklä‐ rungsansatz. Abgesehen davon, daß Alberti bezüglich des Sprachwandels noch den Aspekt des Substrateinflusses miteinbringt, folgt er - ohne ihn explizit zu nennen - relativ eindeutig der These Biondos. Was nun die Art der Sprache(n) bzw. der Varietäten, die in der römischen Antike gesprochen worden sein soll(en), anbelangt, so polemisiert Alberti stark gegen die Ansichten Brunis bzw. solche, die er dafür hält, wiederum ohne direkte Nennung desselben. 559 Er beläßt es stattdessen bei vagen Formulierungen wie da udire coloro oder Daʼ quali (Alberti, Della fam. III , proemio 38, 46; 1994: 195, 188, 189), die natürlich auch auf die Anhänger der Bruni-Position, sei es in der den schriftlichen Traktaten vo‐ rausgehenden mündlichen Diskussion oder einer, die im Gefolge der beiden Publikationen von Biondo und Bruni entstanden ist, gemünzt sein können. Auf‐ grund der eher knappen Ausführungen bezüglich der konkreten Sprachsituation im alten Rom, ist es nicht wirklich möglich, Alberti diesbezüglich eindeutig ins Gefolge von Bruni oder Biondo zu stellen. Er vertritt zwar vehement die Ein‐ heitlichkeit des Lateins, und zwar eines literarischen Lateins, einer emendatis‐ sima lingua, womit er direkt auf Cicero referiert (cf. locutionem emendatam; Cicero, Brut. 74 (253); 1990: 194), eine ausgefeilte Variation wie bei Biondo und seinem der Rhetorik entlehnten Drei-Register-Modell ist bei Alberti jedoch nicht zu finden; Verschiedenheit im Sprachgebrauch einzelner Sprechergruppen oder in Bezug auf bestimmte Sprachsituationen ist mehr angedeutet als konkret aus‐ geführt. Man könnte postulieren, daß er zugunsten seiner Argumentationskette gegen das Diglossie-Modell von Bruni auf weitere Details verzichtet. Ob dies im Umkehrschluß heißt, daß er rigoros den Ideen Biondos gefolgt ist, läßt sich aus dem vorliegenden proemio nicht erschließen. 345 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="346"?> 560 Brunelleschi ist der Baumeister der Kuppel des Florentiner Doms (S. Maria del Fiore), Albertis Freund und Konkurrent, die beide in den Künstlerbiographien (Le vite, 1550 / 1568) Giorgio Vasaris (1511-1574) verewigt sind; Brunelleschi zudem als ge‐ witzter Architekt in der Novella del Grasso Legnaiuolo, einer burla des Quattrocento. Die Art, wie Alberti die Sprachenfrage der Antike in diesem Vorwort abhan‐ delt, hängt damit zusammen, daß sein eigentliches Telos die Verteidigung des volgare darstellt. Dabei ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, daß Alberti zwar eine vulgärhumanistische Position vertritt, diese aber keinesfalls mit einer Ab‐ wertung des Lateinischen einhergeht. Im Gegenteil, ist er doch ein Bewunderer Ciceros, vertritt aber gleichzeitig dahingehend einen Anti-Ciceronianismus (cf. McLaughlin 1995: 166), indem er den Ausbaugrad des zeitgenössischen volgare vorantreiben möchte, und zwar auch aus der Sprache selbst heraus. Das Prestige des Lateinischen bleibt also für ihn unangetastet, aber er schöpft argumentativ aus der Antike, um seiner Position in der zeitgenössischen ques‐ tione della lingua Gewicht zu verleihen. Tavoni (1984: 45), im Gefolge von Baron (1966: 349), sieht hierin auch den Hauptgrund, warum er sich den Thesen Bio‐ ndos anschließt. Auch wenn Biondo argumentativ zweifelsohne für Albertis Anliegen, das zeitgenössische volgare aufzuwerten, eine naheliegende Referenz darstellt, würde eine derartige Simplifizierung ihm unterstellen, daß für ihn die Frage zur antiken Sprachkonstellation ohne wirkliches Interesse sei, wogegen jedoch zumindest sein spürbares Anliegen, den Niedergang der lateinischen Kultur durch die „Barbarenkatastrophe“ zu erklären, spricht. So zeigt er auf bzw. versucht zu begründen, daß natürlich alle Schriftsteller der römischen Antike in einer Art und Weise ihre Werke verfaßt hätten, daß sie auch verstanden worden seien, und zwar von allen Mitbürgern, denn sie wollten allen nützlich sein, ihre Erkenntnisse dem Gemeinwohl zuführen und nicht nur einer kleinen Elite von Gelehrten. Dieses Argument der Verbreitung einer Sprache und der allgemeinen Verständlichkeit zieht er im späteren Verlauf seiner Ausführungen als Rechtfertigungsgrund für den Gebrauch des zeitge‐ nössischen volgare beim Abfassen vorliegenden Buches heran (cf. Marchiò 2008: 38-39). Doch bereits kurz zuvor zeigt Alberti mit der Übertragung seiner architek‐ turtheoretischen Schrift De pictura (1435) ins Italienische (1436), daß er seiner Überzeugung Taten folgen läßt. Er widmet die volkssprachliche Version des Büchleins dem berühmten Baumeister Filippo Brunelleschi (1377-1446), 560 für den er - wie er im zugehörigen Prologus schreibt - explizit diese Ausgabe auf Toskanisch abgefaßt hat: „[…] mi piacerà riveggia questa mia operetta de pictura quale a tuo nome feci in lingua toscana“ (Alberti, De pict., Prologus; 1975: 8, 11-12). 346 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="347"?> 561 Zu dem von Alberti initiierten und Piero de‘ Medici (1472-1503) veranstalteten Dich‐ terwettbewerb mit dem Thema amicizia, an dem auch Francesco d’Altobianco Alberti teilnahm und in dessen Komitee zehn apostolische Sekretäre des zu diesem Zeitpunkt in Florenz residierenden Eugen IV. teilnahmen, von denen zumindest vier auch Parti‐ zipanten der mündlichen Debatte um das volgare antico waren (Flavio Biondo, Poggio Bracciolini, Andrea Fiocchi, Cencio Rustici), cf. Mazzocco 1993: 91-92) sowie Cardini (1973: 121), der die Tatsache, daß hier nur volkssprachliche Literatur zugelassen war, als „ostile alla cultura ufficiale“ einschätzt. Zur anonymen, eventuell Alberti zuzuschreib‐ enden Schrift Protesta (cf. Scarpa 2012: 77-82), die im Gefolge dieses Ereignisses ent‐ stand und sich mit der abwertenden Haltung der päpstlichen Sekretäre gegenüber dem volgare auseinandersetzt, cf. ebenfalls Mazzocco (1993: 93-94). Wie umstritten die Verwendung der italienischen Volkssprache in jenen Jahren noch ist, zeigen sowohl der nur mäßige Erfolg des von ihm mitveranstalteten Certame Coronario (1441), 561 als auch Albertis Beschwerden über diesbezügliche Verunglimpfungen in dem wenige Jahre später verfaßten Dedi‐ kationsschreiben an Leonello d’Este (1441-1450), Markgraf von Ferrara, als Vorrede (Ad Leonellum illustrissimum principem Estensem) zu seiner moralphi‐ losophischen Schrift im Geiste der Stoa, dem Dialog Theogenius (1442). E fummi caro sì el far cosa fusse a te grata, sì e anche avere te, omo eruditissimo, non inculpatore di quello che molti m’ascriveno a biasimo, e dicono che io offesi la maiestà litteraria non scrivendo materia sì elegante in lingua più tosto latina. (Alberti, Theog. 1966: 56, 1-5) Das Argument der Gegner ist das der Adäquatheit bezüglich der Textgattung, denn eine „hohe“ Literatur verlangt auch eine angemessene Sprache und dies kann nur das Lateinische sein. Alberti jedoch sieht in der Volkssprache ein ähn‐ liches Potential, wobei diese zudem den Vorteil der größeren Verbreitung hat, was er wiederum auch in diesem Werk - ähnlich wie in Della famiglia - als Grund für ihren Gebrauch gegenüber dem Marchese anführt: „E parsemi da scrivere in modo ch’io fussi inteso daʼ miei non litteratissimi cittadini“ (Alberti, Theog. 1966: 55, 20-21). Der Konflikt, in den Alberti hineingerät, wird von Mar‐ chiò (2008) anschaulich synthetisiert: La certezza che la lingua volgare sarà anch’essa degna di essere onorata se i dotti porranno il loro impegno nel renderla forbita ed elegante, anima le parole dell’Alberti che conclude l’atto di accusa esortando i suoi denigratori a deporre l’invidia contro di lui e a dar prova di eloquenza non ricorrendo all’insulto ma affrontando un amateria diversa e a loro più conveniente. (Marchiò 2008: 38) Albertis Stellungnahme im Vorwort zu Della famiglia ist letztlich auch vor dem Hintergrund der Tatsache zu betrachten, daß er seine vulgärhumanistische Ein‐ 347 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="348"?> 562 Albertis Stellung als wichtiger Schriftsteller der italienischen Literaturgeschichte, eben auch mit seinen Werken im volgare, wurde erst in der jüngsten Forschung gewürdigt, was Cardini zu einer diesbezüglich sehr deutlichen Aussage veranlaßt: „Secondo me l’Alberti è invece un grande scrittore in latino e in volgare, anzi un eversore, un vero e proprio rivoluzionario: ha ‚rifondato‘ la letteratura in volgare, e con le Intercenales e il Momus ha creato il moderno umorismo, e dunque un genere fondamentale della mo‐ derna letteratura europea“ (Cardini 2008: 26). 563 Dabei ist Albertis Übersetzung nicht nur eine einfache Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere, sondern gleichsam ein Statement für das volgare: „In altre parole il volgarizzamento del De Pictura […] non è considerabile solo come uno stru‐ mento di divulgazione di certe idee, ma assume anche il valore di esemplificare dei pregi della nuova lingua […]“ (Maraschio 1972: 228). 564 Tateo (1971: 24) weist darauf hin, daß sich Alberti hier an das erste Buch des Convivio von Dante anlehnt, in dem auch die Kritiker verdammt werden. 565 Die Entstehungszeit der Grammatichetta ist umstritten bzw. nicht genau eruierbar; Passarelli datiert sie zwischen 1438 und 1441-1442 / 1443, Grayson zwischen 1440 und 1454 und Sensi zwischen 1443 und 1454 (cf. Passarelli 1999: 30-35). stellung nicht nur theoretisch ausficht, sondern sie auch in ihrer praktischen Anwendung lebt. Dies bedeutet für ihn nicht nur, daß er auch Werke im volgare verfaßt (theoretische und literarische) 562 oder wie bei De pictura und den Ludi rerum mathematicarum in die Volkssprache übersetzt, 563 sondern er geht so weit, auch die Grammatikfähigkeit derselben zu beweisen (cf. Tavoni 1984: 49), d. h. er vollzieht den letzten Tabubruch. 564 In den einleitenden Sätzen seiner unpub‐ lizierten Grammatichetta (ca. 1450) 565 zeigt sich dies mehr als deutlich: [Q]ue’ che affermano la lingua latina non essere stata comune a tutti e‘ populi latini, ma solo propria di certi dotti scolastici, come oggi la vediamo in pochi, credo depor‐ ranno quello errore vedendo questo nostro opuscolo, in quale io raccolsi l’uso della lingua nostra in brevissime annotazioni. Qual cosa simile fecero gl’ingegni grandi e studiosi presso a’ Greci prima e po‘ presso de e’ Latini, e chiamorno queste simili ammonizioni, atte a scrivere e favellare senza corruttela, suo nome, grammatica. Qu‐ esta arte, quale ella sia in la lingua nostra, leggetemi e intenderetela. (Alberti, gramm. 1) Hierin schildert er die antike Diglossie-Situation, und zwar dahingehend, daß die high-variety, das Lateinische, welches den Funktionsbereich der Schriftlich‐ keit (in weiten Teilen) abdeckt, nur von wenigen Gelehrten verstanden wird (certi dotti scolastici). Die Diglossie-Situation ist dabei jedoch auch noch an eine elitäre Verteilung der Kompetenzen gebunden, da nur ein Teil der Bevölkerung Zugang zur Schriftsprache hat. Ihm geht es deshalb, wie er anhand der antiken Sprachenfrage bereits deutlich zum Ausdruck gebracht hat (v. supra), um die Verbreitung von Wissen, d. h. um 348 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="349"?> 566 Auch wenn Petrarca sich im Gegenteil zu Dante nie explizit ausführlich zu sprachthe‐ oretischen Problemen geäußert hat und deshalb auch hier nicht in vorderster Reihe der diesbezüglich relevanten Gelehrten steht, läßt sich dennoch an einigen Stellen seines Werkes (z. B. Familiares, Seniles) herauslesen, daß er grundsätzlich die Idee vom La‐ teinischen als einer Kunstsprache, die von inventores geschaffen wurden und deren Prestige auf die einschlägigen auctores zurückzuführen ist, teilt, ebenso wie die Auf‐ fassung von der Gleichsetzung von Schriftlichkeit und Latein (litere et latine sermo) (cf. Rizzo 1990: 10-16). 567 Im Gefolge Albertis sprechen auch andere Gelehrte mit vulgärhumanistischer Position wie Cristoforo Landino (1424-1498) oder Marsilio Ficino (1433-1499) präferentiell von lingua toscana oder lingua fiorentina (Maaß 2005: 12). den Zugang zu Kultur und Erkenntnissen für eine breitere Bevölkerungsschicht, um die Erfüllung eines ciceronianischen Tugendideals, nämlich pro bono publico zu handeln (cf. Vickers 1999: 33), aber auch um einen größeren Leserkreis im Sinne des oben beschriebenen humanistischen Bildungsideals. Damit verknüpft ist ein weiterer entscheidender Faktor in seiner Sprachauffassung: Entgegen der überlieferten Meinung, daß das Lateinische (neben dem Griechischen etc., v. supra) allein die Sprache ist, die eine Grammatik, also Regeln besitzt und damit eine Kunst (ars) ist (cf. z. B. Dante, Bruni), 566 vertritt Alberti, weit vehementer als z. B. Biondo, daß das volgare eben nicht sine regola ist und reine natura, son‐ dern in gleicher Weise regelhaft, d. h. grammatikfähig. Um genau dies zu be‐ weisen, vollbringt er nichts Geringeres und erstellt die sogenannte Grammati‐ chetta, in den zeitgenössischen Sprachgebrauch (uso) in Regeln faßt (cf. Reutner / Schwarze 2011: 104). Ganz explizit spricht er darin dann von arte, die das Italienische aufweise (Questa arte, quale ella sia in la lingua nostra). Damit vollzieht er den wichtigsten Schritt, die Volkssprache aus ihrer inferiorità zu reißen, wie er es in Della famiglia bereits angedeutet hat. In Bezug auf seine Ausführungen in Della famiglia konstatiert Tateo (1971: 24): „[…] Alberti gius‐ tifica la sua novità con l’attuale rarità dei letterati, ma tale constatazione lo in‐ duce soprattutto a meditare sulla possibilità di riscattare completamente il vol‐ gare dalla sua condizione di inferiorità.“ Dazu könnte man auch die Tatsache rechnen, daß er in Bezug auf die zeitge‐ nössische Volkssprache weniger von volgare als vielmehr dezidiert von lingua toscana spricht, was durchaus programmatisch zu verstehen ist (la nostra oggi toscana, cf. Della fam. 82-83; 1994: 190; in lingua toscana, cf. De pict., Prologus; 1975: 8, 12). 567 Er bricht also insofern mit der Tradition, indem er die Volkssprache in seiner toskanischen bzw. florentinischen Ausprägung in den verschiedensten Text‐ gattungen anwendet, insbesondere auch in der prosa scientifica (cf. Tavoni 349 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="350"?> 568 Zum Grad der Latinisierung in Della famiglia cf. McLaughlin (1995: 161-162). 569 In Anwendung auf die Literatur cf. z. B. folgende Aussage zur zentralen Idee der con‐ cinnità bei Alberti, die mit der eleganza einhergeht und die im Verbund mit weiteren Eigenschaften wie dilettoso, fiorito und soave den Stil der von ihm als vorbildlich ein‐ gestuften Klassiker definiert: „Non è sí soave, né sí consonante coniunzione di voci e canti che possa aguagliarsi alla concinnità ed eleganza d’un verso di Omero, di Virgilio o di qualunque degli altri ottimi poeti. Non è sí dilettoso e sí fiorito spazio alcuno, quale in sé tanto sia grato e ameno quanto la orazione di Demostene, o di Tullio, o Livio, o Senofonte, o degli altri simili soavi e da ogni parte perfettisimi oratori“ (Alberti, Della fam. I, 2037-2043; 1994: 86). 570 So wird die brevitas beispielsweise in der Rhetorica ad Herennium sowohl als Stil‐ merkmal wie auch als Stilfigur erwähnt: „Rem breviter narrare poterimus, si inde inci‐ pimus narrare, unde necesse erit […]“ (Rhet. ad Her. I, 14 (IX); 1994: 22); „Brevitas est res ipsis tantummodo verbis necesariis expedita, hoc modo: […]“ (Rhet. ad Her. IV, 68; 1994: 314). 1984: 56), sie nach lateinischem Modell - lexikalisch wie syntaktisch 568 - verän‐ dert bzw. bereichert und sich somit sowohl von der griechisch-lateinischen Li‐ teratur des Quattrocento absetzt also auch von der italienischen des Trecento (cf. Cardini 2008: 28-29). Ignorando la tradizione, e basandosi esclusivamente sull’uso, scrisse la prima gram‐ matica italiana; rifondò l’elegia e la bucolica; inventò la metrica barbara e il dialogo; fu il primo a sperimentare la ‚conversazione familiare‘; creò in gran parte la prosa morale, dottrinale e civile; dotò il volgare, a partire da quello artistico, di interi lingu‐ aggi speciali.“ (Cardini 2008: 29) Um das Gesamtverständnis von Albertis Sprachauffassung zu komplettieren, sei noch darauf hingewiesen, daß auch ein enges Verhältnis zwischen seinem ar‐ chitektonischen bzw. künstlerischen Verständnis und dem seiner Vorstellung von Sprache besteht. Dabei ist diese Relation eine wechselseitige, denn einerseits überträgt er rhetorische Grundkonzepte wie decorum und im speziellen als Leit‐ idee concinnitas auf die Baukunst (cf. Vickers 1999: 16, 68), 569 andererseits sind theoretische Elemente der bildenden Kunst auch wieder in seiner Literatur zu finden. So legt er in De pictura dar, wie die natura das Vorbild liefert und deshalb cose aperte e chiare zu präferieren seien (cf. Alberti, De pict. 47; 1975: 84, 29-32). In seiner Schrift De re aedificatoria wird er in Bezug auf die ästhetische Ausge‐ staltung von Bauwerken noch deutlicher: Odi sumptuositatem (Alberti, De re aed. IX , 4 (162v); 1966 II : 803). Diese Präferenz korreliert mit seiner stilistischen Vorliebe von chiarezza und brevità, womit er sowohl einem Stilideal humanistischer Dichter folgt, als auch der brevitas (cf. McLaughlin 1995: 154), wie sie in der antiken Rhetorik prokla‐ miert wird. 570 So faßt Alberti beispielsweise im Amator die Probleme nach ei‐ 350 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="351"?> 571 „ut pictura poesis: erit quae, si propius stes, / te capiat magis, et quaedam, si longius abstes; / haec amat obscurum, volet haec sub luce videri, / iudicis argutum quae non formidat acumen; / haec placuit semel, haec deciens repetita placebit“ (Horaz, Ars poet. 361-365; 1984: 26). 572 „Pictor uterque est; ille verbis pingit, hic penniculo docet rem; caetera utrisque paria et communia sunt. In utrisque et ingenio maximo et incredebili diligentia opus“ (Alberti, De re aed. VII, 10; 1966 II: 609-611). 573 Zum Stellenwert dieses Horaz’schen Motivs in der Renaissance, welche u. a. auch bei Leonardo da Vinci zu finden ist, cf. Bollmann (2001: 123-124) sowie Wulfram (2001: 289, FN 66), der hier daraus ableitend bei Alberti eine materiell-inhaltliche Stilauffassung im Sinne der rota Vergilii postuliert. In dieser mittelalterlichen und rinascimentalen Poetik korrelieren Sozialstatus des Beschreibungsobjektes bzw. -subjektes und Stil‐ höhen, wobei als kanonisches Muster die Schriften Vergils dienen, d. h. Bucolica (Han‐ delnder: pastor otiosus, Stil: humilis stylus), 2. Georgica (Handelnder: agricola, Stil: me‐ diocris stylus), 3. Aeneis (Handelnder: miles dominans, Stil: gravis stylus). genem Bekunden beviter succincteque zusammen: „Sed que breviter succinc‐ teque recensuimus eo, ni fallor, iuvabunt, quo qui nos legerint amoris expertes intelligent hinc se esse admonitos ut amorem omni opera et cura fugiant, quem tam multis perturbationibus refertum videant […]“ (Alberti, Amator 110; 2010: 99). Derartige wechselseitigen Beeinflussungen zweier Künste sind in jener Epoche nicht ungewöhnlich, zumal bereits Horaz in seiner Ars poetica diese beiden Aspekte in einem synästhetischen Sinne zusammendenkt (ut pictura po‐ esis), 571 doch nirgendwo werden sie greifbarer als bei Alberti, der auf dieses Motiv auch in De re aedificatoria anspielt 572 und der sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur sein Tätigkeitsfeld hat, und zwar als Theoretiker wie auch als Praktiker (cf. Ponte 1981: 123-131). 573 Aus seiner Grundüberzeu‐ gung einer natura regolata speist sich nicht nur sein Architekturverständnis, sondern auch seine Sprachauffassung, die eben genau deshalb auch dem volgare einen entsprechenden Platz einräumt. Synthese Wenn man nun die Analyse der einzelnen Textstellen zusammenfasst und beide Untersuchungsperspektiven (varietätenlinguistisch und rekontextualisierend) miteinander verbindet, dann läßt sich zunächst vorab konstatieren, daß sich Alberti nur relativ kursorisch in die Diskussion um die Frage nach der Sprache der römischen Antike einmischt. Er widmet im Gegensatz zu Bruni und Biondo, den Initiatoren der Debatte, der Thematik auch kein eigenes Traktat (in Brief‐ form), sondern geht auf die bei diesen beiden Autoren diskutierten Argumente scheinbar eher beiläufig im Vorwort zum dritten Buch seines Werkes Über das Hauswesen ein. 351 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="352"?> Dort fungiert die Frage an der Oberfläche als Aufhänger für eine relativ ex‐ plizite Begründung, warum er diese seine Gedanken hier in der italienischen Volkssprache niederlegt. Tatsächlich geht es ihm aber um weitaus mehr, nämlich ganz allgemein zu begründen, warum die italienische Sprache für derartige Zwecke einer elaborierten Schriftlichkeit durchaus auch geeignet ist und das Potential hat, dem Lateinischen ebenbürtig zu sein. Diese Grundeinstellung, die auch in anderen Schriften deutlich wird (z. B. Theogenius, De pictura) und in der Abfassung der Grammatichetta kulminiert, in der er schließlich die Dichotomie von ars und natura überwindet, hat ihren Ursprung auch in dieser Debatte um das volgare antico. Abgeleitet aus der antiken Sprachsituation, in der schon aus Gründen der Verständlichkeit nur ein Idiom aller Sprachteilnehmer existieren konnte, argumentiert er für das zeitgenössische volgare, welches am besten diesen Zweck erfüllen kann und eben nicht das nur von wenigen Gelehrten verstandene Latein. Konsequenterweise tritt er deshalb den Beweis an, daß die Volkssprache an sich genauso grammatikfähig ist wie das Lateinische und daß man sie auch mit den gleichen (lateinischen, wissenschaftlichen) Kategorien beschreiben kann. Seine Sichtweise auf die antike Sprachsituation ist eben von diesem Grund‐ impetus geprägt und dient ihm insgesamt als Aufhänger seiner Befürwortung des volgare im Rahmen der Vorphase der questione della lingua (cf. Kap. 6.1.2) und im Kontext des florentinischen umanesimo civile. Cardini (2008: 26-27) weist dezidiert darauf hin, daß der Vulgärhumanismus weder ein Bruch mit den studia humanitas markieren soll, noch eine Vulgarisierung von Sprache und Literatur für die breite Masse impliziert, sondern eine Neurorientierung im Ver‐ gleich zum Trecento, weshalb er auch den Begriff umanesimo volgare durch rifondazione, su base umanistica, della lingua e della letteratura italiana ersetzen möchte. Aus Gründen argumentativer Deutlichkeit formuliert er deshalb für die An‐ tike eine einzige lingua commune - im Sinne eines literarischen Lateins, einer cultissima ed emendatissima lingua -, die alle sprachen, die Gelehrten, wie auch das Volk, Frauen und Handwerker. Das konnte für ihn gar nicht anders sein, da sonst die Schriftsteller und ihre Anliegen ja nicht einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gewesen wären. Er lehnt damit sowohl die von Bruni beschriebene Diglossie-Situation ab, genauso wie die mit Mitteln der Rhetorik dargestellte Varietätenvielfalt Biondos, die er zumindest nicht thematisiert. Sicherlich mögen ihm diaphasische und diastratische Unterschiede auch bei den Sprechern und Schriftstellern der Antike bewußt gewesen sein, doch stellt er diese interne Variation zugunsten der ihm wichtigen Gesamtaussage zurück. 352 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="353"?> 574 Im Folgenden soll auf den aktuellen Abdruck des Briefes bei Marchiò (2008: 174-179, Kommentar: 180-184) rekurriert werden, da dort auch eine ausführliche Kommentie‐ rung zu finden ist. Ebenfalls zahlreiche Anmerkungen weist aber auch die Edition des Schreibens bei Tavoni (1984: 228-238) auf. Das Dokument findet sich in der umfang‐ reichen Gesamtausgabe der Korrespondenz Guarinos (Epist. 1915-1919) in Band II, 2 (Nr. 813) von 1916. Was den Sprachwandel angeht, so stützt er sich eindeutig auf die These Bi‐ ondo, d. h. er erklärt die Veränderung des Lateins und die Entstehung der itali‐ enischen Sprache (volgare) durch den Einfluß der Superstratsprachen der Ger‐ manen, die er noch um die Substratsprache der Gallier ergänzt. Dabei ist selbst für Alberti als dezidiertem Vulgärhumanisten die zentrale, nur schwer erklär‐ bare kulturelle Katastrophe der Niedergang des Lateins in Zusammenhang mit dem Untergang des römischen Imperiums; ein umwälzendes Ereignis in der Ge‐ schichte und ein großer Verlust für die Gelehrtenwelt, den er mit einem gewissen Verständnis durch den Freiheitsdrang der unterjochten Völker zu erklären ver‐ sucht. Betrachtet man abschließend die Position Albertis im Sinne eines Erkennt‐ niszuwachses in Bezug auf den Entstehungsprozeß des Verständnisses des Vul‐ gärlateins, so ist festzustellen, daß er im Vergleich zu Bruni und Biondo einer‐ seits dahingehend innovativ ist, daß er das Prozeßhafte des Sprachwandels betont und den Aspekt des Substrateinflußes miteinbringt, andererseits aber hinter dem elaborierten Modell interner Variation Biondos weit zurückbleibt, obwohl er grundsätzlich eher diesem als Bruni zugeneigt ist, gegen den er relativ deutlich polemisiert. 6.2.5 Guarino Veronese (Guarinus Veronensis) Die chronologisch gesehen nächste Stellungnahme im Disput um die antike Sprachkonstellation findet sich in einem Schreiben von Guarino Veronese (1374-1460) an den Markgrafen von Ferrara, Leonello d’Este (1407-1450), den er von dessen irrigen Ansichten bezüglich des Verhältnisses zwischen der Sprache des Volkes (vulgus) bzw. der Ungebildeten (indocti) und der der Ge‐ lehrten (docti) der Vorväter im alten Rom (maiores nostros) abbringen möchte (cf. Guarinus Veronensis ill. principi Leonello marchioni Estensi de lingue latine differentiis, 1449). 574 Textanalyse Nach einigen einleitenden Worten, in denen Guarino die schöne Gewohnheit des gemeinsamen Räsonierens in Erinnerung ruft, welches er wiederaufzu‐ 353 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="354"?> 575 Hier (Guarino, De ling. lat. diff. 7; 2008: 174) liegt eine Referenz an Isidor v. Sevilla und seinen Etymologiae (IX, 1, 2) vor (cf. Marchiò 2008: 180, FN 6). nehmen gedenkt, möchte er mit seinem ehemaligen Schüler die quaestiuncula erörtern, wie es um die antike Latinität bestellt gewesen sei. Dabei formuliert er die im Kreise des marchese offensichtlich bekannte Fragestellung noch einmal zusammenfassend folgendermaßen: […] cuius generis lingua maiores nostros usos fuisse iudicemus, cum eos latine locutos dicimus; eane fuerit, quam hac aetate vulgo et ab indoctis usurpari sentimus, an lit‐ teralis et a peritis observata, quam graeco vocabulo recte grammaticam appellamus. (Guarino, De ling. lat. diff. 4; 2008: 174) Hier stellt er sich zunächst die Frage nach den Sprachen der Antike und stellt noch einmal das Latein des vulgus dem der Gelehrten gegenüber, welches er litteralis bzw. entsprechend dem ursprünglichen griechischen Ausdruck gram‐ matica nennt. Anschließend präzisiert er die Opposition zwischen der Sprache der docti einerseits und die der rustici, der operarii, der militii und der mulierculae andererseits (ibid., De ling. lat. diff. 5; 2008: 174). Daraufhin scheint es ihm nötig zunächst etwas Grundsätzliches zu klären und er definiert lingua (als synony‐ misch zu os), 575 um dann schließlich im folgenden Passus des Briefes deutlich Position in Bezug auf die von Bruni und Biondo aufgeworfene Fragestellung hinsichtlich des Lateins der römischen Antike zu nehmen: Latinitatem igitur duobus acceptam modis apud maiores animadverto uno quidem pro ea sermocinatione, qua priscos sine ratione regulis urbanos ac rusticos, uti solitos legimus, cum vox tamen ipsa litteralis esset; altero, qua studio et arte comparata docti posterius usi sunt. (Guarino, De ling. lat. diff. 8; 2008: 174-175) Zunächst ist einmal festzustellen, daß Guarino von den duobus modis der lati‐ nitas spricht und sich damit deutlich mehr an die Position Biondos anlehnt als an die Brunis, der ja explizit von zwei verschiedenen Sprachen in der Antike spricht. Aber auch Guarino bleibt grundsätzlich bei einer dichotomischen Dar‐ stellung. Dabei stellt er die Sprache aller Bewohner (urbanos ac rusticos) der Sprache der Gelehrten (docti) gegenüber, wobei letztere später durch studio et arte entstanden sei. Diese stehe wiederum in Opposition zur Charakterisierung der Sprache der Mehrheit bzw. aller, die nach überkommenem Muster (cf. Dante, Bruni) als regellos charakterisiert wird (sine ratione regulis). Im Gegensatz zu Dante bezeichnet Guarino auch diesen modus des Sprechens explizit als dem Lateinischen zugehörig (vox tamen ipsa litteralis). 354 6. Der Beginn für das Verständnis der Architektur des Lateinischen <?page no="355"?> 576 Tatsächlich handelt es sich um ein nur leicht abgewandeltes Zitat aus der Cicero zuge‐ schriebenen Rhetorica ad Herennium, welches hier im Original wiedergeben sei: „Lati‐ nitas est quae sermonem purum conservat ab omni vitio remotum. Vitia in sermone, quo minus is Latinus sit, duo possunt esse: soloecismus et barbarismus“ (Rhet. ad Her. IV, 17; 1994: 210). 577 Schmauser (2018), die die Grammatiken der Frühen Neuzeit in Bezug auf Barbarismus und Solözismus untersucht, verweist eingangs auf den Ursprung und die Charakteris‐ tika dieser in der Rhetorik und Grammatik definierten Phänomene. Ein Barbarismus (barbarismus) wird dabei als Verstoß gegen die korrekte Abfolge der Buchstaben bzw. Laute (scriptum vs. enunciatio) in einem Wort verstanden. Seit Quintilian unterscheidet man systematisch eine quadripartita ratio, d. h. vier mögliche Arten von Verstößen, nämlich adjectio (‚Hinzufügen‘), detractio (‚Wegnahme‘), transmutatio (‚Vertauschen‘) und immutatio (‚Ersatz‘); gemeint sind einzelne Laute oder Silben (bzw. Buchstaben) sowie Akzente. Auch beim Solözismus (soloecismus), der als abweichende Wortverbin‐ dung zu verstehen ist, werden in der Institutio oratoria weitere Unterkategorien unter‐ schieden, und zwar soloecismus per adiectionem (z. B. Pleonasmus), soloecismus per det‐ ractionem (z. B. Ellipse) und soloecismus per transmutationem (z. B. Hyperbaton) sowie soloecismus per immutationem (Kasus, Numerus, Tempus etc. betreffend). Die Abgren‐ zung zwischen den phonetisch-morphologischen (Barbarismus) und den morpholo‐ gisch-syntaktischen (Solözismus) Verstößen ist dabei nicht immer eindeutig vorzu‐ nehmen. Beide Kategorien können in der rhetorischen Tradition sowohl als vitia gebrandmarkt werden, aber unter bestimmten Umständen auch als licentiae zugelassen werden, um virtutes der Rede wie puritas, perspicuitas oder ornatus zu erfüllen (cf. Schmauser 2018: 24-37). Im Folgenden definiert Guarino noch präziser, was er unter dem Latein der Gebildeten versteht, indem er auf ein Zitat von Cicero zurückgreift, 576 wie er selbst angibt, und dessen Kernaussage darin besteht, daß die latinitas ein sermo purus ist, und zwar ohne jegliche vitia. Welche Arten von vitia es gibt und wie diese zu verstehen seien, illustriert er wiederum durch Rückgriff auf den von ihm nicht genannten Isidor von Sevilla (Etym. I, 32, 2-3; 1911: s. p.) und unter‐ scheidet barbarismus, soloecismus und barbarolexis (cf. ibid., De ling. lat. diff. 9-10; 2008: 175). 577 Anschließend erklärt er seinem Schüler Leonello, daß das Latein verschie‐ denen Stufen bzw. Epochen (aetates) der Veränderung durchlaufen hat (influ‐ xisse mutationem) und wie diese im Einzelnen abzugrenzen seien. Ceterum non erit inutile cognitu, Leonelle princeps, si diversas latini sermonis aetates speciesque noverimus, ut mirari desinamus tantam influxisse mutationem […]. (Gu‐ arino, De ling. lat. diff. 12; 2008: 175) Guarino unterteilt die Sprachentwicklung des Lateinischen in Anlehnung an Isidor in vier Stadien (quadripartitum latinae locutionis usum agnoscet), wobei das erste unter Ianus beginnt und die frühen Völker bzw. Bewohner Italiens (priscos Italae incolas), nämlich die Aurunker (Auruncos), die Sikaner (Sicanos) 355 6.2 Die einzelnen Positionen in der Traktatsliteratur von Dante bis Cittadini <?page no="356"?> 578 Zu der hier von Guarino angeführten Anekdote des Menenius Agrippa, die in den Kommentaren von Tavoni (1984) und Marchiò (2008) nicht verortet wird, cf. Livius (Ab urbe cond. II, 32, 5-12; 1987 I: 232-234). und die Pelasger (Pelasgos) umfaßt (cf. ibid., De ling. lat. diff. 13; 2008: 175). In jener Zeit waren die Wörter des Lateinischen zwar noch sehr volkssprachlich (verba …vulgaria), d. h. in gewisser Weise archaisch (cf. Mazzocco 1993: 52), aber es gibt für ihn keinen Zweifel, daß es sich dabei dennoch um Latein handelte. Quae verba, licet tunc vulgaria ut illius aetatis essent, tamen litteralem gerere formam nemo negaverit. (Guarino, De ling. lat. diff. 14; 2008: 175) Das sich daran anschließende zweite Stadium der lateinischen Sprache beginnt mit der Herrschaft des Königs Latinus (ab Latino rege), des Sohns des Faunus. In dieser Epoche sei das Latein, was seine Konstruktionen betreffe, immer noch recht einfach gewesen, um nicht zu sagen syntaktisch rudimentär, so die Inter‐ pretation Guarinos, der diese Art zu sprechen mit dem Stottern eines Mädchens vergleicht (cf. absolute constructa, ut balbutiens adhuc puella). Immerhin habe die Sprache sich bereits ein wenig zu der zuvor noch „rauheren“ Epoche ver‐ bessert (priore illa asperiore). Er verortet dabei die Abfassung der Zwölftafelge‐ setze in jener Zeit, als auch die Ansprache von Meneneus Agrippa an die römi‐ sche plebs auf dem mons sacer (cf. ibid., De ling. lat. diff. 13-16; 2008: 175). 578 Was den Charakter der Sprache anbelangt, so fasst er zusammen, daß es sich auch in diesem Stadium um Latein (litteralem) handelt, wenn auch eher ein sol‐ ches des usus bzw. der consuetudine und nicht der grammatischen Regelhaftig‐ keit (non grammatice bzw. (non) ratione et artifico). Hos grammaticam idest litteralem, non grammatice, locutos contenderim, ut qui con‐ suetudine magis quam ratione et artificio ducti eorum sensa enuntiarent. (Guarino, De ling. lat. diff. 17; 2008: 175) Das darauffolgende dritte Sprachstadium ist dann die Epoche, in der das L