Pilgern zu Wasser und zu Lande
0425
2022
978-3-8233-9541-6
978-3-8233-8541-7
Gunter Narr Verlag
Hartmut Kühne
Christian Popp
10.24053/9783823395416
CC BY 4.0https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Die grenzenlose Freiheit des Unterwegs-Seins war kein historischer Normalzustand. Die Infrastruktur der Land- und Wasserwege stellte die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pilger vor zahlreiche Herausforderungen. Der Band, der die Vorträge auf den Jahrestagungen der Deutschen Sankt-Jakobus-Gesellschaft 2019 und 2020 verschriftlicht, nimmt die mitteleuropäischen Brückenbauten als infrastrukturelle Großprojekte des Mittelalters im Kontext des Wallfahrtswesens sowie das Phänomen von Schiffspilgerfahrten mit ihren besonderen Bedingungen in den Blick und vergleicht Vor- und Nachteile von Land- und Wasserwegen. Dabei werden nicht allein die großen europäischen Fernwallfahrten thematisiert, denn einige der Beiträge widmen sich auch regionalen Pilgerzielen in Nord- und Mitteldeutschland, insbesondere Erfurt, Halberstadt und dem Birgittenkult mit verschiedenen regionalen Ablegern in Norddeutschland.
<?page no="0"?> - PILGERN ZU WASSER UND ZU LANDE Hartmut Kühne, Christian Popp (Hrsg.) <?page no="1"?> Pilgern zu Wasser und zu Lande <?page no="2"?> Jakobus-Studien 22 im Auftrag der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft herausgegeben von Klaus Herbers und Robert Plötz im Auftrag der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft herausgegeben von Klaus Herbers und Peter Rückert 24 <?page no="3"?> Hartmut Kühne, Christian Popp (Hrsg.) Pilgern zu Wasser und zu Lande <?page no="4"?> DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783823395416 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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WRM 719) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 I. 15 79 II. 97 119 181 207 215 239 Inhalt Hartmut Kühne und Christian Popp Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brücken und Wege Martin Bauch und Christian Forster Seelenheil und Infrastruktur. Zum Zusammenhang von Brückenbau, Ablässen und Extremereignissen im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Mötsch Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schiffspilgerfahrten, Land-und Wasserwege im Vergleich Ruth Schilling Schiffe als soziale Räume. Hierarchie- und Körpervorstellungen auf spätmittelalterlichen Pilgerreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Jahnke Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem. Ein kurzer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Gereon Beuckers Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? Bemerkungen anhand des Kleinen und des Großen Ursula-Zyklus aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Voigt Der günstigste Weg von Rom nach Norddeutschland. Ein Beispiel für die Bedeutung der Rheinschifffahrt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts . . . . . . . Arend Mindermann Die Romreise des Albert von Stade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas T. Müller und Hartmut Kühne Wunder an der Werra. Die Wallfahrtskapelle auf dem Hülfensberg . . . . . . <?page no="6"?> III. 265 303 349 395 467 479 485 Regionales Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland. Von der Pilgerin zum Pilgerziel Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? Sachkultur und Quellenbefunde im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tim Erthel Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung Rainer Müller und Martin Sladeczek Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel Resúmenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Einleitung Hartmut Kühne und Christian Popp In den beiden zurückliegenden Jahren, in denen die in diesem Band vereinigten Beiträge verfasst wurden, erlebten die westlichen Gesellschaften nach Jahr‐ zehnten einer scheinbar grenzenlosen Beschleunigung des Reisens und der Kommunikation überhaupt, dass diese für unumkehrbar gehaltenen Entwick‐ lungen reversibel sind: Durch die Corona-Pandemie kehrten innereuropäische Grenzen zurück und wurden sogar zeitweise wieder unpassierbar, der boo‐ mende Flugverkehr erlebt einen dramatischen Rückgang, statt in die Ferne zu reisen blieben viele Deutsche ganz zu Hause oder machten nur noch im eigenen Land Urlaub. Auch die Pilgerfahrt nach Santiago, die mit der Öffnung der Heiligen Pforte am 31. Dezember 2020 für das gegenwärtige Heilige Jahr einen neuen Impuls erhalten sollte, verlor zeitweise ihre Attraktivität. Diese Erfah‐ rungen erinnern daran, dass die grenzenlose Freiheit des Unterwegs-Seins kein historischer Normalzustand ist. Zumindest bis zum Beginn der großen techni‐ schen Innovationen in der Verkehrsinfrastruktur im 19. Jahrhundert unterlagen die Möglichkeiten des Reisens und zum Besuch fremder Länder Schwierigkeiten, die sich aus den geographischen Gegebenheiten und der physischen Begrenzt‐ heit des Menschen ergaben. Mit solchen Schwierigkeiten, aber auch mit den Chancen, die sich für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pilgerfahrten aus der Verkehrsinfrastruktur ‚zu Wasser und zu Lande‘ ergaben, befassten sich die beiden Jahrestagungen der Deutschen Sankt-Jakobus-Gesellschaft, die 2019 in Erfurt und 2020 in Stade stattfanden. Die Veranstaltung in der Thüringer Landeshauptstadt an der Gera stand unter dem Thema „Pilgern: Wasser - Wege - Brücken“, während die Zusammenkunft im Elbe-Weser-Dreieck nahe der Unterelbe besonders den „Schiffspilgerfahrten“ gewidmet war. Man könnte die thematische Gemeinsamkeit beider Tagungen mit dem Motto: „Pilgern mit und gegen das Wasser“ umschreiben. Allerdings war diese thematische Verortung in einen weiteren Kontext eingebunden, denn zur ‚Architektur‘ der beiden Jahrestagungen und damit auch dieses Bandes gehörte, dass ihre Thematik in ein größeres Forschungs- und Ausstellungsvorhaben eingewoben <?page no="8"?> 1 Eine erste, vorläufige Auswertung erfolgte durch Hartmut K Ü H N E / Jörg A N S O R G E , Die Pilgerzeichen aus dem Hafen von Stade. Ein Fenster in die unbekannte Wallfahrtsge‐ schichte des Landes zwischen Weser und Elbe, in: Stader Jahrbuch 106 (2016), S. 11-43. war, das durch einen spektakulären archäologischen Fund in Stade angestoßen wurde. Im Jahre 2013 wurde die Hudebrücke am alten Stader Hansehafen erneuert. Durch die nötige Trockenlegung des Hafenbeckens ergab sich die Möglichkeit, den dort angesammelten Schlick zu entfernen und mit ihm all jene Gegenstände archäologisch zu bergen, die in den vergangenen 800 Jahren dort zufällig hineingefallen waren, vor allem aber als Abfall entsorgt wurden - Häfen waren nämlich beliebte Mülldeponien in vormoderner Zeit. Eine Gruppe sehr enga‐ gierter Ehrenamtlicher, die AG Stadtarchäologie Stade, unterzog sich der Mühe, die gut 100 Kubikmeter Aushub aus dem Hafenbecken in einer dreijährigen Kampagne zu schlämmen. Unter den hunderttausenden Fundstücken fanden sich auch mehr als 200 mittelalterliche Pilgerzeichen. Es handelt sich um den mit Abstand größten Fundkomplex von Pilgerzeichen, der bisher in Deutschland geborgen wurde und dessen Auswertung einen einzigartigen Blick auf die Wallfahrtslandschaft Norddeutschlands bietet, d. h. jene Pilgerziele vor Augen stellt, die von den Bewohnern Stades im ausgehenden Mittelalter aufgesucht wurden. 1 Dass gerade diese Objekte unter den vielen Funden vor Ort auf großes Interesse stießen, war nicht zuletzt jenem Engagement geschuldet, mit dem die Region Norddeutschland in der Deutschen Jakobusgesellschaft seit dem Beginn des Jahrtausends vergessene Orte und Wege wieder in das öffentliche Gespräch brachte. Jedenfalls führte die Vorstellung des Pilgerzeichenfundes durch einen sehr gut besuchten Vortrag im Schwedenspeicher Stade im Oktober 2015 zu der Idee, das bisher wissenschaftlich kaum erforschte Wallfahrtswesen in der Region zwischen Elbe und Weser in den Blick zu nehmen und dabei auch die Fernpilgerfahrten aus dieser Region heraus zu thematisieren. Die im Herbst 2015 angestoßenen Überlegungen mündeten schließlich in ein an den Museen Stade und Lüneburg organisatorisch angebundenes Forschungsprojekt, das seit Sommer 2018 von Hartmut Kühne wissenschaftlich bearbeitet und geleitet wurde. Da bereits nach knapp zwei Jahren auf der Grundlage der erwarteten Forschungsergebnisse eine Sonderausstellung konzipiert und der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte, war es notwendig, möglichst viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen, die bereit waren, ältere Forschungsarbeiten oder auch neue Recherchen in das Vorhaben mit einzubringen. Daher fand im April 2019 eine dreitägige Tagung in Lüneburg statt, auf der zahlreiche Aspekte der Wallfahrtsforschung aus norddeutscher Perspektive diskutiert wurden. Es war von vornherein klar, dass nicht alle in Lüneburg gehaltenen Referate Eingang 8 Hartmut Kühne und Christian Popp <?page no="9"?> 2 Hartmut K Ü H N E (Bearb.), Pilgerspuren. Wege in den Himmel / Von Lüneburg an das Ende der Welt. Doppelausstellung im Museum Lüneburg und den Museen Stade, 26. Juli 2020-16. Mai 2021, Petersberg 2020. in den geplanten Begleit- und Katalogband der Ausstellung finden würden. 2 Einige der Referate tauchen dort nur in Form kurzer Überblickstexte oder als Katalogartikel auf, einige flossen als inhaltliche Impulse ein. Daher ergab sich die Chance, einige Referate für die beiden Jahrestagungen 2019 und 2020 gewissermaßen nachzunutzen und den Beitragenden so die Möglichkeit zu geben, ihre kürzeren Lüneburger Referate zu umfänglicheren Beiträgen auszu‐ bauen. Diese dichte inhaltliche Verklammerung der Lüneburger Tagung bzw. des Begleitbandes zur Doppelausstellung in Stade und Lüneburg mit den beiden Jahrestagungen betrifft freilich nicht alle in dem vorliegenden Band enthaltenen Beiträge, sondern besonders jene von E LIZA B E TH A N D E R S E N und M AI -B R ITT W I E C HMAN N , C A R S T E N J AHN K E , A R E N D M IN D E R MAN N , T H O MA S M ÜL L E R , R E NAT E S AMA R IT E R und C H R I S TIAN P O P P sowie J ÖR G V O I G T verfassten Texte. Aber auch darüber hinaus hat das Ausstellungsthema besonders die Jahrestagung 2020 in Stade bestimmt. Die Jakobus-Gesellschaft wurde von der Stadt Stade besonders herzlich und zuvorkommend empfangen und durfte trotz der schwierigen Bedingungen der Pandemie im stimmungsvollen historischen Ratssaal tagen. Zugleich wurden allen an der Tagung Teilnehmenden Führungen durch die Doppelausstellung im Museum Lüneburg und im Schwedenspeicher am Stader Hansehafen angeboten. Das mit den Ausstellungen erschlossene thematische Feld spiegelt sich auch in weiteren Beiträgen dieses Tagungsbandes wider. Bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge wurde rasch deutlich, dass sich zwischen den in Erfurt und den in Stade vorgetragenen Überlegungen zahlreiche Schnittstellen ergaben, so dass die inhaltliche Struktur dieses Bandes nicht der Tagungshistorie, sondern einer sachlichen Ordnung folgt. Im ersten Teil unseres Buches sind jene Beiträge versammelt, die sich mit dem Thema „Brücken und Wege“ befassen. Der Leipziger Mittelalterhistoriker M A R TIN B A U C H und der Leipziger Kunsthistoriker C H R I S TIAN F O R S T E R , die auf der Tagung mit zwei einzelnen Beiträgen aufwarteten, haben ihre Überlegungen zum mitteleuropäischen Brückenbau vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, insbe‐ sondere zu seiner Motivation und der Rolle von Pilgern zur Begründung solcher infrastrukturellen Großprojekte, in einer umfangreichen Untersuchung zusam‐ mengeschlossen. Der Meininger Historiker und Archivar J O HAN N E S M ÖT S C H ergänzt dieses Bild durch einen Blick auf die um 1500 boomende Wallfahrt von Grimmenthal im südwestlichen Zipfel Thüringens, aus deren Einnahmen auch Brückenbauten finanziert wurden. 9 Einleitung <?page no="10"?> 3 Lars A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken och vallfart. Medeltida pilgrimskultur i Skandinavien (Lund studies in medieval archaeology 7), Stockholm 1989. 4 Christian K R Ö T Z L , Pilger, Mirakel und Alltag. Formen des Verhaltens im skandinavi‐ schen Mittelalter (Studia historica 46), Helsinki 1994. Der zweite Teil des Bandes thematisiert Schiffspilgerfahrten und vergleicht Vor- und Nachteile von Land- und Wasserwegen für mittelalterliche Pilger, denn die Schifffahrt bot zwar meist den schnellsten und manchmal, wie im Falle des Heiligen Landes, zeitweise auch den einzigen Transportweg für Reisende und damit auch für Pilger, verlangte aber sowohl dem Geldbeutel als auch der Anpassungsfähigkeit der Reisenden an die ungewohnten Lebens‐ verhältnisse auf den Schiffen einiges ab. Die Historikerin R U TH S C HIL LIN G vom Schifffahrtsmuseum Bremerhaven bietet zunächst einen Überblick über die Bedingungen, unter denen maritime Schiffspilgerfahrten im Mittelalter stattfanden, und fragt danach, wie die besonderen Bedingungen des zeitweiligen Lebens auf einem Schiffe sich auf das Zusammenleben verschiedener sozialer Gruppen auswirkten. Der in Kopenhagen lehrende Mediävist C A S T E N J AHN K E bietet einen kurzen Überblick über skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem, die vor allem über den Seeweg führten, und ergänzt damit die älteren Monographien von L A R S A N D E R S S O N3 und C H R I S TIAN K RÖT Z L4 . Der Kieler Kunsthistoriker K LAU S G E R E O N B E U C K E R S stellt anhand von zwei Kölner Bilderzyklen des 15. Jahrhunderts die heilige Ursula von Köln als ikonographischen Idealtypus einer Schiffspilgerin vor, die für ihre - legendäre - Romreise den Weg auf dem Rhein genutzt haben soll. Denselben Weg nutzte in der Mitte des 15. Jahrhunderts auch eine Lüneburger Gesandtschaft auf dem Rückweg aus der Ewigen Stadt, mit der sich der niedersächsische, freilich aktuell in Rom am Deutschen Historischen Institut arbeitende Archivar und Historiker J ÖR G V O I G T befasst. Einem der bekanntesten mittelalterlichen Romreisenden aus Norddeutschland, dem Abt Albert von Stade, der in der Mitte des 13. Jahr‐ hunderts seine Reiserfahrungen in einem detaillierten Reisebericht niederlegte, widmet sich der Stader Historiker A R E N D M IN D E R MAN N in einem Beitrag, der zugleich eine neue Hypothese über die Gründe für den weit nach Frankreich ausgreifenden Hinweg präsentiert. Der Mühlhäuser Historiker und Museums‐ leiter T H O MA S T. M ÜL L E R stellt schließlich mit dem Hülfensberg im Eichsfeld einen Wallfahrtsort vor, der auch aus den norddeutschen Hansestädten stark frequentiert wurde, wobei für diesen Besuch wohl auch der (Handels-)Verkehr zu Schiff auf Weser und Werra eine Rolle spielte. Im dritten Teil wurden schließlich vier Beiträge mit einer regionalen Veror‐ tung an den beiden Veranstaltungsorten zusammengefasst. Aus einer Führung über den Erfurter Domberg im Rahmen der Jahrestagung 2019 durch den 10 Hartmut Kühne und Christian Popp <?page no="11"?> Kunsthistoriker und Bauforscher R AIN E R M ÜL L E R und den Historiker M A R TIN S LAD E Z C E K (beide Erfurt) ging eine umfangreiche Untersuchung zur Kult-, Bau- und Ausstattungsgeschichte des Erfurter Domes und des benachbarten Severistiftes hervor. Im Zentrum ihres Beitrags steht die Frage nach der Präsenz von mittelalterlichen Pilgern an beiden Kirchen, von denen zwar in der Literatur häufig verallgemeinernd die Rede ist, die aber bisher kaum in Quellen fassbar sind. Der Erfurter Historiker T IM E R TH E L stellte auf der Jahrestagung die Überlie‐ ferung zu einer bedeutenden Jakobus-Reliquie am Ort ihrer einstigen Verehrung in der Kirche des Erfurter Dominikanerklosters vor; er modifiziert und erweitert zugleich das bisher über den Kult vor Ort Bekannte. Neben Erfurt nimmt der Band die Bischofsstadt Halberstadt in den Blick. Die Archäologin R E NAT E S AMA ‐ R IT E R diskutiert mit den Herausgebern Deutung und Zuweisung mehrerer Zei‐ chen, die als archäologische Funde sowie als Abgüsse in Glocken und Tauffünten von der südlichen Ostseeküste bis in den Harzraum überliefert sind. Einiges deutet darauf hin, diese Sachzeugnisse als Pilgerzeichen zu interpretieren und dem Halberstädter Dom und der benachbarten Liebfrauenkirche zuzuschreiben. Last, but not least beschäftigen sich die Germanistinnen E LIZA B E TH A N D E R S E N und M AI -B R ITT W I E C HMAN N mit der Pilgerin Birgitta von Schweden, die kurz nach ihrem Tod selbst zur Bepilgerten wurde. Der Beitrag untersucht sowohl die Rezeption der heiligen Birgitta als Wallfahrerin, besonders in den bildlichen Darstellungen, als auch die wichtigsten Birgitta-Pilgerziele im norddeutschen Raum. Das auf der Stader Jahrestagung 2020 gehaltene Referat von Eva Heuer zur Heiliglandfahrt des Kurfürsten Friedrich des Weisen und des Johannes von Lobkowitz und Hassenstein von 1493 ist im vorliegenden Band deshalb nicht verschriftlicht, weil das Thema im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Jakobusgesellschaft 2023 vertieft und in einem größeren Kontext behandelt werden soll. Diese Beiträge sollen dann ebenfalls in den Jakobus-Studien erscheinen. Damit drücken die Herausgeber zugleich ihre Hoffnung aus, dass dieser Reihe, die sich als wichtigste Publikationsplattform für interdisziplinäre Forschungen zum Themenbereich Wallfahrt und Pilgern etabliert hat, noch zahlreiche Bände beschieden sein mögen und auch künftig derart fruchtbare Kooperationen zustande kommen mögen, wie es im Kontext der Stader Jahres‐ tagung der Fall gewesen ist. Allen Autorinnen und Autoren danken wir für ihre Bereitschaft, ihre Beiträge zu verschriftlichen und sie uns für diesen Band zur Verfügung zu stellen. Frau Anna Weissmüller ist herzlich für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Registers zu danken und Herrn Manuel Santos Noya, dem Mitglied unseres wissenschaftlichen Beirats, für die Übersetzung der Resúmenes in die spanische 11 Einleitung <?page no="12"?> Sprache. Dem Narr-Verlag Tübingen danken wir für die gute Zusammenarbeit bei der Herstellung des Bandes und der Deutschen Sankt-Jakobus-Gesellschaft für die Unterstützung der Publikation durch die Übernahme des Druckkosten‐ zuschusses. Berlin / Göttingen im September 2021 12 Hartmut Kühne und Christian Popp <?page no="13"?> I. Brücken und Wege <?page no="15"?> 1 Urkundenbuch der Stadt Leipzig, Bd. 1: 1021-1485, hg. von Carl Friedrich V O N P O ‐ S E R N -K L E T T (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae II, 8), Leipzig 1868, Nr. 181, S. 125: Viarum publicarum ac pontium et passagiorum reformationem …, ne peregrini pauperes et debiles ceterique pro communi bono et utilitate hominum ambulantes et vagantes in ipsis viis deficant corruant et molestentur. 2 UB Leipzig 1 (wie Anm. 1), S. 125: cumque saepius contingit fieri inundationes aquarum, quae impediunt accessum et recessum ipsius oppidi, et pluries in ipsa aqua tam homines et animalia ac res aliae diversae perierunt. 3 UB Leipzig 1 (wie Anm. 1), S. 125: Unde dicti proconsules consules et opidani dicti opidi studuerunt de oportuno remedio providere, magnum et sumtuosum aedificium inceperunt ad faciendum passagia pontes et fossata. Seelenheil und Infrastruktur Zum Zusammenhang von Brückenbau, Ablässen und Extremereignissen im Spätmittelalter Martin Bauch und Christian Forster Am 24. Juni 1434 erließ Bischof Johann von Merseburg einen Ablass, der die Almosensammlung für Brücken, Stege und Kanäle in der weitverzweigten Flussaue der Elster und der Pleiße westlich von Leipzig zum guten Werk erklärte. Wer für diese Infrastrukturmaßnahmen spendete und so Pilgern und allen anderen, die sich auf die Reise begaben, das Leben erleichterte sowie das bonum commune beförderte, konnte einen Ablass von einem Jahr und einer Karene gewinnen 1 . Die Arbeiten, die von der Stadt Leipzig koordiniert wurden, seien darüber hinaus aufgrund der jüngsten Überschwemmungen in der Aue der Weißen Elster notwendig geworden, die Schäden an Menschen, Tieren und Sachen verursacht habe 2 , wie der Leipziger Rat mitteilte. So habe die Stadt einen prächtigen und großen Komplex von Brücken und Gräben ins Werk gesetzt 3 , der eine gefahrlose Überquerung der Elsteraue ermöglichen solle. Mutmaßlich beziehen sich die Aussagen dieser Ablassurkunde auf Wasserin‐ frastrukturen wie Brücken, Stege und Dämme, die das Überschwemmungsland der Elsteraue zwischen den Dörfern Lindenau und Plagwitz sowie der eigent‐ lichen Stadt Leipzig, dem heutigen Innenstadtbereich innerhalb des Ringes, <?page no="16"?> 4 Eine präzise Rekonstruktion der Querung der Wasserlandschaft unmittelbar westlich der Leipziger Innenstadt ist selbst der instruktiven, detailreichen Stadtgeschichte von 2015 nicht zu entnehmen. Allerdings wird nach Ansicht der Forschung auf eine (vermutlich hölzerne, nicht explizit benannte) Elsterbrücke bei Lindenau bereits im Stadtbrief von 1156 / 70 verwiesen, vgl. Enno B Ü N Z , Die Stadt und ihre Umgebung um 1300, in: Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, hg. von Enno B Ü N Z , Leipzig 2015, S. 150-155, hier u. a. S. 155 zum Stadtbrief, UB Leipzig 1 (wie Anm. 1), Nr. 2, S. 1 f., hier S. 2: in medio Halestrae, mit Bezug auf die Weichbildgrenze am Elsterfluss. 5 Vgl. dazu Susanne S C H Ö T Z , Leipzig im Schnittpunkt von via regia und via imperii: Über Bedeutung und Akteure des Messehandels, in: Via Regia. 800 Jahre Bewegung und Be‐ gegnung. Katalog zur 3. Sächsischen Landesausstellung, hg. von Roland E N K E / Bettina P R O B S T , Dresden 2011, S. 86-91. 6 Sofern man die Ablässe vom Anfang des 14. Jahrhunderts, die Gläubige in St. Thomas und St. Nikolai erlangen konnten, außen vor lässt. Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahr‐ hunderts entstand eine lokale Wallfahrt nach Eicha bei Naunhof (etwa 15 km östlich von Leipzig), um 1500 dann eine Wallfahrt nach einer Marienerscheinung in Rötha (etwa 20 km südlich), vgl. Enno B Ü N Z , Formen der Laienfrömmigkeit, in: Geschichte der Stadt Leipzig 1 (wie Anm. 4), S. 498-520, hier S. 500 f., 512-514. Bereits in den 1460er Jahren ist eine Wallfahrt zur Heilig-Kreuz-Kapelle in der Ortswüstung Ölschwitz unmittelbar vor den Toren Leipzigs bezeugt, vgl. Hartmut K Ü H N E , Frömmigkeit vor und nach der Re‐ formation: Die Wallfahrt zur Heilig-Kreuz-Kapelle und der Leipziger Wunderbrunnen, in: Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Enno B Ü N Z / Armin K O H N L E (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 6), Leipzig 2013, S. 63-85, bes. S. 65-73; vgl. auch Sammelablass in der Kreuzkapelle von Ölschwitz bei Leipzig, in: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland - Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Thomas T. M Ü L L E R , Petersberg 2013, S. 352 f. 7 UB Leipzig 1 (wie Anm. 1), Nr. 181, S. 125: Ipsum opidum … studio privilegiato sit ornatum pluribus sacrae theologiae professoribus et magistris et doctoribus utriusque iuris nec non in medicinis atque in singulis facultatibus graduatis alma universitate scolarium decoratum, etiam inibi copiosa multitudo mercatorum. querten 4 . Sie waren aufgrund der Wegführung der via regia, die in Leipzig die via imperii kreuzte, von überregionaler Bedeutung 5 . Durchziehende Pilger ge‐ hörten selbstverständlich zu den Nutzern beider mittelalterlicher Fernstraßen, in Leipzig selbst hatten sie jedoch Anfang des 15. Jahrhunderts kein hinreichend attraktives Ziel 6 . Doch schon die Ablassurkunde selbst macht klar, dass auch der durch die junge Universität verursachte Reiseverkehr, mehr aber noch die Tätigkeit der zahlreichen Händler die Errichtung neuer Brückenbauten über Luppe, Elster und Pleiße rechtfertigte 7 . Warum es trotzdem zwingend war, im Ablass die Bedeutung der Wallfahrer überzubetonen, wird später noch erläutert werden. Die als häufig (saepius) charakterisierten Hochwasserereignisse, die Men‐ schenleben, Tiere und Sachwerte mit sich gerissen hatten, sollten hingegen nicht 16 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="17"?> 8 Vgl. Curt W E I K I N N , Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850. Hydrographie, Teil 1: Zeitwende - 1500 (Quellensammlung zur Hydrographie und Meteorologie 1), Berlin 1958, S. 335, 339-341. 9 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 341-343. 10 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 343; ausführlicher dazu Rudolf B R ÁZ D I L / Oldrich K O T Y Z A / Petr D O B R O V O L N Ý , July 1432 and August 2002 - two millennial floods in Bohemia? , in: Hydrological Sciences Journal 51 / 5 (2006), S. 848-863, DOI: 10.1623 / hysj.51.5.848. 11 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 347-351. 12 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 353 f.; der Wiederaufbau der Muldebrücke in Grimma dauerte mutmaßlich bis 1438, als der Rat der Stadt ein Darlehen zu diesem Zweck aufnahm, vgl. Urkundenbuch der Stadt Grimma und des Klosters Nimbschen, hg. von Ludwig S C H M I D T (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae II, 15), Leipzig 1895, S. 67 f., Nr. 99. vorschnell als Topoi abgetan werden: Tatsächlich sind in Mitteldeutschland von Elbe, Saale, Mulde und Pleiße im Sommer 1432 große Hochwasser mit Zerstö‐ rungen von Wohnhäusern und Infrastruktur wie der Elbbrücken in Meißen und Dresden und der Mühlen und der Brücke in Grimma überliefert 8 . Auch Spree und Neiße waren im selben Zeitraum betroffen und richteten Zerstörungen in Bautzen und Görlitz an 9 ; ebenso verwüstete ein Extremhochwasser im Juli 1432 Böhmen 10 . Im Sommer 1433 folgten erneut sehr zerstörerische Hochwasser in Sachsen und Thüringen bis hin zur Altmark 11 . Und noch am Tag der Ablass‐ vergabe, am 24. Juni 1434, wurde Meißen erneut von einem Elbhochwasser heimgesucht, wie wenig später auch Grimma durch eine Muldenflut und Görlitz durch eine Überschwemmung der Neiße 12 . Auch wenn die Weiße Elster, Pleiße und Luppe in den chronikalischen Berichten nie explizit genannt wurden, so ist es doch nur plausibel (und in der Ablassurkunde klar benannt), dass auch in der Flussaue westlich von Leipzig die drei Hochwassersommer in Folge ihre zerstörerischen Spuren hinterlassen hatten. Unklar ist, in welchem Maß bereits zuvor Brückenbauten bestanden, die von den Fluten hätten zerstört werden können. Die großflächige Verteilung der Wasserströme in der Elsteraue westlich der Stadtmauern sorgte im Normalfall dafür, dass Luppe, Elster und Pleiße für Reisende leicht zu durchqueren waren; Belege für hölzerne und steinerne Brücken vor dem 15. Jahrhundert fehlen. Nicht zuletzt könnten die andauernden und wiederkehrenden Hochwasserlagen in den frühen 1430er Jahren überhaupt erst den Gedanken haben reifen lassen, dass an dieser Stelle der Via Regia komplexe Infrastrukturen wie Brücken und (erhöhte) Wegführungen notwendig sein könnten. Zur Finanzierung dieser bis 1434 konzipierten und begonnenen Auenquerung wurde mit einem Brü‐ ckenbauablass ein sehr spezifisches Instrument gewählt, das der Merseburger Bischof auf Bitten des Leipziger Stadtrats zur Verfügung stellte. Leider erlaubt 17 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="18"?> 13 Die Karte beruht hauptsächlich auf den Angaben bei Erich M A S C H K E , Die Brücke im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 224 (1977), S. 265-292; Monika E S C H E R -A P S N E R / Frank G. H I R S C H M A N N , Die urbanen Zentren des hohen und späteren die Überlieferung keinen Einblick, ob das Brückenbauprojekt realisiert wurde, und wenn ja, wann es als fertiggestellt gelten konnte. Zudem haben wir keinen Einblick in seine technische Ausgestaltung in Holz oder Stein, auch wenn es in der Urkunde als beachtlich (magnum et sumtuosum aedificium) charakterisiert wird. An dem relativ breit erläuterten Beispiel des Brückenbauablasses von 1434 für Leipzig zeigt sich eine bemerkenswerte Gemengelage von Infrastruktur‐ maßnahmen (Brückenbau), Anstrengungen zur Steigerung des Seelenheils (Ablässe und Wallfahrt) sowie natürlichen Extremereignissen (Hochwasser), die Infrastrukturmaßnahmen - und möglicherweise auch die göttliche Gnade - umso nötiger erscheinen ließen. Aus diesem Tableau lassen sich folgende Untersuchungsschritte des Beitrags ableiten: In einem ersten Schritt ist die keineswegs banale Frage zu erörtern, wie verbreitet Brücken aus Holz und Stein im späten Mittelalter im Reich nördlich der Alpen waren, welche technischen Herausforderungen ihre Erbauer bewältigen mussten und auf welche Experten sie zurückgreifen konnten. Dann soll auf die Rolle der Ablässe bei Errichtung und Instandhaltung von Brücken eingegangen werden; mit Fokus auf der Förderung von Pilgern und Wallfahrten als theologisch legitimen Motive für die Ablassvergabe. In einem dritten Abschnitt ist die Gegenprobe zu versuchen: Waren gar nicht die vorgeblich geförderten Wallfahrten entscheidend für diesen Infrastrukturaufbau, sondern setzten vielmehr natürliche Extremereig‐ nisse den Takt für die Ausweitung und qualitative Weiterentwicklung von Brückenbauten? An drei Fallbeispielen aus dem 14. Jahrhundert - der Prager Karlsbrücke, der Balduinbrücke in Koblenz und der Rapperswiler Holzbrücke über den Zürichsee - lassen sich alle diese Fragen abschließend noch einmal konkret untersuchen. I. Brückenbau als Herausforderung: Überblick - Technik - Experten I.1. Zwei Karten zur Streuung von Brückenbauwerken im hohen Mittelalter Die beiliegende Karte (Abb. 1) zeigt - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die im 11. und 12. Jahrhundert im südlichen und westlichen Mitteleuropa bestehenden Brücken aus Stein, aus Holz und solche, bei denen das Baumaterial nicht über‐ liefert ist, sowie die damals noch nutzbaren Brücken der römischen Antike 13 . 18 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="19"?> Mittelalters (Trierer Historische Forschungen 50), Trier 2005, Bd. 1, S. 84-89; Frank G. H I R S C H M A N N , Brückenbauten des 12. Jahrhunderts - ad comunem utilitatem, in: Cam‐ pana pulsante convocati. Festschrift anläßlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, hg. von Frank G. H I R S C H M A N N , Trier 2005, S. 223-255; Frank G. H I R S C H ‐ M A N N , Die Anfänge des Städtewesens in Mitteleuropa (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 59), Stuttgart 2012, Bd. 3, S. 1237-1239. 14 Continuatio Admontensis, hg. von Wilhelm W A T T E N B A C H , in: MGH SS 9, Hannover 1851, S. 580-593, hier S. 580 (ad a. 1144: Codex A, ad a. 1143: Codex B); Urkundenbuch der Stadt Erfurt, Theil 1, hg. von Carl B E Y E R (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 23), Halle 1889, S. 15 f., Nr. 38 (Holzbrücke 1156) und S. 112, Nr. 189 (1265: pontis, qui nunc est ligneus, pontem lapideum preparavi); Cronica S. Petri Erfordensis moderna, hg. von Oswald H O L D E R -E G G E R , in: MGH SS 30 / 1, Hannover 1896, S. 354-472, hier S. 372 (1175: ex parte igne conflagrata est). 15 Gustav H E R T Z B E R G , Geschichte der Stadt Halle an der Saale im Mittelalter, Halle 1889, S. 85; H I R S C H M A N N , Brückenbauten (wie Anm. 13), S. 251, Anm. 239, bringt diesbezüglich das Beispiel Angers. Verwiesen sei auch auf die päpstliche Ablassurkunde von 1391, die zur Vollendung der steinernen Brücke in Hameln beitragen sollte, eines Bauwerks, das die Weser mit einer hölzernen Struktur über 13 Steinpfeilern überwand, vgl. Urkundenbuch des Stiftes und der Stadt Hameln, Bd. 1: Bis zum Jahre 1407, hg. von Erich Um eine steinerne Brücke zu realisieren, war der technische und finanzielle Aufwand ungleich größer als für eine Konstruktion, die ganz aus Holz bestand, daher ist die Unterscheidung nach Werkstoffen, die in der Übersichtsliteratur nicht immer getroffen wird, wichtig. Bei den Brücken dieser Epoche, deren Baumaterial nicht überliefert ist und die in der Karte als eigene Kategorie geführt werden, dürfte es sich mehrheitlich um solche aus Holz handeln; zweifellos wären darüber hinaus Holzbrücken in größerer Zahl nachzutragen. Werden in den schriftlichen Quellen Angaben zum Material gemacht, sind diese nicht immer verlässlich und unmissverständlich. Wenn der Fortschreiber der Admonter Annalen zum Jahre 1144 von der Erfurter Krämerbrücke als pons lapideus spricht, so deshalb, weil er das Bauwerk nicht aus eigener Anschauung kannte. Die wiederholte Zerstörung der Krämerbrücke durch Brand im 12. Jahr‐ hundert macht deutlich, dass es sich um eine Holzkonstruktion gehandelt haben muss. Schließlich wurde 1265 der Entschluss, das hölzerne Bauwerk in Stein neu zu errichten, schriftlich festgehalten 14 . Dank der guten Quellenlage ist die Materialchronologie der Erfurter Krämerbrücke seit langem bekannt. Andern‐ orts ist die Überlieferungslage deutlich schlechter. Ein schriftlich bezeugter pons lapideus kann auch eine Steinpfeilerbrücke bezeichnen, deren Fahrbahn über einem Sprengwerk aus Holz errichtet war. So ist mangels bildlicher oder sachlicher Überlieferung nicht zu entscheiden, ob die als steinern apostrophierte Brücke über die Saale in Halle, die die Bürger der Stadt vor 1172 zu bauen übereinkamen, von Anfang an auch steinerne Bögen besaß, denn solche werden erst 1503 erwähnt 15 . Das Kartensymbol steht also unter Vorbehalt. 19 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="20"?> F I N K , Hannover 1887, Nr. 695, S. 488 f.; Rudolf F E I G E , Heimatchronik der Stadt Hameln und des Landkreises Hameln-Pyrmont, Köln 1961, S. 19. Abb. 1: Brücken im südlichen Mitteleuropa bis 1200 20 Martin Bauch und Christian Forster Abb. 1: Brücken im südlichen Mitteleuropa bis 1200 20 Martin Bauch und Christian Forster F I N K , Hannover 1887, Nr. 695, S. 488 f.; Rudolf F E I G E , Heimatchronik der Stadt Hameln und des Landkreises Hameln-Pyrmont, Köln 1961, S. 19. Abb. 1: Brücken im südlichen Mitteleuropa bis 1200 20 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="21"?> 21 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="22"?> Römerbrücken 1 Besançon 2 Verdun 3 Metz 4 Maastricht 5 Trier 6 Konz 7 (Saarbrücken-) St. Arnual 8 Mainz Steinbogenbrücken 9 Dole 10 Verdun 11 Dinant 12 Lüttich 13 Münster 14 Hildesheim 15 Bingen 16 Würzburg 17 Regensburg 18 Dresden 19 Prag Steinpfeilerbrücken 20 Huy 21 Visé 22 Hammelburg 23 Erfurt 24 Halle (Saale) Holzjochbrücken 25 Pont-St-Vincent 26 Limburg (Lahn) 27 (Essen-)Werden 28 Vacha 29 Torgau 30 Bamberg 31 Ochsenfurt (1133) 32 Freiburg (Breisgau) 33 Rheinfelden (1198) 34 Zürich 35 Konstanz 36 Donauwörth 37 Eichstätt 38 Innsbruck 39 München 40 Passau 41 Salzburg 42 Wels Brücken aus unbekanntem Material 43 Saint-Mihiel 44 Pont-à-Mousson 45 Bouxières-aux-Dames 46 Heidelberg 47 Aschaffenburg 48 Breitungen (Werra) 49 Merseburg 50 Dessau 51 Augsburg (nach 978) 52 Bruck an der Mur (860) Auch wenn keine Verkehrswege eingezeichnet sind, lässt sich der Karte ent‐ nehmen, dass es in der Epoche bis 1200 die städtischen Zentren von Produktion und Handel an Maas und Mosel sowie einige Bischofssitze (Münster, Würzburg, Regensburg, Hildesheim, Merseburg) bzw. Städte unter geistlicher Herrschaft (Bingen, Halle) waren, die sich steinerne Brücken leisteten. Steinbogenbrücken über Maas, Mosel und Doubs entstanden nicht weit von Orten, an denen noch Römerbrücken existierten. Daneben hatten sich auch antike Wasserleitungen erhalten wie etwa das Aquädukt, das Gorze mit Metz verband und zwischen Ars-sur-Moselle und Jouy-aux-Arches die Mosel überquerte. Inwiefern die über und unter Wasser erhaltenen Zeugnisse römischer Ingenieurskunst noch Ein‐ fluss auf Pfeilergründung, Mauertechnik, Mörtelrezeptur, Pfeilerform und Bo‐ genführung der hochmittelalterlichen Brücken ausüben konnten, ist nur in An‐ fängen untersucht. Was die Bogenform betrifft, ist allerdings festzuhalten, dass mindestens die Römerbrücken in Maastricht, Mainz, Konz, Trier und Wasser‐ billig als Brücken ohne Steinbögen, stattdessen mit einem hölzernen Oberbau konzipiert waren. Doch im 12. Jahrhundert gab es bereits Fachleute, die ihr technisches Wissen nicht mehr allein an Monumenten in ihrer persönlichen 22 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="23"?> Abb. 2: Karte mittelalterlicher Brücken in Deutschland und am Hochrhein bis 1350 (in Klammern entweder Jahr der Ersterwähnung oder genaue Bauzeiten, geschätzte Datierung oder dendrochronologische Datierung) 23 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="24"?> 16 So Reinhard S P E H R , Skizzen und Hypothesen zur Frühgeschichte von Dresden, in: Reinhard S P E H R / Herbert B O S W A N K , Dresden. Stadtgründung im Dunkel der Geschichte, Dresden 2000, S. 165-273, hier S. 146 und 253, 257 (Anm. 422). Umgebung geschult hatten und weit herumgekommen waren. Wo genügend Geld zur Verfügung stand, ließen sich Sachverständige aus ganz Europa für eine zu errichtende Brücke anwerben. Von durch die Lande streifenden Bautrupps, die auf Brücken spezialisiert waren 16 , kann jedoch keine Rede sein. Es gab sie ebensowenig wie wandernde Bauhütten, die von einer Kirchenbaustelle zur nächsten zogen. Steinbogen (lila) 1 Bamberg, Obere Brücke (1370) 2 Bingen, sog. Drususbrücke (989) 3 Creuzburg, Werrabrücke (1223) 4 Donauwörth, Donaubrücke (1229) 5 Dresden, Elbebrücke (um 1173-1222) 6 Eichstätt, Spitalsbrücke (13. Jh.) 7 Erfurt, Krämerbrücke (nach 1265-1325) 8 Esslingen, Innere Brücke (1270) und Äußere oder Pliensaubrücke (1286-1294) 9 Hann. Münden, Alte Werrabrücke (vor 1280[d]) 10 Hildesheim, Dammtorbrücke (1159) 11 Koblenz, Balduinbrücke über die Mosel (vor 1343-nach 1363) 12 Kreuznach, Alte Nahebrücke (1332) 13 (Weischlitz-)Kürbitz, Elsterbrücke (1298) 14 Limburg, Alte Lahnbrücke (ab 1315) 15 Marburg, Lahnbrücke (vor 1250) 16 Mergentheim, Wolfgangbrücke über die Tauber (ab 1340) 17 Münster, Steinbrückenmühle (1137) 18 Nebra, Unstrutbrücke (1207) 19 Plauen, Alte Elsterbrücke (1244) 20 Quedlinburg (vor 1229) 21 Regensburg, Steinerne Brücke (1135-1147) 22 Rothenburg ob der Tauber, Tauberbrücke (ab um 1330) 23 Trier, Römerbrücke eingewölbt (Mitte 14. Jh.) 24 Vacha, Werrabrücke (1342 / 43) 25 Verden, Allerbrücke (1220) 26 Wetzlar, Alte Lahnbrücke (1250-1280) 27 Würzburg, Alte Mainbrücke (vor 1133) Steinpfeilerbrücken (lila im schwarzen Kreis) 28 Basel, Mittlere Rheinbrücke (1225) 29 Frankfurt am Main, Alte Brücke (1222 / 1276) 30 Halle an der Saale, Hohe Brücke (1172 / 1200) 31 Hammelburg, Saalebrücke (1121) 32 Heidelberg, Alte Brücke (1284 / 1308 / 1340) 33 Kassel, Alte Fuldabrücke (ab 1346) 34 Meißen, Elbebrücke (1291) 35 (Hamm-)Nienbrügge, Lippebrücke (vor 1225) 36 Ochsenfurt, Alte Mainbrücke (13. Jh.) 37 Vilbel, Niddabrücke (1338) 24 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="25"?> Holzbrücken (braun) 38 Bautzen, Heilige-Geist-Brücke über die Spree (vor 1350) 39 Berlin, Lange Brücke (13. Jh.) mit Rathaus für Berlin-Cölln (1342) 40 Bernburg, Saalebrücke (1239) 41 Bodenwerder, Brücke über Weserarm (1289) 42 Brandenburg an der Havel (13. Jh.) 43 Braunschweig, Lange Brücke über die Oker (1200) 44 Breisach, Rheinbrücke (1263) 45 Bremen, Große Weserbrücke (1244) 46 Diessenhofen, Hochrheinbrücke (1292) 47 Frankfurt an der Oder, Oderbrücke (1348) 48 Görlitz, Neißebrücke (1298) 49 Grimma, Muldebrücke (1292) 50 Hamburg, Zollenbrücke (1246) 51 Hameln, Weserbrücke (1314) 52 Höxter, Weserbrücke (1249) 53 Kitzingen, Alte Mainbrücke (1300) 54 Kösen, Saalebrücke (1298) 55 Konstanz, Seerheinbrücke (um 1200) 56 Laufenburg, Rheinbrücke (1207) 57 Leisnig, Muldebrücke bei der Niedermühle (1330) 58 Lübeck, Holstenbrücke (1216) 59 Magdeburg, Brücke über die Stromelbe (1275) 60 Meiningen, Obere und Untere Brücke (vor 1306) 61 Minden, Weserbrücke (1258) 62 Mühldorf am Inn, Innbrücke (1257) 63 München, Isarbrücke (nach 1158 / vor 1180) 64 Neuburg an der Donau, Donaubrücke (1214) 65 Neustadt am Rübenberge, Leinebrücke (1269) 66 Nidda, Niddabrücke (1342) 67 Nürnberg, Barfüßerbrücke (13. Jh.) 68 Passau, Innbrücke (1143), Donaubrücke (1278) 69 Plaue, Havelbrücke (1244) 70 Rheinfelden, Rheinbrücke (1198) 71 (Frankfurt-)Rödelheim, Niddabrücke (1343) 72 Säckingen, Rheinbrücke (1272) 73 Schaffhausen, Rheinbrücke (1259) 74 Schwäbisch Hall, Kocherbrücke (1228) 75 (Berlin-)Spandau, Havelbrücke 76 Stein am Rhein, Rheinbrücke (1267) 77 Torgau, Elbbrücke (1070) 78 (Essen-)Werden, Ruhrbrücke (1065) Brücken unbekannten Baumaterials (grau) 79 Aschaffenburg, Mainbrücke (um 1000) 80 Augsburg, Lechbrücke (nach 978) 81 Breitungen, Klosterbrücke (1137) 82 Dessau, Muldebrücke (1180) 83 Diez, Lahnbrücke (vor 1360) 84 Laufen, Salzachbrücke (1316) 85 Merseburg, Neumarkt- und Venenienbrücke (1188) 86 Nörten-Hardenberg, Leinebrücke (1055) 87 Pegau, Brücke über die Weiße Elster (1210) 88 Siegen, Brücke über die Sieg (1343) 25 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="26"?> 17 Kartierungsgrundlage wie Anm. 13 sowie Friedrich B R U N S / Hugo W E C Z E R K A , Hansische Handelsstraßen, 3 Bde. (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte N. F. 13), Köln 1962-1968, und zahlreiche Wikipedia-Artikel. 18 Charlotte J U R E C K A , Brücken. Historische Entwicklung - Faszination der Technik, Wien 2 1986, S. 100. 19 Eugen P R O B S T , Die alte Rheinbrücke in Basel, in: Die Denkmalpflege 5 (1903), S. 49 f.; Gustav S C H Ä F E R , Die Rheinbrücke zu Basel, in: Die Kunstdenkmäler des Kantons Basel-Stadt 1, hg. von Casimir Hermann B A E R / Gustav S C H Ä F E R (Die Kunstdenkmäler der Schweiz 3), Basel 1932, S. 315-336. 20 Paul W I E G A N D , Die alte Brücke bei Höxter, in: Archiv für Geschichte und Alterthums‐ kunde Westphalens 3 (1828), S. 66-75, hier S. 70. 21 Hans Wolfgang K U H N , Frühe Gierponten. Fliegende Brücken auf dem Rhein im 17. und 18. Jahrhundert, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 6 (1983), S. 25-64; schon 1262 wird navigium inter Dusseldorf et Nussiam erwähnt, vgl. B R U N S / W E C Z E R K A , Handelsstraßen (wie Anm. 17), Textbd. S. 426. Die zweite Karte (Abb. 2) zeigt die bis 1350 vorhandenen Brücken auf dem Gebiet des heutigen Deutschland und in einem Teil der Schweiz 17 . In den 150 Jahren von 1200 bis 1350 stieg die Zahl der neu errichteten Brückenbauten merklich an. Beim Blick auf die Karte fällt allerdings auf, dass die großen Städte am Mittel- und Niederrhein nicht als Brückenstandorte eingezeichnet sind, während Übergänge über den Hochrhein in kurzer Distanz aufeinanderfolgten. Diese Bauwerke waren aus Holz. An den nordalpinen Alpenflüssen gab es wäh‐ rend des Hochmittelalters keine großen Steinbrücken 18 . Der Grund dürften die starken Frühjahrs- und Sommerhochwasser gewesen sein, deren Zerstörungen an Holzbrücken leichter zu beheben waren. Wahrscheinlich aus diesem Grund stand die unter Bischof Heinrich von Thun (amt. 1216-1238) in Basel errichtete Rheinbrücke auf der Großbasler Seite, wo die größere Strömung herrschte, auf sieben Stelzen aus Eichenpfählen, während sie nur auf der Kleinbasler Seite auf Steinpfeilern ruhte (Abb. 3) 19 . In Höxter wurden 1513 das hölzerne Tragwerk und die Fahrbahn kurzfristig abgenommen, bevor sich das Eis der zugefrorenen Weser löste 20 . Abb. 3: Basel, Alte Rheinbrücke, Längsschnitt vor der Niederlegung 1903 In Mainz, Koblenz, Köln und Düsseldorf konnte der Rhein bis weit in die Neuzeit nur per Fähre überquert werden 21 . Erzbischof Rainald von Dassel (amt. 26 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="27"?> 22 Annales Egmundani, hg. von Georg Heinrich P E R T Z , in: MGH SS 16, Hannover 1859, S. 442-490, hier S. 465, vgl. H I R S C H M A N N , Brückenbauten (wie Anm. 13), S. 251. 23 Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, Bd. 1: Bis 1221, hg. von Karl J A N I C K E (Publikationen aus den k. preußischen Staatsarchiven 65), Leipzig 1896, S. 308-311, Nr. 323. 24 Lukas C L E M E N S , Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 50), Stuttgart 2003, S. 48 f. 25 Wilhelm M E C H L E R , Die Rheinbrücken Straßburg-Kehl seit 1388, in: Die Stadt am Fluß. 14. Arbeitstagung in Kehl, 14.-16. 11. 1975, hg. von Erich M A S C H K E / Jürgen S Y D O W (Stadt in der Geschichte 4), Sigmaringen 1978, S. 40-61. 1159-1167) wollte den Rhein zwischen Köln und Deutz mit einem steinernen Bauwerk überbrücken, doch sein Tod vereitelte diesen Plan, so der Annalist des Klosters Egmond 22 . Eine Rheinbrücke in Köln, die um ein Vielfaches größer dimensioniert gewesen wäre als die steinerne Brücke, die Rainald als Dompropst hatte in Hildesheim erbauen lassen 23 , hätte den Erzbischof für alle Zeiten als kühnen, generösen und beharrlichen Stadtherrn aus der Reihe der kirchlichen Reichsfürsten herausgehoben. Ob dieses Bauwerk dann die noch verbliebenen Pfeiler der spätantiken Brücke Kaiser Konstantins einbezogen hätte, muss offen bleiben 24 . Unterhalb von Breisach wurde zwischen Straßburg und Kehl 1388 für lange Zeit die letzte Brücke über den Rhein geschlagen 25 . Sie war ein hölzernes Bauwerk, das auf Pfählen, Pfeilern, teilweise auch behelfsmäßig auf Schiffen und Booten stand und in Höhe, Länge und Material immer wieder verändert wurde. 1566 riss sie ein Hochwasser weg. Auf einem Plan von 1720 (Abb. 4) sind die Wöhrde und Flussarme zu sehen, die mit dem Laufe der Zeit einem natürlichen Wandel unterworfen waren, dem die Brücke angepasst werden musste. An dieser Stelle überwand eine Flussquerung eine Strecke von über einem Kilometer. 27 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="28"?> 26 Cornelius G U R L I T T , Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen 39: Meißen (Stadt, Vorstädte, Afrafreiheit und Wasserburg), Dresden 1917, S. 317; Erich D E I L , Die Baugeschichte der alten Meißner Elbbrücke und die Entwicklung von Hänge- und Sprengwerken bei Brücken, mit besonderer Berücksichtigung der Durchbildung der Meißner Brücke, Berlin 1916. 27 Friedrich Joseph G R U L I C H , Denkwürdigkeiten der altsächsischen Residenz Torgau aus der Zeit und zur Geschichte der Reformation, Torgau 1855, S. 119 f., 122. Zustand 1544: Lucas Cranach d. J., Hirschjagd des Kurfürsten Johann Friedrich, Wien, Kunsthistori‐ sches Museum, Gemäldegalerie Nr. GG_856. Abb. 4: Der Rhein zwischen Straßburg und Kehl 1720, Plan de Strasbourg Außer einer starken Strömung waren es die zu erwartenden hohen Kosten, die Stadt- und Landesherren am Mittel- und Niederrhein davon abhielten, den breit dahinfließenden Strom überbrücken zu wollen. Ein ähnliches Bild wie am Rhein zeigt sich an der Elbe. Unterhalb von Dresden bekam die Stadt Meißen Ende des 13. Jahrhunderts eine Steinpfeilerbrücke 26 . Eine Holzbrücke in Torgau wird 1292 erwähnt; die Torgauer Steinbrücke, die Kurfürst Friedrich der Weise 1490 bauen wollte, blieb ein Torso: Bis 1499 wurden vier Pfeiler gesetzt, aber aus Kostengründen vollendete man die Brücke aus Holz 27 . Weiter elbabwärts, im 28 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="29"?> 28 Z. B. zwischen Aken und Steutz, 1362; zwischen Wittenberg und Pratau, 1380. - Die erste Elbbrücke in Wittenberg entstand 1428, zwischen Roßlau und Dessau 1583. In Magdeburg ist über die stadtseitige Stromelbe 1295 eine Holzbrücke bezeugt; sie führte auf die Holzmarsch genannte Insel; eine Verlängerung über die Große Elbe auf den Cracauer Werder erwähnt die Magdeburger Schöppenchronik zum Jahre 1363, vgl. Johannes M Ä N ẞ , Zur Geschichte der Elbe bei Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 32 (1897), S. 297-325, hier S. 301. Die Lange Brücke etwas stromabwärts entstand 1422, vgl. Christoph R I N N E , Die „Lange Brücke“ - Eine Brücke in der Magdeburger Geschichte, in: Archäologie der Brücken. Vorgeschichte, Antike, Mittelalter, Neuzeit, hg. von Marcus P R E L L , Regensburg 2011, S. 303-306. 29 Martin W E H R M A N N , Geschichte der Stadt Stettin, Stettin 1911, S. 46. Zustand 1587: Georg B R A U N / Frans H O G E N B E R G , Civitates Orbis Terrarum, Köln 1587, Bd. 4. - Zum Vorhergehenden: Oppeln: B R U N S / W E C Z E R K A , Handelsstraßen (wie Anm. 17), S. 683; Brieg: Urkunden der Stadt Brieg, hg. von Colmar G R Ü N H A G E N (Codex diplomaticus Silesiae 9), Breslau 1870, S. 9, Nr. 58; Breslau: Marta M Ł Y N A R S K A -K A L E T Y N O W A , Wrocław w 12.-13. wieku, Wrocław 1986, S. 38; Steinau: Heinrich S C H U B E R T , Urkundliche Ge‐ schichte der Stadt Steinau an der Oder, Breslau 1885, S. 13, 28; Frankfurt / Oder und (Eisenhüttenstadt-)Fürstenberg: N I T S C H K E , Zur Geschichte der Oderbrücke in Frankfurt a. O., in: Mitteilungen des Historischen Vereins für Heimatkunde zu Frankfurt a. O 18-20 (1895), S. 24-39, hier S. 24-26. 30 Severin H O H E N S I N N E R / Friedrich H A U E R , Über den Strom. Vom Queren einer dyna‐ mischen Landschaft, in: Wasser Stadt Wien. Eine Umweltgeschichte, Wien 2019, S. 354-365. Herzogtum Sachsen-Wittenberg, in Anhalt und im Erzstift Magdeburg, kreuzten während des ganzen 14. Jahrhunderts Fähren 28 . Holzbrücken über die Oder bestanden im 12.-14. Jahrhundert nur an deren Oberlauf: in Oppeln (Opole, 1240), Brieg (Brzeg, 1317), Breslau (Wrocław, 1149), Steinau (Ścinawa, 1348) und Frankfurt (nach 1253). Die von Karl IV . 1370 be‐ gonnene Oderbrücke in Fürstenberg ist wohl nie vollendet worden. An anderen Stellen ist der Fluss zu breit für Brückenbauten. In Stettin (Szczecin) brachte die Oder so viele Inseln hervor, dass man vom frühen 14. Jahrhundert an das andere Ufer in Altdamm (Dąbie) über verschiedene Dämme und Holzbrücken erreichen konnte 29 . An der Donau gab es bis zur unteren Zeitgrenze 1350 nur wenig einzu‐ zeichnen. In Wien und in Bratislava herrschte ausschließlich Fährverkehr. In Wien verband die 1364 erstmals erwähnte Schlagbrücke die Altstadt mit dem Unteren Werd, auf dem später die Leopoldstadt entstand, über den sogenannten Donaukanal hinweg, doch über den Donauhauptarm entstand erst 1439 eine Holzbrücke 30 . I.2. Die Kosten Wiewohl eine Brücke gegenüber Furten und Fähren den Vorteil hat, dass sie eine Flussquerung auch bei großem Wasserandrang und bei Eisgang ermöglicht, 29 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="30"?> 31 Willi N A G E L , Die alte Dresdener Augustusbrücke, Dresden 1924, bes. S. 17-22, 99-127; Alexandra-Kathrin S T A N I S L A W -K E M E N A H , Das Dresdner Brückenamt im Mittelalter, in: Dresdner Elbbrücken in acht Jahrhunderten (Dresdner Hefte 94), Dresden 2008, S. 15-24, hier S. 19 (ab 1370). 32 Franz S E B E R I C H , Die alte Mainbrücke zu Würzburg (Mainfränkische Hefte 31), Würz‐ burg 1958, S. 41-68, 152 f., 168-172, hier auch wenige Belege für den Bau der Brücken‐ bogen im 16. Jahrhundert. 33 N A G E L , Augustusbrücke (wie Anm. 31), S. 33 und Abb. 19. und obwohl eine steinerne Brücke wiederum größere Verkehrslasten als eine Holzbrücke bewältigt, so ist eine Brücke mit steinernen Bögen doch in der Anschaffung und im Unterhalt sehr kostspielig. Dabei lassen sich die Baukosten der frühen Steinbrücken im Reich mangels Quellenbelegen nur schwer beziffern. Vereinzelt liegen Rechnungsbücher aus dem Spätmittelalter vor, die von den Brückenämtern geführt wurden, so in Dresden, wo die Ausgaben für die kontinuierlich anfallenden Reparaturen der Elbebrücke ab 1388 verzeichnet sind 31 . Zu den Kosten für die Strompfeiler der Würzburger Mainbrücke, die nach dem Hochwasser von 1342 nur notdürftig instandgesetzt worden waren, lassen sich Brückenbaurechnungen ab 1473 konsultieren 32 . Im Rechnungsjahr 1475 / 76, in dem der erste Pfeiler hochgezogen wurde, waren umgerechnet 1061 Gulden an Ausgaben zu verzeichnen, 1477 / 78 waren es 1001 Gulden für die Errichtung des zweiten Pfeilers. Die Summen sagen nicht viel aus, wenn sie nicht in Relation zu anderen Zahlen gesehen werden. Die Reparatur von Pfeiler 22 der Dresdner Brücke 1502 / 03 verursachte Kosten in Höhe von 36 Schock Groschen 33 . Damals wurde ein Kastendamm angelegt, um eine Auskolkung an der Längsseite des Pfeilers, die das Hochwasser von 1501 erzeugt hatte, zu verfüllen und zu verschließen (Abb. 5). 30 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="31"?> 34 Erich M A S C H K E , Die Brücke im Mittelalter, in: M A S C H K E / S Y D O W , Stadt am Fluß (wie Anm. 25), S. 9-39, hier S. 23, nach S C H Ä F E R , Rheinbrücke (wie Anm. 19), S. 317. 35 M A S C H K E , Brücke (wie Anm. 34), S. 23, nach S C H Ä F E R , Rheinbrücke (wie Anm. 19), S. 318. 36 Ernst R Ü E D I , Die Rheinbrücke zu Schaffhausen, in: Schaffhauser Beiträge zur Vaterlän‐ dischen Geschichte 15 (1938), S. 7-39, hier S. 15, nach Hinweis bei M A S C H K E , Brücke (Anm. 34), S. 23. Abb. 5: Dresden, steinerne Elbbrücke, Pfeiler 22 mit Spuren der Reparatur von 1502 / 03 Der erhebliche Unterschied zwischen Instandsetzung und Neubau lässt sich auch am Beispiel der Basler Rheinbrücke verdeutlichen, die teils aus hölzernen, teils aus steinernen Jochen bestand. E R I C H M A S C HK E hält fest: Als in Basel im Juli 1424 drei Pfeiler fortgespült worden waren und die neue Brücke sich auch als zu schwach erwies, wurden 1424 / 25 für Materialkosten und Lohn eines Zimmermanns 47 Pfund ausgegeben 34 . Dem stehen die beträchtlich höheren Ausgaben von 2300 Pfund für den 1457 neu errichteten sechsten Pfeiler in Stein, das sogenannte Bärenfelserjoch, gegenüber 35 . In diesen Mehrkosten spiegelt sich der große Aufwand wider, den es bedeutete, zur Vorbereitung des Baugrunds eines jeden Steinpfeilers einen Fangedamm anzulegen. Zu den Material- und Transportkosten für die 378 Pfähle und genauso viele Bretter sowie für 700 Wa‐ genladungen Lehm, die nach den Zerstörungen von 1754 für die Baugrube eines einzigen Pfeilers in Schaffhausen angeschafft werden mussten 36 , kamen die 31 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="32"?> 37 Tillman K O H N E R T , Alte Brücke Ochsenfurt, in: P R E L L , Archäologie der Brücken (wie Anm. 28), S. 271-278; Roland B E N K E , Bauforschung an der Steinernen Brücke im Zuge der Sanierung 2010 bis 2018, in: Die Steinerne Brücke - 2010 bis 2018. Denkmalgerechte Sanierung des Regensburger Wahrzeichens, Regenstauf 2018, S. 99-117. Löhne für die Arbeiter hinzu, die über mehrere Monate hinweg das Wasser aus dem Fangedamm schöpften. Hohe Kosten und ungünstige naturräumliche Gegebenheiten verhinderten den Brückenbau im Einzugsbereich nicht weniger bedeutender Städte und zwangen zur Flussquerung mittels Furten und Fähren. Die Beispiele in Köln, Fürstenberg und Torgau zeigen, dass man Brückenbaupläne durchaus fasste, aber irgendwann ihre Undurchführbarkeit erkannte (und sei es aufgrund man‐ gelnder Finanzmittel) und aufgab. Umso berühmter sind die Bauten, deren Fertigstellung gelang und deren Ausführung in Stein ihnen Haltbarkeit ver‐ lieh, eine Haltbarkeit, die sich allerdings nur auf das Bauwerk als Topos beziehen lässt, nicht aber auf die Gesamtheit seiner Bausubstanz. Diese war durch die Jahrhunderte verschiedenen klimatischen und physischen Angriffen ausgesetzt: Fahrbahnbelag, Brüstungen, Pfeilerköpfe mussten immer wieder erneuert werden. Eisbrocken und abgetriebene Holzstämme prallten gegen die Pfeilerköpfe. Nach Überflutungen mussten Pfeiler und Gewölbe erneuert werden. Brückentürme und andere Aufbauten wurden aus unterschiedlichen Gründen abgerissen. Baualterspläne, die die fortwährenden Veränderungen am Ist-Zustand einer Brücke anschaulich machen, existieren kaum 37 . I.3. Die großen Steinbogenbrücken des 12. Jahrhunderts im Reich und in Böhmen Im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen und östlich des Rheins entstanden im Laufe des 12. Jahrhunderts nur drei große Steinbogenbrücken. Sie befanden sich in Würzburg (um 1120-1133), Regensburg (1135-1146) und Dresden (4. Viertel des 12. Jahrhunderts bis 1222). Unmittelbar vor der Dresdner Elbebrücke entstand in Prag die sogenannte Judithbrücke über die Moldau (1167-1172). Die Erbauungsdaten liegen so nahe beieinander, dass sich die Vermutung aufdrängt, in Würzburg und Regensburg sowie in Prag und Dresden könne jeweils der gleiche Architekt zum Einsatz gekommen sein. Zumindest dürfte die Anregung zum Brückenbau in Prag aus Regensburg gekommen sein, wie noch zu zeigen sein wird, während Dresden unmittelbar auf Prag reagierte. Daher könnten die vier bedeutendsten technischen Denkmäler Mitteleuropas aus der Epoche der Romanik nicht nur in einer chronologischen Reihe, sondern auch in einer kausalen Abfolge stehen. Die herausragende architekturgeschicht‐ liche Bedeutung der vier großen romanischen Steinbogenbrücken im Reich 32 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="33"?> 38 Johann Friedrich S C H A N N A T , Vindemiae Literariae …, Bd. 2, Fulda / Leipzig 1724, S. 112; Übersetzung in: Helmut S C H U L Z E , Der Dom zu Würzburg. Sein Werden bis zum späten Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 39), Würzburg 1991, Bd. 1, S. 90 f. 39 So auch Günther B I N D I N G , „architectus, magister operis, werkmeistere“. Baumeister oder Bauverwalter im Mittelalter, in: Mittellateinisches Jahrbuch 34 (1999), S. 7-28, hier S. 8; Günter B I N D I N G , Bauwissen im Früh- und Hochmittelalter, in: Wissensgeschichte der Architektur, Bd. 3: Vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, hg. von Jürgen R E N N / Wil‐ helm O S T H U E S / Hermann S C H L I M M E , Berlin 2014, S. 9-94, hier S. 23. und in Böhmen weckte unter Historikern früh den Wunsch, die Identität ihrer Architekten aufzudecken. Doch die in einigen Schriftquellen namentlich überlieferten Personen, die mit den Bauwerken in Verbindung gebracht werden, waren keine Praktiker, sondern Finanzverwalter. 1. Würzburg (Abb. 6). Dieser Schluss mag für den Laien Enzelinus, zu dessen Gunsten Bischof Embricho von Würzburg 1133 eine Urkunde ausstellte, nicht auf Anhieb verständlich sein, hält der Bischof doch fest, dass jener Enzelin „uns eine Brücke gemacht“ (pontem nobis fecit) und außerdem den Weg zum Dom hergestellt habe (viam ad Monasterium fecerat), also die Straße, die in Verlängerung der rechtsmainischen Brückenrampe bis vor die Westfassade der Würzburger Kathedrale führt 38 . Derart erfahren, wurde ihm die Erneuerung des Domes übertragen. Damit er aber diese Aufgabe leichter ausführen könne (libentius huius operis curam gereret), so heißt es zum Anlass der Urkundenaus‐ stellung, verlieh der Bischof der Kapelle, die Enzelin in der Vorstadt errichten ließ (contruxerat), die Pfarrrechte. Darüber hinaus gewährte er dem Enzelin die Bitte, dass der Priester der neu eingerichteten Pfarrei aus dessen Familie stammen müsse. Trotz der Verwendung des Verbs construere, das die Herstellung einer architektonischen Struktur auszudrücken scheint, war Enzelin der Stifter jener Kapelle. Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass ein Handwerker über das Kapital und den Grundbesitz verfügte, um eine Kirche zu stiften, die der Bischof mit einem Privileg wie diesem bedachte. Die Aufgabe, die Enzelin am Dom zu erfüllen hatte, war denn auch die Verwaltung und Leitung der Erneuerungsmaß‐ nahmen (cura et magisterium operis); in der Kombination sind die Ausdrücke unmissverständlich 39 . Ein solches Aufsichtsamt hatte er, der vermutlich dem städtischen Patriziat angehörte, bereits beim Bau der Mainbrücke ausgeübt. Der Architekt, der die zahlreichen konstruktiven und gestalterischen Probleme löste, bleibt hingegen unbekannt. 33 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="34"?> 40 Reinhard S P E H R / Herbert B O S W A N K , Dresden. Stadtgründung im Dunkel der Geschichte, Dresden 2000, S. 146; Artur D I R M E I E R , Die Steinerne Brücke in Regensburg, in: Das mittelalterliche Regensburg im Zentrum Europas, hg. von Edith F E I S T N E R , Regensburg 2006, S. 25-42, hier S. 31, zitiert bei H I R S C H M A N N , Anfänge (wie Anm. 13), Bd. 2, S. 650 und S. 1239. Abb. 6: Würzburg, Mainbrücke, Plan und Ansicht im Zustand um 1926 2. Regensburg (Abb. 7). Da um das Jahr 1146 auf der Baustelle der Augusti‐ nerstiftskirche St. Mang in der Regensburger Brückenkopfsiedlung Stadtamhof kurzzeitig Werkleute aus Como, sogenannte Comasken oder Comacini, tätig waren, wurde die Vermutung geäußert, dass die Steinerne Brücke ebenfalls von einem solchen Bautrupp errichtet worden sein könnte 40 . Die Comasken, die lange für jede italienische Stilregung in der romanischen Bauskulptur nördlicher Regionen verantwortlich gemacht wurden, sind ein Mythos der Kunstgeschichte. Obwohl nur auf einer einzigen, der Regensburger, Schrift‐ quelle beruhend, wurde die Vorstellung weithin akzeptiert, dass Handwerker‐ verbünde vom Comer See im 12. Jahrhundert die Träger von Stiltransfer und von technischem Wissen gewesen sein sollen. Plausibel schien diese Idee, weil mit ihr mehrere Fakten assoziierbar sind. Zum einen ist die Migrationsfreude mit‐ telalterlicher Steinmetz-Individuen bekannt und anhand von Baurechnungen gut zu belegen. Zum anderen werden Comacini genannte Bauleute in langobar‐ dischen Rechtstexten des 7. Jahrhunderts genannt, während im 16. Jahrhundert mehrere Dynastien von Steinmetzen aus der Comer Region für die Habsburger arbeiteten. Aus diesen Eckdaten wurde unter Einbeziehung der Regensburger Erwähnung aus der Mitte des 12. Jahrhunderts eine jahrhundertelange Tradi‐ tion konstruiert. Tatsächlich waren die Comasken um 1146 - dem Jahr der 34 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="35"?> 41 Quellen und Schlüsse bei Richard S T R O B E L , Romanische Architektur in Regensburg. Kapitell, Säule, Raum (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 20), Nürnberg 1965, S. 99 f. 42 Alois S C H M I D , Über die Bauherren der Steinernen Brücke zu Regensburg, in: Zwischen Münchshöfen und Windberg. Gedenkschrift für Karl Böhm, hg. von Ludwig H U S T Y / Mi‐ chael M. R I N D / Karl S C H M O T Z (Internationale Archäologie. Studia honoraria 29) Rahden (Westf.) 2009, S. 443-448. Fertigstellung der Steinernen Brücke - in der Hoffnung angereist, beim Bau der wohl vor 1138 begonnenen Stadtamhofer Stiftskirche mithelfen zu können 41 . Sie gaben vor, auf Empfehlung des Schatzmeisters am Mailänder Domkapitel nach Regensburg gekommen zu sein, der mit dem Stifter von St. Mang befreundet war. Zunächst wurden sie abgewiesen, dann als Steinbrecher eingesetzt und ausdrücklich nicht beim Aufrichten von Mauern zugelassen, schließlich an eine Äbtissin, vermutlich diejenige von Stift Niedermünster, überwiesen. Außer bei dem Baumeister, der mit ihnen nach St. Mang gekommen war, muss es sich bei den Arbeitern nicht einmal um ausgebildete Steinmetze gehandelt haben. Steinmetze wiederum waren im Brückenbau zwar für die Stabilität der Pfeiler und der Bögen verantwortlich, vielleicht experimentierten sie auch mit Rezepturen für besonders haltbaren Mörtel, entscheidend ist bei Brücken aber die Frage, welcher Personenkreis mit wasserbautechnischen Kenntnissen aufwarten konnte. Nebenbei ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass die für die Regensburger Brücke vereint verantwortlichen Bauträger - der königliche Burggraf, der Bischof, die Bürger 42 - in Oberitalien nach einem Architekten oder Ingenieur suchen ließen, schließlich war der Austausch mit den bayerischen und lombardischen Regionen südlich des Alpenhauptkamms auch in vielen anderen Bereichen äußerst lebendig. Abb. 7: Regensburg, Steinerne Brücke, Nachstich nach Matthäus Merian 1644 35 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="36"?> 43 Jiří M A Š Í N , K problematice románského sochařství v českých zemích. Poznámky k reliéfu z věže Juditina mostu [Zum Problem der romanischen Skulptur in den böhmi‐ schen Ländern. Anmerkungen zum Relief vom Turm der Judithbrücke], in: Sbornik k sedmdesátinám Jana Květa, hg. von Jaroslav P E Š I N A , Prag 1965, S. 76-81, hier S. 79; Klara B E N E Š O V S K Á , Architecture of the romanesque, Prag 2001, S. 74. 44 Das Folgende nach: Pavel V L Č E K u. a. (Hg.), Umělecké památky Prahy 1: Stare Město, Josefov [Die Kunstdenkmäler Prags 1: Altstadt und Josefsstadt], Prag 1996, S. 122-129 (Karlův most [Karlsbrücke], Ivo K O ŘÁ N ) und S. 205-208 (Konvent křižofníků s čer‐ venou hvězdou [Konvent der Kreuzherren mit dem roten Stern] Pavel V L Č E K / Rotislav Š V Á C H A ); Pavel V L Č E K u. a. (Hrsg.), Umělecké památky Prahy 3: Malá Strana [Die Kunstdenkmäler Prags 3: Kleinseite], Prag 1999, S. 120 f. (Malostranské mostecké věže [Kleinseitner Brückenturm], Růžena B A Ť K O V Á / Klará B E N E Š O V S K Á / Jarmila Č I H Á K O V Á ); Zdeněk D R A G O U N , Juditin most [ Judithbrücke], in: Karlův most [Karlsbrücke], hg. von Ondřej Š E F C Ů , Prag 2010, S. 26-39, bes. S. 29-33. 45 Zdeněk D R A G O U N , K otázce pilířů Juditina mostu [Zum Problem der Pfeiler der Judith‐ brücke], in: Archaeologica Pragensia 10 (1989), S. 113-131; 1996 wurde Ultraschall eingesetzt, um die Pfeiler der Judithbrücke im Moldaubett zu lokalisieren, was bei neun der zwölf von 1784 gelang, vgl. Zdeněk D R A G O U N / K. Z A B L O U D I L , Geofyzikální pruzkum pilíru Juditina mostu [Geophysikalische Untersuchung der Pfeiler der Judithbrücke in Prag], in: Průzkumy památek 4 (1997) H. 1, S. 127-130. 3. Prag. Auch für die Prager Judithbrücke könnte ein Baumeister aus Oberitalien engagiert worden sein, vermutet die Forschung 43 . Allerdings sind noch keine technischen oder gestalterischen Elemente benannt worden, für die eine Brücke südlich der Alpen als Vorbild gedient haben könnte. Von der Vorgängeranlage der Karlsbrücke ist im Bereich der Rampen sowohl am Altstädter Ufer als auch an der Kleinseite genug Bausubstanz erhalten, um ein Bild zu vermitteln 44 . So verbirgt das barocke Konventsgebäude der Kreuzherren mit dem Roten Stern, die ab 1253 das Geld für den baulichen Unterhalt der Brücke verwalteten, den Stumpf des Brückenturms der Altstadtseite (Abb. 8). Dieser wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts über dem ersten Freipfeiler errichtet, der auf einer schmalen Sandinsel steht. Der Pfeiler und der erste Bogen, der die Insel mit dem Altstädter Ufer verbindet, sind nahezu vollständig erhalten. Auf der Kleinseite bildet der bauzeitliche Brückenturm heute die südliche Flanke des Zugangstors zur Karlsbrücke. Zudem wurden Teile der nördlichen Rampe und ein Bogen in den Kellern einiger Häuser der Straße U Lužického semináře entdeckt. Der Rest eines Pfeilers steht noch im Bett des Čertovka-Baches. Dank dieser Relikte und eines Grundrisses von 1784 (Abb. 9), auf dem die bei Niedrigwasser beobachteten Standorte von zwölf Strompfeilern kartiert sind, lässt sich die Trasse der Judithbrücke rekonstruieren 45 . Das Bauwerk besaß einst 20 Pfeiler, 21 Bögen und zwei Rampen, mit denen eine Strecke von über 500 m bewältigt wurde. 36 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="37"?> Abb. 8: Prag, Konventsgebäude der Kreuzherren mit dem Roten Stern, vom Altstädter Brückenturm aus gesehen Abb. 9: Karl S A L Z E R , Perspectivische Darstellung desjenigen Theils der Prager Brücke, welcher den 28. Februari Anno 1784 von dem großen Eyßstoss … beschädigt worden ist …, Kupferstich 1784 37 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="38"?> 46 Vinzenz von Prag, Annales, hg. von Wilhelm W A T T E N B A C H , in: MGH SS 17, Hannover 1861, S. 658-686, hier S. 659: Pragensis pontis opus imperiale. Quod etenim nullus principum, nullus ducum, nullus regum usque ad tempora uestra inchoare uel excogitare potuit, per uos gloriosam dominam nostram infra trium annorum spatium perficitur. Die Sätze gehören zur Vorrede; zur Schilderung der gesta Judiths kam Vinzenz nicht mehr, seine Chronik bricht mit dem Jahr 1167 ab. Er hat sein Werk nicht übergeben, vgl. Marie B L Á H O V Á , Das Werk des Prager Domherrn Vincentius als Quelle für die Italienzüge Friedrich Barbarossas, in: Civis 47/ 48 (1992), S. 149-175, hier S. 156. Ondřej Š E F C Ů , Die Brücke der Königin Judith, in: Kaiser Karl IV. 1316-2016. Erste Bayerisch-Tschechische Landesausstellung. Ausstellungskatalog, hg. von Jiří F A J T / Markus H Ö R S C H , Prag 2016, S. 41-43, hier S. 43, vereinfacht die Sache, wenn er schreibt, Vinzenz habe Judith, nach der die Brücke später auch benannt wurde, das Verdienst zugeschrieben, den Bau der Brücke angeregt zu haben. 47 Přibík z Radenína, řečený Pulkava, Kronika česká [Böhmische Chronik], in: Kroniky doby Karla IV [Chroniken der Zeit Karls IV.], hg. von Marie B L Á H O V Á , Prag 1987, S. 269-444, hier S. 343. 48 Bischof Daniel verstarb am 9.August 1167 bei Ancona. Vinzenz von Prag, Annales (wie Anm. 46), S. 675: Preter alia munera eum mille donat [Friedrich an Vladislav] marcis, quas a Mediolanensibus acceperat; Mediolanenses enim eum decem millibus marcarum placauerant …; has autem ciuitates, earum iuramenta et obsides et plurimam domno nostro episcopo ab eis pro expensis et pro honorario recipientes pecuniam peragrauimus: Brixiam, Mantuam, Ueronam, Cremonam, Papiam, Parmam, Placentiam, Regium, Mutinam, Boloniam. 49 In diesem Sinne auch D R A G O U N , Juditin most (wie Anm. 44), S. 28. Vinzenz von Prag, Kaplan des Prager Bischofs Daniel, rühmt im Chronicon Boe‐ morum Judith von Thüringen, die Gemahlin des Přemyslidenherzogs Vladislav II . (als König Vladislav I.), für ihre Klugheit und ihren Fleiß und führt unter ihren Stiftungen das Kloster in Teplitz (Teplice) und die Prager Brücke an. Was nämlich keiner der Fürsten, keiner der Herzöge, keiner der Könige bis auf Eure Zeit anzufangen und auszudenken vermocht, wird durch Euch, unsere ruhmreiche Herrin, innerhalb des Zeitraums von drei Jahren vollendet 46 . Als Vinzenz dies schrieb - und er spricht seine Herrin direkt an - muss das Königspaar noch im Amt gewesen sein, d.h. die Brücke wurde noch vor 1172 vollendet, und das fügt sich zu der Jahreszahl, die dem Hofchronisten Kaiser Karls IV ., Přibík Pulkava, im ausgehenden 14. Jahrhundert für den Baubeginn überliefert wurde: 1167 47 . Pulkava berichtet außerdem, Judith habe die steinerne Brücke auf eigene Kosten errichten lassen, womit die Namensgebung begründet sei. Woher aber soll Pulkava diese über Vinzenz von Prag hinausgehende Informationen bezogen haben? Das Geld für die Brücke stammte doch wohl aus Italien, denn einerseits hatte Vladislav von Kaiser Friedrich einen Anteil an der Mailänder Beute von 1158 bekommen, andererseits trieb der Kaplan Vinzenz in zahlreichen norditalienischen Kommunen Kompensations- und Ehrengelder für seinen Bischof ein, von denen ein Teil in den Brückenbau geflossen sein mochte 48 . Die Namenspatronin Judith darf als Verwalterin der Finanzen gelten 49 . 38 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="39"?> 50 Anežka M E R H A U T O V Á -L I V O R O V Á , Reliéf na věži bývalého Juditina mostu [Das Relief auf dem Turm der ehemaligen Judithbrücke], in: Umění 19 (1971), S. 70-75, hier S. 71; D R A G O U N , Juditin most (wie Anm. 44), S. 28; Š E F C Ů , Brücke (wie Anm. 46), S. 43. 51 Vinzenz von Prag, Annales (wie Anm. 46), S. 675, schildert Vladislavs Empfang in Prag als adventus regis. 52 M E R H A U T O V Á -L I V O R O V Á , Reliéf (wie Anm. 50); Martin W I H O D A , Das „Krönungsrelief “ am Turm der ehemaligen Judithbrücke in Prag, in: Barbarossabilder. Entstehungskon‐ texte, Erwartungshorizonte, Verwendungszusammenhänge, hg. von Knut G Ö R I C H / Ro‐ medio S C H M I T Z -E S S E R , Regensburg 2014, S. 261-267. Sie handelte als consors regni (Mitregentin), die ihren Beitrag zur Neugestaltung des Siedlungskonglomerats, das heute Prag heißt, leistete. Die Angabe von drei Jahren Bauzeit gilt als panegyrische Übertreibung, daher setzt die Prager Forschung die Bauzeit der Brücke mit der gesamten Zeitspanne gleich, in der Vladislav und Judith als König und Königin regierten: 1158-1172 50 . Denn es sei im Grunde Vladislav gewesen, der die steinerne Brücke zu bauen befohlen habe, und zwar als unmittelbare Reaktion auf seine Krönung zum König durch Barbarossa im Januar 1158. Die Königskrönung Vladislavs fand in Regensburg statt. Mehr noch, es war Vladislav, der auf einem Regensburger Hoftag zwei Jahre zuvor, 1156, den Fürstenspruch verlesen hatte, der zum Privilegium minus, zur Ausgliederung der Markgrafschaft Österreich aus dem Herzogtum Bayern, führen sollte. Und nun wurde er selbst im Vorort der baye‐ rischen Herzöge, deren Machtbeschneidung er mitbetrieben hatte, zum König erhoben. Es würde einleuchten, wenn er unter dem Eindruck des steinernen Wunderwerks dieser Stadt nun den Bau einer steinernen Brücke in seiner eigenen Hauptstadt in Angriff nehmen wollte, offenkundig ein Projekt, das den neuen Status des böhmischen Fürsten angemessen zu repräsentieren geeignet war. Nach dem triumphalen Ausgang des Mailand-Feldzugs im Sommer 1158 hätte Vladislav allen Grund gehabt, sich selbst ein Denkmal zu widmen 51 . In diesem Sinne ist das große Relief an der brückenseitigen Fassade des Kleinseitner Brückenturms auch immer verstanden worden (Abb. 10). Nimben und Heiligenattribute fehlen, daher scheidet ein religiöses Thema aus. Ohne Zweifel diente das Relief der Inszenierung von Herrschaft, nur sind leider keine Insignien oder Inschriften beigefügt, mit deren Hilfe sich die Identität des Thronenden lüften ließe. Die immer wieder, zuletzt von M A R TIN W IH O DA , kolportierte Lesart A N EŽKA M E R HAU T O VÁS von 1971 besagt, dass der kniende Vladislav aus den Händen Barbarossas die böhmische Königskrone empfange 52 . Der Grund für diese Deutung liegt darin, dass Vladislav mit dem sogenannten Krönungsdenar eine derartige Darstellung hat prägen lassen, die man hier zeitnah in die Monumentalität beinahe lebensgroßer Figuren übersetzt sehen 39 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="40"?> 53 Für eine realistische Wiedergabe der Krönung halten die Darstellung: Zdeněk P E ‐ T R ÁŇ / Michal M A Š E K , Tzv. nápisový denár Vladislava II. v historických souvislostech [Der sogenannte Krönungsdenar Vladislavs II. im historischen Kontext], in: Vla‐ dislav II. druhý král z Přemyslova rodu. K 850. výročí jeho korunovace [Vladislav II., zweiter König aus dem Haus der Přemysliden. Zum 850. Mal kehrt seine Krönung wieder], hg. von Michal M A Š E K / Petr S O M M E R / Josef Ž E M L IČ K A , Prag 2009, S. 125-133, hier S. 127. 54 Letopisy Hradištsko-Opatovické, hg. von Josef E M L E R , in: Fontes rerum Bohemicarum, Bd. 2, Prag 1874, S. 383 400, hier S. 400: imperator … condignam familiaritati sue remu‐ nerationem recompensavit, quia mox regale decus id est diadema, ad id ipsum episcopo Daniele speciali ministerio suffragante, innumerabilium principum choris astantibus capiti eius superposuit. - Auch nach Vinzenz von Prag, Annales (wie Anm. 46), S. 426 f., war der Kaiser aktiv: Imperator … predictum ducem … regio ornat diademate et de duce regem faciens tanto exornat decorem. In der Chronik des Mönchs von Sázava, hg. von Josef E M L E R , in: Fontes rerum Bohemicarum, Bd. 2, Prag 1874, S. 265, spricht Friedrich: accipe ex dei gratia et nostra benevolentia tibi quam tradimus, regni coronam et regiae potestatis et honoris dignitatem in regno tuo. Et haec dicens iussit preferri coronam auream gemmis, pretiosis lapidibus mire adornatam, qua videlicet ipse imperator in summis festivitatibus uti ferebatur. 55 Übersetzung: Georg G R A N D A U R , Die Jahrbücher von Vinzenz und Gerlach (Geschichts‐ schreiber der deutschen Vorzeit 67), Leipzig 1895, S. 50, vgl. Vinzenz von Prag, Annales (wie Anm. 46), S. 442: Domnus autem imperator imperiali diademate exornatus in medio tentorio suo tribunali residens … domnum Wl(adizlaum), regem Boemie … coram tam Alamanniae, quam Italiae principibus, regio donat et exornat diademate. will 53 . Eine solche Interpretation gibt das Relief aber nicht her, weil das Objekt, das im Zentrum der Figurengruppe steht, mit Sicherheit keine Krone war. Wäre es eine Krone gewesen, hätte sie der Prätendent mit eigenen Händen entgegennehmen und sich selbst aufsetzen müssen. Abgesehen von der Münze, bei der tatsächlich Vladislav nach der Krone greift, zeigen Darstellungen einer Krönung den Empfänger der Krone inaktiv (Abb. 11). Entsprechend schildern die Chronisten die Krönung Vladislavs durch den Kaiser in Regensburg 54 . Barbarossa hat seinen tschechischen Gefolgsmann ein zweites Mal am Folgetag der Kapitulation Mailands im September 1158 eigenhändig gekrönt und ihm die Krone überlassen: Der Herr Kaiser aber saß, mit der kaiserlichen Krone geschmückt, auf dem Throne mitten in seinem Zelte … und beschenkte und zierte vor so vielen deutschen und italienischen Fürsten Herrn Wladizlaus, den König der Böhmen, nach so vielen Mühen und herrlichen Siegen mit einer sehr großen, herrlich gearbeiteten Krone 55 . 40 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="41"?> Abb. 10: Figurenrelief am Brückenturm auf der Prager Kleinseite Abb. 11: Freiburg im Breisgau, Münster, Nikolauskapelle, Relief einer Pilgerkrönung 41 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="42"?> 56 So schon M A Š Í N , K problematice (wie Anm. 43). 57 Urkundenbuch der Städte Dresden und Pirna, hg. von Carl Friedrich V O N P O S E R N -K L E T T (Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae II, 5), Leipzig 1875, Nr. 3, S. 2: deperire in vasta‐ tione pontis Dresdae, qui annis quidem singulis inundatione laeditur et hoc anno ultra solitum enormiter est vastatus, Hinweis bei Reinhard S P E H R , Archäologische Befunde und ihre historische Interpretation zur Entstehungsgeschichte von Dresden, in: Die Frühgeschichte Freibergs im überregionalen Vergleich. Städtische Frühgeschichte - Bergbau - früher Hausbau, hg. von Yves H O F F M A N N / Uwe R I C H T E R , Halle an der Saale 2013, S. 77-98, hier S. 96. 58 UB Dresden und Pirna (wie Anm. 57), Nr. 6, S. 4: … ante pontem lapideum trans Albeam … Gegen eine Krönungsdarstellung auf dem Relief spricht vor allem die Handhal‐ tung der Figuren. Die Initiative geht von dem Knienden aus, der ein Objekt darbietet, während der Thronende die rechte Hand zur Tassel seines Mantels führt und mit der Linken den Gestus des Hörens oder Entgegennehmens ausführt und nichts herüberreicht. Das Objekt dürfte demnach ein kleines Modell der Judithbrücke gewesen sein, wie es in Stifterdarstellungen geläufig ist. Bei dem Knienden dürfte es sich daher entweder um einen unbekannten Mitfinanzier der Brücke oder um den Architekten der Brücke handeln - so antiquiert diese Deutung auch klingen mag 56 . 4. Dresden. Die Entstehungszeit der Dresdner Elbbrücke (Abb. 12) ist nicht überliefert; erstmals erwähnt wird sie in einer Ablassurkunde, die undatiert ist und dem Meißner Bischof Heinrich (amt. 1230-1240) zugeschrieben wird. Der Bischof nennt sie reparaturbedürftig, da sie nach einer Überschwemmung stark beschädigt wurde 57 . 1287 wird die Brücke als Werk aus Stein charakterisiert 58 . Abb. 12: Dresden, Elbbrücke, Zustand um 1500 Der Archäologe R E INHA R D S P E H R hat wahrscheinlich gemacht, dass Dresden im 12. Jahrhundert als königliche Planstadt angelegt wurde und die Brücke 42 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="43"?> 59 S P E H R / B O S W A N K , Dresden (wie Anm. 40), S. 46 (Stadtmauerturm), S. 48 (Keller); S P E H R , Skizzen (wie Anm. 16), S. 212 (Stadtmauer), S. 245 (Keramikfragmente in der Pfeilerfun‐ dierung); S P E H R , Befunde (wie Anm. 57), S. 84 (dendrodatiertes Holz). 60 Norbert O E L S N E R , Die Dresdner Elbbrücke im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Dresdner Elbbrücken in acht Jahrhunderten (Dresdner Hefte 94), Dresden 2008, S. 5-14, hier S. 12. 61 Hoftag von Erminsdorf, hierzu S P E H R , Skizzen (wie Anm. 16), S. 205-207; S P E H R , Be‐ funde (wie Anm. 57), S. 93. 62 S P E H R , Befunde (wie Anm. 57), S. 84. 63 Nach S P E H R , Skizzen (wie Anm. 16), S. 252 f. (Anm. 395), aufgebracht durch Matthäus D R E S S E R , Von den fürnembsten Städten deß Deutschlandes, Leipzig 1607, S. 165; Anton W E C K , Der Chur-Fürstlichen Sächsischen weitberuffenen Residentz und Haupt-Vestung Dresden Beschreib- und Vorstellung, Nürnberg 1680, S. 86. 64 Vgl. UB Dresden und Pirna (wie Anm. 57), Nr. 35, S. 27 f. 65 Johann Christian C R E L L , Das fast auf dem höchsten Gipfel seiner Vollkommenheit und Glückseligkeit prangende Königliche Dreßden in Meissen, Leipzig 1726, S. 30. als primärer, ja konzeptioneller Bestandteil dieser Anlage zu betrachten ist. Holz- und Keramikfunde erlaubten es, die ältesten Bauwerke in dieser Stadt, darunter die Stadtmauer und ein unterkellertes Haus an der stadtseitigen Brückenrampe, ebenso wie einen archäologisch untersuchten Brückenpfeiler in das 4. Viertel des 12. Jahrhunderts zu datieren 59 . Damals war das Reichsgut des Gaus Nisan, zu dem Dresden gehörte, noch nicht an den Markgrafen von Meißen verpfändet (um 1198-1221), weshalb als Bauherr der Brücke in erster Linie Friedrich I. Barbarossa in Frage kommt (1155-1190). Das Reichsgut wurde von seinem Burggrafen aus dem Geschlecht von Dohna verwaltet, dessen Beteiligung am Bau der Brücke in einer neuzeitlichen Beschreibung glaubhaft gemacht wird 60 . Der Baubeginn rückt damit in unmittelbare Nähe zu der Entmachtung des böhmischen Königs Vladislav im Jahre 1173, die Friedrich I. auf einem Hoftag nicht weit von Dresden betrieb 61 . Daher entsteht der Eindruck, als sei die Aberkennung von Vladislavs Königswürde gewissermaßen mit der Entthronung seiner Prager Brücke als längster Steinbogenbrücke Mitteleuropas einhergegangen, die sie bis dahin mit deutlichem Abstand war (21 Bogen, 514 m Länge). In Dresden entstand nun ein Bauwerk mit 24 Bogen und einer Länge von 560 m (Breite: 8,50 m) 62 . Der Bau der Elbbrücke zog sich wahrscheinlich über Jahrzehnte hin, deshalb dürfte früher oder später auch der Markgraf an dem Werk beteiligt gewesen sein. Als Jahr der Vollendung wird 1222 überliefert, ohne dass man wüsste, worauf sich diese Angabe stützt 63 . 1319 erließ der Meißener Bischof einen Ablass für die Dresdner Kreuzkirche, der der Instandhaltung der Elbbrücke zugutekommen sollte 64 . Der Name eines Architekten kommt erst im 17. Jahrhundert auf, als eine volkstümliche Figur zum „Signor Matthaeus Fotius“ veredelt wird 65 . Dessen 43 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="44"?> 66 S P E H R , Skizzen (wie Anm. 16), S. 250. 67 Franz von Prag, Chronicon, ed. Josef E M L E R , in: Fontes rerum Bohemicarum, Bd. 4, Prag 1884, S. 347-456, hier S. 385. 68 Michal C I H L A / Michal P A N ÁČ E K , Středověký most v Roudnici nad Labem [Die mittelal‐ terliche Brücke in Raudnitz an der Elbe], in: Průzkumy památek 13 (2006), h. 2, S. 3-34, hier S. 14 f., 17, 32, v. a. S. 27 f. und Abb. 15 f., 18 f., 22 sowie 58; Michal C I H L A / Michal P A N ÁČ E K , Technological, Structural and Historical Aspects of the Gothic Bridge at Roudnice nad Labem, in: P R E L L , Archäologie der Brücken (wie Anm. 28), S. 240-246, hier S. 243. - Entsprechende Funde von 1906 bei Břetislav T O L M A N / Václav C H A L O U P E C K Ý , Starý kamenný most přes Labe v Roudnici [Die alte Steinbrücke über die Elbe in Raudnitz], in: Technický obzor 17 (1909) H. 25, S. 189 f. Selbstporträt glaubt man in dem sogenannten Brückenmännchen zu erkennen, der wohl ins 16. Jahrhundert gehörenden unterlebensgroßen Relieffigur eines hockenden Mannes. Sollte „Fotius“ von dem Amtstitel eines Vogtes abgeleitet sein 66 , könnte die Überlieferung den Namen eines mit Reparaturen an der Brücke beauftragten Verwaltungsbeamten bewahrt haben. So ist festzuhalten, dass die Architekten der vier größten mitteleuropäi‐ schen Steinbogenbrücken des 12. Jahrhunderts namenlos bleiben. Erst aus dem 14. Jahrhundert ist der Name eines Brückenbaumeisters überliefert, weil der Bauherr mit ihm renommieren wollte. I.4. Ingenieure und Architekten Der Prager Bischof Johann IV . von Dražic hatte 1333 einen Meister Wilhelm aus Avignon in seine Residenzstadt Raudnitz (Roudnice nad Labem) bestellt, um eine Brücke über die Elbe schlagen zu lassen. Im ganzen böhmischen Kö‐ nigreich und in den Nachbarprovinzen soll er vergeblich nach einem geeigneten Meister gesucht haben. Nachdem Wilhelm, der in solchen Dingen erfahren war, mit drei Gehilfen binnen eines Jahres zwei Brückenpfeiler gesetzt und mit einem Gewölbe verbunden hatte, sollen einheimische Werkleute (artifices gentis nostrae) das Prinzip verstanden und die Brücke weitergebaut haben 67 . Hier wird die Methode angedeutet, mit der technisches Know-how weitergegeben wurde: mündliche Instruktion und Mitarbeit am Vorbild. Nach sieben Jahren Bauzeit soll die Raudnitzer Brücke 1340 vollendet gewesen sein. Jüngst konnten an den Lagerflächen der Bogenkeilsteine, die vom Flussgrund geborgen wurden, dreistrahlige Kanäle für Mörtelverguss festgestellt werden, die in dieser Art auch am Papstpalast in Avignon nachgewiesen werden konnten, d. h. die überlieferte Herkunft der Werkleute aus dem Süden Frankreichs konnte mit bauforscheri‐ schen Mitteln bestätigt werden 68 . Da es die standardisierten Steinformate waren, die messerdünnen Fugen zwischen den Quadern und die besagten Mörtelkanäle, die die Raudnitzer vor den anderen Brücken des 14. Jahrhunderts in Böhmen 44 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="45"?> 69 Vinzenz von Prag, Annales (wie Anm. 46), S. 675. - Zu Daniel I. von Prag (amt. 1148-1167): Christian U E B A C H , Die Ratgeber Friedrich Barbarossas (1152-1167), Mar‐ burg 2008, S. 178-184; Peter H I L S C H , Die Bischöfe von Prag in der frühen Stauferzeit (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 22), München 1969, S. 24-57. 70 Holger B E R W I N K E L , Verwüsten und Belagern. Friedrich Barbarossas Krieg gegen Mailand (1158-1162) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 114), Tübingen 2007, S. 88. Vgl. G R A N D A U R , Jahrbücher (wie Anm. 55), S. 34 71 B E R W I N K E L , Verwüsten (wie Anm. 70), S. 71 f., 249-251; Gerhard D O H R N - V A N R O S S U M , Migration - Innovation - Städtenetze. Ingenieure und technische Experten, in: Tech‐ nicien dans la cité en Europe occidentale, 1250-1650, hg. von Mathieu A R N O U X / Pierre auszeichnen, liegt es nahe, dass Meister Wilhelm den Beruf eines Steinmetzen ausübte. Der Bischof, der noch als 70-Jähriger für zwölf Jahre nach Avignon gegangen war, um gegen seine Suspendierung zu kämpfen, und sich schließlich erfolgreich gegen den Vorwurf der Inschutznahme von Ketzern verteidigen konnte, inszenierte nach seiner Rückkehr nach Böhmen seine Bauherrschaft. Die Beschäftigung eines französischen Baumeisters - eines Fachmanns, der für den Papst im fernen Avignon gearbeitet hatte, wo die berühmteste aller Stein‐ bogenbrücken stand - gehörte zu seiner Repräsentationsstrategie. Erfolgreich sorgte der Bischof dafür, dass diese Tatsache auch in die Chroniken einging. Die Widerstandskraft ‚seiner‘ Brücke gegen die Flut von 1342 lieferte den willkommenen Aufhänger. Noch einmal zurück zur Judithbrücke. Es ist gut möglich, dass der leitende Baumeister in Italien rekrutiert wurde, benötigt wurde aber auch ein Ingenieur für Wasserbau. Der Prager Bischof Daniel, der Vladislav auf dem Mailandfeldzug begleitet hatte und zu den engsten Vertrauten des Kaisers gehörte, sprach Italienisch 69 und könnte Vladislav geeignete Kandidaten vorgestellt haben. Vladislav selbst kannte nicht nur die Steinbrücken in Regensburg und Würzburg aus eigener Anschauung; in Italien könnte er die römischen Bauwerke gesehen haben, die den Übergang über den Oglio (Palazzo sul’Oglio), den Serio (Seriate), den Lambro (Monza) und den Seveso (Mailand) ermöglichten. Unter den böh‐ mischen Truppen gab es Pioniere, die die vom Feind zerstörten Brücken über die Adda bei Cassano und bei Vaprio (Pons Aureoli) in großer Eile reparieren konnten 70 . Die Brücke bei Vaprio stürzte allerdings zweimal ein und beförderte 160 Mann zu Tode. Während des Krieges hatten die Mailänder Gräben um ihre spätantiken Stadt‐ mauern ziehen lassen. Organisiert hatte dies ein gewisser Guintelmus. Gegen das kaiserliche Heer zogen die Mailänder in Streitwagen, die von demselben Guintelmus konstruiert worden waren. Schon 1156, beim Krieg gegen Pavia, hatte er Katapulte gebaut und eine Brücke über den Ticino geschlagen, über welche die Truppen der Mailänder gegen Pavia anrannten 71 . 1160 wurde auf der 45 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="46"?> M O N N E T (Collection de l’École française de Rome 325), Rom 2004, S. 291-307, hier S. 299 f. 72 Vinzenz von Prag, Annales (wie Anm. 46), S. 677 f. Hierzu B E R W I N K E L , Verwüsten (wie Anm. 70), S. 137 f.; D O H R N - V A N R O S S U M , Migration (wie Anm. 71), S. 299. 73 Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I., c. 7, hg. von Georg W A I T Z (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum 46), Hannover / Leipzig 1912, S. 171: Inter quae [preciosa donaria] papilionem unum, quantitate maximum, qualitate bonissimum, perspeximus. Cuius si quantitatem requiris, nonnisi machinis et instrumentorum genere et amminiculo levari poterat; Hinweis Percy Ernst S C H R A M M , Herrschaftszeichen: gestiftet, verschenkt, verkauft, verpfändet. Belege aus dem Mittelalter (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse), Göttingen 1957, S. 197; Vinzenz von Prag, Annales (wie Anm. 46), S. 675, erwähnt das Zelt des Kaisers ebenfalls: tentorio suo … quod ei rex Anglie miserat maximum et de opere mirabili. 74 The Historical Works of Gervase of Canterbury, hg. von William S T U B B S , Bd. 1: The Chronicle of the Reigns of Stephen, Henry II and Richard I, London 1879, S. 6 f.: in ligno et lapide artifex subtilissimus, ad naves onerandas et exonerandas, ad cementum et ad lapides trahendos tornamenta fecit valde ingeniose. 75 Ernst P I T Z , Das Aufkommen der Berufe des Architekten und Bauingenieurs, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 66 (1986), S. 40-74, hier Gegenseite, beim Kaiser, ein Mann vorstellig, der anbot, gegen die mailandtreue Stadt Crema einen Belagerungsturm zu errichten 72 . Der Turm, der von Vinzenz von Prag ausführlich beschrieben wird, verfügte über eine Zugbrücke, die auf die Stadtmauer herabgesenkt werden konnte. Als Referenz hatte der Fremde darauf verwiesen, im Königreich Jerusalem etliche Belagerungsmaschinen gebaut zu haben. Ingenieurstechnik war im Krieg allgegenwärtig. Selbst um das Prunkzelt aufzubauen, unter welchem Vladislavs Krönung im Feld vollzogen wurde, hatte es „Maschinen und Instrumente“ bedurft; das Zelt war ein Geschenk des englischen Königs Heinrich II . an Friedrich I. Barbarossa 73 . Als Ingenieure traten keine Maurer oder Steinmetze auf, sondern Schreiner und Zimmerleute. Bis zum Beginn der Renaissance waren es fast ausschließlich ihresgleichen, die Belagerungsmaschinen, Pontonbrücken, wassergetriebene Räder sowie Kräne zum Heben von Baumaterial herstellten. Nur ausnahmsweise erwiesen sich Baumeister gleichermaßen kunstfertig in Stein und Holz wie Wilhelm von Sens, der Architekt der Kathedrale von Canterbury († 1180), der selbst Kräne zum Be- und Entladen von Schiffen und zum Heben von Baumate‐ rial konstruierte 74 . Doch fanden Innovationen, die Ingenieure im Zivilbauwesen hervorbrachten, anders als ihre militärisch nutzbaren Vorrichtungen nur selten Niederschlag in den Quellen. Von Master Thomas of Houghton, Ingenieur des englischen Königs Edward I. (1272-1307), ist überliefert, dass er Erfinder einer Maschine war, mit der man Pfähle in den Boden rammen konnte 75 . Ein solches 46 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="47"?> S. 53, nach The History of the King’s Works, Bd. 1: The Middle Ages, hg. von Howard Montagu C O L V I N , London 1963, S. 217. 76 Nachgewiesen u. a. für die Reparatur von Pfeiler 22 der Dresdner Brücke 1503, N A G E L , Augustusbrücke (wie Anm. 31), S. 33, und für die Reparatur von Pfeiler 2 der Trierer Römerbrücke 1790, Heinz C Ü P P E R S , Die Trierer Römerbrücken, Mainz 1969, S. 25 f., 66. Vgl. Jean M E S Q U I , Le pont en France avant le temps des ingénieurs, Paris 1986, S. 246-251. 77 Vitruv, Zehn Bücher über Architektur / Vitruvii De architectura libri decem, l. 5, c. 12, Nr. 5, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt F E N S T E R B U S C H , Darmstadt 1964, S. 251-253; Vitruve, De l’architecture, Livre V, texte établi, traduit et commenté par Catherine S A L I O U , Paris 2009, S. 382 (Kommentar); Wilhelm O S T H U E S , Bauwissen im antiken Rom, in: Wissensgeschichte der Architektur, Bd. 2: Vom Alten Ägypten bis zum Antiken Rom, hg. von Jürgen R E N N / Wilhelm O S T H U E S / Hermann S C H L I M M E (Max Planck research library for the history and development of knowledge. Studies 4), Berlin 2014, S. 265-422, hier S. 367; Emil J Ü N G S T / Paul T H I E L S C H E R , Vitruv über Baugrube, Baugrund und Grundbau, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 51 (1936), S. 145-180, bes. S. 156-158 (Text) und 171-175 (Kastendamm), sowie Emil J Ü N G S T / Paul T H I E L S C H E R , Nachträgliches zu Vitruv V 12, in: Philologische Wochenschrift 59 (1936), Sp. 174-176; vgl. auch Horst B A R O W , Römer‐ brücken, Berlin 2008, S. 183 f. 78 Das Leerschöpfen erfolgte entweder von Hand mit Eimern oder mittels einer archimedi‐ schen Schraube oder eines Schöpfrads, vgl. J Ü N G S T / T H I E L S C H E R , Vitruv (wie Anm. 77), S. 175-177; M E S Q U I , Le pont (wie Anm. 76), S. 251-254; S E B E R I C H , Mainbrücke (wie Anm. 32), S. 70-74. - Im Prager Karlsbrückenmuseum (Muzeum Karlova mostu) sind alle Einzelschritte detailreich in Michal Cihlas Modell dargestellt, vgl. Michal C I H L A u. a., Zpráva o stavbě Karlova mostu [Nachricht vom Bau der Karlsbrücke], Prag 2016. Gerät, auf ein Floß montiert, wurde auch benötigt, wenn zur Konstruktion eines Brückenpfeilers ein Kofferdamm in der Flusssohle verankert werden sollte. Spä‐ tere Reparaturen am Fundament eines Pfeilers erforderten solche Spundwände erneut 76 . Das Prinzip beschrieb bereits Vitruv 77 . Ein Koffer- oder Fangedamm besteht aus einer doppelten Reihe eng nebeneinander gesetzter Pfähle, die, unten angespitzt und mit einer eisernen Bewehrung versehen, senkrecht in den Flussgrund getrieben wurden. Die parallelen Spundwände mussten einerseits gegen den Wasserdruck und andererseits gegen den Erddruck verstärkt werden, dem sie ausgesetzt waren, nachdem der Zwischenraum zwischen den beiden Reihen mit gestampfter und mit Ton vermischter Erde aufgefüllt wurde. Nun konnte das Wasser aus dem Bereich innerhalb der Pfahlwände herausgeschöpft werden. In der so erzeugten Baugrube wurde der Pfeiler fundamentiert und anschließend aufgemauert 78 . Einfluss auf die Anwendbarkeit dieser Methode hatten die Beschaffenheit des Flussbetts und die Gewässertiefe. So wurde bezweifelt, dass es mit der mittelalterlichen Rammtechnik überhaupt möglich gewesen sei, Pfähle für einen Kofferdamm bis auf den soliden Untergrund zu treiben, der in der Elbe bei Raudnitz in einer Tiefe von 6-7 m unter der 47 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="48"?> 79 Jan M A S O P U S T , Jiný pohled: Skříňové zakládání gotického mostu v Roudnici nad Labem a Karlova mostu v Praze [Ein neuer Blick: Senkkastengründung der gotischen Brücke in Raudnitz an der Elbe und der Karlsbrücke in Prag], in: Zakládání (2013) H. 2, S. 9. 80 Vitruv, Architektur (wie Anm. 77) l. 5, c. 12, Nr. 5, S. 251; Vitruve, De l’architecture (wie Anm. 77), S. 378 f. (Kommentar). 81 S E B E R I C H , Mainbrücke (wie Anm. 32), S. 70, 78. 82 Helmut-Eberhard P A U L U S , Baualtersplan zur Stadtsanierung. Regensburg VIII: Oberer und unterer Wöhrd, St. Katharinenspital, Steinerne Brücke (Baualterspläne zur Stadt‐ sanierung in Bayern 10), München 1987, S. 38. Flusssohle liege 79 . Würden aber die Pfähle lediglich in Kies und Sand stecken, würde das Wasser unentwegt in einer solchen Geschwindigkeit nachströmen, dass es nicht gelänge, es abzuschöpfen. Aus diesem Grund wurde der Gitterrost mit angearbeiteter Schalung, der unter einem Pfeiler der Raudnitzer Brücke lag, nicht als Fundamentplatte, sondern als Rest eines Senkkastens gedeutet. Auch diese Erfindung findet sich schon bei Vitruv am Beispiel von Hafenmolen erläutert 80 . Ein Kasten, eigentlich eine aus Pfählen und Querstreben gezimmerte Verschalung des geplanten Pfeilers, wurde an die richtige Position gezogen und im Untergrund durch Rammen verankert. Bei Vitruv hat der Kasten keinen Boden. Wie der Baugrund eingeebnet und gereinigt werden soll, führt Vitruv nicht näher aus. Bruchsteine und ein spezieller Mörtel, der unter Wasser aushärten kann, werden in den Kasten eingefüllt, und auf dem so geschaffenen Sockel wird der Pfeiler aufgemauert. Entscheidend ist hier der hydraulische, d. h. unter Wasser abbindende Zement, dem Puzzolanerde beigemengt war. Für Orte, an denen kein entsprechender Zuschlagstoff greifbar war (und Raudnitz gehörte sicherlich dazu), verwies Vitruv auf die Technik des Kastenfangedamms. Den Würzburger Brückenbaurechnungen lässt sich entnehmen, dass die zur Erneuerung der Strompfeiler ab 1476 angelegten Wasserstuben tatsächlich nur unter großen Schwierigkeiten trocken zu halten waren, insbesondere während des Sommerhochwassers 1480, als der Bau sogar eingestellt werden musste 81 . Während der Sommermonate 1488 schöpften bis zu 180 Mann gleichzeitig und ohne Pause Wasser aus der Grube. Nichtsdestotrotz musste man an der Methode der Kastenspundung festhalten und versuchte, wo es ging, die mit eisernen Schuhen bewehrten Pfähle in den felsigen Untergrund hineinzutreiben. Sicher kam es den Brückenbauern entgegen, wenn ein Sommer so heiß und niederschlagsarm war, dass die Flüsse austrockneten. Für das Jahr 1135, in dem mit dem Bau der Regensburger Steinernen Brücke begonnen wurde, ist ein solcher Sommer überliefert 82 . Bei den meisten Brücken des 12.-14. Jahrhunderts wurde darauf verzichtet, in der Baugrube selbst weitere Pfahlreihen zu setzen, um die Brückenpfeiler zu fun‐ dieren. Diese Technik wurde bei der Koblenzer Moselbrücke Erzbischof Balduins 48 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="49"?> 83 Georg S C H N E I D E R , Die Balduinbrücke über die Mosel in Koblenz, in: Jahrbuch für Geschichte und Kunst des Mittelrheins 1 (1949), S. 1-14, bes. S. 1-10. 84 S E B E R I C H , Mainbrücke (wie Anm. 32), S. 55, 76. von Luxemburg (amt. 1307-1354) nachgewiesen, als 1946-1949 die Fundamente von vier der 13 Pfeiler ertüchtigt werden mussten 83 . Die in mehreren Reihen im Abstand von 60-100 cm aufgestellten Pfähle stecken die Grundrissfläche jedes Pfeilers einschließlich seiner spitz zulaufenden Schmalseiten ab (Abb. 13). Im Unterschied zu den Pfahlrosten, die den Pfeilergrund der älteren Römerbrücke in Trier sicherten, liegen auf den Pfahlreihen in Koblenz keine Schwellbalken auf; statt dessen sind die Pfahlköpfe mit Sandsteinplatten abgedeckt, auf denen das Pfeilermauerwerk auflagert. Abb. 13: Koblenz, Balduinbrücke über die Mosel, Pfahlgründung von Pfeiler L In Würzburg waren schon die alten Pfeiler auf der Flusssohle gegründet und ebenso wurde bei der Erneuerung verfahren, die 1476 einsetzte 84 . Auch in Regensburg, Esslingen, Basel, Raudnitz und Dresden besaßen die Brückenpfeiler Flachgründung. In Regensburg besteht die Fundamentplatte lediglich aus einem Rahmen mit Querstreben aus Eichenbalken, der auf dem eingeebneten Kies des 49 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="50"?> 85 Heinrich Johann B O E S N E R , Die steinerne Donau-Brücke zu Regensburg, Regensburg 1830, S. 19 f.; Adolf S C H M E T Z E R , Die Steinerne Donaubrücke zu Regensburg, in: Die Ostbairischen Grenzmarken 14 (1925), S. 312-317, hier S. 313; P A U L U S , Baualtersplan (wie Anm. 82), S. 45 f.; D I R M E I E R , Steinerne Brücke (wie Anm. 40), S. 33 f. 86 Erwin R U M M L E R , Neckarbrücke Esslingen (Pliensaubrücke), in: Steinbrücken in Deutschland, hg. vom Bundesminister für Verkehr, Düsseldorf 1988, S. 21-24, hier S. 24; Walter B E R N H A R D T , Die Befestigung der Pliensauvorstadt, die Änderung des Neckarlaufs und der Bau der beiden Esslinger Steinbrücken, ein Werk Rudolfs von Habsburg, in: Esslinger Studien 25 (1986), S. 1-19. 87 C I H L A / P A N ÁČ E K , Středověký most (wie Anm. 68), S. 18-23; Michal C I H L A / Michal P A ‐ N ÁČ E K , Konstrukční a technologické aspekty středověkého mostu v Roudnici nad Labem v porovnání s Juditiným a Karlovým mostem a Praze a kamenným mostem v Písku [Konstruktive und technologische Aspekte der mittelalterlichen Brücke in Raudnitz an der Elbe im Vergleich mit der Judith- und der Karlsbrücke in Prag und der steinernen Brücke in Písek], in: Dějiny staveb (2006), S. 213-237, hier S. 223. 88 S P E H R / B O S W A N K , Dresden (wie Anm. 40), S. 156-158, und S P E H R , Skizzen (wie Anm. 16), S. 248 f. (Anm. 378). 89 S C H Ä F E R , Rheinbrücke (wie Anm. 19), S. 326. 90 Ferdinand J. L E H N E R , Dějiny uměni národa Českého 1: Doba románská, 3: Architektura. Sochařství. Malířství. Umělecký průmysl [Geschichte der Kunst des tschechischen Volkes 1: Romanische Epoche, 3: Architektur. Skulptur. Malerei. Kunstgewerbe], Prag 1907, S. 124; C I H L A / P A N ÁČ E K , Konstrukční (wie Anm. 87), S. 222 f., mit Verweis auf eine mündliche Auskunft von Zdeněk Dragoun. Flussbetts ruht 85 . In ähnlicher Weise, auf einem Balkenrost mit Steinschutt, sind die Pfeiler der Pliensaubrücke in Esslingen aufgemauert; nach Vollendung der Brücke 1294 wurde der Hauptarm des Neckars unter ihr hindurch geleitet 86 . In Raudnitz an der Elbe legte man auf das Kiesbett des Grundes einen besonders stabil verblatteten Balkenrost mit angearbeiteter Schalung, die die untersten Steinlagen des Pfeilers aufnahm 87 . In Dresden saßen die Pfeiler der ersten Brücke ohne Fundament unmittelbar „auf dem blanken Kies“ der Elbe auf; sie waren von der untersten Schicht an in Schalenmauerwerk mit einem Kranz sauber zugerichteter Sandsteinquader und einem Kern aus Gussmauerwerk konzipiert; die Quader verbanden mit Blei fixierte Eisenklammern 88 . In Basel waren die Steinpfeiler auf dem felsigen Untergrund aufgemauert, wobei die Außenschale aus großformatigen Kalksteinquadern bestand, die miteinander durch Eisenklammern verbunden waren 89 . Unter dem erhaltenen Pfeiler der Judithbrücke auf der Altstädter Seite wurde um die vorletzte Jahrhundertwende angeblich eine Pfahlrostgründung gesichtet, doch konnte an einer anderen Stelle bisher nur ein Schwellenbalken bestätigt werden 90 . Mit dem Aufkommen von Steinbrücken erschlossen sich Steinmetzmeister ein neues Betätigungsfeld, in dem die Aufgaben der bis dahin federführenden Zimmerleute auf Hilfskonstruktionen - Kofferdämme und Lehrgerüste für die Bögen - beschränkt blieben. Während der auf den Werkstoff Holz spezialisierte 50 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="51"?> 91 P I T Z , Aufkommen (wie Anm. 75), S. 52. 92 Le carnet de Villard de Honnecourt, Paris, Bibliothèque Nationale de France, MS Fr 19 093, fol. 45r, vgl. www.classes.bnf.fr / villard / feuillet / feuille1 / 4445.htm; Roland B E C H M A N N , Villard de Honnecourt. La pensée technique au XIII e siècle et sa commu‐ nication, Paris 1991, S. 231-235, 243 f., 246-251, 278-286; Jean W I R T H , Villard de Honnecourt. Architecte du XIII e siècle (Titre courant 58), Genf 2015, S. 142-149, 151 f., 161-163; vgl. M E S Q U I , Le pont (wie Anm. 76), S. 240 und Fig. 257, C I H L A u. a., Zpráva (wie Anm. 78), S. 86. Zur Holzbrücke auch D E I L , Baugeschichte (wie Anm. 26), S. 80 f. Berufsstand auch weiterhin und bis weit in die Neuzeit Flüsse mit ausschließlich gezimmerten Konstruktionen überspannte, teilten sich beim Steinbrückenbau Vertreter beider Gewerke die Verantwortung - falls der Auftraggeber es genauso hielt wie Karl von Anjou im ausgehenden 13. Jahrhundert: Die Bauleitung aller seiner Burgen (Melfi, Canosa, Bari) hatte der König von Sizilien in die Hand eines Maurers und eines Zimmermanns gelegt, der Letztere war zuständig für das Planen und Abmessen, der andere führte die Aufsicht über die Ausführung (ordinare et supervidere). Der dritte im Bunde war der Baustellenleiter, der die Verwendung der Gelder und die Werkvertragsleistungen der Handwerker prüfte und dem königlichen Justitiar rechenschaftspflichtig war 91 . Wie das Beispiel Wilhelms von Sens zeigt, gab es immer einige Architekten, die sich für die ingenieurstechnischen Voraussetzungen ihrer Werke interessierten. Villard de Honnecourt (1200 bis nach 1235) war einer von ihnen. Die Entwürfe, die sein Skizzenbuch enthält, sind wohl als eigenständige Weiterentwicklungen von Vorrichtungen zu betrachten, die er aus der Zusammenarbeit mit Zimmer‐ leuten kannte. Dabei handelt es sich weniger um Lösungen für Alltagsprobleme, sondern eher um Sonderanfertigungen für spezielle Aufgaben oder um bloße Gedankenspiele. Neben einem Rad, das sich von alleine drehen soll, einem Göpelwerk zum Anheben besonders großer Lasten und einer wassergetriebenen ‚automatischen‘ Säge zeigen die Blätter, wie man die Schraube eines Bohrers schneidet und wie man das Sprengwerk für eine Holzbrücke mit einer geringen Spannweite ohne Gerüst von beiden Ufern aus herstellen kann. Dies und eine offenbar tatsächlich optimierte Version einer Unterwasser-Säge, die beim Rückbau von Kofferdämmen einsetzbar war, veranschaulicht, dass Villard auch Wasserbaumaßnahmen wenn nicht selbst geleitet, so doch als Beobachter verfolgt hat 92 . 51 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="52"?> 93 So bereits die Beobachtung von M A S C H K E , Brücke (wie Anm. 13), S. 277: Informationen über die Kosten von Teilreparaturen liegen eher vor, aber die Gesamtkosten eines Brückenbauwerks bleiben weitestgehend im Dunkeln. 94 Beispielhaft bei M A S C H K E , Brücke (wie Anm. 13), S. 268 f., 278 f. 95 Testamentarische Verfügungen zugunsten des Brückenbaus etwa für den Fall der Frankfurter Mainbrücke in Jakob B E C K E R , Die religiöse Bedeutung des Brückenbaues im Mittelalter, mit besonderer Beziehung auf die Frankfurter Mainbrücke, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 4 (1869), S. 1-20, hier S. 4 f. 96 Wallfahrt und Ablasswesen sind vielfältig verwoben, vgl. etwa den Überblick bei Diana W E B B , Pardons and Pilgrims, in: Promissory notes on the treasury of merits. Indulgences in late Medieval Europe, hg. von Robert Norman S W A N S O N (Brill’s companions to the Christian tradition 5), Leiden u. a. 2006, S. 241-276; Robert W. S H A F F E R N , The Medieval Theology of Indulgences, in: ebd., S. 11-36; auf den Zusammenhang von Religion und Brückenbau im breitesten Sinn verweist auch die ältere Forschung: B E C K E R , Bedeutung (wie Anm. 95); Franz F A L K , Die Kirche und der Brückenbau im Mittelalter, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 87 (1881), S. 89-110. 97 Die ältere Forschung beschränkte sich gelegentlich auf den Abdruck einzelner Ur‐ kunden, wie z. B. Franz F A L K , Der Esslinger Neckarbrückenablass 1286, in: Korrespon‐ denzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthums-Vereine 27 (1879), S. 55; wichtig sind natürlich M A S C H K E , Brücke (wie Anm. 13), und zu religiösen Motiven für Brückenbau - wenn auch stark religions- und mentalitätsgeschichtlich konturiert - Peter D I N Z E L B A C H E R / Harald K L E I N S C H M I D T , Seelenbrücke und Brückenbau im mittelalterlichen England, in: Numen 31 / 2 (1984), S. 242-287, wenn auch nicht direkt zu Ablässen v. a. S. 257-260. Grundlegend bleibt jedoch die Übersicht bei Nikolaus P A U L U S , Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bde., Paderborn 1922-1923 (ND Darmstadt 2000, bearb. von Thomas L E N T E S ), hier Bd. 3: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Paderborn 1923, S. 439-443. II. Finanzierung von Brückenbau durch Ablässe: Wallfahrtsförderung oder Reaktion auf hydrologische Extremereignisse? Aus den obigen Ausführungen geht hervor, welche Brückenbauten bis 1350 entstanden waren, wer sie in Auftrag gab und wer das technische Know-how besaß, sie umzusetzen. Die Frage der konkreten Finanzierung von Bau und Unterhaltung ist jedoch, wie erwähnt, in diesem Zeitabschnitt - und anders als im 15. Jahrhundert - nur selten aus den Quellen heraus zu beantworten 93 . Oft wird dafür summarisch auf erhobene Brückenzölle 94 oder vereinzelt fromme Schenkungen verwiesen 95 , doch im Folgenden soll eine Finanzierungsform im Mittelpunkt stehen, die fromme und pragmatische Ziele in sich vereinte: Ablässe, die ausdrücklich zur Errichtung, zur Reparatur und zum Weiterbau von Brücken vergeben wurden, Brückenbauablässe also, die sehr häufig damit begründet wurden, Pilgern das Erreichen von Wallfahrtszielen zu erleichtern 96 . Es gibt kaum eine neuere, wirklich systematische Beschäftigung der Ablass‐ forschung mit dieser Sonderform der Brückenfinanzierung 97 . Doch wie bei N I ‐ 52 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="53"?> 98 P A U L U S , Geschichte des Ablasses 2 (wie Anm. 97). 99 Robert Norman S W A N S O N , Indulgences in Late Medieval England. Passports to Paradise? , Cambridge u. a. 2007, mit sporadischen Verweisen auf Brückenbauablässe laut Index. 100 Vgl. Christiane L A U D A G E , Das Geschäft mit der Sünde. Ablass und Ablasswesen im Mit‐ telalter, Freiburg / Basel / Wien 2016, zu Brücken- und Deichbauablässen v. a. S. 65-68. 101 Dazu jüngst: Eshter D E H O U X / Caroline G A L L A N D / Catherine V I N C E N T , Les indulgences: actualités et perspectives historiographiques, in: Revue Mabillon 29 (2018), S. 249-258; Economia della salvezza e indulgenza nel Medioevo, hg. von Étienne D O U B L I E R / Jochen J O H R E N D T , Milano 2017; Referenzwerke bleiben S W A N S O N , Indulgences (wie Anm. 99); S W A N S O N , Promissory notes (wie Anm. 95); Hartmut K Ü H N E , Heiltumsweisungen: Re‐ liquien - Ablaß - Herrschaft. Neufunde und Problemstellungen, in: Jahrbuch für Volkskunde 27 (2004), S. 42-62; zum Sonderfall der Sammelindulgenzen vgl. Alexander S E I B O L D , Sammelindulgenzen. Ablaßurkunden des Spätmittelalters und der Frühneuzeit (Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde. Beiheft 8), Köln u. a. 2001. 102 Robert Norman S W A N S O N , Piety and infrastructure. Bridge maintenance in early six‐ teenth-century Staffordshire, in: Staffordshire Studies 13 (2001), S. 145-156; auf die relativ reichhaltige Überlieferung von Brückenbauablässen im englischen Kontext verweist bereits P A U L U S , Geschichte des Ablasses 3 (wie Anm. 97), S. 443. 103 Nikolaus P A U L U S , Der Ablaß im Mittelalter als Kulturfaktor, Köln 1920, S. 42. 104 Auf einen früheren Brückenbauablass für Altopascio und die der Kommunität zuge‐ ordnete Arnobrücke verweist Giuliana A L B I N I , L’economia della carità e del perdono. Questue e indulgenze nella Lombardia bassomedievale, in: Reti Medievali 17 / 1 (2016), S. 155-188, https: / / doi.org/ 10.6092/ 1593-2214/ 491, hier S. 162. K O LA U S P AU L U S mehrbändigem Werk zum Ablass aus den frühen 1920er Jahren 98 ist auch in der jüngeren Forschung - genannt sei etwa für England R O B E R T N O R MAN S WAN S O N mit seiner Monographie von 2007 99 oder C H R I S TIAN E L AU DA G E S Überblick zum Ablass von 2015 100 - der Brückenbauablass mehr Beifang, der nicht ins Zentrum der Untersuchungen gestellt wird: ein Nebenschauplatz unter vielen des kulturhistorisch so reichen Feldes der Indulgenzen 101 . Ein Aufsatz zur englischen Grafschaft Staffordshire im frühen 16. Jahrhundert ist hier die Ausnahme zur Regel 102 . Doch wie können Infrastrukturmaßnahmen wie Brückenbauten und indivi‐ duelles Seelenheil überhaupt zusammen gedacht werden? Wer einen Armen beherbergt und erquickt, der beherbergt und erquickt Christus den Herrn. Und wer schwierige, für Pilger und Reisende gefahrvolle Flussübergänge durch Herstellung von Brücken leicht und sicher macht, der liebt wahrhaft den Nächsten und bewahrt ihn vor Todesgefahr. 103 So wird - in der Übersetzung von N IK O LAU S P A U L U S - ein Ablass Bonifaz‘ VIII . von 1297 für die Kommunität von Altopascio begründet, der der Unterhaltung einer Brücke über den Arno gelten sollte 104 . Solche Ablässe zur Finanzierung von Brückenbauten, also ihre Errichtung und kontinuierliche Instandhaltung sowie Reparatur nach aufgetretenen Schäden (meist durch Hochwasser und Eisgang), finden sich seit dem 12. Jahrhundert 53 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="54"?> 105 Vgl. D I N Z E L B A C H E R / K L E I N S C H M I D T , Seelenbrücke (wie Anm. 97). 106 Corpus Iuris Canonici, II. Decretalium Collectiones, hg. von Ernst F R I E D B E R G , Leipzig 1881, Sp. 885: X 5.38.4: Quod autem consuluisti, utrum remissiones, quae fiunt in dedi‐ cationibus ecclesiarum aut conferentibus ad aedificationem pontium; vgl. dazu Nicolas V I N C E N T , Some pardoners‘ tales: The earliest English indulgences, in: Transactions of the Royal Historical Society 12 (2002), S. 23-58, hier S. 34. 107 Etwa für die Arnobrücke in Fucecchio, und dieser Ablass wurde bis 1197 von vier nachfolgenden Päpsten bestätigt, vgl. Italia Pontifica sive Repertorium privilegiorum et literarum a Romanis pontificis ante annum MCLXXXXVIII Italiae ecclesiis, monaste‐ riis, civitatibus singulisque personis concessorum, Vol. III: Etruria, hg. von Paul Fridolin K E H R , Berlin 1908, S. 481. 108 Vgl. Ludwig S C H M U G G E , Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 64 (1984), S. 1-83, hier S. 47 f.; Francesco C O G N A S S O , Ospedali di ponte, in: Studi di storia ospeda‐ liera piemontese in onore di G. Donna d’Oldenico, Torino 1958, S. 109-114. 109 Vgl. zu Wilhelms Ablassverständnis P A U L U S , Geschichte des Ablasses 2 (wie Anm. 97), S. 230-236. 110 Item si indulgencia pro pontibus edificandis, pro viis sternendis, vel planiendis, vel alias meliorandis, sciendum quod licet unicuique dispensatorum conducere operarios ad agenda opera domini sui, sic licet prelatis ecclesiarum in huiusmodi opere laborantibus dare indulgencias, quas viderint expedire considerato fructu illius ecclesie, quia huiusmodi opera serviunt peregracionibus et alias propter pias causas iter agentibus (BSB München, Clm 22 233, fol. 44rb), zitiert nach S H A F F E R N , Theology (wie Anm. 96), S. 18, Anm. 20. vor allem in Frankreich, Italien und England. Die Idee, dass Brückenbau ein Beitrag zum eigenen Seelenheil sein könnte, ist hingegen älter und vermutlich vorchristlich 105 . Ein erster Beleg im Kontext der mittelalterlichen Kirchenge‐ schichte ist wohl eine Dekretale Papst Alexanders III . (1159-1181) an den Erzbischof von Canterbury, die die Legitimität von Ablässen zum Brückenbau bestätigt 106 . Derselbe Papst war in der Toskana nachweislich entsprechend tätig geworden 107 . In Italien scheint die Praxis, Brückenbauten durch Ablässe zu finanzieren, bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gebräuchlich gewesen zu sein 108 . Die zentrale, im obigen Zitat aus dem Ablass für Altopascio plastisch formulierte Denkfigur, die Ablass und Brückenbau zusammenbrachte, umschrieb bereits 1215 Wilhelm von Auxerre in seiner theologischen Summe: Die Förderer von Brückenbau hätten Anteil an den Gebeten und guten Werken der Pilger, die die Brücken benutzen. Diese Pilger träten mit ihren Bußwerken für sie bei Gott ein 109 . Ein anonymer Theologe aus Metz argumentiert ebenso, dass Brückenbauablässe ihre Rechtfertigung darin fänden, dass sie Pilgern und anderen frommen Reisenden das Vorankommen leichter machten 110 . Für das 14. Jahrhundert ist der Befund von A L E XAN D E R S E I B O L D wichtig, dass Brückenab‐ lässe auch als kuriale bzw. bischöfliche Sammelindulgenzen vorliegen, und zwar sowohl in der Zeit des Avignoner Papsttums als auch nach dessen Rückkehr 54 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="55"?> 111 Vgl. S E I B O L D , Sammelindulgenzen (wie Anm. 101), S. 217 f. 112 Auf die Inkunabel (BSB München 2° Inc. s.a. 464, fol. 85v-87r) verweist S E I B O L D , Sammelindulgenzen (wie Anm. 101), S. 288-290. 113 Vgl. S W A N S O N , Indulgences (wie Anm. 99), S. 60, 382f. 114 Vgl. S E I B O L D , Sammelindulgenzen (wie Anm. 101), S. 35. Allerdings irrt Seibold sowohl in der Datierung - die Urkunde spricht von Juli 1275, nicht vom Januar - als auch in den Details: Dass es eine Eichenholzbrücke gewesen sein soll, geht nicht aus der Quelle hervor (siehe unten). Auch von Frostschäden ist dort nicht die Rede, sondern von Belastungen der Brücke durch Hochwasser und Treibeis sowie Eisstöße. 115 Cum igitur pons ligneus super fluuium Mosam Traiecti, Leodiensis dyocesis, consistit diuervsis prouintiarum et regnorum hominibus large lateque circumiacentium transitum dinoscitur administrare oportunum, nec ullo hominum ingenio ulloue artis studio ex materia lignea quantumcumque ingenti et robusta, seu quacumque subtilitatis cautela ordinata et composita valeat edificari, firmari uel muniri, ita ut tantam aquarum inundationem et glacierum impetum possit aliquamdiu firmus et integer sustentare, M.M. W I L L E M S E N , Inventaire chronologique des chartes et documents de l’église de St. Servais, à Maestricht, in: Publications de la Société d’Archéologie dans le Duché de Limbourg 2 (1865), S. 160-202, hier S. 183f. 116 W I L L E M S E N , Inventaire (wie Anm. 115), S. 184: aut enim inibi aquarum inundationes et glacierum impetus dicti pontis sustamenta et ypostases confringunt, aut postibus euulsis et compagibus dissolutis corruere faciunt in toto uel in parte, aut si quod raro accidit ipse pons multis sumptuosis laboribus et magnopere sustentatur aliquando reseruetur a ruina, crebris tam nach Rom und der Beendigung des Großen Abendländischen Schismas 111 . Eine Formularsammlung von Kardinalsammelindulgenzen des 15. Jahrhunderts ent‐ hält jedenfalls gleich zwei Formulare für die Neuerrichtung (pro ponte) und für die Reparatur (pro reparatione pontis fracti) von Brücken 112 . Leider sind Ablässe nicht systematisch erschlossen, so dass vorerst keine Entwicklungsgeschichte des Brückenablasses im Spätmittelalter geschrieben werden kann. Die Befunde der englischen Ablassforschung haben für Brückenablässe heraus‐ gestellt, dass diese anlass-, manchmal sogar personenbezogen und nicht konti‐ nuierlich ausgestellt wurden 113 . War also die Förderung der Wallfahrer nur ein theologisches Feigenblatt, während es ganz weltliche Ereignisse waren, die den Takt der Vergabe von Brückenbauablässen seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vorgaben? Betrachten wir einen ausnehmend detailliert verfassten Ablass für eine Brücke über die Maas. Starke Umwelteinflüsse sollen den Brückenpfeilern einer Holzbrücke in Maastricht 1275 so zugesetzt haben, dass diese im Sommer unter der Last einer Prozession nachgaben 114 . Die narratio des Brückenbauablasses, der fast zehn Jahre nach dem Ereignis datiert, ist jedenfalls von enormer Genauigkeit: Die Bedeutung der Brücke für die Region wird hervorgehoben, um auch den Aufwand für ihre besonders stabile Ausführung zu begründen 115 . Zugleich wird ausführlich auf verdeckte Schäden an der Brückenkonstruktion (debilitatur occulte) hingewiesen, die dazu geführt haben, dass die Brücke ihre üblichen Traglasten nicht mehr habe bewältigen können 116 . Der apologetische Charakter des Ablasses 55 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="56"?> et inoportunis continuisque grauium honerum transuectionibus conquassatum adeo in aliquibus suis partibus debilitatur occulte, ne pondera consueta non ualeat portare secure. 117 Bemerkenswert ist auch die Datierung der Sammelindulgenz auf 1284: Sie liegt nur drei Jahre nach dem ersten Nachweis einer kurialen Sammelindulgenz für Brückenbauten im August 1281, vgl. S E I B O L D , Sammelindulgenzen (wie Anm. 101), S. 35. 118 Vgl. dazu die Fallbeispiele in diesem Beitrag, aber etwa auch der Ablass für die Neckarbrücke in Esslingen von 1286: ponte de Ezzelingen Constantienses dyocesis pre nemia diluvii import‐ unitate ac impetu et concussione motuque inundantie vehementi quam sepius corruente ac in aliqua parte sui ruinam, Urkundenbuch der Stadt Esslingen, Bd. 1: 1157-1360, hg. von Adolf D I E H L , Stuttgart 1899, S. 87, Nr. 203. 119 Vgl. P A U L U S , Geschichte des Ablasses 3 (wie Anm. 97), S. 370 f.; so auch bei S C H M U G G E , Anfänge (wie Anm. 108), S. 49 f. 120 Vgl. Daniel L E B L É V E C , Indulgences et quêtes, à propos des œuvres de pont de la vallée du Rhône, in: Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, hg. von Andreas R E H B E R G (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 132), Berlin 2017, S. 271-282, hier S. 272-275; die Überlieferung ist ediert von F. D E R I P E R T -M O N C L A R , Bullaire des indulgences concédées avant 1431 à l’œuvre du pont d’Avignon par les souverains pontifes, Monaco / Paris 1912, und wurde zur Prüfung bzw. Ergänzung der Tabellen bei Le Blévec herangezogen. zum Brückenneubau wird verständlich, wenn man bedenkt, dass 400 Menschen bei der Prozession am 10. Juli 1275 beim Einsturz der Brücke den Tod fanden, zusammen mit dem Dekan und dem Domkapitel von Maastricht 117 . Der Hinweis auf vorangehende Zerstörungen oder Beschädigungen einer existierenden Brücke durch Hochwasser und Eisstöße ist tatsächlich ein wiederkehrendes Element von Brückenbauablässen 118 . Doch auch die Zuschreibung einer Kausalität von Extremereignissen für die Notwendigkeit eines Brückenneubaus bzw. aufwändiger -reparatur könnte ebenso ein Vorwand gewesen sein, um diese teure Aufgabe auf viele Schultern zu verteilen. Überprüfen lässt sich dies durch eine Fluss- und Brückenregion, die untere Rhône, bei der die Quellenlage sowohl zu Brückenbauablässen wie zu meteorologischen Extremereignissen wie Hochwassern und Eisstößen ausnehmend gut ist. Dass die Überlieferung päpstlicher Ablässe für die Brü‐ cken über die Rhône und ihre Zuflüsse im 14. und 15. Jahrhundert besonders reichlich ist, fiel bereits N IK O LAU S P AU L U S auf 119 . Vor allem für die Brücken in Avignon und Pont-Saint-Esprit ist aufgrund der dortigen opera pontis und deren geographische wie administrative Nähe zum Papsttum eine besonders dichte Überlieferung päpstlicher Brückenbauablässe zu verzeichnen 120 . Doch der erste Brückenbauablass für Avignon datiert auf das Pontifikat Martins IV . (1281-1285), ausgestellt also vor dem Avignonesischen Exil, und erwähnt am 28. März 1281 den kontinuierlichen Reparaturbedarf der Brücke wegen 56 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="57"?> 121 R I P E R T -M O N T C L A R , Bullaire (wie Anm. 120), S. 3: pons Rodani Avinionensis, qui nondum complexus extitit propter inundaciones aquarum et nonnullas alias causas, frequenter reparacione quasi continua indigere noscatur. Allerdings wird der Hinweis auf die Hochwasserereignisse in den folgenden Brückenbauablässen von 1290, 1343, 1353, 1366, 1397, 1430 nicht wiederholt. 122 Vgl. Georges P I C H A R D / Gilles A R N A U D -F A S S E T T A / Vincent M O R O N / Émeline R O U C A U T E , Hydro-climatology of the Lower Rhône Valley: historical flood reconstruction (AD 1300-2000) based on documentary and instrumental sources, in: Hydrological sciences journal - Journal des sciences hydrologiques 62 / 11 (2017), S. 1772-1795. 123 http: / / histrhone.cereges.fr (derzeit offline); die Daten können aber erschlossen werden über Georges P I C H A R D / Émeline R O U C A U T E , Sept siècles d’histoire hydroclimatique du Rhône d’Orange à la mer (1300-2000). Climat, crues, inondations, Aix-en-Provence 2014. Hochwasserschäden, ohne diese Begründung mit Umweltfaktoren in den Fol‐ geablässen zu wiederholen 121 . In unserem Fall lässt sich diese Überlieferung erstmals mit einer Rekonstruk‐ tion von Hochwasserereignissen und Flussgfrörnen, also dem vollständigen Zufrieren eines breiten Stroms im Winter, der Rhône in ihrem Unterlauf ab Orange, vergleichen 122 . Die dazu ausgewerteten Schriftquellen wurden von G E O R G E S P I C HA R D in einer Datenbank gesammelt 123 . Schaubild 1: Rekonstruktion schwerer Hochwasser und Flussgfrörnen am Unterlauf der Rhône für einzelne Jahrzehnte im 14. und 15. Jahrhundert nach P I C H A R D / R O U C A U T E 2014 und überlieferten päpstlichen Brückenbauablässen nach L E B L É V E C 2017 und R I P E R T -M O N C L A R 1912 57 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="58"?> 124 Codex diplomaticus Rheno-Mosellanus. Urkunden-Sammlung zur Geschichte der Rhein- und Mosellande, der Nahe- und Ahrgegend, und des Hundsrückens, des Mein‐ feldes und der Eifel, Bd. 3,1: Urkunden von 1300 bis 1350, bearb. von Wilhelm Arnold G Ü N T H E R , Koblenz 1824, Nr. 293, S. 458 f.: Sane venerabilis frater noster Baldewinus archiepiscopus Treuerensis nuper nobis intimare curauit quod ipse re publica et uiantium comodo super flumen Moselle quod est magnum et nauigabile ac sine nauis subsidio Die in Schaubild 1 präsentierten Daten scheinen für das 14. Jahrhundert aussage‐ kräftiger als für das 15. Jahrhundert. Nach einer initialen Brückenbaukampagne im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts korrelierten Hochwasserereignisse und Brückenbauablässe von den 1330er Jahren bis in die 1360er vor allem dann, wenn man einen gewissen Nachlauf von Extremereignis, Schadenswirkung und Einsetzen der Reparaturbemühungen zugesteht. Dies gilt auch noch für die zahlreichen Hochwasser der 1420er Jahre und einem Peak an Ablässen in den Jahren 1430 / 31. Ab den 1440er Jahren sind Brückenbauablässe wesentlich seltener für den Unterlauf der Rhône überliefert, was nicht zuletzt mit der Überwindung der Schismen nach dem Basler Konzil und der endgültigen Rückkehr der Päpste nach Rom seit den 1420er Jahren erklärt werden kann. Mit der Bewältigung der zahlreichen Extremereignisse der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts waren die Brückenbauer an der Rhône auf sich alleine gestellt. Ob es generell zu einem Abflauen der Brückenbauablässe gegen Ende des Spätmittelalters kam, kann aufgrund der Lückenhaftigkeit der Spezialforschung bisher nicht entschieden werden. Daher kann auch keine quantitative Antwort gegeben werden, ob verliehene Brückenbauablässe in kausalem Zusammenhang zu vorangehenden, extremen Hochwasserereignissen und Eisstößen standen und somit als Proxy für me‐ teorologische Extrembedingungen stehen können. In den folgenden drei Fall‐ studien aus dem 14. Jahrhundert soll aber noch einmal dem Zusammenhang von Wallfahrt und Brückenbau, Ablass und Extremereignis in qualitativer Herangehensweise nachgegangen werden. III. Wallfahrt - Ablass - Hochwasser. Brückenbau in Koblenz, Prag und Rapperswil III.1. Balduinbrücke in Koblenz Erzbischof Balduin von Trier hatte Anfang der 1340er Jahre einen großen Brückenneubau in Auftrag gegeben. Erstmalig erwähnt wird die bis heute als Balduinbrücke bezeichnete Querung der Mosel bei Koblenz am 16. August 1343, belegt durch einen Ablass von einem Jahr und einer Quadragene, gewährt von Papst Clemens VI . auf Veranlassung Erzbischof Balduins 124 . Am 24. Oktober 58 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="59"?> communiter transiri non potest, quendam pontem lapideum opere nimium sumptuoso construi facere et edificare proponit; Fehldatierung der Ersterwähnung auf 16. Juli 1343 und irrige Zuschreibung des Ablasses an Erzbischof Balduin bei Otto G R A F V O N L O O Z -C O R S W A R E M , Zur Geschichte der Verwaltung der Koblenzer Moselbrücke, in: Jahrbuch für Geschichte und Kunst des Mittelrheins 1 (1949), S. 15-28, hier S. 16. 125 Vgl. L O R E N Z -C O R S W A R E M , Geschichte (wie Anm. 124), S. 16. 126 Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden, Bd. 2: 1300-1380, bearb. von Arend M I N D E R M A N N (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der Ehemaligen Her‐ zogtümer Bremen und Verden 21 / Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 220), Stade 2004, Nr. 578, S. 505: Pons de novo per venerabilem in Christo patrem dominum Baldewinum archiepiscopum Trevirensem super flumine Moselle intra opidum Confluent[iam] sue Trevirensis dioecesis fundandus, per quem communis, maxime limina gloriose Marie virginis in Aquisgrano et beatorum apostolorum Petri et Pauli et aliorum sanctorum plurium visitandis, et alias proficiscentis populi, deo cooperante transitus, ubi propter diversarum aquarum inundationes et innumerabilium personarum concursus continuos multa pericula alieque incommoditates hactenus concur‐ rerunt. 127 UB Verden 2 (wie Anm. 126), S. 505: Ad edificationem, constructionem ac dicti pontis gubernationem, reparationem seu emendationem … aurum, argentum, vestimenta, lectos, linteamina, redditus, agros, terras, possessiones, domos, ortos, equos, oves, boves, quadrigas, ferrum, ligna, lapides, blada aut quevis alia ad constructionem dicti pontis necessaria aut opportuna. 128 Vgl. Friedrich S T A N D F U S S , Moselbrücke Trier (Römerbrücke), in: Steinbrücken in Deutschland (wie Anm. 86), S. 403-406, hier S. 404. Allerdings ist die von modernen Bauingenieuren verantwortete Forschungslage zu dieser mittelalterlichen Brücke als dürftig und unzuverlässig zu charakterisieren. 129 Vgl. Arno S A U E R , Moselbrücke Koblenz (Balduinbrücke), in: Steinbrücken in Deutsch‐ land (wie Anm. 86), S. 407-414, hier S. 408. 1343 folgte ein Sammelablass dreier Erzbischöfe und 18 Bischöfe von je einer Quadragene für den Brückenbau 125 . Mit dem päpstlichen Brückenbauablass war das Koblenzer Projekt sehr viel attraktiver für fromme Spenden als sein späteres Prager Pendant. In der ersten Urkunde vom Sommer 1343 wird der Neubau als bereits veranlasst beschrieben, er soll vor allem den Pilgern auf dem Weg nach Aachen und Rom nutzen, weil die Überquerung der Mosel durch die diversen Hochwasser und die Vielzahl der Reisenden besonders gefährlich geworden sei 126 . Die vielfältig denkbaren Spenden dienten dabei Bau und Unterhaltung der Brücke 127 . Als Brückenbauherr war Erzbischof Balduin vielleicht zeitgleich in Trier tätig 128 , wo er eine Holzbrücke durch eine Steinbrücke ersetzen ließ, während die behauptete Existenz eines Vorgängerbaus in Koblenz 129 unwahr‐ scheinlich ist, weil Balduin selbst betont hatte, dass der Fluss zuvor nur zu Schiff überquert werden konnte. Am 16. Dezember 1344 machte Balduin diese Ablässe erneut den Gläubigen seiner Diözese bekannt, fügte 40 Tage hinzu, ließ die Ablässe anschlagen und stellte davor einen Opferstock auf. Auch ließ er in allen Kirchen des Erzbistums für den Brückenbau sammeln, nachdem 59 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="60"?> 130 Vgl. Eduard W I N K E L M A N N , Acta imperii inedita, Bd. 2: Acta imperii inedita seculi XIII. et XIV.: Urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreichs und des Königreichs Sizilien in den Jahren 1200-1400, Innsbruck 1885, S. 814. 131 Wan die brucke ůber die Mosel czů Kobelencze an etzslichen enden czůbrochen und auch noch nyt vollenclich ist vollenfůrt, MGH Const. 12, bearb. von Ulrike H O H E N S E E u. a., Wiesbaden 2013, Nr. 467, S. 460; ältere Edition: Codex diplomaticus Rheno-Mosellanus. Urkunden-Sammlung zur Geschichte der Rhein- und Mosellande, der Nahe- und Ahrgegend, und des Hundsrückens, des Meinfeldes und der Eifel, Bd. 3,2: Urkunden von 1350, bearb. von Wilhelm Arnold G Ü N T H E R , Koblenz 1825, Nr. 458, S. 646 f. 132 S C H N E I D E R Balduinbrücke (wie Anm. 83) S. 12. 133 S C H N E I D E R , Balduinbrücke (wie Anm. 83), S. 13. 134 S C H N E I D E R , Balduinbrücke (wie Anm. 83) 3: „Es kann behauptet werden, daß die Stellung sämtlicher Pfeiler der Brücke von genauer Strömungsbeobachtung der Brückenbau‐ meister Zeugnis ablegt“. Boten die Ablässe für den Brückenbau beworben hatten. Außerdem schuf er die Möglichkeiten, Bußwallfahrten durch eine Brückenspende abzugelten 130 . Wir sehen hier also eine konzertierte Ablassaktion zugunsten der neuen Brücke, die trotzdem nicht schnell vollendet werden konnte. Denn eine Urkunde Kaiser Karls IV . vom 13. April 1359 belegt, dass die Brücke noch nicht fertig gestellt war, ja an vielen Stellen auch erneut zerbrochen sei 131 . Der Kaiser gewährt einen zweckgebundenen Brückenzoll für bemerkenswert weitsichtige 66 Jahre; der definitive Bauabschluss durch Errichtung des Torturms erfolgte erst 1429 132 . Da seit 1359 vom Trierer Erzbischof Boemund II . Brückenzoll erhoben wurde, ist aber von einer zu diesem Zeitpunkt existierenden Holzkonstruktion auf Basis der steinernen Pfeiler auszugehen 133 . Die Brücke wurde anlässlich Rekonstruktionsarbeiten in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre - drei Bögen waren im Krieg gesprengt worden - intensiv untersucht. Bemerkenswert war dabei, dass die allermeisten der 13 Pfeiler nicht senkrecht zur Brückenachse errichtet wurden, sondern leicht versetzt, vermut‐ lich an der Strömungsrichtung der Mosel ausgerichtet 134 . Vier der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Pfeiler konnten auch bezüglich ihrer Gründung detailliert untersucht werden: Dabei zeigt vor allem der letzte in Richtung Koblenzer In‐ nenstadt im Wasser stehende Pfeiler eine von den anderen Pfeilern fundamental abweichende Ausführung, die sehr aufschlussreich ist: Er weist wesentlich weniger Pfähle (66) auf als die anderen Pfeiler (je ca. 170-230), einzelne Pfähle dieses Pfeilers sind um 45° gedreht, großflächig ist abgesunkenes Mauerwerk festzustellen und zuletzt wurde ausschließlich bei diesem Pfeiler ein hölzerner Schwellenkranz um die Pfeilergründung herum angelegt. Die bauhistorische Interpretation des Befunds lautet eindeutig, dass während der Herstellung des Pfeilers eine massive Einwirkung durch Hochwasser oder Eisgang einge‐ 60 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="61"?> 135 S C H N E I D E R , Balduinbrücke (wie Anm. 83), S. 7 f. 136 Vgl. Martin B A U C H , Die Magdalenenflut 1342 am Schnittpunkt von Umwelt- und Infrastrukturgeschichte: Ein compound event als Taktgeber für mittelalterliche Infra‐ strukturentwicklung und Daseinsvorsorge, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 27 / 3 (2019), S. 273-309, hier S. 292 f. https: / / doi .org/ 10.1007/ s00048-019-00221-y. 137 Die Flutlagen in den Sedimentwarven des nördlich des Flusses liegenden Schalken‐ mehrener Maars zeugen von ausgeprägten Niederschlägen in den 1340er Jahren, vgl. Frank S I R O C K O (Hg.), Wetter, Klima, Menschheitsentwicklung. Von der Eiszeit bis ins 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 173, Abb. 31.5. Plausibel wird dies durch eine nur wenige Jahre jüngere Lage mit Insektenresten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Heuschreckeneinfall in Mitteleuropa 1338-/ 39 zugeordnet werden können, vgl. Martin B A U C H , Jammer und Not. Karl IV. und die natürlichen Rahmenbedingungen des 14. Jahrhunderts, in: Český Časopis Historický 115 / 4 (2017), S. 983-1016, hier S. 992 f. 138 S C H N E I D E R , Balduinbrücke (wie Anm. 83), S. 3. 139 Ob es vor 1354, ja recht eigentlich vor dem 16. Jahrhundert eine Heiltumsweisung des Marienschleiers in Trier, konkret in St. Maximin, gegeben hat, ist unklar, vgl. Wolfgang S E I B R I C H , Die Trierer Heiltumfahrt im Spätmittelalter, in: Archiv für mittel‐ rheinische Kirchengeschichte 47 (1995), S. 45-125; gegen einen Beginn der Weisungen in St. Maximin vor 1354 argumentiert überzeugend Hartmut K Ü H N E , Ostensio Reli‐ quiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75), Berlin / New York 2000, S. 484-486. Vielleicht war sie auch nur eine Zuschreibung Karls IV., der dort erhobenen Reliquien besondere Bedeutung geben wollte und ihre spätere Weisung in Prag so legitimierte, vgl. Martin B A U C H , Divina favente clemencia. Auserwählung, Frömmigkeit und Heilsvermittlung in der Herrschaftspraxis Kaiser Karls IV. (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 36), Köln / Weimar / Wien 2015, S. 212 f. Andere Trierer treten sein muss 135 . An anderer Stelle wurde argumentiert, dass wir hier einen Bauschaden durch die Hochwasser 1342 / 43 sehen, die den Brückenneubau getroffen haben könnten, als nicht mehr als der erste stadtseitige Brückenpfeiler errichtet worden war 136 . Entsprechende Hochwasserereignisse in der Region sind zwar nicht in den Schriftquellen, aber wohl in naturwissenschaftlichen Proxydaten belegt 137 . Und noch ein weiterer Hinweis bestärkt den Eindruck, dass auf die im Bau befindliche Balduinbrücke ein extremes Hochwasserereignis eingewirkt haben könnte: Die 13 Pfeiler stehen nicht rechtwinklig zur Achse der Brücke, sondern jeder für sich leicht versetzt: Es kann behauptet werden, dass die Stellung sämtlicher Pfeiler der Brücke von genauer Strömungsbeobachtung der Brückenbaumeister Zeugnis ablegt. 138 Und welche Rolle spielte bei der Errichtung der Balduinbrücke die Wall‐ fahrt? Das Argument der Förderung der Rom- und Aachenpilger wirkt im Koblenzer Fall einigermaßen weit hergeholt, auch wenn es der Trierer Erz‐ bischof vorbrachte. Eine Bezugnahme auf die Heiltumsweisung des Trierer Marienschleiers, deren Beginn unklar ist 139 , wird nicht getätigt. Daher wird auch 61 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="62"?> Weisungen liegen später, etwa in St. Matthias ab spätestens 1403, für den Heiligen Rock ab 1512, vgl. K Ü H N E , Ostensio, S. 489, 501 f. 140 Vgl. Werner G R A S E D I E K , Eine Eifeler „Weinstraße“: Der Koblenz-Lütticher-Fernhan‐ delsweg, in: Auf den Römerstraßen ins Mittelalter. Beiträge zur Verkehrsgeschichte zwischen Maas und Rhein von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert, hg. von Fried‐ helm B U R G A R D / Alfred H A V E R K A M P (Trierer historische Forschungen 30), Mainz 1998, S. 427-446. 141 Vgl. P A U L U S , Geschichte des Ablasses 3 (wie Anm. 97), S. 371, mit Verweis auf Adam G O E R Z , Regesten der Erzbischöfe von Trier, Trier 1861, S. 92, 121, 133, 150, 153; Ablass von Urban V. 1363 bei Heinrich Volbert S A U E R L A N D , Urkunden und Regesten zur Geschichte der Rheinlande aus dem vatikanischen Archiv, Bd. 5: 1362-1378, Bonn 1910, Nr 121, S. 39. 142 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 227. 143 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 232, 270. 144 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 290-294. 145 Vgl. W E I K I N N , Quellentexte (wie Anm. 8), S. 318-321, 324-326. im Fall der Balduinbrücke eine Stärkung des ost-westlichen Fernhandels auf der „Weinstraße“ von Koblenz über Malmedy bis Lüttich angestrebt gewesen sein, was nach Süden hin auch einen Anschluss an die Messe in Frankfurt bedeutete, nach Norden hin den Weg nach Flandern eröffnete und wegen weniger Mautstellen durchaus eine Alternative zum Warentransport auf dem Rhein darstellen konnte, der ab 1408 unter zurückgehenden Zolleinnahmen litt 140 . Abschließend ist zu fragen, ob spätere Ablässe für die Balduinbrücke, über‐ liefert für die Jahre 1356, 1363, 1390, 1409, 1422 und 1424 141 , mit regionalen Hochwasserepisoden oder Eisstößen korrelieren. Im Winter 1354 / 55 war der Rhein sieben Woche zugefroren 142 , allerdings liegen keine Berichte über einen zerstörerischen Eisstoß von Rhein und Mosel nach dieser Episode vor. 1362 und 1389 berichtet eine Chronik aus Mainz über ein zerstörerisches Rheinhochwasser bis an den Unterlauf 143 . Im Winter 1408 / 09 froren Flüsse in Frankreich und dem heutigen Belgien zu, auch der Rhein war betroffen, und Eisgang zerstörte auch Brücken der Maas und ausdrücklich an der Mosel 144 . Im Winter 1421 / 22 überschwemmten die Flüsse die Rheinanlieger vom Elsass bis nach Holland, und auch die Mosel war betroffen; im Sommer 1423 / 24 wiederholten sich die Ereignisse am Rhein und der Maas 145 . Hier zeigt sich also eine große Deckungsgleichheit von zerstörerischen Extremereignissen, die zumindest potentiell auch Koblenz hätten treffen können, und der Vergabe neuer Brückenbauablässe. 62 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="63"?> 146 Vgl. dazu ausführlich B A U C H , Magdalenenflut (wie Anm. 136). 147 Vgl. dazu Ondřej Š E F C Ů (Hg.), Karlův Most [Karlsbrücke], Praha 2007. 148 Franz von Prag, Chronicon (wie Anm. 67), S. 434: Nam quasi corona regni cecidit, cum ille pons famosus currit. 149 Franz von Prag, Chronicon (wie Anm. 67), S. 434: Pons quoque valentissimus a venerabili in Christo patre d. Johanne IIII, Pragensi episcopo XXVII, in Rudnicz efficaciter, firmiter decenterque constructus inviolatus permansit. 150 Regesta Bohemiae et Moraviae, Bd. 4, bearb. von Josef E M L E R , Prag 1892 (im Folgenden: RBM 4), Nr. 1208, S. 481 f.; unpräziser Verweis darauf in Codex diplomaticus et episto‐ laris Moraviae, Bd. 7, bearb. von Vinzenz B R A N D L / Antonín B O Č E K , Olmütz 1868, Nr. 456, S. 331. 151 RBM 4 (wie Anm. 150), Nr. 1292, S. 521: Praeterea mandat, ut in constructione seu reformatione pontis Pragensis iuxta statutum suum et filii sui Karoli et nonnullorum fidelium ac consiliariorum eorum decretum, prout in literis suis et primogeniti sui plenius continetur, praedictos fratres, bona et homines eorundem ad ulteriora nulla molestia aggravent. 152 6. März 1344: Das Franziskushospiz der Kreuzherren mit dem Roten Stern, an der Prager Brücke gelegen, wird von einer päpstlichen Zehnterhebung ausgenommen - allerdings III.2. Karlsbrücke in Prag Die Prager Judithbrücke fiel im Februar 1342 einem Eisstoß zum Opfer, der den Auftakt zu einer Reihe von Hochwasserereignissen der Jahre 1342 / 43 bildete, die unter dem Label Magdalenenflut bekannt sind 146 . Ihr Wiederaufbau wurde erst 1348 beschlossen und ab 1357 realisiert 147 . Während ihre Zerstörung von den Zeitgenossen mit drastischen Worten beschrieben wurde - „als wäre die Krone des Königreichs gefallen“ 148 in den Worten des Chronisten Franz von Prag - wurde zugleich bemerkt, dass ein anderes Bauwerk in Böhmen, die Elbbrücke von Raudnitz, das Hochwasser und den Eisstoß gut überstanden hatte 149 . Die zerstörte Judithbrücke sollte hingegen wiederaufgebaut werden. Dies ordnete Karl IV . noch 1342 an. Dafür sollten die Kreuzherren mit dem Roten Stern, ein böhmischer Ritterorden mit Hauptsitz nahe der Brücke, den Brückenzoll einsetzen, während sie für die Bauarbeiten von allen Abgaben befreit wurden. Die zur Rekonstruktion gesammelten Gelder sollten von Kreuzherren und Prager Bürgerschaft gemeinsam verwaltet werden 150 . Doch Konflikte blieben nicht aus. Bereits am 7. Juli 1343 mahnte König Johann von Böhmen die Schöffen und Bürger der Prager Altstadt, dass die Brüder der Kreuzherren mit dem Roten Stern bei der Wiederherstellung der Prager Brücke nicht weiter belästigt werden sollten 151 . Auch 1344 wurden die Kreuzherren erneut finanziell begünstigt 152 . Ein Fortschritt der Reparaturarbeiten ist aus den Quellen aber in den ganzen 1340er Jahren nicht erkennbar. Indirekte Hinweise deuten auf einen Entschluss Karls IV ., die Brücke neu zu errichten, und zwar spätestens 63 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="64"?> ohne Verweis auf deren Brückenbauaufgabe, vgl. RBM 4 (wie Anm. 150) Nr. 1385 f., S. 560 f. 153 Vgl. Josef T E I G E , Základy starého místopisu Pražského [Grundlagen der alten Prager Geschichte], 1437-1620, Prag 1910, S. 347. 154 Beneš Krabice von Weitmühl, Chronicon, hg. von Josef E M L E R , in: Fontes rerum Bohemicarum, Bd. 4, Prag 1884, S. 457-548, hier S. 526: Eodem anno imperator posuit fundamentum sive primarium lapidem in fundamento novi pontis Pragensis in litore prope monasterium sancti Clementis. 155 Möglicherweise hat Kaiser Karl IV. auch wegen der oben geschilderten grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Methode des Fangedamms 15 Jahre zwischen der Zerstörung der Prager Judithbrücke und dem Baubeginn an der Karlsbrücke verstreichen lassen und auf einen niedrigen Wasserstand der Moldau gewartet. Allerdings war es arbeits‐ technisch kaum möglich, alle Strompfeiler in der kurzen Zeit aufzurichten, in der der Fluss einmal seicht gefallen war. 156 Ferdinand T A D R A (Hg.), Cancellaria Arnesti. Formelbuch des ersten Prager Erzbischofs Arnest von Pardubicz. Nach einer Handschrift der k. k. Universitätsbibliothek zu Prag, in: Archiv für österreichische Geschichte 61 (1880), S. 267-597, hier Nr. V / 2, S. 395 f. 157 Und zwar einerseits wegen des Todes des Prager Erzbischofs am 30. Juni 1364, und an‐ dererseits aufgrund der Titulierung Karls IV. als domino Karolo Imperatore Romanorum sempre augusto ac Bohemie rege, T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), S. 395. 158 Vgl. T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), Nr. V / 1, S. 393 f. 159 T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), Nr. V / 2, S. 395: Ecce pons ille quondam la‐ pideus Pragensis super fluvio ibidem decurrente, quem magnifica dispositio cum maximis et sumptuosis expensis dive recordacionis principum construxerat fundatorum, dudum per glaciei et inundacionum impetum divina permissione et antiqui hostis invidia funditus corruit et totaliter est disrupta. ab 1348 153 . Ein offizieller Baubeginn der Karlsbrücke, durch Grundsteinlegung von der Altstadtseite her, wird gemäß der hofnahen Chronistik ins Jahr 1357 datiert 154 . Ungeklärt ist, warum dieses Projekt so lange verzögert wurde 155 . Zwar ist unklar, aus welchen Mitteln genau die Brücke finanziert wurde. Doch nach hier erstmals präsentierten Befunden könnte ein Brückenbauablass aus den späten 1350er oder den frühen 1360er Jahren eine wichtige Rolle gespielt haben: Aus dem Formelbuch des Prager Erzbischofs Ernst von Pardubitz (amt. 1343-1364) 156 ist ein solches Dokument für die Karlsbrücke überliefert, das in den Zeitraum April 1355 bis Juni 1364 datierbar ist 157 . Der Brückenbauablass folgte dem Beispiel eines weitgehend identisch formulierten Ablasses zugunsten der Neuerrichtung des Veitsdoms ab 1344 158 . Auch dieser Ablass argumentiert mit der Zerstörung des Vorgängerbaus, der Judithbrücke, durch Eisstoß und Hochwasser, das Gott zugelassen und der Teufel durch seinen Neid verursacht habe 159 . Für den Wiederaufbau mit Ablassgeldern wird wiederum eine Mischung von Motiven vorgebracht: Die Schwächsten der Gesellschaft litten darunter, 64 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="65"?> 160 T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), S. 396: Ex ipsius namque pontis ruina lugent vidue, plorant orphani, flent pupilli, vagiunt infantes, plangunt pauperes, peregrini tur‐ bantur laboratores, luunt mercatores, deficiunt cives et incole compaciuntur et condolent. 161 T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), S. 396: Quandoque propter nauli defectum, quandoque propter distemperiem eris, quandoque per varia et diversa periculis transfre‐ tare … quod lamentabilius est multi proch dolor submersi et plures in gravibus periculis fuerunt constituti. 162 T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), S. 396: Cultus divinus minuitur et honor sanctissime dei genitricis virginis Marie et gloriosissimis sanctis Vito, Venceslao, Adalberto cum aliis sanctis et beatis patronis nostris debitus propter transitus periculum impeditur. 163 Vgl. dazu ausführlich mit weiterer Literatur B A U C H , Divina favente clemencia (wie Anm. 139), S. 336 f. 164 Vgl. B A U C H , Divina favente clemencia (wie Anm. 139), S. 325, 329, 342, 345-349 und passim. 165 Vgl. Jana G A J D O Š O V Á , Vaulting Small Spaces: The Innovative Design of Prague’s Bridge Tower Vault, in: Journal of the British Archaeological Association 169 (2016), S. 39-58; D I E S ., The Lost Gothic Statue of St. Wenceslas at the Old Town Bridge Tower, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 80 (2017), S. 315-328. Bürger, Händler und Fremde / Pilger würden durch die Bauarbeiten gestört 160 . Zudem fehle manchen das Fährgeld, und wer es hat, sei den Unbillen des Wetters ausgesetzt wie auch den Gefahren der Überfahrt, denen schon manche zum Opfer gefallen seien 161 . Nicht zuletzt würde dadurch der Gottesdienst und die Verehrung der Gottesmutter sowie der heiligen Patrone Vitus, Wenzel und Adalbert vermindert 162 , man kann ergänzen: durch den schlechteren Zugang der Prager Einwohner und der Besucher der Stadt zum Veitsdom. Der Verweis auf die Gottesmutter erklärt sich durch die Ablässe für den aus Trier stammenden Marienschleier, die seit 1354 im Veitsdom erworben werden konnten 163 ; die ge‐ nannten Landespatrone waren allesamt ebenfalls im Veitsdom in ihren Reliquien präsent 164 . Und auch der Figurenschmuck des in den 1370er Jahren vollendeten Altstädter Brückenturms der Karlsbrücke zeigt neben Karl IV . und Wenzel IV . sowie einem Modell der Karlsbrücke genau die im Ablass benannten Heiligen: Veit und Adalbert - sowie den erst ab 1365 zur Würde eines Landespatrons aufgestiegenen Sigismund - zur Stadtseite (Abb. 14), eine ältere Wenzelstatue sowie eine nicht erhaltene Mariendarstellung auf dem Torturm zur Flussseite hin 165 . 65 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="66"?> 166 T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), Nr. V / 2, S. 396: Quam etiam pontis praefati Pragensis, qui precipue regnicolis nostris, omnibusque advenis peregrinis et pauperibus est maxime necessaria, utilis et opportuna, sine fidelium subsidiis nequit consummari. Abb. 14: Prag, Altstädter Brückenturm, Stadtseite, hl. Veit zwischen Kaiser Karl IV. und König Wenzel IV. Im Brückenbauablass, der wiederholt auf die erfolgreiche und noch laufende Finanzierung des neuen Veitsdoms verweist, wird auf die Nützlichkeit des Bauwerks für die Einwohner der Diözese, aber auch für die fremden Pilger verwiesen, das ohne die frommen Gaben nicht vollendet werden könne 166 . Als Petent für den Brückenbaublass, der ab dem Fest der Apostel Philipp und Jakobus (3. Mai) für ein Jahr gelten solle, wird ausdrücklich der Kaiser genannt, aber auch hohe Adlige und Kleriker und Bürger. Bemerkenswert sind zudem die genauen Anweisungen, wie der Brückenbauablass publik gemacht werden solle: Die Ablassbriefe seien jeden Sonn- und Festtag in der Volkssprache den Kirchenbesuchern zu zeigen und zu erklären, in Predigten 66 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="67"?> 167 Vgl. T A D R A , Cancellaria Arnesti (wie Anm. 156), S. 397. 168 Joseph N E U W I R T H , Die Prager Karlsbrücke und ihr Einsturz am 4. September 1890, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 14 (1891), S. 463-472, hier S. 466 f. (zur Urkunde von 1372); Jakub V Í T O V S K Ý , Stavitel Karlova mostu mistr Ota - k otázce vztahů mezi stavební činností Jana IV. z Dražic a Karla IV. [Der Erbauer der Karlsbrücke Meister Otto - zur Frage der Beziehungen zwischen den Baumaßnahmen Jans IV. von Dražic und Karls IV.], in: Zprávy památkové péče 54 (1994), S. 1-6. 169 Regensburg: Brückenprivileg Kaiser Friedrichs I. vom 26. September 1182, ed. MGH DD F I. 4, bearb. von Heinrich A P P E L T , Hannover 1990, Nr. 831, S. 40 f.; Urkunde vom 15. Februar 1251, Regensburg, Archiv des Katharinenspitals, Urkunden (1145-1568), in: monasterium.net, URL </ mom/ DE-AKR/ Urkunden/ 12510215/ charter>, Abruf am 30. Juni 2021. - Dresden: Urkunde von 1303, vgl. S T A N I S L A W -K E M E N A H , Brückenamt (wie Anm. 31), S. 21. - Koblenz: Vgl. L O O Z -C O R S W A R E M , Geschichte (wie Anm. 124), S. 19. zu erwähnen, und zwei verlässliche Kollektoren für die Gelder sollten aus den Pfarrkindern heraus bestimmt werden. So konnten jeweils 40 Tage Ablass von den Gläubigen erworben werden 167 . Die Überlieferung erlaubt keine sichere Aussage, ob der auf ein Jahr beschränkte Brückenbauablass mehrfach vergeben wurde oder auch Anwendung auf andere Bauprojekte im Königreich Böhmen fand; dafür spricht freilich seine Aufnahme ins Formelbuch des Prager Erzbischofs. Viel diskutiert wurde die Frage, wer für die Konstruktion verantwortlich sein könnte. Es ist möglich, dass wir hier in Prag Jahre später in einem gewissen Ott‐ linus einen der vom französischen Baumeister Wilhelm in Raudnitz angelernten Einheimischen wiedersehen, aber es ist nicht zu beweisen. In zwei Urkunden aus den Jahren 1359 und 1372 wird Ottlinus als Prager Brückenmeister (magister pontis Pragensis) charakterisiert, während aus anderen Quellen klar hervorgeht, dass er ein sehr vermögender, auf der Prager Kleinseite ansässiger Steinmetz war 168 . Aus seinem Beruf folgt allerdings nicht zwingend, dass er die technische Seite des Unternehmens Karlsbrücke leitete, denn magister pontis ist die übliche Bezeichnung für den Leiter des Brückenamts, der das Sondervermögen einer Brücke treuhänderisch verwaltete 169 . Es wäre auch unverständlich, wenn das laufende Bauprojekt, das Ottlinus beschäftigte, in Urkunden Erwähnung finden sollte, die mit dem Brückenbau nichts zu tun hatten. Eine amtliche Stellung wie Brückenmeister anzuführen, zeichnet hingegen jede Person aus, deren Rechtsgeschäft dokumentiert werden soll. Bis zu seinem Tod 1375 regelte Ottlinus im Auftrag des Bauträgers Zu- und Abfluss von Geldern der Baukasse. Die technische Aufsicht über das Bauwerk dürfte von Anfang an bei Peter Parler (1332 / 33-1399) gelegen haben, wenngleich völlig offen bleibt, wo dieser 67 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="68"?> 170 Zur Inschrift über der Parlerbüste im Veitsdom, derzufolge Parler rexit pontem multauie, zuletzt Jens R Ü F F E R , Peter Parler Baumeister und Bildhauer? , in: Meister Ludwig - Peter Parler - Anton Pilgram. Architekt und Bildhauer? Zu einem Grundproblem der Mediävistik, hg. von Jiří F A J T / Markus H Ö R S C H (Kompass Ostmitteleuropa 3), Ostfildern 2021, S. 105-210, hier S. 131-143. 171 Franz von Prag, Chronikon (wie Anm. 67), S. 433 f. (Übersetzung Martin Bauch / Chris‐ tian Forster). 172 Franz V O N R Ž I H A , Der Einsturz der Prager Karlsbrücke, in: Zentralblatt der Bauverwal‐ tung 10 (1890), S. 402 f., hier S. 402. Ržiha zählte Bögen und Pfeiler vom Altstädter Brückenturm an, der sich jedoch selbst auf Pfeiler Nr. 2 erhebt. Er irrte sich, was die Standbilder betraf, die von Pfeiler Nr. 7 ins Wasser stürzten: es waren tatsächlich der hl. Franz Xaver und der hl. Ignatius von Loyola. - Zum Septemberhochwasser 1890 vgl. Rudolf B R Á Z D I L / Oldřich K O T Y Z A , Historická a současné povodně v České republice / Historical and recent floods in the Czech republic (History of weather and changes in the Czech lands 7), Zürich 2005, S. 94-99, 309 f. Erfahrungen im Brückenbau sammeln konnte, bevor er 1356 von Kaiser Karl IV . nach Prag berufen wurde 170 . Es wäre nun zu fragen, ob Architekt und Auftraggeber der Karlsbrücke Konsequenzen aus dem Fall der Judithbrücke am 1. Februar 1342 gezogen und versucht haben, den Neubau gegen eine vergleichbare Überschwemmung zu wappnen. Dazu müssten sie zunächst die Schadensursache analysieren. Dank der Chronik des Franz von Prag ist dies auch heute noch bis zu einem gewissen Grad möglich: Es gab eine sintflutartige Überschwemmung durch den Angriff von Schmelz- und Regenwasser, und durch die Dichte ungeheurer Eisbrocken zerbrach die Prager Brücke an mehreren Stellen, so dass kaum ein Drittel davon stehen blieb, gleichwohl geschwächt durch den Andrang des Wassers. … Die Bürger von Prag und Podskal verloren große Mengen aufgeschichteten Bauholzes durch den Einbruch der Wassermassen 171 . Der Chronist gibt als Ursache für den Einsturz der Brücke die Kollision mit Eisbrocken von außergewöhnlicher Größe an. Er hält aber auch fest, dass aus dem - stromaufwärts gelegenen - Dorf Podskal das Bauholz davongeschwemmt wurde. Dieses Holz dürfte sich an den Pfeilern der Brücke verkeilt und zu ihrem Einsturz beigetragen haben. Ein vergleichbarer Vorgang konnte am 3. September 1890 an der Karlsbrücke beobachtet werden: Auch damals hatte die Flut eine große Menge Stammholz mit sich gerissen, das sich an der Brücke staute. Hier verschloss es die meisten Öffnungen. Am folgenden Tag stürzten nacheinander drei benachbarte Bögen in der Mitte des Stroms ein, Nr. 7, 8 und 9. Pfeiler Nr. 7 lag schräg im Wasser; der Bauingenieur und Bauhistoriker F R AN Z V O N R ŽIHA erkannte, dass er unterspült worden war 172 . Als der Pfeiler sich zur Seite neigte, rissen die beiden Gewölbe, denen er ein Widerlager bot, ab und 68 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="69"?> 173 Bert H E I N R I C H , Vom Balken zum Bogen, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 103-108; B A R O W , Römerbrücken (wie Anm. 77), S. 225 f. 174 R Ž I H A , Einsturz (wie Anm. 172), S. 402. 175 C I H L A / P A N ÁČ E K , Konstrukční (wie Anm. 87). stürzten ins Wasser. Auch Pfeiler Nr. 8 verschob sich, woraufhin der nächste Bogen einstürzte. Die Unterspülung der Pfeilerfundamente besorgen Wirbel, die nach und nach den Untergrund auskolken. Sie entstehen an Pfeilern und anderen Hindernissen im Fließgewässer und wirken sich umso stärker aus, je mehr Treibgut wie Eisschollen oder Holzstämme den Durchfluss zwischen den Pfeilern reduziert. Im Anströmbereich der Pfeilerköpfe entsteht ein walzenförmiger Wirbel, der die Sedimente, auf denen der Pfeiler gegründet ist, heraus- und entlang der Pfei‐ lerflanken fortspült. Das Material lagert sich am Unterstromende des Pfeilers ab. Trifft die Strömung nicht frontal auf die spitz zulaufenden Vorköpfe, son‐ dern schräg, stellen die abgeschrägten Kanten der Wellenbrecher ein größeres Hindernis als die Spitzen dar und die Auskolkung untergräbt den länglichen Pfeilerkörper einseitig 173 . Dieser Effekt dürfte die Pfeiler Nr. 7 und Nr. 8 der Karlsbrücke zu Fall gebracht haben. Fundamentunterspülungen hatten beim starken Eisgang am 28. Februar 1784 schon einmal die Pfeiler Nr. 7 und 8 sowie Nr. 10 bedroht. Ein Kupferstich von Karl Salzer dokumentiert die Bestoßungen und Risse im Mauerverband, die von den gegen die Pfeiler prallenden Eisschollen an den oberstromseitigen Vorköpfen verursacht wurden (siehe Abb. 9). Der Text ergänzt, dass die drei Pfeiler vom Wasser im Grund unterwaschen wurden an Stellen, die im Grundriss gekennzeichnet sind. Aus dem Schadensbild, das sich ihm 1890 bot, folgerte R ŽIHA zurecht, daß der eigentliche wunde Punkt der Prager Brücke in den Pfeilern und vornehmlich in deren Fundamenten liegt 174 , und empfahl die Begutachtung aller Pfeilergründungen und ihre Verstärkung. Dies erfolgte im Jahr darauf mithilfe der neuen Senkkastentechnik. Er erkannte aber auch, dass die mittelalterliche Praxis, die Standsicherheit der Pfeiler durch Breite und Gewicht zu erhöhen, einen verringerten Wasserdurchfluss zur Folge hat, wodurch die Fließgeschwindigkeit an den Pfeilern gesteigert und die Gefahr der Unterspülung erhöht wird. Die Frage ist, ob der Baumeister der Karlsbrücke um diese zerstörerischen Effekte wusste und seinen Neubau entsprechend gegen‐ über der Judithbrücke verbesserte. Diese Frage haben sich auch M I C HAL C IHLA und M I C HAL P ANÁČE K gestellt und Strömungsprofile und Fundamenttechniken verglichen 175 . Je ein Bogen der Judithbrücke und der Karlsbrücke lassen sich unter dem Kreuzherrenplatz (Křížovnické náměstí) direkt miteinander vergleichen (Abb. 69 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="70"?> 176 C I H L A / P A N ÁČ E K , Konstrukční (wie Anm. 87), S. 220, 235. Es erschwert den Vergleich, dass die Höhenentwicklung der Bögen auf der Gesamtstrecke der Judithbrücke nicht bekannt ist. Auch bei gleichbleibenden Spannweiten können die Bögen in der Mitte des Stroms höher aufragende Halbkreisform gehabt haben. 177 C I H L A / P A N ÁČ E K , Konstrukční (wie Anm. 87), S. 223, Abb. 27; D R A G O U N , K otázce (wie Anm. 45); C I H L A u. a., Zpráva (wie Anm. 78), S. 65. 15 und 16). Das Gewölbe, das mit seinem Scheitel weit über die Fahrbahn der alten Brücke hinausragt, entstand 1890 und schließt die Lücke zwischen dem ersten Bogen der Judithbrücke und dem zweiten Bogen der Karlsbrücke. Dessen Kontur griff es dabei auf. Der höher liegende Kämpferpunkt und die halbrunde Bogenform ergeben eine deutlich größere Pfeilhöhe als die niedrig ansetzenden und flachen Segmentbogen der Judithbrücke und damit ein bes‐ seres Strömungsprofil. Beim optischen Vergleich ist zu berücksichtigen, dass der Pegel der Moldau im Mittelalter um etwa 4 m niedriger war als heute. C IHLA und P ANÁČE K errechneten, dass das Brückendeck der Karlsbrücke bis zu 13 m über dem Wasserspiegel bei Normalstand lag, während es bei der Judithbrücke 6,6-7,5 m waren 176 . Hinzukommt die unterschiedliche Bogenspannweite. Die Strecke von 500 m überbrückten im 12. Jahrhundert - ausgehend von dem inzwischen verifizierten Grundriss von 1784-20 Pfeiler plus zwei Widerlager und 21 Bögen, während im 14. Jahrhundert nur 16 Pfeiler plus zwei Widerlager gleich 17 Bögen benötigt wurden. Obwohl die Pfeiler der Karlsbrücke stärker ausfallen als die der Judithbrücke (8,5 m: 6,0-7,5 m), erzielte der Baumeister des 14. Jahrhunderts ein besseres Verhältnis von Spannweite (22-23 m) zu Pfeilerbreite als der Vorgängerbau 177 . Abb. 15: Prag, Altstädter Ufer, unter dem Křížovnické Platz, mit Abgang zur Bootsanle‐ gestelle 70 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="71"?> 178 C I H L A / P A N ÁČ E K , Středověký most (wie Anm. 68), S. 222; C I H L A / P A N ÁČ E K , Techno‐ logical (wie Anm. 68), S. 240; C I H L A u. a., Zpráva (wie Anm. 78), S. 64. Die lichten Spannweiten der acht Bögen schwanken zwischen 19,5 m und 22 m. 179 Die Spannweiten der 14 Bögen liegen zwischen 16,5 m und 20,25 m, die Pfeilerbreiten zwischen 5,1 und 6,1 m, vgl. S C H N E I D E R , Balduinbrücke (wie Anm. 83), S. 2. Abb. 16: Prag, Ansicht des erhaltenen Brückenbogens auf der Altstädter Seite; angezeigt wird die Lage der Brüstung und der Bogen der Karlsbrücke sowie das ursprüngliche Niveau des Flussbetts In einer Hinsicht könnten die Raudnitzer und die Koblenzer Brücke für Prag II vorbildlich gewesen sein: Erstere zeichnete sich durch ein außerordentlich günstiges Verhältnis von Pfeiler zu lichter Bogenweite, also von Durchflusshin‐ dernis zu Durchflusskanal, aus, nämlich 1: 3,5. Für die 220 m Distanz von einem Widerlager zum anderen setzte man nur sieben Freipfeiler mit einer Breite von etwa 7 m. Die Bögen hatten Segmentform und setzten so hoch am Pfeiler an, dass die Fahrbahn bis zu 10,5 m über der Flussoberfläche lag. Das sorgte für ein gutes Strömungsprofil auch bei Hochwasser 178 . Das gleiche Verhältnis von Pfeiler zu Spannweite weist die Koblenzer Brücke auf 179 . Schließlich ist die Gründung der Pfeiler, der Angriffspunkt der Unterspülung, in den Blick zu nehmen. Am 9. Pfeiler der Karlsbrücke wurde ein seltsamer Befund gemacht: Die unterste Schicht des Pfeilers besteht aus Steinscheiben 71 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="72"?> 180 C I H L A / P A N ÁČ E K , Konstrukční (wie Anm. 87), S. 223 f.; C I H L A u. a., Zpráva (wie Anm. 78), S. 39 f.; Jan Z E M Á N E K , Z Roudnice do Prahy přes kamenné mosty [Von Raudnitz nach Prag über steinerne Brücken], in: Podřipský muzejník (2005), S. 49-60, S. 50 und Abb. 8 f., nach Aufzeichnungen aus dem Jahr 1891. 181 Z E M Á N E K , Z Roudnice (wie Anm. 180), S. 50. - Nach C I H L A u. a., Zpráva (wie Anm. 78), S. 39, entstand Pfeiler Nr. 9 etwa zwischen 1380 und 1400. 182 C I H L A u. a., Zpráva (wie Anm. 78), S. 40 betonen, dass das Gefüge des Rosts in Raudnitz so stabil ist, dass dieser den Pfeiler auch bei partieller Unterspülung vor dem Absinken bewahrt. 183 Vgl. dazu instruktiv das neue Standardwerk zu Leben und Werk Rudolfs IV.: Lukas W O L F I N G E R , Die Herrschaftsinszenierung Rudolfs IV. von Österreich. Stra‐ tegien - Publikum - Rezeption (Symbolische Kommunikation der Vormoderne), Wien / Köln / Weimar 2018, S. 120-123; Dietrich S C H W A R Z , Rapperswiler Siegel, in: Gotik in Rapperswil. Geschichte und Kunst am oberen Zürichsee. Jubiläumsschrift und Ausstellung 750 Jahre Stadt Rapperswil 1229-1979, Rapperswil 1979, S. 60-68; eher Überblickscharakter hat Paul L E T T E R , Von der Holzbrücke zum modernen Seedamm Rapperswil-Hurden, in: Schweizer Schule 45 (1958), S. 592-594. mit 125 cm Durchmesser bei einer Höhe von 25 cm und einer Verfüllung aus Bruchstein in Kalkmörtel. Im Senkkasten wurden 1891 die gleichen runden Steine unter dem 8. Pfeiler vorgefunden, während die Pfahlgründung von dessen oberstromseitiger Spitze auf die Reparatur von 1784 zurückging 180 . Der Zweck der Steine, die das Format von Mühlstein-Rohlingen haben und die gelegentlich aus dem aufgewühlten Untergrund herausgleiten, obwohl sie mit Eisen ver‐ klammert sind, ist unklar. Ein effizienter Schutz gegen Unterspülung scheinen sie nicht zu sein. Sie erfüllen auch keine Gelenkfunktion, weil sowohl die untereinander verklammerten Scheiben als auch der auflastende Steinverband ein starres Gefüge bilden. Es fällt schwer zu glauben, dass es sich um verworfene Mühlstein-Halbzeuge handeln soll, die aus Sparsamkeit herangezogen wurden, aber eine bessere Erklärung wurde bis jetzt nicht gegeben 181 . Ob schon die ersten, uferseitigen Pfeiler in dieser Weise fundiert wurden, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls ist festzuhalten, dass die späteren Konstrukteure der Karlsbrücke weder die Gründungstechnik der Koblenzer Balduinbrücke noch diejenige der Raudnitzer Brücke nachahmten, obwohl sich das Balkengerüst, auf dem die Pfeiler dort gründeten, beim Hochwasser von 1342 gut bewährt hatte 182 . III.3. Der Holzsteg von Rapperswil Ein Sonderfall des Themenkomplexes „Brücken und Wallfahrt“ ist die Holz‐ brücke über den Zürichsee, die Herzog Rudolf IV . „der Stifter“ ab 1358 bauen ließ 183 . Der 1,4 km lange Bau schuf erstmals eine feste Querung des Sees, wo zuvor Schiffe von Rapperswil die Reisenden - darunter viele Pilger - nach Hurden und weiter Richtung Einsiedeln über das Wasser brachten. Der 72 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="73"?> 184 Als Ersatz für die 1025 fl. für den Holzsteg verpfändete ihm Herzog Albrecht III. ab 1365 Nutzungsrechte in der Stadt Rapperswil und in der Umgebung sowie die Vogtei über Einsiedeln, vgl. Chartularium Sangallense, Bd. 8 (1362-1372), bearb. von Otto P. C L A ‐ V A D E T S C H E R / Stefan S O N D E R E G G E R , St. Gallen 1998, Nr. 5001. Die Kompensation Herzog Rudolfs für seinen Rapperswiler Vogt im Baujahr 1358 bestand wohl ebenfalls in nicht überlieferten Pfandbriefen, auf die in der oben genannte Urkunde Bezug genommen wird. 185 Vgl. W O L F I N G E R , Herrschaftsinszenierung (wie Anm. 183), S. 316 f., Anm. 938. 186 Vgl. Chartularium Sangallense, Bd. 7 (1348-1361), bearb v. Otto P. C L A V A D E T S C H E R , St. Gallen 1993, Nr. 4544, S. 386-388. 187 Vgl. Chartularium Sangallense 7 (wie Anm. 186), Nr. 4685, S. 503, Anm. 4. 188 Rudolf IV. ist persönlich am 20./ 21. März 1358 in Rapperswil nachgewiesen, vgl. Char‐ tularium Sangallense 7 (wie Anm. 186), Nr. 4533-4535, S. 375-377. errichtete Holzsteg war von einfacher Ausführung (Abb. 17) und wurde vom Habsburger Vogt von Rapperswil, Johann von Langenhard, vorfinanziert 184 . Dieser gehörte zu den ‚geschworenen Räten‘ Herzog Rudolfs Anfang der 1360er Jahre 185 , ist erstmals 1358 unter den Hofleuten des Habsburgers nachzuweisen 186 und hatte von 1357 bis 1370 die Vogtei über Rapperswil inne 187 . Sein Einstieg in die Brückenbaumaßnahme des Habsburgers im Jahr 1358, möglicherweise sogar in dessen Anwesenheit 188 , stand also am Anfang seiner belegten Beziehung mit dem Landesherrn und war zweifellos geeignet, seinen Aufstieg in der habsburgischen Gunst zu untermauern. Abb. 17: Die Herrschaft Rapperswil mit dem Holzsteg auf Jos Murers Karte des Zürcher Herrschaftsgebiets („Zürcherkarte“) von 1566 73 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="74"?> 189 So zumindest in der Klingenberger Chronik, die um 1460 entstand und bis 1442 älteres Material kompilierte: Die brugg ze Rapperswil ward gemacht. Anno domini m°ccc lviii, umb sant johans tag des töffers, fieng hertzog Růdolf von Österrich ain brug ze machen von Rapperschwil über den sew gen Hurden, und hatt vil maister, die im darzů riettend und im das wasser mässent und die brug hulffent schlachen und machen. Item er was ein fromer wiser her, und maint man, daß er es den mertail tätt von armer bilgri wegen. Die sog. Klingenberger Chronik des Eberhard Wüst, Stadtschreiber von Rapperswil, bearb. von Bernhard S T E T T L E R (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 53), St. Gallen 2007, S. 125; vgl. zur Quelle Gabriel V I E H H A U S E R , Art. „Rapperswiler Chronik“, in: The Encyclopedia of the Medieval Chronicle, hg. von Graeme D U N P H Y , Leiden / Boston 2010, S. 1257. 190 Ohne Vieh und Handelsgüter durften diese die Brücke nutzen, vgl. Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen. Zweiter Teil: Die Stadtrechte von St. Gallen und Rapperswil - Zweite Reihe: Rechtsquellen der Stadt und Herrschaft Rapperswil (mit den Höfen Busskirch / Jona, Kempraten und Wagen), bearb. v. Pascale S U T T E R , Basel 2007, S. 30, Nr. 22a; Chartularium Sangallense 7 (wie Anm. 186), Nr. 4685, S. 503; zur Exemption des Abtes von Sankt Gallen und seiner Untertanen vgl. Chartularium Sangallense 8 (wie Anm. 184), Nr. 4878, S. 86 f. 191 Von dieser hatte direkt der Abt von Sankt Gallen finanziell profitiert, wofür er ebenfalls 1363 entschädigt wurde, vgl. Chartularium Sangallense 8 (wie Anm. 184), S. 87: ze ergetzung des schade, den er von vnsern wegen an sinem var zen Hurden, das im von vnserr núwen brugge ze Ratprezwile vber den se vnvbig vnd vnnutzlich worden ist. 192 Vgl. Die Chronik Johanns von Winterthur, hg. von Friedrich B A E T H G E N (MGH SS rer. Germ. N. S. 3), Berlin 1924, S. 258: Citra idem quoque tempus XL homines lacum transire iuxta oppidum Rapreswile in ferocissima tempestate more freneticorum satagentes naufragium incurrerunt. Nam absorpti a voragine procellarum in profundum abyssi ruppta navicula deciderunt. Ein vergleichbares Unglück mit noch mehr Todesfällen ereilte wenige Tage zuvor 300 Reisende und Einsiedeln-Pilger auf dem Rhein bei Rheinfelden, vgl. ebd. S. 257 f. Zwar war an dieser Stelle des Sees keine Steinbrücke möglich und wohl auch nicht nötig, und eine Finanzierung der Errichtung oder Instandhaltung durch einen Brückenbauablass können wir ebenso nicht erkennen. Interessant ist aber die kolportierte Begründung des Rapperswiler Holzstegs: von armer bilgri wegen sei Rudolf IV . tätig geworden 189 . Tatsächlich verkürzte die Brücke den Weg für die Einsiedeln-Pilger, allerdings waren sie - anders als die Bürger von Rap‐ perswil und die Einsiedelner Mönche - nicht von der Zahlung des Brückenzolls ausgenommen 190 . Die Verbesserung für die Pilger lag also, im Vergleich zur ebenfalls kostenpflichtigen, für den Abt von Einsiedeln lukrativen Seequerung im Boot 191 , möglicherweise in höherer Sicherheit: Mitte September 1345 waren 40 Pilger zwischen Rapperswil und Hurden ertrunken, als der Fährkahn in einem verheerenden Sturm auf dem Zürichsee kenterte 192 . Eine Häufung von 74 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="75"?> 193 Dass Unglücksfälle als Begründung für Brückenneubauten herangezogen werden, finden wir etwa in einer kurialen Sammelindulgenz von 1284 für die Rekonstruktion einer Brücke bei Maastricht in Stein. Der Vorgängerbau aus Eichenholz soll unter starkem Frost gelitten haben, der die Pfeiler zersprengte, woraufhin eine Prozession am 10. Januar 1275 beim Überqueren der Brücke ins Wasser stürzte und 400 Personen ertranken, vgl. S E I B O L D , Sammelindulgenzen (wie Anm. 101), S. 35. 194 Vgl. W O L F I N G E R , Herrschaftsinszenierung (wie Anm. 183), S. 121. 195 Vgl. S U T T E R , Rechtsquellen (wie Anm. 190), Nr. 22a, S. 29 f.; Chartularium Sangallense 7 (wie Anm. 186), Nr. 4685, S. 502 f. 196 Chartularium Sangallense 7 (wie Anm. 186), Nr. 4685, S. 504: + Wir der vorgenante herzog Ruodolf sterken disen pirief mit dir vnderschrit vnser selbs hant +; zur Rolle der eigenhändigen Corroboratio bei Karl IV., in Ansätzen aber auch bei Rudolf IV. vgl. Martin B A U C H , Et hec scripsi manu mea propria - Known and unknown autographs of Emperor Charles IV as testimony of self image and intellectual profile, in: Ruling the Script in the Middle Ages. Formal Aspects of Written Communication, hg. von Sébastien B A R R E T / Dominique S T U T Z M A N N / Georg V O G E L E R (Utrecht Studies in Medieval Literacy 35), Turnhout 2017, S. 25-46. 197 W O L F I N G E R , Herrschaftsinszenierung (wie Anm. 183), S. 307. Vgl. ebd. zur weiteren ikonographischen Deutung des Siegels und der vom Habsburger geführten Insignien; generell zu habsburgischen Wappenbildern vgl. Anja E I S E N B E Iẞ , Wappen und Bilder im Diskurs - Das Beispiel der Habsburger, in: Das Mittelalter 11 / 2 (2006), S. 98-120. 198 Vgl. W O L F I N G E R , Herrschaftsinszenierung (wie Anm. 183), S. 307 f. Unglücksfällen mag implizit nachgewirkt haben, um einem Brückenbau als Maßnahme zugunsten der Pilger plausibel zu machen 193 . Aber auch strategische Gründe für den Bau der Brücke sind anzuführen: Die Sicherung der Verbindung vom deutschen Reichsteil nach Italien, aber auch eine Herausforderung der Zürcher Herrschaft über den See und eine direkte Verbindung von Rapperswil zu den Waldstätten 194 . Darüber hinaus finanzierte Herzog Rudolf durch den 1360 nach Fertigstellung verliehenen Brückenzoll den weiteren Ausbau der Burg Rapperswil 195 . Welche große Bedeutung Rudolf IV . diesem Brückenbauprojekt zuschrieb, lässt sich an zwei Elementen erkennen: Zum ersten unterschrieb er die Verlei‐ hung des Brückenzolles 1360 mit eigener Hand 196 , ein Vorgehen, das ansonsten meist religiösen Stiftungen und Reliquienschenkungen vorbehalten blieb. Zum zweiten verlieh Rudolf IV . der Stadt ein ausgesprochen prächtiges neues Siegel (Abb. 18), das ihn in der quasiköniglichen Würde als Pfalzerzherzog 197 zeigte. Das erstmals 1361 nachgewiesene Siegel zeigt die Stadt Rapperswil, das österreichi‐ sche Wappen und die neue Brücke 198 - wenn auch keineswegs naturalistisch, sondern als zinnenbewehrten Steinbau mit gewölbten Bögen. Die zeitliche Nähe zum Baubeginn der Karlsbrücke 1357, an die sich zumindest das Siegelbild von Rapperswil annähert, ist frappierend. Es muss offen bleiben, ob eine spätere Ausführung der Brücke in Stein geplant war oder ob das Siegelbild einfach einen 75 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="76"?> Anspruch formulieren sollte, den die Realität nie decken konnte, nicht zuletzt aufgrund des frühen Todes Rudolfs IV . Abb. 18: Großes Stadtsiegel von Rapperswil mit Herzog Rudolf IV. von Österreich, 1361 Auch wenn der Rapperswiler Brückenbau ohne erkennbare Querfinanzierung durch einen Brückenbauablass umgesetzt wurde - man darf vermuten, dass der deutlich simplere Holzsteg tatsächlich durch eine Einzelperson wie den Habsburger Vogt Johannes von Langenhard finanziert werden konnte -, so ist doch die zumindest vorgeschobene Argumentation mit der Förderung der Wallfahrt nach Einsiedeln auch hier frappierend. Dass der Holzsteg nicht geringere Repräsentationsbedürfnisse befriedigte als die komplexeren Brücken‐ bauten in Koblenz und Prag, wird durch den Aufwand bei Ausfertigung der Brückenzollverleihung und noch mehr durch das außergewöhnliche Brücken‐ siegel deutlich gemacht. Der Zusammenhang zum Extremereignis - in diesem Fall ein Sturm auf dem See, kein Hochwasser - ist hingegen vergleichsweise schwach ausgeprägt. 76 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="77"?> IV. Fazit / Perspektiven Der Bau einer Brücke im Mittelalter war eine technische Herausforderung für die Ingenieure und Baumeister und ein finanzielles Abenteuer für die Bauträger. Als Möglichkeit, einen Fluss zu queren, kommt jeder Brücke große Bedeutung für die Mobilität von Menschen und Waren zu. Ihrer Gemeinnützigkeit wegen waren sie in den Augen der Bischöfe und Päpste würdig, um mithilfe von Ablässen finanziell gefördert zu werden, wobei es nicht darauf ankam, dass der Bauträger selbst dem geistlichen Stand angehörte. Allerdings wurden die Pilger und Wallfahrer unter den überregionalen Verkehrsteilnehmern hervorgehoben. Deren Schutz aber und die repräsentative Bedeutung einer Brücke für den Bauherren, insbesondere wenn es sich um ein vollständig aus Stein errichtetes Bauwerk handelte, schlossen sich nicht aus. Das Beispiel Rapperswil zeigt, dass man den besonderen repräsentativen Charakter einer Steinbrücke auch medial (Stadtsiegel) verbreiten konnte, ohne tatsächlich über eine Steinbrücke zu verfügen. Gefährdet in ihrem Bestand waren Brücken durch Hochwasser und Eisgang, häufig wiederkehrende Ereignisse natürlichen Ursprungs, die fortwährend Reparaturen und nicht selten Neubauten notwendig machten. Verglichen mit der Anzahl der Brücken jedweden Werkstoffs, die bis 1200 im deutschsprachigen Teil des Heiligen Römischen Reichs errichtet wurden, nahm die absolute Menge der Bauwerke zwischen 1200 und 1350 signifikant zu, aber auch die Zahl der Brücken, die aus Naturstein gemauert waren. So aufwändig diese Bauwerke auch waren, so wenig ist über die Baumeister bekannt, die sie zu errichten vermochten. Aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass die Namen, die in Verbindung mit den vier größten Steinbrücken in Deutschland und in Böhmen überliefert sind, nicht die Werkmeister, sondern die Finanzverwalter bezeichnen. Erst für die Steinbrücken in Roudnice nad Labem und Prag sind Architektennamen auf uns gekommen. Der Bau einer Steinbrücke war so zeit-, material- und arbeitskraftintensiv wegen der Fangedämme, die die Errichtung der Pfeiler im Flussbett ermöglichten. Diese recht eigentlichen Wasserbauten führten vermutlich Ingenieure durch, die ansonsten militärische Aufgaben erfüllten. Da extreme Hochwasserereignisse und Eisstöße neben Kriegszerstörungen die maßgeblichen Verursacher von Brückenschäden waren und die Reparatur‐ kosten über eine Ablassgewährung auf eine Vielzahl von Gläubigen verteilt werden konnten, müssten Brückenablässe, die ohne erkennbare Regelmäßigkeit ausgestellt wurden, im Umkehrschluss als Indiz für eine vorangegangene Naturkatastrophe dienen können. Für die Balduinbrücke in Koblenz konnte 77 Seelenheil und Infrastruktur <?page no="78"?> dies plausibel gemacht werden. Ihr Bau war von Anfang an durch Ablassge‐ währung flankiert, aber schon in einer frühen Phase (1342 / 43) auch durch ein Hochwasser der Mosel beeinträchtigt worden. Doch bevor deutlich werden kann, ob es für diese Strategie der Finanzierung im Schadensfall eine Blütezeit im Spätmittelalter gab, müsste die Ablassforschung intensiviert werden. Die Entwicklungsgeschichte des Brückenablasses bleibt noch zu schreiben. Das Beispiel der Prager Karlsbrücke zeigt, dass ein Extremereignis ursäch‐ lich für einen Brückenneubau war, bei dem wiederum ein Brückenbauablass entscheidend zur Finanzierung genutzt wurde. Als Argument wurde auch hier die Förderung der Pilger bzw. der Verehrung der böhmischen Landespatrone in ihren Reliquien auf der Prager Burg, also westlich der zu errichtenden Brücke, angeführt. Dieses Motiv schlug sich auch überdeutlich im Figurenschmuck des erst Jahrzehnte später finalisierten Altstädter Brückenturms nieder. In technischer Hinsicht ist bemerkenswert, dass die Karlsbrücke, die in ihren Dimensionen die ihr vorangegangene Judithbrücke, die beim sogenannten Magdalenenhochwasser des Jahres 1342 zerstört wurde, deutlich übertraf, eine weniger robuste Pfeilerfundierung aufweist als die Koblenzer Balduinbrücke und insbesondere die Raudnitzer Elbbrücke (1333-1340), die dieses Hochwasser unbeschadet überstanden hatte. 78 Martin Bauch und Christian Forster <?page no="79"?> 1 Ines S P A Z I E R (Hg.), Die Burg Henneberg in Südthüringen. Stammburg der Henneberger Grafen (Weimarer Monographien zur Ur- und Frühgeschichte 44), 2 Bde., Langenweiß‐ bach 2017. 2 Heinrich W A G N E R , Genealogie der Grafen von Henneberg (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 33), Kloster Veßra 2016. Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt Johannes Mötsch Im Blickfeld dieses Textes werden Wallfahrten, Verkehrswege und Brücken im Südwesten des heutigen Freistaates Thüringen stehen. Die Region gehört historisch gesehen zu Franken, sie war bis zum Untergang des Heiligen Römi‐ schen Reiches Teil des fränkischen Reichskreises, die Bewohner sprechen einen fränkischen Dialekt. In dieser Region liegt der Ort Grimmenthal bei Meiningen, heute ein Bahnknotenpunkt, von 1498 bis 1545 ein Wallfahrtsort von überregionaler Bedeutung. Auf den Wegen dorthin gibt es mehrere, bis heute benutzte Brücken, die in den 1530er Jahren mit Mitteln der Wallfahrt errichtet worden sind. Der hier sehr gut belegte Zusammenhang zwischen Wallfahrt und Brücken ist, wie die übrigen Aufsätze dieses Bandes zeigen, kein Einzelfall, denn schon in den Jahrhunderten zuvor sind Brücken auch errichtet worden, um Wallfahrtsorte für Pilgerinnen und Pilger besser erreichbar zu machen. Der Text soll daher anhand eines Einzelfalles den Blick der Leserinnen und Leser für die hier interessierenden Zusammenhänge noch weiter schärfen. 1. Die geographische und territorialpolitische Lage Die hier vor allem interessierende Region bezeichnet man vielfach als das Henneberger Land. Namen gebend ist die Burg Henneberg im Landkreis Schmalkalden-Meiningen unmittelbar an der Landesgrenze zu Bayern (Unter‐ franken) 1 . Nach ihr benannte sich erstmals 1096 ein Grafengeschlecht 2 , das in den folgenden Jahrhunderten in der Region ein größeres Territorium auf‐ <?page no="80"?> 3 Günther W Ö L F I N G , Geschichte des Henneberger Landes zwischen Grabfeld, Rennsteig und Rhön (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 1), Hildburghausen 1992, Leipzig / Hildburghausen 2 2009. 4 Einen Überblick über die Marien-Wallfahrtsorte in der weiteren Region bietet Martin S L A D E C Z E K , Mitteldeutsche Marienwallfahrten des Spätmittelalters, in: Verehrt - Geliebt - Vergessen. Maria zwischen den Konfessionen, hg. von der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Petersberg 2019, S. 107-113. 5 Otto Alfred F R I T Z , Die ehemalige Wallfahrtskapelle Beatae Mariae Virginis auf dem Queienberg, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 26 (1964), S. 154-163. bauen konnte. Im 12. Jahrhundert gehörten die Grafen von Henneberg nach Ausweis ihrer Eheverbindungen zu den angesehensten Grafengeschlechtern im Reich. Erbteilungen schwächten diese Position, die Besitzungen und Rechte erloschener Nebenlinien fielen mehrfach an die Bischöfe von Würzburg, die ja - wie die Mehrzahl der Erzbischöfe und Bischöfe im Reich - weltliche Territorialherren waren. Durch eine Erbteilung im Jahr 1274 entstanden drei Linien mit den Burgen bzw. Residenzen Schleusingen (bis 1583), Aschach, später Römhild (bis 1549) und Hartenberg (bis 1378) 3 . Die beiden länger bestehenden Linien sind für das Thema von Bedeutung. Zum Territorium der Linie Schleusingen gehörten die Ämter Frauenbrei‐ tungen, Wasungen / Sand, Maßfeld und Themar im Werratal, Kaltennord‐ heim / Fischberg in der Rhön, Schmalkalden und Schleusingen im Vorland sowie Ilmenau jenseits des Thüringer Waldes, dazu Mainberg (am Main oberhalb von Schweinfurt). Das Amt Schmalkalden war gemeinsamer Besitz mit dem Landgrafen von Hessen. Das Amt Mainberg wurde 1542 beim Bischof von Würzburg gegen dessen Amt Meiningen eingetauscht. Die Linie Römhild besaß die Ämter Römhild und Lichtenberg / Ostheim im Grabfeld, Hallenberg / Schwarza im Vorland des Thüringer Waldes sowie je eine Hälfte der Ämter Münnerstadt (Mitherr der Bischof von Würzburg) und Salz‐ ungen (gemeinsam mit dem Kurfürsten von Sachsen). Die Zent Benshausen war gemeinsamer Besitz der beiden Linien des Grafenhauses und der Landgrafen von Hessen. Als Exklave lag innerhalb der Grafschaft Henneberg das zum Hochstift Würzburg gehörende Amt Meiningen. 2. Wallfahrtsorte in der Region 4 Die älteste Wallfahrt im Südwesten des heutigen Freistaates Thüringen ist die bereits im 14. Jahrhundert bestehende Wallfahrt auf den Queienberg im Amt Meiningen (also im Hochstift Würzburg) 5 . Um die Mitte des 15. Jahrhunderts 80 Johannes Mötsch <?page no="81"?> 6 Wolfgang B R Ü C K N E R , Vierzehnheiligen, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997), Sp. 1655. 7 Johannes M Ö T S C H , Die Wallfahrt zu Christes, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränki‐ schen Geschichtsvereins 22 (2007), S. 83-98. 8 Enno B Ü N Z , Die Druckkunst im Dienst der kirchlichen Verwaltung: ein Würzburger Dis‐ pensformular von 1487, in: Karl B O R C H A R D T / Enno B Ü N Z (Hg.), Forschungen zur baye‐ rischen und fränkischen Geschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag von Freunden, Schülern und Kollegen dargebracht (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 52), Würzburg 1998, S. 227-245, hier S. 240-242, demnach Bauinschrift der Kapelle von 1444; wieder abgedruckt in Enno B Ü N Z , Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.-16. Jahrhundert (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 96), Tübingen 2017, S. 429-454, hier S. 446-448. 9 Ernst K O C H , Die ehemalige Liebfrauenkirche auf dem Einfirst bei Schleusingen, in: Schriften des Hennebergischen Geschichtsvereins zu Schleusingen 5 (1912), S. 3-66; Elke B I L L E B / Helmut B I L L E B , Die Liebfrauenkirche auf dem Einfirst, in: Schleusinger Blätter 15 (2018), S. 45-49. 10 Johannes M Ö T S C H , Die Wallfahrt St. Wolfgang bei Hermannsfeld, in: Enno B Ü N Z / Stefan T E B R U C K / Helmut G. W A L T H E R (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag (Veröffentlichungen der Historischen Kom‐ mission für Thüringen. Kleine Reihe 24), Köln / Weimar / Wien 2007, S. 673-700. entstand in der weiteren Umgebung die bis heute florierende Wallfahrt nach Vierzehnheiligen bei Lichtenfels, die sehr schnell einen gewaltigen Zulauf erhielt 6 . Da die jeweiligen Landesherren es nur ungern sahen, wenn die Unter‐ tanen Wallfahrten im „Ausland“ aufsuchten und dort ihr Geld ließen, begannen viele im 15. Jahrhundert mit der Förderung von lokalen Wallfahrten im eigenen Territorium. Die Gründe für dieses Verhalten liegen auf der Hand: Wallfahrten waren und sind auch Wirtschaftsphänomene. Die Pilgerinnen und Pilger müssen auf den Weg und vor Ort mit Essen und Trinken versorgt und untergebracht, vielleicht auch unterhalten werden. Sie kaufen Andenken und hinterlassen neben Geld- und Sachspenden auch Müll, der entsorgt werden muss. Die Wallfahrtsorte werden sowohl von Armen und als auch von Reichen aufgesucht, es entsteht ein breites Nachfragespektrum, auf das man vor Ort mit den entsprechenden Angeboten reagiert. Wie etliche Nachbarn (und territorialpolitische Konkurrenten) haben auch die Grafen von Henneberg seit dem 15. Jahrhundert in dieser Weise reagiert. Die Mehrzahl sowohl der älteren als auch der neu entstehenden Wallfahrten erlangte nur lokale oder regionale Bedeutung. Dies gilt für die bereits erwähnte Wallfahrt auf dem Queienberg (mit dem Amt Meiningen 1434 bis 1495 im Pfandbesitz der Grafen), die Wallfahrten nach Christes (im Territorium der Linie Römhild, belegt seit 1425) 7 , Haindorf im Amt Schmalkalden 8 , auf den Einfirst bei Schleusingen (belegt seit 1461) 9 und nach St. Wolfgang bei Hermannsfeld (Grundsteinlegung 1462) 10 . 81 Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt <?page no="82"?> 11 Johannes M Ö T S C H , Die Wallfahrt zu Grimmenthal. Urkunden, Rechnungen, Mirakel‐ buch (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe 10), Köln / Weimar / Wien 2004; Johannes M Ö T S C H / Ingrid R E I S S L A N D , Grimmenthal, ein (fast) vergessener Wallfahrtsort (Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränki‐ schen Geschichtsvereins 34), Leipzig / Hildburghausen 2018. 12 Walter H Ä V E R N I C K , Mittelalterliche Pilgerzeichen aus dem Hennebergischen, in: Jahr‐ buch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 3 (1939), S. 40-42 (betr. Grim‐ menthal und St. Wolfgang); Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Thomas T. M Ü L L E R (Hg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, Petersberg 2013, S. 170 f. Nr. 4. 1. 10 (Pilger‐ zeichen aus Grimmenthal, mit Abb.); Verehrt - Geliebt - Vergessen (wie Anm. 4), S. 122 (mit Abb.). Auf die Bedeutung der Pilgerzeichen für die Forschung weist auch S L A D E C Z E K , Mitteldeutsche Marienwallfahrten (wie Anm. 4), S. 107 f., hin; vgl. auch die Datenbank www.pilgerzeichen.de. Nach Grimmenthal aber kamen Pilgerinnen und Pilger aus dem gesamten deutschen Sprachraum. Von dieser Wallfahrt sind neben zahlreichen Urkunden, die vor allem die rechtlichen Bedingungen regeln, über Jahrzehnte hin Rech‐ nungen erhalten geblieben, die die Einnahmen und Ausgaben der Wallfahrt im Detail festhalten 11 . Daher kann Entstehung und Entwicklung dieser Wallfahrt im Detail rekonstruiert werden. Am Anfang stand (wie fast immer) eine private Initiative: ein Mann namens Heinz Teufel, der lange Zeit in Diensten der Grafen von Henneberg gestanden und dafür im Dorf Obermaßfeld ein Lehen erhalten hatte, kümmerte sich um einen in der Nähe stehenden, Wind und Wetter ausgesetzten Bildstock und brachte Verwandte und Freunde dazu, ihm bei der Errichtung einer Kapelle zum Schutz dieser Pietà zu helfen. Bald sprach sich herum, dass der Bildstock wundertätig war, dass also die dortige Muttergottes, wenn sie in Notlagen um Hilfe angerufen wurde, diese auch gewährte. Diejenigen, die solche Hilfe erfahren hatten, kamen dann dankbar nach Grimmenthal und bezeugten ihre Dankbarkeit durch Sach- oder Geldspenden. Diese Spenden reichten sehr schnell für die Vollendung der Kapelle und - wegen des großen Zulaufs - schon bald für den Bau einer Kirche aus. Diese Kirche wurde mit Kunstwerken ausgestattet, das Gelände wurde mit einer Mauer umgeben, auf dem Gelände wurden mehrere Gebäude errichtet, darunter ein Schenkhaus für die Verpflegung der Pilgerinnen und Pilger und für die Unterbringung derer, die sich das leisten konnten. Die Ärmeren - sicher die große Mehrzahl - lagerten unter Dächern entlang der Um‐ fassungsmauern. Pilgerinnen und Pilger kamen aus dem gesamten deutschen Sprachraum nach Grimmenthal. Viele erwarben dort Pilgerzeichen, von denen einige der Forschung seit langem bekannt waren. In den letzten Jahren sind bei archäologischen Grabungen weitere aufgefunden worden 12 . 82 Johannes Mötsch <?page no="83"?> Die Motive dieser Pilgerinnen und Pilger kennen wir, weil aus Grimmenthal neben den Urkunden und Rechnungen auch ein Mirakelbuch erhalten geblieben ist. Wer nach Grimmenthal kam, wurde von den Geistlichen der Wallfahrt nach der Herkunft und dem Grund für die Wallfahrt befragt. Aus den Jahren 1512 bis 1524 sind 153 derartige Aufzeichnungen erhalten geblieben. Demnach haben Notlagen aller Art die Betroffenen veranlasst, die Muttergottes im Grimmenthal um Hilfe anzurufen und für den Fall der Hilfe eine Wallfahrt zu geloben: Unfälle (auch solche von Kindern), Krankheiten, Überfälle durch Räuber oder wilde Tiere, vor allem aber die Erfüllung von Kinderwünschen. Natürlich werden auch Personen nach Grimmenthal gekommen sein, weil es Mode war. Viele hinterließen Opfergaben, die einen Bezug zu ihrer ursprünglichen Notlage hatten: Krücken und Ketten (bei Errettung aus ungerechter Gefangenschaft), vor allem aber Gegenstände aus Wachs (nicht nur Kerzen). Mütter kamen, wenn die erwünschten Kinder sie begleiten konnten, und brachten Wachspuppen oder Kerzen mit dem Gewicht dieses Kindes. Einen erheblichen Teil dieser Op‐ fergaben haben die Verwalter der Wallfahrt verkauft (natürlich ohne Kenntnis der Betroffenen). Der Zulauf in Grimmenthal war so groß, dass die Einkünfte schon bald nicht mehr sinnvoll für Investitionen auf dem Gelände der Wallfahrt verwendet werden konnten. Teile hat man daher als Kredite ausgereicht. Größte Schuldner waren der Landesherr Graf Wilhelm und sein ältester Sohn Graf Wolfgang (von dessen Schulden der Vater nichts wissen sollte). Daneben sind Gelder an Bauern und Handwerker in der Region verliehen worden; darunter befanden sich etliche Müller, die ja in Abständen ihre technischen Anlagen erneuern mussten und für diese Investitionen größere Summen benötigten. Die Grimmenthalskasse erfüllte demnach Aufgaben, die seit dem 19. Jahrhundert von den Sparkassen wahrgenommen werden. Sie ist daher bei Einführung der Reformation (1544) und der Abschaffung der Wallfahrt (1545) nicht aufgelöst worden, sondern hat bis in das 19. Jahrhundert Bestand gehabt. Die Funktion als Kreditinstitut ist auch von den Kassen der übrigen, hier vorgestellten Wallfahrten (und von sehr vielen örtlichen Kirchenkassen) wahrgenommen worden. Grimmenthal ragt lediglich durch die Größe der ausgereichten Summen aus dieser Gruppe heraus. Zu den Gründen, die eine Wallfahrt erfolgreich machten, gehört wohl zu‐ nächst der richtige Zeitpunkt - denn hier gab es Konjunkturen und Moden; die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts war, wie zahlreiche Beispiele zeigen, günstig für die Gründung und Entwicklung einer Wallfahrt. Daneben aber spielt die geographische Lage ohne Zweifel eine wichtige Rolle. 83 Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt <?page no="84"?> 13 Manfred S T R A U B E , Geleitswesen und Warenverkehr im thüringisch-sächsischen Raum zu Beginn der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 42), Köln / Weimar / Wien 2015, hier von besonderem Interesse die Karte 1, S. 1094, mit den größeren Orten in der Region. 14 Herbert K R Ü G E R , Des Nürnberger Meisters Erhard Etzlaub älteste Straßenkarten von Deutschland, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 18 (1958), S. 1-286; Abbil‐ dung der Karte: K Ü H N E / B Ü N Z / M Ü L L E R , Alltag und Frömmigkeit (wie Anm. 12), S. 158; Hans-Dietrich L O E W , Luthers Reisen über den Thüringer Wald, in: Fundamente. Dreißig Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte (Thüringer kirchliche Studien 5), Berlin 1987, S. 109-119, vermutet die Kenntnis der Karte (Abb. S. 112 / 113) bei Martin Luther, der 1510 bzw. 1511 auf dem Weg nach Rom wohl über Ilmenau und Frauenwald nach Eisfeld und Coburg (S. 111 f.) reiste. 15 Ingo F R E I H E R R V O N B E R C H E M , Landwehren im und um das ehemalig hennebergische Gebiet, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 14 (1999), S. 101-138. 3. Straßen und Brücken Verkehrswege waren für die Landesherren von erheblicher Bedeutung. Diese besaßen auf den wichtigeren Straßen das Geleit, konnten daher von den Benutzern Gebühren erheben, waren aber auch für den Unterhalt der Straßen zuständig und zum Schadensersatz verpflichtet, wenn Kaufleute, Fuhrleute oder Pilger innerhalb ihres Geleits beraubt wurden. Das Geleitswesen und der Wa‐ renverkehr auf den überregionalen Straßen sind für den (inner-)thüringischen Raum gut erforscht 13 . Um das Jahr 1500 wurden auf Initiative des Nürnbergers Erhard Etzlaub erstmals Straßenkarten gedruckt 14 . Seine 1500 erschienene Romwegkarte zeigt auch die Straße von Erfurt über Arnstadt, Ilmenau, den Thüringer Wald, Eisfeld, Coburg, Bamberg und Forchheim nach Nürnberg. Diese Reichsstadt, Heimatstadt Etzlaubs, bildete diesseits der Alpen den wichtigsten Straßen-Kno‐ tenpunkt. Wer berufsmäßig auf diesen Straßen reiste, war in der Regel gut informiert, er kannte nicht nur die am Weg liegenden Gasthäuser, sondern auch die wegen der Straßenverlaufs oder wegen mangelnder Sicherheit gefährlichen Stellen. Von Bedeutung war auch, wo das Geleit erhoben wurde und wo es Möglichkeiten gab, diese Stellen zu umfahren und so die Ausgaben zu sparen. Die Landesherren wiederum hatten ein erhebliches Interesse, das Umfahren des Geleits zu verhindern und den Verkehr auf ihre Geleitsstraßen zu lenken. Der Ausbau der Straßen, die Errichtung von Landwehren, die nur an bestimmten Stellen passiert werden konnten 15 , vor allem aber der Bau von Brücken war dazu ein Mittel, denn mit dem Durchfahren der Bäche und kleineren Flüsse ging ein erhebliches Unfallrisiko einher (Fähren gab es nur an den größeren Flüssen). 84 Johannes Mötsch <?page no="85"?> 16 Hartmut K Ü H N E / Lothar L A M B A C H E R / Konrad V A N J A , Das Zeichen am Hut im Mittelalter. Europäische Reisemarkierungen (Europäische Wallfahrtsstudien 4), Frankfurt / M. u. a. 2008, mit mehreren Beiträgen zu diesem Thema. 17 K R Ü G E R , Straßenkarten (wie Anm. 14), S. 117-119 (Die Pilgerstraße nach St. Wolfgang). 18 Ulrike B A U S E W E I N / Robert L E Y H , Studien zum Wolfgangskult, in: Zeitschrift für bayeri‐ sche Kirchengeschichte 61 (1992), S. 1-26, hier S. 12 ff. (von den Autoren ergrabenes Waldheiligtum im Puschendorfer Wald bei Puschendorf im Kreis Fürth, errichtet 1489 ff.), sowie S. 17 (Kirche zu Röthenbach im Kreis Roth, errichtet 1465 ff.), beide Orte mit einer Quelle; eine Übersichtskarte zu den Wolfgangheiligtümern in Franken S. 26; die Angabe Franken bezieht sich auf die heutigen Regierungsbezirke in Bayern; Hans D Ü N N I N G E R , Sankt Wolfgang in Franken und angrenzenden Regionen. Ein Katalog vorreformatorischer Kirchen, Kapellen und Bildwerke, in: Jahrbuch für Volkskunde N. F. 13 (1990), S. 211-217. Erwähnt werden im hier interessierenden Raum St. Wolfgang im Hermannsfelder See und (mit Fragezeichen) Heubach bei Meiningen. Heubach liegt nicht bei Meiningen, es gehört zur Stadt Eisfeld im Landkreis Hildburghausen. Bei Georg B R Ü C K N E R , Landeskunde des Herzogthums Meiningen, Meiningen 1853, S. 399 (von Dünninger als Quelle angegeben), heißt es zu 1464, eine verwüstete Kapelle St. Wolfgang im Dorf Heubach sei kurz zuvor wiederaufgebaut worden. Die Kapelle St. Wolfgang bei Oberrod (siehe folgende Anm.) wird von Dünninger nicht erwähnt. Die Pilgerinnen und Pilger, die nur in Ausnahmefällen zu den Gruppen gehörten, die beruflich auf den Straßen unterwegs waren, erhielten von Kauf‐ leuten, Fuhrleuten und Wirten sowohl die erforderlichen Auskünfte zum Verlauf und zur Sicherheit der Straßen als auch Hinweise auf die in der Nähe gelegenen lokalen und regionalen Wallfahrten. Dass diese auf dem Weg zu den großen europäischen Wallfahrtsorten gleichsam „mitgenommen“ worden sind, ist Stand der Forschung. Belegt werden kann dies unter anderem dadurch, dass an Glocken Pilgerzeichen der großen Wallfahrtsorte gemeinsam mit denen von geringerer Bedeutung überliefert sind, die am jeweiligen Weg liegen 16 . Dass sich am Jakobsweg in Abständen Pilgerherbergen befinden, ist wegen seiner derzeitigen Popularität allgemein bekannt. Das gleiche Phänomen gilt natürlich auch für die Wege zu den anderen Wallfahrtsorten von europäischer Bedeutung. Ein solcher Ort war auch St. Wolfgang am Abersee (der deswegen seit langem Wolfgangsee heißt). Die in Salzburg abzweigende, zum Wolfgangsee führende Straße findet sich auch auf den bereits erwähnten Karten des Erhard Etzlaub 17 . Auch an den aus größerer Entfernung nach St. Wolfgang führenden Straßen entstanden Pilgerstationen sowie diesem Heiligen geweihte Kirchen und Kapellen. Beispiele aus Franken stammen aus den Jahren 1465 und 1489 18 . Die seit 1462 (Grundsteinlegung) bezeugte Wallfahrt St. Wolfgang am Her‐ mannsfelder See in der Nähe der Burg Henneberg dürfte sich aus einer solchen Pilgerstation entwickelt haben. In der Region befindet sich an einer Furt über die Schleuse bei Oberrod an der Straße von Schleusingen nach Eisfeld (also an 85 Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt <?page no="86"?> 19 Bernhard S C H Ö N , Kapelle St. Wolfgang, in: Schleusinger Blätter 15 (2018). S. 6-8 (mit Foto), demnach ist die Kapelle 1491 belegt. 20 Orientiert an M ÖT S C H , St. Wolfgang (wie Anm. 10). 21 H Ä V E R N I C K , Pilgerzeichen (wie Anm. 12); K Ü H N E / B Ü N Z / M Ü L L E R , Alltag und Frömmig‐ keit (wie Anm. 12), S. 169 f. (Pilgerzeichen aus St. Wolfgang am See, mit Abb.). der auf der Etzlaub-Karte verzeichneten Straße von Erfurt nach Nürnberg) eine weitere, dem hl. Wolfgang geweihte Kapelle 19 . Zur Entwicklung der Wallfahrt St. Wolfgang bei Hermannsfeld sind zahl‐ reiche Quellen erhalten geblieben 20 : Sie lag als Insel in einem künstlichen, im 13. Jahrhundert angelegten See, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts abgelassen worden ist, und war über einen Damm zugänglich. Der Graf von Henneberg, der 1462 den Grundstein für eine Kapelle gelegt hatte, besorgte 1471 eine Ablassurkunde, die den Zulauf verstärkt haben dürfte. 1476 legte daher der Graf den Grundstein für eine Kirche, wenig später erwarb er bei einem Aufenthalt in Rom eine päpstliche Urkunde für seine Wallfahrt. Um die Einkünfte kam es in der Folge zu einem längeren Streit zwischen dem örtlich zuständigen Pfarrer und den von der Gräfinwitwe eingesetzten Heiligenmeistern; 1492 wurde die Kirche geweiht. Die Einnahmen wurden von der Gräfin und später von ihrem Sohn nicht nur für den weiteren Ausbau der Wallfahrt, sondern auch für die Gründung und Ausstattung geistlicher Pfründen in der Grafschaft verwendet. Diese Praxis wurde 1507 durch zwei vom Papst eingesetzte Kommissare legitimiert - auch für die Einkünfte aus Grimmenthal. Am Ort entstand eine St. Wolfgang-Bruder‐ schaft, die dem Totengedächtnis der Mitglieder diente. Die Kirche wurde mit einer Mauer umgeben, auf dem Gelände wurden ein Vikars- und ein Schenkhaus errichtet. Zwei Maler aus Bamberg, Ulrich Widmann und der später auch in Grimmenthal tätige Paul Lautensack, statteten die Kirche mit Kunstwerken aus. Seit 1478 wurden Teile der Einnahmen als Kredite ausgereicht. Zu den größeren Schuldnern zählte die Landesherrschaft. Auch von der Wallfahrt nach St. Wolfgang im See ist ein Pilgerzeichen erhalten geblieben 21 . Um den 20. Mai 1525 haben aufständische Bauern die Wallfahrt ausgebrannt. Der Zulauf hatte schon vorher stark nachgelassen - auch wegen des Aufkommens der Wallfahrt zu Grimmenthal. Hier hatte sich also eine Pilgerstation selbst zu einer kleinen Wallfahrt ent‐ wickelt - sicher kein Einzelfall. Die Landesherren haben solche Entwicklungen gefördert. Das lohnte sich natürlich nur dann, wenn für das örtliche Angebot eine entsprechende Nachfrage entstand. Diese Nachfrage konnte man auch dadurch fördern, dass man die Verkehrsströme entsprechend lenkte. Der Bau von Brücken aber war dafür ein probates Mittel. 86 Johannes Mötsch <?page no="87"?> Auf dem Gelände der späteren Wallfahrt zu Grimmenthal kreuzten sich die Wege von Einhausen nach Meiningen und von Obermaßfeld nach Ellingshausen (und weiter über den Thüringer Wald). Vermutlich hat sich an dieser Kreuzung der Bildstock befunden, der dann im Zentrum der Wallfahrt stand. Wer das Werratal herabkam, hatte bei Einhausen die Hasel zu überschreiten, die den Raum Suhl / Zella-Mehlis entwässerte und bei Einhausen in die Werra mündete. Reisende aus dem Maingebiet, die über den Thüringer Wald nach Erfurt und Leipzig wollten, benutzten bei Obermaßfeld eine Furt, um über die Werra zu kommen. Wenn Hasel und Werra Hochwasser führten, war das riskant, gele‐ gentlich sogar unmöglich. Vor dem gleichen Problem standen auch die Männer und Frauen, die aus dem Süden oder Westen die Wallfahrt zu Grimmenthal aufsuchen wollten. Die sehr hohen Einkünfte der Wallfahrt hatte man, wie erwähnt, zunächst für den Ausbau der Infrastruktur auf dem Gelände selbst verwendet. Dann aber kamen offenbar die Straßen und Wege in den Blick, die nach Grimmenthal führten. Im Juni 1532 wurde mit einem Steinmetz der Vertrag für den Bau einer Brücke über die Werra in Obermaßfeld geschlossen. Im Oktober wurden zwei Männer aus Obermaßfeld zu Baumeistern der Brücke bestimmt; ihnen oblag die Organisation der Bauarbeiten. Für das Brennen von Kalk, Essen und Trinken für die Arbeiter (Schmiede, Steinmetzen, Schubkarrenfahrer und Wagner), das Brechen der Steine, für Dielen und Eisen wurden insgesamt etwa 70 Gulden ausgegeben. Den Abschluss der Arbeiten bildete die Ausstattung der noch heute stehenden Brückenkapelle im Jahr 1534 (Abb. 1). 1539 begann man mit dem Bau einer Brücke über die Hasel bei Einhausen, die vier Schwibbögen erhielt und 18 Werkschuh breit war (Abb. 2). 87 Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt <?page no="88"?> Abb. 1: Werrabrücke in Obermaßfeld Abb. 2: Brücke bei Einhausen Daneben wurden Gelder der Wallfahrt für den Bau und Unterhalt weiterer Brücken und Stege in der Region verwendet: 1535 / 36 erfolgte der Bau einer Brücke an der Salzfurt (bei Untermaßfeld); 1537 wurde aus der Wallfahrtskasse ein Zuschuss für den Bau der Werrabrücke zu Wasungen gezahlt; 1543 wurde bei Untermaßfeld ein Steg über die Werra gebaut; 1544 folgte die Errichtung 88 Johannes Mötsch <?page no="89"?> 22 Karl Z E I T E L , Die Reformation im Henneberger Land von den Anfängen bis zur Annahme der Augsburgischen Konfession durch Wilhelm von Henneberg (Sonderveröffentli‐ chung des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 5), Hildburghausen 1994. 23 Johannes M Ö T S C H , Die älteste Karte der Grafschaft Henneberg, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 30 (2015), S. 133-144 (mit beigelegter Karte). der Zollbrücke über die Schleuse oberhalb von Kloster Veßra. Im gleichen Jahr wurde in der Grafschaft die Reformation eingeführt 22 , im Folgejahr wurde die Wallfahrt zu Grimmenthal geschlossen. Die älteste Karte der Grafschaft Henneberg, die zu Beginn der 1570er Jahre für einen Prozess vor dem Reichskammergericht angefertigt worden ist 23 , zeigt auch diese Brücken und Stege (Abb. 3). Aus der Tatsache, dass es in der Nähe nur wenige (Stein-)Brücken und (Holz-)Stege gab, ergibt sich auch, wie wichtig diese mit Mitteln der Wallfahrt errichteten Bauwerke für den Verkehr in der Region waren. Die Brücken in Obermaßfeld und Einhausen haben diese Funktion über Jahrhunderte behalten. Die Brücke über die Hasel bei Einhausen dient bis heute diesem Zweck, der Verkehr über die Werra bei Obermaßfeld nutzt seit wenigen Jahrzehnten eine Behelfsbrücke unmittelbar neben der Brücke aus den 1530er Jahren, die heute den Fußgängern und Fahrradfahrern vorbehalten ist. Man wird daher konstatieren dürfen: die (wohl vom Grafen von Henneberg getroffene) Entscheidung, die Mittel der Wallfahrt für den Bau dieser Brücken zu verwenden, war vorausschauend und hat den Einwohnern über Jahrhunderte Nutzen gebracht. 89 Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt <?page no="90"?> Abb. 3: Älteste Karte der Grafschaft Henneberg 90 Johannes Mötsch Abb. 3: Älteste Karte der Grafschaft Henneberg 90 Johannes Mötsch <?page no="91"?> 24 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6 , Weimar 1888, S. 404-469 , die Nennung von Grimmenthal S. 447. 25 Susanne B E I D E R W I E D E N , Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Luthers 7), Köln / Weimar / Wien 1999, hier S. 326-331. 26 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 30, Weimar 1909, S. 296 f. 27 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, Bd. 4 , Weimar 1916, S. 494 (in Nr. 4779). 28 L O E W , Luthers Reisen (wie Anm. 14), das Zitat S. 115, rechte Spalte. 29 L O E W , Luthers Reisen (wie Anm. 14), S. 115, linke Spalte. 4. Exkurs: Martin Luther und die Wallfahrt zu Grimmenthal Die Vorfahren des Reformators stammten bekanntlich aus Möhra im Amt Salzungen. Schon deshalb dürfte der Region und daher auch der Wallfahrt zu Grimmenthal ein gewisses Interesse gegolten haben. In der Schrift An den christlichen Adel teutscher Nation: von des christlichen stantes Besserung (erschienen im August 1520) forderte er die Abschaffung der neuen Wallfahrten, darunter auch Grimmenthal 24 . Am 8. September 1522 hielt er eine Predigt, in der er dringend aufforderte, nicht nach Grimmenthal zu laufen; diese Predigt wurde 1522 / 23 mehrfach gedruckt 25 . 1530 erschien An die gantze geistlichkeit zu Augsburg versammlet auff dem Reichstag anno 1530, Vermannung , in der es zu Grimmenthal hieß: unnd lieffen die leute, als weren sie toll, aus dem dienst und gehorsam, das mans greiffen mocht, es wäre des teuffels gespenst 26 . Noch besser bekannt ist die Äußerung zu Grimmenthal in den Tischreden: Daher ist kommen der große Betrug des Teufels mit den Wallfahrten in das Grimmenthal, da die Leute verblendet, als wären sie toll und thöricht, Knechte, Mägde, Hirten, Weiber ihren Beruf ließen anstehen und liefen dahin. Ist recht Grimmenthal genannt, vallis furoris; da war Niemand, der ein Wort dawider geredet hätte . 27 Diese Bemerkung hört sich an, als stehe eigenes Erleben dahinter . So heißt es bei H AN S -D I E T R I C H L O E W , der die Reisen Luthers über den Thüringer Wald rekonstruiert hat 28 . Demnach hat eine Gruppe von Augustinermönchen, zu der Martin Luther gehörte, am 1. Mai 1518 Heidelberg verlassen. In Würzburg hat man sich den Ordensangehörigen aus dem Erfurter Augustinerkloster angeschlossen, am 8. Mai war man in Erfurt, am 15. Mai war Luther wieder in Wittenberg. Der Weg dürfte daher mit großer Wahrscheinlichkeit über Schweinfurt, Münnerstadt, (Bad) Neustadt, Mellrichstadt, Henneberg, Maßfeld, Rohr, Mehlis, Zella und Oberhof nach Erfurt geführt haben. Diese Rückreise … kann eigentlich gar nicht anders als über dieses Verkehrskreuz bei Grimmenthal gegangen sein 29 . 91 Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt <?page no="92"?> 24 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Weimar 1888, S. 404-469, die Nennung von Grimmenthal S. 447. 25 Susanne B E I D E R W I E D E N , Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Luthers 7), Köln / Weimar / Wien 1999, hier S. 326-331. 26 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 30, Weimar 1909, S. 296 f. 27 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, Bd. 4, Weimar 1916, S. 494 (in Nr. 4779). 28 L O E W , Luthers Reisen (wie Anm. 14), das Zitat S. 115, rechte Spalte. 29 L O E W , Luthers Reisen (wie Anm. 14), S. 115, linke Spalte. 4. Exkurs: Martin Luther und die Wallfahrt zu Grimmenthal Die Vorfahren des Reformators stammten bekanntlich aus Möhra im Amt Salzungen. Schon deshalb dürfte der Region und daher auch der Wallfahrt zu Grimmenthal ein gewisses Interesse gegolten haben. In der Schrift An den christlichen Adel teutscher Nation: von des christlichen stantes Besserung (erschienen im August 1520) forderte er die Abschaffung der neuen Wallfahrten, darunter auch Grimmenthal 24 . Am 8. September 1522 hielt er eine Predigt, in der er dringend aufforderte, nicht nach Grimmenthal zu laufen; diese Predigt wurde 1522 / 23 mehrfach gedruckt 25 . 1530 erschien An die gantze geistlichkeit zu Augsburg versammlet auff dem Reichstag anno 1530, Vermannung, in der es zu Grimmenthal hieß: unnd lieffen die leute, als weren sie toll, aus dem dienst und gehorsam, das mans greiffen mocht, es wäre des teuffels gespenst 26 . Noch besser bekannt ist die Äußerung zu Grimmenthal in den Tischreden: Daher ist kommen der große Betrug des Teufels mit den Wallfahrten in das Grimmenthal, da die Leute verblendet, als wären sie toll und thöricht, Knechte, Mägde, Hirten, Weiber ihren Beruf ließen anstehen und liefen dahin. Ist recht Grimmenthal genannt, vallis furoris; da war Niemand, der ein Wort dawider geredet hätte. 27 Diese Bemerkung hört sich an, als stehe eigenes Erleben dahinter. So heißt es bei H AN S -D I E T R I C H L O E W , der die Reisen Luthers über den Thüringer Wald rekonstruiert hat 28 . Demnach hat eine Gruppe von Augustinermönchen, zu der Martin Luther gehörte, am 1. Mai 1518 Heidelberg verlassen. In Würzburg hat man sich den Ordensangehörigen aus dem Erfurter Augustinerkloster angeschlossen, am 8. Mai war man in Erfurt, am 15. Mai war Luther wieder in Wittenberg. Der Weg dürfte daher mit großer Wahrscheinlichkeit über Schweinfurt, Münnerstadt, (Bad) Neustadt, Mellrichstadt, Henneberg, Maßfeld, Rohr, Mehlis, Zella und Oberhof nach Erfurt geführt haben. Diese Rückreise … kann eigentlich gar nicht anders als über dieses Verkehrskreuz bei Grimmenthal gegangen sein 29 . 92 Johannes Mötsch <?page no="93"?> 30 M Ö T S C H , Grimmenthal (wie Anm. 11), S. 273 f. R 24. 31 M ÖT S C H , Grimmenthal (wie Anm. 11), S. 354 M 46. 32 M Ö T S C H , Grimmenthal (wie Anm. 11), S. 353 M 42. 33 M Ö T S C H , Grimmenthal (wie Anm. 11), S. 353 M 44. Auf diesem Hintergrund ist natürlich von Interesse, was zu diesem Zeit‐ punkt in der Wallfahrt vorgefallen ist. Dazu geben die Rechnungen und das Mirakelbuch Auskünfte - leider enttäuschend: die von den Rechnungen nach‐ gewiesenen Einnahmen und Ausgaben halten sich im üblichen Rahmen 30 . Die Notizen im Mirakelbuch aus dem Mai 1518 stammen alle aus den Tagen nach der Durchreise des Reformators: Am 8. Mai 1518 hatte Anna von Rüdigheim, wohnhaft in Dieburg (bei Darmstadt), berichtet, sie sei nach Anrufung der Jungfrau zu Grimmenthal von ihrer Lähmung befreit worden 31 . Vom 27. Mai 1518 stammt der Bericht des Hans Ratge aus Euba bei Chemnitz, der im Juni 1517 vom Blitz getroffen worden war, so dass ihm das Blut aus Ohren, Mund und Nase gelaufen war 32 . Am folgenden Tag war Barbara Schmid aus Schlammersdorf bei Eschenbach (in der Oberpfalz) in Grimmenthal, die wegen einer Geschwulst im Hals nicht essen und trinken, auch kaum atmen konnte, aber nach Anrufung der Jungfrau im Grimmenthal geheilt worden war 33 . Immerhin könnte Luther dort erfahren haben, dass der Anheber der Wallfahrt den Namen Teufel getragen hatte. Den großen Betrug könnte er daher nicht nur dem aus der Bibel bekannten Feind des Menschengeschlechts, sondern auch dem verstorbenen Heinz Teufel aus Obermaßfeld zugeschrieben haben. 5. Zusammenfassung Wallfahrtsorte, regionale Verkehrswege und zugehörige Brücken sind in der Regel aufeinander bezogen. Das erschließt sich aber erst, wenn der Blick entsprechend geschult ist. Fremdenführer lieben das Zitat Man sieht nur, was man kennt (angeblich stammt es von Goethe). Das gilt sicher auch hier. Deshalb: wer jetzt einen neuen, geschärften Blick auf die Wallfahrtsorte oder ehemaligen Wallfahrtsorte in ihrer Umgebung wirft, dem wird vielleicht klar, aus welchem Grund eine dortige uralte Brücke errichtet worden ist. 93 Wallfahrt, Verkehrswege und Brückenbau im Kontext der Grimmenthaler Wallfahrt <?page no="95"?> II. Schiffspilgerfahrten, Land-und Wasserwege im Vergleich <?page no="97"?> 1 Vgl. die Beiträge in: Jenni K U U L I A L A / Jussi R A N T A L A (Hg.), Travel, Pilgrimage and Social Interaction (Studies in medieval history and culture), London / New York 2020. Schiffe als soziale Räume Hierarchie- und Körpervorstellungen auf spätmittelalterlichen Pilgerreisen Ruth Schilling Religion und Mobilität bedingen einander. Religiöse Vorstellungen verbreiten und verfestigen sich durch Kommunikation über weite Grenzen hinweg. Die symbolische Einordnung bestimmter Räume und Orte in religiöse Vorstellungs‐ welten führt zu einer spezifischen Form des Reisens, wie wir sie im mittelalter‐ lichen europäischen Pilgerwesen antreffen 1 . Der breite Horizont des Zusammenhangs zwischen Religion und Fortbewe‐ gung wird im Folgenden auf einen recht spezifischen Fokus hin befragt werden. Der Blick auf eine mittelalterliche Schiffspilgerfahrt wird in diesem Beitrag mit weitergehenden Überlegungen dazu verbunden, welche Wirkung das Zusam‐ mensein an Bord in sozialer und kultureller Hinsicht aufweisen konnte. Schiffe brachten die Pilger nicht nur von einem Ziel zum anderen. Sie stellten vielmehr einen teilweise sehr beengten Raum dar, in dem unterschiedliche sprachliche, kulturelle und auch soziale Zusammengehörigkeiten aufeinandertrafen. Führte diese Extremsituation etwa dazu, dass sich - und sei es vorübergehend - sogenannte ‚Notgemeinschaften‘ an Bord bildeten, die möglicherweise an Land geltende Grenzen nicht mehr priorisierten? Ausnahmesituationen, und dazu muss eine Schiffsreise im Grunde immer gezählt werden, führen dazu, dass sich Menschen auf das Wesentliche beschränken, Entscheidungen treffen, in denen deutlich wird, was für sie wirklich wichtig ist. Auch in diesem Sinne sind historische Quellen zu Schiffspilgerreisen aufschlussreich: Konflikte an Bord eines Schiffes können wie in einem Brennglas die Konfliktlinien spätmittelal‐ terlicher Gesellschaften aufzeigen. Die Deutung des eigenen Körpers und seiner <?page no="98"?> 2 Wenn auch mit keinem historischen Bezug, aber dennoch mit einer Theoriebildung, die die in diesem Beitrag vorgenommene gemeinsame Betrachtung körperlichen und sozialen Erlebens rechtfertigt: Stephanie S T A D E L B A C H E R , Die körperliche Konstruktion des Sozialen. Zum Verhältnis von Körper, Wissen und Interaktion, Bielefeld 2016. 3 Marie Luise F A V R E A U -L I L L E , The German Empire and Palestine. German pilgrimages to Jerusalem between the 12th and 16th century, in: Journal of Medieval History 21 (1995), S. 321-342; Folker R E I C H E R T , Eberhard im Bart und die Wallfahrt nach Jerusalem im späten Mittelalter, in: Eberhard im Bart und die Wallfahrt nach Jerusalem im späten Mittelalter, hg. von Gerhard F A I X / Folker R E I C H E R T (Lebendige Vergangenheit 20), Stuttgart 1998, S. 9-59; Reinhold R Ö H R I C H T , Deutsche Pilgerreisen nach dem heiligen Lande, Innsbruck 2 1900. Funktionen wiederum offenbart, wie das eigene Verhalten gegenüber anderen gedeutet und auch mit unterschiedlichen Wissensbeständen verbunden wurde 2 . Dieser Beitrag misst also dem Raum Schiff eine eigene Wirkung zu. Einleitend werden die wesentlichen Voraussetzungen für eine Schiffspilgerreise skizziert, nämlich die Hauptrouten, auf denen Pilger reisten, sowie auch die materiellen Bedingungen der sozialen Interaktion, die der spätmittelalterliche Schiffbau vorgab. Anschließend werden zum einen die sozialen Ordnungsmuster analy‐ siert, die sich in der Schilderung der Interaktion der Akteure an Bord spiegeln, und zum anderen die sozialen Konnotationen des individuellen körperlichen Befindens. Da es mit dem Blick auf die Schiffe eine eher mittelbis langfristige Wirkung zu analysieren gilt, konzentriert sich der Beitrag eher auf Quellen zu Seereisen und nimmt nicht die vielfältigen Gelegenheiten in den Blick, in denen Pilger auf binnenländischen Gewässern unterwegs waren. 1. Pauschaltourismus im Mittelalter? Die Logistik von Schiffsreisen im Rahmen des spätmittelalterlichen Pilgerwesens Im Gefolge der Kreuzfahrten nahm die Bedeutung des Heiligen Landes als Pilgerziel zu. Da der Landweg durch das Osmanische Reich führte und der Hafen von Akkon seit seiner Eroberung durch die Mamluken im Jahr 1291 nicht mehr angefahren werden konnte, etablierte sich der Schiffstransport von Venedig nach Jaffa durch die Adria mit Zwischenhalten in Kreta, Rhodos und Zypern. Organisiert wurden diese Reisen durch venezianische Reeder sowie den Franziskanerorden, der insbesondere für den Aufenthalt im Heiligen Land verantwortlich war 3 . Eine zweite wichtige Route betraf die Pilgerreisen zum hl. Jakobus nach Santiago de Compostela und steuerte die Häfen A Coruña, Cap Finisterre oder auch Ferrol an der galizischen Atlantikküste an. Von dort ging es dann noch einmal nach Santiago de Compostela. Diese Möglichkeit wurde hauptsächlich 98 Ruth Schilling <?page no="99"?> 4 Norbert B R I E S K O R N , Finsteres Mittelalter? Über das Lebensgefühl einer Epoche, Mainz 1991, S. 124; Heinrich D O R M E I E R , Jakobuskult und Santiago-Pilgerfahrten in Lübeck im späten Mittelalter, in: Der Jakobsweg und Santiago de Compostela in den Hansestädten und im Ostseeraum. Akten des Symposiums an der Universität Kiel (23.-25. 4. 2007), hg. von Javier G Ó M E Z -M O N T E R O (Topographica 1), Kiel 2007, S. 19-34; Thomas R I I S , Skan‐ dinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela, in: ebd., S. 53-61; Marie-Luise F A V R E A U -L I L L E , Von Nord- und Ostsee ans ‚Ende der Welt‘. Jakobspilger aus dem Han‐ seraum, in: Hansische Geschichtsblätter 117 (1990), S. 93-130; Diana W E B B , Pilgrims and pilgrimage in medieval west (International library of historical studies 12), London 1999, S. 161-199. 5 Manfred H E L L M A N N , Die Anfänge christlicher Mission in den baltischen Ländern, in: Studien über die Anfänge der Mission in Livland, hg. von Manfred H E L L M A N N (Vorträge und Forschungen. Sonderbd. 37), Sigmaringen 1989, S. 7-36. 6 Christian K R Ö T Z L , Pilger, Mirakel und Alltag. Formen des Verhaltens im skandinavi‐ schen Mittelalter (12.-15. Jahrhundert) (Studia historica 46), Helsinki 1994, S. 304. von englischen, flandrischen und dänischen Pilgern bzw. auch Pilgern aus den Hansestädten der Nord- und Ostseeküste genutzt. Sie gestaltete sich sehr viel flexibler als die Passage von Venedig nach Jaffa, die einem recht fest gefügten Verlauf folgte. Pilger konnten auch einen der französischen Häfen in La Rochelle oder Bordeaux ansteuern, um dann zu Fuß die Pyrenäen zu überqueren bzw. von Calais aus loszuwandern 4 . Eine dritte Hauptroute für Pilgerfahrten zu Schiff führte durch den Ostsee‐ raum und ordnet sich in den Kontext der Christianisierung und Eroberung Livlands ein. Albert von Buxthoeven (1165-1229) wurde im Jahre 1199 zum Bi‐ schof von Livland geweiht. Er erreichte, dass sich ihm Kreuzfahrer anschließen durften. Eine päpstliche Bulle verhieß den Livlandfahrern einen vollständigen Ablass. In Sachsen, Westfalen und Norddeutschland wurde daraufhin in Pre‐ digten zur Verteidigung des christlichen Glaubens im Nordosten aufgerufen. Diese Livlandfahrer verstanden sich im Gegensatz zu den Pilgern, die den Jakobsweg beschritten oder in das Heilige Land reisten, als Kreuzfahrer. In Riga bildeten sie schließlich eine eigene Gemeinschaft und waren als solche auch im Stadtrat vertreten 5 . Die Nutzung von Schiffen besaß generell gegenüber einer reinen Landreise viele Vorteile. So verlief sie deutlich schneller. Im Jahre 1518 konnte man in neun Wochen von Stralsund nach A Coruña fahren 6 . Zu Fuß bzw. mit Pferd und Wagen hätte dies ein Vielfaches gedauert. Außerdem war die Gefahr, an Bord eines Schiffes ausgeraubt zu werden, sehr viel geringer als auf dem Landweg. Nicht zuletzt verringerte sich auch die Gefahr von Krankheiten und Naturkatastrophen, auch wenn das Risiko, Schiffbruch zu erleiden, von fremden Schiffen angegriffen zu werden oder an Bord zu erkranken, nicht unerheblich war. Nicht zuletzt wog aber das Argument einer verkürzten Reisedauer alle 99 Schiffe als soziale Räume <?page no="100"?> 7 Für diesen Hinweis danke ich Hartmut Kühne. Zu dem Unternehmen vgl. Hartmut K Ü H N E , Hans Sternbergs Reise nach Santiago, Jerusalem und Rom, in: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Thomas T. M Ü L L E R , Petersberg 2013, S. 183 f. Zum Einblattdruck vgl. Hartmut K Ü H N E , Zwischen Totschlag und Tourismus. Spuren von Wallfahrt und Pilgerschaft im mitteldeutschen Umfeld Luthers, in: Tagungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle 1 (2008), S. 377-386, hier: S. 381-385. 8 Beispiele bei Ursula G A N Z -B L Ä T T L E R , Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320-1520) ( Jakobus-Studien 4), Tübingen 3 2000, zum Beispiel S. 68, 74, 88 und passim; außerdem mit Bezug zur engen Verknüpfung von Handelsfunden und Pilgerzeichen Manfred R E C H , Kaufleute und Pilger - Schlachte 13 / 14, in: Bremer Archäologische Blätter N. F. 4 (1996 / 97), S. 67-76. 9 Folker R E I C H E R T , Die Reise des Pfalzgrafen Ottheinrich zum Heiligen Land 1521, Regensburg 2005. 10 G A N Z -B L Ä T T L E R , Andacht und Abenteuer (wie Anm. 8), S. 39. Nachteile auf, da es eine grundlegende Verbesserung der Reisesituation mit sich brachte. Daher ist es nicht erstaunlich, dass sich zusätzlich zu den drei Hauptrouten im Spätmittelalter Kombinationen aus der Pilgerfahrt ins Heilige Land und der Fahrt nach Santiago de Compostela herausbildeten. So versuchte der Antwerpener Schiffseigner Dieterich Paeschen im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts eine regelmäßige Schiffsverbindung aufzubauen und bewarb seine zweite Fahrt mit einem im Jahre 1513 produzierten Einblattdruck; die Pilgerfahrt führte über A Coruña nach Jaffa, von dort nach Rom mit einer möglichen Weiterreise nach Marseille. Vergleichbar heutigen Tourismusange‐ boten beschreibt das Blatt detailliert die Reisekonditionen inklusive der genauen Beschreibung, wie sich die Kosten zusammensetzten als auch, welche Speisen an Bord des Schiffes serviert wurden 7 . Diese Quelle zeigt deutlich Paeschens Vorhaben der Etablierung einer mittelalterlichen ‚Linienfahrt‘. Sie weist darauf hin, dass sich die Logistik der Pilgerreisen auf dem Meer immer weiter pro‐ fessionalisierte. Das Profitstreben der Schiffseigner traf auf ein florierendes Reisewesen, bei dem neben der eigentlichen religiösen Motivation sicher auch Neugierde eine Rolle spielte und sich mit je nach Akteuren unterschiedlichen Interessen paaren konnte, von der Anbahnung von Fernhandelsbeziehungen im kaufmännischen Bereich 8 bis zur Etablierung einer hochadeligen Reisekultur, bei der Reisen Teil einer Standesrepräsentation war 9 . Schiffsreisen waren nichts, was sich Pilger mit begrenzten finanziellen Mitteln leisten konnten. Die ‚Bu‐ chung‘ einer Pilgerreise in Venedig kostete den Nürnberger Kaufmann Hans Tucher (1428-1491) im Jahre 1482 das Äquivalent eines stattlichen Wohnhauses, nämlich 300 venezianische Dukaten 10 . 100 Ruth Schilling <?page no="101"?> 11 Mike B E L A S U S , Historical Ship Archaeology in the Shadow of Historism and Nationa‐ lism. A German Perspective, in: The Country where my Heart is. Historical Archaeo‐ logies of Nationalism and National Identity, hg. von Alasdair B R O O K S / Natascha M E H L E R , Gainesville 2017, S. 222-241. 2. Von Karavellen bis Koggen: die Fahrzeuge der Pilger in Nord und Süd Die Gestaltung der Schiffsreise hing entscheidend von der jeweiligen Schiffs‐ form ab, die sich von Nord nach Süd und epochenabhängig recht unterschied‐ lich gestaltete. Noch vor einigen Jahrzehnten glaubten Schiffshistoriker und Archäologen, eine sehr präzise Zuordnung von historischen Epochen, natio‐ nalen Unterschieden und bestimmten Schiffstypen und -formen vornehmen zu können. Abb. 1: Zeichnung mit einer Venezianischen Pilgergaleere aus dem Reisebericht Konrad Grünembergs Dieses feste Bild hat sich inzwischen differenziert. Die Forschung betont neben einer großen Abhängigkeit der Schiffbautraditionen untereinander auch die teilweise recht lange Dauer, mit denen bestimmte Schiffsformen nebeneinander her existieren konnten 11 . Für den Mittelmeerraum benennen die Begriffe Ga‐ leere, Nao und Karavelle die häufigsten Schiffsbezeichnungen. Im Museum der türkischen Marine in Istanbul ist eine der wenigen voll‐ ständig erhaltenen Galeeren aus dem Mittelmeerraum zu sehen, allerdings 101 Schiffe als soziale Räume <?page no="102"?> 12 Erkut A R C A K , Kadirga. A Technical Analysis of the Sultan’s Galley, in: Boats, Ships and Shipyards. Proceedings of the Ninth International Symposium on Boat and Ship Archaeology, hg. von Carlo B E L T R A M E , Oxford 2003, S. 241-248. 13 Für Venedig ist dies nachgezeichnet in: Frederic C. L A N E , Wages and Recruitment of Venetian Galeotti, 1470-1580, in: Studies in Venetian Social and Economic History, hg. von Benjamin G. K O H L / Reinhold C. M U E L L E R (Variorum collected studies series 254), London 1987, S. 15-43; Robert C. Davis hat außerdem den Zusammenhang zwischen Bedarf an Ruderern und dem Einsatz von Christen auf muslimischen Schiffen heraus‐ gearbeitet in: Robert C. D A V I S , Christian Slaves, Muslim Masters. White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast, and Italy, 1500-1800, Basingstoke u. a. 2007. ohne Masten 12 (Abb. 2). Sie stammt aus dem ausgehenden Mittelalter und stand bis 1839 im Dienst. Sie gibt einen guten Eindruck in die seit der Antike gebräuchlichen Form von Galeeren: Ihre Länge beträgt 37 Meter und ihre Breite 5,7 Meter. Sie hat wie alle Galeeren wenig Tiefgang - lediglich 2 Meter. Insge‐ samt sind 144 Ruderer vorgesehen. Galeeren waren dank der Ruderer weniger von Windkraft abhängig als andere Segelschiffe, wobei sie auch über eine Hilfsbeseglung verfügten. Ihr Nachteil bestand darin, dass man auf menschliche Muskelkraft angewiesen war, so dass die freiwillige oder meist durch Zwang ausgeführte Rekrutierung von Ruderern eine Konstante in der Geschichte des Mittelmeerraums darstellt 13 . Galeeren waren sehr wendige Schiffe und konnten daher auch gut im Kampfeinsatz verwendet werden. Sie boten aber insgesamt wenig Platz für Waren- oder Menschentransport: Das Hauptaugenmerk liegt bei diesem Schiffstyp eher auf seiner Wendigkeit und seiner Verteidigungsfähigkeit. Im Windschatten der Galeeren reisten daher häufig noch weitere Schiffe mit. Abb. 2: Sogenannte Galeere des Sultans, Marinemuseum Istanbul 102 Ruth Schilling <?page no="103"?> 14 Karl Heinrich P E T E R , Wie Columbus navigierte, Herford 1972, S. 47-48. 15 Hierin folge ich Maik-Jens S P R I N G M A N N , Archäologische, archivalische und bildliche Indikatoren für den sozio-kulturellen Wandel des Lebens an Bord von Schiffen des 16. Jahrhunderts in Nordeuropa, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 24 (2001), S. 333-354, Anm. 2. 16 Sjoerd D E M E E R , The Mataró-Model: World’s Oldest Ship Model yields up its Secrets, in: Maritime History 7 (2009), S. 28-50; Heinrich W I N T E R , Die katalanische Nao von 1450 nach dem Modell im Maritiem Museum Prins Hendrik in Rotterdam, Burg 1956. 17 Speigatten sind entweder unverschlossene oder durch eine Klappe gesicherte Abflus‐ söffnungen in der Verkleidung von Schiffe, durch die Regenwasser oder Gischt wieder abgeleitet wird. Nach dem Zeugnis des Bordbuchs war das Lieblingsschiff des Christoph Co‐ lumbus (1451-1506) auf seiner ersten Atlantiküberquerung nicht sein Flagg‐ schiff Santa Maria, sondern La Niña 14 , die als Karavelle bezeichnet wurde, ein Wort, von dem es mehrere mögliche Herleitungen aus dem Lateinischen, Ara‐ bischen oder auch Portugiesischen gibt. Diese Begriffe bezeichnen im Großen und Ganzen alle ein kleines Segelschiff und geben uns einen Hinweis auf die Kreuzung unterschiedlicher Traditionen in der mediterranen Schifffahrt. Neben den Karavellen finden sich im Mittelmeerraum auch noch die sogenannten Nefs oder Naos, was beides übersetzt einfach „Schiff “ bedeutet und wohl keinen spezifischen Schiffstyp darstellte 15 . Die aus dem Spätmittelalter überlieferten Schiffsmodelle zielten nicht darauf ab, eine detailgetreue Nachbildung eines Schiffes für die Nachwelt zu erhalten. Dennoch bietet das per Dendrochronologie inzwischen in das frühe 15. Jahr‐ hundert datierte sogenannte Mataró-Modell einige recht detailgetreue Elemente (Abb. 3). Das Modell, das ursprünglich aus der katalanischen Stadt Mataró stammt, befindet sich heute im Besitz des Niederländischen Schifffahrtsmu‐ seums in Rotterdam. Dort wurde es 2004 ausführlich untersucht und endgültig als mittelalterliches Original deklariert 16 . Es ist wahrscheinlich, dass es im Ursprungszustand zwei statt einen Masten besessen hat, wie ein Loch an Deck signalisiert. Es zeigt einen extrem langen Helmstock (Ruderpinne), Speigatten 17 , die Ladeluke mit Lukendeckel auf dem Hauptdeck und zeitgenössische Verzie‐ rungselemente wie einen Männerkopf auf dem Vorderkastell, einen Drachen beziehungsweise Ungeheuer am Vorsteven sowie eine auf Papier gemalte Engelsfigur am Heck. Aufschlussreich ist auch, dass es wie die ‚großen‘ Schiffe mit Teer behandelt wurde. Zur See diente Teer der Abdichtung. Auch wenn sich nach den Maßen des Modells sicherlich kein fahrttüchtiges Schiff im Maßstab 1: 1 bauen lässt, gewinnen wir so wenigstens einen Eindruck davon, welche Elemente einem erfahrenen Modellbauer Ende des 14. Jahrhunderts an einem seetüchtigen Schiff wichtig waren. 103 Schiffe als soziale Räume <?page no="104"?> Abb. 3: Das Schiffsmodell aus Mataró Auch nördlich der Alpen hat sich ein Schiffsmodell erhalten, das sich eng an seine ‚großen Vorbilder‘ anlehnt, das sogenannte Ebersdorfer Schiffsmodell, das sich heute noch in der Kirche von Ebersdorf in der Nähe von Chemnitz befindet (Abb. 4). 104 Ruth Schilling <?page no="105"?> 18 Die Kogge. Sternstunde der deutschen Schiffsarchäologie, hg. von Gabriele H O F F ‐ M A N N / Uwe S C H N A L L (Die Kogge von Bremen 2 / Schriften des Deutschen Schiffahrts‐ museums 60), Hamburg 2003. Abb. 4: Das sogenannte Ebersdorfer Schiffsmodell Es ist dendrochronologisch auf den Beginn des 15. Jahrhunderts datiert. Seine sehr viel schlichtere Form weist im Gegensatz zum Mataró-Modell eine durch‐ gehende Kinkerbeplankung auf. Es finden sich keine Verzierungen und keine Teerspuren. Dieses Modell führt uns zum Blick nach Norden, wo auch Pilger‐ reisen zur See stattfanden. Seit dem späten 12. Jahrhundert finden wir hier eine Schiffsform, die vor allem auf das Transportieren von Ladung ausgelegt war. Dementsprechend bauchig ist die Form, was wiederum zu Lasten der Wendig‐ keit ging. Dieser Typ, der heute recht lakonisch als „Typ Kollerup-Bremen“ charakterisiert wird, findet sich als aufwendig konserviertes und rekonstru‐ iertes Wrack im Deutschen Schifffahrtsmuseum / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (Abb. 5). Es stammt aus dem Jahr 1380 und wurde in Bremen gebaut 18 . Neben der enormen Ladefähigkeit gibt es drei Elemente, die an diesem Schiffswrack für die Frage nach dem Leben an Bord aufschlussreich sind: das 105 Schiffe als soziale Räume <?page no="106"?> 19 Heinrich S I E M E R S , Plattformen in alten Schiffen Nordeuropas: Overlop, Kastell und Deck, in: Das Logbuch 36 (2000), S. 112-130. Kastell, die Schiffstoilette und ein Teil des Beifunds, der möglicherweise als Reste einer Kochstelle gedeutet werden könnte. Abb. 5: Die sogenannte Bremer ‚Kogge‘ im Deutschen Schifffahrtsmuseum, Gesamtan‐ sicht Das Kastell spielt auch auf entsprechenden Schiffsdarstellungen aus dem Mit‐ telalter eine große Rolle. Es diente nicht nur als Unterstand bei Unwetter, sondern auch der Verteidigung. Damit weist es auf die in dieser Zeit noch nicht erfolgte Differenzierung in speziell für das Kriegswesen ausgerüstete Schiffe und Handelsschiffe hin 19 . Die Verteidigung zur See lag auch bei den Schiffspilgerreisen in den Händen des Kapitäns, der sich verpflichten musste, 106 Ruth Schilling <?page no="107"?> 20 Bernhard V O N B R E Y D E N B A C H , Sanctarum peregrinationum in montem Syram, ad vene‐ randum Christi sepulchrum in Hierusalem atque in montem Synai ad divam virginem et martyrem Katharinam opusculum, 1486, Ausschnitt aus: Quellen zur Geschichte des Reisens im Spätmittelalter, ausgewählt und übersetzt von Folker R E I C H E R T (Ausge‐ wählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 46), Darmstadt 2009, S. 84; Herrn Bugislai / X. Hertzogen in Pommern & c. Kurtze summarische Beschreibung der Rheyß zum H. Grab […], in: Bewehrtes Reißbuch des Heiligen Landes / Oder Eine gründliche Beschreibung aller Meer- und Bilgerfahrten zum heiligen Lane / so von diesen hohen / auch andern Stands Personen / zu Wasser du Land vorgenommen/ und durch wunderbarlich Abendtheur nebst grosser Gefahr Leibs und Guts vollbracht worden […], Nürnberg 1659, S. 88. genügend Verteidigungsmittel, d. h. Rüstung und Waffen, für alle an Bord zu haben 20 . Abb. 6: Die Schiffstoilette der ‚Bremer Kogge‘ Im Fall des Schiffswracks weist die Nähe der Schiffstoilette zum Kastell darauf hin, dass wir hier bereits eine räumliche Differenzierung der Räume an Bord und unter Deck vermuten können. Die Nutzung der Toilette, die übrigens die älteste erhaltene Schiffstoilette weltweit darstellt, war den Personen vorbehalten, die 107 Schiffe als soziale Räume <?page no="108"?> 21 Werner L A H N / Klaus-Peter K I E D E L , Zur Hanse-Kogge von 1380: Beschreibung der ältesten erhaltenen Schiffstoilette. Mit allgemeinen Bemerkungen zur Entsorgung auf mittelalterlichen Schiffen, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 4 (1981), S. 11-15. 22 Werner L A H N , Die Kogge von Bremen 1: Bauteile und Bauablauf (Schriften des Deut‐ schen Schiffahrtsmuseums 30), Hamburg 1992, fol. 13r. 23 Für diese Einordnung danke ich Hans-Christian Kuechelmann. Sie ist noch nicht publiziert. 24 Heinrich S T E T T N E R , Seemannsbekleidung aus sechs Jahrhunderten. Eine kommentierte Bildquellen-Auswahl für etwa 1250-1800, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 15 (1992), S. 315-340. 25 Detlev E L L M E R S , Mit Seekiste und Bettzeug an Bord. Das Reisegepäck der Seefahrenden vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 127 (2009), S. 1-52. auch das Kastell und die dort unter Deck befindlichen Räume nutzen durften 21 . Dies führt zur Frage, wo sich neben dem Schlafen und dem Lagern der Waren das Leben an Bord der Schiffe inklusive der Mahlzeiten abspielte. Aufgrund eines vermutlich für das Zubereiten von Speisen an Bord sowie dem Verarbeiten von Fischen genutzten Brettes im Beifund des Wracks ist davon auszugehen, dass hier Speisen bereitet wurden, auch wenn wir im Wrack selbst nicht genau lokalisieren können, wo 22 . Hierfür spricht auch der Fund von mehreren Tierknochen mit Feuerspuren, die vermutlich zu einer Kochstelle gehörten 23 . Insgesamt lässt sich sowohl im Mittelmeerraum als auch im Norden eine Entwicklung beobachten: Spielte sich zunächst das gesamte Leben an Bord ab, entwickelte sich der Bereich unter Deck mit zunehmender Größe und auch Länge der Fahrten immer mehr zum Aufenthaltsraum. An Bord selbst versuchte man sich mithilfe von Zelten oder auch wasserdichten Schlafsäcken und Klei‐ dung gegen die Unbilden des Wetters zu schützen 24 . Unter Deck konkurrierte man nicht nur mit dem Platz, den die Handelswaren beanspruchten, sondern auch mit den anderen Mitreisenden sowie den mitreisenden Tieren wie Ratten, Siebenschläfer und Läusen. Aus schiffsarchäologischen Funden selbst sind leider kaum Artefakte erhalten, die Schlafbehausungen oder Seekisten dieser Zeit zeigen. Aus den mittelalterlichen Seerechten kennen wir allerdings die ‚Schiffskisten‘, in denen die Besatzungsmitglieder ihre Habseligkeiten verstauen durften. Es ist anzunehmen, dass dies auch den Mitreisenden gestattet war 25 . Führen wir uns einmal an dieser Stelle zusammenfassend die materiellen Bedingungen vor Augen, mit denen Pilger konfrontiert waren, wenn sie sich an Bord eines Schiffes begaben: 1. Die Tatsache, dass bis auf die Galeeren sämtliche Schiffe sich hauptsächlich auf Wind als Antriebskraft verließen, bedeutete, dass der Verlauf der Reise teilweise extrem wenig planbar war; konkret konnte dies zum Beispiel 108 Ruth Schilling <?page no="109"?> 26 Felix F A B R I , Evagatorium (1483), in: R E I C H E R T , Quellen (wie Anm. 20), S. 123-135, hier S. 127-129. 27 Gillian H U T C H I N S O N , Medieval Ships and Shipping (The archaeology of medieval Britain), London 1994, S. 47-65. 28 Uwe S C H N A L L , Navigation nach Sicht und Sand, in: H O F F M A N N / S C H N A L L , Kogge (wie Anm. 18), S. 34-41. heißen, dass man tage- oder wochenlang auf günstigen Wind zur Abfahrt warten musste. 2. Ganz gleich, wie groß das Schiff war, das man bestieg: Im Gegensatz zum Reisekomfort des frühen 21. Jahrhunderts auf Kreuzfahrtschiffen standen den Reisenden insgesamt sehr viel weniger Bewegungsraum oder auch Privatsphäre zur Verfügung; die einzigen Reisenden, von denen erwähnt wird, dass sie Rückzugsraum besaßen, waren weibliche Passagiere 26 . 3. Holzschiffe zeichnen sich durch eine hohe Reparaturbedürftigkeit aus: Im Salzwasser müssen sie kontinuierlich geflickt und geteert werden. Erschwerend konnte die Gefahr hinzukommen, dass das Holz durch die Schiffsbohrwurmmuschel geschädigt wurde. Dies machte das Reisen auch noch unberechenbarer, zumal man sich zwangsläufig in die Abhängigkeit von Infrastrukturen an den jeweiligen Rastplätzen und dem Zielort begab 27 . 4. Die erfolgreiche Navigation und Steuerung dieser Schiffe beruhte auf einem in dieser Zeit meist noch mündlich tradierten Erfahrungswissen, auf das sich die Reisenden verlassen mussten 28 . 5. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wie ausgeliefert sich die Reisenden in Zeiten des Sturms oder beim Durchqueren schwer befahrbarer Gewässer beispielsweise in Küstennähe gefühlt haben mussten. 6. Führen wir uns außerdem noch vor Augen, dass viele Pilger keinerlei Erfahrungen mit Schiffsreisen hatten, so ist der Mut, den sie beim Betreten eines Schiffs zeigten, sicherlich mit heutigen Plänen vergleichbar, mit einer Raumkapsel zum Mars zu fliegen. 3. Soziale Ordnungen an Bord spätmittelalterlicher Schiffe Vor allem soll der besagte Patron (das heißt der Kapitän) die Pilger von Venedig zum Heiligen Land, d. h. nach Jaffa, und von dort wieder nach Venedig zurückbringen […]. Außerdem sollen die Herren Pilger zwei von ihnen dazu abordnen und bestellen, dass sie im Hafen von Venedig und dann an allen Orten, bei denen man landen müsse, darauf schauen und nachforschen, dass der Patron die erforderliche und an Zahl ausreichenden Matrosen und Offiziere hat, wie es üblich ist […]. Wenn nur einer (oder einige) von diesen Matrosen aus irgendeinem Grund fehlen oder sterben sollte, dann ist der Patron 109 Schiffe als soziale Räume <?page no="110"?> 29 B R E Y D E N B A C H , Sanctarum peregrinationum opusculum (wie Anm. 20), S. 83-87. 30 Vgl. Jann Markus W I T T , Master next God? Der nordeuropäische Handelsschiffskapitän vom 17. bis zum 19. Jahrhundert (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 57), Hamburg 2001. angehalten, einen anderen (oder andere) an dessen (oder deren) Stelle auf seine Kosten anzuheuern. Außerdem ist der Patron angehalten, Waffen für 80 Mann zu besorgen, um die Pilger und die dazugehörige Galee zu verteidigen […] Des weiteren ist der Patron angehalten, bei denjenigen Orten und Häfen zu landen, bei denen die Landung von jeher üblich ist. […] Aber auf der Rückreise vom Heiligen Land kann er in jedem beliebigen Hafen zwei oder drei Tage bleiben, an Waren verkaufen oder einkaufen, jedoch so, dass die Plätze, die den Pilgern auf dem Schiff zugeteilt wurden, frei bleiben und nicht auf irgendeine Weise mit Waren belegt werden. Außerdem soll der Patron den Pilgern jeden Tag zweimal zu essen und zu trinken geben, wie es sich gegenüber ehrenwerten Männern gehört. Wenn aber aus irgendeinem Grund einer der Pilger morgens oder abends nicht zum Tisch des Patrons kommen kann oder etwa allein oder mit einer Gruppe für sich bleiben möchte, soll der Patron trotzdem gehalten sein, ihm ohne Widerspruch Speis und Trank zukommen zu lassen. […] Des weiteren ist der Patron gehalten, den Pilgern, wenn mehrere oder wenige von ihnen ans Ufer fahren wollen, um frisches Wasser oder andere notwendige Dinge zu besorgen, ein Boot oder einen Nachen zu stellen und dazu Matrosen, die sie hin- und zurückbringen sollen. Außerdem soll der Patron die Pilger gehörig lange im Heiligen Land bleiben lassen, sie behüten und mit der Galee erwarten. Wenn nun einer (oder mehrere) von ihnen (was Gott abwenden möge) sterben sollten, dann darf der Patron auf keine Weise in dessen (oder deren) Hinterlassenschaften herumwühlen. Vielmehr soll er diese völlig unberührt dem oder den Erben überlassen. […] Des weiteren soll der Patron den Pilgern in der Galee einen kleinen Platz zuweisen, um dort Hühner, Hennen, Holz, Wasser, Salz und andere notwendige Dinge dieser Art aufzubewahren, und außerdem soll er über alles Anordnungen geben, was ihnen durch einen Koch, sofern sie einen haben, oder einen Diener gekocht werden soll 29 . Der Mustervertrag, den der Mainzer Domherr und Jerusalempilger Bernhard von Breydenbach (1440-1497) zitiert, unterscheidet sehr klar zwischen dem patronus als dem Herr über Schiff und Mannschaft und den reisenden Pilgern. Die Trennung zwischen Schiffsmannschaft und Passagier ist heute noch gültig und teilweise auch die damit einhergehenden Konflikte 30 . Der patronus oder ship here, wie die niederdeutsche Entsprechung heißt, war für das Schiff und die Sicherheit der Reise verantwortlich, eine Verantwortung, die sich im Falle der Pilgerfahrten ins Heilige Land auch auf die Reise an Land erstreckte. Der Schiffsherr musste für die Ausstattung des Schiffes mit Navigationshilfen, Beibooten und fähiger Mannschaft sorgen. 110 Ruth Schilling <?page no="111"?> 31 Maik-Jens S P R I N G M A N N , Schifffahrt und Schiffbau im Übergang zur Frühen Neuzeit im Ostseeraum. Tradition versus Innovation, Dissertation Universität Greifswald 2014, S. 505-511 (https: / / epub.ub.uni-greifswald.de/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 1881, zuletzt geprüft am 28. März 2021). 32 Stevka Š M I T R A N , Gli uscocchi. Pirati, ribelli, guerrieri tra gli imperi ottomano e asburgico e la Repubblica di Venezia, Venedig 2008, S. 9-34. 33 Heinrichs Livländische Chronik, hg. von Leonid A R B U S O W / Albert B A U E R (MGH SS rer. Germ. 31), Hannover 1955, S. 89. Da Schiffe teilweise wochenlang auf günstige Winde zur Abfahrt warten mussten, hatten Kapitäne auch in den späteren Jahrhunderten immer wieder damit zu kämpfen, dass Mannschaftsmitglieder versuchten, von Bord zu gehen und sich eine andere Einkommensquelle zu suchen 31 . Darüber hinaus musste der Schiffsherr die Verteidigungsfähigkeit auch der Reisenden garantieren, also Waffen und gegebenenfalls auch Pferde mitnehmen, und er musste eine Grundversorgung aufrechterhalten. Des Weiteren sollte er vor Ort auch für Dolmetscher sorgen oder diese gleich bei Reisebeginn mitnehmen, wenn die Pilger es so wünschten. Er garantierte die sichere Navigation des Schiffes auch im Falle von Unwet‐ tern der Reise. Schiffe waren nicht nur durch natürliche Wetterverhältnisse oder unwegsame Meeresströmungen bzw. Untiefen und Klippen bedroht. Vielmehr waren gerade auch die Pilgerschiffe Ziel gewaltsamer Überfälle. Im Mittelmeer hatten es osmanische Schiffe teilweise auch unter expliziter Duldung des Sultans darauf angelegt, die Schiffe auf der Route von Genua bzw. Venedig ins Heilige Land zu überfallen - nicht nur, um Beute zu machen oder Geiseln zu nehmen, sondern auch, um die Autorität Venedigs als Schutzmacht der Wallfahrer in Frage zu stellen 32 . Im hohen Norden wiederum berichtet die Livländische Chronik Heinrichs von Lettland (1187-1259) von Gefechten auf der Ostsee zwischen peregrini und pyraticae im frühen 13. Jahrhundert. Aus dem Wortlaut der Quelle wird allerdings nicht ganz klar, wer hier eigentlich den Seeraub veranstaltet, da die pyraticae oftmals adelige Standespersonen waren, die als Heiden von Christen überfallen und ausgeraubt wurden 33 . Insgesamt ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass wir uns in einer Epoche weit vor einer Kodifikation des Kaperrechts befinden. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gewalt und Frieden waren zur See genauso fließend wie in der spätmittelalterlichen Gesellschaft insgesamt, ja sogar hier vielleicht noch undefinierter, da es außer den Aussagen zu den Rechten der Mannschaft und des Kapitäns, die sich ausgehend von Bordeaux mit den sogenannten Rôles d’Oleron in die See- und Stadtrechte Europas eingeschrieben hatten, keine verbindlichen Regeln für die Definition von Kaperei gab und im Übrigen auch 111 Schiffe als soziale Räume <?page no="112"?> 34 Vgl. als neueste Publikation hierzu Störtebeker & Konsorten: Piraten der Hansezeit? , hg. vom Europäischen Hansemuseum, Kiel / Hamburg 2019. 35 Detlev E L L M E R S , Alltag auf Koggen - nach Bildern, Funden und Texten, in: H O F F ‐ M A N N / S C H N A L L , Kogge (wie Anm. 18), S. 162-193, hier S. 171 f. 36 H U T C H I N S O N , Medieval Ships (wie Anm. 27), S. 164-182. 37 E L L M E R S , Alltag (wie Anm. 35), S. 178 f.; es fehlen übergeordnete Studien zu Passagieren und Schiffsreisenden im Mittelalter, vgl. aber viele Fallbeispiele in Stuart J E N K S , England, die Hanse und Preußen. Handel und Diplomatie 1377-1474 (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 38), Köln u. a. 1992. keine übergeordnete Regelung des Zusammenlebens an Bord 34 . Enge Raumver‐ hältnisse und miteinander in Konflikt stehende Standesauffassungen bei gleich‐ zeitiger Verfügbarkeit von Waffen machten den Schiffsraum zu einem Ort der verbalen und physischen Gewaltaustragung, bei der die Reisenden mit Mann‐ schaftsmitgliedern und mitreisenden Waren im wahrsten Sinne des Wortes um Entfaltungsmöglichkeiten konkurrierten. Die Mannschaftsstruktur war dabei in hohem Maße von der Schiffstechnologie abhängig. Mussten bei einer Galeere noch mindestens hundert Ruderer mit an Bord genommen werden, so reichten für die kleineren ein- und zweimastigen Segelschiffe eine Mannschaftsstärke von zwölf Mann aus, um sie seetüchtig zu halten, auch wenn es meistens mehr waren, auch, um im Krankheitsfall genügend Hände zur Verfügung zu haben 35 . Im Laufe des Spätmittelalters lässt sich gerade im Mittelmeerraum eine immer stärkere Professionalisierung der Navigationstechniken beobachten. Zwischen Nautiker und dem Kapitän ergaben sich häufig Konflikte um die richtige bzw. sichere Route. Je spezialisierter das Wissen der Navigatoren wurde, desto stärker fühlte sich der Kapitän in seiner Allmachtstellung bedroht 36 . Werfen wir nun einen Blick auf die Mitreisenden, die nicht zur eigentlichen Schiffsmannschaft gehörten. In mittelalterlichen Illustrationen sehen wir meist Bewaffnete oder Standespersonen an Bord von Schiffen. Es konnten Pferde, aber auch schweres Kriegsgerät reisen. Dies ist zum Beispiel bei den peregrini, die in der Chronik Heinrichs von Lettland erwähnt werden, durchaus vorstellbar. Sehr viel häufiger befanden sich aber adelige Standespersonen an Bord von Schiffen, entweder selbst als Wallfahrer oder aber auch in diplomatischer Mission 37 . Der Rang der Reisenden manifestierte sich in der Zahl und der Pracht des Gefolges. War der Adelige nicht in der Lage, ein eigenes Schiff nur für sich und sein Gefolge auszustatten, musste er es sich gefallen lassen, die Verpflegung mit dem patronus auszuhandeln. Dass dies in dem Vertragsbeispiel, das Breydenbach gibt, so explizit angesprochen wird, zeigt, dass dies sicher ein Quell steter Konflikte war, da die Angemessenheit sicher eine Frage der Auslegung war. Brachte ein Adeliger seinen eigenen ‚Küchenchef ‘ mit an Bord, musste der Schiffskoch diesem Platz und Zeit zur Nutzung der Kombüse einräumen, was 112 Ruth Schilling <?page no="113"?> 38 F A B R I , Evagatorium (wie Anm. 26), S. 129. 39 B R E Y D E N B A C H , Sanctarum peregrionationum opusculum (wie Anm. 20), S. 84. 40 S P R I N G M A N N , Schifffahrt (wie Anm. 31), S. 567-582. 41 Vgl. B R E Y D E N B A C H , Sanctarum peregrionationum opusculum (wie Anm. 20), S. 83; au‐ ßerdem Peter R Ü C K E R T , Auf dem Weg zum heiligen Jakobus. Mittelalterliche Pilger‐ fahrten und ihre Organisation, in: Pilgerwege. Zur Geschichte und Spiritualität des Reisens, hg. von Hans R U H / Klaus N A G O R N I (Herrenalber Forum 34), Tübingen 2003, S. 41-68, hier S. 46. 42 Ebd. sicher nicht ohne Diskussionen von statten ging. Letzten Endes wurde hierbei auch verhandelt, wer wem auf dem Schiff gebieten durfte, eine Aushandlung, die sich auch in den unterschiedlichen Informationen widerspiegelt, die wir über die Rangordnung zu Tisch und bei den Schlafplätzen erhalten 38 . Heißt es im Pilgerbericht des Dominikaners Felix Fabri (1438 / 39-1502), dass der Patron über beides ohne Ansehen der Person entscheiden durfte, so legte Breydenbach wiederum viel Wert darauf, dass die Reisenden hierüber selbst entscheiden durften, also der patronus ihren Anordnungen Folge zu leisten hatte 39 . In einem Schiff, das nicht mehr nur über Aufenthaltsplätze an Bord verfügte, sondern auch über Innenräume, finden wir bereits im Mittelalter die spätere soziale Konnotation der Kammern angelegt, die das Heck mit Kapitänskajüte und den Rumpf mit den Gemeinschaftsschlafräumen vorsah. Dies hatte nicht nur mit der Ausstattung der Kabinen zu tun, sondern auch in hohem Maße mit der Luftzufuhr 40 . Schauen wir auf die Reisenden selbst, so ist es aufschlussreich sich vorzu‐ stellen, welche unterschiedlichen Standeszugehörigkeiten und Interessen hier aufeinander treffen konnten. Sowohl der östliche Mittelmeerraum als auch der Ostseeraum waren wichtige Handelsrouten. Wir können daher davon ausgehen, dass sich auf jedem Schiff, das Pilger transportierte, auch Kaufleute inklusive ihrer jeweiligen Gehilfen befanden. Diese konnten auf einzeln oder in Gruppen reisende Pilger treffen, die sich häufig vor Besteigen des Schiffes in Venedig noch einmal erweiterten oder änderten. Die Gruppe wurde noch einmal mehr bei Besteigen eines Schiffs erweitert. Auf diese Weise konnte man dem patronus gegenüber geschlossen auftreten und vor allem auch eine Redu‐ zierung des Fahrttarifs erreichen 41 . Diese Reisegruppen tendierten allerdings nicht dazu, althergebrachte Standesgrenzen zu übertreten. Gemeinsam geteilte Vorstellungen von Hierarchie reisten vielmehr mit und wurden vermutlich an Bord noch weiter zementiert. Bei Konflikten um Schlafplätze, aber auch um die Aufenthaltsdauer entlang der Reiseroute erwiesen sich diese Gruppen häufig als fragil: die ‚Notgemeinschaft‘ gegenüber dem patronus hielt gerade nur so lange wie nötig 42 . 113 Schiffe als soziale Räume <?page no="114"?> 43 Galeazzo D I S A N T A S O F I A , Consilium cuidam dominio ituro per mare (um 1400 / 1414) - Ratschlag für einen Herrn, der übers Meer reisen will, in: R E I C H E R T , Quellen (wie Anm. 20), S. 68 - 71. Auch wenn viele Gruppen also durch die Quellen nicht sichtbar werden, tut man meiner Meinung nach gut daran, die ‚Buntheit‘ der Reisegruppen auf diesen Schiffen nicht zu unterschätzen. Der patronus wurde von dem Interesse geleitet, sein Schiff auch aus finanziellen Gesichtspunkten heraus optimal auszulasten. Gerade auf den Pilgerreisen von Italien in das Heilige Land traf sich ganz Europa, und es ist reizvoll sich auszumalen, wie das vielsprachige Stimmengewirr dazu beitrug, die ganz individuellen, körperlichen Unbilden einer Seereise in den Hintergrund treten zu lassen. 4. Körper und Seele im Einklang? Soziale Vorstellungen und physisches Erleben Um 1400 wurde unter dem Namen des Paduaner Arztes Galeazzo di Santa Sofia eine Schrift mit dem Titel Consilium cuidam domino ituro per mare veröffentlicht 43 . Explizit weist der Schreiber auf 17 Regeln hin, die der Reisende einhalten solle, wenn er eine Seereise gesund überstehen wolle, die im Fol‐ genden paraphrasiert werden sollen: 1. Iss kein Rind-, Kuh- oder Schweinefleisch; 2. Iss nicht zu viel Fisch; 3. Iss überhaupt nicht zu viel und trinke auch nicht zu viel; 4. Vermeide Kälte; 5. Halte dich besser unter Deck als auf dem Deck des Schiffes auf; 6. Trinke keine starken Weine; 7. Enthalte dich des Beischlafs; 8. Vermeide Traurigkeit; 9. Trinke kein Wasser aus Übersee (lat.: quae est in ultramarinis partibus); 10. Trinke kein Salzwasser; 11. Iss folgende Speisen: junge Hühner, kleine Vögel, essbares Fleisch, Kalbs‐ fleisch, Hühnerbrühe mit Käse, ausgewählte Käsesorten, süße Granatäpfel; 12. Befolge diese Rezeptur für Salben […]; 13. Nimm diese Pillen bei Verstopfung; 14. Bei Durchfall nimm in Hühnerbrühe gelöstes Pulver und Dragees; 15. Lass Dich zur Entspannung beräuchern; 16. Wasche einbis zweimal pro Woche den Kopf; 17. Und kämme jeden Morgen die Haare. 114 Ruth Schilling <?page no="115"?> Die Ratschläge schwanken zwischen sehr spezifischen Hinweisen und sehr allgemeinen Verhaltensregeln. Neben einer guten Kenntnis der damaligen medizinischen Literatur offenbart der Verfasser auch eine Vertrautheit mit den Bedingungen einer Seereise. Die Interpretation körperlicher Zustände während einer Seereise fügte sich ein in das sogenannte humoralpathologische Körper‐ bild Galens und die hippokratische Theorie von dem Zusammenwirken von regionalen geologischen und klimatischen Besonderheiten mit dem jeweiligen physischen Zustand. Die Speiseempfehlungen, die Galeazzo ausspricht, sollten den idealen Mischungszustand der Körpersäfte (gelbe und schwarze Galle, Blut, Schleim) erzielen. Fisch galt demnach als zu kühl und war deshalb nicht zu empfehlen. Rind, Kuh und Schwein hielt man dagegen aufgrund der Farbe des Fleisches für zu warm, Kalbs- und Hühnerfleisch war hingegen genau richtig. Auch die Verhaltensregeln (kein Geschlechtsverkehr, keine Traurigkeit, keine Kälte) zielten auf das Vermeiden extremer körperlicher Zustände. Der Hinweis auf den Aufenthalt unter Deck sowie das Vermeiden des Trinkens von Wasser aus fremden Gebieten oder gar des Salzwassers verdanken sich tatsächlichen Erfahrungswerten oder auch Spuren des Hörensagens. Aufschlussreich sind auch die Ermahnungen, sein psychisches Gleichgewicht zu halten und auf alle Fälle persönliche Hygieneregeln einzuhalten. Die Hinweise auf spezifische Rezepturen lassen darauf schließen, dass sich rund um die Schiffsreisen ein ganz eigener pharmazeutischer Markt gebildet hatte. Wissen wir bei Galeazzo bzw. dem Autoren dieser Schrift nicht, ob er eigent‐ lich je selbst an Bord eines Schiffes gereist ist, so finden sich im Pilgerbericht des Felix Faber sehr viel drastischere Schilderungen der Reise, die dem Leser gleichzeitig wertvolle Ratschläge geben sollen, wie er die Schiffsreise am besten überstehen könne. Einen breiten Raum nimmt bei Faber der Gemütszustand des Reisenden ein, für den die Meeresüberfahrt eine besondere Herausforderung darstelle: Die Stimmung der Menschen auf See wechselt nämlich in empfindlicherer Weise als auf dem Festland, je nach Einfluss der Himmelskörper, der Lüfte und der Meeresbewegungen. Ich sah viele Tage, an denen alle fröhlich und heiter und gute Gefährten waren, an denen niemand schlief und alle vergnügt waren. Dagegen sah ich auch Tage, an denen völlige Stille herrschte, alle schwiegen und niemand ließ sich vernehmen, alle schliefen oder saßen traurig herum. Oft habe ich die Pilger so sehr in Frieden und Eintracht verbunden gesehen, als wären sie alle Brüder, Kinder einer einzigen Mutter. Aber manchmal sah ich so großen Streit und solche Spannungen aus den niedrigsten Gründen entstehen, dass das Schiff wegen Flüchen und Schmähungen beinahe zur Hölle wurde. Ich habe deutlich 115 Schiffe als soziale Räume <?page no="116"?> 44 F A B R I , Evagatorium (wie Anm. 26), S. 125. 45 F A B R I , Evagatorium (wie Anm. 26), S. 131. 46 Ebd. 47 Ebd. bemerkt, dass die Regungen aller Leidenschaften auf dem Wasser heftiger sind als auf dem Land 44 . Anders als Galeazzo versucht Faber, eine direkte Verbindung zwischen Meer, Gestirnen und Gemütszustand der Reisenden herzustellen. Er beobachtet sehr genau, wie sich der jeweilige individuelle Zustand auch im Verhalten in der Gruppe auswirkt und geht damit beinahe empirisch psychologisch vor. Bis heute stellt eine lange Seereise eine körperliche Ausnahmesituation dar: Man ist den Elementen anders ausgesetzt als an Land - um wieviel mehr musste dies an Bord eines kleinen Segelschiffs gelten, wo man sich weder vor Sturm noch vor Sonnenglut schützen konnte. Diese körperliche Ausnahmesituation wurde durch die mangelnden Rückzugsmöglichkeiten noch gesteigert. Die meisten Pilger litten unter Schlafentzug, denn, wie Faber schreibt, ein Pilger kann sich kaum umdrehen, ohne an seine Nachbarn anzustoßen 45 . Neben der Hitze und dem Gestank unter Deck beklagt Faber auch den Lärm, den die Schlafgenossen machten und auch die an Bord wissentlich oder unwissentlich transportierten Tiere: Ich war einmal eine Zeitlang auf einem Schiff, auf dem Pferde und Maulesel über uns standen, die ständig Lärm machten, weil sie mit ihren Hufen gegen die Planken schlugen, den ganzen Tag und die ganze Nacht 46 . Schlafmangel und ‚Gruppenkoller‘ führten jeweils zu unterschiedlichen Verhaltensweisen. Faber selbst fand Zuflucht darin, seine Erlebnisse aufzuschreiben und zu lesen. Andere wiederum flüchteten in exzessives Spielen oder glitten ins depressive Nichtstun. Das Gleichgewicht der Säfte steht im Zentrum des humoralpathologischen Systems. Dementsprechend wichtig war nicht nur die Nahrungsaufnahme, sondern auch der Toilettengang. Pilger beobachteten die Ausscheidungen ihres Körpers genau. Störungen wie Verstopfung oder Durchfall konnten der Humoralpathologie zufolge auf ernste Beschwerden deuten. Faber berichtet anschaulich, wie die Toilettengänge während der von ihm erlebten Pilgerreise organisiert waren: Jeder Pilger hat bei sich an seinem Liegeplatz ein Uringefäß, ein Gefäß aus Ton, in das er sowohl Harn läst als auch erbricht 47 . Da die Pilger sehr nah beieinander lagen und die Lichtverhältnisse schlecht waren, war es der Normalfall, dass die Uringefäße zerbrachen, was wiederum zu nächtlichem Streit führte. Insgesamt versuchten alle, so Faber, einen Toilettengang nachts zu vermeiden, was unweigerlich Verstopfung verursachte. An Deck fanden sich in der Nähe des Bugs Plätze, die für den Toilettengang gedacht waren - diese 116 Ruth Schilling <?page no="117"?> 48 F A B R I , Evagatorium (wie Anm. 26), S. 133. 49 Ebd. 50 F A B R I , Evagatorium (wie Anm. 26), S. 135. 51 Ebd. waren morgens nach dem Aufwachen besonders begehrt: Am Morgen aber, wenn die Pilger aufstehen und der Darm sein Recht einfordert, gehen sie an Deck und begeben sich zum Bug, wo auf der anderen Seite der Schiffspitze an Bug geeignete Plätze für eine Sitzung sind. Vor diesen Plätzen stehen manchmal 13 oder mehr und warten darauf, dass, nachdem einer sein Geschäft verrichtet hat, der andere den Sitz einnehmen kann 48 . Konnte jemand nicht warten, so bot sich ihm auch die Möglichkeit, eine andere Position auf dem Schiff einzunehmen, die allerdings nicht ganz ungefährlich war: Wenn einer jedoch nicht ängstlich ist und schwindelfrei, könnte er über die Ränder des Schiffs zum Bug klettern und sich von Tau zu Tau hangeln […], oder er könnte bei den Riemenlöchern über den Rudern sitzend sich erleichtern 49 . Man kann sich lebhaft ausmalen, wie leicht es in solchen Positionen zu Unfällen kommen konnte. Aufschlussreich ist, dass diese Form der Körperhygiene die Personen begünstigte, die wie die meisten Seeleute eine große Erfahrung im Umgang mit dem Schiffsraum besaßen und damit die sozial höher gestellten Reisenden eher benachteiligte. Faber beschäftigte das Thema des Toilettengangs sehr, was sicherlich nicht nur auf sein durch die Humoralpathologie geprägtes Körperverständnis hin‐ weist, sondern auch darauf, welche Bedeutung es während der Schiffsreise selbst besaß. Er misst dem Thema der Sauberkeit eine übergroße Bedeutung zu, und an seinen Empfehlungen lässt sich ablesen, dass die Einhaltung der Hygiene an Bord nicht immer priorisiert wurde, besonders dann nicht, wenn sie mit einer zur Schau gestellten Standeszugehörigkeit kollidierte: Aber es nützt nichts, seine Haare so zu pflegen, wie einige Adlige es tun, die sich weigern, sie abzuschneiden. Ich habe einige von ihnen erlebt, die derart verlaust waren, dass sie alle ihre Gefährten angesteckt und alle Mitreisenden belästigt haben 50 . Faber stellt diesem Bild sozialkritisch das der Ruderer entgegen, die ihre Hemden fast täglich waschen würden und penibel auf saubere Schlafstellen achten: Gleiches gilt für das häufige Waschen der Hemden, was die Ruderer machen, mit außerordentlicher Sorgfalt kümmere man sich sowohl um das Leinenzeug, als auch um die Sauberkeit der Bettstatt, damit man ungestörter sei, weil der, der nachlässig damit ist, keine Ruhe findet und sich bei allen verhasst macht 51 . Die Quellen zur körperlichen Verfasstheit müssen in einem Zusammenhang mit dem Sozialraum Schiff gelesen werden. Neben Informationen zu den tatsächlichen physischen Herausforderungen einer Seereise weisen sie darauf hin, wie sich jeder einzelne Reisende gegenüber den Mitreisenden verhielt, wie 117 Schiffe als soziale Räume <?page no="118"?> rücksichts- oder anspruchsvoll er agierte. Sie zeigen aber auch, welches Wissen um körperliche Funktionen und Heilungsprozesse weitergegeben wurden. Die Fokussierung auf ganz bestimmte Salben, Verhaltensweisen und Speisen zeigt dabei den Wert des durch die Praxis getesteten Wissens, das hier von Reisendem zu Reisendem gelangte. Es stellt sich die Frage, wie sehr das eigene Körperemp‐ finden und die -wahrnehmung durch die besondere Situation einer Seereise und durch das eigentlich tägliche Überleben gefährlicher Situationen geprägt wurde und wie sehr dabei auch eine geschärfte Wahrnehmung hierarchischer sozialer Vorstellungen erzielt wurde, wie wir es bei Fabri sehen können. Auch wenn wir bei Faber und Breydenbach ein großes Interesse an allen Reisenden und auch den Mitgliedern der Schiffsmannschaft entdeckten, können wir doch kaum Anzeichen dafür erkennen, dass die Schiffsreise bestehende Grenzen auflöste. Vielmehr verstärkte sie diese anscheinend noch, trotz der Allgewalt des patronus, die im Gebaren der Adligen ihre Grenzen fand. Die Schiffsreise führte nicht zum Revidieren sozialer Ordnungskonzepte. Bei den Verfassern der Quellen führte sie aber zu einem recht kritischen Blick auf bestehenden Standesdünkel. Eine tiefer greifende Entwicklung scheint sich hin‐ sichtlich der Wissensbestände vollzogen zu haben: Praktisches Wissen erlangte gegenüber theoretischen medizinischen Konzepten Priorität. In einem nächsten Schritt sollte dies auch die Möglichkeit beinhalten, neue, fremde Heilmittel und Behandlungen auszuprobieren - der Weg für einen Kulturtransfer vom Orient in den Okzident war in dieser Weise vorbereitet. Medizinisches Wissen änderte sich hier schneller als soziales und war doch mit ihm untrennbar verbunden. 118 Ruth Schilling <?page no="119"?> 1 Aur. Theodosii Macrobii, Commentarius ex Cicerone in Somnium Scipionis, Zwei‐ brücken 1788, Liber II, Cap. V f., S. 136 - 146. 2 Siehe einleitend Leila Kitzler Å H F E L D T , Rune Carvers and the Mediterranean, in: The Vikings in the Mediterranean (Arbeitstitel), hg. von Marianne Hem E R I K S E N / Neill P R I C E / Carsten J A H N K E (im Erscheinen). 3 Siehe u. a. Rue T A Y L O R , Southern Tales on Northern Shores. The Varangian Legacy in the Sagas, in: E R I K S E N / P R I C E / J A H N K E , The Vikings in the Mediterranean (wie Anm. 2). Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem Ein kurzer Überblick Carsten Jahnke Skandinavien mit den unendlichen Weiten des Atlantiks, den Meerengen am Eingang der Ostsee sowie den Landmassen in der, wie Macrobius es bezeichnet hat 1 , zona frigida liegt für viele Betrachter am Rande der Welt - und wird auch recht häufig als dem Orbis Catholicus nicht recht zugehörig betrachtet. Doch wird dabei gern vergessen, dass die Wege in den Süden durchaus auch über den Norden führen können. So bereisten die Skandina‐ vier schon in der sogenannten Wikingerzeit (793 -1066) nicht nur die Weiten des Atlantiks bis hin nach Amerika, sie fuhren ebenso selbstverständlich wie regelmäßig in den Mittelmeerraum, wo sie nicht nur ihre Inschriften an den Löwen vom Hafen in Piräus hinterließen 2 , sondern auch die Leibgarde des byzantinischen Kaisers stellten 3 . Die Skandinavier waren dadurch historisch <?page no="120"?> 4 Roland S C H E E L , Byzanz und Nordeuropa zwischen Kontakt, Verflechtung und Re‐ zeption, in: Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne, hg. von Wolfram D R E W S / Christian S C H O L L (Das Mittelalter. Beihefte 3), Berlin / Boston 2016, S. 3 - 34; allgemein Fedir A N D R O S C H U K , Byzantium and the Scandinavian World in the 9th- 10th Century: material Evidence of Contacts, in: From Goths to Varangians. Communication and Cultural Exchange between the Baltic and the Black Sea, hg. von Line B J E R G u. a. (Black Sea Studies 15), Aarhus 2013, S. 147 - 191; Marika M Ä G I , Viking Age and Early Medieval Eastern Baltic between the West and the East, in: Taxes, Tributes and Tributary Lands in the Making of the Scandinavian Kingdoms in the Middle Ages, hg. von Steinar I M S E N (Norgesveldet. Occasional Papers 2 / Trondheim Studies in History), Trondheim 2011, S. 189 -235, hier S. 189. 5 Vincente A L M A ZÁ N , Gallaecia Scandinavica. Introductión ó estudio das relacións Ga‐ laico-Escandinavas durante a Idade Media, Vigo 1986. 6 Lars A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken och vallfart. Medeltida pilgrimskultur i Skandinavien (Lund studies in medieval archaeology 7), Stockholm 1989. 7 Christian K R Ö T Z L , Pilger, Mirakel und Alltag. Formen des Verhaltens im skandinavi‐ schen Mittelalter (Studia historica 46), Helsinki 1994. 8 Siehe einleitend Birgit S A W Y E R / Peter S A W Y E R , Medieval Scandinavia. From Conversion to Reformation circa 800-1500 (Nordic series 17), London 1993, S. 100-128. schon sehr lang, sowohl räumlich als auch geistig 4 , mit den heiligen Stätten der Wallfahrt verbunden. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die verschiedenen Aspekte jener Wallfahrten geben. Jeder der folgenden dreizehn Abschnitte verdiente ei‐ gene Abhandlungen und einige Aspekte füllen ganze Bibliotheken, so dass diese Skizze mehr als flüchtiger Überblick denn als Analyse verstanden werden muss. Auch steht dieser Beitrag nicht am Anfang der Forschungstradition. Schon 1986 hat V IN C E N T E A LMAZÁN mit seinem Werk „Galleaecia Scandinavica“ 5 wesentliche Bausteine gesammelt, die dann 1989 von L A R S A N D E R S S O N6 und 1994 durch C H R I S TIAN K RÖTZ L7 durch zahlreiche, teilweise auch neuere Hinweise ergänzt wurden. Die folgenden Abschnitte sollen, auch wenn sie den ‚Pilgerspuren‘ der drei folgen, nicht nur weiteres Material einbringen, sondern auch Anstoß zu neuen Überlegungen bieten. I. Die Christianisierung Skandinaviens Die Christianisierung Skandinaviens verlief schrittweise von Südwest nach Nordost 8 . In Dänemark erfolgte sie nach mehreren erfolglosen Anläufen im 9. Jahrhundert zur Mitte des 10. Jahrhunderts. Man schreibt normalerweise König Harald Blauzahn (reg. ca. 958) diese Ehre zu und begründet dieses mit einem für ihn gesetzten Runenstein, der behauptet, dass er ganz Dänemark 120 Carsten Jahnke <?page no="121"?> 9 Siehe einleitend Michael H. G E L T I N G , The kingdom of Denmark, in: Christianization and the Rise of Christian Monarchy. Scandinavia, Central Europe and Rus’ c. 900-1200, hg. von Nora B E R E N D , Cambridge 2007, S. 73-120. 10 Sverre B A G G E / Sæbjørg Walaker N O R D E I D E , The kingdom of Norway, in: B E R E N D , Christianization (wie Anm. 9), S. 121-166; Sæbjørg Walaker N O R D E I D E , The Christia‐ nization of Norway, http: / / medieval-europe-paris-2007.univ-paris1.fr/ S.Nordeide.pdf (letzter Abruf: 16. Juli 2021). 11 Nils B L O M K V I S T / Stefan B R I N K / Thomas L I N D K V I S T , The kingdom of Sweden, in: B E R E N D , Christianization (wie Anm. 9), S. 167-213. 12 B L O M K V I S T / B R I N K / L I N D K V I S T , The kingdom of Sweden (wie Anm. 11), S. 189. 13 Heidi Anett Øvergård B E I S T A D , Election and rejection - the Nowegian ‚seizure‘ of the Icelandic bishoprics in 1237-1239, in: „Ecclesia Nidrosiensis“ and „Noregs veldi“. The role of the Church in the making of Norwegian domination in the Norse World, hg. von Steinar I M S E N (Trondheim studies in history), Trondheim 2012, S. 203-230, hier zu den Privatkirchen S. 204-208. christianisiert habe 9 . Allerdings wird dieser Prozess hier, wie andernorts auch, eher schleichend vonstattengegangen sein, wobei Frühformen christlichen Daseins bis heute eher selten nachgewiesen werden können. Norwegen war im Gegensatz zu Schweden und Dänemark nicht das Ziel deutscher Missionare im 9. Jahrhundert; der christliche Kontakt stammt erst aus den folgenden zwei Jahrhunderten. Dennoch haben die beiden Könige Håkon der Gute (reg. ca. 934-961) und Olav Tryggvason (reg. 995-1000) als christliche Herrscher wesentlich zur Christianisierung des Landes beigetragen, die sich wohl im 11. Jahrhundert ganz durchgesetzt hat 10 . In Schweden war der Widerstand gegen die neue Religion, trotz Missionsversu‐ chen wie die des hl. Ansgars, am größten. Dort kann um 1000 durch zahlreiche Runensteine das Eindringen des Christentums nachgewiesen werden. Auch ist ein gewisser orthodoxer Einfluss in der frühen schwedischen Kirche nachzuweisen, so dass der Glaube vermutlich von zwei Seiten ins Land getragen wurde. Das älteste überlieferte Schreiben eines Papstes an einen schwedischen König stammt aus dem Jahr 1080 und ist damit relativ spät 11 . Von Schweden (und vom Osten aus) wurde das Christentum mit Gewalt nach Finnland gebracht. Hierbei spielte der „Kreuzzug“ St. Eriks von Schweden in den 1150er Jahren eine besondere Rolle 12 . Auf den atlantischen Inseln wurde Island zwischen 990 und 1000 durch Beschluss des Allthings christianisiert, allerdings verblieben viele Kirchen im Besitz der goðis (Großbauern / Häuptlinge) 13 . Auf Grönland, den Færøer samt den Orkney- und Shetlandinseln, die bis 1380 zu Norwegen und bis ins 15. Jahrhundert zu Norwegen-Dänemark gehört haben, hielt das Christentum in der Zeit Olav Tryggvasons Einzug, wie u. a. die Orkneyinga saga beschreibt. Rein kirchenrechtlich stand ganz Skandinavien zuerst unter der Hoheit des Erzbistums Hamburg(-Bremen), aus dem dann 1104 Lund als skandinavisches 121 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="122"?> 14 Lauritz W E I B U L L , Skånes Kyrka från älsta Tid till Jacob Erlandsens Död 1274, København 1946, Sonderdruck aus Lunds Domkyrkas Historia 1145-1945, hg. von Ernst N E W M A N , Band 1, Stockholm 1945, S. 143-356. Siehe auch Stefan B R I N K , Early ecclesiastical organization of Scandinavia, especially Sweden, in: Medieval Christianity in the North. New Studies, hg. von Kirsi S A L O N E N / Kurt Villads J E N S E N / Torstein J Ø R G E N S E N (Acta Scandinavia 1), Turnhout 2013, S. 23-39. 15 B L O M K V I S T / B R I N K / L I N D K V I S T , The kingdom of Sweden (wie Anm. 11), S. 193. 16 B A G G E / N O R D E I D E , The kingdom of Norway (wie Anm. 10), S. 159. 17 I M S E N , Ecclesia Nidrosiensis (wie Anm. 13); Takahiro N A R I K A W A , Innovation and Con‐ servatism: Foundation of the Metropolitan Authority and the Effektive Control within the Church Province of Nidaros in the Thirteenth Century, Thesis, Oslo 2008. 18 Siehe einleitend für das späte Mittelalter Christian K R Ö T Z L , Wege und Pilger aus Skan‐ dinavien nach Santiago de Compostela, in: Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt, hg. von Robert P L Ö T Z ( Jakobus-Studien 2), Tübingen 1990, S. 157-169; Thomas R I I S , Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela, in: Der Jakobsweg und Santiago de Compostela in den Hansestädten und im Ostseseeraum, hg. von Javier G Ó M E Z -M O N T E R O (Topographica 1), Kiel 2011, S. 53-60. 19 Þorvalds þáttr víðfǫrla, Kap. 10, https: / / www.snerpa.is/ net/ isl/ th-vidfo.htm (letzter Abruf: 15. Juli 2021). Eine moderne dänische Übersetzung gibt es in: Islændingesagaerne. Samtlige sagaer og niofyrre totter 5, hg. von Annette L A S S E N , Reykjavik 2014, S. 415-427. 20 Saga Óláfs konungs hins helga. Den store saga om Olav den hellige efter pergamenthånds‐ krift i Kungliga Biblioteket i Stockholm nr. 24to, hg. von Oscar Albert J O H N S E N / Jón H E L G A S O N , Oslo 1941, Kap. 26, S. 26. Erzbistum ausgegliedert wurde 14 . Von Lund wurde 1164 das Erzbistum Upp‐ sala ausgegliedert, dem auch Finnland unterstand 15 , und schließlich erhielt Norwegen 1151 in Nidaros (Trondheim) sein eigenes Erzbistum 16 , welchem die Inseln im Atlantik unterstellt waren 17 . Die Christianisierung Skandinaviens unterlag verschiedenen Einflüssen, aus Deutschland, England und dem Osten. Es gab aber auch vereinende Elemente; so wurden die Hauptheiligen der jeweiligen Regionen, wie St. Magnus, St. Olav, St. Knud oder St. Erich, in allen Teilen der Reiche angerufen. II. Omnes viae Romam ducunt - aber nur drei führen von Skandinavien aus ans Ziel Für Reisende aus Skandinavien führten seit dem frühen Mittelalter drei Wege in den europäischen Süden 18 , wobei jeder dieser Wege eine eigene Bedeutung und Geschichte besitzt. Der älteste und aufgrund seiner Exotik auch am besten untersuchte Weg ist der sogenannte Ostweg, der Austrvegr. Dieser Weg wird in den Prosaquellen zum ersten Mal für den isländischen Missionar Thorwald den Weitgereisten, Þorvald Víðförla 19 , sowie in der Sage von Olaf dem Heiligen 20 , die Ereignisse des 10. und 122 Carsten Jahnke <?page no="123"?> 21 Ordbog over det norrøne prosasprog, s.v. austrvegr, https: / / onp.ku.dk/ onp/ onp.php? o6331 (letzter Abruf: 23. September 2020). 22 Heiki V A L K , The Viking and the Eastern Baltic, in: The Viking World, hg. von Stefan B R I N K / Neils S. P R I C E (The Routledge Worlds), London/ New York 2012, S. 485-495; Leopold Karl G O E T Z , Deutsch-russische Handelsgeschichte des Mittelalters (Hansische Geschichts‐ quellen N.F. 5), Lübeck 1922, S. 6f.; Richard H E N N I G , Zur Verkehrsgeschichte Ost- und Nordeuropas im 8. bis 12. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 115 (1915/ 16), S. 1-30, hier S. 8-12; Nestors Russiske Krønike, hg. von Casper Wilhelm S M I T H , Kjøbenhavn 1869, Cap. VI, S. 22. beginnenden 11. Jahrhunderts beschreiben, erwähnt 21 . Dieser Weg führte aus dem Ostseeraum heraus in zwei Armen durch das spätere Livland sowie an der Südküste der Ostsee auf der Weichsel gen Süden 22 . Abb. 1: Der Austrvegr Zielpunkt dieses Weges durch das spätere Russland ist Byzanz und von dort aus der Mittelmeerraum. Der Ostweg wird noch bis zum Ausgang des 12. Jahr‐ hunderts als eine selbstverständliche Route in den Süden beschrieben, danach verliert er aufgrund politischer Entwicklungen seine Bedeutung. Dass diese Route auch von Pilgern genutzt wurde, bezeugt ein Runenstein aus dem schwedischen Uppland aus der Zeit um 1080 mit folgender Inschrift: 123 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="124"?> 23 Upplands Runenstein U605, ca. 1080, Upplands Runinskrifter 3, hg. von Elias W E S S É N / Sven B. F. J A N S S O N , Uppsala 1949; Samnordisk runtextdatabas (SRD), U 605, https: / / app.raa.se/ open/ runor/ inscription? id=5512c87b-5bfb-4934-84bc-4c2e19844 62c (letzter Abruf: 16. August 2021). Siehe hierzu Daniel F Ö L L E R , Wikinger als Pilger. Drei norwegische Könige, zwei Runensteine und der Wiederaufbau der Grabeskirche, in: Konflikt und Bewältigung / Conflict and Solution. The Destruction of the Holy Se‐ pulchre in Jerusalem in the Year 1009 / Die Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem im Jahre 1009, hg. von Thomas P R A T S C H (Millennium-Studien 32), Berlin 2011, S. 281-299, hier S. 285-287. 24 Siehe zu den frühen Pilgerreisen Michael M C C O R M I C K , Les pèlerins occidentaux à Jérusalem VIII e -IX e siècles, in: Voyages et Voyageurs à Byzance et en Occident du VI e au XI e siècle, hg. von Alain D I E K E N S / Jean-Marie S A N S T E R R E (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 278), Geneve 2000, S. 273-306. Siehe weiterhin F Ö L L E R , Wikinger (wie Anm. 23), S. 281-299. 25 S. u. a. Gutasagan eller Gutarnas Krönika / The History of the Gotlanders, translated by Peter T U N S T A L L , 2004, http: / / germanicmythology.com/ works/ Gutasagan.html (letzter Abruf: 16. Juli 2021). 26 Siehe zur letzten Route Jean M A R T I N , Sur les chemins de Compostelle à travers le Brabant wallon, in: Wavriensia 47 (1998), S. 163-167. Generell Hermann K E L L E N B E N Z , Das Straßen‐ system in Mitteleuropa, besonders während des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: P L Ö T Z , Europäische Wege (wie Anm. 18), S. 69-82. Ingirun(? ), Harðaʀ dottiʀ, let rista runaʀ at sik sialfa. Hon vill austr fara ok ut til Iorsala. Fotr(? ) risti runaʀ. Ingirun Hårdstochter ließ diese Runen für sich selbst ritzen. Sie will nach Osten fahren (austr fara) und nach Jerusalem. Fot ritzte diese Runen 23 . Mit dem bezeichnenden Wort austr fara bezieht sich der Runenstein deutlich auf die lange Tradition der Ostreisen. Der Stein ist auch ein beredtes Zeugnis für Pilgerreisen über Byzanz nach Jerusalem in der Frühzeit der Pilgerfahrten 24 . Ein weiterer Beleg findet sich in der Guta-Saga, der Sage von den Gotländern, aus dem 13. Jahrhundert, die allerdings nur aus einem Manuskript des 14. Jahr‐ hunderts, Codex Holm. B 64, bekannt ist. Hier wird en passant berichtet, dass bevor Gotland einen ordentlichen, eigenen Bischof angenommen hatte, Bischöfe, die auf dem Weg ins Heilige Land oder als Pilger nach Jerusalem nach Gotland kamen [die Weihe von Kirchen hätten übernehmen müssen]. Zu dieser Zeit führte die Route nach Jerusalem durch Russland und Griechenland 25 Neben dem Ostweg nutzten die Skandinavier ebenfalls früh den Südweg. Dieser war ein reiner Landweg und startete am Limfjord in Dänemark. Vom Limfjord folgten die Pilger dem sogenannten Heer- oder Ochsenweg nach Süden, bis sie in Itzehoe mit einer Fähre über die Stör und die Elbe nach Stade übersetzten und von dort aus den Verkehrsachsen im Heiligen Römischen Reich nach Rom und von dort aus weiter in den Mittelmeerraum oder nach Santiago folgten 26 . Ausführlich wurde 124 Carsten Jahnke <?page no="125"?> 27 Janus Møller J E N S E N , Vejen til Jerusalem. Danmark og pilgrimsvejen til det Hellige Land i det 12. århundrede: En islandsk vejviser, in: Ett annat 1100-tal. Individ, kollektiv och kulturella mönster i medeltidens Danmark, hg. von Peter C A R E L L I / Lars H E R M A N S O N / Hanne S A N D E R S (Serien Centrum för Danmarksstudier 3), Göteborg 2004, S. 284-337. Siehe zu diesem Führer weiter unten Kapitel VI. 28 Frauke W I T T E , Tegl. Valdemarsmuren ved Danevirke - den tidligste brug af mursten i Norden, in: Grænseløs Påvirkning. Dansk bygningskultur gennem århundreder, hg. von Birgitte H J O R T / Henrik H A R N O W , Haderslev 2019, S. 62-73. 29 Finnur J Ó N S S O N / Ellen J Ø R G E N S E N , Nordiske pilegrimsnavne i broderskabsbogen fra Rei‐ chenau, in: Aarbøger for nordisk oldkyndighed og historie, Series 3, Bd. 13 (1923), S. 1-36. 30 Meirion J. T R O W , Cnut - Emperor of the North, Stroud 2005, S. 193. 31 Brief Knuts des Großen an das englische Volk, in: Source Book of English History, hg. von Elizabeth Kimball K E N D A L L , New York / London 1900, S. 35-38. 32 Carsten J A H N K E , Der Aufstieg Lübecks und die Neuordnung des südlichen Ostseeraumes im 13. Jahrhundert, in: Städtelandschaften im Ostseeraum im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Roman C Z A J A / Carsten J A H N K E , Toruń 2009, S. 29-72. 33 Siehe hierzu einleitend Marie-Louise F A V R E A U -L I L I E , Von Nord- und Ostsee ans „Ende der Welt“: Jakobspilger aus dem Hanseraum, in: Hansische Geschichtsblätter 117 (1999), S. 93-130. dieser Weg nach Rom und Jerusalem vom Abt des isländischen Klosters Munkaþverá auf Island, Nikulás Bergsson, in seinem Leidarvisir ok borga-skipan beschrieben 27 . Das Wegesystem im Norden ist allerdings schon wesentlich älter, wie die neuesten Ausgrabungen am Danewerk bei Schleswig bewiesen haben 28 . Allem Anschein nach scheint diese Route die am meisten frequentierte gewesen zu sein. Zumindest verzeichnet das seit dem 9. Jahrhundert geführte Bruderschaftsbuch der Abtei Reichenau allein ca. 670 Namen, die auf Skandinavier hindeuten könnten 29 , und schon der skandinavisch-englische König Knut der Große ergriff 1027 Maßnahmen, um die Pilger auf dem Weg nach Rom zu schützen 30 . Ich sprach mit dem Kaiser selbst, und seiner Heiligkeit dem Papst, und den Prinzen, die dort zugegen waren über die Wünsche meiner Untertanen, der Engländer als auch der Dänen; dass ihnen mehr Gerechtigkeit widerfahre und sie eine größere Sicherheit auf ihren Reisen nach Rom erhalten sollten, und, dass sie weder durch so viele Wegsperren behindert werden sollten noch durch ungerechte Zölle 31 . Nach 1241 änderte sich der Wegeverlauf in Schleswig-Holstein wesentlich, als mit dem Aufstieg Lübecks eine neue Querung der jütischen Halbinsel und neue Verkehrswege in den Norden entstanden 32 . Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts werden daher viele nordische Pilger den Weg über Lübeck oder andere Städte an der südlichen Ostseeküste genommen haben 33 , so wie diejenigen armen norwegischen 125 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="126"?> 34 Regesta Norvegica 2: 1264-1300, Oslo 1978, Nr. 456, S. 170, Lübeckisches Urkundenbuch 1: Urkundenbuch der Stadt Lübeck 2,2, hg. von dem Vereine für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1858, Nr. 1087, S. 1029: Euerardus de Cusfelde presentauit camerariis III marc. den. lub., qui pertinebant quibusdam pauperibus Normannis peregrinis de varo defunctis. 35 Das Lübecker Niederstadtbuch 1363-1399, hg. von Ulrich S I M O N (Quellen und Darstel‐ lungen zur hansischen Geschichte N.F. 56), Köln 2006, S. 621, NStB-Seite 642 3 , sowie S. 683, NStB-Seite 714 3 . 36 Þat er sögn manna, at Skopti hafi fyrst siglt Nörvasund Norðmanna, Saga Magnús konungs berfœtts, Kap. 22, https: / / heimskringla.no/ wiki/ Saga_Magnús_konungs_berfœtts (letzter Abruf: 16. Juli 2021). Siehe zum Hintergrund einleitend Jaime F E R R E I R O A L E M P A R T E , Ar‐ ribadas de Normandos y cruzados a las costas de la península Ibérica, Madrid 1999, S. 60-62. 37 Siehe u.a. Ann C H R I S T Y S , Vikings in the South. Voyages to Iberia and the Mediterranean (Studies in early medieval history), London 2015, S. 60f. u. 100f. 38 Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, hg. von Bernhard S C H M E I D L E R (MGH SS rer. Germ. 2), Hannover 3 1917, Scholion 99, S. 228f. Pilger, die 1286 in Lübeck starben 34 , oder der Schwede Jacob Kalf, der auf seinem Weg nach Jerusalem 1387 Lübeck passierte und dort Geld deponierte 35 . Der dritte und augenscheinlich jüngste Weg war der Westweg in den Süden. Der Sage von Magnus Barfuß nach waren es Skopti Ǫgmundarson (Skofte Ogmundsson) und seine Söhne Ǫgmundr, Finnr und Ᵽórðr, die 1102 zuerst die Straße von Gibraltar von Westen kommend passierten 36 . Frühere Belege für Nordeuropäer, die Gibraltar passiert haben sollen, sind umstritten. Hier, wie bei der gesamten Bewertung der nordeuropäischen Sagas, kämpft die Forschung mit der quellenkritischen Tatsache, dass die heute überlieferten Texte zumeist Kompilationen oder Bearbeitungen des 13. Jahrhunderts darstellen, deren kompositorische und inhaltliche Anpassungen an die Ziele und Ideen der hochmittelalterlichen Verfasser nur schwer von einem „Kern“ an vielleicht historischen Ereignissen zu trennen sind 37 . Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass eine Schiffspassage durch die Straße von Gibraltar wohl spätestens am Ausgang des 11. Jahrhunderts geläufig war. Diese Route wird in einer Ergänzung zur Hamburgischen Kirchengeschichte des Adam von Bremen, dem Scholion 99, aus der Zeit um 1200/ 30 beschrieben, die den Seeweg von Ripen in Dänemark über Flandern, England nach Santiago und von dort aus weiter nach Akkon beschreibt 38 . Es ist in diesem Zusammenhang von Belang, dass die Stätten im Mittelmeer‐ raum schon früh eigene, altnordische Namen erhalten haben. Neben Miklagarð, (der Großburg) Byzanz, sind es vor allem Akkon, Akreborg, Jerusalem, Jórsala, Jórsalaborg oder Jórsalaheim, und der Jordan, Jordanar, die häufig in den Quellen erscheinen. Santiago de Compostela dagegen hat keinen eigenen Namen in der altnordischen Literatur. 126 Carsten Jahnke <?page no="127"?> 39 Dominik W Aẞ E N H O V E N , Skandinavier unterwegs in Europa (1000-1250). Untersu‐ chungen zu Mobilität und Kulturtransfer auf prosopographischer Grundlage (Europa im Mittelalter 8), Berlin 2006. 40 Maryjanne D U N N / Linda Kay D A V I D S O N , The pilgrimage to Compostela in the Middle Ages. A comprehensive, annotated bibliography, New York / London 1996, S. XXXIX. Allerdings scheint bei diesem Hinweis Vorsicht geboten zu sein. 41 Þorvalds þáttr víðfǫrla, Kap. 10, https: / / www.snerpa.is/ net/ isl/ th-vidfo.htm (letzter Abruf: 16. Juli 2021): Gerði hann þá ferð sína út í heim og allt til Jórsala að kanna helga staði. Hann fór um allt Grikkjaríki og kom til Miklagarðs. Tók sjálfur stólkonungurinn við honum með mikilli virðing … og veitti honum margar vingjafir ágætar því að svo var guðs miskunn honum nákvæm og flaug hans frægð fyrir alþýðu hvar sem hann kom, að hann var virður og vegsamaður svo af minnum mönnum sem meirum sem einn stólpi og upphaldsmaður réttrar trúar og svo sæmdur sem dýrðarfullur játari vors herra Jesú Kristi af sjálfum Miklagarðskeisara og öllum hans höfðingjum og eigi síður af öllum biskupum og ábótum um allt Grikkland og Sýrland. Allra mest var hann tignaður um Austurveg, þangað sendur af keisaranum svo sem foringi eða valdsmaður skipaður yfir alla konunga á Rússlandi og í öllu Garðaríki. III. Frühe Reisende Über die frühen Reisenden, die den weiten Weg in den Süden wohl aus persön‐ licher, religiöser Motivation, peregrinatio devotionis causa, auf sich nahmen, sind nicht sehr viele Einzelheiten bekannt. D O MINIK W AẞE NH O V E N kann in seiner Zusammenstellung von Reisenden bis 1250 aber immerhin noch 15 Personen benennen, die sich in den Süden aufgemacht hatten 39 , und M A R Y J AN N E D U N N und L IN DA K. D AVID S O N führen schon für das Jahr 968-971 einen skandinavischen Pilger in Santiago de Compostela auf 40 . Am ausführlichsten sind die ebenfalls spät aufgezeichneten Geschichten um den isländischen Missionar Thorvald Kodransson den Weitgereisten. In seiner Kurzgeschichte, dem Þorvalds þáttr víðfǫrla, die Ereignisse des 10. Jahrhunderts wiedergeben soll, wird berichtet, dass er sich nach dem vergeblichen Versuch, die Isländer zum Christentum zu bekehren, erst nach Dänemark und von dort aus nach Jerusalem begeben habe: Und so reiste er von zuhause weg und bis ganz nach Jerusalem, um die heiligen Stätten zu sehen. Und er fuhr durch ganz Griechenland und kam bis nach Byzanz. Und da nahm der Kaiser ihn zu sich mit großen Ehren und gab ihm viele vornehme Gaben. … Und der Kaiser selbst und alle Großen - und nicht weniger alle Bischöfe und Äbte in ganz Griechenland und Syrien - ehrten ihn als Bekenner der HErrn. Vor allem aber wurde er im Osten geehrt. Der Kaiser sandte ihn dorthin als Führer oder Leiter aller Könige in Russland und im ganzen Garðaríki 41 . 127 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="128"?> 42 Siehe die Bibliographie zu diesem Stein unter https: / / www.runinskrifter.net/ signum/ U / 605 (letzter Abruf: 16. Juli 2021). 43 × astriþr × la(t) + raisa × staina × þasa × [a]t austain × buta sin × is × suti × iursalir auk antaþis ub i × kirkum, Upplands Runsten 136, https: / / kulturbilder.wordpress.com/ 2013/ 07/ 27/ runstenar-uppland-u-136/ (letzter Abruf: 23. September 2020). Siehe hierzu F Ö L L E R , Wikinger (wie Anm. 23), S. 284 f. 44 Siehe einleitend für Frauen Anne-Sofie G R Ä S L U N D , Women on the Bridge to Conversion, in: Runestones. A colourful memory, hg. von Eija L I E T O F F , Uppsala 1999, S. 55-61, in Bezug auf U 136 S. 60 f. 45 Rune E D B E R G , Spår efter en tidig Jerusalemsfärd. Traces of 11th century pilgrims to Jerusalem, in: Fornvännen 101, Stockholm 2006, S. 342-347. 46 Hans-Peter N A U M A N N , Die nordischen Pilgernamen von der Reichenau im Kontext der Runennamenüberlieferung, in: Analecta septentrionalia. Beiträge zur nordgermani‐ schen Kultur- und Literaturgeschichte, hg. von Wilhelm H E I Z M A N N / Klaus B Ö L D L / Hein‐ rich B E C K , Berlin 2009, S. 778-802. 47 Rune E D B E R G , Östens pilgrimsfärd än en gång, in: Fornminnesnytt 5 (2012), sine pagum, https: / / www.academia.edu/ 2252731/ %C3%96stens_pilgrimsf%C3%A4rd_%C3% A4n_en_g%C3%A5ng (letzter Abruf: 16. Juli 2021). 48 N A U M A N N , Nordische Pilgernamen (wie Anm. 46); J Ó N S S O N / J Ø R G E N S E N , Nordiske pile‐ grimsnavne (wie Anm. 29). Welche Route Thorvald auf dem Weg nach Jerusalem nahm, bleibt unklar. Von dort aus wandte er sich nach Byzanz, wo er vom Kaiser empfangen wurde. Von diesem wurde er, als Botschafter, von Süden kommend, auf Austurvegur gesandt. Der Tot (die Kurzgeschichte) gibt dabei dem Empfang Thorvalds durch den Kaiser bezeichnender Weise mehr Raum als der eigentlichen Pilgerfahrt. Im Dunklen bleiben dagegen die anderen Namen von Südreisenden aus dieser Zeit. Der oben erwähnte Runenstein 605 aus Uppland 42 sowie ein etwas älterer, U 135, mit der Inschrift: Astrid ließ diesen Stein errichten für Östein, ihren Mann, der nach Jerusalem zog und dort (hinten) in Griechenland starb, 43 geben keine Auskunft über die Hintergründe dieser Pilgerreisen 44 . Der Idee R U N E E D B E R G S , Östein und Astrid sowie deren Sohn Sven in den Bruderschaftslisten auf der Reichenau identifizieren zu können 45 , wurde von H AN S -P E T E R N A U MAN N widersprochen 46 , was wiederum zu einer Replik E D B E R G S führte 47 . Allerdings bleibt die Argumentation auf Vermutungen angewiesen. Klar wird allerdings, dass wir es hier, bedingt durch das Medium des Runensteines an sich, mit Mitgliedern der skandinavischen Oberschicht zu tun haben, die sich auf die lange Reise gemacht haben. Ebenso wenig ist es bisher gelungen, die vielen Namen mit skandinavischem Anklang in den Reichenaulisten einem bestimmten Personenkreis oder einer bestimmten Person zuzuordnen 48 . H AN S -P E T E R N A U MAN N meint zumindest die 128 Carsten Jahnke <?page no="129"?> 49 N A U M A N N , Nordische Pilgernamen (wie Anm. 46), S. 781. Liber memorialis von Remire‐ mont 1, hg. von Eduard H L A W I T S C H K A / Karl S C H M I D / Gerd T E L L E N B A C H (MGH Libri mem. 1,1), Hannover 1970. 50 N A U M A N N , Nordische Pilgernamen (wie Anm. 46). 51 Necrologium Lundense. Lunds Domkyrkas Nekrologium, hg. von Lauritz W E I B U L L (Monumenta Scaniæ Historica), Lund 1923, S. 48. 52 Annales Danici Medii Ævi. Editionem nouam, hg. von Ellen J Ø R G E N S E N (Selbskabet for Udgivelse af Kilder til dansk Historie), København 1920, S. 85. 53 De Eskillo et patrvis eivs, in: Scriptores Minores Historiae Danicae Medii Aevi 2, hg. von Martin Clarentius G E R T Z , København 1918-1920, S. 427-442, hier S. 437-439. 54 W E I B U L L , Skånes Kyrka (wie Anm. 14), S. 237. 55 De Eskillo et patrvis eivs (wie Anm. 53), S. 437. Necrologium Lundense (wie Anm. 51), Anm. 2, S. 63. 56 Siehe zu diesem Torfi H. T U L I N U S , Hvers manns gagn. Hrafn Sveinbjarnarnason and the social role of Icelandic chieftains around 1200 (The Dorothea Coke Memorial Lecture in Northern Studies delivered at University College London on 12 March 2015), in: Saga-Book 40 (2016), S. 91-104. 57 Christian K R ÖT Z L , Om norbornas vallfarter till Santiago de Compostela, in: Historisk Tidskrift för Finland 72 (1987), S. 189-200, hier S. 191; Oscar N I K U L A , Sankt Jakob Herkunftsregion auf Südskandinavien eingrenzen zu können 49 . Darüber hinaus scheinen skandinavische Pilger ebenfalls im Liber vitae der Abtei von Remire‐ mont in den Vogesen vertreten zu sein 50 . Des Weiteren berichtet das Necrologium Lundense zum einen im Zusammen‐ hang mit dem Jahr 1159 und dem in Rom ausgebrochenen Schisma, dass lun‐ densis archyepiscopus Ierosoliman iuit redit autem 51 , was durch eine Eintragung in den Lundenser Annalen für das Jahr 1164 ergänzt wird, die davon berichtet, dass Erzbischof Eskil aus dem Geschlecht der Thrugotssønner nach Jerusalem gereist sei 52 . Diese Geschichte wird in einem kleinen Werk aus dem Exordium Magnum mit dem Titel De Eskillo et patrvis eivs weiter ausgeführt. Hier erhalten wir auch eine Beschreibung seiner Tour durch Jerusalem und zum Jordan 53 . Da König Valdemar und sein Erzbischof in der Frage der richtigen Obedienz uneins waren, verließ der Erzbischof das Reich auf „Pilgerfahrt“ 54 . Zum anderen verzeichnet das Necrologium für den 30. April den Tod von Eskils Bruder Sven Svensen, dem Bischof von Viborg. Bischof Sven starb auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem und wurde im Paternosterkloster auf dem Ölberg begraben 55 . Beide, aber vor allem Eskil, gehörten zur absoluten geistlichen Elite Europas, und für diese scheint eine Pilgerfahrt zum Heiligen Grab selbstverständlich gewesen zu sein. Aus dem 12. Jahrhundert gibt es dann auch die ersten Hinweise darauf, dass Isländer sich auf Wallfahrt nach Santiago begeben hätten, so z. B. der weitge‐ reiste goðorðsmaðr (Großbauer/ Häuptling) Hrafn Sveinbjanarson 56 , der vor 1200 St. Giles, Canterbury, Rom und Santiago besucht haben soll 57 . Allerdings stellt sich 129 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="130"?> (Acta Academiæ Aboensis, Series A: Humaniora 37,2), S. 14; Ásdís E G I L S D Ó T T I R , Hrafn Sveinbjarnarson, pilgrim and martyr, in: Sagas, Saints and Settlements, hg. von Gareth W I L L I A M S / Paul B I B I R E (The Northern World 11), Leiden 2004, S. 29-39. 58 Siehe zur Textkonstruktion im allgemeinen E G I L S D Ó T T I R , Hrafn Sveinbjarnarson (wie Anm. 57). 59 Eine genauere Analyse der zahlreichen Regionalheiligen wird mit Sicherheit noch mehr Beispiele zu Tage fördern. 60 W Aẞ E N H O V E N , Skandinavier unterwegs (wie Anm. 39), Nr. A 386, S. 254. 61 Siehe zu St. Ragnhild Tryggve L U N D É N , Sankt Björn av Klockrike och andra lokalhelgon, in: Credo 25 (1944), S. 166-198, hier 184-189; (eingeschränkt) Richard W E H N E R SJ, S: ta Ragnhild i sitt tidevarv, in: Credo 40 (1959), S. 15 f., S. 55-72. 62 L U N D É N , Sankt Björn (wie Anm. 61), S. 186. die Frage, ob diese Pilgerfahrt, dargestellt im Zusammenhang mit einer Legende, eine spätere Konstruktion ist oder eine wirkliche Reise abbildet 58 . IV. Pilgerheilige Neben den Personen aus dem Namenmaterial kennen wir mindestens fünf skandinavische Heilige aus dem 12. und 13. Jahrhundert, deren (mehr oder weniger offizielle) Kanonisierung in Zusammenhang mit Pilgerfahrten steht 59 . An erster Stelle ist hier die hl. Ragnhild von Tälje 60 , die Schutzheilige der Stadt (heute Södertälje), zu nennen. Nach einer Legende soll sie die Gattin König Ingers des Svealandes (um 1100) gewesen sein - dies ist aber eine bis heute umstrittene Aussage 61 . Neben einem besonders frommen Lebenswandel zeichnete sie sich vor allem durch eine Pilgerfahrt nach Rom und Jerusalem aus, wie ihre (heute verlorene) Grabschrift u. a. hervorhob, ohne allerdings nähere Angaben zu machen: Sweuorum domina Ragnildis flos sine spina regni regina pergens pedes it peregrina Roman Iherusalem firmans sibi spem venialem ferre triumphalem tytlo crucis … 62 . 130 Carsten Jahnke <?page no="131"?> 63 Siehe zu ihr L U N D É N , Sankt Björn (wie Anm. 61), S. 166-179; S: ta Elin av Skövde. Kulten, källorna, kvinnan, hg. von Sven-Erik P E R N L E R (Skara Stiftshistoriska Sällskaps skriftserie 31), Skara 2007; Sara E. Ellis N I L S S O N , Creating holy people and places on the periphery. A study on the emergence of cults of native saints in the ecclesiastical provinces of Lund and Uppsala from the eleventh to the thirteenth centuries, Doctorial Thesis, Göteborg 2015, S. 84-86; Stina Fallberg S U N D M A R K , Spår av Pilgrimsfärd - Perspektiv på vallfart med anknytning till medeltidens Skara stift, in: Skara Stift 1000 år, hg. von Johnny H A G B E R G (Skara Stiftshistoriska Sällskaps skriftserie 2), Skara 2014, S. 95-112, hier S. 102 f. Darüber hinaus Svenskt biografiskt lexikon 13, hg. von Bengt H I L D E B R A N D , Stockholm 1950, S. 339, https: / / sok.riksarkivet.se/ sbl/ Presentation. aspx? id=16002 (letzter Abruf: 24. September 2020). Und sehr protestantisch-kritisch H. O. Ö S T B E R G , Sankt Elin, in: Mélanges de Philologie offerts a M. Johan Vising …, Göteborg / Paris 1925, S. 110-122, mit einer schwedischen Übersetzung der Legende. 64 Die Verfasserschaft von Brynolf Algotsson ist generell umstritten. Ingmar S. Milveden, Zu den liturgischen „Hystorie“ in Schweden. Liturgie- und choralgeschichtliche Unter‐ suchungen. Diss. Uppsala 1972. Abb. 2: St. Ragnhild von Tälje Mehr Informationen besitzen wir bei der zweiten Märtyrerin, der hl. Elin (Helen) von Skövde, Västergötland, der Schutzheiligen dieser Stadt und des Westergö‐ talandes 63 . Nach ihrer Legende, möglicherweise verfasst von Bischof Brynolf Algotsson von Skara im 14. Jahrhundert 64 , war ihre Pilgerfahrt Anlass zu einem Familiendrama. Als die reiche, fromme und kinderreiche Witwe um 1129 zum 131 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="132"?> 65 Svenskt biografiskt lexikon 13 (wie Anm. 63), S. 339, https: / / sok.riksarkivet.se/ sbl/ Pres entation.aspx? id=16002 (letzter Abruf: 24. September 2020). 66 Jan L I E D G R E N , Alexander III: s kanonisation av Elin av Skövde - en följd av ett felplacerat tillägg? , in: Personhistorisk tidskrift 74 (1978), S. 24 f. 67 Siehe zu St. Romafar L U N D É N , Sankt Björn (wie Anm. 61), S. 194-196; Nathan B E C K M A N , Till belysning af helgonkulten i Norden, in: Kyrkohistorisk Årsskrift 22 (1921), S. 230-235, hier S. 232 f. 68 Siehe zur Kirche einleitend Jonas M. N O R D I N , Det medeltida Dalarna och Västmanland. En arkeologisk guidebok, Lund 2009, S. 219-221. 69 http: / / www.jakobus-info.de/ compostela/ 99.htm (letzter Abruf: 24. September 2020).; vgl. zum Motiv auch Robert P L Ö T Z , „res est nova et adhuc inaudita.“ Motivindex und literarisch-orale Evolution der Mirakelerzählung vom Pilger, der vom Galgen gerettet wurde, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44 (1999), S. 9-39. Heiligen Grabe pilgerte, wurde ihre Tochter von deren Ehemann misshandelt. Die Tochter wurde vom zu Hause zurückgebliebenen Gefolge Elins gerächt, was eine Gewaltspirale in Gang setzte. Letzten Endes wurde Elin der Anstiftung zur Rache bezichtigt und von den Verwandten ihres Schwiegersohnes auf dem Wege zur Weihe der Kirche von Götene hinterrücks ermordet 65 . Ihr Schicksal wurde wegen des Bruches der Feiertagsheiligung als Märtyrertod angesehen, und schon 1161 wurde sie entweder von Papst Alexander III . oder aber Erzbischof Stephan von Uppsala kanonisiert 66 . Mehr im Dunklen bleibt das dritte schwedische Beispiel: St. Romafar von Romafartuna, Västermanland 67 . Der hl. Romfahrer (Romafar) ist eine legenda‐ rische, volksetymologische Deutung des Namens Romafartuna, eigtl. ‚Hof ‘ (tuna) der ‚Flachlandbewohner‘ (rumfarer). Nach der Legende war St. Romafar ein namentlich nicht bekannter, reicher Mann aus Romafartuna, der den Bau der dortigen Kirche wesentlich unterstützte 68 . Kurz vor der Vollendung des Kirchbaues begab er sich auf Pilgerfahrt nach Rom. Währenddessen verschwand der Messkelch der Kirche, und der Verdacht fiel auf den Abwesenden. Bei seiner Rückkehr ordnete er eine Durchsuchung an, und der Kelch wurde unter seinen Dingen gefunden, wo er, der Legende nach, von jemand anderem versteckt worden war. St. Romafar wird daraufhin gehängt und am Platz seiner Hinrichtung entsprang eine Quelle, die sich zu einer Pilgerstätte entwickelte. Die Legende trägt Züge alttestamentarischer Erzählungen, erinnert aber auch stark an die aus dem 11. Jahrhundert stammende Jakobus-Legende aus Toulouse, nach der einem Vater und Sohn auf Pilgerreise nach Santiago ein Wirt in Toulouse einen goldenen Becher untergeschoben haben soll, woraufhin der Sohn gehängt wurde (was dieser wunderbarer Weise aber überlebte) 69 . Bei St. Romafar haben wir es wohl mit einem Lokalheiligen zu tun, bei dem sich die Unsicherheiten der Pilgerschaft mit Pilger-Legenden zu einem lokalen Heiligen verwoben haben. 132 Carsten Jahnke <?page no="133"?> 70 Siehe einleitend Ellen J Ø R G E N S E N , Helgendyrkelse i Danmark. Studier over Kirkekultur og kirkeligt Liv fra det 11. Aarhundredes Midte til Reformationen, København 1909, S. 47-49; N I L S S O N , Creating holy people (wie Anm. 63), S. 91 f. 71 Vitae sanctorum Danorum, hg. von Martin Clarentius G E R T Z , København 1908-1912, S. 414. 72 Om Hellig Anders fra Slagelse, in: Danske Helgeners Levned, übersetzt von Hans O L R I K , København 1893-1894, S. 323-328, hier S. 323-325. 73 Vitae sanctorum (wie Anm. 71), Einleitung zum hl. Anders, S. 411. 74 Vitae sanctorum (wie Anm. 71), Einleitung zum hl. Anders, S. 413. 75 Einleitend J Ø R G E N S E N , Helgendyrkelse (wie Anm. 70), S. 37. Abschließend sollen noch weitere, dieses Mal aber weitaus positivere Wunder hervorgehoben werden: die Wallfahrt des hl. Anders von Slagelse in Dänemark und die des hl. Enevald von Sölvesborg. Nach seiner Legende hatte sich der Pfarrer der St. Petri Kirche von Slagelse am Ende des 12. Jahrhunderts zusammen mit zwölf weiteren Bürgern der Stadt zu einer Wallfahrt nach Jerusalem aufgemacht 70 , wo sie sich zu Ostern eingefunden hatten. Aufgrund guter Winde wollten seine Begleiter noch am Ostertage wieder aufbrechen, während Anders sich zur Hochmesse in die Grabeskirche aufmachte. Da er merkte, dass er zurückgelassen worden war, betete er, fiel in einen Schlaf und wachte zur Vesper am Ostertage in Slagelse wieder auf. Und so geschah es, dass er am selben Festtag die Messe in Jerusalem hörte und die Vesper in Slagelse gesungen hat (sicque factum est, ut eodem die sancto Hierosolimis missam audiret et uesperas diceret apud Slauosiam) 71 . Daraufhin begab er sich gleich noch einmal auf Pilgerreise, dieses Mal zuerst nach Santiago de Compostela und von dort zum hl. Olav in Nidaros, bevor er noch vor Rückkehr seiner Reisegenossen wieder in Slagelse war 72 . Der hl. Anders hat nur zu seinen Lebzeiten Wunder gewirkt; es wurde ihm zu Ehren aber dennoch in Slagelse eine jährliche Messe gefeiert, deren Antiphon, Versiculus und Collecta bewahrt sind 73 . Schon zu Beginn des 13. Jahr‐ hunderts erlangte die modern anmutende Reisegeschwindigkeit des hl. Anders europäische Berühmtheit; über ihn berichtete zuerst Thomas de Cantimpré in seinem Bonum universale de pietatibus apium 74 . Mit dem hl. Anders haben wir ein Beispiel dafür, wie Fernpilgerreisen in einen regionalen Kult umgesetzt und in den Kontext einer Kleinstadt in Dänemark eingebunden werden - aus dem sie dann wiederum Berühmtheit im gesamten Orbis Catholicus erlangten. Ein ähnliches Schicksal erlitt der hl. Enevald aus Sölvesborg auf Lister (Dänemark, nun Schweden) 75 . Der Legende nach reiste er zum Heiligen Grabe, wo er von den Einheimischen verfolgt wurde. Er rettete sich an den Strand und, als er kein Schiff finden konnte, legte er sein Schicksal in Gottes Hand, schlief ein 133 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="134"?> 76 Tryggve L U N D É N , S: t Enevald av Sölvesborg, in: Credo 25 (1944), S. 77. 77 Lars-Göran K I N D S T R Ö M , Sölvesborgs Kyrkor (Sveriges Kyrkor. Konsthistoriska Inventa‐ rium 93), Stockholm 1962, S. 294-296. 78 Siehe einleitend Päivi S A L M E S V U O R I , Birgitta of Sweden and her Pilgrimage to Santiago de Compostela, in: Women and Pilgrimage in medieval Galicia, hg. von Carlos Andrés G O N Z Á L E Z -P A Z (Compostela international studies in pilgrimage history and culture), Farnhem 2015, S. 113-121. 79 W Aẞ E N H O V E N , Skandinavier unterwegs (wie Anm. 39), Nr. A 198, S. 202. 80 W Aẞ E N H O V E N , Skandinavier unterwegs (wie Anm. 39), Nr. A 181, S. 197. 81 W Aẞ E N H O V E N , Skandinavier unterwegs (wie Anm. 39), Nr. A 427, S. 265 f. 82 W Aẞ E N H O V E N , Skandinavier unterwegs (wie Anm. 39), Nr. A 389, S. 255 f. und wachte in Sölvesborg wieder auf 76 . Er dankte Gott und an der Stelle seines Erwachens entsprang eine heilige Quelle, die zu einem Wallfahrtsziel wurde 77 . Die hier vorgestellten Heiligen verankern alle die Pilgerfahrt zum Heiligen Grabe und nach Santiago im regionalen Kontext Skandinaviens. Sie machen die Pilgerreise zu einem Teil der regionalen Devotio und zeigen gleichzeitig die Alltäglichkeit, aber auch die Unalltäglichkeit des Pilgerns zu dieser Zeit. Pilgern war gottgefällig, aber die Pilgerschaft barg Risiken in sich, die die Gerechten unter Umständen nur durch den Tod überwinden konnten. Gleichzeitig bot die Pilgerreise Gelegenheit genug, die Wunder Gottes zu präsentieren und in einen lokalen Kontext umzusetzen. Abschließend muss noch auf die bis heute berühmteste Pilgerheilige Skan‐ dinaviens, die hl. Birgitta von Vadstena, hingewiesen werden. Ihr Offizium sowie andere Schriften weisen immer wieder auf die von ihr und ihrem Mann in alter Familientradition unternommenen Pilgerreisen nach Jerusalem und Santiago hin 78 . Dieser Aspekt wird von E LIZA B E TH A. A N D E R S E N und M AI -B R ITT W I E C HMAN N in diesem Band ausführlich behandelt. V. Hochadlige Reisen Neben den Erwähnungen von Pilgerreisen in den Legenden besitzt Skandi‐ navien einen weiteren Korpus legendarisch anmutender Reiseberichte: die Erzählungen über die (abenteuerlichen) Reisen der Mitglieder des Hochadels. An dieser Stelle sollen stellvertretend vier Reisen vorgestellt werden: die Reise des Haraldr Sigurðarson harðráði 79 , der um 1037 in Jerusalem gewesen sein soll, die Fahrt des Jarls Hákon Pálsson von den Orkney-Inseln 80 , 1105-1123, König Sigurðr Jórsalafaris Jerusalemsreise von 1107-1112 81 sowie die Abenteuer des Rögnvaldr kali Kolsson 82 (St. Rögnvald resp. St. Ronald von den Orkneys), 1151-1153. 134 Carsten Jahnke <?page no="135"?> 83 Siehe hierzu u. a. Łukasz R ÓŻ Y C K I , Another comment on the date of Harald Hardrada’s arrival at Byzantium, in: E R I K S E N / P R I C E / J A H N K E T Vikings in the Mediterranean (wie Anm. 2). Claus K R A G , Harald Hardrådes ungdomsår og kongesagaene, Forholdet mellom sagaprosa, skaldekvad og mundtlig tradition, in: Collegium Medievale 11 (1998), S. 9-31. 84 U. a. berichtet in Consilia et Narrationes von Kekaumenos. Für den griechischen Text und die englische Übersetzung von Charlotte R O U E C H É siehe http: / / www.ancientwisdo ms.ac.uk / library / kekaumenos-consilia-et-narrationes/ (letzter Abruf: 16. Juli 2021). 85 U. a. Morkinskinna. The Earliest Icelandic Chronicle of the Norwegian Kings (1030-1157), hg. von Theodore M. A N D E R S S O N / Kari Ellen G A D E (Islandica 51), Ithaca / London 2012, Kap. 13, S. 144-151. Siehe einleitend Alison F I N L A Y , History and fiction in the king’s sagas: The case of Haraldr harðráði (The Dorothea Coke Memorial Lecture in Northern Studies delivered at University College London on 21 March 2013), in: Saga-Books 39 (2015), S. 77-102. 86 F I N L A Y , History (wie Anm. 85), S. 88. Fór ofrhugi enn øfri / eggdjarfr und sik leggja, / fold vas víga valdi virk, / Jórsala ór Girkjum. / Ok með œrnu ríki óbrunnin kom gunnar / heimil jǫrð und herð. Diese vier Beispiele haben gemein, dass die Reisen in Form von Sagas und anderen Erzählungen überliefert sind, was die oben bereits erwähnten quellenkritischen Einschränkungen und Probleme zur Folge hat. Die folgenden Abschnitte sollen deshalb nicht der faktischen Rekonstruktion der Reisen dienen, sondern sollen die fiktionale Umsetzung dieser Reisen aufzeigen. a) Haraldr Sigurðarson harðráði, ein harter Krieger, und die Heilige Stadt Nach den Aussagen der Sagas ging der spätere norwegische König Harald Hardrade (der Harte) (ca. 1015-1066) nach der Schlacht von Stiklestad 1030 zuerst ins Exil nach Kiev, bevor er sich an den byzantinischen Hof begab 83 , wo er (angeblich) zum Befehlshaber der skandinavischen Leibgarde des Kaisers, der Waräger, aufstieg 84 . Sein Leben wird in einigen Sagas beschrieben, am verläss‐ lichsten in der sogenannten Morkinskinna 85 . Über die Frage einer Pilgerreise Haralds nach Jerusalem gibt ein Vers des isländischen Skalden Stúfr inn blindi (des Blinden) Auskunft, der aus der direkten Begegnung mit Harald resultieren soll: Die sehr Kühnen, herrschend, / verbessert durch das griechische Land, / schwert-leitend - das Land verbeugte sich dem Krieger - / Jerusalem zu gewinnen. / Und mit reichen Ehren / für den Kriegsgehärtenden / wurde ihm das Land / unverbrannt ausgeliefert. 86 135 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="136"?> 87 Siehe auch F Ö L L E R , Wikinger (wie Anm. 23), S. 293-297; Hans-Peter N A U M A N N , Nordi‐ sche Kreuzzugsdichtung, in: Festschrift für Oskar Bandle, hg. von Hans-Peter N A U M A N N u. a. (Beiträge zur nordischen Philologie 15), Basel 1986, S. 175-189, hier S. 181 f. 88 F I N L A Y , History (wie Anm. 85), S. 89. 89 Siehe hierzu schon einleitend Poul R I A N T , Skandinavernes Korstog og Andagtsrejser til Palestine, Kjøbenhavn 1868, S. 169. 90 Orkneyinga saga aus dem Flateyjarbók, https: / / heimskringla.no / wiki / Orkneyinga_sa ga (letzter Abruf: 16. Juli 2021). Sa er hinn fysti at ek mun ganga sudr til Roms edr allt vt j Jorsalaheim ok sækia heim helga stade ok hafa .ij. skip … Für Harald, jedenfalls nach der skaldischen Überlieferung, war Jerusalem nicht das Ziel einer Pilgerreise 87 . Stattdessen ist die Stadt ein Ort von vielen, an dem der spätere König Heldentaten vollbracht haben soll. The verse itself confirms the claim in the prose that Haraldr subjugated Jerusalem, rather than simply visiting it as a pilgrim, or as leader of an armed guard protecting other pilgrims as Blöndal considers more plausible, whether this exaggeration was the king’s own assertion or the poet’s flattering embellishment 88 . Ob sein Aufenthalt und ein angeblicher Besuch am Jordan 89 Pilgerzwecken diente, bleibt unklar, muss aber eher als unwahrscheinlich angesehen werden. Harald war dort im Zuge eines vom byzantinischen Kaiser befohlenen Feld‐ zuges. b) Jarl Hákon Pálsson, eine Pilgerfahrt ohne Heiligsprechung Die Jerusalemsfahrt des Jarls Hákon Pálsson von den Orkneyinseln wird in den Quellen weitaus weniger detailreich und vor allem auch weniger kriegerisch beschrieben. Der Grund hierfür ist in den religiös-politischen Hintergründen zu suchen. Wie die Orkneyinga saga ausführlich beschreibt, war es auf den Inseln zu einem Machtkampf zwischen Hákon Pálsson und seinem Cousin Magnus Erlendsson gekommen. Bei einem Zweikampf auf der Insel Egilsay an einem 16. April (wahrscheinlich 1117) tötete Hákon seinen Konkurrenten. Der genaue Verlauf des Zweikampfes ist schwer nachvollziehbar, da es Magnus‘ Partei gelang, diesen 1136 durch den Bischof von Kirkwall kanonisieren zu lassen. Alle Überlieferungen stehen daher im Schatten der Tötung dieses „Heiligen“. Die Orkneyinga saga berichtet daher relativ schmucklos: [Nach der Tötung Magnus’ unterwarf der Jarl sich das gesamte orkneyische Reich …] Einige Jahre später begab er sich auf eine Auslandsreise und reiste südwärts nach Rom. Und von dort aus zog er weiter bis ganz nach Jerusalem und besuchte dort die Heiligen Stätten und hatte zwei Schiffe 90 . 136 Carsten Jahnke <?page no="137"?> 91 George P E T R I E , Notice of Remains of a Round Church with semicircular Apse, in the Parish of Orphir, Orkney, in: Archaeological Journal 18 (1861), S. 227-230. Siehe auch Alfred W. J O H N S T O N , Notes on the Earl’s Bu (or Bordland) at Orphir, Orkney, called Orfjara in the Sagas, and on the Remains of the round church there, in: Proceedings of the Society of Antiquaries of Scotland 37 (1903), S. 16-31. Siehe generell https: / / w ww.historicenvironment.scot/ visit-a-place/ places/ earls-bu-and-church-orphir/ (letzter Abruf: 24. September 2020). Kritisch hierzu aber Eric F E R N I E , Representations of the Holy Sepulchre, in: Tomb and Temple. Re-imagining the sacred buildings of Jerusalem, hg. von Robin G R I F F I T H -J O N E S / Eric F E R N I E (Boydell Studies in Medieval Art and Architecture), Woodbridge 2018, S. 329-338, hier S. 335-337. Zur Entwicklung der Nachbauten der Grabeskirche im Westen siehe Collin M O R R I S , The Sepulchre of Christ and the Medieval West. From the Beginning to 1600, Oxford 2005. 92 Siehe hierzu Denys P R I N G L E , The Crusader Church of the Holy Sepulchre, in: G R I F ‐ F I T H -J O N E S / F E R N I E , Tomb and Temple (wie Anm. 91), S. 76-94, hier S. 77. 93 Siehe einleitend A L E M P A R T E , Arribadas de Normandos (wie Anm. 36), S. 62-65. 94 Morkinskinna (wie Anm. 85), Kap. 61 f., S. 313-323. Siehe einleitend F I N L A Y , History (wie Anm. 85). 95 Ármann J A K O B S S O N , Image is Everything: The Morkinskinna Account of King Sigurðr of Norway’s Journey to the Holy Land, in: Parergon 30 (2013), S. 121-140. 96 J A K O B S S O N , Image (wie Anm. 95), S. 124. Dieses allein hätte zu seinem Ruhm beitragen müssen. Darüber hinaus ließ er nach seiner Rückkehr in Orphir, auf dem Mainland der Orkneys, die älteste (bisher nachgewiesene) Steinkirche der Inseln (und Schottlands) errichten - eine dem hl. Nikolaus gewidmete Rotunde nach dem Vorbild der Grabeskirche 91 , so wie sie Hákon in Jerusalem gesehen haben wird 92 . Bei aller untergründigen Kritik an Hákon Pálsson wird seine Pilgerreise in den Quellen aber nicht als Buß- oder Sühneleistung gesehen. Die Jerusalemfahrt ist daher wohl als ein (missglückter) politischer Versuch zu werten, die kirchlich unterstützte Heiligsprechung seines Vetters zu untergraben. c) König Sigurðr Magnússon Jórsalafari (r. 1103-1130) und ein nicht stattgefundener Besuch beim hl. Jakob Der bewaffnete Jerusalemzug König Sigurðr Magnússons in den Jahren 1108-1111 gehört zu den bekanntesten der nordeuropäischen „Pilgerfahrten“, und nicht erst seit Edvard Griegs „Sigurd Jorsalfar“ aus dem Jahr 1871. Er wird in einigen mittelalterlichen Quellen beschrieben 93 , wobei die Fassung in der Morkinskinna 94 den längsten und ausführlichsten Text liefert 95 . In der Morkinskinna-Fassung wird Sigurds Pilgerreise zu einem Weltentheater, einem Drama, welches dem Leser eine norwegische Identität vermitteln soll. Gleichzeitig wird deutlich, dass es sich bei dieser Reise um eine Art unautorisierten Kreuzzug handelt, der en passant auch Sigurds Ruhm bei den weltlichen Herrschern verbesserte 96 . Dass der König nach Jerusalem kam, 137 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="138"?> 97 Saga Sigurðar Jórsalafara, https: / / heimskringla.no/ wiki/ Saga_Sigurðar_Jórsalafara_ (Morkinskinna), Vtferþar saga Sigurþar konvngs, (letzter Abruf: 24. September 2020). 98 Siehe auch N A U M A N N , Kreuzzugsdichtung (wie Anm. 87), S. 184. 99 https: / / en.wikisource.org/ wiki/ Heimskringla/ Saga_of_Sigurd_the_Crusader_and_His _Brothers_Eystein_and_Olaf#Lisbon_Taken (letzter Abruf: 24. September 2020). 100 Siehe einleitend N A U M A N N , Kreuzzugsdichtung (wie Anm. 87), S. 186-189. gilt im Allgemeinen als gesichert. Interessanter in diesem Zusammenhang ist aber der (Nicht-)Charakter der Reise als Pilgerfahrt, was durch einen ersten Zwischenstopp auf Sigurds Reise verdeutlicht werden kann. Die Saga Sigurðar Jórsalafara in der Morkinskinna berichtet im Zusammenhang mit Sigurds Aufenthalt in Jacobslanð ausführlich darüber, dass er mit einem dortigen Herrscher in Konflikt geraten war, als versprochener Proviant ausblieb. Der König belagerte daraufhin die Burg des Herrschers (der passenderweise floh), eroberte sie, machte reiche Beute und verließ das Land 97 . Der hl. Jakob dagegen ist dem Skalden kein einziges Wort wert - abgesehen von der Bezeichnung der Gegend als Jacobslanð 98 . In einer englischen Übersetzung der Sage bringt ein Skaldenvers dieses auf den Punkt: Our king, whose land so wide / No kingdom stands beside, / In Jacob’s land next winter spent, / On holy things intent; / And I have heard the royal youth / Cut off an earl who swerved from truth. / Our brave king will endure no ill, - / The hawks with him will get their fill 99 . d) Ein Abenteurer als Heiliger: Rǫgnvaldr Kali Kolsson (St. Rögnvald resp. St. Ronald von den Orkneys) und seine Jerusalemreise Ist der weltliche Aspekt von Sigurds Reise nur knapp bemäntelt, so fällt es schwer, bei den Abenteuern des Rǫgnvaldr Kali Kolsson den Pilgeraspekt überhaupt zu erkennen 100 . Rǫgnvaldr (ca. 1100-1158) war Jarl der Orkneyinseln, ein Neffe des hl. Magnus. 1129 wurde er Jarl, 1137 startete er den Bau der St. Magnus Kathedrale von Kirkwall, in die sein Onkel Magnus transloziert wurde, und 1151 brach er zu seiner „Pilgerfahrt“ nach Jerusalem auf. Während seiner Abwesenheit wurde er vom Jarlsamt abgesetzt und nach seiner Rückkehr 1158 von einem Gesetzesbrecher ermordet. 1191 wurde er heiliggesprochen, da sich an seinem Grab in Kirkwall Wunder ereignet haben sollen. Schauen wir uns die Motivation Rǫgnvaldrs für seine Fahrt an, so berichtet die Orkneyinga saga für die Zeit um 1148, dass Rǫgnvaldr bei einem Aufenthalt in Norwegen auf den eben von seinem Dienst in Byzanz heimgekehrten Ejnrid den Jungen traf, der (der Saga nach) Rǫgnvaldr zu einer Reise anstachelte: 138 Carsten Jahnke <?page no="139"?> 101 þat þicki mer vndarligt jarl er þu vill eigi fara vt i Jorsalaheim ok hafa eigi sagnir einar til þeirra tidenda er þadan eru at segia. er slikum monnum bezst hent þar sakir yduarra lista muntu þar bezst virdr sem þu kemr med tignum monnum. Orkneyinga saga, https: / / heimskringla.no/ wiki/ Orkneyinga_saga (letzter Abruf: 16. Juli 2021), Fra Eindrida vnga. 102 Þeir Rognvalldr jarl foru þa or Akrsborg ok sottu alla hina helguzstu stadi a Jorsalalandi. þeir foru allir til Jordanar ok lauguduz þar. þeir Rognvalldr jarl ok Sigmundr aungull logduz yfir anna ok gengu þar a land ok þangat til sem var hrijskiorr nockur ok ridu þar aa knuta stora. Þa kuad jarl. Ebd., Rognualldr vann dromundinn. 103 Siehe hierzu G R I F F I T H -J O N E S / F E R N I E , Tomb and Temple (wie Anm. 91); M O R R I S , Se‐ pulchre of Christ (wie Anm. 91). Es deucht mich wunderlich, Jarl, dass Du nicht selbst ins Heilige Land fahren willst, damit Du Dich nicht allein mit den Geschichten aus diesen Gegenden begnügen musst. Aufgrund Deiner Fähigkeiten wäre das der richtige Ort für Dich. Du würdest dort sehr geehrt werden, wenn Du zu vornehmen Leuten kommst 101 . Rǫgnvaldr nahm sich diese Kritik zu Herzen und brach zu seiner Fahrt auf, die in der Saga einen breiten Raum einnimmt - erwartungsgemäß nicht wegen der Pilgerschaft, sondern zur Ehrenrettung des Jarls, dessen kriegerische Taten (die er einer Herrscherin auf dem Kontinent, der südfranzösischen Vizegräfin Ermingerðr, widmet) mit Skaldenversen ausführlich besungen werden. Und wieder wird ein Zwischenaufenthalt in Galizien eingelegt, Þeir foru þar til er þeir komu vestr a Galiciuland - und wieder ist das Land nur Schauplatz der Eroberung einer Burg, am dritten Weihnachtstag, inmitten des Weihnachtsfriedens; von St. Jakob aber keine Spur. Als die Reisegesellschaft nach vielerlei Abenteuern über Akkon im Heiligen Land ankommt, ist das dem Skalden eine einzige Zeile wert: Rǫgnvaldr besuchte dort Jerusalem und die heiligsten Stätten und er badete dort im Jordan, Þeir Rognvalldr jarl foru þa or Akrsborg ok sottu alla hina helguzstu stadi a Jorsalalandi. þeir foru allir til Jordanar ok lauguduz þar 102 . Fast schon länger ist der Nachsatz: wobei Rǫgnvaldr und Sigmund Angel den Fluss durchquerten, um auf der anderen Seite ein Zeichen zu setzen und drei angeführte Skaldenverse darauf zu dichten. Diese vier sehr kurzen und etwas polemisch formulierten Skizzen zeigen deutlich die Funktion von Pilgerfahrten in weite Fernen als Kulisse zur Ent‐ faltung kriegerischer Ehrentaten, respektive zur Beeinflussung politischer Ent‐ wicklungen zu Hause. Jerusalem ist das gegebene Ziel für Reisen in die weite Fremde, wobei der religiöse Aspekt in den Hintergrund gedrängt wird. Alle diese vier Herrscher haben dort wohl das übliche Programm samt einer Tour zum Jordan unternommen. Jarl Hákon Pálsson hat dabei sogar die Idee der Imitatio der Grabeskirche 103 mit auf die Orkneys gebracht. Allerdings verwenden die Dichter so wenig wie möglich Platz für diese Dinge. Der eigentliche Akt des 139 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="140"?> 104 Siehe schon die ältere Übersicht bei Ericus Christianus W E R L A U F F , Symbolæ ad Geogra‐ phiam Medii Ævi, ex monumentis Islandicis, Haunie 1821, Summa Geographiæ medii aevi ad mentem Islandorum, cui accedit Itinerarium ad terram sanctam susceptum. 105 Norrøn verdenshistorie og geografi, übersetzt von Rune K Y R K J E B Ø / Bjørg Dale S P Ø R C K , Oslo 2014. Dominik W Aẞ E N H O V E N , „Dort ist die Mitte der Welt“. Ein isländischer Pil‐ gerführer des 12. Jahrhunderts, in: Gestiftete Zukunft im mittelalterlichen Europa. Fest‐ schrift für Michael Borgolte zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang H U S C H N E R / Frank R E X R O T H , Berlin 2008, S. 29-61; J E N S E N , Vejen til Jerusalem (wie Anm. 27); Jan R A G N A R , Til Romaborg og Jorsal. Reiseguide frå 1100-talet av abbed Nikolás Bergsson, Trondheim 1992 / 2003; Kr. K Å L U N D , En islandsk Vejviser for Pilgrimme fra det 12. Århundrede, København 1913. 106 Arngrimúr V Í D A L Í N , Olafr Ormsson’s Leidarvisir and its Context. The Fourteenth-Cen‐ tury Text of a Supposed Twelfth-Century Itinerary, in: Journal of English and Germanic Philology 117 (2018), S. 212-234, hier S. 213-216. 107 V Í D A L Í N , Leidarvisir (wie Anm. 106), S. 212. 108 V Í D A L Í N , Leidarvisir (wie Anm. 106), S. 221-231. Siehe Benjamin Z. K E D A R / Christian W E S T E R G Å R D -N I E L S E N , Icelanders in the crusader kingdom of Jerusalem: a twelfth-cen‐ Pilgerns ist für sie uninteressant. Dagegen wird bei den letzten drei Texten deutlich, dass die Schifffahrt als solche zum Akt und Ausgangspunkt des Abenteuers wird und dass die Durchquerung der Straße von Gibraltar, dem Nørvesund, ein Scheidepunkt zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten darstellt. Ebenfalls deutlich wird die auffallende Abwesenheit des hl. Jacobus in diesen Erzählungen. Zumindest Sigurðr Magnússon und Rǫgnvaldr Kali Kolsson waren dort - und waren es eben nicht. Für die Skalden dieser Dichtungen war Santiago kein lohnenswertes Ziel, selbst wenn sie das Land Jacobslanð nannten. VI. Pilgerwege und Pilgerstätten in der Literatur Skandinaviens Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Sagas gibt es natürlich auch einen Korpus von Schriften, der sich explizit mit dem Pilgerweg beschäftigt, die Reiseliteratur 104 . Am bekanntesten ist hierbei der Leidarvisir ok borga-skipan 105 . Dieser Text wurde bisher, allerdings ohne richtige Quellengrundlage, dem Abt des isländischen Klosters Munkaþverá, Nikulás Bergsson, zugeschrieben, was aber zumindest angezweifelt werden muss 106 . Der Text befindet sich in der Handschrift der Arnamagnæansken Samling in Kopenhagen ( AM ) 194 8 vo , die von dem Isländer Óláfr Ormsson auf Geirrøðareyri (heute Narfeyri) in Snæfellsnes im Jahr 1387 verfasst wurde 107 . Im Kontext dieses Manuskriptes ist die Wegbeschreibung des Leidarvisir nach Rom und Jerusalem nur der abschließende Teil einer weltumfassenden Kosmographie, der größten im alt‐ nordischen Sprachraum 108 . Es ist gleichzeitig zu beachten, dass, auch wenn 140 Carsten Jahnke <?page no="141"?> tury account, in: Medieval Scandinavia 11 (1978 / 79), S. 193-211, mit einer englischen Übersetzung. 109 Hauksbók udgiven efter de Arnamagnaeanske håndskrifter No. 371, 544 og 675,4. Samt forskellige papirshåndskrifter af det Kongelige Nordiske Oldskrift-Selskab, hg. von Finnur J Ó N S S O N , København 1892-1896, S. 502. 110 V Í D A L Í N , Leidarvisir (wie Anm. 106), S. 223-230. 111 Olof O D E N I U S , Från Koburg till Rom. Ericus Johannis från Lödöse och hans itinerarium, in: Västergötlands fornminnesförenings tidskrift 6 (1967), S. 209-243. 112 Siehe den Text bei O D E N I U S , Koburg till Rom (wie Anm. 111), S. 231-233. 113 Adam von Bremen, Kirchengeschichte (wie Anm. 38), Scholion 99, S. 228 f. 114 Svend A A K JÆR , Kong Valdemars Jordebog 1, København 1926-1943, S. * 25 und Abbil‐ dung des fol. 127r im Anhang des Bandes. der Text durchaus Elemente des 12. Jahrhunderts enthält, u. a. in der Straßen‐ führung, er doch an einigen Stellen modernisiert worden ist. Der Leidarvisir beschreibt, wie oben angeführt, den Südweg nach Rom und von Italien aus weiter per Schiff nach Akkon und Jerusalem. Er ist dabei, der Intention von AM 194 8 vo entsprechend, vor allem auf die praktischen Bedingungen der Reiseroute ausgerichtet. Der Leidarvisir beruht auf einer Tradition von Wegbeschreibungen, die sich auch im isländischen Hauksbok ( AM 544 4 to ,1302-1310) unter dem Titel Wegur til Róms 109 respektive im Stjórn Manuskript AM 226 fol. mit dem Titel Vm borga skipan oc legstaðe heilagra manna (ein Stadtführer und über die Grabstätten der heiligen Männer) findet 110 . Eine ähnliche Form besitzt das Fragment einer Reisebeschreibung in Codex C 36 der Uppsaler Universitätsbibliothek aus dem Besitz des aus Lödöse stammenden Ericus Johannes 111 . Das Fragment aus dem Ende des 15. Jahrhunderts beschreibt einen Teil des Reiseweges von Rostock nach Rom, nämlich den letzten Abschnitt von Koburg an 112 , wobei fast ausschließlich Entfernungen angegeben werden. Der Westweg von Ripen nach Akkon ist zum einen in Scholion 99 der Kirchen‐ geschichte Adam von Bremens aus der Zeit um 1200 / 30 beschrieben 113 . Zum anderen findet sich dieser Text auch auf fol. 127r des alten Cod. Holmiensis A. 41, der 1929 an das dänische Reichsarchiv überführt wurde, da in diesem Manuskript auch das sogenannte Erdbuch König Valdemars enthalten ist 114 . Auch dieses Manuskript stammt aus dem Beginn des 13. Jahrhunderts, es ist allerdings in seiner Gesamtheit noch nie analysiert worden, so dass über den Kontext dieser Reisebeschreibung keine Aussagen getroffen werden können. Ein Fragment einer Beschreibung des Seeweges von Norwegen nach Jerusalem eines Bruders Mauritius stammt vermutlich aus dem Kopialbuch der Bergener 141 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="142"?> 115 Monumenta historica Norvegiæ. Latinske kildeskrifter til Norges historie i middelal‐ deren, hg. von Gustav S T O R M (Det Norske Historiske Kildeskriftfonds skrifter 14), Kristiania 1880, S. 165-168 und XXXVII. 116 Kristian K Å L U N D , Kirialax saga, København 1917, nach AM 567 XV 4 to . 117 K Å L U N D , Kirialax saga (wie Anm. 116), S. 64-68. Eine englische Übersetzung findet sich bei K E D A R / W E S T E R G Å R D -N I E L S E N , Icelanders (wie Anm. 108), S. 209-211. 118 M. L O R E N Z E N , Vejleder for pilgrimme, efter håndskrift. Sonderdruck aus Mandevilles rejse i gammeldansk oversættelse tillige med en vejleder for pilgrimme, efter hånd‐ skrifter udgiven af M. Lorenzen, Kjøbenhavn 1882. 119 Holger Fr. R Ø R D A M , Danskes Rejser til det hellige Land, in: Kirkehistoriske Samlinger 5,1 (1901 / 03), I. S. 481-492, II. S. 698-707. Bischöfe aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts 115 und beschreibt den letzten Teil der Reise von Sardinien nach Akkon. Mehr konkrete und ausführliche Beschreibungen finden sich in Skandinavien in zwei Zusammenhängen. Auf der einen Seite enthält die Kirjalax saga 116 (die Alexios-Sage) aus dem 15. Jahrhundert eine umfassende Beschreibung der heiligen Stätten in Jerusalem 117 , allerdings eingebaut in die fabelhafte Welt eines spätmittelalterlichen, didaktischen Abenteuerromans. Auf der anderen Seite enthält ein dänisches Manuskript mit der Übersetzung von Mandevilles Reisen aus dem 15. Jahrhundert, AM 792 4 to , eine Beilage mit einer Beschreibung der stædhe, som peregrime skule søghe for af løsn af theræ synder j thet helliæ, der Stätten, welche Pilger aufsuchen sollten, um deren Sünden im Heiligen zu lösen 118 . Hier werden die heiligen Stätten ausführlich beschrieben. Aus dem frühen 16. Jahrhundert existieren in Dänemark zwei Reisetagebü‐ cher hochadliger „Pauschalreisender“ ins Heilige Land. In den Aufzeichnungen des Holger Gregersen Ulfstand zu Skabersø und des Johan Oxe zu Nielstrup auf Lolland aus dem Jahr 1518 wird nicht nur die Vielzahl der besuchten Orte, sondern auch die Umfänglichkeit der dortigen Tourismusindustrie mehr als deutlich. Die Berichte aus adligem Privatbesitz liegen in einer etwas späteren Abschrift in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen vor (Gle. kgl. Saml. 844 fol.) 119 . Es ist anzunehmen, dass sich weitere dieser Aufzeichnungen in Adelsarchiven finden lassen. 142 Carsten Jahnke <?page no="143"?> Abb. 3: Beginn des Reisetagebuches des Holger Gregersen Ulfstand und des Johan Oxe, mit einem Bericht über die Markuskirche in Venedig VII. Wallfahrten in Recht und Alltag a) Auswirkungen von Pilger- und Südfahrten auf das Erbrecht Die lange Tradition der skandinavischen Südverbindungen, aber auch die Veränderungen der Verbindungen zu Byzanz, wo die Skandinavier als letzte Getreue den byzantinischen Kaiser 1204 gegen die anstürmenden Kreuzfahrer verteidigt hatten, spiegelt sich auch in der Gesetzgebung im Norden wider. So 143 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="144"?> 120 Siehe hierzu Dieter S T R A U C H , Mittelalterliches nordisches Recht bis ca. 1500. Eine Quellenkunde (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 97), Berlin 2 2016, S. 108-115. 121 Gulathingslov, § 47, https: / / no.wikisource.org/ wiki/ Norges_gamle_Love/ Den_ældre_G ulathings-Lov (letzter Abruf: 16. Juli 2021), nach Norges gamle love indtil 1387, Bd. 1, hg. von Rudolph K E Y S E R / Peter A. M U N C H , Christiania 1846, S. 1-118. „En ef maðr ferr af lande braut. þa scal sa hallda fe hans vetr .iij. er hann hever um boðet með vattom at hallda skylldi. sa scal hava sokn oc vorn firi hanom. En ef hann ferr a Grikland. þa scal sa hallda fe hans er arve er nestr.“ 122 Norwegisches Recht. Das Rechtsbuch des Gulathings, hg. von Rudolf M E I S S N E R (Ger‐ manenrechte 6), Weimar 1935, S. 42, § 47. 123 Ich danke in diesem Zusammenhang Herrn Prof. Dr. Roland Scheel in Göttingen für diesen Hinweis und die vielen, anregenden Diskussionen zu diesem Thema. 124 Svenska Landskapslagar. Tolkade och förklarade för nutidens svenskar, hg. von Åke H O L M B Ä C K / Elia W E S S É N , Ser. 5: Äldre Västgötalagen, Stockholm 1946, S. 78. 125 Siehe zur Einleitung S T R A U C H , Recht (wie Anm. 120), S. 379-392. 126 Landskapslagar (wie Anm. 124), S. 272. 127 Roland S C H E E L , Skandinavien und Byzanz. Bedingungen und Konsequenzen mittelal‐ terlicher Kulturbeziehungen, Göttingen 2015, Regest D 27, Bd. 2, S. 903 f. sowie D 64, Bd. 2, S. 921 f. enthält schon das ältere Gulatingsbuch (ca. 10. Jahrhundert 120 ) eine besondere Rechtsregelung für Südfahrer 121 : Und wenn ein Mann aus dem Lande fortreist, da soll der sein Gut in Obhut haben drei Winter hindurch, dem er vor Zeugen aufgetragen hat, daß er es in Obhut nehmen soll, der soll für ihn das Recht zur Klage und Verteidigung haben. Und wenn er nach Griechenland reist, da soll der sein Gut in Obhut nehmen, der ihm im Erbe der nächste ist 122 . In dieser Regelung wird deutlich, dass es vor allem der Dienst in Byzanz war, der erbrechtliche Probleme bereitete 123 . Ähnliche Regelungen finden sich im älteren und jüngeren Recht des Westergötalandes, dem Västgötalagen. Im älteren Västgötalag von ca. 1220 heißt es in § 12, dass bei Romgängern die Erbfrist auf Jahr und Tag festgelegt ist, wohingegen das Erbe bei Griechenlandfahrern ausgesetzt wird 124 . Im entsprechenden § 15 des jüngeren Västgötarechtes aus der Mitte des 14. Jahrhunderts 125 ist dagegen der Griechenlandabschnitt gestrichen worden 126 . Eine gleiche Entwicklung ist auch in Dänemark zu beobachten, wo in den Er‐ bregelungen Griechenland allerdings nicht explizit genannt wird 127 . Allerdings ist es auffallend, dass im ältesten dänischen Recht Exilanten begünstigt werden, was einerseits auf die Normalität des Kaiserdienstes deutet, andererseits auch Pilger begünstigt. 144 Carsten Jahnke <?page no="145"?> 128 Tiohärad Lagen, Kyrkobalken, § 9, in: Landskapslagar (wie Anm. 124), S. 427. Thomas L I N D Q V I S T , Remembering the Greek Connection, in: E R I K S E N / P R I C E / J A H N K E The Vikings in the Mediterranean (wie Anm. 2). 129 Äldre Västgötalagen, Giftermålsbaken, § 8, in: Landskapslagar (wie Anm. 124), S. 99; Yngre Västgötalagen, Kyrkobalken, § 52, Urbotamål, § 3, Giftermålsbalken, § 15, in: Landskapslagar (wie Anm. 124), S. 214 f., 248, 285-286; L I N D Q V I S T , Remembering (wie Anm. 128). 130 L I N D Q V I S T , Remembering (wie Anm. 128). 131 Diplomatarium Fennicum online, http: / / df.narc.fi/ document/ 4606 (letzter Abruf: 5. Ok‐ tober 2020). 132 Auctoritate Papae. The Church Province of Uppsala and the Apostolic Penitentiary 1410-1526, hg. von Sara R I S B E R G / Kirsi S A L O N E N (Diplomatarium Suecanum. Appendix: Acta pontificum suecia 2: Acta poenitentioariae), Stockholm 2008, Nr. 346, S. 374. Siehe auch Diplomatarium Fennicum online, http: / / df.narc.fi/ document/ 6821 (letzter Abruf: 5. Oktober 2020). Generell ist aber festzuhalten, dass Pilgerfahrten und die mit ihnen ausge‐ lösten erbrechtlichen Probleme spätestens seit dem 11. Jahrhundert die Thinge beschäftigt haben - ein deutliches Zeichen von der Alltäglichkeit dieser Reisen. b) Jerusalemfahrten im Kirchenrecht Eine besondere Stellung nahm die Pilgerfahrt ins Heilige Land im Kirchenrecht ein. Im kirchenrechtlichen Abschnitt des Gesetzbuches der Tioharde (Småland, Schweden) wird festgelegt, dass man nur einmal getauft werden darf - mit Ausnahme, man sei ein so guter Mensch, dass man den Jordan erreiche. Dort ist eine erneute Taufe zugelassen 128 . Dieser Abschnitt erklärt die relativ häufige Erwähnung des Jordans in den Sagas und Reiseberichten. Darüber hinaus war eine Bußpilgerfahrt nach Rom vor allem bei außerehe‐ lichem Geschlechtsverkehr als Kirchenbuße vorgeschrieben. Solche Artikel finden sich u. a. im Eheabschnitt des ältesten und jüngeren Rechts des Wäster‐ götalandes 129 . Die Büßer hatten bei ihrer Rückkehr eine Bescheinigung der päpstlichen Verwaltung vorzulegen 130 . Weiterhin finden sich auch einige, wenn auch wenige Bußwallfahrten, vor allem zur Sühne von früher begangenen Missetaten. So konnte Lars Melle aus dem Stift Åbo / Turku (Finnland) am 5. Mai 1495 seine Wiedereinsetzung ins Priesteramt erreichen, nachdem er zum Heiligen Grabe und zum hl. Jakob gepilgert war 131 , und drei Tage vorher behandelte die päpstliche Pönitentiarie den ähnlichen Fall des Knut Melle aus dem gleichen Stift, der neben Jerusalem und Santiago auch noch die Grotte der Maria Magdalena, necnon speluncam sancte Marie Magdalene peregrinando, besucht hatte und sich nun in Rom aufhielt 132 . Jugendsünden ließen sich durch eine ausgedehnte Wallfahrt wohl büßen. 145 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="146"?> 133 Jan V A N H E R W A R D E N , Auferlegte Pilgerfahrten und die mittelalterliche Verehrung von Santiago in den Niederlanden, in: Der Jakobuskult in Süddeutschland. Kultgeschichte in regionaler und europäischer Perspektive, hg. von Klaus H E R B E R S / Dieter R. B A U E R ( Jakobus-Studien 7), Tübingen 1995, S. 311-343; Yves R E N O U A R D , Le pèlerinage à Saint-Jacques-de Compostelle et son importance dans le monde mèdièvale, in: Yves R E N O U A R D , Études d’histoire médiévale (Bibliothèque générale de l’École Pratique des Hautes Études. Section 6), Paris 1968, S. 727-735, hier S. 731. 134 Stockholms Stads Tänkeböcker 1483-1492, hg. von Gottfried C A R L S S O N , Heft 4, Stock‐ holm 1944, S. 522 f. 135 Ragnar H E M M E R , Studier rörande Straffutmätningen i medeltida svensk Rätt, Helsing‐ fors 1928, S. 341-356, Pilgerfahrten werden aber in keinem der Rechtstexte erwähnt, auch nicht in Stockholm, so dass es sich hier wohl um eine Übernahme aus dem Kirchenrecht handelt. 136 Stockholms Stads Tänkeböcker 1514-1520, hg. von Johan Axel A L M Q U I S T , Stockholm 1933, Nr. 340, S. 174 f. 137 Regesta Norvegica 4: 1320-1336, Oslo 1979, Nr. 399, S. 157. 138 K R Ö T Z L , Norbornas Vallfarter (wie Anm. 57), S. 195. c) Pilgerfahrten als Bußstrafen Auch in der weltlichen Rechtsprechung finden sich, wie in den Niederlanden 133 , Belege für Pilgerfahrten als Bußhandlungen. Ein Beispiel hierfür sind die Eintragungen in den Stockholmer Stadtbüchern, die in der Forschung auch schon des Öfteren angeführt wurden. Am 31. März 1491 erschien vor dem Rat der Stadt und dem Reichsverweser Sten Sture der Stockholmer Lambrecht Dare und bekannte, mit der Frau des Hans Falkenstein Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Zur Buße und zur Schonung seines Lebens gelobte er, mit dem ersten Schiff zu sancte Jacob j Compostella aufzubrechen 134 . Hierdurch entging der reuige Büßer einer erheblichen Geld- und / oder der Todesstrafe 135 . Und 1516 wurde vom Rat eine Einigung zwischen Peter Jenson auf der einen und Benct Larensson auf der anderen Seite festgehalten 136 . Benct Larensson hatte (wohl aus Versehen) den Sohn des Peter Jenson, La(u)rens, in der Freien Gildestube erschlagen. Als Buße hierfür gelobte er, 100 Mark schwedisch an den Vater von Laurens zu zahlen (wovon nur 50 Mark erlegt wurden, was zu weiteren Auseinandersetzungen führte) und zu vandra til Sancti Jacob för begis there synde böther, zum hl. Jakob zu wandern, um dort Buße für seine Sünde zu tun. In einem anderen Fall verurteilten Bischof Auðfinn von Bergen und das dortige Domkapitel die der Hexerei angeklagte, aber für unzurechnungsfähig befundene Ragnhild Tregagås 1325 zu einer siebenjährigen Pilgerfahrt ins Ausland 137 . C H R I S TIAN K RÖTZ L vermutet, dass Mord die häufigste Ursache für Bußwall‐ fahrten gewesen sei 138 . So wurde der Mord am Bergener Bischof Thorleif 1456 146 Carsten Jahnke <?page no="147"?> 139 Diplomatarium Norvegicum 6, hg. von Christian Christoph Andreas L A N G E / Carl Richard U N G E R , Christiania 1864, Nr. 551, S. 577-581. K R Ö T Z L , Norbornas Vallfarter (wie Anm. 57), S. 195. 140 Diplomatarium Fennicum online, http: / / df.narc.fi/ document/ 4472 (letzter Abruf: 5. Ok‐ tober 2020). K R ÖT Z L , Norbornas Vallfarter (wie Anm. 57), S. 195. 141 Svenska landskapslagar. Tolkade och förklarade för nutidens svenskar, hg. von Åke H O L M B Ä C K / Elias W E S S É N , Fjärde serien: Skånelagen och Gutalagen, Stockholm 1943, S. 212; K R Ö T Z L , Norbornas Vallfarter (wie Anm. 57), S. 196. 142 Christine E K H O L S T , A punishment for each criminal. Gender and crime in Swedish medieval law (The Northern World 67), Leiden 2014, S. 125. Siehe hierzu den Kom‐ mentar von H O L M B Ä C K / W E S S É N , Svenska Landskapslagar 5 (wie Anm. 124), zu diesem Abschnitt des Urbotamåls (der unsühnbaren Verbrechen) des Yngre Västgötalagen, S. 252, Erläuterung zu Note 20, brottet sonas icke genom böter utan genom pilgrimsfärd. 143 E K H O L S T , Punishment (wie Anm. 142), S. 187. Yngre Västgötalagen, Urbotamål, § 3, S. 248, sowie der Kommentar von H O L M B Ä C K / W E S S É N , Svenska Landskapslagar 5 (wie Anm. 124), S. 252, Erläuterung zu Note 30. Die gleiche Regelung findet sich auch in Paragraph 52 des Kyrkobalken (Kirchenrechts) des jüngeren Wästgöta-Rechtes, mit dem Hinweis, dass der Bußpilger dem bischöflichen Kaplan ½ M für den Brief an den Papst zahlen müsse. Yngre Västgötalagen, Kyrkobalken, § 52, S. 214 f., hier S. 215, sowie der Kommentar von H O L M B Ä C K / W E S S É N , Svenska Landskapslagar 5 (wie Anm. 124), S. 231, Erläuterung zu Note 74. 144 H E M M E R , Studier (wie Anm. 135). 145 K R Ö T Z L , Norbornas Vallfarter (wie Anm. 57), S. 197. ebenso durch die Entsendung von Pilgern gesühnt 139 , wie auch ein junger Mann aus Ripen 1493 einen Mord durch Wallfahrten u. a. nach Rom, Santiago und Jerusalem büßen sollte 140 . K RÖT Z L weist zudem darauf hin, dass das gotländische Recht eine Bußpilgerfahrt bei Mord sogar stipuliert 141 . Allerdings sieht nur das jüngere Westgöta-Recht aus der Mitte des 14. Jahrhunderts Bußwallfahrten vor: ein Mord innerhalb der Familie war ein so schweres Verbrechen, dass es nicht im Lande gesühnt werden könne, ma eig innan lanz bötä. bäri niÞings nampn vtan lanz ok böte synð sinä. Die Verbrecher mussten zur Bußwallfahrt verurteilt werden 142 , das gleiche galt für die Bestrafung von Zoophilie im gleichen Rechtskorpus. Hier musste der Ertappte nach Rom pilgern 143 . Andere Paragraphen zumindest in den schwedischen Landschaftsrechten sehen keine Bußwallfahrten bei Mord vor 144 . Generell ist noch anzumerken, dass die Bußpilger eine Jakobsmuschel und eine Bescheinigung von ihrem Wallfahrtsort mitbringen mussten 145 . d) Wallfahrten als Teil von Sühneverträgen Wallfahrten zur Rettung der Seele, sei es persönlich, sei es durch Stellvertreter, gehörten auch in Skandinavien zum Alltag. Einen besonderen Höhepunkt erlebte diese Bewegung allerdings in den letzten Jahren der Unionskönigin Margarethe von Norwegen, die im Jahr 1405 allein 1000 Nobel für Pilgerfahrten 147 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="148"?> 146 Diplomatarium Danicum nr. 14 050 412 002, https: / / diplomatarium.dk / dokument / 14 0 50 412 002 (letzter Abruf: 17. Juli 2021). 147 Diplomatarium Danicum nr. 14 111 208 001, Diplomatarium Danicum nr. 14 111 208 001 (letzter Abruf: 17. Juli 2021). 148 Margarethe war dabei nicht die erste nordische Herrscherin, die diese Anordnungen traf. Schon 1346 hatten König Magnus und Königin Blanca von Norwegen in ihrem Testament angeordnet, u. a. Pilger nach Rocamadur, Aachen, Güstrow und Santiago zu senden. Hans H I L D E B R A N D , Sveriges Medeltid. Kulturhistorisk Skildring 3, Stockholm 1898-1903, S. 806. þer vi. ærum skyldughi þiit at sændæ. oc þæt bikostæ. først til rukkumadur. en kalc giorþan aff sæx mark gull. Til aken en kalc af fyræ mark gull., til goþes byrþ samuleþ, til gustrowe samuleþ., til sanctæ jækobs samuleþ., Ælleghis ærum vi konungh magnus skyldughi enæ reysu vt sændæ. a. mot guþz owinum. oc kunnum wi franfalla. før æn han ær giorþ. þa sculu vare executores hundraþa mæn med fullum tyghum oc androm þem þyngom som reysæn tilsigher. utsændæ þer þe qwæmelicæst gita a mot guþz owinum, oppa warn kost, scaþaløsn. forlust. oc fangenscap, Svenskt Diplomatariums huvudkartotek över medeltidsbreven, Stockholm 2003, Nr. 5307, 1346 Mai 1. 149 Diplomatarium Danicum nr. 14 050 224 001, https: / / diplomatarium.dk / dokument / 14 0 50 224 001 (letzter Abruf: 17. Juli 2021). an verschiedene Wallfahrtsziele reservierte 146 und in ihrem Testament von 1411 noch einmal zusätzliche 1500 M für weitere Pilger bestimmte 147 . Unter den Pilgerzielen der 130 Pilger in Margarethes Testament fanden sich neben Jerusalem und Santiago auch das Katharinenkloster auf dem Sinai, Canterbury, Thann, Aachen oder Wilsnack 148 . In diesem Zusammenhang ist auch der Sühnevertrag und die Urfehde zu sehen, den die Familien Løvenbalk und Brock unter Beteiligung von Königin Margarethe am 24. Februar 1405 in Helsingborg schlossen 149 , der eine Familien‐ fehde beendete, wobei der Ausgangspunkt hier die Ermordung des Ritters Jens (Niels) Jensen (Brock) auf Clausholm durch den Reichsrat Jens Nielsen (Løven‐ balk) im Jahr 1404 war. Die sehr symbolischen Sühnehandlungen bestanden aus acht Teilen: I. Wird eine ewige Messe in der Klementikirche in Aarhus für Jens Jensen gestiftet, an deren Altar seine Erben das Patronatsrecht besitzen sollen. II . Wird eine weitere, ewige Messe im Dominikanerkloster in Aarhus am Grabe Jens Jensens gestiftet. III . Soll ein Requiem gehalten werden, mit 30 Kerzen, zu dem auch 30 Arme gespeist werden sollen. IV . Weiterhin sollen Pilger an folgende Orte außerhalb Skandinaviens gesandt werden: 1. Ein Pilger nach Rom [M. v. N. 1405] 2. Ein Pilger nach Jerusalem [M. v. N. 1405] 148 Carsten Jahnke <?page no="149"?> 150 A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken (wie Anm. 6), S. 27-35. 151 Siehe hierzu Kurt Villads J E N S E N / Kirsi S A L O N E N u. a., Art. „Rude. Zisterzienser“, in: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, hg. von Oliver A U G E / Katja H I L L E B R A N D , Regensburg 2019, Band 2, S. 509-532. 152 A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken (wie Anm. 6), S. 51-54. 153 A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken (wie Anm. 6), S. 39-46. 154 A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken (wie Anm. 6), S. 39. 155 http: / / www.katolsk.no/ biografier/ historisk/ enevald, (letzter Abruf: 28. September 2020); L U N D É N , S: t Enevald av Sölvesborg, (wie Anm. 76), S. 77. 3. Ein Pilger ins Katharinenkloster [M. v. N. 1405] 4. Ein Pilger nach Santiago de Compostela [M. v. N. 1405] 5. Ein Pilger nach Wilsnack [M. v. N. 1405] 6. Ein Pilger nach Aachen. [M. v. N. 1405] V. Weiterhin sollen Pilger an folgende Orte innerhalb Skandinaviens gesandt werden: 1. Ein Pilger zum hl. Knut Lavard (in Ringsted, Dänemark) [M. v. N. 1405] 2. Ein Pilger zur hl. Birgitta in Vadstena (Schweden) 150 [M. v. N. 1405] 3. Ein Pilger zum Rude-Kloster (Rus Regis, Hzt. Schleswig) 151 4. Ein Pilger zum hl. Helfer (St. Hjælper, Kliplev, Hzt. Schleswig) 152 [M. v. N. 1405] 5. Ein Pilger zum hl. Olav (Nidaros, Norwegen) 153 [M. v. N. 1405] 6. Ein Pilger zum hl. Erich (Uppsala, Schweden) 154 [M. v. N. 1405] 7. Ein Pilger zum hl. Enevald (Sölvesborg, Lister, Dänemark, heute Blekinge, Schweden) 155 8. Ein Pilger zum hl. Laurentius (Lund, Domkirche, Schonen, Dänemark, heute Schweden) 9. Ein Pilger zur Kirche Unser Lieben Frauen in Kopenhagen (Dänemark) [M. v. N. 1405] VI . Weiterhin sollen Jens Andersen (der Sohn Jens Jensens), Anders Jensen und Lave Jensen mit zweihundert Ritten öffentlich bekennen: Wäre ich der beste und mächtigste Ritter in Dänemark, und wäre mein Sohn oder mein Vater derart erschlagen worden, so hätte ich eine derartige Versöhnung und einen solchen Ausgleich für sie haben wollen. VII . Darüber hinaus soll Herr Jens Nielsen auf den Knien Frau Ida (Lagesdatter [Panter], Gattin von Jens Jensen) um Vergebung bitten und ihr und ihren Kindern eine Kostbarkeit überreichen. 149 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="150"?> 156 Svenskt Diplomatariums (wie Anm. 148), Nr. 19 326, 1419 Juli 19. 157 Svenskt Diplomatariums (wie Anm. 148), Nr. 10 800, 1376 März 15. 158 Svenskt Diplomatariums (wie Anm. 148), Nr. 2383, 1310 September 20. Diplomatarium Danicum, 2. Reihe, Bd. 6, Nr. 305, S. 256-260. VIII . Weiterhin soll Herr Jens Nielsen den Jens Andersen, Anders Jensen und Lave Jensen jeweils ein gezogenes Schwert oder Messer überreichen und sie auf Knien um Gottes Willen um Vergebung bitten. Pilgerreisen nehmen in dieser Sühne neben den Seelenmessen und dem öffentlichen Akt der Sühne einen zentralen Platz ein. Die Auswahl der Pilger‐ stätten trägt deutlich die Handschrift der Königin, wie ein Vergleich mit den von ihr 1405 aufgeführten Wallfahrtsstätten zeigt [M. v. N. 1405]. Erstaunlich dagegen ist die Auswahl der regionalen Heiligtümer. Das Rudekloster (auf der jütischen Halbinsel) liegt immerhin noch in der gleichen Landschaft wie Clausholm (aber ca. 230 km von Clausholm entfernt), aber das ostdänische Sölvesborg mit dem hl. Enevald wie auch der hl. Laurentius, der Schutzheilige Schonens, erfordern eine besondere Lokalkenntnis, die zurzeit noch nicht erklärt werden kann. Ein ähnlicher Sühnebrief wurde 1419 in Kopenhagen für den schwedischen Adligen Ulf Staffansson auf Munsö ausgestellt, der den Bruder des Lasse Krok, Jeppe, erschlagen hatte 156 . Ulf gelobte Pilger zum hl. Olav, zum hl. Enevald in Sölvesborg, drei nach Vadstena zur hl. Birgitta, einen zur hl. Ingrid Elovsdotter in Skänninge, einen zum hl. Niels von Skänninge, einen zu Unser Lieben Frauen nach Aachen und einen nach Wilsnack zu entsenden. Älter, aber ebenfalls aus der Regierungszeit Margarethes, ist der Sühnebrief Torkel Haraldssons als Totschläger Jöns Anderssons ( Jul), der u. a. Pilger nach Rom, zwei zu St. Enewald in Guben (til m sanctum Enewaldh til Gubin), einen zu Unser Lieben Frauen in Aachen, einen zu St. Olav in Nidaros und einen nach Vadstena schicken sollte 157 . Es scheinen sich also unter dem Einfluss von Margarethe von Norwegen solche Sühnefahrten bei Hofe besonderer Beliebtheit erfreut zu haben. Aller‐ dings hatte schon 1310 König Erich Menved die Bürger von Lund dazu verurteilt, in einem Sühnevertrag zwei Pilger nach Santiago und zwei nach Rom zu senden 158 . VIII. Organisation von Wallfahrten Die bisherigen Kapitel haben gezeigt, dass Wallfahrten nach Santiago und zum Heiligen Grabe für die Bewohner Skandinaviens durchaus alltäglich waren. Allerdings haben wir nur wenige Informationen über die praktische Organi‐ sation dieser Pilgerreisen zuhause. Neben kirchlichen und weltlichen Empfeh‐ 150 Carsten Jahnke <?page no="151"?> 159 Camillus N Y R O P , Danmarks Gildeog Lavsskraaer fra Middelalderen, 2 Bde., København 1899-1904. lungsschreiben (siehe unten Kapitel XI .a) berichten vor allem die Ordnungen (Schraen) mittelalterlicher Gilden und Bruderschaften über Pilgerfahrten ihrer Mitglieder. Schaut man sich dafür u. a. den von C AMIL L U S N Y R O P zusammenge‐ stellten Korpus der (meisten) mittelalterlich-dänischen Ordnungen an 159 , so lassen sich für acht dieser Gilden Regularien für Pilgerfahrten nachweisen: Jahr Bruderschaft oder Gilde Pilgerziele und -regularien N Y R O P (wie Anm. 159), Bd., Seite, § 1254 St. Knudsgilde in Odense Jeder Bruder auf Pilgerreise soll 3 den. von jedem Mitbruder er‐ halten 1, 28, § 39 1388 Fronleichnamsgilde der Süderharden Lollands Rom, Santiago oder Wallfahrt ultra mare, 1 den. sterl. von jedem Mitglied 1, 304, § 15 1404 St. Gertrudsgilde, Helsted auf Stevns Rom (5 den. lüb.), Santiago (5 den. lüb.), St. Olav (3 den. lüb.); Unser Lieben Frauen Aachen (3 den. lüb.) von jedem Bruder und jeder Schwester 1, 171 f., § 7 1417 Die Kaufgesellen in Ran‐ ders Rom, Santiago, Jerusalem, jedem Bruder oder jeder Schwester 1 engl. den. 1, 565, § 23 1488 St. Hansbruderschaft in Skarholt Santiago (1 ß), Jerusalem (1 ß), St. Olav (5 den.), St. Nikolaus (1 ß) von jedem Mitbruder 2, 425, § 21 1491 Die Schmiede in Roskilde Jeder Bruder oder jede Schwester auf Pilgerfahrt soll 1 Witten per Bruder und Schwester erhalten 2, 211, § 38 1512 Die Schmiede in Kopen‐ hagen Jedem Bruder oder jeder Schwester 1 engl. den. von jedem Bruder / jeder Schwester 1515 Jungfrau Marien-Bruder‐ schaft in Herslev (nur Schwestern) Rom, Santiago, St. Olav, jeder Schwester 3 den. sterl. von jeder Schwester 1, 244, § 11 Bei dieser Aufzählung werden verschiedene Aspekte deutlich. Zum ersten zählen Wallfahrten seit dem Beginn der Gilde- und Bruderschaftsaufzeich‐ 151 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="152"?> 160 N Y R O P , Danmarks Gildeog Lavsskraaer (wie Anm. 159), S. 656, § 23. 161 Codex Esromensis. Esrom Klosters Brevbog, hg. von Oluf August N I E L S E N , København 1880 / 81, Nr. 143, S. 157-159, hier S. 157. 162 Codex Esromensis (wie Anm. 161), Nr. 144, S. 159. nungen bis zur Reformation in Dänemark 1536 mit zum Unterstützungsreper‐ toire dieser Einrichtungen. In der St. Knudsgilde (einer der ältesten in Dänemark überhaupt), aber auch bei den Kaufgesellen in Randers fallen Pilgerfahrten dabei unter die Unglücksfälle im Leben; die entsprechenden Kapitel lauten von Totschlag, Feuersbrunst und Pilgerfahrt (Vm nogen kommer for mandslet eller eldbrand eller for pelægrimsferd, resp. de combustione domus) und regeln die brüderschaftliche Solidarität. In den anderen Einrichtungen ist die Stan‐ dardformulierung gleichlautend: will ein Bruder oder will eine Schwester auf Pilgerfahrt gehen / fahren, so soll … Hier ist die Pilgerschaft als Ereignis neutral wiedergegeben, und die Mitbrüder und -schwestern sind verpflichtet, den Reisenden zu unterstützen, oder, wie es bei den Kaufgesellen in Randers heißt, zu helfen, wenn er seine Wegzehrung nicht selbst aufbringen kann (och forma æy selff syn thæring at holde) 160 . Zum zweiten wird die Vielzahl der Pilgerziele deutlich. War die St. Knudsgilde in ihren Regularien noch recht unbestimmt, so markieren die anderen Gilden und Bruderschaften die Fahrrichtungen deutlich. Santiago führt dabei mit fünf Erwähnungen, gefolgt von Rom, Nidaros (St. Olav) und Jerusalem. Nur für jeweils eine Institution waren Aachen und Bari erwähnenswerte Ziele. Unterstützenswert sind dabei ausschließlich Fernpilgerfahrten. Die heimischen Pilgerziele werden nicht erwähnt. Zum dritten zeigt diese Reihenfolge auch, dass Pilgerfahrten nach Santiago seit dem 14. Jahrhundert an Konjunktur gewannen. Dieses steht im Gegensatz zur oben beschriebenen Pilgerliteratur, die ihr Augenmerk ja vor allem auf Rom (und Jerusalem) gerichtet hatte. Zum vierten sagen diese Beispiele aber nur bedingt etwas über die Finanzie‐ rung solcher Reisen aus, außer dass diese teuer waren und den Pilger unter Umständen mittellos zurückließen. So ist es kein Wunder, wenn beispielsweise 1202 der Ritter Nicolaus Nicolaisen (Nicolaus Niclason) dem Kloster Esrom seine Besitzungen in Husby und Skjærød (Holbo Harde, Dänemark) für 20 Mark Gold übergab, da er sich auf Wallfahrt begeben wolle und er sich außer Stande sieht, diese Reise selbst zu finanzieren, da es so viele Ausgaben für verschiedene notwen‐ dige Dinge geben wird (ad huius itaque itineris sustentacionem in expensarum copia propter varias rerum necessitates minus suffcientum me esse considerans) 161 . Nicolaus war auf dem Weg nach Jerusalem, wie das nachfolgende Privileg Waldemars des Siegers deutlich macht 162 , so dass seine Geldsorgen mehr als 152 Carsten Jahnke <?page no="153"?> 163 Diplomatarium Danicum, 1. Reihe, Bd. 3, København 1976, Nr. 257, S. 406 f. 164 Stockholms Stads Tänkeböcker 1514-1520 (wie Anm. 136), S. 48. 165 Volker H O N E M A N N , Eine Stralsunder Schiffspilgerfahrt nach Santiago de Compostela im Jahre 1506 in Gert Dröges Lebensbeschreibung des Stralsunder Bürgermeisters Franz Wessel, in: Literaturlandschaften. Schriften zur deutschsprachigen Literatur im Osten des Reiches, hg. von Volker H O N E M A N N / Rudolf S U N T R U P u. a (Medieval to early modern culture 11), Frankfurt / M. u. a. 2008, S. 217-226. 166 Stockholms Stads Tänkeböcker 1483-1492 (wie Anm. 134), S. 522 f., 1491 März 31. 167 Stockholms Stads Tänkeböcker 1514-1520 (wie Anm. 136), S. 8, 1514 August 23. 168 Siehe u. a. Hanserecesse, Abth. 1: Die Recesse und anderen Akten der Hansetage von 1256-1430, Bd. 5, Leipzig 1880, Nr. 128, § 3, S. 87; Nr. 158, § 3, S. 106; Bd. 6, Leipzig 1889, Nr. 557, § 27, S. 558. Siehe auch Flandrischer Copiar Nr. 9, Edition und Überset‐ zung in: Seerecht im Hanseraum des 15. Jahrhunderts. Edition und Kommentar zum Flandrischen Copiar Nr. 9, hg. von Antjekathrin G R Aẞ M A N N / Carsten J A H N K E (Veröf‐ fentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 36), Lübeck 2003, S. 7-94, hier Nr. XIII-XV, S. 16 f. 169 Missiver fra Kongerne Christiern I. s og Hans’ s Tid 2: Missiver fra Brevskrivere uden for den danske Kongefamilie, hg. von William C H R I S T E N S E N , København 1914, Nr. 127, S. 162 f. verständlich waren. Wie andere Pilger die Finanzierung regelten, bleibt dagegen unklar. Doch hatte schon 1199 Herr Jens Sunesen sein Gut in Alsted dem Kloster Sorø für 200 M für eine Fahrt nach Jerusalem verpfändet 163 und bezeugte am 7. Mai 1515 ein Stockholmer Ratsherr vor seinen Ratskollegen, dass der Bürger Lasse Olsson seiner Frau den dritten Pfenning ausbezahlt, d. h. sein Erbe verteilt habe, bevor er sich zu einer Pilgerfahrt zum hl. Jakob aufmachte 164 . Eine Pilgerfahrt konnte die in der Heimat Zurückgebliebenen in finanzielle Sorgen stürzen. Für die genauen Fahrtmodalitäten gibt es dagegen fast gar keine Hinweise. Die meisten skandinavischen Pilger nach Santiago werden die Angebote der Schiffspilgertouristik angenommen haben, wie sie u. a. für Stralsund be‐ schrieben sind 165 . Aus Schweden sind die ersten Hinweise für Pilgerschiffe aus Stockholm aus den Jahren 1491 166 und vermutlich für das Jahr 1514 bekannt 167 . Und am 11. Januar 1501, inmitten der Sturmsaison und des Schifffahrtverbotes im Hanseraum 168 , empfahl der Stockholmer Rat dem Reichsrat Heinrich Krum‐ mendik auf Elfsborg den Schiffer Diderik Pasche sowie die Stockholmer Bürger Mathias Lutke und Hermen [Lakune], die ihren Kraweel zu einer Pilgerreise nach Santiago ausgerüstet hatten, und baten ihn, diese Pilgergruppe bei Bedarf zu unterstützen 169 . Bisher fehlen aber Beschreibungen für solche Schiffsreisen aus Skandinavien. Pilger von den atlantischen Inseln, aber auch aus dem 153 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="154"?> 170 So erwähnte 1367 König David Bruce von Schottland Pilgerfahrten von Orkneys explizit, als er den Verkehr mit den Orkney-Inseln regulierte. Regesta Norvegica 6: 1351-1369, Oslo 1993, Nr. 1226, S. 408. 171 Gryt Ant V A N D E R T O O R N -P I E B E N G A , Deventer en Utrecht. Doorgangsplaatsen voor pelgrims uit Ijsland, in: Spiegel historiael 25 (1990), Nr. 4, S. 194-198. 172 Regesta Norvegica 1: 991-1263, Christiania 1898, Nr. 623, S. 200: Geleitbrief König Heinrichs III. von England für Jarl Skule aus Norwegen auf seiner Pilgerfahrt nach Jerusalem, 1233 Juli 29; Nr. 590, S. 191: Anweisung Heinrichs III. an die Vögte in Ipswich, ein beschlagnahmtes norwegisches Schiff freizulassen, da dieses sich auf Pilgerfahrt befände, 1229 Oktober 9. 173 Siehe hier z. B. Jacob V O N M E L L E , De itineribus Lubecensium sacris, seu de religiosis et votivis eorum …, Lübeck 1711; Marie-Luise F A V R E A U -L I L I E , Die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela: Perspektiven hansestädtischer Testamente, in: Der Kult des Apostels Jakobus d. Ä. in norddeutschen Hansestädten, hg. von Hedwig R Ö C K E L E I N , ( Jakobus-Studien 15), Tübingen 2005, S. 27-48. 174 https: / / sok.riksarkivet.se, Abfrage vom 30. September 2020. 175 Testamenter fra Danmarks Middelalder indtil 1450, hg. von Kristian E R S L E V , København 1901. mittleren Norwegen werden mit Sicherheit die Schiffsroute gewählt haben 170 ; viele haben dabei wahrscheinlich den Weg über Deventer und / oder Utrecht 171 sowie England 172 genommen, aber auch hier fehlen aussagekräftige Quellen. Die Landroute nach Italien und von dort aus weiter nach Jerusalem wird dagegen in einigen Reisebeschreibungen erwähnt, u. a. in denen des Björn Ein‐ arsson (siehe unten Kapitel X) oder des Holger Gregersen Ulfstand zu Skabersø und des Johan Oxe zu Nielstrup (siehe unten Kapitel XIII ). Hier überlappen sich die Erfahrungen der skandinavischen selbstverständlich mit denen der anderen, mitteleuropäischen Pilger. IX. Spuren der Wallfahrten 1 a) Testamente Die deutlichen Spuren, die Wallfahrten in den Testamenten z. B. der wendischen Hansestädte hinterlassen haben 173 , lassen sich in Skandinavien nicht wieder‐ finden. Das liegt vor allem daran, dass die Anzahl vor allem bürgerlicher Testamente des Spätmittelalters äußerst gering ist. Insgesamt hat die Hauptkar‐ tothek des schwedischen Diplomatariums für die Zeit bis 1401 nur 102 Einträge für das Stichwort „Testament“ 174 , wovon allerdings nur 34 tatsächlich Testa‐ mente wiedergeben. Für Dänemark konnte K R I S TIAN E R S L E V bis 1448 nur 93 (vor allem geistliche) Testamente sammeln 175 . Damit fällt eine der wichtigsten Informationsquellen für diesen Bereich weg. Unter diesen wenigen Testamenten erwähnen nur drei Wallfahrten: Im Jahr 1295 beschreibt der Ripener Bürger 154 Carsten Jahnke <?page no="155"?> 176 E R S L E V , Testamenter (wie Anm. 175), Nr. 19, hier S. 41 6 . 177 E R S L E V , Testamenter (wie Anm. 175), Nr. 91, hier S. 212 5 . 178 Repertorium Diplomaticum Regni Danici Mediævalis, hg. von William C H R I S T E N S E N , Reihe 2, Bd. 1: 1451-1466, København 1928, Nr. 2164, S. 704. 179 Norges Kirker, http: / / www.norgeskirker.no/ wiki/ Eidfjord_gamle_kyrkje#cite_note-39 (letzter Abruf: 30. September 2020). 180 Bendix Edv B E N D I X E N , Kirkerne i Søndre Bergenhus Amt. Bygninger og Inventarium, Bergen 1904-1913, S. 490. 181 Siehe zu diesem Motiv Ulla H A A S T R U P , Apostlen Jacob den ældre som pilgrim til Santiago de Compostela, in: Pilgrimsvägar och vallfartskonst. Studier tillägnade Jan Svanberg, hg. von Margareta K E M P F F Ö S T L I N D (Scripta minora 6), Stockholm 2002, S. 125-150. Nicolaus Hamundsen, dass sein Bruder Hamund, Franziskaner in Odense, sich nun in Kürze (infra breve) auf Pilgerfahrt begeben werde 176 . 1447 befiehlt der Ritter Anders Nielsen ( Jernskæg) in seinem Testament seiner Gattin, jeweils einen Pilger nach Rom und Jerusalem zu senden 177 . Und am 19. Oktober 1466 bestimmt Erengisl Nielsson in Hamersted, Dänemark, dass er und seine Frau übereingekommen seien, nach dem Ableben des jeweils anderen Ehepartners ihre Güter zur Rettung der Seelen zu veräußern, und dass sie weiterhin für 500 rheinische Gulden die Verpflichtung, Pilger zur Rettung ihrer Seelen nach Rom, Jerusalem und Santiago zu senden, an ihren Erben, Herrn Erich Akesson, verkauft hätten 178 . Aufgrund dieser dünnen Basis können daher keine analytischen Schlüsse gezogen werden. b) Pilgergräber Fast schon aussagekräftiger sind dagegen die Gräber bzw. Grabsteine von Pilgern. Hierbei sind zwei Gruppen zu unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir Grabsteine mit Pilgermotiven. Eines der berühmtesten Beispiele ist der Grabstein für Rike-Ragna Åsolsdatter in Eidfjord, Norwegen, aus der Zeit um 1300 179 . Der Legende nach gerieten Rike-Ragna und ihr Mann beim Rudern in einen solchen Streit, dass sie ihn kurzerhand auf einer Klippe aussetzte und ihn vor Einsetzen der Flut nicht wieder abholte, woraufhin er ertrank 180 . Zur Buße wallfahrte Rike-Ragna nach Santiago und stiftete eine Kirche zu Ehren des hl. Jacobus. Auf ihrem Grabstein reicht Rike-Ragna in Devotionshaltung dem hl. Jakob in Gestalt eines Pilgers 181 die Kirche von Eidfjord. 155 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="156"?> 182 Victor H E R M A N S E N / Paul N Ø R L U N D , Danmarks Kirker 5: Sorø Amt 1, København 1936, S. 97, http: / / danmarkskirker.natmus.dk / uploads / tx_tcchurchsearch / Soroe_0017-010 8.pdf (letzter Abruf: 18. Juli 2021). Abb. 4: Grabstein der Rike-Ragna Åsolsdatter in Eidfjord, Eidfjord gamle kyrkje Neben diesen Stifterbildern haben wir auch eine Reihe von Grabsteinen pro‐ fessioneller Pilger. Die berühmtesten sind zwei dänische Grabsteine aus den seeländischen Klöstern von Sorø und Esrom. Der eine lag bis 1811 in der Klosterkirche von Sorø und zeigte Bruder Jonas, der zweimal Jerusalem, dreimal Rom und einmal Santiago besuchte 182 . 156 Carsten Jahnke <?page no="157"?> 183 Diplomatarium Danicum nr. 14 050 412 002, https: / / diplomatarium.dk / dokument / 14 0 50 412 002 (letzter Abruf: 17. Juli 2021). 184 Ebbe N Y B O R G / Niels Jørgen P O U L S E N , Danmarks Kirker 17, Heft 16: Tyrsted Kirke, København 2013, S. 1649, http: / / danmarkskirker.natmus.dk/ uploads/ tx_tcchurchsearc h/ Vejle_1633-1654.pdf (letzter Abruf: 18. Juli 2021). Abb. 5: Grabstein des Bruders Jonas aus Sorø, ehemals Klosterkirche Der zweite stammt aus dem Umfeld des Zisterzienser-Klosters von Esrom. Esrom und Sorø scheinen einen gewissen Ruf hinsichtlich ihrer Wallfahrtsor‐ ganisation genossen zu haben, beauftragte doch selbst Königin Margarethe von Norwegen diese Klöster mit der Durchführung der von ihr geplanten Wallfahrten 183 . Im Falle Esroms handelt es sich um den Grabstein für den klösterlichen Cellarius Peder, der ebenfalls in Pilgertracht abgebildet wurde 184 . Inwieweit sich das Pilgern dieser Brüder mit den Regeln ihrer Mutterhäuser in Einklang bringen ließ, ist noch zu klären. Neben diesen beiden bekannten Grabsteinen wurde vor kurzem noch auf einen weiteren hingewiesen, der im Innenhof des Schlosses Rosenholm auf Djursland (Dänemark) eingemauert 157 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="158"?> 185 Peter D Y R B Y , Rosenholms pilgrimssten, in: Pilgrimmen 6 (2006), Heft 12, S. 8-11, https : / / santiagopilgrimme.dk/ wp-content/ uploads/ Nr-12-nov-2006-Pilgrimmen.pdf (letzter Abruf: 18. Juli 2021). 186 Regesta Norvegica, Oslo 1993, 6: 230, S. 97. ist und offensichtlich aus dem Abbruchmaterial einer mittelalterlichen Kirche stammt 185 . Abb. 6: Grabstein von Bruder Peder Kæller (Kellermeister des Klosters Esrum) in der Kirche von Tyrsted, nun Wand im Turm, vormals unter dem Chorbogen Dass diese professionellen Pilger nicht selten waren, zeigen nicht allein Königin Margarethes Anordnungen zur Aussendung von über 130 Pilgern sondern auch andere Quellen. So bezeugt z. B. am 24. August 1353 der königliche norwegische Schatzmeister (féhirði) in Nidaros, dass ein gewisser Bjørn Vetrlidesson nicht nur ein guter und zuverlässiger Mann sei, sondern, dass er sich auch bereits zwölfmal auf Pilgerfahrt zum hl. Olav nach Nidaros begeben habe 186 . Dieses Schreiben 158 Carsten Jahnke <?page no="159"?> 187 A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken (wie Anm. 6). 188 A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken (wie Anm. 6), S. 184 f. 189 Siehe schon Enno B Ü N Z , Santiagopilger und Jakobusverehrung zwischen Nord- und Ostsee im 12. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 118 (2000), S. 35-56, hier S. 44 f. 190 Hanne Dahlerup K O C H , Den arkæologiske udgravning, in: Ahlgade 15-17, Holbæk. En arkæologisk og historisk undersøgelse fra 1200 til nutiden, hg. von Else A S M U S S E N (Aarbøger for Nordisk Oldkyndhed og Historie 1994 / 95), København 1997, S. 11-192, hier S. 139-144. 191 Hanna D A H L S T R Ö M u. a., Beretning for Skt. Clemens I og III. Udgravning af den nordlige del af kirkegården tilhørende den middelalderlige Skt. Clemens kirke, København - februar til juli 2008, København 2009, S. 35. kann damit durchaus als Referenz für weitere Wallfahrtsaufträge verstanden werden. c) Pilgerzeichen Aber nicht nur Grabsteine zeugen von der Pilgertätigkeit in Skandinavien, sondern (natürlich) auch die Funde zahlreicher Pilgerzeichen, entweder in situ an Glocken oder Taufen oder aber in Gräbern und in anderen archäologischen Funden. L A R S A N D E R S S O N in Lund hat im Zuge seiner Habilitation 1989 einen ersten umfassenden Überblick über diese Fundgruppe zusammengestellt 187 . Auf dem Stand von 1988 / 89 kann er einen Ausbreitungsverlauf zeigen, der sich von Südwestskandinavien (vor allem Dänemark) ausgehend im 13. Jahrhundert im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts immer weiter über ganz Skandinavien erstreckte 188 . Dieses Ergebnis ist aber stark von der Tatsache beeinflusst, dass mit umfassenden Friedhofsausgrabungen von in der Reformation niedergelegten Kirchen in Lund hier ein besonderer archäologischer Fundschwerpunkt vor‐ handen war. Zahlreiche und ebenfalls umfassende Ausgrabungen haben seitdem das Fundbild verändert 189 . So wurden u. a. in Holbæk auf Seeland zahlreiche Pilger‐ muscheln gefunden 190 ; auch haben die Ausgrabungen im Zusammenhang mit dem Bau der Metro in Kopenhagen zahlreiche neue Funde zutage gefördert. Hierbei ist vor allem auf das 2008 ausgegrabene Grab 313 der Klementikirche in Kopenhagen hinzuweisen, in dem zwei Pilgermuscheln in situ am Skelett eines unbekannten Pilgers gefunden wurden 191 . 159 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="160"?> 192 Zum generellen Vorkommen von Jakobsmuscheln (Ibsskaler) in Skandinavien siehe A L M A Z Á N , Gallaecia Scandinavica (wie Anm. 5), S. 205-231; Vincente A L M A Z Á N , The pilgrim-shell in Denmark, in: The Pilgrimage to Compostela in the Middle Ages. A Book of Essays, hg. von Maryjane D U N N / Linda Kay D A V I D S O N (Garland Reference Library of the Humanities 1829), New York 1996, S. 131-142. 193 Lars A N D E R S S O N , Pilgrimsmärken från vägarna mot Compostela, in: K E M P F F Ö S T L I N D , Pilgrimsvägar och vallfartskonst (wie Anm. 181), S. 95-124. 194 Riksantikvarieämbetet, Inventarienummer 35 367, Fundnnummer 54, SHM Föremålsi‐ dentitet 1 200 411, http: / / www.kringla.nu/ kringla/ objekt? text=pilgrimsmärke+santiago &referens=shm/ object/ 1200411 (letzter Abruf: 30. September 2020). 195 http: / / www.kringla.nu/ kringla/ objekt? text=pilgrimsmärke+santiago&referens=shm/ media/ 318364 (letzter Abruf: 30. September 2020). Abb. 7: Grab 313 auf dem Friedhof der St. Klementikirche in Kopenhagen, Ausgrabung 2008 Erwartungsgemäß lassen sich vor allem Jakobsmuscheln 192 im Fundmaterial nachweisen, da deren kristalline Substanz den Konservierungsbedingungen am besten entspricht. Auch gibt es Pilgerzeichen von Orten auf dem Wege nach Santiago 193 . Olivenzweige aus Jerusalem, wie auf den Grabsteinen von Jonas und Peder abgebildet, haben den Zahn der Zeit meist nicht überstanden. Auch gibt es jetzt u. a. den Fund einer gut erhaltenen Pilgermuschel aus dem Olavskonvent in Skänninge, Östergötaland, Schweden, aus der Zeit zwischen der Mitte des 13. und der Mitte des 14. Jahrhunderts 194 , der A N D E R S S O N S Karte bereits wesentlich revidiert. Auch zeugen neuregistrierte Funde aus den Klös‐ tern von Varnhem und Vreta in Schweden 195 oder aus norwegischen Orten, 160 Carsten Jahnke <?page no="161"?> 196 https: / / digitaltmuseum.no/ 021025915198/ pilegrimsmerke sowie vor allem https: / / digit altmuseum.no/ 021025915338/ pilegrimsmerke (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 197 Kulturhistorisk museum, Oslo, MuseumNo: C35 300 (Katalogtekst), MuseumSubNo: 1908 / 01, http: / / www.musit.uio.no/ artefacts/ khm/ search/ ? oid=778209&museumsnr=C 35300&f=html (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 198 https: / / digitaltmuseum.no/ 021017120607/ pilegrimsskjellet-fra-as-i-idd-er-av-bly-det-e r-2-cm-bredt-19-cm-hoyt-og (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 199 Detlev K R A A C K , Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. In‐ schriften und Graffiti des 14.-16. Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse 224), Göttingen 1997. 200 K R A A C K , Zeugnisse (wie Anm. 199), S. 197-199, K61. 201 K R A A C K , Zeugnisse (wie Anm. 199), S. 219 f., K93. 202 Vincente A L M A Z Á N , Las peregrinaciones del Reino de Dinmarca a Santiago de Compostela, in: Hispania Sacra 51 (1999), S. 639 -653, hier S. 645 -647. wie z. B. vom Markt von Hamar, Hedmark fylke 196 , aus Skiern, Telemark 197 , oder die bleierne Nachahmung einer Pilgermuschel auf dem Hof von Ås in Idd 198 , Halden kommune, Østfold fylke, Norwegen, von der Resonanz der Pilgerreisen in Skandinavien. Die umfassenden Aussagen A N D E R S S O N S bedürfen daher nun einer umfassenden Neujustierung anhand des seit 1988 gefundenen und registrierten Materiales. d) Graffiti skandinavischer Pilger an den heiligen Stätten Wie die umfassende Arbeit von D E T L E V K R AA C K199 zeigen konnte, haben sich Pilger auch an den heiligen Stätten selbst verewigt - darunter auch einige wenige Skandinavier. Eindeutig lassen sich von K R AA C K u. a. Detlev Schinkel aus einer dänisch-schleswig-holsteinischen Familien identifizieren, der wohl zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Jerusalem war 200 , sowie Erich von Ågård (Gyldenstjerne) 201 . Daneben sind u. a. Runengraffitis aus der Hagia Sophia sowie von den Löwen des Hafens von Piräus bekannt, die von der langen Anwesenheit der Skandinavier im Mittelmeerraum zeugen. e) Jakobskirchen und -kapellen Auf weit sichererem Grund stehen wir dagegen bei einer Inventarisierung der dem hl. Jakob geweihten Kirchen und Kapellen in Skandinavien, vor allem seit den Arbeiten von V IN C E N T E A LMAZÁN . Für Dänemark allein konnte er 24 solcher Kirchen und Kapellen nachweisen 202 . Neben einer weiten Verbreitung des Jakobspatroziniums in Dänemarks gibt es eine auffallende Konzentra‐ tion von Jakobskapellen und -kirchen am Heerweg in Sönderjütland von der (heute verschwundenen) Jakobskapelle in Genner (Ksp. Øster-Løgum) bis zur Jacobikirche in Moldenit (Angeln) und der bischöflichen Kirche 161 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="162"?> 203 A L M A Z Á N , Peregrinaciones (wie Anm. 202), S. 646. Siehe auch einleitend Henrik B E C K E R -C H R I S T E N S E N , Hærvejen i Sønderjylland. Et vejhistorisk studie, Aabenraa 1981, S. 50. 204 Santiago B A R R E I R O , Pilgrims from the land of sagas: Jacobean devotion in me‐ dieval Iceland, in: Journal of Medieval Iberian Studies 12 (2020), S. 70 - 83, DOI: 10.1080 / 17 546 559.2019.1 705 373, hier S. 75 f.; Margaret C O R M A C K , The saints in Iceland. Their veneration from the conversion to 1400 (Subsidia hagiographica 78), Bruxelles 1994, S. 108. 205 H A A S T R U P , Apostlen Jakob (wie Anm. 181), S. 141. 206 A L M A Z Á N , Gallaecia Scandinavica (wie Anm. 5), S. 144. in Schwabstedt 203 . Die Anordnung lässt die Vermutung aufkommen, den Heerweg an dieser Stelle schon als aktiven Teil des Pilgerzuges nach San‐ tiago zu interpretieren. Allerdings gibt es bisher keine Hinweise darauf, warum ausgerechnet dieser Teilabschnitt dem hl. Jakob besonders zugeeignet gewesen sein soll. Auf Island dagegen war die Verehrung des Jacobus Maior nicht sehr verbreitet. Nur fünf Dedikationen lassen sich bisher überhaupt nachweisen 204 , doch hat dieses die Isländer nicht von Pilgerfahrten nach Santiago abgehalten (siehe unten Kapitel X). Ein Inventar der Jacobikirchen und -kapellen Norwegens und Schwedens lässt, nach dem Erkenntnisstand des Verfassers, noch immer auf sich warten. f) Abbildungen des hl. Jakob Abbildungen des hl. Jakob, sei es in Form von Sippenbildern, Einzel- oder Andachtsformen oder in Altären, sind dagegen aus allen Gebieten Skandina‐ viens nachgewiesen und zumeist von Kunsthistorikern zusammengestellt worden. Neben einigen herausragenden Kalkmalereien, wie z. B. der Abbil‐ dung St. Jakobs als Pilger in der Kirche von Ballerup, Dänemark 205 , ist hier vor allem auf eine Seitenwange des Chorgestühls der Kathedralkirche von Kirkjubøur auf den Färöer-Inseln hinzuweisen 206 , die ebenfalls den hl. Jakob als Pilger darstellt. 162 Carsten Jahnke <?page no="163"?> 207 B A R R E I R O , Pilgrims (wie Anm. 204), S. 71-73. Abb. 8: Jacobus Maior in der Kirche von Ballerup Aus Island existiert für die Zeit kurz vor der Reformation eine Inventarliste der Kirchen des Bistums Hólar. In dieser sind zahlreiche Figuren des Apostels aufgeführt; auch findet sich im isländischen Teiknibók (Reykjavík, Stofnun Árna Magnússonar, AM 673 a 4to III , 10v., ca. 1450-1475) eine Zeichnung des Jakobus als Pilger 207 . Übersichtsdarstellungen aus Norwegen und Schweden sind dem Verfasser unbekannt. X. Die Pilgerreisen: Das Beispiel Bjørn Ejnarsson Jorsalfari (ca. 1350-1413) Nur in relativ wenigen Fällen sind wir über die Umstände, unter denen ein Pilgergelübde abgelegt wurde, informiert. Im Normalfall erfahren wir nur, dass eine Person auf Pilgerreise gewesen ist oder sie zu unternehmen gedenkt. Anders ist es im Falle des isländischen Großbonden (Großbauern / Häuptlings) Bjørn Ejnarsson aus Vatnsfjirði, Nordwest-Island. Dieser hatte nicht nur meh‐ 163 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="164"?> 208 Siehe hierzu einleitend Rudolf S I M E K , Altnordische Kosmographie. Studien und Quellen zu Weltbild und Weltbeschreibung in Norwegen und Island vom 12. bis zum 14. Jahr‐ hundert (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 4), Berlin 2012, S. 295-297. 209 Jón J Ó H A N N E S S O N , Reisubók Bjarnar Jórsalfara, in: Skírnír 119 (1945), S. 68-96; Arngrimi Jonæ opera Latine conscripta 3, hg. von Jakob B E N E D I K T S S O N (Bibliotheca Arnamag‐ næana 11), Hafniæ 1952, Specimen Islandiæ historicum, S. 341, Abschnitt VI Biørno Enarius; Arngrimi Jonæ opera Latine conscripta 4: Introduction and Notes, hg. von Jakob B E N E D I K T S S O N (Bibliotheca Arnamagnæana 12), Hafniæ 1957, S. 470 f., Kommentar zu 341 15- 342 12 . 210 Siehe seinen Stammbaum in: Handritasafn Landsbókasafns 3, hg. von Grímur M. H E L G A S O N / Lárus H. B L Ö N D A L , Reykjavík 1970, Nr. XI, Seldælir. 211 S I M E K , Kosmographie (wie Anm. 208), S. 295. 212 Grønlands historiske mindesmærker 3, Kjøbenhavn 1845, Nr. 47; https: / / heimskringla. no/ wiki/ Grønlandske_Diplomer_(CCR/ FM)#cite_ref-146 (letzter Abruf: 18. Juli 2021); Diplomatarium Islandicum. Íslenzkt Fornbrèfasafn … 3: 1269-1415, Reykjavik / Kaup‐ mannahöfn 1896, Nr. 367, S. 432-435. Um welche Inseln es sich handelt, ist bis heute nicht ganz klar. Das Gunnbjørnfjeld (Hvitsark) liegt an der Ostküste Grönlands. 213 Grønlands historiske mindesmærker 3 (wie Anm. 212), Nr. 47. rere Pilgerreisen unternommen, sondern für diese auch Aufzeichnungen, das Reisubók Bjarnar Jórsalfara 208 , anfertigen lassen, welches 1625 und wohl auch noch 1633 vorhanden war, als der Gelehrte Arngrímur Jónsson daraus zitierte 209 . Aus Auszügen aus diesem Reisebuch und anderen Dokumenten lässt sich der Handlungsablauf zumindest in groben Zügen rekonstruieren. Bjørn Ejnarsson, der aus einem reichen Geschlecht auf dem Hof Vatnsfjirði stammte, wurde um 1350 geboren 210 . Neben der Verwaltung seines Erbes und seiner Aufgaben als Großbonde zog es ihn schon früh auf Handels-, aber auch auf Pilgerreisen. So reiste er 1379 ein erstes Mal auf Pilgerreise zum hl. Olav nach Nidaros und nach Rom 211 . Im Jahr 1385 wurden er und seine Handelsgruppe, félag, in einem Sturm auf die Gunnbjörninseln, wohl an der Ostküste Grönlands, abgetrieben 212 . Es war dieser Aufenthalt auf Grönland, der im Mittelalter und bis heute für Aufmerksamkeit sorgt. Für einige Zeitgenossen Bjørns war ein Aufenthalt von Kaufleuten auf Grönland ein klarer Verstoß gegen das Handelsmonopol der Bergener Kaufleute. Sie strengten deshalb 1389 einen Prozess in Bergen an, bei dem die genauen Umstände des Aufenthaltes untersucht wurden 213 . Gleichzeitig faszinierte deren Aufenthalt in Ostgrönland die Forschung seit dem 16. Jahrhundert, weshalb auch Bjørns Reisebuch immer wieder zu Rate gezogen wurde. Allerdings waren seine Pilgerreisen für die protestantischen Gelehrten in Skandinavien von mehr als untergeordneter Bedeutung. Für uns aber ist eine Passage des Prozessprotokolles von 1389 besonders aufschlussreich: 164 Carsten Jahnke <?page no="165"?> 214 Grønlands historiske mindesmærker 3 (wie Anm. 212), Nr. 47. „let sveria fyrnempda Grönlandzfara, er so svoro med fullom bokareide, styromen ok sveinar, at þeer varo i hafve i storom vanda ok vada ok liifshaaska, fyrir storum siojaklum ok isom, ok fengo storan skada a þeira skip om er brotnado ofvan sio, ok lofuado sigh til heilagra stada fyr en þeir fengo land j þvilike store naudsyn“. 215 Ähnliches hatten schon Gudleif Gudlögsön und seine Mitreisenden getan, als sie in Seenot nach Amerika abgetrieben worden waren. Grønlands historiske mindesmærker 3 (wie Anm. 212), Fußnote 27, S. 142. 216 S I M E K , Kosmographie (wie Anm. 208), S. 296 nach AM 768 4 to . 217 Diplomatarium Islandicum 3 (wie Anm. 212), Nr. 580, S. 700-703, hier S. 703. 218 J Ó H A N N E S S O N , Reisubók (wie Anm. 209), S. 83; B E N E D I K T S S O N , Introduction (wie Anm. 209), S. 471, zu 341 17 . Der Name Ólöf für Björns Frau ist einer Verwechslung mit der Ehefrau von Bjørns Enkel, Bjørn ƿorleifson, Óløf Loptsdóttir, geschuldet. 219 Diplomaticum Islandicum 3 (wie Anm. 212), Nr. 367, S. 436. Und er [Erlender Filpusson, der féhirði, des Königs Stellvertreter] ließ die genannten Grönlandfahrer mit vollem Eid auf die Bibel schwören, Steuermann und Mannschaft, dass sie auf dem Meer in solch große schwierige Verhältnisse und Probleme und Lebensgefahr geraten waren, dass dort starker Nebel und große Eisberge waren und auch, dass sie darüber hinaus großen Schaden an ihrem Schiff hatten, und dass sie gelobten, an die Heiligen Stätten zu pilgern, wenn sie in ihrer Not nur das Land erreichten 214 . Wir haben hier eine nahezu klassische Situation: in schwerer Seenot, umgeben von gefährlichen Eisbergen, tun die Seefahrer alles, um heil an Land zu kommen, wozu u. a. auch die Ablegung eines Pilgergelübdes gehörte 215 . Bjørn Ejnarsson aber wurde nach seiner Rückkehr stark in innerisländische Angelegenheiten verwickelt, so dass er zuerst wohl nur nach Rom pilgerte (1389-1391) 216 , weitere Pilgergelübde aber seine Seele belasteten. Erst 1405 sah er sich im Stande, seine abschließende Reise anzutreten, oder, wie er in seinem Testament vom 25. Juli 1405 schrieb: und so bin ich schuldig, zum hl. Jakob zu pilgern (Item er ek skylldugr, ath ganga til sanctum jacobum) 217 . Es ist diese Pilgerreise, die im Reisebuch beschrieben war, die aber aufgrund des Desinteresses seiner protestantischen Nachfahren nur in sehr kurzen Zusammenfassungen überliefert ist. Bjørn Ejnarsson reiste zusammen mit seiner Frau, die in den Quellen Ólöf oder Solveig ƿorsteinsdottir, Tochter des Lagmannes ƿorstein Eyolfsson, genannt wird 218 . Von Island aus segelten sie wohl nach Bergen und reisten von dort über den Landweg nach Rom und von dort aus nach Venedig. Die Überfahrt ins Heilige Land muss erlebnisreich gewesen sein, zumindest berichtet die Handschrift AM 115 8 vo aus dem Jahr 1628 in einem Auszug aus dem Reisubók davon, dass das Paar auf der Überfahrt von Venedig alle Fahrtgenossen verloren habe 219 . 165 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="166"?> 220 Lögmanns-Ánnall (AM 420B) für das Jahr 1405, in: Gustav S T O R M , Islandske Annaler indtil 1578 (Det Norske Historiske Kildeskriftfonds skrifter 21), Christiania 1888, S. 288. 221 Lögmanns-Ánnall (wie Anm. 220), S. 290. 222 Diplomatarium Islandicum, Band 3 (wie Anm. 215), Nr. 580, hier S. 701. Nach ihrer Rückkehr nach Venedig reiste Solveig ƿorsteinsdottir allein heim nach Bergen, wohingegen ihr Mann Bjørn sich auf den Weg zum hl. Jakob machte. In Compostela erkrankte er und musste dort einen halben Monat bleiben, bis er auf dem Seeweg nach Flandern weiterfahren konnte. Von dort aus machte er einen Abstecher zum hl. Thomas von Canterbury, bis er dann wohl über Bergen mit seiner Frau wieder nach Island zurückkehrte 220 . Wann genau er wieder auf Island ankam, ist nicht ganz geklärt; die Lögmanns-Ánnaller ( AM 420B) vermelden für das Jahr 1411 die glückliche Heimkehr Bjørns, allerdings mit dem Nachsatz, dass er sich vorher auf den Shetlandinseln aufgehalten habe (Vtkuoma Biorns bonda Einars sonar i ƿerneyiar svndi med heilbrigt. hafdi hann legit j Hialtlandi um uetrinn adur) 221 . Bjørn Ejnarsson starb 1415 in Hvalfirði und wurde in der Kathedrale von Skálholt beigesetzt. Bjørn Ejnarsson erhielt für seine Reisen in der isländischen Historiographie den Beinamen Jorsalfari, der Jerusalemfahrer. Er ist dabei ein typischer Vertreter der (adligen) Pilgerreisenden um 1400. Die Selbstverständlichkeit, mit der er dreimal von Island aus nach Rom und jeweils einmal zu den anderen, wich‐ tigen Pilgerstätten wallfahrtete, zeugt von der Internationalität und mentalen geographischen Weite der Skandinavier zu dieser Zeit. Es ist auch nicht zu vergessen, dass die Entfernung zwischen Reykjavik und Bergen ca. 2.500 km und die zwischen Bergen und Jerusalem nochmals ca. 4.000 km beträgt. Seine Wallfahrten geschehen dabei zur gleichen Zeit wie die von seiner Landesherrin, Margarethe von Norwegen, angeordneten und angeregten europaweiten Pilger‐ fahrten (siehe oben Abschnitt VII .d). Schaut man sich weiterhin noch einmal das Testament Bjørn Ejnarssons von 1405 an, so zeugt dieses von einer tiefen, verinnerlichten Religiosität. So beginnt er es mit den Worten In GO ttes Namen. Amen. So setze ich, Bjørn Ejnarsson, gesund an Leib und Seele mein Testament zu GO ttes Lob und Ehren und seiner gesegneten Mutter und keuschen Jungfrau Sancta Maria und besonders dem Heiligen König Olav und allen GO ttes Heiligen zu Ehren [mögen sie einem armen Sünder zur Sündenvergebung und Seelenhilfe beistehen] 222 . Zum Grabe Olavs in Nidaros (Trodheim) ist er wohl ebenso gepilgert wie zu den anderen heiligen Stätten. Seine Pilgerreisen scheinen dabei einen anderen Charakter gehabt zu haben als die des St. Rǫgnvaldr noch zweihundert Jahre zuvor. Bjørn Ejnarsson ist als ein überzeugter Pilger zu bezeichnen, und seine Bestattung in 166 Carsten Jahnke <?page no="167"?> 223 Manuale Curatorum Secundum usum ecclesie Rosckildensis. Katholisches Ritualbuch der Diözese Roeskilde im Mittelalter, hg. von Joseph F R E I S E N , Paderborn 1898, S. 51-56. 224 Wolfgang P E T K E , Der rechte Pilger. Pilgersegen und Pilgerbrief im späten Mittelalter, in: Peter A U F G E B A U E R u. a. (Hg.), Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken (Veröffentlichungen der His‐ torischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232), Hannover 2006, S. 361-390; jetzt in einer erweiterten Fassung in: Wolfgang P E T K E , Aufsätze zur Pfarreigeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 52), Göttingen 2020, S. 323-357, hier S. 329-333. 225 Siehe in einer etwas moderneren Fassung: Rituale Romanum Pauli V Pontificis Maximi jussu editum aliorumque Pontificum cura recognitum atque auctoritate SSMI D. N. Pii Papæ XI, Vaticanum 1925, S. 195, Benedictio peregrinorum. 226 Manuale Curatorum (wie Anm. 223), S. 55, Anm. 1. der Domkirche Nordislands zeugt davon, dass auch seine Zeitgenossen diesen Glauben anerkannt haben. XI. Spuren der Wallfahrten 2: Kirchliche Zeugnisse der Wallfahrt Pilgerfahrten waren und sind nicht allein weltliche und ökonomisch kostspie‐ lige Angelegenheiten. Sie haben, wie bei Bjørn Ejnarsson gesehen, auch eine religiöse und - damit verbunden - eine liturgische Seite. Aus Skandinavien besitzen wir einige wenige verstreute und bisher nicht systematisch untersuchte Zeugnisse kirchlicher Riten im Zusammenhang mit Pilgerfahrten. a) Segen und andere liturgische Elemente sowie kirchliche Empfehlungsschreiben Im Manuale Curatorum Rosckildensis von 1513 findet sich unter Caput IX ein Ritual Super Peregrinus, beginnend mit der Lesung von Psalm 22 (Dominus regit me), gefolgt von den weiteren Psalmen 24 (Ad te leuaui animam meam), 118 (Beati immaculati in via) und 120 (Leuaui oculos meos). Daran schließt sich ein Gebet (Oratio) sowie eine Benedictio der Pilgertasche und des Pilgerstabes an, bevor dem Pilger beides übergeben wurde: Accipe hanc peram et hunc baculum itineris tui. In nomine domini ihesu cristi et dominus noster omnipotens qui famulo tuo thobie angelum suum raphaelem ad custodiam sui misit Ipse tibi angelum suum bonum previum mittat qui te eum pacem ad loca destinata deducat et ad propria incolumem perducat 223 . Dieses Ritual, welches am Beginn jeder Pilgerfahrt stand 224 , findet sich (natür‐ licher Weise) im Rituale Romanum 225 , allerdings fehlen dort Oratio, Segnung der Tasche und des Stabes sowie die Überreichung 226 . Der Liber Agendarum Sleszwicensis aus dem Jahr 1512 dagegen hat die Teile des Rituale Romanum 167 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="168"?> 227 Liber Agendarum ecclesie et diocesis Sleszwicensis. Katholisches Ritualbuch der Diö‐ zese Schleswig im Mittelalter, hg. von Joseph F R E I S E N , Paderborn 1898, S. 156 f. 228 Regesta Norvegica 3: 1301-1319, Oslo 1983, Nr. 83, S. 51 f. 229 P E T K E , Rechte Pilger (wie Anm. 224), S. 333-337. 230 Formularia Lincopensia. Zwei spätmittelalterliche Briefsteller aus dem Bistum Linkö‐ ping (Cod. Upsal. C 204), hg. von Jan Ö B E R G (Studia Latina Stockholmiensia 40), Stockholm 1997, Nr. II 72, S. 86. 231 Ö B E R G , Formularia (wie Anm. 230), Nr. I 10, S. 49. 232 Ö B E R G , Formularia (wie Anm. 230), Nr. II 72, S. 86. 233 P E T K E , Rechte Pilger (wie Anm. 224), S. 334 f. nicht angeführt, dagegen unter Caput XXV aber eine selbständige Segnung von Tasche und Stab in zwei Teilen sowie eine andere Überreichungsformel 227 . Mit dem kirchlichen Segen allein war es aber nicht getan. Schon 1303 hatte König Håkon von Norwegen vor falschen Pilgern in Norwegen gewarnt, die die Landdistrikte ausplünderten. Er verordnete deshalb, dass jeder Pilger ein Dokument, sei es geistlich oder weltlich, mit sich führen müsse, welches die Glaubwürdigkeit dieses Pilgers bezeuge 228 . Dieses entsprach zudem der gängigen kirchlichen Praxis, die litterae testimoniales für Pilger verlangte, die bezeugten, dass die Pilger temporär aus den Rechten der Leutpfarrer entlassen worden waren. Ohne diese Zeugnisse wäre z. B. die Ablegung der Beichte oder der Empfang der Sakramente an anderen Orten nicht möglich gewesen 229 . Bei‐ spiele und Vorlagen für diese Dokumente haben wir deshalb in Skandinavien aus zwei Bereichen: aus kirchlichen Kanzleien sowie aus der weltlichen Verwaltung. Aus dem Bereich der litterae canonicae sind u. a. aus Schweden zwei Vorlagen aus dem 14. Jahrhundert überliefert: aus der Stadtpfarrei der schwedischen Hansestadt Kalmar 230 sowie aus der Kanzlei der Bischöfe von Linköping 231 . Vor allem der Stadtpfarrer legte in seinem Dimissoriale besonderen Wert auf die persönliche Kenntnis des sich Ausweisenden: Omnibus &c. Pro latore presencium P., perochiano meo, limina beatorum Petri & Pauli apostl. ob suorum remissonem peccaminum volente … visitare (Einem jeden &c. Für denjenigen [der dieses prüft] der Vorzeiger P., mein Gemeindemitglied, ist auf dem Weg zu den Gräbern der hll. Petrus & Paulus, um dort die Vergebung seiner Sünden zu erreichen …) 232 , und er bittet, den Vorzeiger bei seinem frommen Vorgehen (excito devotissimus) nicht zu behindern und ihn zu fördern. Die bischöfliche Kanzlei dagegen zielte mehr auf den guten Ruf (presencium NN & NN honeste vite et conversacionis pacifice) der Vorzeigenden ab, bittet aber auch um Hilfe und Unterstützung für die Reisenden. Inwieweit die beiden Vorlagen sich in rechtlicher Hinsicht unterscheiden, ob das bischöfliche Dimissorium nur für Kleriker gedacht war 233 , bedarf allerdings 168 Carsten Jahnke <?page no="169"?> 234 Siehe hierzu grundlegend P E T K E , Rechte Pilger (wie Anm. 224). Sowie D E R S . übersicht‐ lich: Pilgerbriefe, in: Pilger-Spuren, Wege in den Himmel, Von Lüneburg an das Ende der Welt, Gemeinschaftsprojekt der Museen Stade und Lüneburg, Stade u. Lüneburg 2020, S. 50-53. 235 Diplomatarium Fennicum online, http: / / df.narc.fi/ document/ 5693 (letzter Abruf: 5. Ok‐ tober 2020). Siehe hierzu vertiefend Birgit K L O C K A R S , I Nådens dal. Klosterfolk och andra c. 1440-1590, (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akadmien. Historiska serien 21), Stockholm 1979, S. 155 f. 236 Dieser Ausdruck ist hier mit Bedacht gewählt, wohl wissend, dass es „Pässe“ im eigent‐ lichen Sinn zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben hat. S. P E T K E , Rechte Pilger, S. 338 f. Allerdings zielten diese Schreiben auf die weltliche Seite des Untertanverhältnisses des sich Ausweisenden ab, so dass sie eine andere Funktion als die Dimissionale besessen haben. 237 Repertorium Diplomaticum Regni Danici Mediævalis, hg. von William C H R I S T E N S E N , Reihe 2, Bd. 7, København 1928-1939, Nr. 11 964 f., S. 86 f. 238 Defensio dissertatio des Johannes Jacobus W A S E L L aus Jämtland, Observationes selectæ Historiam Svecanam illustrantes 16, hg. von Ericus F A N T , Uppsala 1791, These XXXV, S. 166 f. 239 K R Ö T Z L , Norbornas Vallfarter (wie Anm. 57), S. 192. noch näherer Untersuchungen 234 . Im Jahr 1513 stellte jedenfalls der Bischof von Åbo / Turku (Finnland, damals Schweden) ein ähnliches bischöfliches Demisso‐ rium für Bruder Matthias Olafsson und den Bürger von Nådendal (Finnland) Olaf Petersson für deren Reise nach Santiago und Jerusalem aus 235 . Aus dem weltlichen Bereich kennen wir u. a. zwei Pilgerpässe 236 , einen auf Deutsch und einen auf Lateinisch, die Herzog Friedrich von Gottorf (der spätere Friedrich I. von Dänemark) 1511 für Benedict von Anefeld ausgestellt hatte, der vorgesatzt den grossen hymelfursten unnd zcwelffbotenn s. Jacoff in Compostella zcu besuchenn oder, wie es auf Lateinisch heißt, peregrinacionis causa et ob remissionem suorum peccaminum ad limina s. Jacobi in Compostella certeraque sanctorum loca intendit proficisci 237 . Weiterhin ist schon 1791 ein lateinischer Pass, ausgestellt von Gustav I. von Schweden, für Santiagopilger aus dem Jahr 1523 im Druck erschienen 238 . Gleichzeitig hatte König Juan II. von Kastilien im Zusammenhang mit dem Heiligen Jahr 1434 skandinavische Pilger unter seinen besonderen Schutz gestellt, so wie auch ein weiterer Schutzbrief aus dem Jahr 1479 erhalten ist 239 . Es ist davon auszugehen, dass Benedict von Anefeld auch ein Dimissionale mit sich führte, als er nach Santiago reiste. Allerdings werden die meisten dieser Schreiben nach Gebrauch als unwichtig entsorgt worden sein. Abschließend sei noch auf ein weiteres, praktisch-liturgisches Problem hingewiesen: Zur Erlangung eines vollständigen Ablasses in Rom oder an anderen Orten war der Pilger zur einer Beichte gezwungen, aufgrund derer er Absolution erhalten konnte. Dieses setzt, selbstverständlich, ausreichende Kom‐ 169 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="170"?> 240 Diplomatarium Danicum, Nr. 14 250 629 001, http: / / diplomatarium.dk/ dokument/ 14250 629001 (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 241 Diplomatarium Danicum, Nr. 14 350 326 002, URL: http: / / diplomatarium.dk/ dokument/ 14350326002 (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 242 Acta Pontificum Danica. Pavelige Aktstykker vedrørende Danmark 1316-1536 6: 1513-1536 og tillæg, hg. von Alfred K R A R U P / Johannes L I N D BÆK , København 1915, Nr. 5149, S. 518. munikationsmöglichkeiten voraus, da nicht alle Pilger des Lateinischen mächtig waren. So nimmt es nicht Wunder, wenn beispielsweise Papst Martin V. König Erich von Pommern am 29. Juni 1425 die Einstellung des Franziskanerbruders Hemming Boesen als Unterpönitentiar an der Peterskirche genehmigte, da dort bisher niemand die Sprache[n] der drei nordischen Reiche spräche: nullus penitenciarius minor ad presens existit et ydioma predictorum trium regnorum ad intelligendum ab omni alio ydiomate est singulare, igitur ut singulorum de dictis regnis ad eandem curiam declinancium animarum saluti salubrius provideatur supplicat 240 . Und sollte dieses nicht reichen, so konnte auch Birgerus Gunnari aus Linköping, Schweden, der Vorsteher des Birgittenhospitals in Rom, die Beichte der Pilger abnehmen 241 . b) Päpstliche Zulassungen zur Pilgerfahrt ins Heilige Land Allerdings durften nicht alle einfach so reisen. Gerade Geistliche und Ordens‐ mitglieder durften ihre Pfarrei bzw. ihr Haus oder Kloster nicht einfach ver‐ lassen; hierfür war u. a. eine päpstliche Zulassung nötig. Diese Zulassungen waren umso mehr vonnöten, wenn die Pilgerfahrt ins muslimische Ausland, d. h. nach Jerusalem, gehen sollte, da diese Reisen generell der päpstlichen Dispens bedurften. Die Aufarbeitung der Dokumente der katholischen Vergangenheit der skan‐ dinavischen Länder steht allerdings vielfach noch in den Kinderschuhen. Für Dänemark sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch J O HAN N E S L IN D BÆK eine ganze Reihe von päpstlichen Schriftstücken ediert worden und für Finnland ist es nun K I R S I S AL O N E N , die sich in vorbildlicher Weise dieser Aufgabe gestellt hat. Ein systematischer Überblick über alle Länder bis zur Reformation im 16. Jahr‐ hundert ist zurzeit aber nicht möglich, weshalb sich der folgende Abschnitt vor allem auf Dänemark beschränken wird. Im dänischen Material erscheinen päpstliche Zulassungen zur Pilgerschaft erstmals 1366, als Papst Urban VI . Graf Heinrich von Holstein eine Reise in Heilige Land genehmigte 242 , so wie von Innozenz VIII ., der am 19. Mai 1486 dem Pfarrer Gerlak Mortensen aus dem Stift Børglum, Jütland, Dänemark, und der Katharine, Witwe des Jakob Jørgensen aus dem Stift Roskilde, Seeland, 170 Carsten Jahnke <?page no="171"?> 243 Acta Pontificum Danica. Pavelige Aktstykker vedrørende Danmark 1316-1536 4: 1471-1492, hg. von Alfred K R A R U P / Johannes L I N D BÆK , København 1910, Nr. 3026, S. 371. 244 Acta Pontificum Danica 4 (wie Anm. 243), Nr. 3075, S. 395 f. 245 Diplomatarium Danicum, Nr. 14 080 521 005, http: / / diplomatarium.dk/ dokument/ 14080 521005 (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 246 Acta Pontificum Danica 6 (wie Anm. 242), Nr. 4513, S 109 f. sowie Nr. 4622, S. 191 f. 247 Auctoritate Papae (wie Anm. 132), S. 34 f. 248 Auctoritate Papae (wie Anm. 132), S. 34. 249 Regesta Norvegica 6 (wie Anm. 186), Nr. 64, S. 45. 250 Regesta Norvegica 5: 1337-1350, Oslo 1979, Nr. 1226, S. 427. 251 Diplomatarium Danicum, Nr. 14 480 601 008, http: / / diplomatarium.dk/ dokument/ 14480 601008 (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 252 Diplomatarium Danicum, Nr. 14 490 422 006, http: / / diplomatarium.dk/ dokument/ 14490 422006 (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). die Erlaubnis erteilte, das Heilige Grab zu besuchen 243 . Weitere Erlaubnisse finden sich dann auch aus der Zeit Innozenz‘ VIII . (1484-1492) 244 , Gregors XII . (1406-1415) 245 sowie von Leo X. (1513-1521) 246 . Warum dieses Material bisher so spärlich ist, ist nicht ganz zu erklären, da durchaus mehr Reisen nach Jerusalem bekannt sind. c) Päpstliche Lossprechungen von Pilgergelübden Bekannt sind auch päpstliche Lossprechungen von Pilgergelübden, da die Lossprechung von „solemn vows“, d. h. der Gelübde von Pilgerfahrten nach Rom, Jerusalem und Santiago, der päpstlichen Pönitentiatur vorbehalten war 247 . Aus dem Bereich des Erzbistumes von Uppsala, Schweden, kennt das Diplo‐ matarium beispielsweise eine Bitte um Lossprechung: am 23. September 1491 bat die Witwe des Reichsrates Ivar Axelsson (Thott) die Pönitentiarie um die Lossprechung Ivars von einem Pilgergelübde ans Heilige Grab, dass dieser während einer Krankheit gemacht hatte, welches er aber vor seinem Tode nicht verwirklichen konnte 248 . Bereits 140 Jahre vorher hatte Papst Clemens VI . Bischof Gisbert von Bergen von einem Pilgergelübde befreit, das dieser unter der Pestepidemie abgelegt hatte, welches er aber nun nur unter Schaden für die Diözese von Bergen befolgen konnte 249 . Bischof Gisbert stand nicht allein da, schon ein Jahr vorher hatte Clemens VI . eine Vollmacht für den Legaten Johannes Guilaberti ausgestellt, Skandinavier, die ihr Pilgergelübde wegen Krankheit oder Alter nicht mehr erfüllen könnten, hiervon zu dispensieren 250 , ein Privileg, welches 1448 der Legat Marcellus für zehn Geistliche im Norden ebenfalls erhielt 251 . Im Jahr 1449 dagegen bekam der Reichsrat Erik Ottesen (Rosenkrantz) vom Papst das persönliche Recht, sich einen Beichtvater selbst zu wählen, der diesen einmalig von einem Pilgergelübde freisprechen könne 252 , 171 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="172"?> 253 Diplomatarium Danicum, Nr. 14 490 422 007, http: / / diplomatarium.dk/ dokument/ 14490 422007 (letzter Abruf: 1. Oktober 2020). 254 Stockholms Stads Tänkeböcker 1514-1520 (wie Anm. 136), S. 8. ein Recht, welches am gleichen Tag auch dem nordischen König Christian I. zugebilligt wurde 253 . Abb. 9: Der Reichsrat Ivar Axelsson (Thott). Altarretabel (Ausschnitt) Nicht erfüllte Pilgergelübde konnten ernsthafte geistliche und weltliche Folgen nach sich ziehen. Nicht nur war das Seelenheil in Gefahr, sondern es konnte auch kirchliche und finanzielle Folgen haben, wenn man sich leichtfertig einer Pilgerreise entzog. Insofern ist es verständlich, wenn am 23. August 1514 ein Peter Rosse vor dem Rat in Stockholm erschien und zu Protokoll gab, dass er eine Pilgerreise nach Santiago verpasst habe, da er in Lübeck des Totschlages angeklagt sei und deshalb seit Pfingsten in Stockholm festsäße 254 . Eine Losspre‐ chung von einem solchen Gelübde ersparte dem Eidbrüchigen den damaligen Vorstellungen gemäß viele Tage im Fegefeuer. 172 Carsten Jahnke <?page no="173"?> 255 Siehe einleitend Carsten J A H N K E , Geschichte Dänemarks, Ditzingen 2017, S. 87. Die Quellen sind sich über den Tag und den Ort relativ einig, siehe J Ø R G E N S E N , Annales Danici (wie Anm. 52), S. 112 f. für das Jahr 1250. 256 Kristian E R S L E V , Erik Plovpennings Strid med Abel, in: (Dansk) Historisk Tidsskrift, 6. Reihe, Bd. 2 (1889), S. 359-442. 257 Sara E. Ellis N I L S S O N , Political pawns or holy paragons. The case of new saints in Scandinavia, in: Det våras för medeltiden. Vänbok til Thomas Lindkvist, hg. von Auður M A G N Ú S D ÓT T I R / Henric B A G E R I U S / Lars H E R M A N S O N , Göteborg 2014, S. 137-150. 258 Incerti Auctoris Genealogia Regum Danie, in: Scriptores Minores Historiae Danicae Medii Aevi 1, hg. von Martin Clarentius G E R T Z , København 1917-1922, S. 186-194, hier S. 190 f. Siehe auch Herman K Ø L L N , Der Bericht über den Dänenkönig in den St.-Wen‐ zels-Biographien des 13. und 14. Jahrhunderts (Historisk-filosofiske Meddelelser 52,2), København 1986, S. 12-17. Siehe zur Überlieferung allgemein: Valdemar Sejrs Sønner og dem Store Ærkebispestrid, hg. von Jørgen O L R I K , København 1906-1908, S. 32-52. XII. Spuren der Wallfahrten 3: Santiago de Compostela an der Schlei Schaut man aber nur auf die handgreiflichen Spuren der Wallfahrt zu den heiligen Stätten, so greift das sicherlich zu kurz. Die Ideen und Legenden der Wallfahrtsheiligen haben auch indirekte Spuren hinterlassen, wie am folgenden Beispiel aus Dänemark verdeutlicht werden soll. Am Laurentiustag 1250 wurde der dänische König Erich IV . Pflugpfennig auf der Schlei von Anhängern seines Bruders Abel ermordet 255 . Dieser Mord stand in Zusammenhang mit internen Erbfolge- und Machtproblemen innerhalb der Königsfamilie, die zur Bildung zweier Lager geführt hatten 256 . Das Lager Erichs begann nun direkt nach seinem Tod, nicht nur den Mord als verwerflichen Brudermord darzustellen, sondern eine Beatifizierung Erichs anzustreben 257 . (Seine angeblichen Handschellen werden bis heute im Dom von Schleswig als ehemalige Reliquien ausgestellt). Für unseren Zusammenhang interessant ist die mit der Ermordung Erichs aufgebrachte Legende, die sich zuerst im sogenannten Incerti Auctoris Gene‐ alogia Regum Danie aus dem Ende des 13. Jahrhunderts 258 findet: Nach der (angeblichen und nur in einigen Ausgaben vorkommenden) Enthauptung des Königs wurde dieser mit seinen Fesseln und mit Steinen beschwert bei Missunde in der Schlei versenkt. Doch schon bald stieg die Leiche, quasi miraculose, wieder empor und trieb möglicherweise an den Ort, an dem später die Kapelle Zum Finsteren Stern entstehen sollte. In einem Schreiben des Papstes wird der Verlauf mit folgenden Worten wiedergegeben: eiusque corpore ipsi occisores ne umquam appareret postea ut credebant in quodam flumine in ipso regno submerso / et subsequenter in illo quasi miraculose reperto et cognito atque in ecclesia domus fratrum predicator[um] Sleswicensi sepulto, von wo aus der Leichnam nach den 173 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="174"?> 259 Der Text wurde zuerst veröffentlicht von C. A. C H R I S T E N S E N , Drabet på Erik 4. Plovpen‐ ning og den begyndende legende-dannelse, Kirkehistoriske samlinger 7,6 (1965 / 68), S. 21-43. 260 Siehe u. a. Gundula H U B R I C H -M E S S O W , Sagen und Märchen aus Schleswig, Husum 1994, Nr. 16, Erichs Leiche, S. 17; Paul S E L K , Sagen aus Schleswig-Holstein, Husum 5 1982, S. 44 f. Siehe auch Johannes C Y P R A E U S , Annales Episcoporum Slesvicensivm …, Köln 1634, S. 258; Johannes Bruder Poul C Y P R A E U S , Kongelige Bibliotek Kopenhagen, Gl. kgl. Saml. 1047, fol. 42v; 1048, fol. 110v, nach C H R I S T E N S E N , Drabet (wie Anm. 259), S. 37 f. 261 Karl M Ü L L E R , Die Schlei, eine Tochter der Ostsee, Rendsburg 1954, S. 99 f.; M E L L E , De Itineribus (wie Anm. 174), Nr. XXXIX, S. 112, nach dem Testament des Nicolaus Cůper vom 23. Juni 1384, Archiv der Hansestadt Lübeck, 07.2-03 - Testamente 1350-1399, https: / / www.stadtarchiv-luebeck.findbuch.net / php / main.php#30 372e322d3033x2013 (letzter Abruf: 19. Juli 2021). 262 Siehe Carsten J A H N K E , Die Fischerflurnamen der Oberen Schlei, masch. Arbeit Kiel, Germanistisches Seminar, 1993, v. a. Zum finsteren Stern, S. 74. 263 Svend C L A U S E N , Hellighed og magtspil, Helgenkåringens Vanskeligheder i Danmark efter 1234, in: (Dansk) Historisk Tidsskrift 109 (2009), S. 305-335, hier S. 319-325. 264 Der Heiligen Leben und Leiden, anders genannt das Passional 2: Sommerteil, Leipzig 1913, S. 241-243. 265 Siehe hierzu Michael S T O L Z , Finis terrae - finsterer Stern - stella obscura. Die Pilger‐ fahrt nach Santiago und Imaginationen vom „Ende der Welt“ im Spätmittelalter, in: Ausmessen - Darstellen - Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Ursula K U N D E R T / Barbara S C H M I D / Regula S C H M I D , Zürich 2007, S. 139-152, hier S. 142. ersten Wundern in die Domkirche St. Peter gebracht wurde 259 . Am Finsteren Stern errichtete man zuerst ein Kreuz und die Fischer haben dort oft blaue Lichter gesehen 260 . Vermutlich entstand auch eine Kapelle Unser Lieben Frauen zum Vinsternstern, die sich zu einem lokalen Pilgerort entwickelte, der seit 1384 belegt sein soll, wobei es unklar bleibt, ob das schleswigsche oder gallizische Vinsternstern gemeint ist 261 . Die Legende hat dem Ort allerdings bis heute seinen Namen gegeben 262 . Diese Legende, deren Ursprung im Lager Erichs zu suchen ist, kann in Zusammenhang mit den Bemühungen zur Kanonisierung Erichs in den 1250er Jahren gesehen werden 263 . Dabei sind die Parallelen mit der Legende des Jacobus Maior nach der Legenda Aurea und anderen, die das Kap Finisterre eindeutig mit einbeziehen, unverkennbar: Erich wird wie Jakobus enthauptet, von seinen Freunden auf ein Schiff gelegt und über das Finisterre zu seiner letzten Ruhestätte gebracht 264 . Am Ort seiner ersten Landung finden sich, wie beim hl. Jakob, Lichterscheinungen 265 . Nach der alten skandinavischen Ballade 174 Carsten Jahnke <?page no="175"?> 266 Ballader og Legender fra norsk middelalderdiktning, hg. von Ådel Gjøstein B L O M , Oslo 1971, S. 53. „Ja hare grå steinen å judiske mål / de ska‘ du sante Jakoup sigle uppå. / Steinen begynder i vandet utflyde / så flyder han mot de hednekungerikje.“ 267 K Ø L L N , Bericht (wie Anm. 258). 268 Danske Helgeners Levned (wie Anm. 72), S. 388. 269 Danske Helgeners Levned (wie Anm. 72), S. 399. 270 Siehe hierzu einleitend Roser S A L I C R Ú I L L U C H , ¿Viajeros peregrinos y peregrinos viajeros? Santiago y Tierra Santa en Las Guías y relatos de viajes bajomedievales, in: El culto jacobeo y la peregrinación a Santiago a finales de la Edad Media. Crisis y renovación, hg. von Santiago Gutiérrez G A R C IÁ / Santiago López M A R T Í N E Z -M O R Á S , Santiago de Compostela 2018, S. 185-207. geschah der Zug des hl. Jakob nach Spanien auf einem Stein, ähnlich den Steinen, mit denen man Erich versenkt hatte 266 : Ich habe einen grauen Stein von jüdischer Art (? ) / Auf dem sollst Du Sankt Jakob mit segeln / Der Stein begann im Wasser aufzusteigen / Und so glitt er hin zu dem heidnischen Reich. Dass Erich schon bald in Schleswig verehrt wurde, scheint nach der Quellen‐ lage gesichert 267 , allerdings wurden die Parallelen zum hl. Jakob im weiteren Verlauf nicht weiter vertieft. Doch vermerkt seine Mirakelsammlung, dass namentlich genannte dänische Pilger auf einer Dromone (einem byzantinischem Ruderschiff, δρόμων) auf dem Wege nach Jerusalem bei Gegenwind erfolgreich St. Erich angerufen hätten, nachdem die Anrufung anderer Heiliger missglückt war 268 ; und 1270 erhielt die Norwegerin Ragnhild am Grabe Erichs ihre Sehkraft wieder, etwas, was zuvor weder in Santiago noch in Rom und Bari geglückt war 269 . Insofern strahlte Erichs Glanz nicht weniger hell als der des Apostels. XIII. Wallfahrten als Grand Tour, Wallfahrten zum Heiligen Grabe und nach Santiago im 16. Jahrhundert Von den ersten skandinavischen Pilgern im 10. und 11. Jahrhundert bis zu den Umwälzungen der Reformation in Skandinavien im 16. Jahrhundert hat sich der Charakter der Pilgerfahrten mehrfach verändert. Sehen wir zu Anfang meist individuelle Heilspilgerfahrten, so entwickelte sich die Pilgerschaft im 15. Jahrhundert zu einem Massengeschäft zur Seelenrettung. Diese Entwicklung setzte sich im 16. Jahrhundert fort, wobei die (wohlorganisierten) Reisen nun nicht nur zur Seelenrettung, sondern auch zur Bildung und vielfach zum Erwerb eines Ritterschlages am Heiligen Grabe genutzt wurden 270 . Zu den bekanntesten Personen aus Skandinavien, die eine solche Reise unternommen hatten, gehören neben den oben erwähnten Holger Gregersen Ulfstand zu Skabersø und Johan 175 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="176"?> 271 R Ø R D A M , Danskes Rejser (wie Anm. 119), II. S. 698-707. 272 R Ø R D A M , Danskes Rejser (wie Anm. 119), II. S. 703. 273 R Ø R D A M , Danskes Rejser (wie Anm. 119), II. S. 704. 274 R Ø R D A M , Danskes Rejser (wie Anm. 119), II. S. 706. 275 Siehe umfassend Kaspar E L M , Kanoniker und Ritter vom Heiligen Grab. Ein Beitrag zur Entstehung und Frühgeschichte der palästinensischen Ritterorden, in: Kaspar E L M , Umbilicus mundi. Beiträge zur Geschichte Jerusalems, der Kreuzzüge, des Kapitels vom Hlg. Grab in Jerusalem und der Ritterorden (Instrumenta Canonissarum Regularium Sancti Sepulcri 7), Sint-Kruis (Brugge) 1998, S. 63-105. Oxe zu Nielstrup auf Lolland auch der spätere dänische Reichsmarschall Johann Rantzau. Darüber hinaus gibt es noch einen anonymen, dänischen Reisebericht aus der Zeit um 1500, der in die gleiche Kategorie fällt und aus demselben Kodex stammt wie Ulfstand-Oxes Reisebeschreibung 271 . Für Ulfstand, Gregersen und den anonymen Verfasser ist die Reise voller Wunder, die detailliert beschrieben werden. Wird der erste Teil der Reise, bei Ulfstand und Oxe über Lübeck, Braunschweig, Koburg, Staalborgh (? ), Bamberg, Nürnberg nach Venedig, pauschal zusammengefasst, so folgen detaillierte Auf‐ zeichnungen von Venedig an. Hierbei werden nicht nur die Hauptheiligtümer, wie z. B. die Markuskirche, Grabeskirche, Golgatha, Bethlehem etc., besucht, sondern wir erfahren auch viel über die anderen touristischen Gegebenheiten, die den christlichen Pilgern angeboten werden, so z. B. auf dem Weg zwischen Jerusalem und Bethlehem das Haus, in dem die Juden zu Rate gingen, den Herrn zu töten, das Haus des hl. Simon, der Olivenbaum, unter dem die hl. Jungfrau ruhte, wenn sie nach Jerusalem ging, das Geburtshaus des Elias, das Wohnhaus des Propheten Abakuk 272 sowie die Kuhle, in der die hl. Jungfrau sich mit Jesus versteckte, als Herodes‘ Häscher sie suchten 273 . Die Pilger erlebten ein durchorganisiertes und wohlgefülltes Programm, welches die bekannten Orte der biblischen Erzählungen abdeckte. Zum Abschluss der Aufzählung der besuchten heiligen Orte kam dann noch der zweite Höhepunkt: Item, Thiisdagenn nest for wor Frue Seliermeere, da bleff mesten delen thill Ridder slagne aff alle Riddermends mend, som med oss war, den tridie gang, wi war paa den hellige graff … Und weiterhin, am Dienstag vor Unser Lieben Frauen Geburt, wurden die meisten von den Männern des Ritterstandes, die mit uns reisten, zu Rittern geschlagen, es war das dritte Mal, dass wir am Heiligen Grab waren … 274 . Der Ritterschlag am Heiligen Grab hat eine Tradition, die seit dem 14. Jahrhun‐ dert belegt ist 275 . Schon König Waldemar IV . Atterdag von Dänemark war 1347 176 Carsten Jahnke <?page no="177"?> 276 Christian Emanuel Frits R E I N H A R D T , Valdemar Atterdag og hans Kongegjerning, Kjø‐ benhavn 1880, S. 154. 277 Danmarks Adels Årbog 16 (1899), S. 371 f., unter Rosensparre: Johannes Nielsen. venskt Diplomatarium från och med år 1401 4, Stockholm 1903, Nr. 2888, S. 35, Ritterbrief, ausgestellt von Guillaume de Touron, über den Ritterschlag apud Sanctum sepulchrum in die Sancte Margarete virginis, præsente viro nobilissimo domino Johanne, barone de Riox, domino Castri Noui in Britannia, filio domini marscalli maiorum regni Francie, quod coram omnibus testificor publice per presentes. In cuius testimonium sigilla virorum nobilium dominorum Girardi de Masto, Guillelmi de Thaylack, qui tunc temporis in eodem loco facti fuerunt milites, presentibus sunt appensa, me proprium sigillum non habente. Scriptum Venecie anno Domini milesimo quadringentesimo primo die sancti Luce evangeliste diem sancte Margarete virgine. Svenskt Diplomatariums (wie Anm. 148), Nr. 15 708, 1401 Oktober 18. Historiske Efterretninger om den danske Adelsfamilie Rosensparre, hg. von Frederik Reinholdt F R I I S , Kjøbenhavn 1872, Nr. 1, S. 38. 278 Mladen I B L E R / Birgitta F R I T Z , Kunglig reseledare i Heliga landet och slottshövitsman i Sverige. Om Johan Vales märkliga karriär och verkliga identitet samt Erik av Pommerns besök i Dubrovnik år 1424, in: Scandia 70 (2004), S. 3-16, hier S. 7. 279 Ich danke Herrn Hartmut Kühne sehr für diesen Hinweis auf die - freilich verball‐ hornten Namen - beiden Brüder im Reisebericht des Bernhard von Hirschfeld: Des Ritters Bernhard von Hirschfeld im Jahre 1517 unternommene und von ihm selbst beschriebene Wallfahrt zum Heiligen Grabe, hg. von August V O N M I N C K W I T Z , in: Mitteilungen der deutschen Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Alterthümer in Leipzig 1 (1856), S. 30-106, hier S. 46 „Wolff und Bendeis von Koterisch, gebrudere, Holsteiner.“; S. 86 und 88 „Benedix Boßwich“. 280 Königliche Bibliothek Kopenhagen, Gle. Kgl. Saml. 844 fol., fol. 548r-549r. 281 Heinrich R A N T Z A U , Vita et res gestae … Johannis Rantzovii, Wittenberg bei Hans Krafft 1566 resp. 1567 (verschiedene Angaben im Kolophon und auf dem letzten Blatt) unter dem Jahr 1517. zum Ritter vom Heiligen Grabe geschlagen worden 276 , als er einen politischen Vorteil benötigte. Es folgten dann am 18. Oktober 1401 Jep Jensen (Rosensparre) zu Skarholt (Schonen, Dänemark) 277 sowie 1424 König Erich von Pommern 278 . Im Jahr 1517 reisten dann die Schleswig-Holsteiner Wulf und Benedikt Pogwisch mit einer Gruppe sächsischer Pilger ans Heilige Grab, von denen am 22. März eine (durch eine Lücke verloren gegangene) Anzahl der Reisenden zu Rittern geschlagen wurden 279 . Aus demselben Kodex, der die Beschreibung von Holger Gregersen Ulfstands und Johan Oxes Reise enthält, gibt es dann auch die Überlieferung eines Ritterbriefes, der am Heiligen Grab ausgestellt wurde. Die adlige Familie Krabbe legte einen solchen Wert auf diesen Ritterbrief für Hinrich Nielsen Rosenkrantz zu Björnholm vom 6. September 1522, in dem Bruder Iacobus de Portum den Ritterschlag bezeugt, dass sie ihn sogar ins Dänische übersetzen ließ 280 . Weitaus bekannter als die Reise von Schoninger Ulfstand und Oxe war die Pilgerfahrt des späteren dänischen Reichsmarschalls Johann Rantzau aus Holstein, der 1515 in Santiago war und wahrscheinlich 1516 ebenfalls am Heiligen Grabe zum Ritter geschlagen wurde 281 . Rantzau 177 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="178"?> 282 Hartmut K Ü H N E , Norddeutsche Adlige auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela, in: Pilgerspuren, Wege in den Himmel. Von Lüneburg an das Ende der Welt, hg. von den Museen Stade und dem Museum Lüneburg, bearb. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, S. 136 f. unternahm die Pilgerfahrt wahrscheinlich nicht nur, „um die Sitten der Völker und das Kriegshandwerk zu erlernen“, wie sein späterer protestantischer Chro‐ nist vermerkte 282 , sondern als Pilgertourist in Südeuropa. Generell aber kann festgehalten werden, dass Pilgerfahrten zum Heiligen Grabe für den nordeuro‐ päischen Adel kurz nach 1500 zum guten Ton gehört haben. Abb. 10: Dänische Übersetzung eines Ritterbriefes vom Heiligen Grabe aus dem Jahre 1522 178 Carsten Jahnke <?page no="179"?> XIV. Die Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem im Spiegel skandinavischer Quellen Die Spuren der Pilgerfahrt aus Nordeuropa nach Santiago de Compostela oder Jerusalem in einem Beitrag, wenn auch mit Überlänge, darstellen zu wollen, gleicht einem vermessenen Unterfangen. Jeder Abschnitt, jedes Kapitel wäre einer Monographie würdig und einigen der behandelten Themen ist diese Ehre bereits widerfahren. Die vorangegangenen Seiten sollten aber vor allem eines verdeutlichen: die große Nähe zwischen Nordeuropa und den heiligen Stätten der Christenheit. Skandinavien war mental und auch rein praktisch nicht weit von Jerusalem oder Santiago entfernt. Skandinavier reisten gleichermaßen und recht regelmäßig an diese Orte. Deutlich wurde aber auch, dass sich der Charakter und die Zielsetzung dieser Reisen im Laufe der Jahrhunderte wesentlich veränderten. Waren es zuerst wohl fromme Individuen, die die Strapazen einer solchen Reise auf sich nahmen, so kam im 11./ 12. Jahrhundert das Abenteuer als Merkmal zu diesen Reisen hinzu, die Pilgerfahrt wurde zur Âventiure, wie es im Mittelhochdeutschen heißt. Reisende wie Rǫgnvaldr Kali Kolsson waren an den heiligen Orten, aber das Pilgerziel scheint dem Abenteuer nachgeordnet gewesen zu sein. Diese Mischung von frommer Individualität und Abenteuer sollte die Pil‐ gerreisen der Skandinavier bis zur Reformation auszeichnen, die sich damit ja keinesfalls von ihren Glaubensbrüdern im Rest Europas unterschieden. Pilgerreisen wurden in Not und Krankheit gelobt, sie dienten der Sühne bei Vergehen und teilweise waren sie auch hier Beruf. Gleichzeitig hinterließ der religiöse wie der organisatorische Rahmen dieser Reisen seine Spuren auch in Skandinavien. Die Reisen mussten nicht nur organisiert und rechtlich oder religiös abgesichert werden, die Pilger kamen auch (zumindest einige von ihnen) wieder nach Hause, wo sie weitere Spuren ihres Pilgerns hinterließen. Ja, die mit dem Pilgern verbundenen Legenden und Ideen konnten in die heimische Propaganda eingebaut und für politische Zwecke nutzbar gemacht werden. Pilgerfahrten sind und waren ein Teil des Orbis Catholicus, im Mittelalter wie heute, in ganz Europa und eben auch in Skandinavien. 179 Skandinavische Wallfahrten nach Santiago de Compostela und Jerusalem <?page no="181"?> Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? Bemerkungen anhand des Kleinen und des Großen Ursula-Zyklus aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in Köln Klaus Gereon Beuckers Mit überkreuzten Armen steht die hl. Ursula im vorderen Bereich des Bootes (Abb. 1). Ihren Blick in seligem Ausdruck etwas nach rechts gewandt, wo ein Kardinal in roter Robe die Hände zum Gebet zusammengelegt hat, wie auch Papst Cyriakus neben ihm, der in auffallend analoger Weise zu Ursula ausgerichtet ist, und einige der Frauen im Boot, alle lächelnd. Das Schiff hat das Rheinufer noch nicht ganz erreicht, aber die nahe Silhouette von Köln zeigt, wo sich das Geschehen abspielt, zu dem die Reisegesellschaft nach langer Schiffsreise und verschiedenen Stationen aus Rom über Basel und Mainz in der Rheinmetropole angelangt ist. Es ist die Rückkehr von einer Wallfahrt, die hier in Köln ihren Anfang genommen hat und jetzt mit großer Gesellschaft zurückkommt, um das angekündigte Martyrium zu erleiden, das sich rund um das Boot schon abzuspielen beginnt, wo Kriegsknechte die Frauen aus dem Boot zerren, mit Säbeln und Pfeilen töten. Etwas weiter rechts auf der Tafel wird dies am Ufer der Stadt vor ihren nördlichen Toren dann auch Ursula selbst ereilen. <?page no="182"?> 1 Frank Günter Z E H N D E R , Katalog der Altkölner Malerei (Kataloge des Wallraf-Ri‐ chartz-Museums 11), Köln 1990, zu den Tafeln S. 201-208 mit Abb. 138-153, hier S. 204 - vgl. zu den Tafeln zuletzt auch Pavla Ralcheva, Bilder auf Deckeln. Studien zu schließbaren Bildträgern im Spätmittelalter, in: Klappeffekte. Faltbare Bildträger in der Vormoderne, hg. v. David Ganz und Marius Rimmele (Bild + Bild, 4), S. 185-208. 2 Vgl. Z E H N D E R , Katalog (wie Anm. 1), S. 340-343 mit Abb. 222. - Vgl. auch Hugo B O R G E R , Frank Günter Z E H N D E R , Köln. Die Stadt als Kunstwerk. Stadtansichten vom 15. bis 20. Jahrhundert, Köln 1982, S. 66-68. Abb. 1: Martyrium Ursulas in Köln, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölnischer Meister von 1456 Dieses um 1450 / 60 gemalte Bild des sogenannten ’Kölnischen Meisters von 1456‘ bildet den Abschluss des sogenannten ’Kleinen Ursula-Zyklus‘, der in 15 Szenen das Leben der hl. Ursula von ihrer Geburt als englische Königstochter über ihre Schiffsreise nach Rom und zurück bis zu ihrem Martyrium zeigt. Die Tafeln hängen heute im Wallraf-Richartz-Museum in Köln ( WRM 707-721), ursprünglich waren es Truhendeckel von vermutlich Reliquienkästen, die F R AN K G ÜN T E R Z E HN D E R auf den Frauenemporen entweder der Ursula- oder der Mak‐ kabäerkirche in Köln vermutet 1 . Sie sind nicht die erste bekannte Darstellung des Todes von Ursula und ihren Gefährten vor der Stadtansicht von Köln. Diesen willkommenen Anlass zur Darstellung der Stadtanlage mit ihren Kirchen und Mauern nutzte schon das Bild von 1411 des ‚Meisters der kleinen Passion‘, heute im gleichen Kölner Museum ( WRM 51), das zu den frühesten topografisch angelegten Stadtansichten in Europa überhaupt gehört (Abb. 2) 2 . Die epische Breite, mit der der Zyklus des Kölnischen Meisters die Schiffswallfahrt der Ursulaschar erzählt, war in dieser Zeit jedoch ein Thema, wie unter anderem die 1456 datierte und somit zeitgleiche 24-teilige Bilderfolge mit 30 Szenen in der Kirche St. Ursula in Köln heute noch zeigt. Weitere Ursula-Zyklen schlossen sich bis in das 16. Jahrhundert und darüber hinaus an. 182 Klaus Gereon Beuckers <?page no="183"?> 3 Eine andere Pilgerroute aus England nach Rom führte über die Via Francigena nach Landung in der Normandie über Land an den Genfer See und von dort über die Alpen, vgl. Stephen M A T T H E W S , The Road to Rome. Travel and Travellers between England and Italy in the Anglo-Saxon Centuries (BAR International Series 1680), Oxford 2007. - Andreas B I H R E R : Begegnungen zwischen dem ostfränkisch-deutschen Reich und England (850-1100). Kontakte, Konstellationen, Funktionalisierungen, Wirkungen (Mittelalter-Forschungen 39), Ostfildern 2012, S. 87. Abb. 2: Martyrium Ursulas vor Kölner Stadtansicht, Meister der kleinen Passion Die Wallfahrt von Ursula und ihren Gefährtinnen war den Bildern nach eine Schiffsreise, obwohl weite Teile des Weges ab Basel bis Rom der Erzählung nach zu Fuß zurückgelegt werden mussten. Die Bilder zeigen jedoch alle Stationen, zu denen die Gesellschaft in einer Stadt ankam, die Gruppe in einem Boot oder beim Eintritt in eine Stadt mit einem Boot im Vordergrund. Die Reise Ursulas wurde so den Betrachtern des 15. Jahrhunderts als eine Schiffswallfahrt visualisiert, wie sie viele Pilger aus England zu dieser Zeit bei ihrer Reise nach Rom auch erlebt haben dürften 3 : ein Weg per Schiff in die Rheinmündung mit Station in Köln, wo man die Schiffe wegen der felsigen Untiefen im Mittelrhein wechseln musste, bis Basel, von wo aus man dann die Alpen und Oberitalien zu Fuß bis Rom durchquerte. Die Zyklen zeigen die Reise der Heiligen und ihrer Gefährtinnen damit als Prototyp der Schiffswallfahrt. Die hl. Ursula und ihre Legende Wie die meisten Heiligenlegenden, so dürfte auch die Ursulalegende einen historischen Kern besitzen, der sich einer Überprüfbarkeit aber weitgehend entzieht. Nachdem bereits vor allem 1647 der Kölner Jesuit H E R MAN N C R O M ‐ B A C H , aber auch 1858 Victor de Buck für die Acta Sanctorum und J O S E P H 183 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="184"?> 4 Hermann C R O M B A C H SJ, Vita et martyrium S. Ursulae et sociarum undecim millium Virginum … [S. Ursula Vindicata], Köln 1647. - Victor D E B U C K , De s. Ursula et undecim millibus sociarum virginum et martyrum, in: Acta Sanctorum Oc‐ tobris IX, Brüssel 1858, S. 73 -303. - Joseph K L I N K E N B E R G , Studien zur Geschichte der Kölner Märterinnen, in: Bonner Jahrbücher. Jahrbücher des Vereins von Alter‐ tumsfreunden im Rheinland 88 (1889), S. 79 - 95; 89 (1890), S. 105 - 134; 93 (1892), S. 130 - 179. - Vgl. auch Joseph K L I N K E N B E R G , Das Ursulaproblem, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 32 (1913), S. 336 - 362. 5 Wilhelm L E V I S O N , Das Werden der Ursula-Legende, in: Bonner Jahrbücher. Jahrbü‐ cher des Vereins von Altertumsfreunden im Rheinland 132 (1927), S. 1 -164. - Vgl. auch Guido W A G N E R , Vom Knochenfund zum Martyrium der 11 000 Jungfrauen. Wurzeln und Entwicklung der Ursula-Legende und ihre Bedeutung für Köln als ‚Sacrarium Agrippinae‘, in: Geschichte in Köln 48 (2001), S. 11 -44. 6 Frank Günter Z E H N D E R , Sankt Ursula. Legende, Verehrung, Bilderwelt, Köln 1985. - Vgl. auch Die Hl. Ursula und ihre Elftausend Jungfrauen, Ausst. Kat. Wallraf-Ri‐ chartz-Museum, bearb. v. Frank Günter Z E H N D E R , Köln 1978. - The cult of St Ursula and the 11,000 virgins, hg. v. Jane C A R T W R I G H T , Cardiff 2016. - rein deskriptiv: Gertrud O T T O , Die Ursula-Legende und die Ausbreitung der Ursula-Verehrung, in: Altenberger Blätter. Beiträge aus der Vergangenheit und Gegenwart Altenbergs 13 (2001), S. 5 - 22. 7 Paul H E U S G E N , Ursulabruderschaften in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Ge‐ schichtsvereins 20 (1938), S. 164 - 175. - Klaus M I L I T Z E R , Ursulabruderschaften in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 66 (1995), S. 35 -46. - Grundle‐ gend: Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1562 / 63, bearb. v. Klaus M I L I T Z E R (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 71), 4 Bde., Düsseldorf 1997 / 2000. - Klaus M I L I T Z E R , Kölner Bru‐ derschaften am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Beharren und Neuansätze, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 65 (2001), S. 241 -255. - Vgl. auch André S C H N Y D E R , Die Ursulabruderschaften des Spätmittelalters. Ein Beitrag zur Erforschung der deutschsprachigen religiösen Literatur religiösen Literatur des 15. Jahrhunderts (Sprache und Dichtung, N. F. 34), Bern 1986, insb. S. 41 - 46. K LIN K E N B E R G 1889 / 92 der Heiligen umfangreiche Schriften gewidmet hatten 4 , ist der grundlegende Beitrag von W ILH E LM L E VI S O N 1927 in den Bonner Jahr‐ büchern, in dem er unter vollständiger Heranziehung des älteren Materials die Entwicklung der Legende anhand der Schriftquellen nachgezeichnet hat, zur Grundlage aller modernen Behandlungen der Ursula-Verehrung geworden 5 . Unter den späteren Untersuchungen sind das Buch von F R AN K G ÜN TH E R Z E HN D E R zur Ursulaverehrung von 1985 und zuletzt die von J AN E C A R TW R I G HT herausgegebene Aufsatzsammlung von 2016, die sich auch der Ursula-Verehrung in anderen europäischen Ländern widmet, herauszu‐ heben 6 . Im Spätmittelalter spielten die Ursula-Bruderschaften, die von P A U L H E U S G E N und vor allem K LA U S M ILITZ E R für Köln umfassend untersucht worden sind, für die Verehrung und deren bildliche Ausgestaltung Ursulas eine wichtige Rolle 7 . Die künstlerische Umsetzung der Ursula-Legende hat für 184 Klaus Gereon Beuckers <?page no="185"?> 8 Egbert D E L P Y , Die Legende von der Heiligen Ursula in der Kölner Malerschule, Köln 1901. - Joseph S O L Z B A C H E R , Veronika H O P M A N N , Die Legende der Heiligen Ursula, Köln 1964. - K A T . K Ö L N 1978 (wie Anm. 6). - Z E H N D E R , Sankt Ursula (wie Anm. 6). 9 Ursula R A U T E N B E R G (Hg.), Ursula-Legenden im Kölner Druck. Die Historie von Sankt Ursula und die Historie von den elftausend Jungfrauen. Aus der Offizin Johannes Landen 1509 und 1517. Faksimileausgabe mit einem Verzeichnis der volkssprachli‐ chen und lateinischen Ursula-Legenden im Kölner Inkunabel- und Frühdruck, Köln 1992. - Vgl. auch Ursula R A U T E N B E R G , Überlieferung und Druck. Heiligenlegenden aus frühen Kölner Offizinen, Tübingen 1996, insb. S. 89 -120. 10 Vgl. Ines K E H L , Vittore Carpaccios Ursulalegendezyklus der ‚Scuola di Sat’Orsola‘ in Venedig. Eine venezianische Illusion (Manuskripte der Kunstwissenschaft 36), Worms 1992. - Ludovico Z O R Z I , Carpaccio e la rappresentazione di Sant’Orsola. Ricerche sulla visualità dello spettacolo nel Quattrocento, Turin 1998. - Felix T H Ü R L E M A N N , Der Ursula-Zyklus von Vittore Carpaccio, Konstanz 2002. 11 Anton L E G N E R , Kölner Heilige und Heiligtümer Ein Jahrtausend europäischer Reli‐ quienkultur, Köln 2003. - Vgl. auch bereits Anton L E G N E R , Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995. 12 Vgl. Winfried S C H M I T Z , Zum Ursprung der Ursulalegende. Die Inschrift des Clematius, in: Antike und Mittelalter von den Anfängen bis 1396 / 97, hg. v. Wolfgang R O S E N und Lars W I R T L E R (Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1), Köln 1999, S. 53-58. die Kölner Tafelmalerei erstmals E G B E R T D E L P Y 1901 in seiner Heidelberger Dissertation untersucht, bevor sich ihr anhand des Zyklus in St. Ursula das von J O S E P H S O L Z B A C H E R und V E R O NIKA H O P MAN N bearbeitete Bändchen sowie danach mehrfach F R AN K G ÜN T E R Z E HN D E R insbesondere anhand der Bestände des Wallraf-Richartz-Museums widmete 8 . U R S U LA R A U T E N B E R G hat die Ursula-Legenden in den frühen Druckwerken untersucht 9 , wie insbeson‐ dere der neunteilige Ursula-Zyklus von Vittore Carpaccio für die Scuola Sant’Orsola in Venedig von 1490 / 95 besonderes Interesse gefunden hat 10 . A NT O N L E G N E R ist 2003 unter besonderer Berücksichtigung Ursulas den Kölner Heiligen und Reliquien mit ihrer weltweiten Verbreitung nachgegangen 11 . Aller Anfang zur Überlieferung einer Verehrung von Kölner Jungfrauen-Mär‐ tyrerinnen beginnt mit der Clematius-Inschrift in St. Ursula, nach der ein vir clarissimus Clematius hier an der Stelle, an der Jungfrauen ex partibus orientis ihr Martyrium erlitten haben, eine Kirche neu errichtet hat (basilicam […] a fundamentis restituit). Wer an dieser Stelle, wo die Jungfrauen ihr Blut für Christus vergossen haben (ubi sanctae virgines pro nomine Christi sanguinem suum fuderunt), mit Ausnahme von Jungfrauen eine Bestattung vornehme (corpus alicuiius deposuerit exceptis virginibus), der solle mit den unendlichen Feuern der Unterwelt bestraft werden (sciat se sempiternis Tartari ignibus puniendum) 12 . W ILH E LM L E VI S O N hat die Inschrift, deren Rezeption seit dem 10. Jahrhun‐ dert in Antiphonen belegt werden kann, ausführlich untersucht und als 185 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="186"?> 13 L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 3 -25. - Nancy G A U T H I E R , Origine et premiers développements de la légende de Sainte Ursule à Cologne, in: Comptes rendus de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 1973, S. 108 - 121. - Cle‐ mens M. M. B A Y E R , Zur Clematius-Platte in St. Ursula zu Köln. Die Schrift und ihre paläographische Einordnung, in: Inschriften zwischen Realität und Fiktion. Vom Umgang mit vergangenen Formen und Ideen, hg. v. Rüdiger F U C H S und Michael O B E R W E I S , Wiesbaden 2021, S. 121 - 158. Für den Einblick in das Manuskript sei ihm herzlich gedankt. Ein zweiter Teil mit einer philologisch-historischen Untersuchung der Inschrift wird im Kölner Jahrbuch erscheinen. 14 Zum archäologischen Befund vgl. Gernot N Ü R N B E R G E R , Die Vorgängerbauten der Kirche St. Ursula in Köln, in: Kölner Jahrbuch 39 (2006), S. 581 - 717. - Ein Beitrag zu den Bestattungen in St. Ursula ist durch Thomas Höltken für das Kölner Jahrbuch in Arbeit. Für Auskunft sei ihm herzlich gedankt. 15 Vgl. L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 26. - W A G N E R , Martyrium (wie Anm. 5), S. 20 f. 16 Vgl. Gertrud W E G E N E R , Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 31), Köln 1971, S. 32. - W A G N E R , Martyrium (wie Anm. 5), S. 21. spätantik gewertet, was insbesondere von N AN C Y G A U THI E R 1973 zugunsten einer Datierung in karolingische Zeit infrage gestellt worden ist, was zu‐ letzt C L E M E N S M. M. B A Y E R wieder zurückweisen konnte 13 . B A Y E R geht von einer Datierung sogar bereits in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts aus. Auch der archäologische Befund unter der heutigen Kirche lässt sich damit verbinden, zumal es hier auffallend viele Mädchenbestattungen gibt, die schlagartig in der Spätantike enden, obwohl sonst die Kölner Gräberfelder um die Stadt herum weiter belegt wurden 14 . Die Jungfrauen-Verehrung an der Stelle des späteren Frauenstifts im Norden der Stadt und die darin greifbare Kulttradition ist umso bemerkenswerter, als die Schriftquellen in der Merowingerzeit bei Gregor von Tours, der zum Jahre 590 die gereo‐ nischen Heiligen in Köln kennt, oder im Martyrologium Hieronymianum aus der Mitte des 5. Jahrhunderts und seiner Ergänzung aus dem Beginn des 7. Jahrhunderts sowie das Martyrologium von Beda Venerabilis aus dem frühen 8. Jahrhundert von einer Jungfrauenverehrung in Köln nichts wissen 15 . Immerhin erwähnt die im frühen 9. Jahrhundert verfasste Vita Kuniberti die Auffindung eines Jungfrauengrabes durch den Kölner Bischof des 7. Jahrhundert (amt. 623 -664) in der Ursula-Kirche (basilica sanctarum virginum) 16 . Nimmt man jedoch die archäologischen Befunde zu der in der Clematius-Inschrift bezeugten (wiedererrichteten) Kirche hinzu, so gibt es eine offenbar nie ganz abgebrochene Tradition der Heiligen Jungfrauen in Köln wechselnder Intensität bereits seit dem 4. Jahrhundert. Die daraus erwachsene Ursula-Legende ist seit dem 9. Jahrhundert durch den Sermo in natali, also einen Predigttext zum Ursulafest am 21. Oktober, 186 Klaus Gereon Beuckers <?page no="187"?> 17 Der Text des Sermo in natali bei K L I N K E N B E R G , Studien 1889 (wie Anm. 4), S. 118-124. - Zum Inhalt vgl. K L I N K E N B E R G , Studien 1889 (wie Anm. 4), S. 113-134 und L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 46-58. - Vgl. auch D E L P Y , Legende (wie Anm. 8), S. 4-8. 18 Zur Ersten Passio vgl. L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 58-90, der lateinische Text dort S. 140-157. 19 Vgl. Friedrich Wilhelm O E D I G E R , Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter. Erster Band: 313-1099 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21), Düsseldorf 1954 / 61, Nr. 311, S. 101-104. - Hugo W E I D E N H A U P T , Das Kanonissen‐ stift Gerresheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 46 (1954), S. 1-120, hier S. 18-38. - W E G E N E R , Geschichte (wie Anm. 16), S. 33-49. - Georg G R E S S E R , Edmund T A N D E T Z K I , Klosterlandschaft: Wiederbegründung des nachmaligen Ursulastiftes durch Erzbischof Hermann I. am 11. August 922, in: R O S E N / W I R T L E R , Antike und Mittelalter (wie Anm. 12), S. 85-93. erstmals greifbar, wenn auch dort noch nicht Ursula namentlich die Jung‐ frauenschar anführt 17 . Der Verfasser geht bereits von einer großen Schar an Jungfrauen aus, über die er weniger narrative Inhalte als eher ihre Tugenden der Jungfräulichkeit, des freiwilligen Verzichts auf Elternhaus und Heimat sowie ihr Martyrium zu berichten weiß. Im zweiten Teil seines Textes disku‐ tiert er die Herkunft der Heiligen und identifiziert sie mit Britannien, wo sie vor Christenverfolgungen, wie sie Beda für die Zeit unter Diokletian und Maximian (amt. 284 / 86-305) berichtet, geflohen seien. Damit setzt er sich von der Clematius-Inschrift, auf den der Sermo in natalis indirekt Bezug nimmt, vermutlich also im unmittelbaren räumlichen Zusammenhang mit ihr vorgetragen wurde, ab, wo die Frauen aus dem Osten gekommen sein sollen. Immerhin belegt der Sermo eine auch später noch greifbare frühe Verbreitung der Geschichte neben Köln auch in England, führt hier möglicherweise ursprünglich unabhängige Erzählungen zusammen. Narrative Ausgestaltung erhielt die Legende dann in der sogenannten ‚Ersten Passio‘ Ursulas, die der Verfasser Erzbischof Gero (amt. 969-976) widmete 18 . Hier wird Ursula bereits explizit als Führerin der Jungfrauen genannt; neben ihr erscheint die schon aus dem Sermo bekannte Pinossa. Inzwischen war einiges geschehen: Im Jahre 922 hatte Erzbischof Hermann I. die Bewohnerinnen des von den Ungarn (per Ungaricam tyrannidem) niedergebrannten Klosters Gerresheim, die nach Köln geflüchtet waren, in dem Kloster der Heiligen Jungfrauen unter‐ gebracht 19 . Diese Übertragung gilt als Gründung des Frauenstifts an St. Ursula, auch wenn die 866 unter Erzbischof Gunthar (amt. 850-863 / 870) überlieferte Güterumschreibung bereits ein monasterium beatarum virginum nennt, für das Kanoniker bezeugt werden, wie sie für die Liturgie eines Frauenstiftes notwendig 187 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="188"?> 20 Vgl. O E D I G E R , Regesten (wie Anm. 19), Nr. 213, S. 71. - W E G E N E R , Geschichte (wie Anm. 16), S. 32 f. 21 Vgl. Hedwig R Ö C K E L E I N , Leben im Schutz der Heiligen. Reliquientranslationen nach Essen vom 9. bis 11. Jahrhundert, in: Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen, hg. v. Günther B E R G H A U S , Thomas S C H I L P und Michael S C H L A G H E C K , Essen 2000 (ND 2002), S. 87-100 u. 162-165, hier S. 98 f. 22 Vgl. D E L P Y , Legende (wie Anm. 8), S. 8 f. - L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 35 f. 23 Vgl. O E D I G E R , Regesten (wie Anm. 19), Nr. 501, S. 154. - W E I D E N H A U P T , Gerresheim (wie Anm. 19), S. 41 f. 24 K L I N K E N B E R G , Studien 1892 (wie Anm. 4), S. 165. sind 20 . Um die Mitte des 10. Jahrhunderts hatte das Stift zudem die Reliquien Pinossas nach Essen abgegeben 21 . Pinossa war dem Sermo in natalis nach als Vinossa a nostris Pinossa nuncupata die Führerin der Jungfrauenschar, während in den wenigen frühen Namensnennungen diese Ehre auch für Saula und Martha (Martyrologium von Usuard, um 875, zum 20. Oktober) oder Brittola bezeugt ist 22 . Trotz der Übertragung nach Köln war das Frauenstift in Gerresheim wohl nicht ganz aufgegeben worden und zum Jahresbeginn 970 konnte Erzbischof Gero dort eine neue Kirche weihen, dessen Frauengemeinschaft dem Ursula-Konvent eng verbunden blieb 23 . Diese Verbreitung der Ursula-Verehrung über Köln hinaus mag ein Grund für die Abfassung der Ersten Passio gewesen sein. In dieser wird erstmals Ursula als Führerin der Jungfrauen bezeugt und in enger Anlehnung an den Sermo und in Adaption offensichtlich mündlicher Traditionen sowie anderer Vitenstoffe, die unter anderem W ILH E LM L E VI S O N herausgearbeitet hat, eine Legende formuliert, nach der die Heiligen - wie der Sermo argumentiert hatte - aus England gekommen seien und dann über Köln zu einer Pilgerreise nach Rom weitergezogen wären. J O S E P H K LIN K E N B E R G hat diese ‚Erfindung‘ der Pilgerreise und des zweifachen Besuchs in Köln als Fehllesungen aus einzelnen Andeutungen im Sermo interpretiert 24 . Wieviel hier orale Tradition und möglicherweise sogar lange überliefertes Wissen und wieviel literarische Konstruktion aus möglicherweise verschiedenen Quellen war, ist kaum mehr zu klären. Jedenfalls wurde mit der Ersten Passio in den 960 / 70er Jahren Leben, Pilgerfahrt und Martyrium der heiligen Ursula erstmals breit ausgestaltet - lange bevor die Legenda aurea sich im 13. Jahr‐ hundert dieser Vorlage (und der Zweiten Passio aus der zweiten Hälfte des 188 Klaus Gereon Beuckers <?page no="189"?> 25 Der Text der Zweiten Passio bei K L I N K E N B E R G , Studien 1892 (wie Anm. 4), S. 154 - 163. - Zum Inhalt vgl. auch L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 90 -107. 26 Vgl. Jacobus D E V O R A G I N E , Legenda Aurea / Heiligenlegenden, übers. v. Jaques L A A G E R (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), Zürich 1982, S. 357 - 363. - Eine ausführliche deutschsprachige Reimfassung der Ursula-Legende im sog. ‚Passional‘ aus dem 13. Jahrhundert hat vor allem über den Deutschen Orden Verbreitung gefunden und dürfte im 15. Jahrhundert auch in Köln bekannt gewesen sein. Vgl. Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts, hg. v. Friedrich Karl K Ö P K E (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur, Bd. 32), Quedlinburg 1852 (ND Amsterdam 1966), S. 565 - 574 [67. Diz ist von den eilf tusent megeden]. - Vgl. hierzu auch Peter S T R O H S C H N E I D E R , Religiöses Charisma und institutionelle Ordnung in der Ursula Legende, in: Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville zum 65. Geburtstag, hg. v. Franz J. F E L T E N , Annette K E H N E L und Stefan W E I N F U R T E R , Köln 2009, S. 570 - 588. 27 Zur Gründung und Handelsbedeutung Tiels vgl. H. M Ü T E R , Het ontstaan van de stad Tiel (Bijdragen voor de Geschiedenis der Nederlanden, Bd. 9; Abhdlg. 3 / 4), Den Haag 1955. - Otto Gerhard O E X L E , Die Kaufmannsgilde von Tiel, in: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa. Bd. 6: Organisationsformen der Kaufmannsvereinigungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, hg. v. Herbert J A N K U H N und Else E B E L (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse) Göttingen 1989, S. 173-196. - Juke D I J K S T R A , Das Handelszentrum Tiel im 10. bis 12. Jahrhundert, in: Europa im 10. Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit, hg. v. Joachim H E N N I N G , Mainz 2002, S. 195-208. 11. Jahrhunderts 25 ) bediente und sie in alle Ecken der mittelalterlichen Welt verbreitete 26 . Zu historischen Elementen in der Narration der Ersten Passio Der Text der Ersten Passio setzte die Handlung in den zeitlichen Bezugsrahmen des 10. Jahrhunderts. So landeten die Frauen nach dem Sturm, der sie aus dem Ärmelkanal in den Rhein hineingetrieben hatte, in Tiel an der Waal unterhalb von Nijmwegen, etwa 15 km oberhalb der Maasmündung. Tiel war im 9. Jahrhundert gegründet worden und hatte nach der Zerstörung von Dorestad 862 / 863 durch die Normannen dessen Rolle als wichtigste Handelsstadt an der Rheinmündung übernommen 27 . Das wasserreiche Delta von Rhein / Waal er‐ möglichte insbesondere unterhalb der Maasmündung eine segelnde Befahrung mit Hochseeschiffen. Die spätere Hansestadt Tiel war die nächste befestigte Siedlung oberhalb und ein typischer Anlegeplatz für den Englandhandel, bevor die Schiffe den Rhein hinauffuhren. Der hier gelegene Königshof war relativ genau zur Zeit der Abfassung der Ersten Passio bei der Hochzeit Kaiser Ottos II . mit Theophanu 972 als Witwengut der Kaiserin festgelegt worden und wurde 997 zu einem wesentlichen Ausstattungsgut für die wirtschaftliche Reform des 189 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="190"?> 28 Vgl. Ludwig F A L K E N S T E I N , Otto III. und Aachen (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 22), Hannover 1998, S. 129-150. 29 Vgl. Herbert S A R F A T I J , Tiel in Sucession to Dorestad. Archaeology in a 10thto 11th-Century Commercial Centre in the Central River Area of the Netherlands, in: In Discussion with the Past. Archaeological Studies Presented to W. A. von Es, hg. v. Herbert S A R F A T I J , W. J. H. V E R W E R S und P. J. W O L T E R I N G , Zwolle 1999, S. 267-278, hier S. 273. - D I J K S T R A , Handelszentrum Tiel (wie Anm. 27), S. 203. - B I H R E R , Begegnungen (wie Anm. 3), S. 61 f. 30 B I H R E R , Begegnungen (wie Anm. 3), S. 67 u. 81 f. mit Anm. 318. 31 Vgl. Erich W E I S E , Die Hanse, England und die Merchants Adventures. Das Zusam‐ menwirken von Köln und Danzig, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 31 / 32 (1957), S. 137-164, insb. S. 138. - Gunther H I R S C H F E L D E R , Die Kölner Handelsbe‐ ziehungen im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums 10), Köln 1994, insb. S. 395-435. - Joseph P. H U F F M A N , Familiy, Commerce, and Religion in London and Cologne. Anglo-German Emigrants, c. 1000-c. 1300 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Forth Series 39), Cambridge 1998. 32 Vgl. Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton L E G N E R , 3 Bde., Köln 1985, Kat. Nr. E 93, Bd. 2, S. 326 f. 33 Vgl. Clemens V O N L O O Z -C O R S W A R E M , Zum Stapelrecht in Köln und der Schiffahrt auf dem Niederrhein, in: Köln und die Niederrheinlande in ihren historischen Raum‐ beziehungen (15.-20. Jahrhundert), hg. v. Dieter G E U E N I C H (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 17), Mönchengladbach 2000, S. 323-338, zu den Schiffen insb. S. 330 f. - Zu den Typen der Rheinschiffe nach historischen Abbildungen vgl. Kurt S C H W A R Z , Die Typenentwicklung des Rheinschiffs bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1928. - Das am Deutschen Schiffahrts‐ Aachener Marienstiftes unter Kaiser Otto III . 28 . Den intensiven England-Handel belegt in Tiel nicht zuletzt unter anderem auch der Fund eines zwischen 971 und 1008 im Londoner Raum gebauten Schiffes 29 . A N D R E A S B IH R E R führt die Blüte der Stadt insbesondere auf die Förderung durch die Ottonen zurück und verweist auf das zunehmende Versanden des Hafens, weshalb Tiel noch im 11. Jahrhundert seine Bedeutung verloren hat und Köln den England-Handel ganz übernahm 30 . Auch wenn schriftliche Belege für die Handelsbeziehungen von Köln nach England vor dem 11. Jahrhundert rar sind, so zeigt die weitere historische Entwicklung mit der Gründung der Londoner Gildehalle für die Kölner Kaufleute 1157, aus der die Hanse erwachsen ist, die seit langem engen Kontakte 31 . Hierfür legen auch die im Austausch nach Köln gelangten englischen Objekte Zeugnis ab, von denen nur der Taustab Erzbischof Heriberts (amt. 999-1021) genannt sei 32 . Köln war der Ort, an dem alle Seeschiffe - auch unabhängig von dem seit 1259 verbindlichen Kölner Stapelrecht - auf flache Schiffe, die sogenannten Oberländer, umladen mussten, weil der Rhein in den Mittelgebirgen mit ihren Felsen und Untiefen für kielführende Schiffe nicht befahrbar war 33 . Da die Ladekapazität der Oberländer deutlich geringer als die 190 Klaus Gereon Beuckers <?page no="191"?> museum Bremerhaven angesiedelte DFG-Projekt zielte auf eine Erfassung volkstüm‐ licher (Klein-)Boote vgl. Hans-Walter K E W E L O H : Vorindustrielle Wasserfahrzeuge im Flussgebiet des Rheins. Ein Forschungsprojekt des Deutschen Schiffahrtsmuseums, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv. Zeitschrift des Deutschen Schiffahrtsmseums 4 (1981), S. 205-212. 34 Vgl. hierzu cap. 9, L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 149f. - In der Legenda Aurea heißt es dazu: Nun begannen sie mit Kriegsübungen: Sie fuhren zusammen und trennten sich wieder, bekriegten sich oder täuschten Flucht vor, übten sich in jeder Art von Spielen und ließen nichts weg, was ihnen einfiel, bald kehrten sie mittags, bald auch spät abends zurück. zit. Legenda Aurea (wie Anm. 26), S. 359. der Seeschiffe war, wurde in Köln auch rheinabwärts umgeladen, selbst wenn die Ware nur für die Niederlande bestimmt war. Köln war also für alle rheinauf- und abwärts fahrenden Schiffe fester Anlaufpunkt. Für die rheinabwärts fahrenden Schiffe war dies darüber hinaus bis zu einem gewissen Maße auch Mainz, da der Oberrhein wegen seiner geringeren Fließgeschwindigkeit ebenfalls andere Schiffe als die Mittelgebirge ermöglichte. Diese Routen und Umschlagplätze für den Handel bestanden so bereits im 10. Jahrhundert, standen dem Verfasser der Ersten Passio also als Hintergrund für seinen Entwurf der Schiffsreise Ursulas vor Augen. Bezeichnenderweise sind die Stationen der Hinfahrt nach Rom dann auch Tiel, Köln und Basel, bei der Rückfahrt rheinabwärts Basel, Mainz und Köln. Es stellt sich die Frage, inwiefern der Text auch darüber hinaus historische Inhalte transportiert. Die Herkunft Ursulas aus England hatte bereits der Sermo in natalis postuliert und sich dafür explizit auf die englische Legendentradition sowie eine orale Über‐ lieferung in Köln gestützt. Dahinter muss kein historisch belastbares Geschehen stecken, jedoch fällt ein Bruch narrativer Logik in der Legende auf: So fordert Ursula von ihrem Vater zur Hinausschiebung der Hochzeit mit dem seit dem 12. Jahrhundert als Aetherius benannten Bräutigam für sich und ihre Gefährtinnen elf Schiffe, mit denen sie dann nautische Übungen an der englischen Künste vollzieht. Hier ist schon das Rollenbild ungewöhnlich: Blieb noch der Kern der Erzählung mit der Brautwerbung eines Heiden um eine christliche Prinzessin im Rahmen, da solche Konstellationen in hagiographischen Legenden weit verbreitet sind und bei vielen Jungfrauenheiligen auftreten, die ihre Zustimmung öfters an Bedingungen wie die Bekehrung und Taufe des Bräutigams oder auch eine Aufschiebung der Hochzeit knüpfen. Gleiches gilt auch für die Forderung Ursulas nach der ungewöhnlichen Gefolgschaft von zehn Gefährtinnen. Singulär für eine Jungfrauenheilige ist jedoch der Wunsch nach einer Flotte von jeweils einem Schiff pro Gefährtin, mit denen sich die Frauen anschließend der Einübung nautischer und militärischer Fähigkeiten auf dem Ärmelkanal widmen 34 . Eine solche ’Amazonen-Geschichte‘ ist hagiographisch höchst ungewöhnlich und 191 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="192"?> 35 K L I N K E N B E R G , Studien 1892 (wie Anm. 4), S. 164 hat dies bereits für die Zweite Passio erkannt: Nachdem die Jungfrauen aufgeboten und die Schiffe hergestellt sind, beginnen dieselben nach einer kurzen Ermahnung ihrer Königin Ursula nautische Übungen, die sie drei Jahre fortsetzen. Diese irgendwie zu motivieren, ist dem Legendenschreiber ebenso wenig gelungen, wie er einen genügenden Grund für das Jungfrauenaufgebot anzuführen vermochte: aber er musste, wenn auch noch so gewaltsam, die Jungfrauen zu Schiffe bringen und sie mit den nöthigen Kenntnissen in der Schiffahrt ausstatten, um sie später - ohne männliche Begleitung - denn eine solche gestattete die Kölner Tradition nicht - die Reise bis nach Basel zu Wasser zurücklegen zu lassen. 36 L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 75. mit dem Rollenideal einer Jungfrauenheiligen nur schwer vereinbar. Entfernt vergleichbar ist sie höchstens mit der Legende der heiligen Katharina, die sich durch wissenschaftliche Bildung rüstet und dann bei ihrem Martyrium auch so verteidigt. Sowohl Ursula als auch Katharina nehmen dadurch Züge eines eigentlich in solchen Texten meist männlichen agens in der Tradition des antiken Heldenepos an. Geht das bei Katharina aber in Übereinstimmung mit dem Ideal einer christlichen Erkenntnis, so ist diese Rolle als waffengewandte Schiffslenkerin für Ursula erklärungsbedürftig. Mag bei einem Ritterheiligen die Waffenbildung als sinnvolle Vorbereitung beispielsweise zum Kampf gegen das Böse oder die Befreiung des Heiligen Landes narrativ verständlich sein, so wird dieser ganze Erzählstrang bei Ursula nicht plausibel 35 . Mehr noch: Bei ihren Übungen werden die Jungfrauen durch einen Sturm auf den Ärmelkanal hinausgetragen und landen in Tiel. Dort entscheiden sie sich nach Proviantaufnahme zur Weiterfahrt nach Köln, wo Ursula dann ihre Vision hat, die sie zur Weiterfahrt nach Rom animiert. W ILH E LM L E VI S O N hat dazu treffend formuliert „Visionen waren ein billiges Mittel, um die Handlung vorwärts zu bringen und zu begründen“ 36 . Denn eigentlich wird in der Legende nicht begründet, wozu Ursula überhaupt Schiffe haben wollte und sich an deren Steuerung übt, wenn die Wallfahrt erst in Köln mittels göttlicher Inspiration ins Spiel kommt. Die Vision kaschiert diesen narrativen Widerspruch oberflächlich und lässt so implizit schon die Vorgeschichte als göttlichen Plan erscheinen, jedoch stellt sich die Frage, warum hier nicht eine glattere Konstruktion erfolgte, die beispielsweise die Vision bereits nach England verlegen würde. Die hagiographischen Texte tragen hier nicht zur Klärung bei, doch spricht dieses narrative Konglomerat insgesamt für eine mehrschichtige Entstehung der Legende, in der sich ältere Erzählstrukturen oder vielleicht sogar historische Elemente weiter tradieren. Doch welcher historische Kern könnte hier verarbeitet sein? Für den Viten‐ schreiber des 10. Jahrhunderts stand fest, dass die Jungfrauen in der Spätantike aus England geflüchtet waren. Was der Text (in Anlehnung an einen Großteil der 192 Klaus Gereon Beuckers <?page no="193"?> Jungfrauenviten) mit der Christenverfolgung unter Diokletian verband (wofür nicht nur der Sermo in natalis bereits Pate stand, sondern dies auch mit der Clematius-Inschrift in Übereinstimmung zu bringen war), hatte in England einen historischen Kern: So war im ersten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts mit dem Abzug römischer Truppen aus Britannien die dortige römische Herrschaft nach einem Jahrhundert zunehmenden Niedergangs endgültig zusammengebrochen. Anlass war der Rheinübergang großer, teilweise germanischer Verbände wie der Sueben, Vandalen und Alanen im Winter 406 bei Mainz, mit dem die römi‐ sche Rheinlinie zusammenbrach. Kaiser Konstantin III . (amt. 406-411) brach daraufhin mit den britannischen Truppen zur Unterstützung an den Rhein auf. Dabei führte sein Weg nach Mainz durch die Rheinmündung über Köln, das noch bis Mitte des 5. Jahrhunderts eine römische Stadt blieb, auch wenn es bereits von Franken umgeben war, und somit für die britannischen Römertruppen eine wichtige Anlaufstation war. Die in England ansässige römische oder romaffine Bevölkerung war durch den Abzug Konstantins plötzlich auf sich selbst gestellt und verließ zu erheblichen Teilen mit Frauen und Kindern die Insel, um auf dem Festland in die römischen Gebiete zu gelangen. Dies geschah auch mit Schiffen auf dem Weg des konstantinischen Heeres über das Rheindelta den Rhein hinauf. Köln war dabei die nördlichste noch befestigte Römerstadt und deshalb sicher Station für die fliehenden britannischen Römer, wo man sich zumindest vor‐ übergehende Aufnahme erhoffte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kämpfe mit Germanen oder auch anderen Verbänden der Völkerwanderung vor den Toren von Köln stattgefunden haben, bei denen vielleicht auch Schiffsbesatzungen aus England niedergemetzelt wurden und sich dies im historischen Gedächtnis Kölns bis in das 10. Jahrhundert überliefert hat - zumal sich eine ähnliche Erfahrung in den Normannenstürmen des 9. Jahrhunderts wiederholte. Gerade im 4. Jahrhundert dürften die Schiffe auch etliche Frauen an Bord gehabt haben. Die Ursula-Legende macht jedenfalls die Kölner Stadtbevölkerung, die durch die Hunnen in Bedrängnis geraten sei, zu unbeteiligten Zeugen des Martyriums der Heiligen, und lässt sie erst nach dem wundersamen Abzug der Bedränger vor die Stadtmauern treten und die Opfer bestatteten. Solche Szenarien dürfte es sowohl während der Völkerwanderung des 4./ 5. Jahrhunderts wie auch bei den Normannenstürmen 881 / 882 gegeben haben. Es ist naheliegend, solche Erfahrungen als Hintergrund der Ausgestaltung der Heiligenvita hundert Jahre nach den Normannenstürmen zu vermuten. Was auch immer sich hinter den verschiedenen Erzählelementen der Ur‐ sula-Vita als historischer Kern verbirgt oder verbergen könnte, so scheint die Erste Passio einerseits das historische Umfeld des 10. Jahrhunderts zur Rhein‐ schifffahrt, das stark durch den Handel geprägt wurde, möglicherwiese mit 193 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="194"?> oral kursierenden Erzählungen zu England-Flüchtlingen aus der Völkerwande‐ rungszeit verbunden zu haben, die sich in dem Erzählstrang der nautischen Übungen und dem Weg Ursulas nach Köln erhalten haben. Diese Motive wurden mit den in der Clematius-Inschrift überlieferten heiligen Jungfrauen verknüpft, die schon im Sermo in natalis zu einer riesigen Schar aus England ausgedeutet worden waren. Wird dort von einer Romwallfahrt, die die Reise nach Köln ergänzte, noch nichts berichtet, so wird dies in der Ersten Passio zum zentralen Element. Hierdurch wurde die Reisegeschichte nicht nur gesteigert, sondern zu einem frommen Werk umgedeutet. Erst dadurch wurde die Ursula-Geschichte zu einer Wallfahrtsgeschichte. Ursulas Pilgerreise? Der sognannte Kleine Ursula-Zyklus des ’Kölnischen Meisters von 1456‘ im Wallraf-Richartz-Museum widmet der Reise neun von 15 Tafeln. Sie beginnt (nach sechs Tafel zur Jugend Ursulas und der Brautwerbung) mit der Einschif‐ fung, die als rechte Szene einer Doppeldarstellung angelegt ist und links die Taufe der Gefährtinnen in einem Kirchenraum zeigt (Abb. 3). Aus der Architektur tritt rechts die Schar der Frauen hervor, und Ursula ist dabei, das Schiff, offenbar eine Kogge, auf dem schon viele Frauen auf sie warten, über eine Rampe zu betreten. Die Stadtansicht im Hintergrund, durch einen Wasserarm vom Geschehen getrennt, ist vieltürmig, auf der gegenüberliegenden Seite ist eine bergige Landschaft mit Vulkan zu erkennen. Abb. 3: Taufe der Gefährtinnen Ursulas und Einschiffung, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölni‐ scher Meister von 1456 Ganz anders erzählt dies der etwa gleichzeitige, in der Malerei deutlich detailrei‐ chere sogenannte Große Zyklus in St. Ursula, wo sich am linken Bildrand Ursula von ihren Eltern verabschiedet, während im Vordergrund ein Mann in Begleitung eines voranspringendem Hundes Proviant auf ein Boot bringt (Abb. 4). Zwei dieser eher kleinen und niedrigen, sicher nicht seetauglichen Boote sind bereits mit Frauen besetzt. Bei der Ankunft in Tiel wird die Verabschiedungsszene zu 194 Klaus Gereon Beuckers <?page no="195"?> einer Begrüßung auf der rechten Bildhälfte gespiegelt, wo Ursula durch reich gekleidete Bürger, unter denen sich auch mindestens ein Geistlicher befindet, vor dem Stadttor empfangen wird (Abb. 5). Kinder diskutieren im Vordergrund, während die Bildmitte und der linke Hintergrund durch drei Boote mit Segeln, auf denen die Flammen Ursulas als Banner angebracht sind, gefüllt wird. Abb. 4: Einschiffung Ursulas, Großer Ursula-Zyklus in St. Ursula in Köln Abb. 5: Ankunft Ursulas in Tiel, Großer Ursula-Zyklus in St. Ursula in Köln 195 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="196"?> 37 Vgl. K L I N K E N B E R G , Studien 1892 (wie Anm. 4), S. 171-176. - L E V I S O N , Ursula-Legende (wie Anm. 5), S. 107-137. - Winfried S C H M I T Z , Eckhard W I R B E L A U E R , Auf antiken Spuren? Theoderich, das Benediktinerkloster in Köln Deutz und die Legende der heiligen Ursula, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins romanische Kirchen in Köln 14 (1999), S. 67-76. - N Ü R N B E R G E R , Vorgängerbauten (wie Anm. 14), S. 586 f. Auch der Kleine Ursula-Zyklus antwortet mit dem Tiel-Bild auf die Einschiffung, denn Ursula tritt hier eine ähnliche Rampe herunter, die sie eben heraufge‐ gangen war (Abb. 6). Wiederum ist nur das eine Schiff zu sehen, im Tor der hier deutlich ummauerten Stadt mit mehreren Kirchen stehen Bürger. Die nächste Szene zeigt die Ankunft in Köln, bei der im Kleinen Ursula-Zyklus das Schiff vor der eindeutig identifizierbaren Stadtsilhouette noch gar nicht angelegt hat (Abb. 7). Nur sehr versteckt ist innerhalb der Stadt im Norden, hinter St. Kunibert und vor einer gotischen Chorarchitektur (St. Ursula? ), also an der Stelle des Ager Ursulanus, die Erscheinung des Engels über der schlafenden Heiligen zu sehen. Dort waren im Zuge der Stadterweiterung nach 1106 zahlreiche Gebeine aufgefunden worden, bevor zwischen 1155 und 1165 durch die Abtei Deutz systematische Ausgrabungen erfolgten und vor allem in Visionen von Elisabeth von Schönau namentlich identifiziert und mit Viten versehen wurden, womit Ursula und ihre Gefährtinnen zu Gegenständen des Reliquienhandels und der weltweiten Verehrung wurden 37 . Die Lokalisierung der Vision im Kleinen Zyklus verwies somit auf den Ort der Bestattung der Heiligen nach dem Martyrium. Der Zyklus in St. Ursula komprimiert Ankunft und Traum hingegen, indem die Vision innerhalb der Torarchitektur angeordnet wird. Auch hier findet die Ankunft in Köln und die Begrüßung durch den Erzbischof vor der Stadt am Rhein statt. Schiffe sind hier nur im Hintergrund zu sehen, wie auch bei den folgenden Szenen. Abb. 6: Ankunft Ursulas in Tiel, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölnischer Meister von 1456 196 Klaus Gereon Beuckers <?page no="197"?> Abb. 7: Erste Ankunft Ursulas in Köln, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölnischer Meister von 1456 Dieses Modell der Darstellung bleibt weitgehend einheitlich: Der Zug der Frauen wird vor allem im Kleinen Zyklus als Schiffsreise gezeigt, bei der die Städte nicht betreten werden, sondern die Begrüßungen vor den Stadttoren angeordnet sind. Im Großen Zyklus treten die Schiffe bis zu den letzten beiden Reiseszenen mit Mainz und Köln zunehmend in den Hintergrund und konzentrieren sich auf die Begrüßung der personenreichen Schar vor den jeweiligen Städten. Entsprechend zeigt der Kleine Ursula-Zyklus die Ankunft in Basel als nächste Szene, wo immerhin Bischof Pantalus von Basel vor die Stadt tritt, der seitdem den Zug begleitet und ebenfalls in Köln das Martyrium erleiden wird (Abb. 8). Das Bild ist hier zweigeteilt und präsentiert signifikant die Gegenüberstellung des Schiffs links mit der Stadtansicht rechts. Auch die Ankunft in Rom zeigt die Frauen (zu Fuß) vor der Stadt, wo sie von Papst Cyriacus empfangen werden (Abb. 9). Abb. 8: Erste Ankunft Ursulas in Basel, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölnischer Meister von 1456 197 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="198"?> 38 Vgl. Jörg-Holger B A U M G A R T E N , Kölner Reliquienschreine (Köln entdecken 3), Köln 1985 (ND 1986), S. 34-39. - L E G N E R , Kölner Heilige (wie Anm. 11), S. 210. Abb. 9: Ankunft Ursulas in Rom, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölnischer Meister von 1456 Im Großen Zyklus sind auf einer Tafel hierzu drei Szenen angeordnet, wobei die Ankunft in Basel und in Rom weitgehend synchron und mit einer nur angedeuteten Portalarchitektur angelegt sind, während rechts die Taufe der inzwischen angewachsenen Schar an Jungfrauen durch den Papst in Rom erfolgt (Abb. 10a und b). Der Taufe (und Vision des Papstes) widmet der Kleine Zyklus eine eigene Tafel. Bei der Rückreise treten in beiden Zyklen die Frauen in Basel wieder vor das Stadttor, vor dem sie begrüßt werden, wie auch in Mainz, wo der Bräutigam Aetherius ihnen vor der Stadt entgegentritt (Abb. 11). Hier ist der Große Zyklus in St. Ursula ausführlicher, denn er schiebt Szenen der Aetherius-Geschichte ein, die auch schon vor der Einschiffung eine Rolle gespielt haben und die mit der besonderen Verehrung von Aetherius in der Kirche St. Ursula in Köln, wo sein Schrein bis heute erhalten ist 38 , erklärt werden können. Gezeigt wird deshalb die Bitte des Jünglings Ursula entgegenreisen zu dürfen, dem die Abreise der Jungfrauen in Basel und die Begrüßung von Aetherius in Mainz folgen, bevor die Frauen dort eintreffen und nach dem bekannten Schema vor den Toren empfangen werde. Immerhin müssen sie hier die Stadt auch betreten haben, denn es folgt die Taufe des Bräutigams im Mainzer Dom, bevor die Abreise aus Mainz gezeigt wird. Beide Zyklen schließen mit der Synchronszene der Ankunft in Köln und des Martyriums (Abb. 1 und 12). 198 Klaus Gereon Beuckers <?page no="199"?> Abb. 10a und b: Ankunft Ursulas in Basel und Rom mit Taufe, Großer Ursula-Zyklus in St. Ursula in Köln 199 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="200"?> Abb. 11: Zweite Ankunft Ursulas in Basel, Kleiner Ursula-Zyklus, Kölnischer Meister von 1456 Abb. 12: Martyrium Ursulas in Köln, Großer Ursula-Zyklus in St. Ursula in Köln Wenn eine Wallfahrt oder Pilgerreise immer zum Ziel hat, heilige Stätten zu besuchen und sich darauf auf dem Weg vorzubereiten, so zeigen die beiden wichtigsten Kölner Zyklen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (wie auch die anderen Zyklen) davon überraschenderweise so gut wie nichts. Dabei war Köln spätestens seit dem Hochmittelalter ein wichtiges Pilgerziel und stolz darauf. Auch Mainz und Basel beherbergten prominente Heilige, von Rom ganz zu schweigen. Die Zyklen zeigen davon aber nichts: keine Verehrung am Petrusgrab oder ein anderer Besuch von Kirchen oder Schreinen, keine einzige Ansicht der Schar innerhalb einer Stadt. Stattdessen ist die Reise mit dem Schiff bildlich hervorgehoben, ihr stehen höchstens die Bilder mit den Taufen 200 Klaus Gereon Beuckers <?page no="201"?> 39 Vgl. Anm. 10. 40 Vgl. Michelangelo M U R A R O , Tomaso da Modena. Le storie di Sant’Orsola, Villorba 1987. - Orsola svelata. Il restauro del ciclo di affreschi di Tomaso da Modena, hg. v. Maria Elisabetta G E R H A R D I N G E R und Emilio L I P P I , Vicenza 2009. 41 Vgl. D E L P Y , Legende (wie Anm. 8), S. 151-181 (noch mit einer Zuschreibung an den Meister von St. Severin). - Harald B R O C K M A N N : Die Spätzeit der Kölner Malerschule. Der Meister von St. Severin und der Meister der Ursulalegende (Forschungen zur Kunstge‐ schichte Westeuropas 6), Bonn 1924. -Z E H N D E R , Katalog (wie Anm. 1), S. 382-390 mit einer Zusammenstellung der Tafeln S. 383 f. noch deutlich abgemildert an der Seite. Dies überrascht, denn es verschiebt den Fokus weg von einer Wallfahrt zu einer Schiffsreise oder besser: deren Anlegestationen. Wie unterschiedlich das gehandhabt werden kann, zeigt beispielweise der Ursulazyklus, den Vittore Carpaccio im Auftrag der Ursula-Bruderschaft für S. Orsola in Venedig zwischen 1490 und etwa 1500 gemalt hat 39 . Die neun Bilder zeigen auf den ersten vier Szenen die Verhandlungen um die Hochzeit, dann den Traum Ursulas als Innenraumszene, die Begegnung mit dem Papst vor den Mauern Roms und schließlich Ankunft und Martyrium sowie die Apotheose Ursulas. Auch wenn auf zwei Bildern im Hintergrund Schiffe zu sehen sind, so zeigt kein einziges Bild die Reise selbst oder die Schar im Schiff. Dies gilt ähnlich bereits für den Wandmalerei-Zyklus von Tomaso da Modena im Dominikanerkloster von Treviso (heute Museo Civico di santa Caterina) aus der Mitte des 14. Jahrhunderts 40 . Selbst der in 19 bekannten Szenen ausgeführte, kurz vor 1500 datierte, namensgebende Leinwand-Zyklus des ‚Meisters der Ursula-Legende‘, der möglicherweise aus St. Severin in Köln stammt und heute über mehrere Museen verstreut ist, zeigt die Reise nur in wenigen Bildern und ohne eine besondere Betonung von Schiffen 41 . Die beiden heute im Rheinischen Landesmuseum in Bonn aufbewahrten Szenen der Ankunft in Basel und in Rom (Inv. Nr. G. K. 139 und 140) folgen dem Schema der Begrüßung vor den Mauern der Städte; in Basel ist hinter der Personengruppe immerhin noch ein Schiff an Mast und Takelage erkennbar (Abb. 13). Offensichtlich zielten die Konzeptoren der Kölner Zyklen der Jahrhundertmitte und insbesondere des Kleinen Zyklus auf ein Publikum, das mit Schifffahrt und der Schiffspilgerschaft entlang des Rheins nach Rom besonders angesprochen werden sollte. 201 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="202"?> Abb. 13: Erste Ankunft Ursulas in Basel, Meister der Ursula-Legende 202 Klaus Gereon Beuckers <?page no="203"?> 42 Vgl. Dieter R I E M E R : Koggen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Teil 2: Münzen und Siegel, in: Koggebrief 27 (2020), S. 10 f. Aber auch die Art und Weise, in der Ursula und ihre Gefährtinnen bei ihren Schiffsreisen gezeigt werden, stellt nicht ihre Frömmigkeit oder geistliche Konzentration in den Mittelpunkt. Vielmehr überwiegen dialogische Komposi‐ tionen zwischen den ankommenden Frauen und der städtischen Prominenz, die ihnen vor der Stadt entgegentritt. Die stets gekrönt auftretende Ursula, der durchgängig als einziger der Jungfrauen ein Nimbus zugestanden wird, wird von Bischöfen und dem Papst sowie hochgestellten Bürgern in vollem Ornat als Stadtherren begrüßt und damit nobilitiert. Ihr Rang zeigt sich auch in der aufwändigen Kleidung, die gar nichts von einem Pilgerhabit hat. Ursula ist die reich bekleidete, vornehme Prinzessin, deren Ankunft ein politisches Ereignis ist. So unterstreichen die Bilder die Bedeutung, die Wichtigkeit Ursulas - was durchaus den Darstellungskonventionen von Heiligen im 15. Jahrhundert entspricht. Würde das Geschehen nicht auf das Martyrium zulaufen, dann würde man hier eine höfische Reisegesellschaft mit geistlicher Begleitung vermuten können. Dies gilt für den Großen Zyklus ins St. Ursula noch mehr als für den Kleinen im Wallraf-Richartz-Museum, bei dem auch den Schiffen als einmastigen Booten wenig Interesse entgegengebracht wird, während der Kleine Zyklus durch‐ gängig Seeschiffe mit einem von einer Reling bekrönten, erhöhten Achterkastell hinten und leicht hochgezogenem, abgeflachten Bug ohne Mittelsteven zeigt. Damit handelt es sich um Koggen mit dem großen Steuerruder achtern, was sie von den frühmittelalterlichen Schiffen mit gerundetem Bug und großen Seitenrudern, den sogenannten Nefs, unterscheidet 42 . Koggen waren im 15. Jahr‐ hundert die typischen Handelsschiffe, in denen relativ viel Last transportiert werden konnte. Für reine Personentransporte waren sie eher mäßig geeignet. Wenn hier also Koggen dargestellt sind, so verband der Maler das Thema Schiff mit den in Köln vielfach zu sehenden Kaufleuteschiffen. Ursula wurde so zur Vorgängerin der Handelsreisenden. Lediglich bei dem Martyrium in Köln wechselt der Schiffstyp und zeigt einen mastlosen Kahn, was aber vielleicht auch der Bildkomposition geschuldet ist. Es handelt sich jedenfalls nicht um Oberländer, die ebenfalls bemastet waren. Schluss Die beiden Kölner Zyklen stellen die Rom-Reise Ursulas, die erst mit der Ersten Passio in die Legende hineingekommen ist, in den Mittelpunkt. Blickt man 203 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="204"?> 43 Zit. n. Legenda aurea (wie Anm. 26), S. 359. 44 Zit. n. Legenda aurea (wie Anm. 26), S. 361. 45 Vgl. Klaus Gereon B E U C K E R S , Köln. Die Kirchen in gotischer Zeit (Stadtspuren., Denk‐ mäler in Köln 24), Köln 1998, S. 315 f. 46 H E U S G E N , Ursulabruderschaften (wie Anm. 7), S. 164 f. auf die Legenda aurea, die im 15. Jahrhundert sicher hauptsächlich relevante Textgrundlage, so widmet diese der Reise nur wenige Sätze. Für die Hinreise führt sie aus: Schließlich, nachdem Ursula alle Jungfrauen zum Glauben bekehrt hatte, kamen sie bei günstigem Wind in einem einzigen Tag zu einem Hafen Galliens, der Tyella [Tiel] heißt, und von da aus nach Köln. Hier erschien Ursula ein Engel und sagte ihr voraus, sie wurden alle zusammen wieder hierhin zurückkehren und die Krone des Martyriums erlangen. Von Köln aus zogen sie auf Rat des Engels nach Rom, legten in Basel an, verließen hier ihre Schiffe und kamen zu Fuß nach Rom 43 . Dann folgen lange Ausführungen zum legendären Papst Cyriacus und weiteren Begleitern über die Hunnen bis zu Aetherius, bevor ein lapidarer Satz die Rückfahrt betrifft: So kehrten nun alle Jungfrauen mit den erwähnten Bischöfen nach Köln zurück und fanden dieses bereits von den Hunnen belagert 44 . In der Ersten Passio war der Reise nach Köln zwar mit Kapitel 10, dem Traum mit Kapitel 11 und der Weiterreise über Basel nach Rom mit Kapitel 12 deutlich mehr Raum gegeben worden, jedoch ist auch dort die Fahrt per Schiff nur am Rande erwähnt. Diese im Gegensatz zu den Texten schiffslastige Umsetzung der Kölner Zyklen Mitte des 15. Jahrhunderts ist also eine Eigenleistung der Maler. Erst sie schaffen diese Form der Erzählung und entwickeln damit eine Analogie zu den Schiffsreisen auf dem Rhein, welche die Handelstätigkeit etabliert hatte und die auch von - zumindest wohlhabenden - Pilger auf dem Weg nach Rom genutzt wurden. Diese Form der Bilderzählung war zudem ein Identifikationsangebot für die kaufmännisch geprägte Bevölkerung von Köln. Bezeichnenderweise hieß die Allgemeine Ursula-Bruderschaft, in die auch Laien und einfache Bürger eintreten konnten, ’St. Ursula Schiffgen‘. Sie hatte spätestens seit dem 16. Jahrhundert, als die erhaltenen Schriftquellen einsetzen, ihren Sitz in der Marienkapelle auf der Südseite des Langhauses von St. Ursula, die im frühen 14. Jahrhundert erbaut und um 1461 umfassend neugestaltet wurde 45 . 1456 wurde die wohl im 14. Jahrhundert gegründete elitäre Patri‐ zier-Bruderschaft unter dem Patronat der Heiligen in Köln neu belebt 46 . Die Entstehung der Schiffgen-Bruderschaft ist hingegen unklar, jedoch geht P A U L H E U S G E N aufgrund des durch A E G IDI U S G E L E NI U S 1645 überlieferten Alters von 204 Klaus Gereon Beuckers <?page no="205"?> 47 H E U S G E N , Ursulabruderschaften (wie Anm. 7), S. 170-172 mit Verweis auf Aegidius Gelenius: De admirandam sacra et civilii magnitudine Coloniae, Köln 1645, S. 337. 48 Vgl. S C H N Y D E R , Ursulabruderschaften (wie Anm. 7), S. 49 u. 175-242. - M I L I T Z E R , Ursu‐ labruderschaften (wie Anm. 7), S. 44 f. - Die Bezeichnung aller Ursula-Bruderschaften als ‚Schiffchen‘ bei https: / / thema.erzbistum-koeln.de/ heilige/ heilige-ursula/ Brauchtum / Ursula_Schiffchen.html ist eine unzulässige Verallgemeinerung. 49 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, in dem eine umfassende Diskussion der Ursula-Überlieferung weder anhand der zahlreichen Texte noch der vielfältigen Bilder möglich war. Hierzu hat die Forschung bereits Wichtiges geleistet, was hier oft nur anklingen konnte. Die Narrationsstrukturen der hagiografischen Texte wären an anderer Stelle durch eine detailliertere Analyse der lateinischen Originaltexte noch ausführlicher zu diskutieren. 200 Jahren von einer Gründung um 1445 aus 47 . Dies passt gut zu der Umgestal‐ tung der Marienkapelle. Die Gründung der Laien-Bruderschaft Schiffgen könnte die Wiederbelebung der Patrizier-Bruderschaft initiiert haben. Jedenfalls grün‐ dete 1476 der Kartäuser Johann Neuweiler eine Bruderschaft ’Ursula-Schiffchen‘ in Straßburg, die 1496 von den Dominikanern erneuert und weiter verbreitet wurde 48 . Die 1335 gegründete Straßburger Kartause Mont-Sainte-Marie besaß enge Verbindungen zur Kölner Kartause und H E U S G E N vermutet hier eine Übernahme aus Köln, was K LA U S M ILITZ E R eher offenlassen möchte. Ganz egal, wie man diese Verbindungen bewerten möchte, zeigt der Name dieser Bruderschaft die enge Verknüpfung von St. Ursula und dem Schiff, wie sie auch die Kölner Zyklen um die Mitte des 15. Jahrhunderts mit malerischen Mitteln offenbaren. Insgesamt entstand damit spätestens im 15. Jahrhundert ein weit verbreitetes Modell für eine Wallfahrt per Schiff, die sich auf die Autorität und Vorbildhaf‐ tigkeit der Kölner Heiligen und ihrer Gefährtinnen beziehen konnte, deren Reliquien längst über ganz Europa verbreitet waren und die selbst zu einer der überregional bekanntesten Jungfrauenheiligen zählte. Ursula war damit zu einem Prototyp der Schiffswallfahrer zumindest für die Flussschifffahrt auf dem Rhein geworden 49 . 205 Die heilige Ursula von Köln - Idealtypus einer Schiffswallfahrerin? <?page no="207"?> 1 Siehe dazu Dieter B R O S I U S , Die Rolle der römischen Kurie im Lüneburger Prälatenkrieg (1449-1462), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 48 (1976), S. 107-134. 2 Siehe dazu nun Pilgerspuren. Wege in den Himmel. Von Lüneburg an das Ende der Welt, hg. von den Museen Stade und dem Museum Lüneburg, bearb. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, S. 157-218. Der günstigste Weg von Rom nach Norddeutschland Ein Beispiel für die Bedeutung der Rheinschifffahrt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts Jörg Voigt Am 15. August 1454 wurde am Fest Mariä Himmelfahrt in Basel ein Schiff be‐ laden, das eine Gesandtschaft der Stadt Lüneburg auf dem Rhein stromabwärts nach Norden bringen sollte. Diese Gesandtschaft, der Albert van der Molen, einer der vier Bürgermeister Lüneburgs, vorstand, war rund drei Wochen zuvor in Rom zu ihrem Heimweg aufgebrochen. In Rom wiederum hatte sie zuvor rund viereinhalb Monate verbracht, um in einer aus der Perspektive der Stadt äußerst brenzligen politischen Situation an der Kurie Papst Nikolaus’ V. gegen ein Interdikt gegen die Stadt zu appellieren. Hintergrund des Konfliktes war der sogenannte Lüneburger Prälatenkrieg, eine seit Jahrzehnten schwelende Aus‐ einandersetzung mit mehreren geistlichen Institutionen um die Besteuerung der Einnahmen aus den in der Stadt gelegenen Salinen, die Anfang der 1450er Jahre eskalierte 1 . Die lange Aufenthaltsdauer in Rom erklärt sich in erster Linie durch den Misserfolg dieser Gesandtschaft, denn der Papst ging auf das Gesuch der Lüneburger nicht ein. Da man bereits im November 1453 aufgebrochen war, drängte nun die Zeit für eine rasche Rückkehr, was deutlich am Verlauf der Rückreise zu erkennen ist. Dies führt zu der Frage, wie man von Rom aus möglichst schnell in den norddeutschen Raum gelangte? Dies dürfte nicht nur für politische Gesandtschaften relevant gewesen sein, sondern auch für das im Spätmittelalter wachsende Pilgerwesen 2 . <?page no="208"?> 3 Diese Quelle befindet sich im Stadtarchiv Lüneburg, UA b-4054, und wurde von Goswin V O N D E R R O P P , Unkosten einer Lüneburger Romfahrt im Jahre 1454, in: Hansische Geschichtsblätter 6 (1891), S. 29-60, ediert. Für einen Überblick über die Quellen zu Romreisen im Spätmittelalter siehe Werner P A R A V I C I N I (Hg.), Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie 1. Deutsche Reiseberichte, Frankfurt a. M. u. a. 1994, bes. S. 126 f. zur hier vorgestellten Reise. 4 Jörg V O I G T , Einnahmen- und Ausgabenregister für die Romreise des Albert van der Molen, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 2), S. 173 (mit Abb. des Registers). 5 Jörg V O I G T , Die Romreise einer Lüneburger Gesandtschaft an die Kurie Papst Niko‐ laus’ V. 1453 / 54 im Spiegel der Spesen, der demnächst in der Römischen Quartalschrift erscheinen wird. 6 Siehe dazu die Abbildung dieser Reise in V O I G T , Einnahmen- und Ausgabenregister (wie Anm. 4), S. 173. Über den Verlauf dieser Reise nach und von Rom berichtet ausführlich ein Ausgabenregister, das von einem Beteiligten dieser Reise, Nikolaus Stoketo, angefertigt wurde - dass sich eine solche Quelle überhaupt erhalten hat, ist als ein Glücksfall der Überlieferung zu bewerten 3 . Bis auf wenige Ausnahmen bietet das Register tägliche Blicke auf diese Reise, wodurch der Reiseverlauf, die personellen Netzwerke und der Alltag in einzigartiger Weise greifbar werden. Dies hat der Verfasser bereits in einem kurzen Überblicksartikel skizziert 4 und bereitet eine weitere Veröffentlichung vor 5 . An dieser Stelle soll sich der Blick anhand dieses Registers auf die Rückreise von Rom nach Lüneburg richten. Dabei soll besonders die Frage im Vordergrund stehen, welchen Sinn es machte, einen - nach Kilometern gemessen - großen Umweg einzuschlagen, um mit dem Schiff eine längere Strecke hauptsächlich auf dem Rhein zurückzulegen. Es ist nämlich mit Blick auf den gewählten Streckenverlauf bemerkenswert, dass die Gesandtschaft nicht den geografisch direkten Weg nach Norden ins Auge fasste - hier läge beispielsweise eine Überquerung der Alpen über den Brennerpass nahe -, sondern dass für den Rückweg ab Bologna die nordwest‐ liche Richtung nach Mailand gewählt wurde. Von hier aus zog man anschließend über den St. Gotthard Pass in Richtung Basel und von dort fast über den gesamten Rheinverlauf bis nach Zwolle, von wo aus die letzte Etappe gen Osten zurück nach Lüneburg führte 6 . Die Wahl dieser Route ist auch deshalb auffällig, da es keinerlei Anzeichen für einen konkreten Anlass gibt, bestimmte Orte oder Personen auf dieser Rückreise zu besuchen bzw. zu treffen. Ganz anders stellte sich die Situation dagegen auf der Hinreise dar. Deutlich zu erkennen sind dabei die Bemühungen der Gesandtschaft, bei der juristischen Fakultät der Universität Padua ein ausführliches Rechtsgutachten in Auftrag zu 208 Jörg Voigt <?page no="209"?> 7 Dieses Gutachten ist erhalten in Stadtarchiv Lüneburg, UA a-12 430; siehe dazu Jörg V O I G T , Rechtsgutachten der Universität Padua für die Stadt Lüneburg, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 2), S. 175. 8 Siehe dazu den Beitrag von Jörg V O I G T , Die Romreise einer Lüneburger Gesandtschaft an die Kurie Papst Nikolaus’ V. 1453 / 54 im Spiegel der Spesen, der demnächst in der Römischen Quartalschrift erscheinen wird. 9 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 54. 10 Siehe dazu Knut S C H U L Z , Rheinschiffahrt und städtische Wirtschaftspolitik am Ober‐ rhein im Spätmittelalter, in: Erich M A S C H K E / Jürgen S Y D O W (Hg.), Die Stadt am Fluß (Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung 4), Sigmaringen 1978, S. 141-189. 11 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 55. 12 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 55 (unser leven frouwen to lichten 3 gr.). 13 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 55. geben 7 , um eine möglichst vorteilhafte Ausgangssituation für den angestrebten Appellationsprozess an der Kurie zu erlangen. Dies bedeutete für den Verlauf der Reise jedoch auch einen Abstecher nach Osten - wenn man davon ausgeht, dass die Gesandtschaft über den Brennerpass gekommen ist - und einen rund fünfwöchigen Aufenthalt in Padua, trotz des hohen Zeitdrucks 8 . Doch wenden wir uns nun der Lüneburger Gesandtschaft zu, die sich bereits auf ihrer Rückreise befindet. Nachdem sie von Rom aus über Florenz und Bologna die Mittelgebirge Italiens durchquert hatte, wurde der Weg in nordwestlicher Richtung fortgesetzt; dabei passierte man u. a. Mailand und Como in Richtung Alpen. Kurz nachdem sie am 11. August 1454 den St. Gotthard Pass überquert hatte und dabei Ausgaben an der Zollstation anfielen - over Sunte Goderdesberghe to tolne 9 -, führte ihr Weg nun nach Norden. Von nun an befand sie sich auf einer der wichtigsten Verkehrsachsen von Italien in nördliche Richtung 10 . Von Flüelen im Süden des Vierwaldstätter Sees hat die Reisegruppe am 12. August offenbar ein Schiff genommen, das sie bis zu einer nicht näher genannten Stelle gebracht haben wird; von dort ritt man weiter auf dem Land in Richtung Einsiedeln 11 . In Einsiedeln logierten die Reisenden jedoch nicht in der bedeutenden Benediktinerabtei, wie es Pilgern in der Regel offenstand, sondern in einer Herberge. Dennoch zog es die Lüneburger zum Kloster, wo sie eine Spende am Gnadenbild der Hl. Maria entrichteten 12 . Von Einsiedeln aus ging es weiter in Richtung Zürich. Zumindest ein Mitglied der Reisegruppe wurde zusammen mit einem Esel und einem Lastpferd eigens von einem Schiffer nach Zürich gebracht. Auch die weiteren Reisenden scheinen von nun an ihren Weg auf dem Wasser fortgesetzt zu haben, spätestens nachdem der Fluss Sihl erreicht worden war. Gerastet wurde u. a. in Sihlbrugg (Brug), wo ein Schmied bezahlt wurde, bevor man am 13. August Zürich erreichte 13 . Nach einem üppigen Mahl für Mensch und Tier - (dem werde to Surk vor kost, 209 Der günstigste Weg von Rom nach Norddeutschland <?page no="210"?> 14 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 55. 15 Dieser Streckenabschnitt von Einsiedeln nach Basel dürfte zum Teil dem Verlauf des Jakobsweges gefolgt sein, vgl. dazu die Karte bei Klaus H E R B E R S , Deutsche Pilgerfahrten nach Santiago de Compostela und Spuren des Jakobskultes in Deutschland, in: Paolo C A U C C I V O N S A U C K E N (Hg.), Santiago de Compostela. Pilgerwege, Augsburg 2 1996, S. 297-331, hier S. 299. 16 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 55. 17 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 55 (enem armen schipknechte, de den staff tobrak, 1 old. bl.). 18 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 55. 19 Zu den Preisen der Schifffahrt von Basel nach Straßburg siehe S C H U L Z , Schiffahrt und Wirtschaftspolitik (wie Anm. 10), S. 146 f. 20 Siehe dazu beispielsweise Peter R Ü C K E R T , Pilgerfahrt auf dem Oberrhein im späteren Mittelalter, in: Robert P L Ö T Z / Peter R Ü C K E R T (Hg.), Jakobuskult im Rheinland ( Jakobus‐ studien 13), Tübingen 2004, S. 33-54. 21 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 56. win und korn 3 R.[heinische] g.[ulden] 19 bl.[afferd=2 Pfennige] 14 ) - wurde die Reise in Richtung Basel fortgesetzt. Vermutlich fuhr man auch nachts über die Flüsse Sihl, Limmat und schließlich den Rhein, bis man am Abend des 14. August nach Basel gelangte 15 . Dabei wurden insgesamt acht Pferde separat von der Gesandtschaft per Schiff transportiert, was eigens abgerechnet wurde (dem schipmanne mit 8 perden 8 R. g. 16 ). Dass die Schifffahrt auf diesen Flüssen auch ihre Tücken haben konnte, zeigt ein Zahlungseintrag für einen mittellosen Schiffsknecht, dem offenbar eine Ruderstange gebrochen war 17 . Am 15. August wurde, wie eingangs erwähnt, Reiseproviant für die Gruppe und die Pferde bezahlt, die mit auf das Schiff in Richtung Straßburg genommen wurden. Von nun an setzte die Gruppe ihre Reise auf dem Rhein fort. Dafür fielen mehrfach Zölle an; die erste Zollstation lag unmittelbar hinter der Ausfahrt von Basel, die nächste auf der Höhe von Breisach und eine weitere 2 mil. [Meilen] von Breisach entfernt 18 . Die Kosten für die Schifffahrt von Basel nach Straßburg betrugen vier rheinische Gulden und sechs olde blafferde 19 . Im Verlauf eines Tages (15. August), der folgenden Nacht sowie vermutlich noch eines längeren Teils des 16. August hat demnach die Reisegruppe bis nach Straßburg eine sehr bemerkenswerte Strecke von rund 150 km zurückgelegt. Ganz genau lässt sich dies jedoch nicht mehr bestimmen, denn der Verlauf des Rheins änderte sich durch die Rheinbegradigung im 19. Jahrhundert teilweise signifikant 20 . Am 17. August fiel in Straßburg eine Reihe von Ausgaben an, wie beispielsweise für den Schmied, den Bartschneider, den Schuster und für Knechte, die erneut Proviant auf das Schiff luden. Dass eine derart lange Fahrt auf dem mäandernden Rhein offenbar nicht jedem bekam, darauf könnte die Ausgabe einen Tag nach der Ankunft weisen, da pillen für Albert van der Molen bezahlt wurden 21 . 210 Jörg Voigt <?page no="211"?> 22 In der urkundlichen Überlieferung Lüneburgs ist zumindest Hans Merren im Zeitraum von 1450 bis zu seinem Tod im Jahr 1475 nachweisbar, vgl. Urkundenbuch der Bischöfe und des Domkapitels von Verden, Bd. 4: 1426-1470, Teil 2: 1451-1470, bearb. von Arend M I N D E R M A N N (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 305), Göttingen 2019, S. 2010; sein Testament vom 6. April 1475 befindet sich im Stadtarchiv Lüneburg, UA b-5230. 23 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 57. 24 Vgl. dazu auch den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band. Am 18. August brach die Reisegruppe per Schiff wieder auf und fuhr über Germersheim und Speyer, wo man am Folgetag abends angelangt war, bis nach Mainz, das am 20. August erreicht wurde. Auch wenn sich die Entfernung nicht mehr ganz genau rekonstruieren lässt, so wird man eine Distanz - bedenkt man den weit mäandernden Verlauf des Rheins - von vermutlich rund 250 km annehmen können. Hier zeigt sich deutlich, welche Entfernungen innerhalb eines Zeitraums von wenigen Tagen zurückgelegt werden konnten; gegenüber allen üblichen Reisemöglichkeiten auf dem Landweg war die Schifffahrt ohne Konkurrenz. In Mainz wurde ein offenbar geplanter Zwischenstopp von zwei Tagen eingeschoben. Innerhalb dieser Zeit ritt Nikolaus Stoketo zusammen mit Nickele nach Frankfurt. Mit Blick auf die Zahlung von 22 Witten an die Kinder von Henne Merren, die offenbar in Frankfurt wohnten - bei ihnen handelte es sich vermutlich um eine Lüneburger Bürgerfamilie 22 -, könnte es sein, dass die Rückreise auch dazu genutzt wurde, um finanzielle Zuwendungen für Lüneburger zu übermitteln. Offenbar scheint dieser Abstecher nach Frankfurt in erster Linie diesem Anliegen geschuldet zu sein, denn andere Ausgaben sind nicht vermerkt. Der nächste Streckenabschnitt ist die Fahrt von Mainz - der Aufbruch datiert auf den 22. August - nach Köln, die mit fünfeinhalb rheinischen Gulden zu Buche schlug. Die Zwischenstationen auf diesem Abschnitt waren Bacharach und Boppard, wo man übernachtete; somit hatte man an diesem Tag eine Strecke von 80 km zurückgelegt. Am 24. August wurde die Reise weiter bis nach Bonn fortgesetzt, was einer Distanz von rund 70 km entspricht. Einen Tag später wurde nach weiteren rund 30 km Schifffahrt auf dem Rhein Köln erreicht. Dort kaufte die Gesandtschaft verschiedene Waren, u. a. Kleidung, nahm an Gottesdiensten teil und opferte in der Kirche der 11 000 Jungfrauen 23 . Dabei handelt es sich bekanntlich um die Kirche St. Ursula, deren Patronin zusammen mit ihren Gefährtinnen auf ihrem Weg nach Rom der Legende nach fast genau jenen Weg - wenn auch in entgegengesetzter Richtung - eingeschlagen hatte, der gerade hinter der Lüneburger Gesandtschaft lag, nämlich mit dem Schiff nach Basel und von dort auf dem Landweg nach Rom 24 . Denkbar ist, dass die 211 Der günstigste Weg von Rom nach Norddeutschland <?page no="212"?> 25 Obwohl die Kultdynamik, die von der hl. Ursula und ihren Gefährtinnen ausging, wohlbekannt ist (vgl. Frank Günter Z E H N D E R , Sankt Ursula. Legende - Verehrung - Bilderwelt, Köln 1985; Guido W A G N E R , Vom Knochenfund zum Martyrium der 11 000 Jungfrauen. Wurzeln und Entwicklung der Ursula-Legende und ihre Bedeutung für Köln als „Sacrarium Agrippinae“, in: Geschichte in Köln 48 [2001], S. 11-44), ist die Ursula-Wallfahrt ein kaum untersuchtes Thema; in der jüngsten einschlägigen Arbeit von Yuki I K A R I , Wallfahrtswesen in Köln vom Spätmittelalter bis zur Aufklärung (Ver‐ öffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 46), Köln 2009, wird sie nicht einmal erwähnt. Erst durch die systematische Zusammenstellung der Ursula-Pilgerzeichen durch Jörg P O E T T G E N , Kölner Pilgerzeichen der Heiligen Ursula: Zeugnisse einer im 12. Jahrhundert beginnenden Wallfahrt, in: Klaus H E R B E R S / Hartmut K Ü H N E (Hgg.), Pilgerzeichen - Pilgerstraßen ( Jakobus-Studien 20), Tübingen 2013, S. 153-186, ist die Ursula-Wallfahrt in den Blick gerückt worden. 26 Dies erscheint mit Blick auf die Formulierung to Wesel […] des morgens vor havere und frokost 9 witten plausibel, V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 57. Lüneburger auch aus diesem Grund aus den vielen Möglichkeiten, in Köln zu opfern, gerade diese Kirche gezielt aufgesucht haben 25 . Es scheint, dass diese Reise noch am selben Tag bis in das 65 km entfernt gelegene Neuss fortgesetzt wurde. Von dort brach man einen Tag später, am 25. August, auf, um bis in das rund 75 km entfernt gelegene Wesel zu reisen, wo man offenbar die Nacht in einer Herberge verbrachte 26 . Am 26. und 27. August wurde ein weiterer langer Streckenabschnitt zurückgelegt, und zwar über den Niederrhein, vorbei an Emmerich, wo man vermutlich übernachtete, mit Abzweigung auf die IJ ssel bis nach Zutphen. Dies entspricht einer Distanz von rund 180 km. Einen Tag später wurde die Reise auf dem Schiff fortgesetzt und man gelangte nach einem kurzen Streckenabschnitt bis nach Deventer, wo sich ein zweitägiger Aufenthalt anschloss, bevor man am 31. August Zwolle erreichte, was den westlichsten Punkt der Reiseroute markierte. Dort endete die Schiffsreise, auf der die Lüneburger Reisegruppe in einem Zeitraum von rund zwei Wochen über den Rhein und die IJ ssel eine Distanz von über 700 km zurücklegte. Auffällig ist an diesem Streckenverlauf, dass ein großer Teil der Reise auf dem Rhein und mit konstant großen Tagesdistanzen zurückgelegt wurde. Deutlich wird ebenfalls, dass man nicht in erster Linie am direkten Weg zu seinem Zielpunkt interessiert war, sondern den kürzesten Weg und vermutlich auch die am wenigsten strapaziöse Reiseform bevorzugte. Die letzte Etappe der Reise soll hier eher kursorisch wiedergegeben werden. Nachdem man das Schiff verlassen hatte, setzte die Reisegruppe ihren Weg auf dem Land bis nach Coevorden fort, wo man am 1. September eintraf. Einen Tag später gelangte man bis nach Groningen; an diesem Tag hatte man wieder zu Lande rund 75 km zurückgelegt, eine singuläre Leistung. Doch auch hier machte sich ein solch beanspruchender Distanzritt bemerkbar, da in Groningen 212 Jörg Voigt <?page no="213"?> 27 V O N D E R R O P P (wie Anm. 3), S. 58. 28 Ein Nachweis über einen möglichen Aufenthalt ist jedoch nur bedingt möglich, denn die zeitlichen Lücken im Urkundenbestand der Bremer Erzbischöfe - Niedersächsisches Landesarchiv - Abteilung Stade, Rep. 1 - sind für den entsprechenden Zeitraum zu groß. Zur Bedeutung Bremervördes, das spätestens seit dem 15. Jahrhundert dauer‐ hafte Residenz der Bremer Erzbischöfe und Sitz von Regierung und Verwaltung des Erzstiftes war, vgl. Michael E H R H A R D T , Bremervörde, in: Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800). Ein Handbuch, Abteilung I: Analytisches Verzeichnis der Residenzstädte, Teil 1: Nordosten, hg. von Harm V O N S E G G E R N , Ostfildern 2018, S. 69-72. 29 Vgl. Hartmut K Ü H N E / Henning S T E I N F Ü H R E R , Der Braunschweiger Stadtkämmerer Hans Porner und seine Reise nach Jerusalem 1418 / 1419, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 2), S. 233-241, bes. die Itinerarkarte S. 234 f. Kosten für sechs neue Hufeisen anfielen 27 . Weiter ging es am 3. September nach Appingedam, von wo aus man am Folgetag über die Ems nach Emden übersetzte. Dort wurde man im Haus des Prokonsuls der Stadt empfangen. Erst am 9. September brach man wieder von Emden aus auf, über Leer bis nach Stickhausen. Am Abend des 10. September wurde Oldenburg erreicht. An diesem Streckenverlauf wird deutlich, dass die Distanzen kürzer wurden. Weiter ging es über Delmenhorst in Richtung Bremen, Bremervörde, Buxtehude - im nahe bei der Stadt gelegenen Benediktinerinnen-Kloster Altkloster aß man zu Mittag -, über Hittfeld und Winsen, bis man am 15. September 1454 in Lüneburg eintraf. Warum von Bremen aus nicht ein kürzerer Weg nach Lüneburg eingeschlagen wurde - beispielsweise über Rotenburg / Wümme und Schneverdingen, was einer Distanz von ca. 130 km entspricht - und der Weg stattdessen nach Norden in Richtung Bremervörde und erst dann östlich und schließlich südöstlich nach Lüneburg führte, was einer Distanz von rund 170 km entsprach, wird in der Rechnung nicht deutlich. Denkbar ist, dass die Gesandtschaft den Bremer Erzbischof kontaktieren wollte, der sich zu diesem Zeitpunkt in Bremervörde aufgehalten haben könnte 28 . Die hier in Teilen vorgestellte Reise von Rom nach Lüneburg zeigt, neben einigen Einblicken in den Reisealltag einer politischen Gesandtschaft, dass die Rheinschifffahrt ein wichtiger Faktor für den spätmittelalterlichen Reiseverkehr darstellte. Mit Blick auf den Reiseverkehr nach Norddeutschland wird man davon ausgehen dürfen, dass häufiger nicht die direkte Landverbindung für eine Rückreise aus Rom gewählt wurde, sondern die zwar längere, aber weit weniger Kräfte zehrende, kostengünstigere und zeitlich kürzere Route flussabwärts über den Rhein. In ähnlicher Weise reiste beispielsweise auch der Braunschweiger Stadtkämmerer Hans Porner 1419 auf dem Rückweg vom Heiligen Land über Venedig, Trient, Meran und weiter über Einsiedeln und Basel nach Köln. 29 Ob 213 Der günstigste Weg von Rom nach Norddeutschland <?page no="214"?> 30 Vgl. Heinrich D O R M E I E R , Verwaltung und Rechnungswesen im spätmittelalterlichen Fürstentum Braunschweig-Lüneburg (Veröffentlichungen der Historischen Kommis‐ sion für Niedersachsen und Bremen, 18), Hannover 1994, S. 116 und 128. auch die Herzoginnen Elisabeth und Magdalena von Braunschweig-Lüneburg den Schiffsweg auf dem Rhein nutzten, als sie vom 7. September bis zum 22. No‐ vember 1437 von Celle aus eine Wallfahrt nach Einsiedeln unternahmen 30 , ist nicht belegt. Angesichts der großen Bedeutung, die Einsiedeln als Wallfahrtsziel im 15. Jahrhundert auch für den norddeutschen Raum erlangte, wäre dieser Frage einmal nachzugehen - „Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.“ 214 Jörg Voigt <?page no="215"?> 1 Teilweise erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung meines Vortrags, gehalten am 4. April 2020 im Rahmen der Tagung „Pilgerspuren und Wallfahrtskirchen zwischen Weser und Elbe“ in Lüneburg und am 8. Oktober 2020 im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen St. Jakobusgesellschaft 2020 in Stade. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. Den Teilnehmern an der Diskussion der beiden Vorträge danke ich herzlich für ihre Hinweise und Anregungen, namentlich danken möchte ich hierbei Prof. Dr. Enno Bünz, Leipzig, Prof. Dr. Bernd Ulrich Hucker, Vechta, und Prof. Dr. Wolfgang Petke, Göttingen. 2 Herbert K R Ü G E R , Das Stader Itinerar des Abtes Albert aus der Zeit um 1250. I. Teil, in: Stader Jahrbuch N. F. 46 (1956), S. 71 -124; II. Teil, in: Stader Jahrbuch N. F. 47 (1957), S. 87 - 136; III. Teil: Stader Jahrbuch N. F. 48 (1958), S. 39 - 76. Die Romreise des Albert von Stade 1 Arend Mindermann Die Romreise des Albert von Stade wie auch dessen Biographie sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bereits Gegenstand intensiver Forschung gewesen. Zur Romreise und zu deren Beschreibung in der Chronik des Albert von Stade sei hier insbesondere auf die umfangreiche, 1956 bis 1958 in drei Teilen erschienene und für unser Thema grundlegende Arbeit von H E R B E R T K RÜG E R verwiesen 2 . Krüger konnte erstmals den genauen Stre‐ ckenverlauf der von Albert beschriebenen Wege rekonstruieren. Die Gründe <?page no="216"?> 3 Heinz-Joachim S C H U L Z E , Zisterzienserinnen im Kloster Midlum? Auch ein Beitrag zur Geschichte des Abtes Albert von Stade, in: Kultur - Geschichte - Strukturen. Beiträge zum Bilde der Landschaft zwischen Weser und Elbe. Festschrift für Thassilo von der Decken, Stade o.J. [1986], S. 153-172, hier S. 169-171. - Zu Alberts Romreise vgl. zuletzt Arend M I N D E R M A N N , Abt Albert von Stade. Ein Chronist des 13. Jahrhunderts, in: Wiard H I N R I C H S / Siegfried S C H Ü T Z / Jürgen W I L K E (Hg.), Stupor Saxoniae Inferioris. Ernst Schubert zum 60. Geburtstag (Göttinger Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters 6), Göttingen 2001, S. 51-58. - Arend M I N D E R M A N N , Abt Albert von Stade und seine Reise nach Rom im Jahr 1236. Anmerkungen zur Geschichte des Elbe-Weser-Raums in den 1230er Jahren und zu Alberts Itinerar, einem ungewöhnlichen mittelalterlichen ‚Reiseführer‘, in: Zwischen Elbe und Weser. Zeitschrift des Landschaftsverbandes der ehem. Herzogtümer Bremen und Verden 20/ 3 (2001), S. 3-6. - Ida-Christine R I G G E R T -M I N D E R M A N N / Sonja D O M R Ö S E , „Wohlan, ich will nach Rom reisen.“ Abt Albert von Stade reist 1236 zum Papst, in: Frank S C H L I C H T I N G / Hans-Eckhard D A N N E N B E R G (Red.), Elbe-Weser-Dreieck. Eine kleine Landeskunde der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 42), Stade 2013, S. 296-299. - Arend M I N D E R M A N N , Reisen des Abtes Albert von Stade nach Rom und ins Heilige Land, in: Hartmut K Ü H N E (Bearb.), Pilgerspuren. Orte - Wege - Zeichen. Begleitband zur Doppelausstellung ‚Wege in den Himmel‘ im Museum Schwedenspeicher in Stade und ‚Von Lüneburg an das Ende der Welt‘ im Museum Lüneburg, Petersberg 2020, S. 164f. 4 Karl F I E H N , Albertus Stadensis. Sein Leben und seine Werke, in: Historische Vierteljah‐ resschrift 26 (1931), S. 536-572, hier S. 544-546. 5 Gerda M A E C K , Vom Benediktinerabt zum Minderbruder. Studien zur Geschichtsschrei‐ bung Alberts von Stade, in: Wissenschaft und Weisheit. Franziskanische Studien zu Theologie, Philosophie und Geschichte 63 / 1 (2000), S. 86-135. - Gerda M A E C K , Die Weltchronik des Albert von Stade. Ein Zeitzeugnis des Mittelalters. Studien zur Geschichtsschreibung Alberts von Stade, Lehrte 2001. 6 Bernd Ulrich H U C K E R , Das Problem von Herrschaft und Freiheit in den Landesge‐ meinden und Adelsherrschaften des Mittelalters im Niederweserraum, Münster 1978, S. 333-342, hier S. 341. - Zu Biographie und Werk des Albert von Stade vgl. außerdem Wilhelm W A T T E N B A C H , Albert von Stade, in: Allgemeine Deutsche Biographie 1 (1875), S. 209. - Helmut P L E C H L , Albert von Stade, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 136. - Friedrich Wilhelm B A U T Z , Albert von Stade, in: Biographisch-Biblio‐ graphisches Kirchenlexikon 1 ( 2 1980), Sp. 84. - Dieter B E R G , Nördliches Sachsen und Missionsgebiete, Albert von Stade, in: Wilhelm W A T T E N B A C H / Franz-Josef S C H M A L E (Hg.), Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnums 1, Darmstadt 1976, Kapitel 20, § 71, S. 423-427. - Jürgen S T O H L M A N N , Albert von Stade, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1 (1978), Sp. 143-151. - Hans P A T Z E , Albert von Stade, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), Sp. 290. - Jürgen B O H M B A C H , Albert von Stade, in: Jürgen von Alberts Romreise hat 1986 H E IN Z -J O A C HIM S C H U L Z E schlüssig ermitteln können 3 . Mit Alberts Biographie hat sich K A R L F I E HN bereits 1931 4 und zuletzt G E R DA M A E C K in den Jahren 2000 und 2001 ausführlich beschäftigt 5 . Maeck konnte dabei bezüglich seiner Herkunft insbesondere auf den wegweisenden Forschungen B E R N D U L R I C H H U C K E R S aus dem Jahr 1978 aufbauen 6 . 216 Arend Mindermann <?page no="217"?> B O H M B A C H , Stader Stadtlexikon. Von Abbenfleth bis Zwangsarbeit, Stade 1994, S. 12. - Gerhard T H E U E R K A U F , Albert von Stade, in; Franklin K O P I T Z S C H / Dierk B R I E T Z K E (Hg.), Hamburgische Biographie 1, Hamburg 2001, S. 18. 7 H U C K E R , Problem (wie Anm. 6), S. 336-342, speziell S. 341. 8 Vgl. hierzu zuletzt Adolf E. H O F M E I S T E R , Der Kampf um das Erbe der Stader Grafen zwischen den Welfen und der Bremer Kirche (1144-1236), in: Hans-Eckhard D A N N E N ‐ B E R G / Heinz-Joachim S C H U L Z E (Hg.), Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser 2: Mittelalter (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 8), Stade 1995, S. 105-157, hier S. 130-138, sowie M A E C K , Benedik‐ tinerabt (wie Anm. 5), S. 101-107. 9 H U C K E R , Problem (wie Anm. 6), S. 336-342, speziell S. 341. 10 Vgl. H U C K E R , Problem (wie Anm. 6), S. 337 f., sowie S C H U L Z E , Zisterzienserinnen (wie Anm. 4), S. 163 f. Drei Fragen hinsichtlich der Romreise des Albert von Stade sind dagegen, soweit ich sehe, bisher noch nicht in gleichem Maße von der bisherigen Forschung berücksichtigt worden. Es ist dies zum einen die Frage, wann genau die Romreise des Albert von Stade stattgefunden hat, zum anderen die Frage, aus welchem Grund Albert für seinen Hin- und Rückweg unterschiedliche Strecken gewählt hat, und zum dritten schließlich die Frage, warum er genau diese Strecken ausgewählt hat. Diesen Fragen soll deshalb im Folgenden genauer nachgegangen werden. Zunächst aber soll in Kürze Alberts Biographie und der Grund für seine Romreise dargestellt werden, da dies zur Beantwortung der drei angeführten Fragen durchaus von Bedeutung ist. I. Alberts Biographie Geboren wurde Albert von Stade, wie B E R N D U L R I C H H U C K E R mit guten Gründen erschließen konnte, wohl kurz vor 1187 als Angehöriger der Ministerialenfa‐ milie von Stelle, die insbesondere in dem beiderseits der Unterweser gelegenen Land Stedingen begütert war 7 , in demjenigen Marschland also, das 1233 / 34 zum Schauplatz des vom Bremer Erzbischof Gerhard II . initiierten berüchtigten Stedingerkreuzzugs wurde 8 . Erstmals sicher belegt ist Albert im Jahr 1206 mit dem Weihegrad eines Diakons als Kanoniker in dem südlich von Hamburg gelegenen Stift Ramelsloh. Er wird, wie H U C K E R annimmt, zu dieser Zeit das kanonische Mindestalter von 20 Jahren erreicht haben 9 , woraus sich sein ebengenanntes Geburtsjahr ergibt. Im Jahr 1217 wurde „Albert von Ramelsloh“, wie er seinerzeit genannt wurde, Propst dieses Stifts und Bremer Domherr 10 . Im Jahr 1232, also im Alter von mindestens 45 Jahren, folgte Alberts erster Ordenseintritt, ein kirchenrechtlich sehr ungewöhnlicher Schritt: Aus dem bisherigen Kanoniker wurde ein Benediktinermönch. Albert trat in das Bene‐ 217 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="218"?> 11 Albert von Stade berichtet dies selbst in seiner Nachricht über den Tod des Abtes Christopherus: … cui Albertus, eiusdem ecclesie prior, successit. Annales Stadenses, hg. von Johann Martin L A P P E N B E R G , in: MGH SS 16, hg. von Georg Heinrich P E R T Z , Hannover 1859, S. 271-379, hier S. 361, zum Jahr 1232; vgl. H U C K E R , Problem (wie Anm. 6), S. 337 f.; S C H U L Z E , Zisterzienserinnen (wie Anm. 4), S. 163 f. 12 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 366 f.; vgl. S C H U L Z E , Zisterzienserinnen (wie Anm. 4), S. 164. - M A E C K , Weltchronik (wie Anm. 5), S. 26-30. 13 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 374. 14 Vgl. Rudolf H E N S E L E R , Profeß, in: Lexikon für Theologie und Kirche 8 (1999, ND 2006), Sp. 613 f. 15 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 366. 16 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 274 (Einleitung) u. S. 300. diktinerkloster St. Marien bei Stade ein, und wurde, vermutlich auf Drängen des Bremer Erzbischofs Gerhard II ., sofort Prior und noch im selben Jahr, nach dem Tod des bisherigen Abtes Christopherus, Abt dieses Klosters 11 . Alberts Aufgabe wird zweifellos von Anfang an darin bestanden haben, das Marienkloster in eine Zisterze umzuwandeln. Um diese Umwandlung mit Hilfe des Papstes durchzusetzen, unternahm Albert, wie er selbst in seiner Weltchronik schreibt, seine Reise zur päpstlichen Kurie. Von dort zurückgekehrt, versuchte er von 1237 bis 1240 vergeblich die Umwandlung des Marienklosters in ein Zisterzienserkloster durchzuführen. Albert schloss sich nach dem endgültigen Scheitern dieser Bemühungen am 20. August 1240 verbittert den Franziskanern in Stade an, wie er ebenfalls selbst in seiner Chronik berichtet 12 . Hier schrieb er dann unter anderem jene unten noch näher betrachtete Weltchronik, die bis in das Jahr 1256 reicht 13 und in der all dies überliefert ist. War schon sein später Ordenseintritt äußerst ungewöhnlich, so war es sein Ordenswechsel in noch viel höherem Maße. Ungeachtet der Profess 14 , die er, seinen eigenen Aussagen zufolge, als Benediktinermönch geleistet hatte (abbas siquidem Albertus saepius in regula Benedicti, quam professus erat, ani‐ madvertit) 15 , verließ er sein Kloster und seinen Orden, blieb aber am selben Ort, um in eine noch junge Franziskanerniederlassung einzutreten. Nach 1256 verliert sich seine Spur. Er muss zu dieser Zeit, wenn man von seinem erschlossenen Geburtsjahr vor 1187 ausgeht, bereits mindestens 69 Jahre alt gewesen sein. Der Papstkatalog seiner Chronik verzeichnet allerdings noch den 1261-1264 amtierenden Papst Urban IV ., nicht aber dessen Nachfolger Clemens IV . (1265-1268) 16 . Sollte dieser Eintrag noch von Albert selbst stammen und nicht nachgetragen sein, könnte Albert also 1261 oder sogar 1264 noch gelebt haben. Anders als sein Todesjahr ist sein Todestag dagegen ganz genau bekannt: Ausweislich des Abtkatalogs des Stader Marienklosters starb er an 218 Arend Mindermann <?page no="219"?> 17 Anno domini MCCXXXII Albertus abbas quartus, ordinatus ab Aldewino legato Livoniae, rexit annis X [! ; korrekt: IX] et resignavit. Obitus dies fuit V idus februarii. Liste der Aebte des Marienklosters zu Stade, in: Johann Martin L A P P E N B E R G (Hg.), Geschichtsquellen des Erzstifts und der Stadt Bremen, Bremen 1841, S. 188-193, hier S. 190. 18 S C H U L Z E , Zisterzienserinnen (wie Anm. 4), S. 164-170. 19 Vgl. H O F M E I S T E R , Kampf (wie Anm. 8), speziell S. 106, Abb. 1 (Karte): „Nachweisbare Besitzungen der Grafen von Stade, der Grafen von Northeim und der Billunger in Wigmodienbis zum Ende des 12. Jahrhunderts.“ 20 S C H U L Z E , Zisterzienserinnen (wie Anm. 4), S. 164-170. 21 Vgl. hierzu zuletzt H O F M E I S T E R , Kampf (wie Anm. 8), S. 130 (mit weiteren Nachweisen). 22 S C H U L Z E , Zisterzienserinnen (wie Anm. 4), S. 169 f. 23 S C H U L Z E , Zisterzienserinnen (wie Anm. 4), S. 164-170. einem 9. Februar 17 . Völlig unbekannt ist seine Grabstätte. Soviel in aller Kürze zu seiner Biographie. II. Der Grund für seine Romreise Den Thesen H E IN Z -J O A C HIM S C H U L Z E S folgend, liegt die tiefere Ursache für Alberts Romreise in den jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zwischen den Welfen und den Bremer Erzbischöfen um das Erbe der 1144 ausgestor‐ benen Grafen von Stade 18 , insbesondere um deren Güter im Gebiet zwischen Oste und Elbe 19 . Um zu verhindern, dass die Welfen in den Besitz der Hoch‐ vogteirechte über das Marienkloster in Stade gelangten, strebte der Bremer Erzbischof Gerhard II . die Umwandlung dieses Klosters in eine Zisterze an, da Zisterzienserklöster weltliche Vogteien strikt ablehnten. Aus demselben Grund wurden von Gerhard II ., so S C H U L Z E , die Klöster Hude, Trupe-Lilienthal, Midlum-Neuenwalde und Uetersen als Zisterzienserklöster gegründet bzw. in Zisterzen umgewandelt. Die Umwandlung des Stader Marienklosters sollte mit päpstlicher Hilfe gegen den widerstrebenden Konvent durchgesetzt werden, weswegen Albert persönlich an die päpstliche Kurie gereist ist 20 . Nachdem Gerhard II . aber nach dem bremisch-welfischen Kompromiss von 1236 21 selbst Inhaber der Hochvogteirechte des Stader Marienklosters geworden war, habe er, so S C H U L Z E , verständlicherweise jegliches Interesse an dieser Umwandlung verloren, weswegen die Umwandlung letztlich scheiterte 22 . III. Wann ist Albert von Stade nach Rom gereist? Wäre Albert bei Abschluss des bremisch-welfischen Kompromissvertrags 1236 23 noch in Stade gewesen, hätte Erzbischof Gerhard II . die Reise nach Rom ganz sicher zu verhindern gewusst, da sie nunmehr nicht mehr seinen Interessen 219 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="220"?> 24 Vgl. Dieter B R O S I U S , Die Rolle der römischen Kurie im Lüneburger Prälatenkrieg (1449-1462), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 48 (1976), S. 107-136, hier S. 121; vgl. auch Dieter B R O S I U S , Eine Reise an die Kurie im Jahre 1462. Der Rechenschaftsbericht des Lübecker Domherrn Albert Krummediek, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 58 (1978), S. 419-439. 25 Vgl. Goswin V O N D E R R O P P , Unkosten einer Lüneburger Romfahrt im Jahr 1454, in: Hansische Geschichtsblätter 6 (1891), S. 29-60, hier S. 32. - Jörg V O I G T , Die Romreise des Lüneburger Bürgermeisters Albert van der Molen 1453 / 1454, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 3), S. 170-173. - Jörg V O I G T , Römische Kurie und Karriere. Aufbau und Funktion kurialer Netzwerke am Beispiel des Lüneburger Klerikers Nikolaus Graurock († 1493), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 100 (2020), S. 261-290, hier S. 271-273. - Vgl. hierzu auch den Beitrag von Jörg Voigt in diesem Band. 26 Die Dialogführer tragen … französische Namen: Firri und Tirri sind zwar germanischer Herkunft (Friderich und Dietrich) wie die Mehrzahl der altfranzösischen Personennamen, weisen aber echt französische Lautform auf; es sind die auch heute als Familiennamen überaus häufigen Ferry und Thierry. Edward S C H R Ö D E R , Firri und Tyrri. Zur Quel‐ lenkunde Alberts von Stade, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 49 (1932), S. 550-552, hier S. 551. entsprach. Man darf also wohl mit hinreichender Sicherheit davon ausgehen, dass Albert nach Rom aufgebrochen ist, bevor ein Abschluss dieses Vertrags absehbar war. Dem Bremer Erzbischof blieb aber, nach Abschluss des Vertrags, immer noch die Möglichkeit, dem Papst seinen Sinneswandel bezüglich des Stader Marienklosters umgehend durch einen schnellen reitenden Boten zu übermitteln, der die päpstliche Kurie noch vor Alberts Eintreffen erreichen konnte. Ein solcher reitender Bote war selbst im Winter problemlos in der Lage, auf der Route über den Brenner innerhalb von etwa acht Wochen nach Rom zu gelangen 24 . Im Sommer war diese Strecke zu Pferd problemlos in vier Wochen zu schaffen 25 . Der Papst wird also zweifellos genauestens über die veränderten politischen Gegebenheiten im Elbe-Weser-Raum informiert gewesen sein, bevor er über Alberts Bitte bezüglich des Stader Marienklosters endgültig entschieden hat. Albert erhielt deshalb am Ende eine nachher noch näher betrachtete päpstliche Urkunde, die den inzwischen veränderten Interessen des Bremer Erzbischofs entsprach und Alberts Anliegen lediglich pro forma unterstützte. Schon jetzt lässt sich also sagen, dass Albert nach Rom abgereist ist, nachdem er 1232 Abt des Stader Marienklosters geworden war und bevor 1236 der bremisch-welfische Kompromissvertrag abgeschlossen wurde. Wann genau aber ist Albert nach Rom gereist? Albert kleidet das Itinerar seiner Romreise in die Form eines fiktiven Dialogs zwischen zwei Männern namens Firri und Tirri (Friedrich und Dietrich) 26 . Dieser Dialog beginnt mit den folgenden Worten: 220 Arend Mindermann <?page no="221"?> 27 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 335. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 72; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 76. 28 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 366. 29 Urkundenbuch des Klosters Lilienthal 1232-1500, bearb. von Horst-Rüdiger J A R C K (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 20 / Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 211), Stade 2002, Nr. 7 (mit weiteren Nachweisen). 30 Urkundenbuch des Klosters Lilienthal (wie Anm. 29), Nr. 13 (mit weiteren Nachweisen). Daraufhin sagte Firri: Wohlan Tirri, ich will nach Rom reisen, unterrichte mich über die Wegeverhältnisse. Darauf Tirri: Auf welchem Weg willst du dorthin reisen. Und jener: Durch das Maurienne-Tal (versus vallum Maurianum) [also durch die heutigen französischen Alpen], aber zuvor will ich der Pferde wegen [oder wörtlich: wegen eines Pferdes] nach Dänemark gehen (ibo in Daciam pro equo) und dann von Stade aus die Reise beginnen (et sic procedam de Stadio). Ihm entgegnete Tirri: Ich will dir also die Stationen nennen und die dazwischen liegenden Meilen angeben 27 . Albert berichtet außerdem in seiner Weltchronik, er habe im 11. Jahr des Pontifikats Papst Gregors IX ., nämlich im Jahr 1236, die päpstliche Kurie in Rom besucht: Romam adierat sedem anno Gregorii papae undecim, videlicet anno domini millesimo ducentesimo tricesimo sexto 28 . Diese Datierung ist leider in sich widersprüchlich: Das 11. Pontifikatsjahr Papst Gregors IX . war die Zeit vom 21. März 1237 bis zum 20. März 1238. Somit fiel kein einziger Tag jenes 11. Pontifikatsjahres Papst Gregors IX . in das Jahr 1236. Meines Erachtens dürften aber beide Datierungen zutreffen. Albert wird also sowohl 1236 als auch 1237 an der päpstlichen Kurie anwesend gewesen sein. Wie lässt sich dies begründen? Am 4. Juni 1235 wird Albert als Albertus abbas sancte Marie in Staden in einer von Erzbischof Gerhard II . in Bremen ausgestellten Urkunde des Zisterziense‐ rinnenklosters Lilienthal als Zeuge genannt 29 . Dies ist seine letzte Nennung im Erzbistum Bremen vor seiner Reise nach Rom. Albert kann also nachweislich nicht vor dem 4. Juni 1235 nach Rom abgereist sein. Es gibt nun aber ein deutliches Indiz dafür, dass Albert sich im September 1236 bereits an der päpstlichen Kurie aufgehalten hat, denn es dürfte wohl doch Albert gewesen sein, der eine von Papst Gregor IX . am 1. September 1236, im 10. Jahr von dessen Pontifikat, in Rieti ausgestellte Ablass-Urkunde für Kloster Lilienthal erwirkte 30 . Hierfür spricht insbesondere die Tatsache, dass Albert ja, wie eben erwähnt, erst kurz vor seiner Abreise nach Rom als Zeuge an der Beurkundung der Gründungsausstattung dieses eben erst neugegründeten Klosters mitgewirkt hat. Sehr gut denkbar erscheint seine Mitwirkung auch an weiteren Urkunden Papst Gregors IX ., die jener Papst dann in seinem 11. Pontifikatsjahr ausgestellt 221 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="222"?> 31 Urkundenbuch des Stiftes St. Andreas zu Verden (Verdener Urkundenbuch, 2. Abtei‐ lung) 1: 1220-1558, auf der Grundlage der Vorarbeiten von Matthias N I S T A L bearb. von Walter J A R E C K I (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 48 / Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nieder‐ sachsen und Bremen 285), Göttingen 2016, Nr. 12 (mit weiteren Nachweisen). 32 Arend M I N D E R M A N N , Zur Frühgeschichte des Hochstifts Verden. Grundlagen, Anfänge, Entwicklungsmöglichkeiten und Ausgestaltung der bischöflichen Landesherrschaft bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Immunität und Landesherrschaft. Beiträge zur Geschichte des Bistums Verden, hg. von Bernd K A P P E L H O F F / Thomas V O G T H E R R unter Mitarbeit von Michael E H R H A R D T / Arend M I N D E R M A N N (Schriftenreihe des Landschafts‐ verbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 14) Stade 2002, S. 65-106, hier S. 92. 33 Bremisches Urkundenbuch 1, hg. von Dietrich R. E H M C K / Wilhelm V O N B I P P E N , Bremen 1873 (ND Osnabrück 1978), Nr. 204. hat. Dies gilt etwa für eine Urkunde zugunsten des St. Andreasstifts in Verden, ausgestellt am 9. April 1237 in Viterbo, in welcher der Papst jenem Stift den Besitz der vier Altländer Pfarreien Borstel, Jork, Steinkirchen und Estebrügge bestätigte und die somit das unmittelbare Stader Umland betraf 31 . Da der damalige Verdener Bischof Luder von Borch ebenso wie Albert selbst aus dem Bremischen Ministerial-Adel stammte und da Bischof Luder zudem dem Bremer Erzbischof Gerhard II . recht nahestand 32 , erscheint eine Beteiligung Alberts an der Ausstellung dieser Urkunde, etwa als Petent, durchaus naheliegend. Dies gilt auch für eine Urkunde Papst Gregors IX ., ausgestellt am 28. April 1237 in Viterbo, in welcher der Papst den Bischof von Münster sowie den dortigen Dompropst und den Dekan des Martinistifts anweist, einen Vertrag zwischen dem Bremer Erzbischof Gerhard II . und dem Bremer Domkapitel einerseits und der Stadt Bremen andererseits über Burgenbau und anderes zu ratifizieren 33 . Wenn es also deutliche Indizien dafür gibt, dass Albert als Petent an diesen drei von Papst Gregor IX . ausgestellten Urkunden der Jahre 1236 und 1237 beteiligt war, so bietet die Datierung dieser Urkunden zugleich einen Hinweis auf Alberts Anwesenheit an der päpstlichen Kurie. Man wird also mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, dass Albert sich mindestens am 1. Sep‐ tember 1236, am 9. April 1237 und am 28. April 1237 an der päpstlichen Kurie aufgehalten haben wird. Nur wenige Tage später, am 6. Mai 1237 (ebenfalls im 11. Pontifikatsjahr! ), hat Papst Gregor IX . dann in Viterbo endlich auch Alberts wichtigster Bitte entsprochen und die schon kurz erwähnte Urkunde für das Stader Marienkloster ausgestellt. Adressiert ist die Urkunde, deren Wortlaut Albert in seiner Chronik wiedergibt, an den Bremer Erzbischof Gerhard II ., den Bremer Domdekan und 222 Arend Mindermann <?page no="223"?> 34 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 366. 35 Ebd., S. 366 f. 36 Ebd., S. 340. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 76; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 81. an den Bremer Domherrn Johann von Beversat 34 . Diese Urkunde, die von Albert sehnlichst erwartet worden war und deren Ausstellung immerhin den eigentlichen Zweck seiner Reise bildete, wird Alberts Wünschen aber kaum entsprochen haben. Der Bremer Erzbischof erhielt darin lediglich die Befugnis, die Umwandlung des Marienklosters in ein Zisterzienserkloster durchzuführen, allerdings nur dann, wenn ihm dies für die Reformierung des Klosters nötig erschien. Außerdem erhielt Erzbischof Gerhard II . die Vollmacht, alle hierfür nötigen Schritte zu unternehmen und die sich widersetzenden Mönche gegebe‐ nenfalls in andere Klöster bringen zu lassen. Der von Albert ganz offenkundig angestrebte päpstliche Befehl zur Umwandlung des Marienklosters in eine Zisterze war dies also ganz gewiss nicht, doch konnte Albert immerhin die Umwandlung weiterhin für möglich halten. Bereits am 22. Juli 1237, dem Tag der hl. Maria Magdalena, befand sich Albert mitsamt seiner päpstlichen Urkunde wieder im Marienkloster in Stade 35 , worauf ich nachher noch näher eingehen werde. Albert muss also in der Zeit zwischen dem 6. Mai und dem 22. Juli 1237 die Rückreise aus Rom angetreten haben. Auch hierzu später mehr. Alberts Reise zur päpstlichen Kurie mitsamt seinem dortigen Aufenthalt muss demnach in der Zeit zwischen dem 4. Juni 1235 und dem 6. Mai 1237 stattgefunden haben. Der Zeitpunkt seiner Abreise (! ) lässt sich allerdings noch etwas genauer eingrenzen, wenn auch nicht ganz so exakt, wie das ebengenannte Datum seiner Rückreise. Einen ersten Hinweis auf eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem genauen (! ) Zeitpunkt seiner Abreise nach Rom liefert Albert selbst ganz am Ende seines Itinerars: Er lässt den fiktiven Gesprächspartner Firri dort fragen: Zu welcher Zeit wird der Weg nach Rom am besten genommen. Darauf antwortet Tirri: Gegen Mitte August, weil dann die Luft warm ist, die Wege sind trocken und die Flüsse seicht. Die Tage sind mehr als ausreichend lang, ebenso die Nächte zum Ausruhen des Körpers; und die Scheunen findest du mit neuer Frucht gefüllt 36 . Geht man davon aus, dass Albert diesen Ratschlag wohl kaum gegeben hätte, wenn er ihn nicht auch selbst befolgt hätte, so kommt m. E. sinnvollerweise nur der August des Jahres 1235 für seine Abreise nach Rom in Frage. Der erste und wichtigste Grund für die Annahme, dass Albert bereits im August 1235 (! ) seine Reise zur päpstlichen Kurie begonnen hat, ist der bereits 223 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="224"?> 37 Vgl. H O F M E I S T E R , Kampf (wie Anm. 8), S. 130. 38 Vgl. H O F M E I S T E R , Kampf (wie Anm. 8), S. 130. 39 A. D. 1236. Bremensis archiepiscopus et dux de Brunswich reconciliati sunt, et promissa est pax perpetua inter ecclesiam et ducem, et duci quaedam pheoda sunt porrecta. Otterenberge et Horborch destruuntur. Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 362. 40 Ebd., S. 335. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 72; Übersetzung: ebd., S. 76. mehrfach genannte welfisch-bremische Kompromissvertrag von 1236 37 . Aus den genannten Gründen war dieser Vertrag zum Zeitpunkt seiner Abreise zweifellos noch nicht absehbar. Wenn Albert aber erst im August 1236 (! ) nach Rom aufgebrochen wäre und der ebengenannte welfisch-bremische Kompromiss zu dieser Zeit tatsächlich noch nicht absehbar gewesen wäre, so hätte dies bedeutet, dass sowohl die Anbahnung dieses Vertrages als auch sein Abschluss in den wenigen Monaten zwischen September und Dezember 1236 stattgefunden hätte. Außerdem hätte in dieser kurzen Zeit auch noch die im Vertrag genannte Niederlegung der Burgen Harburg und Ottersberg durchgeführt worden sein müssen 38 , da diese Niederlegung, wie Albert selbst berichtet, ebenfalls noch im Jahr 1236 stattfand 39 und wohl kaum in wenigen Tagen zu bewerkstelligen war. Dies alles erscheint, nicht zuletzt aufgrund der damaligen Kommunikati‐ onsmöglichkeiten, nun doch äußerst unwahrscheinlich. Wenn man außerdem davon ausgeht, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Alberts Aufenthalt an der päpstlichen Kurie und der Ausstellung der eben genannten Urkunde für Kloster Lilienthal am 1. September 1236, so kommt ebenfalls nur ein Reisebeginn im August 1235 (! ) in Frage, denn bei einem Reisebeginn im August 1236 (! ) hätte Albert sein Reiseziel am 1. September 1236 ohne jeden Zweifel noch nicht erreicht haben können. Ein weiterer gewichtiger Grund dafür, den Beginn von Alberts Reise schon in den August des Jahres 1235 zu datieren, liegt in Alberts Reiseroute sowie in der Dauer seiner Reise, die sich aus der von ihm gewählten Reiseroute ergibt. IV. Alberts Reiseroute Albert wählte für die Hinreise nach Rom, wie erwähnt, ganz gezielt den Weg durch das Maurienne-Tal in den französischen Alpen 40 und er begann diese Reise, wie sich jetzt festhalten lässt, im August 1235. Er wählte also, anders als für den Rückweg, nicht den direkten und kürzesten Weg durch die Alpen, also den Weg über den Brenner, und auch nicht den Weg über Basel durch die heutige Schweiz hindurch, also den Weg über den Großen St. Bernhard, den Septimer oder den Gotthard-Pass. Vielmehr machte er auf der Hinreise einen weiten Umweg nach Frankreich hinein. 224 Arend Mindermann <?page no="225"?> 41 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 335-338. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 72-74; Übersetzung: ebd., S. 76-78. Die Alpen durchquerte er erst weit im Süden: Von Lyon aus kommend, reiste er in den französischen Alpen durch das Maurienne-Tal am Mont Cenis vorbei, um dann wenig später Turin zu erreichen 41 . Abb. 1: Die Reiserouten der Romreise des Abtes Albert von Stade 225 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="226"?> 42 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 338. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 74; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 78. 43 K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 120. 44 Ebd. 45 Vgl. B R O S I U S , Rolle (wie Anm. 24), S. 121. - R O P P , Unkosten (wie Anm. 25), S. 32. - V O I G T , Romreise (wie Anm. 25), S. 170 und 172; V O I G T , Kurie (wie Anm. 25), S. 271. 46 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 335. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 72; Übersetzung: ebd., S. 76. Dass der Weg durch das Maurienne-Tal mehr Meilen betrage als die übrigen Wege, gibt Albert selbst an 42 . Es war ihm also sehr bewusst, dass er auf dem Hinweg nach Rom einen großen Umweg machte. Einen Grund für seinen Umweg nennt er aber nicht. Warum aber nahm Albert diesen gewaltigen Umweg, der, wie H E R B E R T K RÜG E R berechnet hat, „um 33,6 % länger“ ist als die Route über den Brenner? 43 H E R B E R T K RÜG E R versuchte 1956 die ungewöhnliche Route der Hinreise damit zu begründen, dass Albert diese längere Strecke deshalb gewählt habe, weil sie den entscheidenden Vorteil besessen haben [dürfte], daß sie früher im Jahr ohne Gefahr benutzbar wurde als die zentralen und ostalpinen Paßsysteme 44 . Diese Begründung würde voraussetzen, dass Albert seine Reise nicht, wie von ihm selbst empfohlen, Mitte August begonnen hätte, sondern vielmehr, entgegen seiner eigenen Empfehlung, im Spätwinter oder im Vorfrühling zu dieser Reise aufgebrochen wäre. Für eine derartige Annahme aber gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt in den Quellen. Außerdem belegt eine sehr gut dokumentierte Romreise von Lüneburger Ratsherren im Winter 1453 / 54 ganz eindeutig, dass nicht nur durchtrainierten heutigen Alpinisten, sondern auch mittelalterlichen Reisenden ein winterlicher Übergang über den Brenner durchaus möglich war - und zwar nicht nur den damaligen, zweifellos körperlich sehr robusten reitenden Boten, sondern auch den vielleicht nicht ganz so ‚wetterfesten‘ hochrangigen Reisenden 45 . Warum dann also der Umweg über Frankreich? Zunächst ist festzustellen, dass Albert wohl davon ausging, dass er nicht unter Zeitdruck stand. Er hat seine Reise erkennbar sehr sorgfältig geplant und vorbereitet. Albert begab sich deshalb vor Beginn seiner eigentlichen Reise wohl zunächst zum Pferdekauf nach Dänemark. Jedenfalls rät Tirri in dem genannten fiktiven Dialog dem Romreisenden Firri, er solle sich, wie schon kurz erwähnt, eines Pferdes wegen vor Beginn der Reise nach Dänemark begeben (prius ibo in Daciam pro equo) 46 . Die dänischen Pferde waren damals offenbar von ganz besonderer Qualität hinsichtlich ihrer Ausdauer. Es muss allerdings offen bleiben, ob hier Reitpferde, Kutschpferde oder Packpferde gemeint sind. Wie bereits T H O MA S D AHM S vor einigen Jahren völlig zu Recht festgestellt hat, spricht einiges für die Annahme, 226 Arend Mindermann <?page no="227"?> 47 Online: www.viaromea.de / ein-abt-auf-pilgerreise/ (Abruf: 15. März 2019). 48 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 340. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 76; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 81. 49 Wie Anm. 47. dass Albert seine Romreise als Abt wohl eher zu Pferd oder im zweirädrigen Wagen als zu Fuß unternommen haben dürfte 47 . Insbesondere angesichts der schmalen Saumpfade in den Alpen wird man hier wohl doch eher an eine Reise hoch zu Ross zu denken haben, begleitet von einem entsprechenden Tross aus Pferdeknechten, Schreibern und sonstigen Dienern. Ein standesbewusster Benediktinerabt adeliger Herkunft, der sich zu Fuß auf den Weg nach Rom macht - diese Vorstellung scheint in der Tat doch eher unwahrscheinlich. Allerdings steht dieser überaus plausiblen Annahme einer Reise zu Pferd eine Stelle in Alberts Itinerar entgegen, in welcher Tirri seinem Gesprächspartner Firri bezüglich einer möglichen Rückreiseroute über Basel mit den folgenden Worten zu einer Schifffahrt auf dem Rhein rät: Wenn du nach Basel gekommen sein wirst, tu deinen Füssen die Wohltat an, besteig ein Schiff und fahr bis Köln hinab (Cum veneris Basileam, bene fac pedibus tuis et intrabo navem descendo usque Coloniam) 48 . Diese Bemerkung mag literarische Stilisierung sein und sich auf spätere Rompilger beziehen; sie könnte aber auch darauf hindeuten, dass auch Albert die ganze Reise zu Fuß unternommen hat und die Pferde ihm lediglich zum Transport des Gepäcks dienten. Doch unabhängig davon, ob Albert geritten ist ober er in einem Wagen unterwegs war oder ob er zu Fuß gereist ist, bleibt immer noch zu klären, warum er auf dem Hinweg einen derart großen Umweg machte, wenn dieser Umweg nicht der Jahreszeit geschuldet war. Es war der eben erwähnte T H O MA S D AHM S , der im Jahr 2019 als erster eine neue und m. E. sehr plausible Antwort auf diese Frage gefunden hat. Er gibt kurz und knapp an, dass Albert auf dem Hinweg - wohl um Cîteaux zu besuchen - einen Umweg über Frankreich wählte 49 . Es erscheint unmittelbar einleuchtend, dass es für Albert ebenso sinnvoll wie praktisch schien, auf dem Weg zur päpstlichen Kurie, wo er sich päpstliche Hilfe bei der Umwandlung eines Benediktinerklosters in ein Zisterzienserkloster erhoffte, persönlich zum Zentrum dieses Reformordens zu reisen. Auf diese Weise konnte er sich vor seinem Aufenthalt an der päpstlichen Kurie ein genaues persönliches Bild über diese Klöster machen. Das scheint ihm, wie man nunmehr annehmen darf, sehr wichtig gewesen sein - auch wenn dies einen großen Umweg auf seinem Weg nach Rom bedeutete. Betrachtet man Alberts Reiseweg (Abb. 1) unter diesem Aspekt einmal ganz genau, so wird sehr schnell deutlich, dass T H O MA S D AHM S mit seiner Erklärung 227 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="228"?> 50 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 336. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 73; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 77 (hier irrtümlich mit der Namensform Cistacium statt korrekt Cistercium); vgl. auch ebd., S. 99. 51 Vgl. Florent C Y G L E R , Das Generalkapitel im hohen Mittelalter. Cisterzienser, Prämon‐ stratenser, Kartäuser und Cluniazenser (Vita regularis 12), Münster / Hamburg / London 1998, S. 51. - Für den Hinweis auf die jährlichen Generalkapitel der Zisterzienser danke ich Prof. Dr. Enno Bünz, Leipzig, sehr herzlich. 52 Vgl. C Y G L E R , Generalkapitel (wie Anm. 51), S. 53 f. für Alberts Umweg über Frankreich, etwas salopp gesagt, wohl ins Schwarze getroffen hat, denn tatsächlich nennt Albert den Ort Beaune bei Cîteaux mit der lateinischen Namensform Beane prope Cistercium ganz ausdrücklich als eine Station seiner Reise 50 . Das hier genannte Beaune liegt tatsächlich nur 10 km westlich des Ortes Saint-Nicolas-lès-Cîteaux, dem Ort, in dem sich das Kloster Cîteaux befindet. Geht man davon aus, dass Albert, seiner eigenen Empfehlung folgend, im August zu seiner Reise aufgebrochen ist, so wird er Burgund und das Kloster Cîteaux im September 1235 erreicht haben. Der Termin seiner Ankunft in Burgund dürfte durchaus kein Zufall sein, da in jedem Jahr am 14. September das mehrtägige Generalkapitel des Zisterzienserordens in Cîteaux begann 51 . Heutzutage ist (den Angaben des Online-Kartendienstes Google Maps zu‐ folge) für eine Fußreise vom Grundstück des Stader Johannisklosters bis zum Kloster Cîteaux, die annähernd Alberts Route folgt, eine Reisedauer von ca. 200 Stunden zu veranschlagen. Rechnet man dabei mit einer im Sommer gut möglichen täglichen Reisezeit von etwa 7 Stunden, so kommt man auf eine Gesamtreisezeit von etwas weniger als 30 Tagen. Wenn Albert also, wie von ihm selbst vorgeschlagen, Anfang August in Stade zu seiner Reise aufgebrochen ist, wird er genau pünktlich zu dem am 14. September 1235 beginnenden Generalkapitel in Cîteaux eingetroffen sein. Zu diesem Generalkapitel kamen in jedem Jahr die Äbte aller Zisterzienser‐ klöster persönlich nach Cîteaux, sofern nicht sehr zwingende Gründe die Reise verhinderten. Bezüglich der Klöster in sehr großer Entfernung von Cîteaux, z. B. der Klöster in Irland, wurde festgelegt, dass wenigstens einige (! ) Äbte aus dieser Region jährlich nach Cîteaux kommen sollten. Aufgrund des großen Andrangs legte der Orden bereits um 1200 fest, dass die teilweise recht großen Delegationen der einzelnen Klöster in Dijon Quartier nehmen mussten, wo der Orden ein Haus besaß. Von dort aus brachen die Teilnehmer des Generalkapitels dann gemeinsam nach Cîteaux auf. Allerdings durfte von Dijon nur jeweils ein Abt mit einer weiteren Person und zwei Pferden nach Cîteaux reisen 52 . Für Albert bestand also die Chance, in Cîteaux gerade zu dieser Zeit zahlreiche Äbte von Zisterzienserklöstern persönlich sprechen zu können. Sicherlich 228 Arend Mindermann <?page no="229"?> 53 Vgl. ebd., S. 73, Anm. 280-282, und S. 111, Anm. 475 (mit weiteren Nachweisen). 54 Zu den Primärabteien vgl. jüngst Immo E B E R L , Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens, Darmstadt 2002, S. 36-85. 55 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 337. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 73; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 77. 56 K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 99 und 102. 57 Vgl. E B E R L , Zisterzienser (wie Anm. 54), S. 74. erhoffte er sich von hier auch eine tatkräftige Unterstützung des Ordens für sein Anliegen. Vom Generalkapitel des Jahres 1235 sind nur wenige Beschlüsse erhalten 53 . Das Alberts Name in diesen Generalkapitelsbeschlüssen nicht erscheint, ist nicht weiter erstaunlich. Auch wenn sich seine dortige Anwesenheit also nicht mit letzter Sicherheit nachweisen lässt, so erscheint sie angesichts seiner Reiseroute doch als überaus wahrscheinlich. Zugleich zeigt ein ganz genauer Blick auf Alberts Reiseroute aber auch, dass er im September 1235 wohl nicht nur Cîteaux aufgesucht haben dürfte. Vielmehr deutet die von ihm gewählte Route darauf hin, dass er außerdem auch den vier zisterziensischen Primärabteien (La Ferté sur Grosne, Pontigny, Morimond, Clairvaux) 54 einen kurzen Besuch abgestattet haben könnte, denn sie alle (! ) lagen entweder direkt auf seinem Weg oder doch nicht allzu weit von der von Albert genannten Wegstrecke entfernt. Da ist zunächst das Kloster La Ferté sur Grosne zu nennen. Albert selbst gibt hierzu nur an, dass auf dem Weg von Beaune bei Cîteaux über Chalon-sur-Saône nach Tournus, in einer Entfernung von dreimal drei Meilen (also etwa 15 km) von Beaune, der Fluss Grosne (Grone) überquert werden muss 55 . Wie H E R B E R T K RÜG E R ermitteln konnte, lag dieser Flussübergang genau bei La Ferté sur Grosne 56 . Dieses Kloster lag also direkt auf Alberts Weg. Die Primärabtei Pontigny lag etwa 50 km südwestlich von Alberts Strecke. Die Primärabtei Morimond, die über Kloster Volkenroda mittelbar u. a. Mutterkloster des Klos‐ ters Loccum war 57 , lag etwa 60 km östlich von seiner Strecke. Die Primärabtei Clairvaux lag sogar nur etwa 10 km südlich der von ihm genannten Station Troyes. Die Abtei Clairvaux lag also ähnlich nahe an seinem Weg wie die Abtei Cîteaux. Es erscheint mir kaum vorstellbar, dass Albert ausgerechnet denjenigen Weg nach Rom wählte, der derart dicht an all diesen Klöstern vorbeiführte, wenn er nicht beabsichtigt hätte, alle oder zumindest einige diese Klöster auch selbst aufzusuchen. Man geht deshalb meines Erachtens sicher nicht zu weit, wenn man annimmt, dass Albert vermutlich jeweils an entsprechender Stelle kurz von seiner Route abgewichen sein wird, um Abstecher zu den einzelnen Klöstern zu 229 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="230"?> Abb. 2: Das Maurienne-Tal in den französischen Alpen und der Bischofssitz St. Jean de Maurienne unternehmen. Zeit genug hatte er hierfür jedenfalls. Die Klöster Cîteaux und La Ferté sur Grosne lagen außerdem ja, wie eben erwähnt, ohnehin quasi direkt auf seinem Weg - und auch an der Primärabtei Clairvaux führte sein Weg ja fast direkt vorbei. Die Entfernung der beiden anderen ebengenannten Klöster Pontigny und Morimond von seiner ursprünglichen Wegstrecke war ebenfalls derart gering, dass man hier wohl jeweils etwa eine Tagesreise für die Anreise von der ursprünglichen Wegstrecke aus und einer weiteren Tagesreise zurück zur ursprünglichen Wegstrecke veranschlagen kann. Aber selbst wenn ihm die Entfernung nach Pontigny und Morimond doch etwas zu weit gewesen sein sollte, was m. E. eher unwahrscheinlich sein dürfte, so bleiben mit Cîteaux, Ferté sur Grosne und Clairvaux immer noch drei frühe Zisterzienserklöster, die in unmittelbarer Nähe von Alberts Weg lagen. Die Tatsache, dass er diese einzelnen Abstecher in seinem Reisebericht nicht erwähnt, dürfte der literarischen Stilisierung seiner Vorlage geschuldet sein. Schließlich handelt es sich hier um den fiktiven Dialog einer Reise nach Rom und nicht um einen Rechenschaftsbericht oder gar die „Reisekostenabrechnung“ des Abtes Albert. Nach dem anzunehmenden Besuch der ältesten Zisterzienserklöster nahm Albert dann von Lyon aus, wie ja bereits zu Beginn seines Itinerars angekündigt, den Weg in das Maurienne-Tal und durchquerte dort die Alpen. 230 Arend Mindermann <?page no="231"?> 58 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 337. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 73; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 77 f. 59 Vgl. Stephan Jakob N E H E R , Kirchliche Geographie und Statistik. Oder: Darstellung des heutigen Zustandes der katholischen Kirche mit steter Rücksicht auf die früheren Zeiten und im Hinblick auf die anderen Religionsgemeinschaften. Specielle kirchliche Geographie und Statistik. Erste Abtheilung: Die europäischen Kirchenprovinzen 1, Regensburg 1864, S. 565 f. - Saturnin T R U C H E T , Histoire hagiologique du Diocèse de Maurienne, Chambéry 1867, S. 13-37. - Vgl. zuletzt Jean P R I E U R / Hyacinthe V U L L I E Z , Saints et saintes de Savoie, La Fontaine de Siloé 1999, S. 19-23. Abb. 3: Die Kathedrale von Saint-Jean-de-Maurienne Mitten in den Alpen, in der Bischofsstadt Saint-Jean-de-Maurienne, besuchte er ganz offenbar einen Wallfahrtsort mit Reliquien Johannes‘ des Täufers. Er lässt Tirri im fiktiven Dialog hierzu folgendes ausführen: Wenn du den Finger des hl. Johannes des Täufers sehen willst, so gehe von Hermillon in die Stadt St. Jean de Maurienne. Dort ist der Sitz eines Bischofs, dort ist auch der Finger des hl. Johannes aufbewahrt, den eine Jungfrau dorthin gebracht hat (Si vis videre digitum beati Johannis baptistae, de Ermelion vadas in civitatem Maurianam. Ibi est sedes episcopalis et digitus beati Johannis reconditus, quem in locum illum quaedam virgo deportavit) 58 . Diese Bemerkung bezieht sich auf eine Legende, der zufolge im 6. Jahrhundert die hl. Thekla Reliquien Johannes‘ des Täufers aus Ägypten nach St. Jean de Maurienne gebracht haben soll. Der daraufhin florierende Wallfahrtsort wurde bereits 576 zum Bischofssitz erhoben 59 . Wie lange Albert sich an diesem Wallfahrtsort aufgehalten hat, verrät er wie üblich nicht. Für ihn war aber auch diese Station ganz gewiss ein Höhepunkt 231 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="232"?> 60 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 335. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 72; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 76. 61 Vgl. Arend M I N D E R M A N N / Ida-Christine R I G G E R T -M I N D E R M A N N , Stade - Franziskaner, in: Niedersächsisches Klosterbuch, hg. von Josef D O L L E unter Mitarbeit von Dennis K N O C H E N H A U E R (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung 56), Bielefeld 2012, Bd. 3, S. 1377-1381, hier S. 1377. seiner Reise, denn den Wunsch, über das Maurienne-Tal (vallum Maurianum) zu reisen, hatte er ja dem fiktiven Romreisenden Firri bereits ganz zu Beginn seines Itinerars explizit in den Mund gelegt 60 . Es ist angesichts dieser einzigen expliziten Nennung eines Wallfahrtsortes im gesamten Itinerar vielleicht kein Zufall, dass die spätere Klosterkirche des Stader Franziskanerklosters ausgerechnet Johannes dem Täufer gewidmet war 61 . Ob Albert selbst eine Reliquie (am ehesten wohl eine Kontaktreliquie) dieses Heiligen aus Frankreich mit nach Stade gebracht hat? Es wäre meines Erachtens sehr gut möglich; aber wir wissen es leider nicht. In jedem Fall aber bildet in der literarischen (! ) Fassung des Reiseberichts der Besuch des Wallfahrtsortes in Saint-Jean-de-Maurienne ganz erkennbar die Begründung für den langen Umweg über Belgien und Frankreich, schließlich wird das Maurienne-Tal ja, wie eben erwähnt, schon ganz am Anfang seines Berichts genannt. - Den Besuch des Generalkapitels in Cîteaux, der wohl der tatsächliche und entscheidende Grund für diesen Umweg gewesen sein dürfte, konnte Albert seinen Lesern ja auch kaum als Begründung nennen. Wenn man all diese Annahmen, also den Besuch der Zisterzienserklöster und des ebengenannten Wallfahrtsortes, bei der Berechnung der Reisedauer mit einbezieht, so wird schnell deutlich, dass Alberts Angabe, er sei im Jahr 1236 bei der päpstlichen Kurie angelangt, völlig plausibel ist: Wenn er Anfang August 1235 in Stade aufgebrochen ist, um sich zunächst einmal in Dänemark mit Pferden zu versorgen, wird bereits dies sicherlich eine gewisse Zeit in Anspruch genommen haben. Anschließend ergibt sich für die von ihm genannte Strecke für eine Fußreise bzw. eine Reise mit schwer beladenen Lastpferden eine reine Reisezeit von mindestens zwei Monaten, bis er die päpstliche Kurie erreichte. Nun sind aber noch die eben genannten erschließbaren Besuche der fünf Zisterzienserklöster sowie des Wallfahrtortes Saint-Jean-de-Maurienne zu be‐ denken, die jeder für sich sicherlich einige Tage oder sogar mehrere Wochen gedauert haben werden. Eine solch lange Reise mit den genannten Unterbre‐ chungen wird ihn wohl tatsächlich erst in den ersten Wochen oder gar erst den ersten Monaten des Jahres 1236 an die päpstliche Kurie geführt haben. Nach seiner Ankunft an der päpstlichen Kurie begannen für Albert das übliche Antichambrieren und die üblichen, oft wochen- oder monatelangen 232 Arend Mindermann <?page no="233"?> 62 Vgl. hierzu beispielsweise B R O S I U S , Rolle (wie Anm. 24). - R O P P , Unkosten (wie Anm. 25). -V O I G T , Romreise (wie Anm. 25), S. 172 f. 63 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 366. 64 Vgl. oben Anm. 28, 30-32. 65 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 338 f. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 74 f.; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 79 f. Verhandlungen, um eine päpstliche Audienz zu erlangen 62 . Er folgte dabei der Reiseroute des Papstes und seiner päpstlichen Kurie, die sich in dieser Zeit nicht in Rom, sondern ausschließlich in den mittelitalienischen Städten Rieti und Viterbo aufhielten. Es ist schon deswegen keineswegs völlig sicher, dass Albert selbst überhaupt jemals in Rom gewesen ist. Er selbst berichtetet explizit, dass er zum Heiligen Stuhl zu Rom gereist ist (Romam adierat sedem). 63 Diese Formulierung bedeutet zweifellos, dass er die Römische Kurie aufgesucht hat, also den Papst bzw. die päpstliche Kurie. Aus dieser Formulierung abzuleiten, dass ihn seine Reise in die Stadt Rom geführt hat, erscheint mir jedenfalls nicht zwingend. Die päpstliche Ablass-Urkunde für Kloster Lilienthal und die Urkunde für das Stader Marienkloster weisen, wie vorhin ja bereits ausgeführt, darauf hin, dass Albert sich zumindest in der Zeit zwischen dem 1. September 1236 und dem 6. Mai 1237 an der päpstlichen Kurie aufgehalten haben wird 64 , bevor er dann, unmittelbar nach Ausstellung der Urkunde für das Stader Marienkloster, schnellstmöglich die Rückreise nach Stade angetreten hat. Für diese Rückreise dürfte er, wie die präzisen Angaben seiner Wegebeschrei‐ bung nahelegen, deshalb wohl die Route über den Brenner gewählt haben, für die er insgesamt 77 Stationen bzw. Tagesreisen, also etwa 2 ½ Monate, veran‐ schlagt 65 . Obwohl Albert ganz sicher bestrebt war, mitsamt seiner päpstlichen Urkunde so schnell wie möglich wieder nach Stade zurückzukommen, war ihm erkennbar eine noch schnellere Reise nicht möglich. Hier reist eben ganz offenkundig der prachtvolle Zug eines Benediktinerabtes und kein einzelner schneller Reiter, der diese Strecke in vier Wochen hätte zurücklegen können. Albert war zwar möglicherweise hoch zu Ross unterwegs, aber er reist ganz sicher nicht im Galopp, sondern in der Geschwindigkeit seiner Begleitung, die möglicherweise zu Fuß unterwegs war bzw. in der Schrittgeschwindigkeit seiner Packpferde. Außer der Route über den Brenner nennt Albert, wenn auch deutlich unge‐ nauer, noch mehrere Routen durch die heutige Schweiz, die alle auf Basel zuführen, von wo es dann, wie wir vorhin ja schon hörten, per Schiff auf 233 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="234"?> 66 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 338. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 74; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 79. 67 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 338 f. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 74 f.; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 79 f. 68 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 339. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 75; Übersetzung (danach hier zitiert): ebd., S. 80. 69 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 366 f. dem Rhein weitergeht bis nach Köln. Von dort führt dieser Weg dann über Recklinghausen, Münster und Bremen zurück nach Stade 66 . Albert selbst aber reiste nicht über Basel sondern über Ferrara und Padua in Richtung Brenner. Bei der Überquerung des Po bei Ferrara hatte er allerdings ganz offenbar, vorsichtig ausgedrückt, mit einigen Unannehmlichkeiten zu kämpfen, jedenfalls deutet sein Reisebericht sehr stark darauf hin: Diese Stromlandschaft [des Po bei Ferrara], so harmlos sie auch ist, ist bei Unwetter sehr gefährlich, weil wegen der hinderlichen Sümpfe und Wüsteneien nach keiner Seite hin eine Zufluchtsmöglichkeit vorhanden ist. Und wenn das Wasser anfangs auch schmal ist, so dehnt es sich zuletzt immer weiter aus. Deshalb rate ich dir, bei ruhigem Wetter es in einem guten Schiff zu durchqueren. Gute Menschen wirst du dort nicht antreffen, weil die größten Taugenichtse sich dort aufhalten (Bonos homines ibi habere non potes, quia nequissimi manent ibi leccatores). Durchquere das Gebiet deshalb bei Tage und nicht bei Nacht 67 . Vom Brenner aus reiste Albert durch Tirol und dann durch das heutige Bayern und Thüringen. Von Thüringen aus ging es für Albert auf seinem Rückweg östlich am Harz vorbei und dann über Braunschweig und Celle nach Stade. Für Reisende aus Dänemark, wo er ja seine Pferde gekauft hatte, fügt Albert noch an: Dort, bei Stade also, überquerst du die Elbe und ziehst nach Dänemark 68 . Unmittelbar nach seiner Ankunft in Stade, am 22. Juli 1237, hat dann der in Stade anwesende Bremer Erzbischof pflichtgemäß dem Konvent des Marien‐ klosters die vorhin bereits näher betrachtete päpstliche Urkunde vom 6. Mai 1237 vorgetragen 69 . Diese Urkunde hat den Konvent des Marienklosters ver‐ ständlicherweise kaum beeindruckt. Alberts gesamte Reise hatte also den von ihm angestrebten Zweck komplett verfehlt. Von seiner verbitterten Reaktion hierauf und seinem wohl daraus resultierender Eintritt in die Stader Franziska‐ nerniederlassung im Jahr 1240 haben wir ja bereits gehört. 234 Arend Mindermann <?page no="235"?> 70 1 Landene. Haec villa mixta est et Gallico et Teutonico. 2 Lismea. Ibi intras linguam Gal‐ licam. Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 336. Nach dieser Ausgabe erneut gedruckt: K R Ü G E R , Itinerar (wie Anm. 2), Teil I, S. 73; Übersetzung ebd., S. 77: 1 M[eile] weit ist der Weg bis Landen. Dieses Dorf hat französische und deutsche Bewohner. 2 M[eilen] bis Linsmeau. Dort betrittst du französisches Sprachgebiet. V. Der Reisebericht in literarischer Stilisierung Im Franziskanerkonvent in Stade hatte Albert die Muße, seine Weltchronik zu schreiben, in der uns eben auch sein bemerkenswertes Itinerar überliefert ist, das sich in seinem fiktiven Dialog durch einige Besonderheiten auszeichnet, die ich nicht unerwähnt lassen möchte. Hierzu gehören insbesondere seine ungemein präzisen Meilenangaben, die, wie H E R B E R T K RÜG E R schon 1956 errechnet hat, bei den meisten Streckenab‐ schnitten selbst den Tachometern der 1950er Jahre hinsichtlich der Messgenau‐ igkeit kaum nachstehen. Um diese präzisen Angaben zu erhalten, muss Albert zweifellos unterwegs immer wieder sehr gut informierte Wegekenner befragt haben und sich deren Antworten dann unverzüglich notiert haben. Sein Itinerar zeichnet sich aber auch durch seine praktischen Zusatzinforma‐ tionen aus, wie etwa die eben zitierten Warnhinweise bezüglich der Überque‐ rung des Po in Norditalien, oder durch den Hinweis auf die genannte Reliquie Johannes’ des Täufers in St. Jean de Maurienne oder auch durch die präzise Nennung der deutsch-französischen Sprachgrenze im heutigen Belgien 70 . Durch all diese Angaben, von denen ich hier nur einige wenige beispielhaft herausgreifen kann, sowie mit der ausdrücklichen Nennung des Zielortes Rom (statt die von Albert aufgesuchte, durchaus nicht immer in Rom anzutreffende päpstliche Kurie als Reiseziel zu nennen), durch all dies also wird jenes Itinerar von der Beschreibung einer konkreten, hochpolitischen Reise des Stader Abtes Albert zu einem literarisch stilisierten, allgemein nutzbaren, sehr präzisen Pilgerführer für Rompilger. Unmittelbar anschließend an die Beschreibung des Wegs nach Rom folgt in Alberts Chronik dann noch ein weiterer, weithin unbekannter Reisebericht: die Beschreibung des Weges in und durch das Heilige Land, auf den abschließend noch kurz eingegangen werden soll. Berichtet wird über den Weg per Schiff von Flandern aus, entlang der Küsten Englands, Frankreichs, Spaniens und Portugals ins Mittelmeer hinein und dann an der nördlichen Mittelmeerküste entlang bis ins Heilige Land. Dieser Bericht ist in gleicher Weise in die Form eines fiktiven Dialogs zwischen Tirri und Firri gekleidet wie der Bericht über die Romreise, und es ist ebenfalls Tirri, der auf Firris Frage hin den genauen Routenverlauf schildert. Auch die Anzahl 235 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="236"?> 71 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 340-343. 72 Annales Stadenses (wie Anm. 11), S. 343. 73 Vgl. Denys P R I N G L E , The Churches of the Crusader Kingdom of Jerusalem. A Corpus 2: L-Z, Cambrigde 1998, S. 283-301. der Tagesreisen zur See sowie die Meilenangaben für die Strecke zwischen den einzelnen Stationen im Heiligen Land sind genau vermerkt. Zu den einzelnen Orten im Heiligen Land wird zudem sehr oft angegeben, welche biblische Geschichte sich dort ereignet haben soll 71 . Abb. 4: Die Grabkirche Johannes’ des Täufers in Samaria; Ansicht um 1920 Zum Ort Samaria (Sebaste) berichtet Albert außerdem, dass Johannes der Täufer hier begraben sei (in qua sepultus fuit beatus Iohannes baptista) 72 . Die Kirche, in der sich dieses Grab befindet, wurde im 12. Jahrhundert errichtet und ist leider nur noch in Resten erhalten. Große Teile der Kirche fielen einem 1892 begonnenen Umbau zur Moschee zum Opfer 73 . Wallfahrtsorte mit Bezug zum späteren Patron der Kirche des Stader Franzis‐ kanerklosters St. Johannis werden also in beiden Reiseberichten ganz explizit 236 Arend Mindermann <?page no="237"?> 74 Vgl. hierzu zuletzt M A E C K , Weltchronik (wie Anm. 5), S. 299-322. genannt. Ob allerdings auch der Reise ins Heilige Land eigene Erlebnisse Alberts zugrunde liegen, ist bisher nicht bekannt, wäre aber durchaus möglich. VI. Rezeption der Reiseberichte Alberts Es ist sicher, dass die Reiseberichte des Albert von Stade als Pilgerführer bereits im Spätmittelalter wahrgenommen und gelesen worden sind, da spätere Chronisten Alberts Chronik mehrfach genutzt haben 74 und da es nachweislich mehrere Abschriften der Weltchronik gegeben hat. Erhalten ist die vorhin schon erwähnte Abschrift aus dem 14. Jahrhundert, die heute unter der Signatur Cod. Guelf. 466 Helmst. in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel verwahrt wird. Sie bildet, wie bereits erwähnt, die älteste handschriftliche Überlieferung dieser Chronik; ein Autograph Alberts hat sich leider nicht erhalten. Eine weitere Abschrift, die sich noch im 16. Jahrhundert in der Privatbibliothek des holsteinischen Adeligen Heinrich Rantzau befand, ist leider verloren. Abb. 5: Reiner R E I N E C C I U S (Hg.), Chronicon Albertis abbatis Stadensis …, Helmstedt 1587, Titelblatt 237 Die Romreise des Albert von Stade <?page no="238"?> 75 Reiner R E I N E C C I U S (Hg.), Chronicon Albertis abbatis Stadensis, a condito orbe usque ad auctoris abbatem, id est annum Iesu Christi M.CC.LVI. deductum, & nunc primum euulgatum, … e bibliotheca magnifici et illustris viri Henrici Ranzovii equestris Holsati, proregis Danici in ducatu Slecuic, Holsatia, Ditmarsia, Helmstedt 1587 (VD 16 A 1467). 76 Vgl. Arend M I N D E R M A N N , Zur Geschichte des Stader Franziskanerklosters St. Johannis, in: Wissenschaft und Weisheit. Franziskanische Studien zu Theologie, Philosophie und Geschichte 63 / 1 (2000), S. 61-85, hier S. 78-82. - M I N D E R M A N N / R I G G E R T -M I N D E R M A N N , Stade (wie Anm. 61), S. 1378. 77 Vgl. M I N D E R M A N N , Geschichte (wie Anm. 75), S. 82 f. - M I N D E R M A N N / R I G G E R T -M I N D E R ‐ M A N N , Stade (wie Anm. 61), S. 1378. 78 Vgl. online: www.viaromea.de (Abruf: 30. März 2021). Für die Bekanntheit der Chronik spricht auch die Tatsache, dass sie bereits im Jahr 1587 vom Helmstedter Universitätsprofessor Reiner Reineccius, einem bedeutenden Historiker des 16. Jahrhunderts, auf der Grundlage der Rantzauer Handschrift erstmals ediert wurde 75 . Und genau in dieser Form, als Pilgerführer nämlich, erfreut sich Alberts Itinerar, oder genauer: sein Rückweg aus Rom, in unserer heutigen Zeit erneut einer wachsenden Beliebtheit. Bereits Ende des 20. Jahrhunderts hat man im Stader Johanniskloster, das im 17. Jahrhundert auf dem Gelände des früheren Franziskanerklosters St. Jo‐ hannis als Armenhaus neu errichtet worden ist 76 , an Abt Albert erinnert. Zum einen durch eine vom Bildhauer C A R S T E N E G G E R S geschaffene Skulptur eines lesenden Franziskaners im Innenhof des Johannisklosters und zum anderen durch eine Bronzeplakette am Gebäude selbst. Die einstige Klosterkirche des Franziskanerklosters St. Johannis wurde beim Stadtbrand von 1659 zerstört, die Ruinen dieser Kirche wurden danach abgebrochen. Geringe Reste der einstigen Kirchenmauern haben sich aber unter anderem im Kellergeschoss des Stader Stadtarchivs erhalten 77 . Noch einmal deutlich verstärkt hat sich das Interesse an Alberts Romreise im frühen 21. Jahrhundert. Unter dem Namen ’Via Romea. Weg der Begegnung‘ hat sich im Januar 2009 in Hornburg am Harz ein Verein gebildet, der bereits im Juni 2009 eine erste Mitgliederversammlung in Garmisch-Partenkirchen abhalten konnte. Ziel dieses Vereins ist es, das Andenken an Alberts Reiseweg zu erhalten, die Wegstrecke seiner Rückreise-Route als Pilgerweg zu markieren, Unterkunftsmöglichkeiten aufzuzeigen und Pilgerpässe auszustellen 78 . Der Romweg des Albert von Stade in seiner Weltchronik ist also gegenwärtig, mehr als 760 Jahre nach seiner Entstehung, aktueller denn je. 238 Arend Mindermann <?page no="239"?> 1 Zum Hülfensberg vgl. zuletzt: 650 Jahre Wallfahrtskirche auf dem Hülfensberg. Fest‐ schrift zum Kirchweihjubiläum 1367-2017, im Auftrag der Gemeinschaft der Franzis‐ kaner auf dem Hülfensberg hg. von Torsten W. M Ü L L E R , Geismar 2017. 2 Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Wernigerode, Rep. Cop. Nr. 1539 e I., fol. 250v-fol. 252r; gedruckt bei: Thomas T. M Ü L L E R / Hans-Jörg N Ü S S E , „… zue pfingestene nit eine tunne bieres were getruncken“ - Die Keramikfunde vom Hülfensberg. Ein Bei‐ trag zur spätmittelalterlichen Wallfahrtsgeschichte des Eichsfeldes, in: Eichsfeld-Jahr‐ buch 9 (2001), S. 41-55, hier S. 47. Wunder an der Werra Die Wallfahrtskapelle auf dem Hülfensberg Thomas T. Müller und Hartmut Kühne Im Jahr 1429 wurden Ludolf von Gerterode, Apel Preuße, Gerlach von Bartloff und andere alde glaubhaftige lude im Rahmen eines Rechtsstreits nach ihren Erinnerungen gefragt. Dabei ging es darum, wem das Fassgeld auf dem Hül‐ fensberg 1 zustehe. Um die augenscheinlich einträglichen Einnahmen dieser auf dem bedeutendsten eichsfeldischen Wallfahrtsort erhobenen Biersteuer stritten sich die adlige Familie Keudel und das Zisterzienserinnenkloster Anrode, dem der Berg damals gehörte. Die teilweise über 80-jährigen Männer gaben an, dass sie sich noch an die Zeit erinnern könnten, als auf Sanct Gehülffensberge zue pfingestene nit eine tunne bieres were getruncken worden, und dass dort auch keine anderen Gebäude gestanden hätten als die Kapelle und das Opfer‐ haus. Geändert habe sich das alles erst durch die fahrt von den seelendern. Der Pilgerstrom aus dem Norden habe sich nahezu täglich erhöht (besserte sich die fahrt von tage zu tage) und so dafür gesorgt, dass man wegen der vielen Pilger tranck und speiße auf den berg fürte 2 . Die Männer berichteten in diesem Kontext auch von späteren, nicht näher erläuterten kriegerischen Auseinandersetzungen im Umfeld des Berges, welche dazu geführt hatten, dass einige Bewohner aus den umliegenden Dörfern, in welchen die Keudel über diverse Rechte verfügten, auf den Berg flohen, um dort durch die Versorgung der zahlreichen Pilger ein Auskommen zu finden. Die Kriegshandlungen, auf <?page no="240"?> 3 Gustav S C H M I D T (Bearb.), Päbstliche [sic! ] Urkunden und Regesten aus den Jahren 1295-1352, die Gebiete der heutigen Provinz Sachsen und deren Umlande betreffend (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 21), Halle 1886, Nr. 200, S. 408 f.; vgl. hierzu: Heinrich W A L D M A N N , Urkundliche Ersterwähnung des Hülfensberges vor 650 Jahren, in: Eichsfeld 45 (2001), S. 409 f. 4 So Bernhard O P F E R M A N N , Die kirchliche Verwaltung des Eichsfeldes in seiner Vergan‐ genheit, Leipzig / Heiligenstadt 1958, S. 105. Wir danken Wolfgang Petke (Göttingen) für seine Einschätzung dieser Frage. 5 Eduard A U S F E L D , Regesten zur Geschichte des Klosters Anrode bei Mühlhausen i. Th. (1262-1735), in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 7 (1906 / 07), S. 1-74, hier Nr. 116 und 118, S. 41 f. 6 Die nachfolgenden Untersuchungen basieren zu einem großen Teil auf den Erkennt‐ nissen aus Thomas T. M Ü L L E R / Gerhard M Ü L L E R , Der Salvator und sein Berg. Überle‐ gungen zur Herkunft und frühen Geschichte des Hülfenskreuzes, in: Der Eichsfelder Gehülfe. Das romanische Gnadenbild auf dem Hülfensberg, hg. vom Förderkreis Hülfensberg, Duderstadt 2011, S. 23-46. die hier Bezug genommen wurde, waren mit hoher Wahrscheinlichkeit die Auseinandersetzungen zwischen Erzbischof Adolf I. von Mainz und Landgraf Hermann II. von Hessen in den Jahren 1385-1387. In deren Folge musste Letzterer schließlich die Städte Eschwege und Sontra an den Mainzer und die mit ihm verbündeten Landgrafen Balthasar von Thüringen und Herzog Otto von Braunschweig abtreten. Somit wird deutlich, dass die Wallfahrt aus dem Norden noch vor dem Jahr 1385 größere Ausmaße angenommen zu haben scheint. Da sich die oben genannten Männer allerdings noch an die Zeit vor dem Pilgerstrom aus dem Norden erinnern konnten, kann dieser - unter Beachtung des Alters der Zeugen - frühestens in den 1360er Jahren eingesetzt haben. Der Initiator der Wallfahrt Wann die in der Mitte des 14. Jahrhunderts zum ersten Mal urkundlich erwähnte Kirche ecclesia S. Salvatoris auf dem Hülfensberg 3 entstand, ist ungeklärt. Die Annahme, es handle sich um eine der ersten Pfarrkirchen in dieser Region, lässt sich historisch nicht halten 4 . In der ältesten überlieferten Urkunde aus dem Jahr 1351 wird - erstaunlicherweise - der Name eines dort amtierenden Pfarrers genannt - Konrad Lokern. Dass auf dem Hülfensberg bereits damals ein Pfarrer amtierte, ist auch deshalb erstaunlich, weil in den Urkunden der 1350er Jahre stets von der Kapelle auf dem Hülfensberg die Rede ist, die gemeinsam mit der Pfarrkirche von Geismar ihren Besitzer wechselt, was nachfolgend noch zu behandeln sein wird 5 . Aber zurück zu Konrad Lokern, dem bei der Suche nach den Gründen für die Entstehung der Wallfahrt eine Schlüsselstellung zukommt 6 . Konrad Lokern 240 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="241"?> 7 Zum Stift vgl. Enno B Ü N Z , Heiligenstadt als geistliches Zentrum des Eichsfeldes. Das Kollegiatstift St. Martin und seine Kanoniker, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 62 (2008), S. 9-48; Thomas T. M Ü L L E R (Hg.), Die St.-Martins-Kirche zu Hei‐ ligenstadt. 17 Beiträge zu ihrer Geschichte (Heiligenstädter Schriften 2), Heiligenstadt 2003. 8 S C H M I D T , Päbstliche [sic! ] Urkunden (wie Anm. 3), Nr. 283, S. 204. 9 Johann W O L F , Eichsfeldische Kirchengeschichte, Göttingen 1816, Urkunde Nr. XXIX, S. 28-34. Mit der Urkunde erhält Kloster Anrode das Patronatsrecht über die ecclesia in Stuffenberg im Tausch gegen das Patronatsrecht über die Pfarrkirche in Butstedt und die Kapelle in Sundhausen. 10 So wurde beispielsweise das ebenfalls kurmainzische Kollegiatstift St. Peter in Nörten bei seiner Gründung 1055 vom Erzbischof mit Kirchen und Kapellen dotiert, vgl. Helmut G O D E H A R D T , Einer Urkunde von 1055 gilt in diesem Jahr auch auf dem Eichsfeld größte Aufmerksamkeit, in: Eichsfelder Heimatzeitschrift 49 (2005), S. 81 f. 11 Fritz V I G E N E R (Bearb.), Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289-1396. Zweite Abteilung (1354-1396), Erster Band (1354-1371), Leipzig 1913, Nr. 1521, S. 339. 12 Johann W O L F , Geschichte und Beschreibung der Stadt Heiligenstadt, Göttingen 1800, S. 36. 13 Zur Funktion der kurmainzischen Generalkommissare vgl. Günter C H R I S T / Georg M A I , Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte. Bd 2: Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 6,2), Würzburg 1997, S. 543-546. Vgl. außerdem Georg M A Y , Die geistliche Gerichtsbarkeit war bereits seit 1327 päpstlich providierter Kanoniker am St.-Martins-Stift 7 im nicht weit entfernten Heiligenstadt 8 . Dieser Umstand war wohl kaum ein Zufall, denn wenngleich der Besitz der Hülfensbergkirche durch das St.-Martins-Stift erst für das Jahr 1357 sicher belegt ist 9 , dokumentiert die damals vollzogene Besitzübertragung, dass diese rechtliche Situation bereits zuvor bestand. Wann und wie die Hülfensbergkirche allerdings an das Stift kam, ist völlig unklar. Zu prüfen wäre die Möglichkeit einer Dotierung derselben aus dem erzbischöfli‐ chen Tafelgut an St. Martin in Heiligenstadt anlässlich der Stiftsgründung 10 . Fest steht zumindest, dass Kurmainz noch im 14. Jahrhundert im direkten Umfeld des Hülfensberges über einigen Besitz verfügte 11 . Konrad Lokern hatte es seit seinem Eintritt in das Heiligenstädter St.-Martins-Stift wie nur wenige andere Mitglieder des Eichsfelder Klerus verstanden, seinen persönlichen Einfluss im Mainzer Kirchenstaat immer weiter auszubauen. Zwischen dem dritten und siebten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts wurde aus dem Spross einer einflussrei‐ chen Heiligenstädter Ratsfamilie 12 durch kluge Vorgehensweise und großes kirchenpolitisches Geschick einer der wichtigsten Vertreter des Erzbischofs im heute thüringisch-niedersächsischen Grenzgebiet. Den Höhepunkt seiner Karriere hatte er am 29. März 1358 erreicht, als er von Erzbischof Gerlach gemeinsam mit dem Provisor des Mainzer Hofes in Erfurt, Johann Ortonis, und dem Magister Dietrich Rufi (Rode) zum Generalkommissar 13 für die erzbi‐ 241 Wunder an der Werra <?page no="242"?> des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. - Das Generalgericht zu Erfurt (Erfurter Theologische Studien 2), Leipzig 1956, S. 308-314. 14 V I G E N E R , Regesten (wie Anm. 11), Nr. 990, S. 222. In dieser Funktion führte er wenige Monate später gemeinsam mit Ritter Heinrich von Hardenberg im Auftrag Erzbischof Gerlachs Verhandlungen mit der Stadt Heiligenstadt, vgl. ebd., Nr. 1067, S. 238. 15 A U S F E L D , Regesten (wie Anm. 5), Nr. 114-116, S. 40 f. Vgl. außerdem Heinrich W A L D ‐ M A N N , Über den thüringischen Gott Stuffo. Eine Untersuchung der älteren Geschichte des Hülfensberges, eines berühmten Wallfahrtsortes im Eichsfelde, Heiligenstadt 1857, S. 180-188; D E R S ., Kirchengeschichtliche Untersuchungen. Der Hülfensberg und Geismar, in: Programm des Königlichen Gymnasiums zu Heiligenstadt für das Jahr 1852, Heiligenstadt 1852. 16 V I G E N E R , Regesten (wie Anm. 11), Nr. 1678, S. 381. 17 Joachim K U R T , Die Geschichte der Kartause Erfurt Montis Sancti Salvatoris 1372-1803 (Analecta Cartusiana 32), Salzburg 1989. schöflichen Propsteien Nörten und Einbeck ernannt wurde 14 . Es spricht einiges dafür, dass Lokern nie auf seine Rechte auf dem Hülfensberg verzichtet hat. Auch nachdem der Berg und die Kirche im Jahr 1357 vom Martinsstift an das Zisterzienserinnenkloster Anrode übergegangen war 15 , scheint er weiterhin als Pfarrer amtiert zu haben. An seinem Lebensabend verfügte Konrad Lokern jedenfalls über ein enormes Vermögen. Als seine Testamentsvollstrecker fungierten der Dekan, der Kustos sowie der Vikar des Heiligenstädter St.-Martins-Stifts. Jene übergaben nach Vollzug ihrer Aufgaben dem Propst des Stiftes St. Viktor bei Mainz die Ab‐ rechnung über die nach dessen Tode in einem Inventar verzeichneten Güter des Geistlichen. Lokerns Verwandte hatten zu diesem Zeitpunkt bereits auf Ansprüche auf dessen Nachlass verzichtet und sich lediglich ausbedungen, Briefe und Schriftstücke, die die Familie beträfen, zu erhalten 16 . Es spricht einiges dafür, dass der vor dem 18. August 1363 verstorbene Lokern einen seiner Freunde mit der Besorgung einer angemessenen Memoria für ihn betraut hatte. Jedenfalls stiftete jener Johannes Ortonis, der 1358 gemeinsam mit Lokern zum erzbischöflichen Generalkommissar ernannt worden war, 1372 mit von einem vertrauten Freund geerbtem Geld in Erfurt den Bau der Kartause Montis Sancti Salvatoris 17 . Dieser Name ist in diesem Kontext sicher kein Zufall, denn auch die Kirche auf dem Hülfensberg trägt ein Salvatorpatrozinium. Ein Zeugnis zur Gründung der Erfurter Kartause „Der Ursprung der Erfurtischen Kartause ist nach dem übereinstimmenden Bericht der Chroniken auf dem Hülfensberg […] zu suchen. In der dortigen uralten Wallfahrtskapelle war ein Priester angestellt, der sich in langjährigem Dienst dank der Opfergaben der zahlreichen Pilger ein ansehnliches Vermögen 242 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="243"?> 18 Georg O E R G E L , Die Karthause zu Erfurt, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 27 (1906), S. 1-49, das Zitat hier S. 7. 19 Ebd.; vgl. dazu auch die übereinstimmende Darstellung in: Die Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen. Die Stadt Erfurt. Band II, 2, bearbeitet von Ernst H A E T G E / Hermann G O E R N , Burg 1932, S. 331, mit Bezug auf die 1610 verfasste Klosterchronik des Priors Johannes Arnoldi. 20 Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Wernigerode, A 37b I, II XVIII Nr. 2 („Kartäu‐ serkloster zu Erfurt“), Bl. 5 r-v . Wir danken Tim Erthel, Erfurt, für den Hinweis auf die Handschrift. 21 Ebd., Bl. 5 v . 22 Vgl. Die Kunstdenkmäler (wie Anm. 19), S. 323 mit einer Datierung auf 1554. 23 Landesarchiv Sachsen-Anhalt (wie Anm. 20), Bl. 5 r . gesammelt hatte.“ - so schrieb der Erfurter Pfarrer und Stadthistoriker G E O R G O E R G E L , der 1906 einen bis heute nicht überholten Aufsatz zur Geschichte des Erfurter Kartäuserklosters verfasste 18 . Aus dem Vermögen dieses Priesters, der die Kapelle auf dem Hülfensberg betreute, sei die Erfurter Kartause gestiftet worden; den „Namen dieses frommen Geistlichen wissen wir nicht, - die Klosterchronik nennt ihn nicht, ebensowenig das Totenbuch; erst sehr späte, aus trüber Quelle geschöpfte Nachrichten bezeichnen ihn mit dem Namen Johann von Hagen“ 19 . Woher diese Nachrichten ursprünglich stammen, ist nicht sicher zu ermitteln. Der älteste Überlieferungsträger ist eine Inschrift im Kreuzgang der Erfurter Kartause, der wie die übrigen Klostergebäude bis auf die Kirche im 19. Jahrhun‐ dert zugrunde ging. Ihren Inhalt gibt - allerdings wohl nur bruchstückhaft - eine Handschrift aus dem Kartäuserkloster wieder, die nach dem Schriftbild noch aus dem 16. Jahrhundert zu stammen scheint 20 . Danach befand sich die Inschrift im Carthus im Creutzgang unter jener figuren […] da die stadt Erffurdt abgemaledt ist 21 . Bei diesem Bild handelt es sich um jene Temperamalerei auf Fichtenholz, die die Kartause vor einer Stadtansicht Erfurts darstellt - das aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammende Stück befindet sich heute im Stadtgeschichtlichen Museum Erfurt 22 . Der Inschriften-Text beginnt in der Handschrift unvermittelt mit dem Satz Darnach ward der Pferner krank undt machte sein Testament […], ohne dass klar würde, um wen es sich bei diesem Pfarrer handelt 23 . Den offenbar fehlenden Anfang der Inschrift überliefert J O HAN N E S M ÜL L E R in seiner 1671 gedruckten Kurtze[n] Historische[n] Beschreibung des Hülfensbergs, die im Übrigen den Text mit kleinen Abweichungen in der Schreibung so wiedergibt, wie er auch in der Handschrift steht. Der erste, in der Handschrift fehlende Abschnitt lautet danach: Hie sehet an wie diß Closter von erst uffkomme ist. In dem Jahr nach Christi Ge‐ burt M.CCC.LX. was ein grosse Wallfahrt zue Sente Gehülfenberg bey Eschwe in Hessen / 243 Wunder an der Werra <?page no="244"?> 24 Johannes M Ü L L E R , Mons adjutorii seu salvatoris Christi. Das ist: Kurtze Historische Beschreibung deß durch Wallfahrten weitberühmten im Eichßfeld gelegenen Hülffens‐ bergs, Duderstadt 1671 (Reprint Duderstadt 1996), S. 12. 25 Ebd., S. 12 f. 26 Vgl. Hartmut K Ü H N E , Bischöfe im Konflikt wegen der Einkünfte ‚neuer‘ Wallfahrten um 1500, in: Bischof Lorenz von Bibra (1495-1519) und seine Zeit. Herrschaft, Kirche und Kultur im Umbruch, hg. von Enno B Ü N Z / Wolfgang W E Iẞ (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 79), Würzburg 2020, S. 545-575, hier bes. S. 562-575. umb viel Wunderwercken willen / die da gescheen / und viel von den Wallern groß Opffer dahin quam / das thete man in 3. Theil / das eine Theil dem Bischoff / das ander dem Landherren / das dritte dem Pferner zu Sente Gehülffen / und also bauete man da ein schöne Kirch / und der Pferner wurde rich und wohlhabendich mit viel Geld und Guts. Darnach ward der Pferner kranck […] 24 . Auch wenn die Inschrift sicher nicht in die Anfänge der Erfurter Kartause zurückreicht, sondern wahrscheinlich erst im 16. Jahrhundert formuliert wurde, könnte sie durchaus einen historischen Kern besitzen, indem sie die Herkunft des für die Stiftung nötigen Geldes aus dem Nachlass jenes Hülfensbergpfarrers festhält, der in seinem Testament bestimmte, daß der wirdiger Herr Joannes Ortonis ein Probst zu Dorle solte sein Testamentarius seyn / und all sein Gu(e)t in die Ehr Gottes zu seiner Seligkeit wenden / wie er ihm vertrauet 25 . Dass es sich bei dem in der Erfurter Überlieferung namenlosen Geistlichen tatsächlich um den ersten Pfarrer auf dem Hülfensberg, Konrad Lokern, handelte, ist aufgrund der oben zusammengetragenen Befunde zumindest sehr wahrscheinlich. Die Verteilung der Opfergaben und ein früher Papstablass nach der Erfurter Inschrift Die Erfurter Inschrift hält ferner zwei Daten zur Frühgeschichte der Wallfahrt fest, die sich sonst nicht greifen lassen. Zum einen betrifft dies die Drittelung der eingehenden Opfer zwischen Erzbischof, Pfarrer und dem Landherren. Eine solche Drittelung der Wallfahrtseinkünfte ist nicht ungewöhnlich - zumindest seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, als Bischöfe an verschiedenen neu entste‐ henden Wallfahrtsstätten im Reichsgebiet eine Beteiligung an den Einkünften durchzusetzen versuchten 26 . Allerdings gab es bereits im 14. Jahrhundert ein‐ zelne Fälle, in denen ein ähnlicher Verteilungsschlüssel belegt ist, so bei der Wallfahrt nach Gottsbüren, für die schon unmittelbar nach Beginn des Zulaufs im Jahre 1331 festgelegt wurde, dass ein Drittel der einkommenden Spenden an den Mainzer Erzbischof fallen solle, ein weiteres Drittel an das Kloster 244 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="245"?> 27 Vgl. Wilhelm A. E C K H A R D T , Gottsbüren - ein hessisches Wilsnack? , in: Die Wilsnack‐ fahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und Mitteleuropas im Spätmittelalter, hg. von Felix E S C H E R / Hartmut K Ü H N E (Europäische Wallfahrtsstudien 2), Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 259-267, hier S. 259 f. Zu den Veränderungen des Verteilungsschlüssels im Jahre 1336 vgl. ebd., S. 260. 28 A U S F E L D , Regesten (wie Anm. 5), Nr. 128, S. 44. Vgl. dazu auch Nikolaus G O E R I C H , Geschichte des eichsfeldischen ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Anrode, Du‐ derstadt 1932, S. 164f. Lippoldsberg als Patronatsherren der Wallfahrtskirche und das letzte Drittel schließlich an die Kirchenfabrik als Baukasse 27 . Auch die in der Erfurter Inschrift vorausgesetzte Teilung der Opfergaben ist ähnlich gedacht, wobei unter dem Landherren wohl das Kloster Anrode als Grund- oder Patronatsherr zu verstehen ist. Auffällig ist, dass die Kirchenfabrik nicht eigens erwähnt wird und sich die Frage stellt, wer für die Bau- und Unterhaltungskosten jener Kapelle aufkam, die bis 1890 fast unverändert auf der Kuppe des Berges stand. Abb. 1: Die Wallfahrtskirche vor 1890 Ein urkundlicher Beleg für diese in der Inschrift behauptete Verteilung existiert allerdings nicht und es gibt sogar zwei Urkunden, die diese Praxis für die 1360er Jahre in Frage stellen: Erzbischof Gerlach von Mainz (reg. 1346-1371) gewährte dem Kloster Anrode am 3. Februar 1369, dass künftig bei der Öffnung des Opferstocks auf dem Hülfensberg nach der Pfingstoktav der Propst des Klosters für jede Schwester das Viertel einer Silbermark entnehmen darf 28 . Am 13. Juli 1374 erlaubte der Mainzer Landvogt Johann von Eberstein zusätzlich für jede Schwester noch ein weiteres Viertel einer Silbermark zu 245 Wunder an der Werra <?page no="246"?> 29 Ebd., Nr. 139, S. 46 f. 30 Vgl. Elisabeth R O T H , Das Gnadenbild auf dem Hülfensberg und die Bamberger „Gött‐ liche Hilfe“, in: D I E S ., Das Eichsfeld. Kulttradition und Beziehung zu Franken. Bamberg 2001, S. 29. 31 Nikolaus P A U L U S , Geschichte des Ablasses, Bd. 3: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt ² 2000, S. 130. 32 Das Repertorium Germanicum enthält jedenfalls für die Pontifikate von Urban VI. (1378-1389) bis zu Sixtus IV. (1471-1484) keine entsprechenden Einträge. 33 A U S F E L D , Regesten (wie Anm. 5), Nr. 126, S. 43. entnehmen 29 . Pfingsten war der Hauptwallfahrtstag, so dass die Schwestern des Klosters an dessen hohen Einnahmen beteiligt werden sollten. Da diese Einnahmen offenbar aus dem erzbischöflichen Anteil stammten, stellt sich die Frage, ob und wie das Kloster damals tatsächlich an den Einkünften beteiligt war. Vorerst muss also offen bleiben, ob die Inschrift die tatsächlichen Rechtsverhältnisse im 14. Jahrhundert und nicht möglicherweise eine erst im Laufe des 15. Jahrhunderts allgemein übliche Praxis bei der Verteilung der Opfergaben widerspiegelt. Das zweite von der Inschrift festgehaltene Datum ist das Jahr 1360, in dem die Wallfahrt entstand oder ihren ersten Aufschwung nahm. Über die Gründe hierfür lässt sich nur spekulieren. Vielleicht spielte hierbei eine möglicherweise von Papst Innozenz VI . (1352-1362) für die Besucher des Hülfensbergs erteilte Indulgenz eine wichtige Rolle - diese Urkunde hat sich aber nicht erhalten und ihre mögliche Existenz lässt sich nur indirekt erschließen. Diese Vermutung beruht auf einem angeblich 1362 erteilten päpstlichen Ablass für die Kirche zum Heiligen Grab in Bamberg, der für jene Pilger, die wegen ihres Alters oder ihrer schwachen Konstitution den Wallfahrtsort im Eichsfeld nicht besuchen könnten gleichwie auf Sanct Gehilfenberg gelten solle - allerdings ist dieser Ablass auch nur durch eine spätere Überlieferung bezeugt 30 . Sollte die Bamberger Ablasstradition auf einer sicheren Grundlage beruhen, so dürfte Innozenz VI . - der nach dem Urteil von N IK O LAU S P A U L U S „zahlreiche Ablässe verliehen“ hat 31 - zuvor auch dem Hülfensberg eine solche Gnade erteilt haben. Allerdings sind spätere päpstliche Ablässe für den Hülfensberg nicht zu belegen 32 . Bei den in den Jahrzehnten nach der Entstehung der Wallfahrt erteilten Indulgenzen handelt es sich um recht bescheidene Strafnachlässe von jeweils 40 Tagen, die von einzelnen Mainzer Weihbischöfen in partibus Thuringiae mit Sitz in Erfurt für den Besuch des Hülfensberges erteilt wurden: So gab etwa der Franziskaner Albert von Beichlingen als Mainzer Weihbischof am 27. September 1367 40 Tage Ablass für den Besuch des Hülfensberges an verschiedenen Festtagen sowie für weitere fromme Werke 33 und der Weihbischof Heinrich erließ am 30. Mai 1397 all jenen, die auf dem neu errichteten Kirchhof an bestimmten Tagen ein Gebet 246 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="247"?> 34 Ebd., Nr. 158, S. 51. Weitere Ablässe spendeten am 13. Juli 1383 der Weihbischof Jo‐ hannes für das Kloster Anrode (ebd., Nr. 147, S. 48) und am 2. April 1419 der Weihbischof Heinrich Everwein all jenen, die an bestimmten Tagen Opfer auf dem Hülfensberg darbringen (ebd., Nr. 162, S. 52). 35 Ebd, Nr. 166, S. 53; die Bestätigung dieser Erlaubnis durch den Mainzer Kommissar in Erfurt vom 20. Dezember 1443 ebd., Nr. 167, S. 53. 36 Ebd., Nr. 184, S. 56 f. 37 Falko B O R N S C H E I N , „Dem schwarzen Kreuz zu Hildesheim nicht unähnlich“? Das Hülfenskreuz aus kunsthistorischer Sicht, in: Der Eichsfelder Gehülfe (wie Anm. 6), S. 47-63. 38 Johann L E T Z N E R , Historia Caroli Magni …, Hildesheim 1602, Bl. P3 v -O1 r . sprechen und bei der Errichtung des Kirchhofs Hilfe leisten, ebenfalls 40 Tage Ablass 34 . Ein für die Ablasspraxis auf dem Hülfensberg wichtiges Dokument stellt die dem Kloster Anrode durch den Kardinal Ludwig von Arles, Legat des Konzils zu Basel, am 30. November 1443 erteilte Erlaubnis dar, zu Pfingsten, am Johannestag (24. Juni) und zu Michaeli (29. September) bis zu drei Beichtväter auf den Hülfensberg zu senden, um dort die Beichte zu hören 35 . Es scheint sich bei diesen drei Terminen um die Hauptwallfahrtstage gehandelt zu haben, an denen wohl attraktive Ablässe verkündet wurden, für deren Erlangung die Beichte Voraussetzung war. Auch eine kuriale Sammelindulgenz vom 17. Mai 1483, mit der neun Kardinäle für den Besuch des Hülfensberges an Pfingsten, dem Johannestag, Mariae Himmelfahrt (15. August) und Michaelis je 100 Tage Ablass gewährten 36 , bestätigt die Bedeutung dieser Festtage für die Wallfahrt. Der Gehülfe auf dem Hülfensberg Ziel der Wallfahrt war und ist bis heute ein hölzerner romanischer Kruzifixus: der Gehülfe (Abb. 2). Christus wird hier frontal als Sieger über den Tod, als rex triumphans im Viernageltypus mit einem leicht nach links geneigtem Haupt dargestellt. Insgesamt ist die Skulptur von Strenge und Symmetrie gekennzeichnet. Arme und Beine der Figur wurden nach einem Brand erst um 1853 / 54 wieder ergänzt. Der restliche Korpus entstand hingegen bereits zwischen der Mitte des 11. und dem Ende des 12. Jahrhunderts und ist eines der bedeutendsten Kunstwerke im Bistum Erfurt 37 . Über die ursprüngliche Herkunft des Kreuzes sind keine gesicherten Nach‐ richten bekannt. Der niedersächsische Pfarrer und Chronist Johannes Letzner berichtet in seiner Historia Caroli Magni aus dem Jahr 1602 ausführlich, wie das Kreuz nach der Schlacht Karls des Großen gegen die Sachsen auf den Berg ge‐ kommen sei 38 . Er folgt damit einer bereits seit dem späten 15. Jahrhundert be‐ 247 Wunder an der Werra <?page no="248"?> 39 Konrad B O T H E , Cronecken der Sassen, Mainz 1492 (GW 04 963), Bl. 19 r . 40 Eduard B O D E M A N N , Die geistlichen Bruderschaften, insbesondere die Kalands- und Kagelbrüder der Stadt Lüneburg im Mittelalter, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 1882, S. 64-128, hier S. 77-79. 41 Vgl. Hartmut K Ü H N E , Wallfahrtschronik eines lutherischen Pfarrers, in: Pilgerspuren. Orte - Wege - Zeichen. Begleitband zur Doppelausstellung ‚Wege in den Himmel‘ im Museum Schwedenspeicher in Stade und ‚Von Lüneburg an das Ende der Welt‘ im Museum Lüneburg, bearb. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, S. 88. Abb. 2: Das Hülfenskreuz kannten Erzählung, die sich ähnlich auch in der Sachsenchronik des Konrad Bothe findet 39 und die auch in einem predigtartigen Prolog zu den Statuten der Lüneburger St.-Hulpes-Gilde von 1518 geboten wird 40 . Lediglich die Verbindung des Hülfensbergers mit dem Missionar Bonifatius ist eine jüngere Erweiterung, die sich erstmals bei Letzner findet 41 . Die Herkunft des Kreuzes aus karolingischer Zeit ist sowohl aus archäolo‐ gischer, kunsthistorischer und historischer Sicht absolut unhaltbar. Dennoch lieferte diese Erzählung die Grundlage für alle bis heute verbreiteten diesbezüg‐ lichen Legenden. Nachdem sowohl bei naturwissenschaftlichen als auch kunsthistorischen Untersuchungen des Hülfenskreuzes in den Jahren 2007 und 2008 eindeutig festgestellt wurde, dass zwischen dem Entstehungsdatum des Kruzifixes und der Lebenszeit Karls des Großen eine mehrhundertjährige Lücke klafft, steht fest, 248 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="249"?> 42 Manuela B E E R , Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler, Regensburg 2005, S. 333. 43 Vgl. B O R N S C H E I N , Dem schwarzen Kreuz (wie Anm. 37), S. 52-55. dass weder Karl der Große noch einer seiner Untergebenen das Hülfenskreuz je in den Händen gehabt haben konnte. Unabhängig davon, wer das Hülfenskreuz vermutlich im 14. Jahrhundert auf den Berg gebracht hat und warum dies geschehen ist, bleibt die Frage offen, für welches Gotteshaus das wertvolle Kreuz ursprünglich geschaffen wurde. Denn fest steht, dass eine Kapelle auf einem abgelegenen Berg kaum der Ort gewesen sein dürfte, für welchen eine solche qualitätvolle und dementsprechend teure Skulptur ursprünglich gefertigt worden ist. Aufgrund von Vergleichen mit ähnlichen Großkruzifixen jener Zeit dürfte hierfür nur eine bedeutende Stiftskirche in Frage kommen. Als erste hat 2005 die Kunsthistorikerin M AN U E LA B E E R auf die mögliche Herkunft des „Gehülfen“ aus der Heiligenstädter Stifts‐ kirche hingewiesen 42 . Entspräche diese Vermutung den Tatsachen, wäre das Triumphkreuz vom Hülfensberg heute der letzte erhaltene Rest der Einrichtung der Stiftskirche aus salisch-staufischer Zeit. Fest steht jedoch, dass sich das Hülfenskreuz im Jahr 1360 bereits auf dem Berg befunden haben muss, denn es war ja das wundertätige Gnadenbild, zu dem sich die Wallfahrer auf den Weg gemacht hatten. Wahrscheinlich erfuhr das Kultbild mit dem Beginn der Wallfahrt zum Hülfensberg auch eine Umgestal‐ tung durch seine Bekleidung mit einer Tunika und seine Bekrönung, wodurch das Aussehen dem berühmten Großkreuz des Volto Santo im italienischen Lucca angepasst wurde 43 . Auch wenn noch immer ungeklärt ist, wie es dort hingelangte, könnte viel‐ leicht auch in diesem Zusammenhang der Heiligenstädter Kanoniker Konrad Lokern aufgrund seiner Doppelfunktion als Kanoniker in Heiligenstadt und Pfarrer auf dem Hülfensberg eine Rolle gespielt haben. Wallfahrtszeugnisse Auf jeden Fall erfreute sich der Gehülfe ab der Mitte des 14. Jahrhunderts größerer Beliebtheit unter den Wallfahrern. Einen frühen Nachweis hierfür liefert ein Bericht über den Überfall auf einige Pilger, die sich auf dem Weg zum Hülfensberg (zu sente gehulffin) befanden. Sie waren vor dem Johannestag (24. Juni) 1364 - also vor einem der Hauptwallfahrtstage - von den Rittern von Hanstein auf der erzbischöflichen Straße bei Mengelrode im Eichsfeld 249 Wunder an der Werra <?page no="250"?> 44 V I G E N E R , Regesten (wie Anm. 11), Nr. 1803, S. 407. Ob allerdings auch jener Kurmainzer Untertan, dem Johann von Grone und seine Männer zwischen 1361 und 1367 unterhalb des Hülfensberges zwei Pferde raubten, auf Pilgerfahrt war, ist unbekannt, vgl. ebd., Nr. 2759, S. 621. 45 W A L D M A N N , Gott Stuffo (wie Anm. 15), S. 61 f. 46 Vgl. Zuletzt hierzu R O T H , Das Gnadenbild (wie Anm. 30), S. 48 f. 47 W A L D M A N N , Gott Stuffo (wie Anm. 15), S. 131-138. Um 1960 wurde im Kellergang des vorromanischen Baus der Nikolaikirche in Saalfeld eine noch ältere Darstellung des Triumphators gefunden. Obwohl stark verwittert, ist der Oberkörper des mit einer Tunika bekleideten Kruzifixus noch deutlich erkennbar, vgl. hierzu Ottogerd M Ü H L ‐ M A N N , Die Christkönigsdarstellungen zu Saalfeld, in: Fundamente. Dreißig Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte (Thüringer kirchliche Studien V), Berlin 1987, S. 254-256. 48 Arndt M Ü L L E R , Das Volto-Santo-Wandbild in der Allerheiligenkirche zu Erfurt, in: Stefan W I N G H A R T (Hg.), Aus der Arbeit des Thüringischen Landesamtes für Denkmal‐ pflege und Archäologie (Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmal‐ pflege und Archäologie, Neue Folge 31), Erfurt 2008, S. 75-80. gefangen genommen und auf die Burg Hanstein verbracht worden. Erst nach einer Lösegeldzahlung kamen sie wieder frei 44 . Ein früher Besucher des Hülfensberges soll schon vor 1356 aus Bamberg gekommen sein: Der Bürger Franz Münzmeister, der Gründer des Bamberger Dominikanerinnenklosters 45 . Von seinem Besuch bei dem mit Hilfe von Stoffen umgestalteten Eichsfelder Triumphkreuz auf dem Hülfensberg soll die Veran‐ lassung ausgegangen sein, in dem von ihm gestifteten Kloster eine Nachbildung zu schaffen 46 - allerdings bedarf diese erst in der Frühen Neuzeit bezeugte Erzählung einer historischen Überprüfung. Ob auch die Christusdarstellung an der Saalfelder Johanniskirche - früher in der St.-Gehülfen-Kapelle von Saalfeld - von 1516 in einer Beziehung zum Hülfensberg steht, ist bislang nicht geklärt 47 . Gleiches gilt für ein erst 2007 in der Erfurter Allerheiligenkirche entdecktes Wandgemälde aus dem späten 14. Jahrhundert mit der Darstellung des klassischen Volto Santo. Es befindet sich im Chor hinter dem Hochaltar auf knapp sechs Meter Höhe. Das im Mittelteil stark beschädigte Wandgemälde hat die Maße 2,5 × 2,5 Meter. Es zeigte einst die Darstellung des Gekreuzigten im langen Gewand mit dem davor knienden Spielmann sowie dem Stifterpaar. Vor allem aufgrund stilistischer Erwägungen wird es auf das Ende des 14. bzw. den Beginn des 15. Jahrhunderts datiert. Über die Hintergründe seiner Entstehung ist bislang nichts bekannt 48 . Waren es bis zum letzten Drittel des 14. Jahrhunderts wohl eher lokale Pilger und Wallfahrergruppen gewesen, die zum Kreuz zogen, wurde der Gehülfe im 15. Jahrhundert zu einem der meistverehrten Bildwerke Nord‐ deutschlands. Dass das Kreuz auf dem Hülfensberg für den niederdeutschen 250 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="251"?> 49 Vgl. Andreas R Ö P C K E , Zweimal St. Hulpe. Untersuchungen zu einer niederdeutschen Kultfigur des Spätmittelalters, in: Mecklenburgische Jahrbücher 128 (2013), S. 7 -34; sowie das Kapitel „St. Hulpe - Ein vergessener Heiligenkult in Norddeutschland“ in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 41), S. 391 - 414. 50 Vgl. auch Johann W O L F , Kritische Abhandlung über den Hülfensberg im Harzdepar‐ tement, im Königreich Westphalen, Göttingen 1808, S. 81. 51 Zur gesamten Problematik vgl. Ahasver V O N B R A N D T , Mittelalterliche Bürgertesta‐ mente. Neuerschlossene Quellen zur Geschichte der materiellen und geistigen Kultur, Heidelberg 1973; Heinrich D O R M E I E R , Die Wallfahrtsbegeisterung der Lübe‐ cker im späten Mittelalter und die Spuren der Pilgerreisen im heutigen Stadtbild, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 41), S. 28 - 48; bes. S. 29 - 34; Hartmut K Ü H N E , Testamente, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 41), S. 55 -57. 52 Vgl. Heinrich D O R M E I E R , Pilgerfahrten Lübecker Bürger im späten Mittelalter. For‐ schungsbilanz und Ausblick, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 92 (2012), S. 9 -64, hier S. 22 -24; D O R M E I E R , Die Wallfahrtsbegeisterung (wie Anm. 51), S. 34. 53 Jakob V O N M E L L E , De itineribus Lubecensium sacris, seu de religiosis et votivis eorum peregrinationibus, vulgo Wallfahrthen, quas olim devotionis ergo ad loca sacra susceperunt, commentatio, Lübeck 1711, S. 80 f. St.-Hulpe-Kult eine wichtige Rolle spielte, scheint auf der Hand zu liegen, eine Klärung dieser Beziehungen bedarf aber noch weiterer Forschungen 49 . Es wurde bereits eingangs erwähnt, dass sich 1429 mehrere über 80-jäh‐ rige Augenzeugen während einer Befragung daran erinnerten, wie der Auf‐ schwung der Wallfahrt deutlich zunahm, nachdem die norddeutschen Pilger den Berg für sich entdeckt hatten 50 . Diese Aussage kann durch eine Reihe norddeutscher Testamente bestätigt werden, da sich in ihnen Legate über stellvertretende Wallfahrten zum Hülfensberg finden. Bestimmungen über stellvertretende Wallfahrten waren bei der Errichtung testamentarischer Verfügungen eine weit verbreitete Praxis 51 . In der Regel gaben die Erblasser genau an, zu welchem Wallfahrtsort bzw. zu welchen Wallfahrtsorten sich die Stellvertreter zum Seelenheil des Verstorbenen auf den Weg zu machen hatten. Der Hülfensberg lässt sich mehrfach in spätmittelalterlichen Testa‐ menten nachweisen. In Lübeck sind insgesamt 17 Legate überliefert, die sich auf den Eichsfelder Gehülfen beziehen 52 . In der Literatur taucht bereits 1711 bei dem Lübecker Pfarrer und frühen ‚Wallfahrtsforscher‘ Jakob von Melle für das Jahr 1370 ein erstes Legat auf, mit dem ein Bruno Sprengher einen Pilger aus der Stadt an der Trave to S. Hülpe schickte 53 . Allerdings kann der von Melle angegebene Inhalt des Testaments nicht zutreffen, da durch den Testator angeblich auch zwei Pilger tor Wilsnacke entsandt wurden, die Wilsnacker Wallfahrt aber erst nach dem dortigen Kirchenbrand von 1383 entstand. Von Melle muss eine Verwechslung mit dem erst am 17. August 1413 errichteten Testament des Brun Sprenger unterlaufen sein, in dem 251 Wunder an der Werra <?page no="252"?> 54 Item scolen myne vormundere tohand na mynem dode utsenden 1 man to Roma, 1 to den Eensedelingen, 1 to sunte Eenwolde, 2 tor Wilsnacke unde 1 to sunte Hulpe unde scholen en wol lonen van mynem redesten gude, up dat my god barmhertich sy, zitiert nach der Edition von Gunnar M E Y E R , „Besitzende Bürger“ und „elende Sieche“: Lübecks Gesellschaft im Spiegel ihrer Testamente 1400 - 1449 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B, 48), Lübeck 2010 [mit Transkription der Lübecker Testamente 1400 - 1449 auf CD], Edition, Bd. 1, S. 154. 55 M E Y E R , „Besitzende Bürger“ (wie Anm. 54), Edition, Bd. 1, S. 75. 56 Nach dem Testament des Hinrik Meyer vom 27. September 1415 (ebd., Bd. 1, S. 232) erscheint Sankt Hulpe wieder im ersten Testament des Hinrik Arndes vom 1. September 1421 (ebd., Bd. 1, S. 360), dann bei Hermann van Roberstorpe am 13. Juli 1429 (ebd., Bd. 1, S. 518), im zweiten Testament des Hinrik Arndes von 1430 (ebd., Bd. 1, S. 529), und im dritten von 1433 (ebd., Bd. 2, S. 5), bei Johan Huchtynk am 22. August 1431 (ebd., Bd. 1, S. 558). V O N M E L L E , De itineribus (wie Anm. 53), S. 81, nennt noch die Testamente des Hermann van Nortem von 1434 und des Olrik Brant (1436). 57 Nämlich im Testament des Evert Meyer von 1452, des Hinrik Blankruste von 1463 und des Jürgen Schele von 1465; wir danken Heinrich Dormeier, Kiel, sehr herzlich für die Hinweise. 58 Vgl. W O L F , Kritische Abhandlung (wie Anm. 50), S. 47; Birgit N O O D T , Religion und Familie in der Hansestadt Lübeck anhand der Bürgertestamente des 14. Jahrhun‐ derts (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck B 33), Lübeck 2000, S. 242. 59 Vgl. B O D E M A N N , Die geistlichen Bruderschaften (wie Anm. 40), S. 76 - 79; Sabine W E H K I N G , Nachtrag zu: Die Inschriften der Stadt Lüneburg, Wiesbaden 2017 (Die Deutschen Inschriften 100), Nr. 142, online unter www.inschriften.net (Deutsche Inschriften Online). 60 Nachweise zu dieser und den folgenden Bruderschaften bietet R Ö P C K E , Zweimal St. Hulpe (wie Anm. 49), S. 16. sich die entsprechenden Bestimmungen finden 54 . Erst im Jahre 1406 findet sich daher das erste Lübecker Wallfahrtslegat für den Hülfensberg: Damals schickte Marquard Volkerstorp einen Pilger to sunte Hulpe up yensyt Gottin‐ ghen 55 . Häufiger wird der Hülfensberg aber erst seit dem Ende der 1420er Jahren in Lübecker Testamenten genannt und der Höhepunkt der Popularität lag um 1430 56 . Später begegnen nur noch in drei Testamenten entsprechende Legate, nämlich 1452, 1463 und zuletzt 1465 57 . Möglicherweise verbreitete sich über Lübeck als dem wichtigsten Zentrum der Hanse die Nachricht über die Hülfensbergwallfahrt auch in den anderen Hansestädten. Zur Präsens des Hülfensberges im norddeutschen Raum dürften auch die zahlreichen St.-Hülpen-Bruderschaften in Lübeck 58 , Lüneburg 59 , Lüdingworth (Land Ha‐ deln) 60 , Stade, Schwerin und Hildesheim beigetragen haben. Kürzlich wurde sogar vermutet, dass die Anstellung des Eichsfelder Ritters Werner von 252 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="253"?> 61 Elmar G O L L A N D , „Das Volk alle war dem Ritter geneigt …“ Werner von Hanstein - eine legendäre Rittergestalt, in: Burg Hanstein. Zur 700-jährigen Geschichte einer eichsfeldischen Grenzfeste, hg. von Hans-Dieter V O N H A N S T E I N , Duderstadt 2008, S. 94 - 98, hier S. 98. 62 Uta R E I N H A R D T , Lüneburger Testamente des Mittelalters 1323 bis 1500 (Veröffentli‐ chungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 27 / Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 22), Hannover 1996, Nr. 140, S. 186 f., hier 187. Fälschlich wurde in der Edition angenommen, es handele sich um sunte Hulpe in der Grafschaft Diepholz; vgl. hierzu Thomas T. M Ü L L E R , Wallfahrt und Bier. Untersuchungen zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor bei spätmittelalter‐ lichen Wallfahrten, in: Wallfahrten in der europäischen Kultur / Pilgrimage in European Culture, hg. von Daniel D O L E Z A L / Hartmut K Ü H N E (Europäische Wallfahrtsstudien 1), Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 317-331, hier S. 320. 63 Vgl. R E I N H A R D T , Lüneburger Testamente (wie Anm. 62), Nr. 239, S. 358-360, hier S. 359. 64 Vgl. Timo S T E Y E R , Für die Ehre Gottes und der eigenen Seele. Seelgerätstiftungen in Braunschweiger Bürgertestamenten des späten Mittelalters (Braunschweiger Werk‐ stücke Reihe A 121), Wendeburg 2021, S. 264. 65 Die Angabe zu diesem Testament bei Dietrich M A C K , Testamente der Stadt Braun‐ schweig, Bd. 4: Altstadt 1412-1420 (Beiträge zu Genealogien Braunschweiger Familien 4), Göttingen 1994, S. 150-153, es würden Wallfahrten nach Trier (zum heiligen Blut) und nach Nutteln zum Diepholz zu St. Hulpe ausgestattet, stellen eine irrige Interpretation dar. 66 Vgl. Hellmuth H E Y D E N , Stralsunder Wallfahrten, in: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch (1968 / 69), S. 29-37; Hartmut B E T T I N / Dietmar V O L K S D O R F , Pilgerfahrten in den Stral‐ sunder Bürgertestamenten als Spiegel bürgerlicher Religiosität, in: Der Jakobuskult in Ostmitteleuropa Austausch - Einflüsse - Wirkungen, hg. von Klaus H E R B E R S / Dieter R. B A U E R ( Jakobus-Studien 12), Tübingen 2003, S. 231-258. Hanstein († 1485) als Stadthauptmann von Lübeck durch die Vermittlung Lübecker Hülfensberg-Wallfahrer zustande gekommen sei 61 . Auch in weiteren Testamenten von Hansestädtern finden sich Wallfahrtsle‐ gate für den Hülfensberg: In Lüneburg bestimmte Ludolph von dem Borstel am 23. August 1421 an seiner statt enen man … to sunte Hulpe zu senden 62 und Metteke von Dassel wünschte am 23. Juli 1473, dass ihr Mann nach ihrem Tode eine Person u. a. to sunte Hulpen schicke, vor myne unde alle cristen zele 63 . In Braunschweig sandten drei Erblasser Stellvertreter zum Hülfensberg 64 ; als erster bestimmte Heyneke Jordens am 12. Juli 1418, sein Vetter Hennig solle gan eyne reyse to dem hilghen blode [Wilsnack] unde eyne reyse to sante hulpe 65 . In Stralsund, wo ein besonders umfangreicher Bestand an spätmittelalterlichen Testamenten erhalten blieb 66 , findet sich nur in der Verfügung des Taleke 253 Wunder an der Werra <?page no="254"?> 67 In godes namen amen. Ik Taleke Kumerowen borgersche to deme Sunde wolmechtich mynes lyves myner syne unde al myner reddelcheit van der gnade godes … zette ik unde make myn testament unde mynen wyllen … So gheve ik de helfte mynes huses … dat schalme vorkopen unde keren dat dar ik dat nu beschede … Item so gheve ik sostich mark tho tynde ene Reyse to Rome. Item so gheve ik to Lutteren to Aken to Sunte Enwolde to Sunte Hulpen to Trere unde to den Enzedelinghen in iener Reyse to tynde drüttich Mark … Stadtarchiv Stralsund: Testament 559, 1428, Oktober 27. Wir danken Dietmar Volksdorf, Stralsund, für die Abschrift und Hartmut Bettin für die Möglichkeit, in seine Datenaufnahme der Stralsunder Testamente Einsicht nehmen zu dürfen. 68 Vgl. Gabriela S I G N O R I unter Mitarbeit von Jan H R D I N A / Thomas T. M Ü L L E R / Marc M Ü N T Z , Das Wunderbuch Unserer Lieben Frau im thüringischen Elende (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe 12), Köln / Weimar / Wien 2006; Hartmut K Ü H N E , Wunder und Wallfahrt im spätmittelalterlichen Thüringen - eine Zwischenbilanz aus Anlass von zwei Neuerscheinungen, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 61 (2007), S. 267-286. 69 S I G N O R I , Das Wunderbuch (wie Anm. 68), Nr. 22, S. 49 und Nr. 48, S. 56. 70 Zur Problemlage in Mitteldeutschland zuletzt Siegfried B R Ä U E R , Wallfahrtsforschung in reformationsgeschichtliche Perspektive. Forschungsgeschichte und Desiderata, in: Wallfahrt und Reformation / Pout‘ a reformace. Zur Veränderung Religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der frühen Neuzeit, hg. von Jan H R D I N A / Hartmut K Ü H N E / Thomas T. M Ü L L E R (Europäische Wallfahrtsstudien 3), Frank‐ furt am Main u. a. 2007, S. 29-62, hier besonders S. 61. Kumerow vom 27. Oktober 1428 ein Legat, das einen Pilger u. a. auch to Sunte Hulpen sendet 67 . Die bisher bekannten Wallfahrtslegate verweisen auf eine Popularitätswelle der Hülfensberg-Wallfahrt in den 1420er Jahren - zumindest für den Bereich der norddeutschen Hansestädte. Möglicherweise hat dazu auch die Entstehung der Marienwallfahrt nach Elende - knapp 50 Kilometer nordöstlich vom Hül‐ fensberg und ca. 15 Kilometer westlich von Nordhausen gelegen - beigetragen, die um 1420 eine erste Blütezeit erlebte 68 . In dem Mirakelbuch dieser Wallfahrt werden auch ein Hülfensberg-Pilger aus Mühlhausen und ein weiterer aus Aschersleben erwähnt 69 . Sicherlich werden sich künftig noch weitere Legate für Wallfahrten zum Hülfensberg finden lassen. Möglicherweise noch vorhandene Mühlhäuser oder Nordhäuser Testamente sind noch gar nicht untersucht 70 . Interessant dürften vor allem die Forschungen in Mühlhausen werden, da für die Reichsstadt 1462 nicht nur die Existenz einer fraternitas sancti salvatoris, sondern auch ein 254 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="255"?> 71 Es sind zwei Mirakel aus den Jahren 1369 und 1370 überliefert, die mit dem 1524 zerstörten Bild im Zusammenhang standen. Siehe hierzu: Eduard H E Y D E N R E I C H , Beiträge zur Geschichte der Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen. Das wunderthätige Salva‐ torbild in der Kirche der Dominikaner in Mühlhausen, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 1 (1901), S. 53-55; Christian Wilhelm V O L L A N D , De sacris Mulhusinis, Wittenberg 1704, S. 4-5. Zur Zerstörung des Kreuzes während einer ikonoklastischen Aktion im Vorfeld des Bauernkrieges vgl. Thomas T. M Ü L L E R , Mörder ohne Opfer. Die Reichsstadt Mühlhausen und der Bauernkrieg in Thüringen. Studien zu Hintergründen, Verlauf und Rezeption der gescheiterten Revolution von 1525 (Schriftenreihe der Friedrich-Chris‐ tian-Lesser-Stiftung 40), Petersberg 2021, S. 259-261. 72 Helga-Maria Kühn, Katharina und Erich I. 1496-1524. Eine Fürsten-Ehe auf Augenhöhe (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 138), Hannover 2016, S. 81 (Zitat aus ihrem Brief vom 1. November 1519 an Herzog Erich I.). Wir danken Wolfgang Petke, Göttingen, ganz herzlich für diesen Hinweis! 73 Ernst G R O H N E , Bremische Boden- und Baggerfunde, in: Jahresschrift des Focke-Mu‐ seums Bremen 1 (1929), S. 44-102, hier S. 95 f.; Gerd D E T T M A N N , Heimatliche Altertümer geschichtlicher Zeit. Die Ernte der letzten Jahre an bremischen Boden- und Weser‐ funden, Bremen 1937, Taf. 1. 74 Joachim H E R R M A N N (Hg.), Archäologie in der Deutschen Demokratischen Republik. Denkmale und Funde 2, Fundorte und Funde, Berlin 1989, S. 77. 75 Matthias P U H L E (Hg.), Hanse-Städte-Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500, Ausstellung Kulturhistorisches Museum Magdeburg, 28. Mai bis 25. August 1996, Braunschweigisches Landesmuseum 17. September bis 1. Dezember 1996 (Magdeburger Museumsschriften 4), Magdeburg 1996, S. 217, Nr. 4. eigenes, erst im Umfeld des Bauernkrieges zerstörtes, ebenfalls wundertätiges Salvatorkreuz belegt ist 71 . Einer der spätesten Belege vor dem kurzzeitigen Einbruch der Wallfahrten im Zuge der Reformation ist der Besuch Katharinas von Sachsen im Herbst 1519. Die Gemahlin Herzog Erichs I. von Braunschweig-Wolfenbüttel war damals in hoffnung zu dem almechtig, er werde vns Sein gotlich hylff mitteylen, nach Nikolausberg und auf den Hülfensberg gepilgert 72 . Pilgerzeichen vom Hülfensberg Die große Popularität der Wallfahrt besonders im 15. Jahrhundert legte es nahe, dass auf dem Hülfensberg auch Pilgerzeichen vertrieben wurden. Die Identifikation des entsprechenden Zeichentypus gestaltete sich allerdings nicht einfach. Dabei wurden - wie wir heute wissen - bereits in den 1920er Jahren im Schlamm der Weser in Bremen 73 und in den 1930er Jahren bei den Grabungen in der Unterburg des Kyffhäuser entsprechende Kreuz-Zeichen entdeckt, konnten aber zunächst keinem Herkunftsort zugewiesen werden. Dasselbe galt auch für weitere Funde, die in der Wüstung Großemsen bei Teutleben (Landkreis Gotha) 74 , bei einer Stadtkerngrabung in Merseburg 75 sowie auf dem Schwaben‐ 255 Wunder an der Werra <?page no="256"?> 76 Spiegel des Alltags. Archäologische Funde des Mittelalters und der frühen Neuzeit aus Meiningen. Begleitband zur Ausstellung [Steinburgsmuseum Römhild], Meiningen 2013, S. 81. 77 Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Thomas T. M Ü L L E R (Hg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, Petersberg 2013, Kat. Nr. 4.1.5: Pilgerzeichen mit Gekreuzigtem, S. 167 f. 78 Die Identifikation der Zeichen wurde erstmals vertreten von Jörg A N S O R G E / Hartmut K Ü H N E , Die Pilgerzeichen aus dem Hafen von Stade - ein Fenster in die unbekannte Wallfahrtsgeschichte des Landes zwischen Weser und Elbe, in: Stader Jahrbuch 106 (2017), S. 11-43, hier S. 32-37. berg in Meiningen 76 gemacht wurden. Im Rahmen der Ausstellung zu „Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland“, die 2013 bis 2015 in den Mühlhäuser Museen, im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig und im Kulturhistorischen Museum Magdeburg gezeigt wurde, versuchten wir erstmals, diesen Pilgerzeichentypus systematisch darzustellen 77 . Der Typus lässt sich als ein Kreuz mit schmalen Balken beschreiben, deren Enden in kugelförmige Dreipässe bzw. Kreuzblumen auslaufen. Bei dem daran hängenden Korpus fällt die Brustpartie mit stark ausgebildeten Rippenbögen und stilisierten Brustwarzen auf. Das Lendentuch bzw. der Herrgottsrock läuft zu beiden Seiten in lange Zipfel aus. Beine und Haupt ragen aus der Figur heraus, sind dabei aber zweidimensional gehalten. Das Haupt ist stets mit einer Lilienkrone bekrönt gewesen, auch wenn diese bei einigen Exemplaren weggebrochen oder korrodiert ist. Über dem Kopf ist ein INRI -Schriftband in gotischen Minuskeln angebracht. Auf der Rückseite sind die Kreuzbalken und die Arme Christi durch einen Grat verstärkt. Die Dreidimensionalität der Gesamtkomposition verdankt sich der Herstellung in einer dreischaligen Gussform. Eine Zuweisung des Zeichens zum Hülfensberg wurde vor allem deshalb zunächst nicht erwogen, weil Pilgerzeichen-Güsse in dreischaligen Gussformen zwar aus Frankreich durchaus bekannt waren, solche aus dem deutschen Raum aber fehlten. Die Einsicht, dass es sich bei diesem Zeichen um jenes vom Hülfensberg handeln müsse, wuchs in dem Maße, wie neue Funde hinzutraten, denn der Typus konnte auch als Abguss auf Glocken entdeckt werden, so auf der undatierten Glocke von Föhrste (Stadt Alfeld), von Bessingen (Ortsteil von Coppenbrügge, Ldk. Hameln-Pyrmont, wohl 1426) und der 1433 gegossenen in Wallensen (Gemeinde Salzhemmendorf) 78 . Hinzu kamen neue archäologische 256 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="257"?> 79 Henryk P A N E R , Gdańsk na pielgrzymkowych szlakach średniowiecznej Europy, Gdańsk 2016, S. 327. 80 Wir danken Kay Suchowa vom Helms-Museum in Hamburg-Harburg, der uns die Ergebnisse seiner Grabung in der Schlossstraße in Hamburg-Harburg 2011-2014 zugänglich machte. 81 Vgl. die Übersicht über die Funde bei Jörg A N S O R G E / Hartmut K Ü H N E , Die Pilgerzeichen der Stader Hafengrabung, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 41), S. 430-485, hier S. 453-455. Funde in Danzig 79 , Hamburg-Harburg (3 Exemplare) 80 und besonders aus dem Hansehafen von Stade, wo zwölf Exemplare dieses Typus gefunden wurden 81 . Abb. 3: Pilgerzeichen vom Hülfensberg, jüngerer Typus, Fund aus dem Hansehafen Stade Diese weite Verbreitung legte es nahe, dass es sich um das Pilgerzeichen einer Kreuzwallfahrt zu einem Kultbild mit dem Viernageltypus handeln müsse, die überregional sowohl aus Mitteldeutschland wie auch aus Norddeutschland besucht wurde. Dies trifft auf die Wallfahrt zum Hülfensberg eindeutig zu. Für die Zuweisung zum Hülfensberg sprechen auch die allgemeinen ikonogra‐ phischen Merkmale, aber auch Details, die sich bei den Zeichen, aber auch bei dem auf dem Hülfensberg erhaltenen Korpus finden, etwa die Betonung 257 Wunder an der Werra <?page no="258"?> 82 Ein Vergleich mit dem heutigen Bildwerk ist freilich nur begrenzt möglich, da der Korpus durch einen Brand und mehrere Restaurierungen stark verändert wurde, vgl. Falko B O R N S C H E I N , „Nur müssen wir darauf bedacht sein, das Alte, Ursprüngliche zu treffen.“ Die Restaurierungsgeschichte des Hülfenskreuzes, in: Der Eichsfelder Gehülfe (wie Anm. 6), S. 65-85. 83 Erstmals publiziert von W. T H I E M E : Pilgerzeichen aus Hamburg-Moorburg, in: Fund und Deutung, hg. von Ralf B U S C H (Veröffentlichungen des Hamburger Museums für Archäologie und die Geschichte Harburgs 72), S. 122 f. 84 Vgl. Jörg A N S O R G E / Hartmut K Ü H N E , Älterer Typus der Zeichen vom Hülfensberg, in: K Ü H N E , Pilgerspuren (wie Anm. 41), S. 400 f. der Rippenbögen 82 . Die datierten Glockenabgüsse verweisen im Übrigen genau auf jenen Zeitraum, in dem auch die testamentarischen Wallfahrtslegate ihren Höhepunkt erreichten, also die 1420 / 1430er Jahre. Möglicherweise hat es aber schon zuvor einen älteren Pilgerzeichentypus vom Hülfensberg gegeben, der nicht den nackten, nur mit dem Lendentuch be‐ kleideten Christus darstellt, sondern auch dessen Bekleidung mit einer Tunika. Ein solches Zeichen wurde schon in den 1970er Jahren auf dem ehemaligen Friedhof an der Hamburg-Moorburger Kirche in einem Grab gefunden, das in das späte 14. Jahrhundert datiert werden kann 83 (Abb. 4). Die Figur des Gekreuzigten ist vor einem Kleeblattkreuz dargestellt, auf dessen Balkenenden jeweils drei Kugeln erscheinen, die sich auch auf dem Querbalken als Dekor wiederholen. Am oberen Kreuzbalken erscheint ein schräg stehender Kreuzes‐ titulus mit den - wohl verschriebenen - Initialen „ IPIR “. Der Gekreuzigte ist mit einer Ärmeltunika gekleidet, die unterhalb des Schrittes geschlitzt ist und auf der an den Ärmeln und am Oberkörper mehrere Streifen - zum Teil mit Straminmusterung - angedeutet sind. Über das ganze Zeichen läuft eine senkrechte Gussnaht, die auf die Herstellung in einer dreischaligen Gussform verweist. Dadurch steht das gekrönte Haupt des Gekreuzigten ähnlich wie bei den bereits vorgestellten jüngeren Zeichen vom Hülfensberg rechtwinklig nach vorne ab. Die Arme sind, einen Halbkreis bildend, nach oben gestreckt. Der seltene dreischalige Guss mit dem Ergebnis des gerade nach vorn gereckten Hauptes lässt an eine Variante der Hülfensberg-Zeichen denken. Abgüsse von Zeichen, die dem Moorburger Fund ähnlich sind, finden sich auf einer Glocke im hessischen Lich aus dem Jahre 1400 und auf einer undatierten Glocke des frühen 15. Jahrhunderts in Heyersum (Gemeinde Nordstemmen, Landkreis Hildesheim) 84 . Es ist daher wahrscheinlich, dass die seit kurz vor oder um 1400 auf dem Hülfensberg hergestellten Pilgerzeichen um 1420 durch einen neuen Typus ersetzt wurden, der nicht mehr das bekleidete, sondern das unbekleidete Kultbild zeigte. Zeitlich fällt dieser Wechsel mit der ersten Popularitätswelle der Wallfahrt in Norddeutschland zusammen. 258 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="259"?> 85 W O L F , Kritische Abhandlung (wie Anm. 50), S. 41-43. Abb. 4: Pilgerzeichen vom Hülfensberg, älterer Typus, Fund aus Hamburg-Moorburg Wallfahrten auf der Weser und Werra zwischen Bremen und dem Hülfensberg Sowohl die Pilgerzeichen als auch die testamentarischen Wallfahrtslegate weisen auf die große Resonanz hin, die der Kult auf dem Hülfensberg in Norddeutschland, besonders im Raum zwischen Weser und Trave, fand. Die frühen Funde der Hülfensberg-Pilgerzeichen im Schlamm der Weser sind sicher kein Zufall, denn hier findet sich schon im Jahre 1369 eine Nachricht, dass im dortigen St.-Jürgen-Hospital ein Sankt-Hulpe-Bild aufgestellt werden sollte, was schon J O HAN N W O L F 1808 zu der Vermutung veranlasste, dass es sich um eine (heute verlorene) „Nachbildung“ des Hülfenskreuzes handelte, das zum Vorbild für weitere Kruzifixe in anderen Städten wurde 85 . A N D R E A S 259 Wunder an der Werra <?page no="260"?> 86 R Ö P C K E , Zweimal St. Hulpe (wie Anm. 49), S. 24-26. 87 Paul W E G N E R , Die mittelalterliche Flußschiffahrt im Wesergebiet, in: Hansische Ge‐ schichtsblätter 40 (1913), S. 93-162, hier S. 108-112. 88 Hugo B R U N N E R , Beiträge zur Geschichte der Schiffahrt in Hessen, besonders auf der Fulda, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 26 (1891), S. 202-243, hier S. 208 f. 89 Vgl. Christian Gottlieb A L T E N B U R G , Topografisch-historische Beschreibung der Stadt Mühlhausen in Thüringen, Mühlhausen 1824, S. 367, 372-374. Zur Rolle Wanfrieds in der frühen Neuzeit vgl. Antje S C H L O M S , Wanfried - Der Vorhafen Mühlhausens? in: Mühlhäuser Beiträge 40 (2017), S. 199-203; Karl K O L L M A N N , Zum Güterumschlag am Wanfrieder Hafen im Jahr 1739, in: Mühlhäuser Beiträge 41 (2018), S. 121-132. 90 Valentin L O E W E N B E R G , Die Beziehungen der Reichsstadt Mühlhausen zur Hanse, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 8 (1907 / 1908), S. 70-84; Wilhelm A U E N E R , Mühlhausen und die Hanse, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 33 / 35 (1936), S. 1-12. 91 Gerrit D E U T S C H L Ä N D E R , Im Bunde mit der Hanse? Bündnisinteressen thüringischer Städte im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 66 (2012), S. 95-110. R ÖP C K E hat an dem Zusammenhang zwischen dem Hülfensberg und dem Bremer Bild deutliche Zweifel vorgebracht und auf einen Märtyrer St. Hulpe verwiesen, der eine ganz andere Legende besitze und deshalb auch anders dargestellt worden sei 86 . Dennoch muss die Anziehungskraft des Eichsfelder Wallfahrtsortes insbesondere im Bremer Raum stark gewesen sein. Dabei war dessen günstige Lage an einer wichtigen Nord-Süd-Verbindung ohne Zweifel von besonderer Bedeutung. Der Hülfensberg befindet sich oberhalb der Werra in Sichtweite des letzten schiffbaren Werrahafens in Wanfried. Schon im Mittelalter landeten die Händler der Region ihre auswärtigen Waren an den Werrahäfen an und verschifften im Gegenzug ihre Exportgüter zu den großen Häfen an der Küste 87 . H U G O B R U N N E R geht spätestens für das 15. Jahrhundert auch für das Werragebiet von einem deutlichen Aufschwung des Schiffsverkehrs aus. Insbesondere für den mitteldeutschen Waidhandel seien Allendorf und Witzenhausen wichtige Umschlagorte gewesen 88 . Belegt ist für die Frühe Neuzeit unter anderem ein lebhafter Handel Mühlhausens mit Lübeck (Tuchmacher) und Bremen (Getreide zum Weiterversand nach England) 89 . Aber auch darüber hinaus spielte dieser Wasserweg eine wichtige Rolle im Fernverkehrsnetz des Reiches. Von Wanfried aus führte eine gut ausgebaute Fernverkehrsstraße in die zumindest zeitweilig mit der Hanse assoziierte Reichsstadt Mühlhausen 90 und von dort weiter nach Erfurt und Mitteldeutschland 91 . So dürften sich neben den mitteldeutschen und norddeutschen Händlern zumindest auch einige der Pilger aus den Küsten‐ städten auf dem Weg über die Weser und die Werra bewegt haben. Als relevanter Hinweis hierauf können die Fundumstände der in den norddeutschen Städten 260 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="261"?> 92 Thomas T. M Ü L L E R / Gerhard M Ü L L E R : „Perysferdis der Grenitz gegen den Landgrafen zu Hessen“. Kloster-, Stadt- und Dorfansichten des südwestlichen Eichsfeldes und der angrenzenden Werraregion auf einer Karte aus dem Jahre 1582, in: Eichsfeld-Jahrbuch 6 (1998), S. 51-72. Die Karte befindet sich heute im Landesarchiv Thüringen und trägt die Signatur: LATh HStA Weimar HK 236. entdeckten Pilgerzeichen vom Hülfensberg gewertet werden: Das Zeichen aus Bremen stammte sogar direkt aus dem ehemaligen Bett der Weser. Die älteste gesicherte Darstellung des Berges ist auf einer heute im Thüringischen Hauptstaatsarchiv in Weimar befindlichen Karte der thürin‐ gisch-hessischen Grenzregion von 1582 überliefert 92 (Abb. 5). Diese klassische Augenscheindarstellung vermittelt noch immer den spätmittelalterlich-früh‐ neuzeitlichen Zustand der gesamten Region. Die Fülle abgebildeter Details zeigt ein vielschichtiges Bild, an welchem nachvollziehbar wird, wie ein Pilger aus Norddeutschland vor rund 450 Jahren die letzten Kilometer seiner Reise erlebt haben muss: von der Fahrt mit dem Segelschiff zuerst die Weser und dann die Werra stromaufwärts, der Ankunft im Flusshafen in Wanfried bis hin zum Aufstieg auf den Berg. Abb. 5: Augenscheinkarte der thüringisch-hessischen Grenzregion von 1582 261 Wunder an der Werra <?page no="262"?> 93 Die Geschichte des Heiligenstädter Jesuitenkollegs, Teil 1 (1574-1685), bearb. von Bernhard O P F E R M A N N , Duderstadt 1992, S. 15. Eine solche nachreformatorische Wieder‐ belebung der Wallfahrt gelang auch in altgläubig gebliebenen Regionen nicht immer. Vgl. Thomas T. M Ü L L E R , Der Wirtschaftsfaktor Wallfahrt in der Reformationszeit. Zwei Eichsfelder Beispiele, in: Wallfahrt und Reformation (wie Anm. 70), S. 173-184. 94 M Ü L L E R , Mons adjutorii (wie Anm. 24). 95 W O L F , Kritische Abhandlung (wie Anm. 50), S. 23. Schon 1598 hatten die Jesuiten einen päpstlichen Ablass für den Hülfensberg erwirkt, der u. a. am Bonifatiustag erteilt werden sollte. Geschichte des Heiligenstädter Jesuitenkollegs (wie Anm. 93), S. 166. 96 [Maternus J U N G M A N N ,] Der Hülfensberg in Wort und Bild. Heiligenstadt [1905], S. 8. 97 Thomas T. M Ü L L E R , Der lange Weg auf den Hülfensberg. Zur Gründung des Franziska‐ nerklosters im Jahr 1860, in: Eichsfeld-Jahrbuch 18 (2010), S. 79-88. Mit der Reformation verebbte jedoch der Pilgerstrom, nicht nur jener aus dem Norden. Erst 1576, also zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Heiligenstadt, begannen die Jesuiten die Wallfahrt wiederzubeleben 93 . Schnell machten sie den Hülfensberg neben Heiligenstadt und Duderstadt zu einem der Zentren ihrer gegenreformatorischen Arbeit im kurmainzischen Eichsfeld. Der Hülfensberg wurde zum Symbol der wieder erstarkenden katholischen Kirche im Eichsfeld. In nahezu jedem Jahr berichteten die Jesuiten in ihrer Heiligenstädter Haus‐ chronik von den Wallfahrten und den im Zusammenhang mit dem Berg und dessen Gnadenbild geschehenen Gebetserhörungen. 1671 erschien zudem ein gedrucktes Mirakelbuch aus der Feder des Jesuiten Johannes Müller 94 . Eine besondere Rolle spielte der Hülfensberg in der jesuitischen Propaganda spätestens seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als angebliche Bonifati‐ usstätte. Nachweisbar seit 1666 wurde der Namenstag des Apostels der Deutschen mit Hilfe jesuitischer Prediger auf dem Hülfensberg gefeiert. 1669 erhielt die Wallfahrtskirche nicht nur einen päpstlichen Ablass für diesen Tag 95 , sondern auch eine Reliquie des Heiligen aus dem Schatz des Fürstabts von Fulda sowie eine Bonifatiusplastik 96 . Fortan bildete die aus der frühneuzeitlichen chronikalischen Überlieferung entnommene, jedoch - wie oben bereits gezeigt wurde - wissenschaftlich unhaltbare Information über die angebliche Errich‐ tung der ersten Kirche auf dem Hülfensberg durch den heiligen Bonifatius eine der maßgeblich von den Jesuiten verbreiteten Kernlegenden des Eichs‐ felder Wallfahrtsortes. Diese vermeintliche bonifatianische Kirchengründung implizierte den Versuch der Erhebung des Hülfensberges zu einem nationalge‐ schichtlich bedeutenden Ort, womit letztendlich neben der vorreformatorischen Wallfahrtstradition ein weiteres Feld der Erinnerungskultur geschaffen wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wird der Hülfensberg von Franziskanern betreut 97 und ist noch immer einer der wichtigsten Wallfahrtsorte in Thüringen. 262 Thomas T. Müller und Hartmut Kühne <?page no="263"?> III. Regionales <?page no="265"?> 1 Papst Johannes Paul II. ernannte Birgitta zusammen mit Benedikt von Nursia, den Brüdern Cyril und Methodius, Katherina von Siena und Edith Stein zu den Heiligen Europas. Cf. http: / / www.vatican.va/ content/ john-paul-ii/ en/ motu_proprio/ documents / hf_jp-ii_motu-proprio_01101999_co-patronesses-europe.html. (9. April 2021) 2 Dieser Beitrag ging hervor aus einem Vortrag auf der Tagung „Pilgerfahrten und Wallfahrtskirchen zwischen Weser und Elbe“, die im April 2019 als wissenschaftliche Vorbereitung für das Ausstellungsprojekt stattfand. Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland Von der Pilgerin zum Pilgerziel Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann Birgitta von Schweden (ca. 1303-1373) steht wie keine andere Heilige für das Pilger- und Wallfahrtswesen des späten Mittelalters. Ihre Erfolgsgeschichte als herausragende Heilige des ausgehenden Mittelalters ist beispiellos: Sie war Adlige, Ehefrau, Mutter, Politikerin, Ordensgründerin, Braut und Sprachrohr Christi. 1391, weniger als 20 Jahre nach ihrem Tod, wurde sie heiliggesprochen, 1396 zur Patronin Schwedens und 1999 zur Schutzheiligen Europas erklärt 1 . Im Kontext der Erforschung des spätmittelalterlichen Pilgerwesens standen bisher Birgittas eigene Wallfahrten im Vordergrund, die sie zu Lebzeiten in Skandinavien, Europa und bis ins Heilige Land unternahm. Aber auch Birgittas Nachleben steht im Zeichen ihrer Pilgerschaft: Bereits 1376 reisten die ersten Gläubigen zu ihren Gebeinen im schwedischen Vadstena und machten sie damit selbst zum Pilgerziel. Gerade Norddeutschland, dessen mittelalterliche Wallfahrtslandschaft erst jüngst durch das Ausstellungsprojekt „Pilgerspuren“ in den Museen Lüneburg und Stade neu aufgearbeitet wurde, erweist sich dabei als Raum bedeutender und außerordentlich früher Birgittarezeption 2 . <?page no="266"?> 3 Ein erster Überblick über die Attribute bei Hiltgart L. K E L L E R , Birgitta von Schweden, in: Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst, Stuttgart 8 1996, S. 88 f., und Vincent M A Y R , Birgitta von Schweden, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 5, Sp. 400-403 (online als Lexicon of Christian Iconography, Brill, 2020 https: / / doi.org / 10.1163 / 9 789 004 393 905_5_400). 4 Biographischer Abriss nach Bridget M O R R I S , St Birgitta of Sweden, Woodbridge 1999, S. 35 -63. 1. Birgitta von Schweden als Pilgerin in Bild und Ikonographie Elizabeth Andersen Innerhalb des Heiligenuniversums besetzt Birgitta von Schweden gleich meh‐ rere wichtige Stellen: durch ihre Herkunft als Landesheilige Schwedens, durch ihre Schriften als Kirchenlehrerin, durch ihre Reformbestrebungen als Ordens‐ gründerin, durch ihren Stand als vorbildliche Witwe, durch ihre ausgedehnte Reisetätigkeit als modellhafte Pilgerin. Ihre Ikonographie verbindet daher ver‐ schiedene Attribute, die sonst so nicht gemeinsam erscheinen: in Witwen-, manchmal auch Ordenstracht sitzt Birgitta am Pult mit ihren Offenbarungen als Buch vor sich aufgeschlagen oder reicht es weiter, wobei ihre Pilgerinsignien mit Hut und Stab ebenfalls prominent im Bild sein können 3 . Die Ikonographie ist die Summe einer außergewöhnlichen Biographie: Bir‐ gitta Birgersdotter entstammte einer der einflussreichsten Familien Schwe‐ dens aus der Upplandprovinz nördlich von Stockholm 4 . Ihre Mutter Ingeborg Bengstdotter war entfernt mit der königlichen Folkung-Dynastie verwandt. Birgitta heiratete mit dreizehn Jahren Ulf Gudmarsson, ebenfalls mit den Folkungern verwandt und Mitglied des Staatsrats in der Provinz Närke, mit dem sie acht Kinder hatte, vier Töchter und vier Söhne. Birgitta wurde zur magistra (Hofmeisterin) für Blanche von Namur, der Verlobten des Königs Magnus Eriksson, während ihr Mann Ulf königlicher Berater wurde. Diese Verbindungen und der Familienbesitz gaben Birgitta die Möglichkeit, ihre Vorstellungen eines religiösen Lebens in der Welt umzusetzen und mit der europäischen Führungsriege in Verbindung zu kommen, die sie in kirchlichen und politischen Fragen zu beeinflussen versuchte. Das Ehepaar führte ein vorbildhaftes religiöses Leben und unternahm gemeinsam eine Reihe von Pilgerfahrten. Aber erst nach dem Tod ihres Mannes um 1345 trat bei Birgitta die religiöse Berufung ganz in den Vordergrund. In den Kanonisationsakten wird festgehalten, wie Birgitta in einer Berufungsvision kurz nach Ulfs Tod aufgefordert wurde, Braut und Sprachrohr Christi (sponsa 266 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="267"?> 5 Acta et processus canonizacionis beate Birgitte (AP), hg. von Isak C O L L I J N (SFSS ser. 2, IV), Uppsala, 1946, S. 80 f. 6 Vgl. The Revelations of St Birgitta of Sweden 1: Liber Caelestis, Books I- III, übersetzt von Denis S E A R B Y , Einführung und Anmerkungen von Bridget M O R R I S , Oxford 2006, S. 11 - 15. et canale) zu werden 5 . Birgittas Witwenstand, der ihr auch wirtschaftlich einen größeren Handlungsspielraum gab, wird in den Darstellungen durch ihre bodenlange dunkle Tracht, weißen Wimpel und Schleier unterstrichen, wenn sie nicht im anachronistischen Vorgriff in der Tracht des von ihr gegründeten Birgittenordens dargestellt wird. In der Rolle der Pilgerin kommen viele Facetten der literarisch-hagio‐ graphischen Stilisierung Birgittas in ihren Offenbarungen zusammen; das Pilgern als praktische Wallfahrt wie als Inbegriff des christlichen ‚Wandelns auf der Welt‘ bringt die Visionärin, Prophetin, Laientheologin, Kirchenpo‐ litikerin, Ordensgründerin und Heilige in einem biographischen Narrativ zusammen. Pilgern wird zum konzeptuellen Rahmen ihrer Identitätskon‐ struktion, vor allem in den bildlichen Darstellungen in Frühdrucken aus dem deutschsprachigen Bereich. Am bedeutsamsten ist die Erstausgabe des autorisierten Textes der Revelationes Sanctae Birgittae, der 1492 bei Bartho‐ lomäus Ghotan in Lübeck als Auftrag des Birgittenmutterhauses in Vadstena gedruckt wurde. Der Text, den der Orden in den Druck gab, war das Ergebnis eines komplexen Editionsprozesses 6 . Die Revelationes wurden ausdrücklich mit dem Ziel zusammengestellt, die Heiligsprechung voranzutreiben. Die Kanonisation wurde von drei Beichtvätern Birgittas initiiert: Matthias Ovidi, Kanoniker in Linköping, Prior Petrus Olavi der Zisterzienserabtei Alvastra und sein Namensvetter Petrus Olavi von Skänninge. Birgittas vierter Beicht‐ vater, Alfonso Pecha, ehemals Bischof von Jaén, den Birgitta 1367 in Rom traf, wird in den Offenbarungen selbst ebenso wie in der offiziellen Lebens‐ beschreibung als der göttlich eingesetzte Herausgeber präsentiert, dazu bestimmt, Birgittas Visionen in Textform zu bringen. Diese Beichtväter hatten an der Gestaltung ihres Lebens als Pilgerfahrt teil: die beiden Petri begleiteten Birgitta nach Rom und schlossen sich auch ihrer Wallfahrt ins Heilige Land an, an der auch Alfonso teilnahm. Durch ihre Wegbegleitung wurden sie zu Zeugen ihrer Reisen und strichen entsprechend die Bedeutung der Pilgerschaft für Birgittas Leben in ihrer Berichterstattung heraus. 1.1 Pilgerschaft als Lebensform Schon die Kirchenväter Hieronymus und Augustinus betonten die Bedeutung der geistlichen Reise als Rückzug von weltlicher Beschäftigung, vor allem durch 267 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="268"?> 7 Claire S A H L I N , Birgitta of Sweden and the Voice of Prophecy, Woodbridge 2001, S. 112; Claire L. S A H L I N , Birgitta of Sweden, in Encyclopedia of Medieval Pilgrimage, hg. von Larissa J. T A Y L O R et al., brillonline 2010, http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2213-2139_emp_SIM _00267 (27. März 2021). 8 Eine niederdeutsche Birgitta-Legende aus der Mitte des XV. Jahrhunderts (Staats- und Universitäts-Bibliothek, Hamburg, Cod. Convent 10), hg. von Axel M A N T E (Stockholmer germanistische Forschungen 8), Stockholm, 1971, S. 7. 9 Niederdeutsche Legende (wie Anm. 8), S. 24. die Parallelisierung von Pilgerfahrten mit dem Klosterleben. Pilgern erlaubte Birgitta ein frommes, quasi klösterliches Leben mitten in der Welt zu führen. Sie griff immer wieder auf diese Möglichkeit zurück und pilgerte innerhalb von Schweden und Norwegen ebenso wie nach und durch Deutschland, Polen, Frankreich, Spanien, Italien, Sizilien, Zypern und ins Heilige Land. Diese zahlreichen ausgedehnten Pilgerfahrten prägten entscheidend ihre asketische Spiritualität und Vorstellungen davon, wie ein heiligmäßiges Leben zu führen sei 7 . Pilgern lag bei Birgitta in der Familie. Wie die niederdeutsche Fassung von Birgittas Leben festhält, ging die Tradition väterlicherseits fünf Generationen zurück. Über Birgittas Vater heißt es: Ok heft he gesocht de stede unde de bygraft der hilgen, also sunte Jacob in Galicien unde andere hilge stede, in swarme arbeyde unde yn groter terynge, up dat he na-volgede den voetstappen syner elderen. Wente syn vader was en besoker edder en pelegryme des hilgen graves unde des gelykes syn grote-vader unde ok syn elder-vader. 8 (Er suchte auch die Stätten und Gräber der Heiligen auf, wie Sankt Jakobus in Galizien und weitere heilige Stätten, in schwerer Mühsal und großer Entbeh‐ rung, um den Fußstapfen seiner Eltern zu folgen. Denn sein Vater besuchte bzw. pilgerte zum Heiligen Grab, ebenso wie sein Großvater und auch sein Urgroßvater.) Birgittas erste Wallfahrten führten zu örtlichen und regionalen Stätten, den Gräbern heiliger Frauen und Männer in Schweden. 1339 / 40 zog sie dann mit ihrem Ehemann weiter durch Skandinavien und besuchte den Schrein des Königs und Märtyrers St. Olaf, des Schutzheiligen Norwegens, in Nidaros (jetzt Trondheim), den wichtigsten christlichen Pilgerort Nordeuropas im späten Mittelalter. Katharina gab im Heiligsprechungsprozess zu Protokoll, dass ihre Mutter demütig zu Fuß dreißig Tage von Schweden aus nach Norwegen zog 9 . 1341 brach Birgitta wie einst ihr Vater nach Santiago de Compostela auf, wieder zusammen mit ihrem Mann, ihren Beichtvätern und einer größeren Reisegesellschaft. Bezeugt ist ein Besuch am Dreikönigsschrein in Köln, bei dem 268 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="269"?> 10 Zur Bedeutung Annas als Vorbild für Birgitta siehe Elizabeth A N D E R S E N , Heiligkeit auf Niederdeutsch: Birgitta und Katharina von Schweden in Lübecker Frühdrucken, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 136 (2013), S. 37-58, hier S. 48. Karlsschrein in Aachen und in Frankreich bei den Reliquien Maria Magdalenas in St-Maximin-la-Sainte-Baume und denen Marthas in Tarascon. Nach dem Tod ihres Mannes und als Reaktion auf ihre Berufungsvision, in der sie Christus aufforderte, nach Rom zu gehen, begab sich Birgitta 1349 auf den Weg dorthin. Mit ihr zog eine ganze ‚familia‘, die auch drei ihrer Kinder einschloss, Karl, Birger und Katharina, dazu ihre beiden Beichtväter Prior Petrus und Magister Petrus, zwei weitere schwedische Priester und zwei Eremitinnen aus Spanien. Birgitta verbrachte ihr weiteres Leben in Rom, wo sie eine Existenz der Kontemplation und Armen- und Krankenfürsorge führte. Ihr Haus wurde nach klösterlichen Prinzipien verwaltet und fungierte als Pilgerherberge für skandinavische Besucher. Birgittas geistliches Leben wurde durch fromme Fahrten zu heiligen Orten strukturiert, an denen sie Heilige, Märtyrer und Kirchenväter aufsuchte. Sie wanderte täglich die Pilgerkirchen Roms ab, darunter Santa Maria Rotunda, Santa Maria Maggiore, San Pietro in Vaticano und San Paolo fuori le Mura. Birgitta berief sich auf Visionen der Gottesmutter, in denen diese Birgitta ermutigte, die römischen Heiligtümer zu besuchen, um an dem Gnadenschatz Anteil zu gewinnen, der von den Heiligen durch ihr Martyrium und Gebete erwirkt worden war ( VI , 105). Die Anziehungskraft der Pilgerfahrten zu Heili‐ genschreinen beruht auch darauf, durch die Präsenz der Reliquien Transzendenz in der Immanenz zu erfahren. So wird beispielsweise festgehalten, wie Birgitta Reliquien der heiligen Anna, der Mutter Marias, vom Sakristan von St. Paul vor den Mauern ( VI , 104) erhält. Anna spricht direkt zu Birgitta und lehrt sie ein spezielles Gebet für verheiratete Frauen, mit dem sie Gott um Kinder bitten sollen 10 . Sie lässt Birgitta auch wissen, dass die Reliquien, die sie empfangen hat, ein Trost für all jene sein werden, die sie lieben, bis es Gott gefallen werde, sie bei der endgültigen Auferstehung zu höheren Ehren kommen zu lassen. Bei einer anderen Gelegenheit ( VI , 108) wird davon berichtet, wie Stephanus, Erzdiakon und erster Märtyrer, Birgitta erschien, als sie an seinem Grab in Rom betete. Stephanus belehrt sie über sein Leben, seine Tugenden und seine Passion. Sie erfährt von ihm, dass sie nach Jerusalem gehen werde. Birgitta reiste ebenfalls zu Schreinen außerhalb Roms, manchmal ausdrücklich dazu von Christus aufgefordert, z. B. nach Amalfi zu den Gebeinen des hl. Andreas zu reisen. Christus pries den Apostel und verhieß allen denen Gnade, die sein Grab besuchten ( VI , 107). Birgitta durchquerte dabei unermüdlich Italien, unter 269 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="270"?> 11 Vgl. V, 13. anderem auf dem Weg zum Schrein des Erzengels Michael auf dem Monte Gargano, den Reliquien des hl. Augustinus in Pavia, dem hl. Dominik in Bologna, dem hl. Franziskus in Assisi, dem hl. Nikolaus in Bari und dem hl. Ambrosius in Mailand. Bei einer Vision, die Birgitta in der Jerusalemer Grabeskirche empfing, kündigte Christus ihr Ablass und Gnade an, die alle Pilger erhalten, die sich der Stätte in heiliger Absicht mit Andacht nähern 11 . Das wird unterstrichen, als Birgitta zum Thomasschrein in Ortona reist und Christus ihr auf ihre Anfrage mitteilt: Ich antworte Dir: Die höchste Lust meines Herzens ist, allen denen, welche die Stätten meiner von den Päpsten heilig gesprochenen Diener und ihrer durch Wunder verherr‐ lichten Reliquien besuchen und ehren, ewige Belohnungen zu erteilen nach Maßgabe ihres guten Willens, ihres Glaubens und ihrer Beschwerden (Revelationes VII,4, übers. von Ludwig Clarus 1888, S. 222 f.). Im Zusammenhang der Offenbarungen wird eine Verbindung zwischen den Heiligen und Birgitta hergestellt, die bis zur Identifikation reicht, ein Hei‐ ligungsprozess, der durch die Pilgerfahrt angestoßen wird. Das nimmt die Anerkennung Birgittas als Heilige und die Einrichtung eines Schreins für sie in Schweden vorweg. Birgittas Leben als Pilgerfahrt fand seinen Höhepunkt in der Reise in das Heilige Land im Alter von 70 Jahren. Die schon lange geplante Wallfahrt begann am 25. November 1371 und dauerte sechzehn Monate. Mit ihr reisten ihre drei Kinder, Katharina, Karl, der auf der Hinreise starb, und Birger, der im Heiligen Land zum Ritter des Heiligen Grabes geschlagen wurde. Weitere Begleiter waren die drei Beichtväter Prior Petrus, Master Petrus und Alfonso, die beiden spanischen Eremitinnen Elvira und Praxedis und zwei schwedische Kapläne, Gudmarus Frederici und Magnus Petri; Letzterer wurde später der Generalkon‐ fessor in Vadstena. Der Aufenthalt an heiligen Stätten machte Birgitta immer besonders empfänglich für geistliche Erfahrungen; das verstärkte sich noch dramatisch im Heiligen Land und führte zu einer Reihe von Visionen, die Ereignisse aus dem Leben Jesu und Mariens ausgestalteten. Bei ihrem Aufenthalt in der Grabeskirche hatte sie eine detaillierte Vision der Kreuzigung ( VII , 15); in der Geburtskirche in Bethlehem erlebte sie eine Schau der Geburt Christi ( VII , 21); bei dem Besuch des Mariengrabs erhielt sie Einblick in Tod und Himmelfahrt der Gottesmutter ( VII , 26). 270 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="271"?> 12 Henrik C O R N E L L , The Iconography of the Nativity of Christ, Uppsala 1924, S. 1-45; Aron A N D E R S S O N , Birgitta och dat heliga landet, Stockholm, 1973, S. 107 113; Mereth L I N D G R E N , Bilden av Birgitta, Höganäs 1991, S. 105; Elizabeth A N D E R S E N , Das Kind sehen. Die Visualisierung der Geburt Christi in Mystik und Meditation, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters, hg. von Ricarda B A U S C H K E / Sebastian C O X O N / Martin H. J O N E S (XXI. Anglo-German Colloquium London 2009), Berlin 2011, S. 290-310. 13 Bibliotheka Narodowa, Warsaw: MS 3310; Pierpont Morgan Library, New York: MS M.498; Biblioteca centrale della Regione Siciliana, Palermo: MS IV.G2. Diese Erfahrung der Transzendenz in der Immanenz wird nirgendwo so an‐ schaulich wie bei der Geburtsvision, bei der sie zur Augenzeugin wird, die das historische Geschehen als Gegenwart erlebt. Sie beschreibt die Szene wie ein ‚tableau vivant‘ aus einer Beobachterposition, ohne sich interpretierend einzu‐ schalten. Da ihre Offenbarungen sonst weitgehend rein stimmlich vermittelt sind und weniger Anschauungsmaterial als Glaubensbotschaften enthalten, sticht diese detaillierte Schau noch stärker heraus. Schon im folgenden Kapitel ( VII , 22) wird Birgitta wieder von der Augenzeugin zur asynchronen Hörerin, wenn Maria ihr die Bedeutung des Geschauten erläutert. Das Faszinations‐ potenzial, auch gerade für die darstellenden Künste, liegt in der Detailfülle und Präzision der Geburtsschau. Der Einfluss dieser Vision ist kaum zu unterschätzen und schlägt sich in unzähligen Darstellungen nieder; Birgittas Bericht wird die autorisierte Grundlage aller Verbildlichungen, erkennbar an der knienden Haltung Mariens, deren goldenes Haar offen über die Schultern und das weiße Kleid fällt, dem Kind auf dem Boden liegend, Joseph außerhalb des Geschehens 12 . Nach Birgittas Tod, kurz nach ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Land nach Rom, brachte ihre Tochter Katharina den Leichnam ihrer Mutter zurück nach Schweden, in das Mutterhaus des Birgittenordens in Vadstena. Dort wirkten Birgittas Gebeine zahlreiche Wunder, so dass Vadstena selbst zum Wallfahrtsort wurde und damit auch den Heiligsprechungsprozess vorantrieb. Wunder blieben nicht auf Vadstena beschränkt, sondern geschahen vielerorts in Birgittenklöstern, vor allem in Marienwohlde bei Lübeck, wie weiter unten ausgeführt werden wird. 1.2 Die Entwicklung der Birgitta-Darstellungen Für die frühe Verbreitung der Offenbarungen war Neapel das wichtigste Zen‐ trum, wo sich bald ein Birgittenkult entwickelt hatte. Es haben sich drei illuminierte neapolitanische Handschriften erhalten, die zwischen 1377 und 1381, dem Zeitpunkt ihrer Heiligsprechung, entstanden 13 . Der Bildzyklus in diesen Handschriften umfasst drei ganzseitige Illustrationen und dreizehn 271 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="272"?> 14 Vgl. Carl N O R D E N F A L K , Saint Bridget of Sweden as Represented in Illuminated Manusc‐ ripts, in: De Artibus Opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, hg. von Millard M E I S S , New York 1961, S. 371-393 (www.mgh-bibliothek.de/ dokumente/ b/ b04 2377.pdf [2. März 2021]); Mereth L I N D G R E N , Bilden av Birgitta, Högenäs 1991; Hans A I L I / Jan S V A N S B E R G , Imagines Sanctae Birgittae. The Earliest Illuminated Manuscripts and Panel Paintings Related to the Revelations of St Birgitta of Sweden, 2 Bde., Stockholm 2003; Elizabeth A. A N D E R S E N , The Iconography of Birgitta of Sweden, in: Schriften und Bilder des Nordens. Niederdeutsche Medienkultur im späten Mittelalter, hg. von Monika U N Z E I T I G / Christine M A G I N / Falk E I S E R M A N N (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beiheft 28) Stuttgart 2019, S. 79-100; Maria H. O E N , The Iconography of Liber celestis revelacionum, in: A Companion to Birgitta of Sweden and Her Legacy in the Middle Ages, hg. von Maria H. O E N (Brill’s Companions to the Christian Tradition 89) Leiden / Boston, 2019, S. 186-222. 15 A I L I / S V A N B E R G (wie Anm. 14), I, S. 113 f. 16 Pierpont Morgan Library, New York: MS M. 498, fol. 4 v . 17 Pierpont Morgan Library, New York, MS M. 498, fol. 343 v . historisierte Initialen. Diese Bilder wirkten sich prägend auf die weiteren Darstellungsformen aus 14 . Dabei stehen meist nicht so sehr die biographischen Details im Vordergrund, weder die Visionen noch ihre Reisen, sondern eher der Entstehungs- und Verbreitungsprozess der Offenbarungsbücher. Bei der visuellen Umsetzung stehen drei Aspekte im Vordergrund: 15 Erstens bezeugen die Künstler die Authentizität der göttlichen Inspiration, die Birgitta erhält, durch Lichtstrahlen, die die Inspiration signalisieren. Auf dem Titelbild zum ersten Buch sitzt Birgitta am unteren Rand der Darstellung am Schreibtisch mit Schreibzeug, Tintenhorn und zwei Notizheften oder Wachsta‐ feldiptychen 16 . In der Rechten hält sie eine Feder, den Blick nach oben gewandt, bereit die empfangenen Anweisungen in das Heft auf ihren Knien einzutragen; ein weißer Doppelstrahl geht von den nebeneinander sitzenden Figuren von Christus und Maria in der Gloriole zu Birgitta am Lesepult und zeigt die unmittelbare Quelle ihrer Niederschrift. Noch häufiger wird zweitens der göttliche Ursprung der Offenbarungen dadurch ins Bild gesetzt, dass Christus selbst das Buch an Birgitta überreicht. So lehnt sich Christus auf dem Titelbild des siebten Buchs aus der Mandorla heraus, in der er sich mit Maria befindet, um ihr den Band mit den Offenbarungen zu überreichen 17 . Sie reicht ihn direkt an Alfonso weiter, der mit dem Prior Petrus Olavi vor ihr kniet. Hinter den beiden Geistlichen ist wieder Birgittas Schreibtisch sichtbar, mit Heft, Tintenhorn und Schreibzeug. Weiter unten im Bilde reicht wiederum Alfonso die Schrift an die Könige und Königinnen weiter, für die sie bestimmt ist. Die dritte Form, die vor allem für die szenisch ausgestalteten Initialen genutzt wird, zeigt die kniende Birgitta, die ihre Arme im Gebet ausstreckt, während 272 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="273"?> 18 Ulrich M O N T A G , Das Werk der heiligen Birgitta von Schweden in oberdeutscher Überlieferung. Texte und Untersuchungen (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 18), München 1968. 19 Isak C O L L I J N , Iconographia Birgittina Typographica. Birgitta och Katherina i Medeltida Bildtryck, Uppsala / Stockholm 1915 (https: / / archive.org/ details/ iconographiabir1v2coll [23. März 21]). Christus oder Maria oder beide vom Himmel auf sie herabschauen und ihr die Offenbarung, die von der Initiale eröffnet wird, in die Feder diktieren. Nur einmal findet sich ein Verweis im neapolitanischen Bildzyklus auf Birgitta als Pilgerin, und zwar in der ganzseitigen Titeldarstellung vor Buch I. Dort ist am unteren Rand in der Mitte ein Pilgerstab zu sehen, an dem ein Hut mit Pilger‐ zeichen hängt; darüber schwebt ein Engel mit segnend ausgebreiteten Armen. Aus diesem Randmotiv entwickelt sich dann aber eine starke Bildtradition, nicht zuletzt in den deutschen Holzschnitten des 15. Jahrhunderts. 1.3 Augsburger Birgitta-Holzschnitt, ca. 1482 Mit der Etablierung des Birgittenordens in den 1380ern, der Heiligsprechung Birgittas 1391 und der Verbreitung der Birgittaverehrung durch ganz Europa wuchs das Interesse an den Offenbarungen stark. Der lateinische Text war im gesamten europäischen Raum verbreitet, aber noch deutlicher wird die Wirkung des Textes in den zahlreichen Übersetzungen in die Volkssprachen. Bereits Ende des 14. Jahrhunderts wurden Auszüge ins Deutsche übersetzt, auch wenn die Mehrzahl der Übersetzungen im 15. Jahrhundert erfolgte. In seinem Überblick zu den deutschen Übersetzungen hielt U L R I C H M O NTA G fest, dass die Übersetzungstätigkeit in Mitteldeutschland beginnt, aber dann im oberdeutschen Raum verstärkt Fuß fasst, mit den Birgittenklöstern Gnadenberg (bei Nürnberg), Maihingen (bei Nördlingen) und Altomünster (zwischen Mün‐ chen und Augsburg) ebenso wie bei den Dominikanerinnen zu St. Katharina in Nürnberg 18 . Angesichts der weitverbreiteten Übernahmen aus Birgittas Offenbarungen im hochdeutschen Bereich erstaunt es nicht, dass die meisten Beispiele der Studie von I S AK C O L LI J N zu Birgitten-Holzschnitten aus dem Süden stammen: aus Ulm, Nürnberg und ganz besonders Augsburg 19 . Die Holzschnitte entstanden überwiegend zwischen 1480 und 1500, fast ein Jahrhundert nach den neapoli‐ tanischen Handschriften und Birgittas Heiligsprechung. Sie nehmen aber in bestimmten Einzeldarstellungen wie in Illustrationszyklen die früheren Motive auf und verwandeln sie in Andachtsbilder. So kommen jetzt bei den Darstel‐ lungen von Birgitta als Autorin am Schreibpult weitere Aspekte ihres Lebens in den Blick, vor allem ihre Pilgerreisen. Alle Holzschnitte zeigen Pilgerattribute 273 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="274"?> zusätzlich zu dem Fokus auf den Offenbarungen. Meist hängen Pilgertasche und der Pilgerhut, der manchmal mit der Jakobsmuschel oder anderen Abzeichen geschmückt ist, von dem aufrecht stehenden Wanderstab, beispielsweise in dem Holzschnitt-Triptychon von ca. 1482 in Augsburg, das Birgitta bei der Austeilung der Ordensregel zeigt (Abb. 1). Abb. 1: Birgitta bei der Austeilung der Ordensregel, Holzschnitt-Triptychon, um 1482 Im Zentrum der Komposition sitzt Birgitta vor dem Schreibpult, auf dem ein Buch liegt, aber statt darin zu schreiben, händigt sie weitere Bücher - ihre Offenbarungen oder die Ordensregel - an die Ordensleute aus, die im linken und rechten Flügel des Triptychons knien. Birgitta ist größer als alle anderen dargestellten Figuren und so, wie sie aus der zentralen Position frontal agiert, hat sie eine deutliche Lehr- und Verkündigungsfunktion, verstärkt durch den Engel, der ihr hinter ihrer Schulter beisteht wie er es sonst als Symbol des Evangelisten Matthäus tut. Über ihr ebenso wie über Gottvater, der den Gekreuzigten wie im Gnadenstuhl hält, und Maria, die das neugeborene Kind vorweist, schwebt die Taube des Heiligen Geists, von der ein Strahlenkranz ausgeht. Die beiden Christusfiguren neigen sich zu Birgitta hin und die Strahlen des Heiligen Geistes ziehen sie in die himmlische Szenerie mit ein. Zur Linken knien acht Birgitten‐ schwestern mit der charakteristischen Nonnenkrone (überkreuzte Bänder mit fünf roten Punkten für die Wunden Christi) in betender Haltung. Die vorderste 274 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="275"?> 20 In Süddeutschland überzeugte Florian Waldauf von Waldenstein Kaiser Maximilian (1459-1519), eine Ausgabe in Auftrag zu geben, zusammen mit einer vollständigen deutschen Übersetzung. Anton Koberger nutzte dafür die Lübecker Ausgabe und schnitt Nonne mit dem Heiligenschein stellt wahrscheinlich Birgittas Tochter Katharina dar, die erste Äbtissin in Vadstena. Über den Köpfen der Nonnen findet sich eine mischsprachige Anrufung Birgittas: o birgita sponsa ihesu christi Bitt gott fuͤr uns. Auf der rechten Seite kniet die gleiche Zahl an Männern, wie es der Verteilung der Geschlechter im Doppelkloster entsprach. Ihr Schriftband ruft Gott lateinisch um Erbarmen an: O pater de celis miserere nobis. Unter dem Mittelteil ist noch eine deutsche Anrufung Jesu zu sehen: O her ihesu christe ain sun des almachtigen gots erbarm dich vber vns. Die Verbindung beider Sprachen war typisch für die klosterinterne Kommunikation, wobei bei den Frauen ein höherer Anteil an Volkssprache üblich war. Links hinter ihrem Schreibpult steht als Erinnerung an Birgittas Leben als Pilgerin der Stab mit dem breitkrempigen Hut, den ein Volto santo als Pilger‐ zeichen schmückt, und mit der Tasche, die mit zwei Schließen versehen und mit dem langen Umhängeband am Stab verknotet ist. Birgitta trägt Witwentracht, auf die durch die Beischrift in der Umrahmung ihres Heiligenscheins verwiesen wird: Sancta Birgitta witib. Ein weiterer Aspekt ihrer Persönlichkeit wird durch die Krone und die Wappenschilde zu ihren Füßen signalisiert: dass sie aus königlichem Geschlecht stammte, aber ihr Leben als Adelige gegen eines in Demut und Dienen eintauschte. Die Schilde zeigen 1) einen steigenden Löwen, Birgittas eigenes Wappen durch Heirat mit Ulf Gudmarsson, 2) den römischen SPQR -Schild, 3) die Wittelsbacher Rauten, 4) das Oettinger Familienwappen. Die letzten beiden lokalisieren das Blatt nach Bayern, genauer in das Birgittenkloster Maihingen, das 1481 von den Grafen von Oettingen gegründet wurde, die so an Birgittas wohltätiges Wirken anknüpften. Während die neapolitanischen Dar‐ stellungen auf die Legitimierung und Verbreitung der Offenbarungen abzielten, wird Birgitta in diesem Holzschnitt sozial und historisch verortet und in eine deutsche Frömmigkeitskultur eingemeindet. 1.4 Holzschnitte in der Erstausgabe Als Verbindungsort zwischen Skandinavien und dem übrigen Europa wurde Lü‐ beck zum Hauptproduktionsort für die Verbreitung der Offenbarungen Birgittas im Druck. Ein Jahrzehnt nach dem Augsburger Holzschnitt erhielt der Lübecker Drucker Bartholomäus Ghotan den Auftrag vom Birgittenmutterhaus Vadstena, die Offenbarungen zu produzieren: 800 Exemplare auf Papier und sechzehn auf Pergament 20 . Die fünfzehn Holzschnitte dieser autorisierten Repräsentations‐ 275 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="276"?> die Illustrationen auf höherem technischem Niveau nach, vgl. A N D E R S E N (wie Anm. 14), S. 92 f. 21 Diarium Vadstenese. Latinsk text med översättning och kommentar, hg. von Claes G E J R O T (Handlingar 19) Stockholm 1996, 889 (S. 378). 22 Revelationes, fol. 12 v, 13 r , 13 v . Albert SCHRAMM, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, 20 Bde., Leipzig 1922-1937, Bd. 12, Tafel 5: 17 (http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit / schramm1929bd12/ 0027 [25. März 2021]). 23 SCHRAMM (wie Anm. 22), Bd. 12, Tafel 7: 20 (http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ schramm1929bd12/ 0029 [25. März 2021]). 24 S C H R A M M (wie Anm. 22), Bd. 12, Tafel 11: 28 (http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ s chramm/ 1929bd120033 [25. März 2021]). ausgabe im Großfolioformat (422 Blätter, zweispaltig mit 46 Zeilen, vier mehr als die Gutenbergbibel) 21 entwickeln die neapolitanische Bildtradition weiter. Die Hinweise auf die Pilgertradition und auf den Status Birgittas fehlen ganz, es geht wieder um die Frage der Textüberlieferung. Die ganzseitigen Holzschnitte lassen sich zu drei Gruppen ordnen: 1) Autorschaft, 2) Hörer-/ Leserschaft, 3) Verbreitung. In der ersten Gruppe wird Birgittas Orthodoxie durch ihre enge Zusammenarbeit mit ihren Beichtvätern und ihre göttliche Autorisierung hervorgehoben 22 (Abb. 2). Dazu werden die Beichtväter in der traditionellen Haltung der Kirchenväter dargestellt. In der zweiten Gruppe wird Birgitta als Medium der Kommunikation der göttlichen Offenbarung inszeniert. Sie entfaltet eine Schriftrolle, die sich über die ganze Bildbreite erstreckt und auf der die Worte Christi an die Menschheit festgehalten sind 23 . Der Archetyp von Birgitta als inspirierter Autorin am Schreibpult wird in der Erstausgabe in den historisierten Initialen fortgesetzt, die jedes Buch eröffnen. Er wird noch zugespitzt in der dritten Gruppe, in der Birgitta ganz zum Sprachrohr Christi und in begrenzterem Maße auch Marias wird 24 . Birgitta, ohne Pilger- und Herkunftsattribute, wird zur Personifikation ihres Buches. 276 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="277"?> Abb. 2: Birgitta, Revelationes, Holzschnitt von Bartholomäus Ghotan 1.5 Birgitta in niederdeutschen Frühdrucken Die früheste Adaptierung der Offenbarungen für den niederdeutschen Sprachraum erfolgte bereits um 1478 in der Lübecker Offizin von Lucas Brandis; diese hat sich aber nur in Fragmenten erhalten ( GW 4393). Aber Ghotan brachte zwischen 1484 und 1494, also mehr oder weniger gleichzeitig mit der offiziellen lateinischen Ausgabe, auch eine populäre kleinformatige Fassung (Oktavformat, 126 Blätter, 18 Zeilen pro einspaltiger Seite) heraus, Sunte Birgitten Openbaringe, die Andachtsmaterial aus Ausschnitten der Offenbarungen und aus dem Pseudo-Birgittenmaterial zur Passion Christi enthielt ( GW 4394). Das Bändchen benutzte nur einen Holzschnitt, der die Ikonographie der Großausgabe auf eine einprägsame Formel für das 277 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="278"?> 25 S C H R A M M (wie Anm. 22), Bd. 12, Tafel 15: 63 (http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ schramm1929bd12/ 0037 [25. März 21]). 26 O E N (wie Anm. 14), S. 196 f. kleinere Format brachte 25 : Birgitta sitzt als Witwe ohne Heiligenschein am Schreibpult, Feder zum Diktat erhoben, um in das vor ihr liegende Buch einzutragen, was ihr über die Inspirationsstrahlen vermittelt wird, die auf sie durch das Fenster fallen und zu denen sie aufblickt (Abb. 3). Diese Form der prophetischen Vermittlung von göttlichen Einsichten war bereits etabliert, etwa in der Darstellung Hildegards von Bingen, in denen die Heilige ihre Inspiration in Form feuriger Lichtzungen empfängt 26 . Abb. 3: Sunte Birgitten Openbaringe, Holzschnitt von Bartholomäus Ghotan Eine dritte Lübecker mittelniederdeutsche Anverwandlung fand 1496 in der Mohnkopf-Werkstatt statt, in einem Werk, das ebenfalls als Sunte Birgitten Open‐ baringe publiziert wurde ( GW 4395). Es ist umfangreicher als die frühere Aus‐ gabe (Quartformat, 204 Blätter, 29 Textzeilen und elf Illustrationen) und ist ein sorgfältig komponiertes Buch. Obwohl das Druckdatum nur vier Jahre nach der offiziellen lateinischen Ausgabe liegt, markieren die beiden Lübecker Ausgaben zwei unterschiedliche Stadien in der Verehrung Birgittas. Die Gesamtausgabe von Ghotan beruhte noch auf dem Konzept, das von dem Beichtvater Alfonso entworfen war, um den Heiligsprechungsprozess voranzutreiben. Die Mohn‐ kopf-Fassung ist ein Jahrhundert später auf eine Leserschaft zugeschnitten, 278 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="279"?> 27 Vgl. Elizabeth A N D E R S E N , Birgitta of Sweden in Northern Germany. Translation, Trans‐ mission and Reception, in A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Ger‐ many in the Late Middle Ages, hg. von Elizabeth A N D E R S E N / Henrike L Ä H N E M A N N / Anne S I M O N (Brill’s Companions to the Christian Tradition 44), Leiden 2013, S. 205-230, hier S. 221. 28 Vgl. O E N (wie Anm. 14), S. 197. für die Birgitta bereits eine kanonische Figur war, deren Leben und Werk als vorbildhaft galt. Entsprechend tritt die Person Birgittas als Heilige in den Vordergrund. Die Offenbarungen wurden exzerpiert, übersetzt und umgeformt für laikale Andachtsbedürfnisse. Aus einer Folge von Visionen wurden Aspekte ausgewählt, die sich mit biographischem Material zu einer Erbauungslektüre verbinden ließen; die Bücherstruktur der Offenbarungen wurde beibehalten, aber der Inhalt zu einem Handbuch christlicher Lebensführung gewandelt - in dem auch das Pilgern entscheidenden Anteil hat. Die ersten vier Bücher werden von dem gleichen Holzschnitt eröffnet, der Birgitta als Autorin zeigt (Abb. 4), das fünfte von einer Darstellung ihrer Tochter Katharina, der die Darstellung der Nonne aus dem Totentanz der gleichen Of‐ fizin recycelt 27 . Die Holzschnitte ergeben also keinen Zyklus, sondern bestätigen feste Bildtypen. Birgitta sitzt monumental als Einzelfigur, die an drei Seiten über die Begrenzungslinie herausragt, durch Heiligenschein, Gewand und Buch; der Rahmen wird von wechselnden Blumenbordüren gebildet; das Ensemble ähnelt Andachtsbildern, wie sie als Einzeldrucke zirkulierten, der Andacht dienten und häufig in private Gebetbücher eingeklebt wurden. Birgitta nimmt hier selbst die Rolle der Evangelisten oder Kirchenväter ein, die Brustbilder von Jesus und Maria als Inspirationsquelle am oberen Bildrand sind fast zum Attribut verkürzt 28 . Die Offenbarungen in dieser Ausgabe sind gleichermaßen Birgittas persönliche Einsichten, ein Andachtsbuch und ein Heiligenleben. Im Bild findet keine historische Verortung der Person statt, auch wenn der Text die Berichte über ihre Pilgerfahrten als Teil des vorbildhaften Lebensnarrativs beibehält. 279 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="280"?> 29 Vgl. Werner W I L L I A M S -K R A P P , Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte (Texte und Textgeschichte 20), Tübingen 1986. Abb. 4: Sunte Birgitten openbaringe, Holzschnitt, Lübeck 1496 1.6 Der Heiligen Leben In den Heiligsprechungsakten wird erwähnt, dass Birgitta eine schwedische Sammlung von Heiligenleben besaß, wahrscheinlich eine volkssprachige Fas‐ sung der Legenda aurea. Auf diese Lektüre sind die zahlreichen Besuche bei Heiligenschreinen zurückzuführen, und die hagiographischen Berichte beein‐ flussten deutlich ihre eigenen Andachtsübungen und Visionen. Es ist insofern nur logisch, dass Birgitta selbst in die weit verbreitete Legendensammlung Der Heiligen Leben Eingang fand, die von einem Nürnberger Dominikaner um 1400 zusammengestellt worden war 29 . Das Buch fand weite und rasche Verbreitung im Druck, und alle 33 hochdeutschen und acht niederdeutschen Ausgaben enthalten eine Birgittalegende. 280 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="281"?> 30 Passionael, efte dat Levent der hyllighen to dude, Lübeck: Arndes, 1507 [VD16 H 1483], fol. 72 r . Bayerische Staatsbibliothek München http: / / nbn-resolving.de/ urn/ resolver.pl? urn=urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00019910-0 (27. März 2021). 31 Passional, das ist Der Heyligen Leben, Nürnberg: Anton Koberger, 1488 [GW M11 407], fol. 68 v . Library of Congress https: / / www.loc.gov/ item/ 48043511 (27. März 2021). S C H R A M M , Bilderschmuck (wie Anm. 23), vol. 17, Plate 40: 112 (http: / / digi.ub.uni-hei delberg.de/ diglit/ schramm1934bd17/ 0056 (27. März 2021). In der vierten Ausgabe des niederdeutschen Heiligenlebens (Passionael efte dat Levent der hyllighen to dude), das von Steffen Arndes 1507 gedruckt wurde, eröffnet ein Holzschnitt das Birgittenleben ( GW M11 506) 30 . Es ist eine reduzierte Form des von Ghotan in den Openbaringe genutzten Inspirationstyps: Birgitta schaut vom Schreibpult auf, aber die göttlichen Strahlen fehlen. Währenddessen behält die süddeutsche Illustrationstradition an der Darstellung Birgittas als Pilgerin fest. In Anton Kobergers Ausgabe Passionael, das ist Der Heyligen Leben von 1488, eröffnet ein Doppelholzschnitt das Birgittenleben ( GW M11 407) 31 . Links findet sich das traditionelle Bild Birgittas als Autorin in Witwentracht am Schreibpult, aber rechts knien geistliche und weltliche Würdenträger vor den Attributen Birgittas Pilgerschaft - Stab, Hut mit Kreuz und Jakobsmuschel als Pilgerzeichen und Tasche -, so dass noch einmal die Bedeutung des Pilgerns als Symbol für Birgittas Spiritualität und Heiligkeit in den Vordergrund gerückt wird (Abb. 5). Abb. 5: Jacobus de Voragine, Heiligenleben, Holzschnitt von Anton Koberger 281 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="282"?> 32 Hartmut S C H E D E L , Die Schedelsche Weltchronik, Nürnberg: Anton Koberger, 1493 [GW M4 0784]. 33 Vgl. den Fall der Nürnberger Patrizierin Katharina Lemmel, die im Birgittenkloster Maria Maihingen eintrat und mit Nürnberg weiterhin regen Briefkontakt hatte, Pepper for Prayer. The Correspondence of the Birgittine Nun Katerina Lemmel, 1516-1525, hg. und übersetzt von Volker S C H I E R / Corine S C H L E I F / Anne S I M O N (Editiones. Sällskapet Runica et Mediaevalia 13), Stockholm 2019. 1.7 Die Schedelsche Weltchronik Birgitta tritt auch prominent in einem der Hauptwerke der Druckproduktion der Koberger-Werkstatt auf, der Weltchronik, die der Nürnberger Doktor, Humanist und Bibliophile Hartmut Schedel 1493, ein Jahr nach dem Erscheinen der Lübecker Ausgabe der lateinischen Offenbarungen, auf Latein und ein Jahr später auf Deutsch herausgab ( GW M40 784). Das ambitionierte zweisprachige Projekt mit einer Fülle von detaillierten Holzschnitten für Figuren und Stätten zeigt die Produktionskraft des süddeutschen Buchmarkts. Der Eintrag zu Bir‐ gitta im sechsten Buch beschränkt sich auf einen kurzen Lebensabriss, der sie als Andachtsmodell vorstellt, die als Teil der deutschen Nation eingemeindet wird: Brigida oder Brigitta die andechtig cristenlich fraw teutscher nation (fol. 232r). 32 Erwähnt werden ihre Herkunft, königliche Abstammung, Heirat, Ver‐ witwung und daran anschließendes keusches Leben, ihre Pilgerfahrten und politischen Interventionen, besonders mit Papst Urban und Papst Gregor. Ob‐ wohl abschließend festgehalten wird, dass Gott Birgitta vil offenbarung kuͤnftiger ding gewährte, liegt das Hauptaugenmerk auf Birgitta als historische Figur. Die begleitende Illustration Birgittas als Halbfigur mit der Beischrift Brigitta ein wittib ist keines der mehrfach eingesetzten Standardheiligenbilder, sondern spezifisch auf sie zugeschnitten - Witwentracht, Heiligenschein, Pilgerhut, Pilgertasche und Kreuz in der Hand erstellen ein Persönlichkeitsprofil, das aber ihre Rolle als Autorin oder Visionärin ganz ausblendet: sie blickt demütig herunter statt visionär nach oben. In der Weltchronik folgt dann noch ein kurzer Bericht über die Gründung des Birgittenordens und Erklärungen zur Form der Doppelklöster, dem Habit der Nonnen und der Ordensregel, von der festgestellt wird, dass sie der Augustinerregel folgt, aber ergänzt durch die regula salvatoris, die Birgitta geoffenbart worden war. Ein zusätzlicher Holzschnitt für Vadstena zeigt Birgittas Nachwirkung, die auch in Nürnberg präsent war 33 . Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Birgitta eine exemplarische Pilgerin war; ihr ganzes Leben war von Wallfahrt als Andachtsübung und Lebensform geprägt. Da Ehe und Familie sie an einem traditionellen Klosterleben gehindert hatten, eröffneten ihr die ausgedehnten und regelmäßigen Pilgerreisen den Freiraum, ein quasi-monastisches Leben zu führen und inmitten des Verbunds 282 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="283"?> 34 Günther S C H I W Y , Birgitta von Schweden. Mystikerin und Visionärin des späten Mittelalters - eine Biographie, München 2003, S. 140, 202. Zu den Reiserouten skandinavischer Pilger vgl. auch Christian K R Ö T Z L , Pilger, Mirakel und Alltag. Formen des Verhaltens im skandinavischen Mittelalter (12. - 15. Jahrhundert) von geistlichen Beiständen, Familienmitgliedern und anderen Wallfahrenden zielgeleitete Askese zu üben. Der kurze Überblick über die Birgittadarstellungen im deutschsprachigen Raum im 15. Jahrhundert hat zwei deutlich unterschiedliche Zweige in der Darstellung der Heiligen gezeigt. Der von der neapolitanischen Überlieferung ausgehende Zweig der Offenbarungen betont die Überlieferungskette ihres Werks. In historio- und hagiographischen Werken dagegen wird ihre Pilge‐ ridentität hervorgehoben. Einzelne Andachtsbilder wie das Augsburger Holz‐ schnitttriptychon können verschiedene Aspekte im Simultanbild verbinden. Der Aspekt der Pilgerschaft kann dabei das verbindende Element sein, das die Visionen an die Orte knüpft, an denen sie stattfanden; dies stellt ein besonderes Merkmal Birgittas dar. Pilgerorte sind Stätten, an denen sich Göttliches und Menschliches nahekommt, wo der Anblick oder die Berührung von Reliquien Begegnungen mit dem Numinosen ermöglicht. Daher ereigneten sich Birgittas Visionen gerade auf ihren häufigen Fahrten zu den Heiligenschreinen als Kommunikationsorte mit dem Göttlichen, an denen Christus, Maria oder auch die Heiligen besonders leicht in Kontakt mit den Menschen treten können. Für Birgitta war Pilgern die Lebensform, in der sich ihre religiöse Berufung ausdrückte; ihre Wallfahrten sind Ausdruck einer Spiritualität, die nicht statisch ist, sondern sich bewegt und entfaltet. 2. Birgitta von Schweden als Pilgerziel in Norddeutschland Mai-Britt Wiechmann Nach dieser kurzen „Pilgerfahrt im Geiste“ von Schweden über Rom, das Heilige Land, Neapel bis hin nach Norddeutschland möchte ich genau hier anknüpfen: Birgitta selbst muss auf ihren Pilgerreisen nach Santiago und Rom über Norddeutschland gekommen sein und hier mehrfach Station gemacht haben. Ihre Route ist nicht dokumentiert, doch wird sie über das dänische Seeland nach Lübeck oder Rostock gelangt sein und von dort aus den Weg über Köln weiter nach Santiago und über Braunschweig gen Rom genommen haben 34 . Dabei ist anzunehmen, dass sie auch einige der 283 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="284"?> (Studia historica 46), Helsinki 1994, S. 173 f.; sowie den Beitrag von Carsten Jahnke in diesem Band. 35 1346 wurden beide Orte von Birgittas Cousin, dem schwedischen König Magnus Eriksson, mit einer Kelchstiftung bedacht, gemeinsam mit so bedeutenden Wall‐ fahrtsorten wie Aachen, Rocamadour und Santiago. Es ist daher anzunehmen, dass Magnus durch Birgittas Santiago-Pilgerfahrt wenige Jahre zuvor auf diese Orte aufmerksam wurde, Svenskt Diplomatarium V, hg. von Johan Gustaf L I L J E G R E N , Stockholm 1865, Nr. 4069, 1346 Mai 1: … først til rukkumadur. en kalc giorþan aff sæx mark gull. Til aken en kalc af fyræ mark gull., til goþes byrþ samuleþ, til gustrowe samuleþ., til sanctæ jækobs samuleþ. Zu Güstrow vgl. Hartmut K Ü H N E , Zur Konjunktur von Heilig-Blut-Wallfahrten im spätmittelalterlichen Mecklenburg, in: Mecklenburgia Sacra. Jahrbuch für Mecklenburgische Kirchengeschichte 12 (2009), S. 76 - 115, hier S. 78 - 86; zu Gottsbüren vgl. Wilhelm A. E C K H A R D T , Die Wallfahrt nach Gottsbüren, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 119 (2014), S. 1 - 22, speziell S. 8 ff. 36 K R Ö T Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 122. Einen Ablass für den Besuch des Birgittagrabs erhielt das Kloster bereits 1375, vgl. Stephan F L E M M I G , Hagiografie und Kulturtransfer. Birgitta von Schweden und Hedwig von Polen (Orbis mediaevalis 14), Berlin 2011, S. 140, vgl. auch S. 159 ff. 37 Zur Verbreitung der Klöster vgl. Tore N Y B E R G , Birgittinische Klostergründungen des Mittelalters (Bibliotheca historica Lundensis 15), Lund 1965; sowie die Übersicht bei Ulla S A N D E R O L S E N , The Life and Works of St Birgitta in Netherlandish Translations, in: The translation of the works of St Birgitta of Sweden into the medieval European vernaculars, hg. von Bridget M O R R I S / Veronica Margaret O ’M A R A (The medieval trans‐ lator 7), Turnhout 2000, S. 117-150, S. 118 f.; Revelationes Sanctae Birgittae, Lübeck: Bartholomäus Ghotan, 1492 [GW 4391], fol. 343r-344r. ganz frühen Wallfahrtsorte in Norddeutschland passierte, beispielsweise das mecklenburgische Güstrow oder das nordhessische Gottsbüren. Beide Orte unterhielten seit den frühen 1330er Jahren beliebte Hostienwallfahrten und waren in Birgittas Umfeld durchaus bekannt 35 . Birgitta war aber nicht nur Pilgerin, sondern wurde bald nach ihrer Heilig‐ sprechung selbst zum Objekt von Verehrung und zum Ziel von Wallfahrten. So „europäisch“ wie Birgittas Biographie war, so weit gestreut war auch ihre Verehrung, die bereits früh in Schweden und Italien einsetzte. Folglich gibt es auch nicht die eine Keimzelle für die Verbreitung ihres Kultes. Das Epizentrum für Nordeuropa und damit auch Norddeutschland war das Mutterkloster des von Birgitta begründeten und von ihrer Tochter Katharina realisierten Ordo sancti salvatoris im schwedischen Vadstena. Es ist bereits 1376, drei Jahre nach Birgittas Tod, als Wallfahrtsort nachweisbar 36 . Von hier aus wurden die nordeuropäischen Birgittenklöster gegründet und von hier wurde auch um 1491, ziemlich genau hundert Jahre nach Birgittas Heiligsprechung, die erste Druckausgabe und damit die erste verbindliche Fassung ihrer Revelationes beim Lübecker Drucker Bartholomäus Ghotan in Auftrag gegeben 37 . Die acht Wunderberichte, die dort 284 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="285"?> 38 Erste Mirakelsammlungen wurden in Vadstena bereits unmittelbar nach Birgittas Tod zur Vorbereitung ihres Kanonisationsprozesses angelegt. Nach 1390 gibt es keine systematische Sammlung von Mirakelberichten mehr. Die Zusammenstellung im Reve‐ lationes-Druck lehnt sich zwar stilistisch und inhaltlich an die älteren Berichte an, ist aber bis dato singulär. Zur Entwicklung der älteren Mirakelsammlungen vgl. K R Ö T Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 82-85; Cordelia H E ẞ , Heilige machen im spätmittelalterlichen Ostseeraum. Die Kanonisationsprozesse von Birgitta von Schweden, Nikolaus von Linköping und Dorothea von Montau (Europa im Mittelalter 11), Berlin 2008, S. 150. Die Sammlung ist ediert in Acta et processus canonizacionis Beate Birgitte. Efter Cod. A 14 Holm., Cod. Ottob. Lat. 90 o. Cod. Harl. 612, hg. von Isak C O L L I J N (Samlingar utgivna av Svenska Fornskriftsällskapet, Ser. 2. Bd. 1), Uppsala 1931, vor allem S. 104-184, 608-612. 39 Konkret genannt werden das schwedische Västerås, Malmö und Gotland sowie das deutsche Leipzig und Stolpe. Letzteres ist auch im nordbzw. ostdeutschen Raum zu verorten, allerdings gibt es in dieser Region allein 22 Orte dieses Namens und kann daher nicht sicher identifiziert werden, vgl. Roswitha W I S N I E W S K I , Der Ortsname „Stolp“, in: Pocza̜tki miasta Słupska / Die Anfänge der Stadt Stolp. Neue Forschungser‐ gebnisse aus Deutschland und aus Polen, hg. von Lisaweta V O N Z I T Z E W I T Z (Zeszyty Kulickie 1), Kulice 1999, S. 13-40, S. 15. im Anschluss an Birgittas Lebensbeschreibung abgedruckt sind, zeigen die Reichweite ihrer Wirkmacht im Norden. Es ist anzunehmen, dass die Mirakelsammlung speziell für die Druckaus‐ gabe zusammengestellt wurde 38 . Anders als frühere Sammlungen zu Birgittas Wundertätigkeit konzentrieren sich die Berichte nicht nur auf Schweden, sondern nennen darüber hinaus auch Mirakel in Holland und Norddeutschland. Sie decken sich damit mit dem Hauptverbreitungsgebiet des Druckwerks im Hanseraum 39 . Obwohl es sich bei den Berichten um Distanzmirakel handelt, die also nicht an einem konkreten Verehrungsort der Heiligen erfolgten, und obwohl sie erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts zusammengestellt wurden, verweisen diese Wunder damit doch genau in die Gegenden, wo knapp hundert Jahre zuvor die Verehrung Birgittas in Norddeutschland ihren Ausgang nahm, nämlich Nettgendorf im heutigen Brandenburg, Klues als heutigem Stadtteil von Flensburg und Marienwohlde bei Mölln, südlich von Lübeck. Anhand dieser frühen Kult- und Wallfahrtsorte möchte ich im Folgenden die Verehrung der heiligen Birgitta sowohl quantitativ als auch qualitativ in den Blick nehmen, um sie in das Netz der norddeutschen Wallfahrtsorte einzuordnen: Wann und wieso setzte dort eine Verehrung ein? Welche Strategien wirkten, um den Kult zu etablieren und eine Wallfahrt populär zu machen? Wann, wie lange und aus welchem Radius wurden die Wallfahrtsorte frequentiert? 285 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="286"?> 40 Für den Hinweis auf Nettgendorf bedanke ich mich herzlich bei Hartmut Kühne. Für seine erste Beschreibung der Nettgendorfer Kapelle und des Birgitta-Patroziniums vgl. Hartmut K Ü H N E , Zwischen Rom und dem schwedischen Kloster Vadstena - die verschwundene Wallfahrtskapelle von Nettgendorf, in: Amtsblatt für die Gemeinde Nuthe-Urstromtal, 14. Jahrgang, 17. Woche, 27. April 2006, S. 1 f. 41 Stand Ende 2019 nach https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Nettgendorf (5. Januar 2021). 42 Die Empfängerausfertigung der Ablassurkunde ist nicht erhalten, nur der Eintrag in den Registra Lateranensia ist überliefert, vgl. Reg. Lat. 94, fol. 167r, http: / / rg-online.dhi-roma.it/ RG/ 2/ 5711 (11.März 2021): RG II 05711 - Netekendorp villa Brandenburg. dioc. capella ss. Jacobi et Dorothee ac Brigide de Suecia: indulg. 25 aug. 1401 L 94167. 43 F L E M M I G , Hagiografie (wie Anm. 36), S. 146ff. 44 Reg. Lat. 94, 167r. Für die Überlassung seiner auszugsweisen Transkription danke ich Herrn Jan Hrdina vom Archiv der Stadt Prag. 2.1 Nettgendorf 40 - die Anfänge der Birgittaverehrung in Norddeutschland Die Birgittaverehrung im norddeutschen Raum setzt bereits ausgesprochen früh ein, nämlich um 1400, und zwar mit Nettgendorf, etwa sechzig Kilometer südwestlich von Berlin. Der Ort ist ein Paradebeispiel dafür, wie im späten Mittelalter ein neuer Kult aufgegriffen und gezielt etabliert und propagiert wurde. Nettgendorf zählt heute überschaubare 108 Einwohner und war auch im Mittelalter eine eher kleine Siedlung 41 . Um 1400 gründete das nahe Zisterzien‐ serkloster Zinna, zu dessen Landbesitz Nettgendorf gehörte, hier eine Kapelle. Die Kapelle existiert heute nicht mehr, die Ausstattung ist verloren, doch haben sich einige schriftliche Quellen erhalten, die uns über den Stellenwert informieren, den Birgitta hier einnahm. Der Ablass als Instrument der Kultetablierung Der erste Beleg für die neue Gründung ist ein Ablass, den Papst Bonifatius IX . 1401 für die Kapelle gewährte. Bereits hier wird neben dem Apostel Jakobus dem Älteren und der Jungfrau Dorothea die heilige Birgitta als Schutzheilige der neuen Gründung genannt 42 . Angesichts der Tatsache, dass Birgitta überhaupt erst zehn Jahre zuvor heiliggesprochen worden und ihre Kanonisierung auch danach keineswegs unum‐ stritten war 43 , ist ein so frühes Patrozinium durchaus außergewöhnlich, lässt aber umso mehr auf eine bewusste Entscheidung schließen. Der päpstliche Ablass war großzügig bemessen: Alle Gläubigen, die an einer Reihe von Christus- und Marienfesten und an den Festtagen der drei Patrone nach Nettgendorf kamen, erhielten einen Ablass von sieben Jahren und sieben Quadragenen, umgerechnet also fast acht Jahren. In den Oktaven der genannten Feste konnte man immer noch einen Ablass von 100 Tagen bekommen 44 . Erstaunlich ist aber nicht nur die Ablasshöhe, sondern vor allem die Tatsache, dass er überhaupt erwirkt wurde, erforderte dies doch, eine Bitte in Rom vorzubringen und war 286 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="287"?> 45 Zum Ablasswesen unter Bonifatius IX. vgl. allgemein Karlheinz F R A N K L , Papstschisma und Frömmigkeit. Die „Ad instar-Ablässe“, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 72 (1977), S. 57-124, besonders S. 184-247. 46 Acta Pontificum Danica. Pavelige Aktstykker vedrørende Danmark 1316-1536, Bd. 2: 1378-1431, hg. von Alfred K R A R U P / Johannes L I N D B A E K , Kopenhagen 1907, Nr. 942. Für diesen Hinweis bedanke ich mich ebenfalls herzlich bei Hartmut Kühne. 47 Acta Pontificum Danica 2 (wie Anm. 46), Nr. 1524. 48 Acta Pontificum Danica 2 (wie Anm. 46), Nr. 1524 und 1526 nennen Maria als Pa‐ tronin und Wunderwirkende; um 1480 scheint außerdem ein Anna-Patrozinium hinzugekommen zu sein, vgl. Ole H A R C K , Klus - et middelalderligt valfartssted ved Flensborg, in: Sønderjydske Årbøger 74,2 (1962), 142-154, hier S. 144. Auch eine Sagensammlung des 19. Jahrhunderts über die Wunder, die sich in Klues zu‐ getragen haben sollen, nennt Anna und Maria als Ziel der Wallfahrt, vgl. Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, hg. von Karl M Ü L L E N H O F F , Kiel 1845, S. 111, http: / / www.zeno.org/ Literatur/ M/ M%C3%BClle nhoff,+Karl/ M%C3%A4rchen+und+Sagen/ Sagen,+M%C3%A4rchen+und+Lieder/ Zweites +Buch/ 139.+Die+Klause+zu+Ruekloster (12. Juni 2021). Die Kapelle wurde in der Refor‐ mation abgebrochen, einen archäologischen Bericht bietet H A R C K , Klus. daher mit entsprechendem finanziellen und zeitlichen Aufwand verbunden 45 . Im Gegenzug versprach ein solcher Ablass den Antragstellern aber ein gewisses werbewirksames Potential und Anziehungskraft für ihre Institution. Die Mönche hatten also von Anfang an beabsichtigt, in Nettgendorf einen größeren Kult zu etablieren, womöglich sogar eine Wallfahrt zu initiieren. Nettgendorf ist nicht der einzige so frühe Reflex einer Birgittaverehrung in Norddeutschland. Ein ähnlicher Ablass findet sich beinahe zeitgleich, 1399, für eine gut 450 Kilometer Luftlinie entfernte Kapelle im heutigen Flensburger Stadtteil Klues. In einem Waldstück, dem sogenannten Krogries, wollten der Priester Ludolf Swerk und der Laie Wilhelm Uterlyre - beide heute nicht mehr identifizierbar - als Einsiedler leben und planten zu diesem Zwecke, eine Kapelle in honore et sub vocabulo ss. Marie virginis et Augustini et Birgitte vidue construere 46 . Allen, die die Kapelle an den Festtagen der drei Heiligen aufsuchten und beim Bau unterstützten, gewährte Bonifatius IX . einen Sündenerlass von vier Jahren und vier Quadragenen. Auch hier wurde Birgitta also wenige Jahre nach ihrer Kanonisation zu einer von drei Patronen einer neuen Kapellengründung. Die Kapelle im Krogries wurde wie geplant errichtet und entwickelte sich im ersten Viertel des 15. Jahrhundert sogar zum Wunder- und Wallfahrtsort 47 . Birgitta allerdings scheint dabei keine Rolle mehr gespielt zu haben: Die Wunder werden einzig und allein Maria, später auch der hl. Anna zugeschrieben; Birgitta und Augustinus werden noch nicht einmal mehr erwähnt, sodass fraglich ist, ob es in Klues überhaupt zur Birgittenverehrung kam 48 . Anders in Nettgendorf: Hier scheint die schwedische Heilige bald sogar die Hauptrolle übernommen zu haben. 287 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="288"?> 49 Svenskt Diplomatarium från och med år 1401, Bd. 4: 1401-1420, bearb. von Carl S I L F V E R S T O L P E , Stockholm 1903, Nr. 2925-2927: 1402 Juni 29, 1402 Juli 1, 1402 Juli 1. 50 Svenskt Diplomatarium 4 (wie Anm. 49), Nr. 2926. 51 Vgl. K R Ö T Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 122. 52 Quapropter ad predictam capellam de tota prouincia nostra fit frequens populorum cum magna devotione concursus Dominum in sua sponsa laudantium, Svenskt Diplomatarium 4 (wie Anm. 49), Nr. 2925. 53 … ut frenetici et paralitici, ex utero matris contracti et variis infirmitatibus laborantes ibi optate consequantur remedio santitatis, ymmo, quod mirabilius est, etiam mortui Die frühe Verehrung Birgittas Ein Jahr nachdem Bonifatius IX . nämlich den Ablass für Nettgendorf gewährt hatte, im Frühsommer 1402, schrieben der Magdeburger Erzbischof, der Abt von Zinna und der Brandenburger Bischof fast zeitgleich an das Mutterkloster des Birgittenordens in Vadstena, um Reliquien der heiligen Birgitta für die Kapelle zu erbitten 49 . Diese Schreiben geben Aufschluss über den aktuellen Stand der Birgittaverehrung in Norddeutschland. So heißt es im Schreiben der Zinnaer Mönche, dass Birgitta in der Gegend bis vor kurzem vollkommen unbekannt gewesen wäre: Cum enim in nostra patria ante parvum tempus nemo aut pene nemo reperiretur, qui vel nomen Birgitte aliquando audivisset … Est enim in collegio monachorum nostrorum frater quidam, qui nomen et famam sanctitatis sepedicte sponse Christi quondam audierat …, ad cuius tandem desiderium et peticionem devotam ecclesiam quandam, que in una villarum nostri monasterii de novo fundabatur, ad honorem sancte Birgitte fecimus sollempniter dedicari 50 . Es sei einer ihrer Mönche gewesen, ein gewisser Albert, der die heilige Birgitta kannte und verehrte. Ihm sei es zu verdanken, dass man die neu gegründete Kapelle der heiligen Birgitta geweiht habe. Wer dieser Albert war, ist nicht bekannt, es ist aber anzunehmen, dass er über persönliche Beziehungen nach Schweden verfügte, wo Birgitta zu dieser Zeit bereits verehrt wurde und als Wallfahrtsziel fest etabliert war 51 , denn Albert war auch derjenige, der nach Vadstena geschickt wurde, um die Anfragen zu überbringen. Ähnliche Beziehungen sind für die beiden Initiatoren der Flensburger Kapellengründung zu vermuten. Gleichzeitig geben die Schreiben auch Hinweise darauf, wie die Verehrung in Nettgendorf zu diesem Zeitpunkt aussah: Seit der Gründung nämlich ströme das Volk de tota prouincia in Scharen herbei, um die Heilige cum magna devotione zu verehren 52 . Birgitta habe schon viele Wunder an Kranken gewirkt, habe bei Besessenheit, Lähmung und Geburtsproblemen geholfen, und sogar schon einige Tote wieder zum Leben erweckt 53 . Deswegen sei man sehr glücklich, dass 288 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="289"?> quammulti ibidem revocentur ad vitam …, Svenskt Diplomatarium 4 (wie Anm. 49), Nr. 2926. 54 Peter F I N D E I S E N , Das Birgittenretabel im Magdeburger Dom. Gerhard Leopold zum 80. Geburtstag, in: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 8,1 (2000), S. 58-64. es hier in der Gegend eine solche Schutzheilige gebe, gleichzeitig aber betroffen, dass man keine Reliquien von ihr habe. Die möchten die Absender hiermit erbitten, um dem Pilgerstrom entgegenzukommen und gleichzeitig den Ruhm der Heiligen zu mehren und noch weiter zu verbreiten. Auffällig ist, dass in diesen Briefen nur noch von Birgitta die Rede ist, die anderen beiden Patrone, Jakobus und Dorothea, werden weder genannt noch scheinen sie Ziel der herbeiströmenden Gläubigen gewesen zu sein. Interessant ist außerdem, dass bereits zu diesem frühen Datum von einem regelmäßigen Zulauf, concursus, und Wundern die Rede ist, Indizien für eine intensive regelmäßige Verehrung und vielleicht sogar eine Wallfahrt. Damit ist dies einer der frühesten Belege für einen Birgitta-Kultort außerhalb Schwedens. Exkurs: Das Birgittenretabel im Magdeburger Dom Ein weiterer sehr früher Beleg für die Verehrung im mittel- und norddeutschen Raum ist ein Birgittenretabel im Dom zu Magdeburg. Zwar gehörte Nettgendorf wie auch das Kloster Zinna kirchlich zum Bistum Brandenburg, beide lagen aber in einer Exklave des Erzstiftes Magdeburg. Die Reliefarbeit aus ehemals bemaltem Sandstein datiert in die Zeit um 1400 und befindet sich auf einem ursprünglich der heiligen Dorothea geweihten Seitenaltar, der 1445 in den neuen Lettner integriert wurde (Abb. 6) 54 . 289 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="290"?> Abb. 6: Sandsteinretabel der Geburtsvision der hl. Birgitta aus dem Magdeburger Dom, um 1400 Das Relief lässt sich vertikal und horizontal in zwei Haupt- und zwei Neben‐ szenen teilen, die nicht nur kompositorisch, sondern auch inhaltlich eng mit‐ einander verwoben sind. Sie zeigen unten links Birgittas Vision von der Geburt Christi, mit Maria, heute kopflos, vor dem Kinde kniend, Joseph im Hintergrund, 290 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="291"?> 55 Carina B R U M M E , Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis. Entwicklung, Strukturen und Erschei‐ nungsformen frommer Mobilität in Mitteldeutschland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert (Europäische Wallfahrtsstudien 6), Frankfurt am Main 2010, S. 181. 56 Findeisen vermutet den Domdekan Johann von Redekin (1401-1420) als Stifter, der Beziehungen nach Schweden unterhielt, vgl. F I N D E I S E N , Birgittenretabel (wie Anm. 50), S. 62 f. 57 Willy H O P P E , Kloster Zinna. Ein Beitrag zur Geschichte des ostdeutschen Kolonial‐ landes und des Cistercienserordens (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg 15), München / Leipzig 1914, S. 230 f. und rechts daneben klein die Figur der heiligen Birgitta mit Pilgerattributen. Darüber verkündet, eher als Nebenschauplatz, ein Engelschor die Ankunft des neuen Menschenkönigs. Rechts daneben, in einer zweiten Nebenszene, thronen Christus und Maria in der Mandorla. Von beiden rollen Spruchbänder hinab zur zweiten Hauptszene, die rechts neben der Geburtsvision angeordnet ist: Hier sitzt Birgitta in der schon bekannten Weise am Schreibpult; inspiriert nun nicht mehr von Strahlen, sondern von den bis zu ihr herabreichenden himmlischen Spruchbändern. Rechts neben ihr in der unteren Ecke des Retabels kniet ein Domkanoniker in der üblichen Stifterhaltung. In der Forschung wurde diskutiert, ob dieses Retabel möglicherweise ur‐ sprünglich für die Kapelle in Nettgendorf geschaffen worden sein könnte 55 , der einzige bekannte Beleg für eine Birgittaverehrung in der Umgebung. Tatsächlich steht die Datierung des Retabels in enger Verbindung zu den Ursprüngen des Nettgendorfer Kultes, doch konnte F IN D E I S E N überzeugend nachweisen, dass das Retabel von vornherein für den Magdeburger Dorotheenaltar bestimmt gewesen sein muss: Dafür spricht nicht nur die Stifterfigur, die eindeutig einen Domherrn zeigt, sondern auch bildliche Reminiszenzen an die Umgebungsar‐ chitektur 56 . Ein Zusammenhang zur Nettgendorfer Birgittenkapelle ist dennoch nicht auszuschließen und aufgrund der geographischen und institutionellen Nähe wohl sogar wahrscheinlich: So könnte der Stifter dem Kult der heiligen Birgitta erstmals in Nettgendorf begegnet sein. Birgittas weitere Verehrung in Nettgendorf Ob Nettgendorf die Reliquien der heiligen Birgitta jemals erhalten hat, wissen wir nicht, denn ein Antwortschreiben aus Vadstena ist nicht überliefert. Auch lichten sich die Quellen zur Nettgendorfer Kapelle ab diesem Punkt. Erst einige Jahrzehnte später, 1480, wird sie wieder erwähnt, und zwar im Landbuch des Klosters Zinna, in dem die Einkünfte der klösterlichen Ämter erfasst werden 57 : Die Einkünfte aus der Kapelle fielen demnach dem Prior zu, das Wachs vom 291 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="292"?> 58 Auf dem Golmberg befand sich eine Marienkapelle, die sich an den Marienfesten großen Zulaufs erfreute, vgl. Oliver H. S C H M I D T / Dirk S C H U M A N N , Zinna, in: Branden‐ burgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, hg. von Heinz-Dieter H E I M A N N / Klaus N E I T M A N N / Winfried S C H I C H (Brandenburgische historische Studien 14), Berlin 2007, S. 1359-1378, hier S. 1369. 59 B R U M M E , Wallfahrtswesen (wie Anm. 55), S. 181. 60 Vgl. N Y B E R G , Klostergründungen (wie Anm. 37), insbesondere S. 89 ff.; S A N D E R O L S E N , Translations (wie Anm. 37), S. 118 f. berge Golmis und zu Netkendorp aber ging an den Cellerar 58 . Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um die Votivgaben, die dankbare Pilger spendeten, um sich für den Beistand Birgittas zu bedanken. Noch um 1480 gab es in Nettgendorf also eine größere Verehrung mit regelmäßigen Wachsspenden. Woher, wie oft und wie viele Menschen aber zu der kleinen Kapelle strömten, und ob man daher tatsächlich von einer Wallfahrt sprechen kann, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. In Nettgendorf beobachten wir also das früheste Beispiel eines Birgittakultes in Norddeutschland. Angeregt von einem einzelnen Zisterziensermönch, wurde die unbekannte Heilige bereits wenige Jahre nach ihrer Kanonisierung für ge‐ eignet befunden, um eine größere Wallfahrt um sie zu etablieren. Der eingewor‐ bene Ablass und die angefragten Reliquien sind Reflexe einer richtiggehenden Kultpropaganda, die man in Zinna zu etablieren versuchte. Die Bemühungen waren zumindest insofern erfolgreich, als auch Jahrzehnte später immer noch Gläubige nach Nettgendorf kamen. Die Verehrung endete aber abrupt mit der Reformation: 1546 wurde die Kapelle unter Abt Matthäus Kagel abgerissen, heute kennen wir noch nicht einmal mehr ihren genauen Standort 59 . 2.2 Marienwohlde - die heilige Birgitta als Pilgerziel Nur wenige Jahre nach Nettgendorf und Klues entwickelte sich auch an anderer Stelle in Norddeutschland eine Verehrung der heiligen Birgitta. Ausgangspunkt ist wie in Nettgendorf ein Kloster, allerdings eines, das per se der heiligen Birgitta nahestand, nämlich der Birgitten-Doppelkonvent in Marienwohlde bei Mölln. Marienwohlde war das erste Birgittenkloster in Norddeutschland. 1412 wurde es zunächst in Bälau gegründet und siedelte 1428 nach Petzke im Norden von Mölln um. Die Gründung war von vornherein fest in die Strukturen des Ordens eingebunden: Als Filiation des erst kurz zuvor gegründeten Revaler Konvents Mariental war Marienwohlde „Enkelin“ des ersten Ordensklosters in Vadstena und erst die vierte Gründung außerhalb Schwedens; bald nach seiner Gründung wurde es selbst Mutterkloster für Mariakron in Stralsund 60 . Marienwohlde hatte damit eine zentrale Position im überregionalen und internationalen Netzwerk 292 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="293"?> 61 Zweimal, 1426 und 1456, wird in Marienwohlde das Generalkapitel des Ordens abgehalten, auch auf dem Basler Konzil ist der Konvent vertreten, vgl. Heinrich D O R M E I E R , Marienwohlde, in: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, hg. von Oliver A U G E / Katja H I L L E B R A N D , Regensburg 2019, Bd. 2, S. 215-252, S. 218 f.; Heinrich D O R M E I E R , Neue Ordensniederlassungen im Hanseraum. Lübecker Stiftungen zugunsten des Birgitten‐ klosters Marienwohlde bei Mölln, in: Klöster, Stifte und Konvente nördlich der Elbe. Zum gegenwärtigen Stand der Klosterforschung in Schleswig-Holstein, Nordschleswig sowie den Hansestädten Lübeck und Hamburg, hg. von Oliver Auge (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 120), Neumünster 2013, S. 261-366, besonders S. 264; Ernst D E E C K E , Kloster Marienwold, in: Vaterländisches Archiv für das Hertzogthum Lauenburg 1 (1857), S. 341-398, S. 349. 62 Vgl. F L E M M I G , Hagiografie (wie Anm. 36), S. 145 f.; D O R M E I E R , Ordensniederlassungen (wie Anm. 61). 63 D E E C K E , Marienwolde (wie Anm. 61), S. 369-377. 64 Zur Überlieferungssituation vgl. D O R M E I E R , Marienwohlde (wie Anm. 61), S. 234 ff. Zur archäologischen Überlieferung vgl. Reinhold B E R A N E K , Das Birgittenkloster Marien‐ wohlde im Norden von Mölln, in: Lauenburgische Heimat N. F. 146 (1997), S. 3-52. 65 D O R M E I E R , Ordensniederlassungen (wie Anm. 61), S. 289. des Ordens inne 61 . In diesem Kontext ist auch die Marienwohlder Wallfahrt zu sehen. Marienwohlde stand aber auch in engem Kontakt zu den Netzwerken des Hansebunds, die wesentlich an der Verbreitung des Ordens von Skandinavien aus über den gesamten Ostseeraum beitrugen 62 . Im Städtedreieck Hamburg / Lü‐ beck / Lüneburg gelegen, unterhielt der Konvent enge Beziehungen zu den Hansestädten, wie aus den zahlreichen Zuwendungen und Stiftungen der dortigen Bevölkerung hervorgeht. Insbesondere Lübeck war wesentlich an der Gründung beteiligt und wurde bereits 1415 von Kaiser Sigismund mit dem Schutz des Klosters betraut. Hierhin floh der Konvent auch, als die Klosteranlage erstmals 1534 während der Holsteinischen Fehde zerstört und 1558 nach dem Augsburger Religionsfrieden vom Herzog von Lauenburg annektiert wurde 63 . Die Geschichte des Konvents währte damit nur knapp 150 Jahre. Auch ein großer Teil der klösterlichen Überlieferung ging hiermit verloren oder ist heute weit verstreut 64 . Dennoch lassen sich aus den Quellen einige wesentliche Eck‐ daten zu Marienwohlde als Wallfahrtsziel gewinnen: das Datum der Wallfahrt sowie ihre zeitliche Ausdehnung, das Einzugsgebiet sowie der Anlass und die Attraktivität des Kultes. Die Anfänge der Wallfahrt 1415 entsandte der Lübecker Bürger Johan van Torne in seinem Testament den ersten Pilger nach Marienwohlde 65 . Bereits drei Jahre nach der Gründung war 293 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="294"?> 66 D O R M E I E R , Ordensniederlassungen (wie Anm. 61), S. 274 f. 67 Zu Birgitta-Pilgerzeichen aus Maribo vgl. weiter unten, Anm. 83. Zu Syon vgl. Susan P O W E L L , The Birgittines of Syon Abbey. Preaching and print (Texts and transitions 11), Turnhout 2017, S. 45 f., 57 f. 68 K R Ö T Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 87, 122. 69 Urkundenbuch des Bistums Lübeck (UBBL) 2: 1220-1439, hg. von Wolfgang P R A N G E (Schleswig-Holsteinische Regesten und Urkunden 13), Neumünster 1994, Nr. 1350, 1419 August 1. Marienwohlde also ein Kultort, der bis ins dreißig Kilometer entfernte Lübeck wahrgenommen und dort einer Wallfahrt für würdig befunden wurde. Diese Verfügung blieb nicht allein. Gerade die in ihrer Dichte einmalige Lübe‐ cker Testamentsüberlieferung bietet Einblicke in die Popularität des Klosters bei der Bevölkerung der Umgebung. H E IN R I C H D O R M E I E R , der die testamentarischen Stiftungen Lübecks an Marienwohlde ausgewertet hat, konnte feststellen, dass Marienwohlde sich seit dem Jahr seiner Gründung einer ungebrochenen Be‐ liebtheit, sowohl bei den reichen Kaufleuten als auch der ärmeren Bevölkerung, erfreute. Die erhaltene Überlieferung verzeichnet für die Zeit des Bestehens Marienwohldes gut 500 Testatoren; bis zu einem Drittel der Testamente bedenkt das Kloster 66 . Auch unter den anderen Birgittenklöstern ist Marienwohlde damit aber kein Einzelfall. Viele Konvente entwickelten Wallfahrten, so das dänische Maribo oder das englische Syon 67 . Auch für das Mutterkloster in Vadstena, das im Spätmittelalter zum beliebtesten Wallfahrtsziel Skandinaviens avancieren sollte, ist die erste Wallfahrt bereits drei Jahr nach der Gründung belegt 68 . Anlass und Datum der Wallfahrt: Eine Ablasspredigt in Marienwohlde Der Anlass für die Marienwohlder Wallfahrt liegt nicht nur in der Popularität der heiligen Birgitta begründet, die bereits zu ihren Lebzeiten ihre Kreise zog, sondern insbesondere in den Ablassprivilegien, über die der Orden verfügte und die auch das Datum der Marienwohlder Wallfahrt bestimmten. 1439 berichtet der Lübecker Kleriker und Notar Johannes Schabbe in einem überlieferten Notariatsinstrument empört von einem Gottesdienst, dem er am 1. August in Marienwohlde beigewohnt hatte 69 . Einer der dortigen Priester‐ brüder, Johannes Rozenhagen, habe an diesem Tag vor der Klosterkirche der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde gepredigt und Ablass verkündet. Zwei Dinge erregten bei Schabbe Anstoß: Zum einen, dass Rozenhagen seine Predigt in teutonico hielt. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war Latein immer noch die vorwiegende Predigtsprache; die Verkündigung der Heiligen Schrift in der Volkssprache wurde zwar zunehmend praktiziert, war aber nach wie vor umstritten. Der Birgittenorden setzte hier einen deutlichen Kontrapunkt, 294 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="295"?> 70 Vgl. D E E C K E , Marienwolde (wie Anm. 61), S. 346; D O R M E I E R , Marienwohlde (wie Anm. 61), S. 229. 71 UBBL 2 (wie Anm. 69), Nr. 1350. 72 K R Ö T Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 123. 73 Nikolaus P A U L U S , Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters (Geschichte des Ablasses im Mittelalter 3), Darmstadt 2 2000, S. 227; F L E M M I G , Hagiografie (wie Anm. 36), S. 143 f., besonders Anm. 541. 74 F R A N K L , Papstschisma (wie Anm. 45), S. 220-231. Vgl. dazu auch P A U L U S , Ablass (wie Anm. 73), S. 227. 75 F R A N K L , Papstschisma (wie Anm. 45), S. 121. schrieb doch schon die Ordensregel, die Regula salvatoris, die Christus selbst der heiligen Birgitta verkündet haben soll, die Predigt in der Volkssprache vor 70 . Weit größeren Anstoß fand bei Schabbe aber der Ablass, von dem Rozenhagen sagt, es sei der gleiche wie der, der an diesem Tag in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom verkündet wird. Das Recht, diesen Ablass zu verkündigen, sei seinem Orden von Christus verliehen und päpstlich bestätigt worden, und könne ihm auch nicht aberkannt werden: Hic hodie esse indulgencias, que sunt in ecclesia beati Petri ad vincula in urbe Romana, ubi est plena remissio omnium peccatorum. … Cum illis vero indulgenciis ordo noster fuit institutus … Et huiusmodi indulgencie sunt nobis et ordini nostro confirmate ab omnibus summis pontificibus … Et eciam illas indulgencias Ihesus Christus salvator noster proprio ore nobis concessit atque dedit. Eapropter illas a nullo umquam papa posse revocari 71 . Der Ablass, auf den hier Bezug genommen wird, ist der St. Peter ad Vincula- Ablass anlässlich des Festtags St. Peter in Ketten am 1. August, auf den auch die Marienwohlder Ereignisse datieren. 1378 hatte Urban VI . dem birgittinischen Mutterkloster in Vadstena das Recht verliehen, diesen vollkommenen Ablass ad instar zu verkündigen, was dort bereits im 14. Jahrhundert zahlreiche Gläubige anzog 72 . 1401 war das Privileg auch auf alle anderen Klöster des Ordens übertragen worden 73 . Dennoch war das Privileg strittig. Das begründet sich zum einen in der Ab‐ lassform selbst: Ad instar-Ablässe im Allgemeinen waren bei den Zeitgenossen nicht unumstritten, machte der leichte Gnadenerwerb doch Buße und Umkehr zunehmend obsolet. 1402 hatte Bonifatius IX . die ad instar-Ablässe revoziert, sie wurden jedoch kurz darauf von Neuem ausgestellt 74 . Noch umstrittener war bei vielen Zeitgenossen aber die Stellung Birgittas und ihres Ordens, wurden ihre Offenbarungen, und damit ihre Heiligkeit, doch von vielen Seiten angezweifelt: Schon vor der päpstlichen Bestätigung des Ablassprivilegs soll Birgitta in einer Vision den St. Peter ad Vincula-Ablass von Christus selbst zugesagt bekommen haben 75 - Zweifel an ihren Offenbarungen ließen folglich auch 295 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="296"?> 76 D O R M E I E R , Marienwohlde (wie Anm. 61), S. 218. 77 P A U L U S , Ablass (wie Anm. 73), S. 228; vgl. dazu auch F L E M M I G , Hagiografie (wie Anm. 36), S. 151. 78 Urkundenbuch der Stadt Lübeck 9: 1451-460, hg. von Johann Friedrich B Ö H M E R / Fried‐ rich T E C H E N , Lübeck 1893, Nr. 699; D O R M E I E R , Marienwohlde (wie Anm. 61), S. 235. 79 P A U L U S , Ablass (wie Anm. 73), S. 227. 80 F R A N K L , Papstschisma (wie Anm. 45), S. 124. 81 K R ÖT Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 132. 82 D E E C K E , Marienwolde (wie Anm. 61), S. 369. an der Rechtmäßigkeit des Privilegs zweifeln. Unter diesen Zweiflern befand sich aus dem unmittelbaren Marienwohlder Umfeld auch der Lübecker Bischof Johannes Schele, der sich auf dem Basler Konzil gegen Birgittas Revelationes ausgesprochen hatte 76 . 1436 annullierte das Konzil die Ablassprivilegien des Ordens schließlich 77 . Dass Rozenhagen drei Jahre später dennoch diesen Ablass in Marienwohlde verkündete, widersprach also dem Konzilsbeschluss. Es ist also kaum verwunderlich, dass die Marienwohlder Ereignisse beim Kleriker Schabbe Empörung hervorriefen, auf die Gläubigen hingegen müssen sie großen Eindruck gemacht haben: Nicht nur die deutsche Predigt, sondern insbesondere die Aussicht auf vollkommenen Strafnachlass waren attraktive Werbemaßnahmen für den Orden. Marienwohlde begegnete dieser Popularität mit der nötigen Infrastruktur: 1459 ist ein Krug belegt, 1584 eine Herberge 78 . Neben Petri Kettenfeier am 1. August gibt es noch weitere Anlässe und Daten, die für den Birgittenorden zentral waren und sich in vielen Konventen zu Wallfahrtsterminen etablierten. So verfügte der Orden seit 1397 auch über das Privileg, den Portiuncula-Ablass zu verkündigen, einen weiteren ad in‐ star-Ablass, der ursprünglich für die Kapelle Santa Maria degli Angeli bei Assisi verliehen worden war. Dieser Ablasstermin fällt auf den 2. August 79 . Auch die Festtage der heiligen Birgitta waren attraktive Wallfahrtstermine. So gewährte Bonifatius IX . 1391 anlässlich Birgittas Kanonisation allen Ordens‐ häusern einen Ablass von sieben Jahren und sieben Quadragenen für den 7. Oktober 80 . In Vadstena wurde ab 1444 jährlich zu Birgittas Todestag am 23. Juli ein Jahrmarkt abgehalten 81 , der zusammen mit dem kurz darauf folgenden Vincula-Ablass natürlich eine doppelte Attraktion darstellte. Für diese Termine sind in Marienwohlde zwar keine Wallfahrten oder größerer Zulauf belegt, dennoch ist anzunehmen, dass auch diese Gelegenheiten von den Gläubigen wahrgenommen wurden. Zumindest die Popularität des Vincula-Ablasses war hier von Dauer. Das belegt eine Nachricht von 1512, als sich pünktlich zum 1. August Pilger in Marienwohlde eingefunden hatten 82 . 296 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="297"?> 83 Vgl. die verzeichneten Zeichen in der Datenbank von https: / / kunera.nl/ (12. April 2021), Nr. 3731-3780, 3821-3826; 11 037-11 040. Zum Zeichen von Vadstena vgl. außerdem Jörg A N S O R G E , Pilgerzeichen aus Vadstena, in: Pilgerspuren. Wege in den Himmel / Von Lüneburg an das Ende der Welt. Doppelausstellung im Museum Lüneburg und den Museen Stade, 26. Juli 2020-16. Mai 2021, hg. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, Kat.-Nr. 7.3.b. Zu Syon vgl. Alexandra D A C O S T A , Reforming printing. Syon Abbey’s defence of orthodoxy 1525-1534 (Oxford English Monographs Series), Oxford 2012, S. 48. 84 Vgl. beispielsweise zwei Birgittendarstellungen aus Vadstena, Aron A N D E R S S O N / Sigurd C U R M A N / Johnny R O O S V A L , Vadstena klosterkyrka. Inredning (Sveriges kyrkor, kons‐ thistoriskt inventarium 2), Stockholm 1983, S. 24 f., 37 f. 85 Mai-Britt W I E C H M A N N , Hl. Birgitta, in: Pilgerspuren (wie Anm. 83), Kat.-Nr. 7.3.d. 86 Hartmut K Ü H N E / Jörg A N S O R G E , Die Pilgerzeichen aus dem Hafen von Stade. Ein Fenster in die unbekannte Wallfahrtsgeschichte des Landes zwischen Weser und Elbe, in: Stader Jahrbuch 106 (2016), S. 11-43, S. 37-41; Jörg A N S O R G E , Pilgerzeichen des Birgittenklos‐ ters Marienwohlde bei Mölln, in: Pilgerspuren (wie Anm. 83), Kat.-Nr. 7.3.c. Das Einzugsgebiet der Wallfahrt - Textquellen und Pilgerzeichenfunde Zeugnis der Popularität der Marienwohlder Wallfahrt sind die Pilgerzeichen. Pilgerzeichen sind aus mehreren Birgittenklöstern überliefert, aus Vadstena, dem dänischen Maribo und dem englischen Syon 83 . Sie sind einerseits ein sicheres Indiz dafür, dass ein Ort über eine regelmäßige Wallfahrt verfügte, und geben andererseits auch Hinweise auf das Einzugsgebiet des Kultes. Für Marienwohlde konnte erst jüngst ein Pilgerzeichen ausgemacht werden: Es zeigt eine Heilige unter gotischer Architektur. Sie trägt einen Schleier, der auf Birgittas Witwenstatus verweist, und ist flankiert von zwei Bäumen, die den topographischen Hinweis im Klosternamen Marienwolde (so die ältere Schreibweise) symbolisieren. Was sie in der Hand hält, ist nicht mehr genau zu erkennen; womöglich handelt es sich aber um ein Buch, wie es häufig bei Birgittendarstellungen vorkommt 84 . (Abb. 7) In seiner Ikonographie weicht das Zeichen ab von den ansonsten recht einheitlichen Zeichen anderer Birgitten‐ klöster, die allesamt das schon bekannte Motiv der Birgitta am Schreibpult zeigen. Stattdessen zeigt es Ähnlichkeit mit einer Holzskulptur aus dem Lübe‐ cker Heilig-Geist-Hospital, die ebenfalls die heilige Birgitta zeigen könnte 85 . Erst der Pilgerzeichenfund im Stader Hafen 2013 ermöglichte eine Zuordnung nach Marienwohlde 86 . 297 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="298"?> 87 1512 werden Pilger aus Hamburg und Lübeck genannt, vgl. D E E C K E , Marienwolde (wie Anm. 61), S. 369. Weitere Hinweise bietet die Testamentsüberlieferung der umliegenden Hansestädte, von der aber nur die Lübecker für Marienwohlde bisher umfassend ausgewertet ist, vgl. D O R M E I E R , Ordensniederlassungen (wie Anm. 61). 88 K Ü H N E / A N S O R G E , Pilgerzeichen (wie Anm. 86), S. 39. Abb. 7: Pilgerzeichen aus Marienwohlde Die Pilgerzeichenfunde und Glockenabgüsse vervollständigen das Bild vom geographischen Einzugsgebiet der Marienwohlder Wallfahrt, das wir aus den spärlichen Schriftquellen gewinnen. Während dort nur Pilger aus Hamburg und Lübeck explizit genannt sind 87 , verweisen die Zeichen auch nach Bremen, Stade, Kloster Wienhausen bei Celle, Stift Bassum bei Bramstedt, Mandelsloh und Salzwedel 88 . Das entspricht einem Einzugsgebiet von 30 bis knapp 200 Kilome‐ tern, allesamt Strecken, die zwischen einem Tag und einer Woche zu bewältigen waren. Marienwohlde fügt sich damit in das Netz der Nahwallfahrtsorte ein, die sich im späten Mittelalter überall in Norddeutschland etablierten. 298 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="299"?> 89 K Ü H N E / A N S O R G E , Pilgerzeichen (wie Anm. 86), S. 37-39. 90 Sunte Birgitten Openbaringhe, Lübeck [Mohnkopf-Offizin] 1496 [GW 4395], 124v-125v. 91 K R Ö T Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 86. Daneben gibt es nur wenige Funde aus entlegeneren Städten, nämlich drei aus Amsterdam und sieben aus Danzig 89 . Da diese Städte ebenfalls zum Hanseraum gehörten und engen Handelskontakt mit den norddeutschen Hansestädten pflegten, ist anzunehmen, dass Geschäftsleute das Kloster auf ihren Handels‐ reisen aufsuchten und die Zeichen mit in ihre Heimat brachten. Wunder in Marienwohlde Nicht nur die Ablässe bewirkten aber diesen Zulauf nach Marienwohlde, sondern auch die Wirkmacht der heiligen Birgitta, die der Konvent gegen Ende des 15. Jahrhunderts noch einmal besonders bewarb. 1496 erschien bei der Lübecker Mohnkopf-Druckerei die niederdeutsche Bearbeitung von Birgittas Revelationes, die Sunte Birgitten Openbaringhe. Wäh‐ rend die lateinische Erstausgabe Marienwohlde nicht unter den Wunderorten der heiligen Birgitta erwähnt hatte, spricht dieses Werk am Ende des dritten Buchs von über 600 Wundern, die sich hier ereignet haben sollen, darunter Heilungen von Tauben, Stummen, Blinden, Lahmen, Hilfe bei Seenot, Fallsucht, Besessenheit und Geburtsproblemen 90 . Lediglich zwei dieser zahlreichen Wunder werden ausführlicher geschildert: Die Tochter des Möllner Vogts Hinrich Honnover soll als junges Mädchen ins Wasser gefallen und jämmerlich ertrunken sein. Als man die Leiche aus dem Wasser gezogen hatte und gerade begraben wollte, erinnerten sich die armen Eltern der heiligen Birgitta und baten sie, ihr Kind wieder zum Leben zu erwecken. Im Gegenzug würden sie das Mädchen in das Kloster geben. Dem geschah auch so. Das andere Wunder handelt von Hans Kerckhoff, der als Kind körperlich so eingeschränkt gewesen sein soll, dass er nur auf Händen und Füßen kriechen konnte. Seine Mutter ging nach Marienwohlde und spendete dort für die heilige Birgitta. Als sie zurückkam, fand sie ihren Jungen gesund und munter mit den anderen Kindern spielen. Als Kerckhoff erwachsen war, trat er in das Kloster ein. Obwohl es nur zwei Wunderberichte sind, die wiedergegeben werden, stehen sie doch beispielhaft für die Wundertätigkeit der heiligen Birgitta. Gerade Totenerweckungen und Wunder an Kindern sind auch in den älteren Vadstenaer Sammlungen besonders häufig vertreten 91 . Die beiden Berichte decken sowohl die Möglichkeit des Distanzmirakels wie im Falle des toten Mädchens als auch des Beistands direkt am Verehrungsort ab, wie bei dem Jungen, dessen Mutter 299 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="300"?> 92 Vgl. Hartmut K Ü H N E , Mirakelbücher, in: Pilgerspuren (wie Anm. 83), S. 66-68; Mai-Britt W I E C H M A N N , Verlorene Mirakelüberlieferung von Marienwohlde, in: ebd., Kat.-Nr. 1.4.c. Zur Überlieferung der Marienwohlder Bibliothek vgl. Joachim S T Ü B E N / Holger R O G ‐ G E L I N , Orate pro patre Seghebando! Zu Herkunft und Bedeutung der Möllner Wie‐ gendrucke, in: Lauenburgische Heimat N. F. 144 (1996), S. 40-59; Kerstin S C H N A B E L , Mittelalterliches Buch- und Bibliothekswesen geistlicher Gemeinschaften in Schleswig und Holstein, in: Klöster, Stifte und Konvente nördlich der Elbe. Zum gegenwärtigen Stand der Klosterforschung in Schleswig-Holstein, Nordschleswig sowie den Hanse‐ städten Lübeck und Hamburg, hg. von Oliver A U G E (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 120), Neumünster 2013, S. 165-216, S. 172 f. 93 Krötzl und Heß zählen für Vadstena um die 140 Berichte, vgl. K R ÖT Z L , Pilger (wie Anm. 34), S. 85, Anm. 122; H E ẞ , Heilige machen (wie Anm. 38), S. 150. 94 Zu Honnover vgl. D O R M E I E R , Ordensniederlassungen (wie Anm. 61), S. 289; zu Kerkhoff vgl. Lübeck, Archiv der Hansestadt Lübeck, Niederstadtbuch 1481 Elisabeth-1489 Div. Apost., 1484 zwischen Matthie Apostoli und Invocavit, 222v f.: Her Fredrick van Hagen prester Hans Kerckhoff conuersus vnde / / begeuen broder to sunte Birgitten vnde leneke blanckenzees vor / / deme Ersamen Rade to lübeke sint erschenen […] nach Marienwohlde geht. Auch wenn nirgendwo explizit von einer Wallfahrt die Rede ist, so belegen die Berichte doch, dass Menschen aus der Umgebung mit ihren Bitten nach Marienwohlde gezogen sind und nach erfolgtem Beistand auch langfristig mit dem Kloster in Kontakt blieben. Dabei lässt die Zahl der geschilderten Wunder auch interessante Schlüsse auf ihre Funktion zu. Auffällig ist das Missverhältnis zwischen der enormen Summe von mehreren hundert summarisch genannten Wundern und den nur zwei aus‐ führlicher referierten Ereignissen. Womöglich berief man sich mit dieser hohen Zahl auf ein älteres handschriftliches Mirakelbuch, das es im Kloster gegeben haben könnte und alle dort geschehenen Wunder verzeichnete - ein solches hat sich aber, wie der Großteil der Marienwohlder Bibliothek, nicht erhalten 92 . Trotzdem macht die enorme Zahl von sechshundert Wundern stutzig, denn auch im Vergleich mit älteren Wundersammlungen anderer Birgittenkonvente, beispielsweise Vadstenas, erscheint sie außergewöhnlich hoch 93 . Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Zahlen zu Werbezwecken „geschönt“ wurden. Gleichzeitig bemühte man sich aber, die Berichterstattung so glaubwürdig wie möglich zu halten. Bewusst wurden zwei Wunder zur ausführlichen Beschreibung ausgewählt, deren Akteure namentlich bekannt waren, dem Kloster nahestanden und auch heute noch historisch nachweisbar sind: Hinrich Honnover, der Möllner Vogt, setzte 1464 ein Testament auf und bedachte darin auch das Kloster mit 100 Mark. Ein Hans Kerckhoff ist 1484 als Konverse in Marienwohlde belegt 94 . Laut den Berichten sollen sowohl Kerkchoff als auch Honnovers Tochter zum Zeitpunkt der Drucklegung noch im Kloster gelebt 300 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="301"?> 95 Vgl. P O W E L L , Birgittines (wie Anm. 67); E. A. J O N E S / Alexandra W A L S H A M , Syon Abbey and its books. Reading, writing and religion, c.1400-1700 (Studies in modern British religious history 24), Woodbridge 2010. Da Costa vermutet, dass kleinere Schriften auch als Pilgersouvenirs während der Wallfahrten verkauft worden sein könnten, vgl. D A C O S T A , Printing (wie Anm. 83), speziell S. 47. haben und dienten damit als „lebender Beweis“ für die Wirkmacht der heiligen Birgitta. Dabei gibt der zweite Wunderbericht uns möglicherweise sogar einen Hin‐ weis auf den Bearbeiter dieses anonymen Drucks. Hans Kerckhoff nämlich soll dat hilge leuent sunte Birgitten vaken vth gheschreuen haben. Es ist daher anzu‐ nehmen, dass das Werk auf Initiative des Marienwohlder Konvents gedruckt wurde. Ausblick: Birgitta für Laien Dieser Druck steht nicht allein. Im ausgehenden 15. Jahrhundert erlebte die Birgitta-Verehrung durch die Erfindung der neuen Buchdrucktechnik eine wahre Blüte. Innerhalb von knapp 20 Jahren erschienen in Lübeck, dem Haupt‐ druckzentrum für Norddeutschland und den skandinavischen Raum, vier ver‐ schiedene Verarbeitungen von Birgittas Schriften und Leben im Druck; neben der lateinischen editio princeps auch die drei mittelniederdeutschen Fassungen, die Elizabeth Andersen bereits eingeführt hat. Mit ihren unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen wenden sich die Bearbeitungen an unterschiedliche volkssprachliche Publikumskreise und erreichen damit ein stetig wachsendes, vor allem laikales Publikum. Dabei war es Birgittas eigene Vielfalt, die diese vielseitigen Zugriffe erlaubte. Für die lateinische Erstausgabe von 1492 und den Mohnkopf-Druck von 1496 konnte bereits ein direkter Zusammenhang zu den Birgittenkonventen in Vadstena und Marienwohlde ausgemacht werden. Damit stehen sie keines‐ wegs allein unter den Klöstern des Ordens, denn auch die englische Syon Abbey wusste den Buchdruck schon früh für ihre Zwecke zu nutzen 95 . Ob die beiden anderen niederdeutschen Bearbeitungen ebenfalls im Auftrag von Birgittenklöstern gedruckt wurden, ist nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass der Marienwohlder Konvent sich mit dieser Maßnahme aktiv bemühte, die Popularität des Klosters, des Ordens und insbesondere seiner Patronin zu befördern. Gerade die neue Buchdrucktechnik erwies sich als probates Mittel, um die Popularität der Heiligen neuen Publikumskreisen zugänglich zu machen und damit auch die Wallfahrt anzukurbeln. Diese Popularität war allerdings nicht mehr von langer Dauer: Der letzte Beleg für eine Wallfahrt nach Marienwohlde datiert auf 1512, als der lauenbur‐ 301 Birgittaverehrung in (Nord-)Deutschland <?page no="302"?> 96 D O R M E I E R , Ordensniederlassungen (wie Anm. 61), Anhang I, S. 311 ff. 97 http: / / www.jakobsweg-pilgerweg.de/ pilgerwege/ birgittaweg.html (17. März 2021). Bei dem Wegverlauf handelt es sich freilich um eine Annäherung; Birgittas genaue Reise‐ route ist nicht überliefert. gische Herzog die Ablassverkündigung mit einem seiner zahlreichen Übergriffe störte. Ob die Wallfahrt bereits zu diesem Zeitpunkt endete oder doch erst mit der Reformation, wie die anhaltenden Stiftungen in den Lübecker Testamenten bis in die frühen 1530er Jahre zeigen, bleibt allerdings ungewiss 96 . 3. Fazit Sie pilgert - und andere pilgern zu ihr, sie ist Pilgerin und Pilgerziel. Die heilige Birgitta von Schweden ist das Musterbeispiel einer spätmittelalterlichen Wallfahrerin: Sie kennt nicht nur die drei großen Pilgerziele der Christenheit, sondern ihre Reisen führen sie auch an und durch zahlreiche regionalere Wallfahrtsorte, auch in Norddeutschland. Dabei sind es vor allem ihre Offenbarungen, die sie an diesen heiligen Stätten erhält - wenn sie sie im Geiste aufsucht oder wenn sie körperlich dorthin pilgert -, die ihre Heiligkeit begründen und sie berühmt werden lassen. In den bildlichen Darstellungen ist Birgitta sowohl Pilgerin als auch Schreibende. Erst durch ihre Pilgerschaft wird sie überhaupt zur Autorin - auch wenn die Autorschaft in den Bildwerken zunehmend in den Vordergrund tritt, geht ihr Pilgerdasein also nie verloren. In Norddeutschland wird sie von der Pilgerin zur Bepilgerten. Bereits wenige Jahre nach ihrem Tod setzt hier ihre Verehrung ein, Birgitta wird schnell selbst zum Wallfahrtsziel gemacht. Dabei sind es nicht nur die Klöster ihres Ordens wie Marienwohlde, sondern auch unabhängige Orden und Einzelpersonen wie die Zisterzienser in Zinna und die beiden Einsiedler in Flensburg, die das Potential der neuen Heiligen erkennen und zur Verbreitung ihres Kults beitragen. Ende des 15. Jahrhunderts wird der Buchdruck zum Mittel der Kultverbreitung und trägt die Verehrung Birgittas in neue Kreise. Mehr als 500 Jahre später rückt Birgitta in Norddeutschland wieder in den Fokus: Moderne Birgittarezeption wie der Birgitta-Pilgerweg 97 , der entlang des Jakobswegs von Sassnitz auf Rügen nach Lüneburg verläuft, und die Aufarbeitung ihres historischen Wirkens und Nachwirkens wie jüngst in den Ausstellungen in Lüneburg und Stade lassen Birgittas „Pilgerspuren“ in Nord‐ deutschland wieder sichtbar werden. 302 Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann <?page no="303"?> 1 Vgl. Renate S A M A R I T E R / Torsten R Ü T Z / Maria A L B R E C H T , Kurze Fundberichte 2014, Greifswald, Hansestadt, Lkr. Vorpommern-Greifswald, Fpl. 214, in: Jahrbuch für Boden‐ denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern 62 (2014), S. 372-397, hier S. 392. Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? Sachkultur und Quellenbefunde im Dialog Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne I. Einleitung Der Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegungen sind drei auf den ersten Blick unscheinbare archäologische Funde, deren Herkunftsorte - zu‐ mindest teilweise - scheinbar geklärt waren. Zweifel an diesen vermeintlich sicheren Deutungen führten schließlich zu einer umfangreichen Recherche, deren überraschendes Ergebnis einen geographischen Raum in den Fokus der Wallfahrtsforschung stellt, der bisher wenig beachtet wurde. Bei archäologischen Untersuchungen im Norden der Greifswalder Altstadt wurde 2015 ein als „fragmentiertes Kruzifix“ angesprochener Blei-Zinn-Guss entdeckt. Das Kruzifix ließ sich zunächst weder vollständig rekonstruieren noch einem bekannten Herkunftsort dieser Zeit zuordnen. Ein fragmentierter spitz ovaler Blei-Zinn-Guss, ebenfalls bei der oben genannten archäologischen Untersuchung entdeckt, ist zunächst als Pilgerzeichen aus dem südfranzösi‐ schen Wallfahrtsort Rocamadour identifiziert worden 1 . So schien ein Fragment verortet und das Kruzifix wurde als rätselhafter Fund verpackt. Ähnlich ging es einem in der Hansestadt Rostock bei Ausgrabungen gefundenen nimbierten <?page no="304"?> 2 Peter K A U T E / Torsten R Ü T Z / Janine Z O R N , Kurze Fundberichte 2017, Rostock, Hanse‐ stadt, Flurbezirk I, Fpl. 523, in: Jahrbuch für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vor‐ pommern 65 (2017), S. 372-379, hier S. 378. 3 Hendrik J. E. V A N B E U N I N G E N / Adrianus M. K O L D E W E I J / Dory K I C K E N u. a., Heilig en Pro‐ faan 3: 1300 laatmiddeleeuwse insignes uit openbare en particuliere collectie (Rotterdam papers 13), Langbroek 2012, S. 200, Afb. 2580. 4 Eine fragmentierte Figur des Johannes stammt aus der Hansestadt Stralsund, vgl. Jörg A N S O R G E , Kurze Fundberichte 2014, Fpl. 404, in: Jahrbuch für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern 62 (2014), S. 450-459, hier S. 454. Ein fast vollständig erhaltenes mandorlaförmiges Christuszeichen wurde in der Hansestadt Rostock ge‐ funden, vgl. K A U T E / R Ü T Z / Z O R N , Kurze Fundberichte 2017 (wie Anm. 2), S. 373, S. 376 Abb. 358,4, sowie eines in der Hansestadt Greifswald, vgl. Cathrin S C H Ä F E R / Heiko S C H Ä F E R / Janine Z O R N , Kurze Fundberichte 2014, Greifswald, Hansestadt, Lkr. Vorpom‐ mern-Greifswald, Fpl. 197, in: Jahrbuch für Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vor‐ pommern 62 (2014), S. 358-366, hier S. 359, S. 361 Abb. 247. Für Literaturhinweise sei an dieser Stelle herzlich Jörg Ansorge (Horst) gedankt. 5 Den Kirchengemeinden, -mitgliedern und Pfarrern gilt hier besonderer Dank. Die Besichtigung der Glocken und Tauffünten wurde durch ihr freundliches Entgegen‐ kommen erst ermöglicht. Der Zugang zu den Bronzewerken, oft beschwerlich in den Glockentürmen, war begleitet von herzlichen Gesprächen und fachlichen Diskussionen bis hin zu waghalsigen und akrobatischen Einsätzen. 6 Vgl. Renate S A M A R I T E R , Pilgerzeichen und religiöse Zeichen aus Greifswald, in: Trage‐ zeichen. Social Media des Mittelalters, hg. vom Europäischen Hansemuseum Lübeck, Lübeck 2020, S. 422-495, hier S. 462-466. Marienhaupt 2 , das aufgrund eines fast identischen Fundes aus Dordrecht Rom zugeordnet wurde 3 . Literaturhinweise, -recherchen und weitere in Mecklenburg-Vorpom‐ mern entdeckte Zeichen 4 waren Anlass für eine Neubewertung der drei Blei-Zinn-Güsse. Abgüsse auf Bronzefünten und -glocken erwiesen sich als ergiebiges Vergleichsmaterial. In der Literatur sind Bronzewerke mit ihren Re‐ liefs oft detailliert beschrieben und abgebildet. Die Autopsie einiger Glocken und Tauffünten vor Ort erschien dennoch notwendig. Die Recherchen umfassten den Besuch von 28 Kirchen in Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Dort wurden Abgüsse von Pilgerzeichen, religiösen und profanen Zeichen auf 26 Glocken und 5 Erztaufen dokumentiert 5 . Mit der erneuten Überprüfung konnte das Kruzifix nun als Teil einer Kreu‐ zigungsgruppe sowie das zunächst Rocamadour zugewiesene fragmentierte Pilgerzeichen als Teil eines mandorlaförmigen Zeichens mit Christus als Welten‐ richter identifiziert werden 6 . Das in der Hansestadt Rostock entdeckte nimbierte Marienhaupt ist Teil einer thronenden Madonna. Die nachfolgenden Überlegungen gehen davon aus, dass die Kreuzigungs‐ gruppe, das Marien- und Christuszeichen die Funktion von Pilgerzeichen hatten. Möglich erscheint aber auch, dass es sich um eine andere Form von 304 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="305"?> Devotionalien handelt, die möglicherweise ortsgebunden wie Pilgerzeichen waren, möglicherweise aber auch nicht ortsgebunden hergestellt und vertrieben wurden. Die Frage, was für eine Interpretation als Pilgerzeichen spricht und was dagegen, soll am Ende nochmals aufgenommen werden. Im Zuge der Recherchen konnten den Funden von der südlichen Ostsee‐ küste weitere Originalzeichen sowie Abgüsse auf Glocken und Erzfünten zur Seite gestellt werden. Aus dem Verbreitungsmuster der Zeichen und deren Systematisierung lassen sich Rückschlüsse auf deren Herkunft ziehen. Das geo‐ grafische Zentrum der Zeichen der Kreuzigungsgruppe und der Marienzeichen liegt östlich und westlich der Saale im nördlichen Harzvorland. Nach einer tastenden Überlegung von Hartmut Kühne wurde in diesem geografischen Umfeld der Halberstädter Dom und die Liebfrauenkirche als Wallfahrtsstätten in Betracht gezogen. Repräsentieren die Zeichen die Triumphkreuzgruppe im Halberstädter Dom und ein marianisches Gnadenbild der Liebfrauenkirche? Die hier vorgelegte gemeinsame Neubewertung der materiellen und schriftlichen Quellenüberlieferung soll dieser Frage nachgehen. II. Der materielle Befund Die Kreuzigungsgruppen Die einer Autopsie unterzogenen Bronzewerke wurden zwischen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und der Mitte des 15. Jahrhunderts geschaffen und sind mit einer Vielzahl von Reliefs verziert. Besonderes Interesse galt den mit Kreuzigungsgruppen versehenen Glocken und Tauffünten. Die Kreuzigungs‐ gruppen liegen in verschiedenen Varianten vor. Für deren Systematisierung bot sich die unterschiedliche Form des Kreuzes an. Eine Einteilung erfolgte in drei Gruppen: Gruppe lateinisches Kreuz, Gruppe Krückenkreuz und Gruppe Klee‐ blattkreuz. Die Gruppen lateinisches Kreuz und Kleeblattkreuz sind jeweils noch in einen schmalen und einen gedrungenen Typ weiter unterteilt worden. Diese zusätzliche Unterteilung erfolgte auf Grund der namengebenden Darstellung der Figuren. Hinzu kommen vier weitere seltene und singuläre Typen aus der Gruppe Kleeblattkreuz. Gruppe lateinisches Kreuz Die Gruppe lateinisches Kreuz mit beiden Typen ist bisher für Sachsen-Anhalt als Abguss auf sechs Glocken und für Niedersachsen mit einem Originalzei‐ 305 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="306"?> 7 Horst A P P U H N , Kloster Wienhausen 4: Der Fund vom Nonnenchor, Wienhausen 1973, S. 49-52. 8 Die Glocke befindet sich im Vorraum der Hospitalkapelle des ehemaligen prämonstra‐ tensischen Stiftes Gratia Dei. 9 Für die Datierung der Glocken wird auf die Richard-Heinzel-Kartei (künftig zitiert als RHK mit Karteikartennummer) zurückgegriffen. Die Glocke in Gottesgnaden datiert um 1320-1350 (RHK 1240), Großpaschleben Anfang 14. Jahrhundert (RHK 1230) und Reppichau ebenfalls Anfang 14. Jahrhundert (RHK 1218). 10 Zu den Marienzeichen siehe unten. 11 Die Datierung der Glocke in Aderstedt wird mit um 1300 (RHK 1255), der Glocken in Quellendorf (RHK 1217) und Wartenburg (RHK 1040) mit erster Hälfte 14. Jahrhundert angegeben. 12 Abgebildet werden hier die sehr detaillierten Reliefs der Wartenburger Glocke. 13 Das Relief des Falkners erinnert sehr an eine bildliche Darstellung der Vogelpredigt; eine der bekanntesten Legenden über Franz von Assisi. Jedoch ist die Figur ohne Nimbus dargestellt und wird daher als Falkner angesprochen. chenfragment im Kloster Wienhausen vertreten (Abb. 1) 7 . Beide Typen der Gruppe datieren in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Gruppe lateinisches Kreuz schmaler Typ Abgüsse der Gruppe lateinisches Kreuz schmaler Typ befinden sich auf der Glocke in der Hospitalkirche Gottesgnaden ( OT Calbe [Saale], Salzlandkreis, Abb. 2) 8 , auf der großen Glocke in der Evangelischen Kirche Großpaschleben (Gemeinde Osternienburger Land, Lkr. Anhalt-Bitterfeld, Abb. 3) und auf der Glocke in der Evangelischen Kirche Reppichau (Gemeinde Osternienburger Land, Lkr. Anhalt-Bitterfeld, Abb. 4) 9 . Alle drei Abgüsse sind sehr wahrschein‐ lich modelgleich, ein genauer Abgleich ist jedoch auf Grund ihres Erhaltungszu‐ standes schwierig. Auf den drei Glocken werden die Abgüsse der Kreuzigungs‐ gruppe von identischen Marienzeichen begleitet 10 . Gruppe lateinisches Kreuz gedrungener Typ Abgüsse der Gruppe lateinisches Kreuz gedrungener Typ befinden sich auf der Glocke in der St. Pauluskirche Aderstedt ( OT Bernburg, Salzlandkreis, Abb. 5), auf der großen Glocke der Christophoruskirche in Quellendorf ( OT Südliches Anhalt, Lkr. Anhalt-Bitterfeld, Abb. 6) und auf der großen Glocke in der St. Petri Kirche Wartenburg ( OT Kemberg, Lkr. Wittenberg, Abb. 9) 11 . Die drei Glocken sind mit modelgleichen Abgüssen der Kreuzigungsgruppe, eines stehenden Petrus (Abb. 7) und der Johannesfigur aus der Kreuzigungsgruppe (Abb. 10) verziert 12 . In Quellendorf tritt zusätzlich eine Marienfigur aus der Kreuzigungsgruppe (Abb. 8) und in Wartenburg noch die Darstellung eines Falkners (Abb. 11) hinzu 13 . 306 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="307"?> 14 Nach RHK 1184 datiert die Glocke in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. 15 Friedrich Winfrid S C H U B A R T , Die Glocken im Herzogtum Anhalt. Ein Beitrag zur Geschichte und Altertumskunde Anhalts und zur allgemeinen Glockenkunde, Dessau 1896, S. 505-507. Der 1896 erschienene Beitrag von Schubart über die Glocken im Herzogtum Anhalt umfasst ein Glockeninventar, das heute durch Kriegsverluste dezi‐ miert ist. Die Datierungen der Glocken und die Detailgenauigkeit der Zeichnungen der Glockenzier sind jedoch kritisch zu hinterfragen. Ein Abguss der Kreuzigungsgruppe lateinisches Kreuz gedrungener Typ ziert auch eine Glocke in der St. Michael Kirche in Zeitz (Lkr. Burgenlandkreis). Da eine Autopsie der Glocke noch aussteht, kann nur vermutet werden, dass es sich um einen identischen Abguss handelt 14 . Die Glocke des ehemaligen Augustinereremitenklosters in Zerbst (Lkr. Anhalt-Bitterfeld) ist mit fünf Ab‐ güssen versehen 15 . Es handelt sich dabei um den Falkner, der auch die Glocke in Wartenburg ziert, sowie um die Marien- und Johannesfigur aus der Kreuzi‐ gungsgruppe lateinisches Kreuz gedrungener Typ. Die beiden anderen Abgüsse deutete F R I E D R I C H W IN F R ID S C H U B A R T als Siegel der Edelfrau Ida von Zerbst und als Figur des hl. Benedictus. Der Verbleib der Glocke ist bislang unklar. Bronzegießer und -werkstätten verwendeten die ihnen zur Verfügung ste‐ henden Originalzeichen zur Verzierung von Tauffünten und / oder Glocken häufig mehrfach. Von den Auftraggebern gestiftete Pilgerzeichen, religiöse und auch profane Zeichen kamen in einigen Fällen hinzu. Identische Zeichen lassen sich mit Gussmodeln oder auch mit der Abformung von einem Originalzeichen herstellen. Durch Abformungen von Originalzeichen waren Zierelemente für Bronzeobjekte leicht verfügbar sowie mehrfach und kostengünstig herstellbar. Als Vorlage für die Zier der Glocken aus Gottesgnaden, Großpaschleben und Reppichau diente eine Kreuzigungsgruppe lateinisches Kreuz schmaler Typ sowie eine Marienfigur, die jeweils dreimal genutzt wurden. Für die Abgüsse auf den Glocken in Aderstedt, Quellendorf und Wartenburg wurde eine Kreu‐ zigungsgruppe lateinisches Kreuz gedrungener Typ sowie das Zeichen eines stehenden Petrus dreimal und die Johannesfigur aus der Kreuzigungsgruppe zweimal genutzt. Hier zeichnen sich zwei Gruppen von Glocken mit identischen Verzierungen ab, die innerhalb eines relativ engen Zeitraumes gegossen wurden (Abb. 12). Wahrscheinlich gehören die Glocken aus Gottesgnaden, Großpasch‐ leben und Reppichau zum Opus eines Meisters, die Glocken aus Aderstedt, Quellendorf und Wartenburg zu dem eines anderen Meisters. 307 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="308"?> 308 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="309"?> 309 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="310"?> 16 Die kleine Taufglocke in Jeßnitz (RHK 1208) wurde Ende des 13. Jahrhunderts, die Wiesenburger Glocke um 1250 (RHK 1584) gegossen. Hier wird nur ein Abguss des Krückenkreuzes abgebildet, da der zweite Abguss undeutlich abgeformt ist. 17 Gösta Ditmar-Trauth, Der Magdeburger Gießformenfund, in: Daniel B E R G E R / Gösta D I T M A R -T R A U T H / Christian-Heinrich W U N D E R L I C H , Der Magdeburger Gießformenfund. Herausragendes Zeugnis handwerklicher Zinngießer in einer mittelalterlichen Me‐ tropole (Veröffentlichungen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt - Landesmuseum für Vorgeschichte 76), Halle 2020, Bd. 1, S. 21-58, hier S. 21, 24-30. 18 Die Ausgrabung Hansestadt Greifswald, Quartier A 11, leiteten von 2014 bis 2017 mit bautechnisch bedingten größeren zeitlichen Unterbrechungen im Auftrag des LAKD M-V Maria Albrecht (Halle) und die Verfasserin. Die bauhistorischen Untersuchungen nahm Torsten Rütz (Greifswald) vor. Ihnen und dem gesamten Grabungsteam sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Gruppe Krückenkreuz Die Gruppe Krückenkreuz ist selten vertreten (Abb. 13) und kommt als Abguss auf der kleinen Taufglocke in der Marienkirche Jeßnitz ( OT Raguhn-Jeßnitz, Anhalt, Abb. 14) und auf der großen Glocke in der St. Marienkirche Wiesen‐ burg / Mark (Lkr. Potsdam-Mittelmark, Abb. 15, 16) jeweils zweimal vor 16 . Diese Gruppe datiert von um 1250 bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. In Magdeburg, Regierungsstraße 6, wurde ein etwa 450 Model umfassender Komplex einer Gießerwerkstatt entdeckt, die in der Zeit vor 1284 aufgegeben wurde 17 . Darunter befindet sich ein Model, mit dem Blei-Zinn-Güsse hergestellt werden konnten, die der Kreuzigungsgruppe Typ Krückenkreuz sehr ähneln. Möglicherweise wurden die Originale für die Abgüsse auf den Glocken in Jeßnitz und Wiesenburg in Magdeburg gefertigt. Die Ähnlichkeit der Modelgravur mit den Glockenabgüssen in Jeßnitz und Wiesenburg sowie deren zeitnahes Vorkommen lässt dies zumindest vermuten. Gruppe Kleeblattkreuz Die dritte Gruppe, die zentral von einem Kleeblattkreuz geprägt wird, tritt am häufigsten auf und ist am weitesten verbreitet. Der in der Hansestadt Greifswald entdeckte Blei-Zinn-Guss (Abb. 17) zeigt den nimbierten Christus mit nach links geneigtem Haupt detailliert darge‐ stellt 18 . Die Kreuzbalken sind am Rand mit zwei Linien eingefasst, rechts befindet sich ein Mond (Vollmond) und links die Sonne. Die Himmelsgestirne sind mit relativ einfach gestalteten Gesichtern versehen. Über dem Haupt des Gekreu‐ zigten erscheint die Inschrift I A Ω, wobei die beiden letzten Buchstaben um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht auf der Seite liegen. Darüber steht eine Raute mit gleichschenkligem Kreuz, dessen Enden verdickt sind. Das Rau‐ tenmotiv, ohne Kreuz, wiederholt sich in den kleeblattförmigen Kreuzenden 310 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="311"?> 311 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="312"?> 19 Das fragmentierte Zeichen stammt aus der Baugrube eines eingetieften Holzgebäudes, das nach den dendrochronologischen Untersuchungen 1287 +/ - 10 Jahre errichtet wurde. Die dendrochronologischen Untersuchungen am Deutschen Archäologischen Institut (Berlin) nahm Dr. Karl-Uwe Heußner vor, dem hier herzlich gedankt sei. 20 Auf der Glocke befinden sich weiterhin Abgüsse von vier Brakteaten, die jeweils seitlich der Kreuzigungsgruppen angebracht sind. Hans-Dieter Dannenberg und Wilko Krone (Beelitz) sei an dieser Stelle für Ihre Hinweise zu den Brakteaten herzlich gedankt. Für eine Typisierung der Münzen erwiesen sich die Abgüsse als zu undeutlich ausgeformt. 21 Zu Verlust und Beschreibung der Glocke vgl. DI 64, Querfurt, Nr. 21† (Ilas B A R T U S C H ), in: www.inschriften.net, urn: nbn: de: 0238-di064l002k0002109. 22 Beide Glocken gingen während des Zweiten Weltkrieges durch ein Bombardement der Stadt Zerbst verloren. 23 Die beiden Glocken datieren in die Zeit um 1330 / 50, vgl. S C H U B A R T , Glocken (wie Anm. 15), S. 498-501, Abb. 248-251. unter den Händen Christi. Das Kruzifix ist Teil einer Kreuzigungsgruppe, die mittig Christus im Viernageltypus darstellt, der links von Johannes, rechts von Maria flankiert wird 19 . Auf der oben erwähnten Glocke in Wiesenburg / Mark befinden sich außer den vorgestellten zwei Abgüssen aus der Gruppe Krückenkreuz auch zwei identische Abgüsse der Gruppe Kleeblattkreuz schmaler Typ (Abb. 18, 19). Beide Gruppen traten demnach zeitgleich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf 20 . Die verlorene Glocke der Kirche St. Petri in Gatterstädt ( OT Querfurt, Saalekreis) war mit einem Kleeblattkreuz geschmückt. Die Beschreibung des Abgusses erlaubt jedoch keine Einordnung in eine der Gruppen 21 . Gruppe Kleeblattkreuz schmaler Typ Zwei modelgleiche Abgüsse (Abb. 20, 21) der Gruppe Kleeblattkreuz schmaler Typ zieren die Glocke in der St. Petrus und St. Paulus Kirche in Kermen (Lips, Lkr. Anhalt-Bitterfeld). Unter Berücksichtigung des Erhaltungszustandes des Originalzeichens scheinen die Abgüsse mit dem Greifswalder Fund identisch zu sein. Mit einer Variante der Kreuzigungsgruppe waren zwei Glocken der St.-Bar‐ tholomäi-Kirche in Zerbst (Lkr. Anhalt-Bitterfeld) versehen 22 . Diese Variante zeigt statt der Himmelsgestirne Engel auf den Kreuzbalken. Die große Uhrglocke war mit vier Abgüssen dieser Variante geschmückt. Zwei zeigten das vollstän‐ dige Pilgerzeichen (Abb. 22), bei dem dritten Abguss fehlen die Himmelsge‐ stirne / Engel auf dem Kreuzbalken, bei dem vierten die Figur des Johannes auf der rechten Seite (Abb. 23). Auf der Läuteglocke befand sich nur das Kruzifix der Kreuzigungsgruppe als Abguss (Abb. 24) 23 . Auch die Glocke der Kirche in Pötnitz ( OT Mildensee, Dessau-Roßlau) ist mit zwei identischen Reliefs der Kreuzigungsgruppe schmaler Typ, mit Engeln 312 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="313"?> 24 Seitlich der Kreuzarme befinden sich undeutlich abgeformte Brakteaten. Nach Schubart datiert die Glocke Mitte des 14. Jahrhunderts, vgl. S C H U B A R T , Glocken (wie Anm. 15), S. 399-401. 25 Nach RHK 1140 datiert die Glocke um 1300. 26 Vgl. A N S O R G E , Kurze Fundberichte 2014 (wie Anm. 4), S. 453 f. Datiert wird die fragmen‐ tierte Figur des Johannes Ende des 13. bis 14. Jahrhundert. 27 Michaela Maria S C H I M M E R , Mittelalterliche Pilgerzeichenfunde zwischen Kongeå und Elbe. Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des Grades eines Magister Artium (M. A.) der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel 2011, S. 84. Das Zeichen wird in das Spätmittelalter datiert und als Heiliger angesprochen. 28 Susanne K Ä H L E R , Lüneburg - Ausgangspunkt für die Verbreitung von Bronzetaufbe‐ cken im 14. Jahrhundert, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 32 (1993), S. 9-49, hier S. 31, Abb. 23. 29 K Ä H L E R , Lüneburg (wie Anm. 28), S. 29, datiert die Bronzetaufbecken der Lüneburger Michaeliskirche und Nikolaikirche, der Soltauer St. Johanneskirche und die Taufe aus Embsen in die Zeit um 1350. auf den Kreuzbalken (Abb. 25, 28) versehen 24 . Wahrscheinlich war auch die Glocke der Kirche in Döbris (Burgenlandkreis) mit zwei Reliefs dieser Variante geschmückt. Der Ort Döbris musste dem Tagebau Pirkau weichen und wurde 1967 devastiert. Der Verbleib der Glocke ist unklar. Die Wiedergabe des Glo‐ ckenschmucks auf der Karteikarte Nr. 1140 ist undeutlich, ein genauer Vergleich daher nicht möglich 25 . Die in den Hansestädten Stralsund (Abb. 26) 26 und Lübeck (Abb. 27) 27 gefun‐ denen Originalfragmente sind modelgleich und gehören zu einer weiteren Variante. Auf dem Bodenring der inschriftlich in das Jahr 1424 datierten Bronzetaufe der St. Jürgen Kirche in Gettorf (Kreis Rendsburg-Eckernförde) befindet sich das bisher jüngste Zeichen (Abb. 29) des schmalen Typs. Ab der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts treten in Niedersachsen Abgüsse des schmalen Typs auf. Die Bronzetaufe in der Klosterkirche St. Mauritius in Ebstorf (Lkr. Uelzen) ist mit insgesamt 21 Reliefs reich verziert. Inschriftlich wurde die Fünte 1310 von Meister HERMAN gegossen. Unter den Reliefs befindet sich eine Kreuzigungs‐ gruppe schmaler Typ (Abb. 30). Die Bronzetaufe aus der Katharinenkirche in Embsen (Lkr Lüneburg, Niedersachsen), heute im Besitz des Pariser Musée na‐ tional du Moyen Âge, ist mit 15 Abgüssen, darunter mit der Kreuzigungsgruppe, geschmückt, die identisch mit der Kreuzigungsgruppe auf der Ebstorfer Taufe ist 28 . Das Taufbecken in der Lüneburger St. Nikolaikirche stammt ursprünglich aus der 1639 abgetragenen St. Cyriakuskirche. Es ist wie die Tauffünte aus Ebstorf mit 21 Reliefs reich verziert. Die beiden Abgüsse des schmalen Typs auf dieser Tauffünte sind identisch (Abb. 31, 32) 29 . Die Glocke der ehemaligen Klosterkirche St. Johannes des Täufers in Oldenstadt ( OT Uelzen, Lkr. Uelzen) 313 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="314"?> 30 Hermann W R E D E , Die Glocken der Stadt Lüneburg, in: Lüneburger Museumsblätter 1 (1904), S. 46-48. Hermann Wrede bezieht sich auf die Beschreibungen und Zeich‐ nungen von Ludwig Albrecht G E B H A R D I , Auszüge und Abschriften von Urkunden und Handschriften, welche das Fürstentum Lüneburg betreffen (Collectanea 1762-1798), Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek, MS XXIII, 1-15,3 (1763). 31 Zu den Reliefs und der Datierung der Erzfünte vor 1330 vgl. Hansjörg R Ü M E L I N , Vermehrt, vernichtet, verstreut - Die Ausstattung von St. Michaelis IV in Lüneburg bis 1852, in: Das Benediktinerkloster St. Michaelis in Lüneburg. Bau, Kunst, Geschichte. Festschrift anlässlich der 600. Wiederkehr der Weihe des Langhauses am 11. Juli 1418, hg. von Hansjörg R Ü M E L I N , Berlin 2018, S. 339-393, hier S. 360-363. Für die freundlichen Hinweise zur Erzfünte sei Hansjörg Rümelin herzlich gedankt. 32 Albert M U N D T , Die Erztaufen Norddeutschlands von der Mitte des XIII. bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Erzgusses (Kunstwissen‐ schaftliche Studien 3), Leipzig 1908, S. 29. 33 Jörg Richter, Klosterkammer Hannover, sei an dieser Stelle für anregende Hinweise herzlich gedankt. 34 Zu den Marienzeichen siehe unten. ist mit sechs Abgüssen versehen, darunter mit zwei modelgleichen Abgüssen der Kreuzigungsgruppe schmaler Typ (Abb. 33, 34). Die Glocke und die Tauffünte der Lüneburger Kirche St. Michaelis sind leider verloren. H E R MAN N W R E D E30 beschreibt die 1325 von Meister OLRICUS geschaffene Glocke mit ihren vier Reliefs detailliert, darunter befand sich auch ein Relief der Kreuzigungsgruppe schmaler Typ. Die verlorene Tauffünte der Michaeliskirche war mit 60 Reliefs versehen. Nach den Zeichnungen von L U DWI G A L B R E C HT G E B HA R DI gehörten zum Bildprogramm auch zwei Abgüsse der Kreuzigungsgruppe schmaler Typ 31 . Ebenso trug die verlorene Erzfünte aus der St. Johanniskirche Soltau (Lkr. Heidekreis) nach den detaillierten Beschrei‐ bungen A L F R E D M U N D T S die Kreuzigungsgruppe des schmalen Typs 32 . Bei den oben genannten niedersächsischen Zeichen fehlen die Symbole auf den Kreuzarmen. Die Abgüsse der Kreuzigungsgruppe auf der Ebstorfer Taufe und der Glocke in Oldenstadt weisen an den Kreuzbalken Spuren einer Nachbearbeitung auf. Vermutlich waren die Symbole schon am Originalzeichen verlorengegangen 33 . Modelgleich sind die Abgüsse der Kreuzigungsgruppe schmaler Typ auf den Erztaufen in Ebstorf, Embsen und der Lüneburger Nikolaikirche sowie auf der Oldenstadter Glocke. Wahrscheinlich waren auch die Glocke und die Fünte der Lüneburger Michaeliskirche und die Soltauer Fünte mit identischen Reliefs verziert. Das Bildprogramm der Bronzewerke im Lüneburger Raum wird geprägt durch Abgüsse der Kreuzigungsgruppe. Sehr häufig vertreten sind drei weitere Reliefs: ein Marienzeichen 34 , ein Kölner Pilgerzeichen der Heiligen Drei Kö‐ 314 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="315"?> 315 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="316"?> 316 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="317"?> 317 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="318"?> 35 Das Zeichen entspricht dem Typ B Ia und datiert 1300-1325. Vgl. Andreas H A S S I S -B E R N E R / Jörg P O E T T G E N , Die mittelalterlichen Pilgerzeichen der Heiligen Drei Könige. Ein Beitrag von Archäologie und Campanologie zur Erforschung der Wallfahrt nach Köln, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 30 (2002), S. 173-202, hier S. 179, 185, 186. 36 Auf der Erztaufe der Nikolaikirche Lüneburg ist außer ‚unserem‘ Marienzeichen ein Marienzeichen aus Aachen abgegossen. Das Pilgerzeichen vom Typ B datiert um 1300 bis 1350. Vgl. Jan H R D I N A / František K O L ÁŘ / Barbara M A R E T H O V Á / Aleš M U D R A / Pavla S K A L I C K Á / Hana F. T E R Y N G E R O V Á , Neue Pilgerzeichenfunde aus Opava (Troppau) und die Typologie der älteren Aachener Pilgerzeichen im Kontext der Zeugnisse zur Aachenfahrt aus den böhmischen Ländern im 14. Jahrhundert, in: Wallfahrer aus dem Osten. Mittelalterliche Pilgerzeichen zwischen Ostsee, Donau und Seine, hg. von Hartmut K Ü H N E / Lothar L A M B A C H E R / Jan H R D I N A (Europäische Wallfahrtsstudien 10), Frankfurt am Main 2013, S. 321-359, hier S. 349 f. Die Soltauer Erzfünte war ebenfalls nach den Beschreibungen Alfred Mundts mit einem Kölner Pilgerzeichen der Heiligen Drei Könige geschmückt, vgl. M U N D T , Erztaufen (wie Anm. 32), S. 29. Es handelte sich hier jedoch um den Typ B Ib, der zwischen 1350 und 1400 datiert, vgl. H A S S I S -B E R N E R / P O E T T G E N , Pilgerzeichen (wie Anm. 35), hier S. 179, 186 f. Anhand der Datierung der Pilgerzeichen ist die Soltauer Erzfünte wesentlich jünger als die Ebstorfer Fünte von 1310 und die Glocke der Michaeliskirche von 1325. Vgl. K Ä H L E R , Lüneburg (wie Anm. 28), S. 29. 37 Anhand des Kölner Pilgerzeichens der Heiligen Drei Könige wird die Oldenstadter Glocke in den Zeitraum um 1300 bis 1325 datiert. Zum Kölner Pilgerzeichen vgl. H A S S I S -B E R N E R / P O E T T G E N , Pilgerzeichen (wie Anm. 35), S. 179, 185 f. nige 35 und eine quadratische Plakette mit einer Majestas Domini umgeben von vier Evangelistensymbolen. Ein modelgleiches Marienzeichen ziert die Erz‐ taufen in Ebstorf, Embsen, der Lüneburger St. Nikolaikirche und die Glocke in Oldenstadt sowie wahrscheinlich auch die verlorene Fünte und Glocke der Lü‐ neburger Michaeliskirche 36 . Identische Abgüsse eines Kölner Pilgerzeichens der Heiligen Drei Könige schmücken die Ebstorfer (Abb. 35) und Embsener Fünte, die Oldenstadter Glocke (Abb. 36) und wohl auch die Bronzetaufe und -glocke aus St. Michaelis in Lüneburg 37 . Die Reliefs einer quadratischen Plakette mit einer Majestas Domini umgeben von vier Evangelistensymbolen sind auf den Taufen in Ebstorf (Abb. 37), der Lüneburger Nikolaikirche (Abb. 38), der Olden‐ stadter Glocke (Abb. 39) und wahrscheinlich auf der verlorenen Soltauer Fünte sowie auf der Glocke der Lüneburger Michaeliskirche modelgleich. Das Bild‐ programm der Michaelisglocke war, bis auf eine zusätzliche Kreuzigungsgruppe, mit dem der Oldenstadter Glocke identisch. Die von HERMAN 1310 geschaffene Ebstorfer Fünte trägt wie die von Meister OLRICUS 1325 gegossene Glocke der Michaeliskirche identische Abgüsse der Kreuzigungsgruppe schmaler Typ, des Marienzeichens, des Kölner Pilgerzeichens und der Majestas Domini. Beide Meister nutzten diese vier modelgleichen Originalzeichen als Vorlage zur Verzierung ihrer Werke. Die Zuweisung der 318 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="319"?> 38 Zur Herkunft der Bronzewerke und den Wirkungskreisen der Meister und Werkstätten im Lüneburger Raum vgl. K Ä H L E R , Lüneburg (wie Anm. 28), hier S. 42 ff., und Matthias F R I S K E , Bronzegießer des frühen 14. Jahrhunderts im östlichen Niedersachsen und der westlichen Altmark, in: Attamen Westfalia Cantat. Eine Festschrift für Claus Peter zur Vollendung des 70. Lebensjahres, hg. von Konrad B U N D / Rüdiger P F E I F F E R -R U P P / Jan Hendrik S T E N S (Schriften aus dem Deutschen Glockenmuseum 14), Gescher (Westf.) 2017, S. 1-24. 39 Franz N I E H O F F , Kat.-Nr. F 38 Glocke aus Königslutter, ehem. Pfarrkirche St. Sebastian und St. Fabian, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235 1: Katalog, hg. von Jochen L U C K H A R D T / Franz N I E H O F F , München 1995, S. 472. Eine Autopsie der Glocke war bisher nicht möglich. Für die Zusendung der Fotos sei Robert Hintz, Braunschweigisches Landesmuseum, herzlich gedankt. 40 Beide Glocken datieren um 1300; Hecklingen nach RHK 1246 und Zuchau nach RHK 1251. Die Glocke in Zuchau ist zusätzlich noch mit Abgüssen von vier Brakteaten und einem Stromberger Pilgerzeichen geschmückt. Das Stromberger Kruzifix gehört zu dem älteren Typus der Stromberger Zeichen. Aus den Hansestädten Rostock und Greifswald liegen gut datierte Bodenfunde aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis Anfang des 14. Jahrhunderts vor. Vgl. Jörg A N S O R G E , Ausgrabungen und Funde auf dem Rosto‐ cker Mühlendamm, in: Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern 59 (2011), S. 251-293, hier S. 286-289; S A M A R I T E R , Pilgerzeichen (wie Anm. 6), S. 442-446. Bronzewerke im Lüneburger Raum zum Opus eines Meisters gelingt mit dem Vergleich modelgleicher Vorlagen nicht 38 . Kleeblattkreuz gedrungener Typ In Niedersachsen sind die Ebstorfer (Abb. 40) und die Embsener Erztaufe mit einem Relief dieser Gruppe geschmückt. Auf der Oldenstadter Glocke befindet sich ebenfalls ein Abguss dieses Typs (Abb. 41). Im Besitz des Braunschweigi‐ schen Landesmuseums befindet sich eine Bronzeglocke aus der St. Sebastian und St. Fabian Kirche aus Königslutter (Niedersachsen), die mit einem Abguss der Kreuzigungsgruppe verziert ist (Abb. 42) 39 . Das Relief ähnelt dem Abguss dieses Typs auf der Oldenstadter Glocke und auf der Ebstorfer Taufe sehr, ist jedoch nicht modelgleich. In Sachsen-Anhalt, auf der Glocke im nordwestlichen Turm der Basilika St. Georg und St. Pancratius in Hecklingen (Salzlandkreis), ist dieser Typ einmal vollständig (Abb. 44) sowie mit einer einzelnen Marienfigur (Abb. 43), die den Marienfiguren aus der Kreuzigungsgruppe in Braunschweig und Staßfurt äh‐ nelt, vertreten. Auf der ältesten Glocke der St. Laurentius Kirche in Zuchau ( OT Barby, Salz‐ landkreis) befinden sich zwei identische Abgüsse der Gruppe (Abb. 47, 48) und ein Abguss einer einzelnen Marienfigur (Abb. 46), die modelgleich mit der Ma‐ rienfigur der Kreuzigungsgruppe auf der Glocke in Hecklingen ist 40 . 319 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="320"?> 320 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="321"?> 41 Vgl. S C H U B A R T , Glocken (wie Anm. 15), S. 278 f. 42 Die Glocke in Jüterbog datiert nach RHK 1777 um 1350. 43 Vgl. Rainer O E F E L E I N / Cornelia O E F E L E I N , Pilgerspuren auf mittelalterlichen Glocken in Brandenburg, Berlin-Brandenburg 2012, hier S. 33-37. Hier wird die Glocke irrtüm‐ licherweise nach Dedelow verortet. Jörg Ansorge (Horst) verdankt die Verfasserin den Hinweis auf Arensdorf. 44 Nach S C H U B A R T , Glocken (wie Anm. 15), S. 363 f., wurde die Glocke zwischen 1292 und 1298, nach RHK 1339 um 1300 gegossen. Sehr ungewöhnlich ist der Standort einer Glocke in Staßfurt (Salzlandkreis), die im Tiergarten der Stadt aufgestellt ist. Ursprünglich befand sie sich in der St. Petri Kirche Großmühlingen ( OT Gemeinde Bördeland, Salzlandkreis). Anhand der Beschreibung und der detaillierten Wiedergabe der Inschrift durch F R I E D R I C H W ILH E LM S C H U B A R T gelang es, die Herkunft der Glocke zu ermitteln 41 . Die Flanke der Glocke ist mit einem Relief dieser Kreuzigungsgruppe geschmückt (Abb. 45). In Brandenburg ziert dieser Typ eine Glocke, die sich im Nordturm der Stadtkirche St. Nikolai in Jüterbog (Lkr. Teltow-Fläming) befindet (Abb. 51) 42 . Drei weitere Reliefs auf der Glocke, eine Marienfigur (Abb. 50) und zweimal die Figur des Johannes (Abb. 49, 52) waren ursprünglich Teil der Kreuzigungsgruppe Kleeblattkreuz gedrungener Typ. Die wahrscheinlich Anfang / Mitte des 14. Jahr‐ hunderts gegossene Glocke in der Dorfkirche Arensdorf (Gemeinde Steinhöfel, Lkr. Oder-Spree) ist mit einem Abguss dieses Typs verziert (Abb. 53) 43 . Die Abgüsse auf den Glocken in Jüterbog und Zuchau sind modelgleich. Ihrer Datierung nach wurde die Jüterboger Glocke etwa 50 Jahre später als die Zuchauer Glocke gegossen. Über diesen langen Zeitraum müsste ein Model, was bei dauerhaften Stein‐ gussformen durchaus möglich ist, oder ein Originalzeichen verwendet worden sein. Wahrscheinlich ist die Jüterboger Glocke jedoch älter als bisher ange‐ nommen, worauf nicht nur das Relief, sondern auch ihre Gestalt verweist. Seltene und singuläre Typen Die Ebstorfer Fünte zieren zwei Kruzifixe (Abb. 54, 55), die zentral ein Kleeblattkreuz mit dem Gekreuzigten zeigen. Christus ist auf beiden Zeichen, im Gegensatz zu den oben vorgestellten Typen des Kleeblattkreuzes, mit stark nach links angewinkelten Beinen und seitlich nach oben ausgestreckten Armen dargestellt. Die Glocke der Dorfkirche in Mühlstedt ( OT Dessau-Roßlau) von um 1300 ist mit zwei modelgleichen Abgüssen einer Kreuzigungsgruppe ver‐ sehen (Abb. 56, 57) 44 . Bei diesem Typ sind die Kreuzbalken mit dem oberen Be‐ reich des Kreuzstammes durch Querstreben verbunden. Die inschriftlich in das 321 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="322"?> 322 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="323"?> 323 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="324"?> 45 Matthias Friske schreibt die Veerßener Glocke dem Opus Meister Hermanns zu. Meister Hermann signierte die 1337 gegossene Rohrberger Glocke. Vgl. F R I S K E , Bronzegießer (wie Anm. 38), hier S. 1-6. 46 Ernst G R O H N E , Bremische Boden- und Baggerfunde, in: Jahresschrift des Focke-Mu‐ seums Bremen, Bremen 1929, S. 94 ff., Nr. 17. Frau Karin Walter (Focke-Museum Bremen) sei an dieser Stelle herzlich für die Überlassung des Fotos gedankt. Den Hinweis auf das Bremer Zeichen verdankt die Verfasserin Hartmut Kühne (Berlin). Jahr 1332 datierte Glocke in der St. Marienkirche Veerßen ( OT Uelzen, Lkr. Uelzen) ist mit zwei identischen Abgüssen einer Kreuzigungsgruppe ge‐ schmückt (Abb. 58, 59) 45 . Zu dem Abguss liegt ein fragmentiertes Originalzei‐ chen vor: die Figur eines Johannes, ein Fund aus der Weser in Bremen (Abb. 60) 46 . Anhand der Abgüsse auf der Glocke in Veerßen kann das Bremer Zeichen eindeutig als Teil einer Kreuzigungsgruppe identifiziert und in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden. Verbreitung und Systematisierung Die Systematisierung der Kreuzigungsgruppe ergibt ein differenziertes Bild zur Datierung und Verbreitung der einzelnen Gruppen (Abb. 61). Das lateinische Kreuz ist mit zwei Typen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vertreten. Das Krückenkreuz kommt in einem kurzen Zeitraum von um 1250 bis 1300 selten, nämlich nur dreimal, vor. Die Gruppe Kleeblattkreuz gedrungener Typ ist in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts selten, aber regional etwas weiter verbreitet als die vorherigen Gruppen. Für diese Gruppe wurden Abgüsse aus acht verschiedenen Modeln nachgewiesen. In einem Zeitraum von um 1250 bis 1424 lassen sich Abgüsse und Original‐ zeichen des Kleeblattkreuzes schmaler Typ nachweisen. Er tritt häufig auf und ist regional zwischen Ostsee und Saale verbreitet. Anhand der Abgüsse und Originalzeichen sind sieben verschiedene Model nachweisbar. Hinzu kommen noch drei singuläre Typen sowie mit den Abgüssen auf der Veerßener Glocke und dem Originalzeichen aus Bremen ein seltener Typ des Kleeblattkreuzes. Marienzeichen Bei den Marienzeichen handelt es sich um die Darstellung einer thronenden Gottesmutter. Sie trägt ein langes, faltenreiches Gewand und einen Schleier mit breiten Enden, die ihr über die Schultern fallen. Auf dem Schleier angebracht und die Stirn Marias zierend, befindet sich ein Tatzenkreuz. Auf ihrem linken Bein sitzt das nimbierte Jesuskind. Maria und das Jesuskind wenden die Ge‐ sichter einander zu. Das Zeichen ist als Abguss mit insgesamt 16 erhaltenen 324 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="325"?> 325 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="326"?> Zeichen überliefert (Abb. 62). Es tritt regelmäßig zusammen mit den Zeichen der Kreuzigungsgruppe lateinisches Kreuz schmaler Typ und häufig zusammen mit der Gruppe Kleeblattkreuz als Zierde auf Glocken und Erzfünten auf. Die Glocken in Gottesgnaden (Abb. 63), Großpaschleben (Abb. 64) und Glocke VI in der Marienkirche in Dambeck / Salzwedel (Abb. 67) sind mit 326 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="327"?> 47 In der Marienkirche Salzwedel befinden sich drei Glocken aus dem ehemaligen Bene‐ diktinerinnenkloster Dambeck (OT Amt Dambeck). Vgl. Gerhard R U F F , 800 Jahre Glo‐ ckengeschichte Salzwedel (Denkmalorte, Denkmalwerte 7), Halle 2018, hier S. 114-126. Glocke VI, mit dem Marienzeichen verziert, wird hier um 1400 datiert. Für die Überlas‐ sung und Zusendung des Bildes sei Herrn Gerhard Ruff hier herzlich gedankt. 48 Margarete S C H I L L I N G , Glocken. Gestalt, Klang und Zier, Dresden 1988, hier S. 323 Abb. 596, S. 351. Die Glocke wird hier um 1330 datiert; vgl. Beschreibung der Glocke DI 64, Querfurt, Nr. 21† (wie Anm. 21). 49 Vgl. zum Marienzeichen der Soltauer Taufe K Ä H L E R , Lüneburg (wie Anm. 28), hier S. 30, sowie zu den Bronzewerken der Lüneburger Michaeliskirche R Ü M E L I N , Vermehrt, vernichtet, verstreut (wie Anm. 31), hier S. 361, Abb. 199,2. 50 Zu dem Dordrechter Zeichen vgl. B E U N I N G E N / K O L D E W E I J / K I C K E N , Heilig en Profaan 3 (wie Anm. 3), S. 200, Afb. 2580. Zu dem Fund aus Rostock vgl. K A U T E / R Ü T Z / Z O R N , Kurze Fundberichte 2017 (wie Anm. 2), S. 376 Abb. 358,6, S. 378. einem, die Glocke in Reppichau mit zwei Reliefs (Abb. 65, 66) verziert 47 . Die verlorene Glocke der St. Petrikirche in Gatterstädt zierte ebenfalls ein Abguss des Marienzeichens 48 . Die Tauffünten in Ebstorf (Abb. 68-74), Embsen und der Lüneburger Niko‐ laikirche (Abb. 75) sowie die Glocke in Oldenstadt (Abb. 76) sind ebenfalls mit Marienzeichen geschmückt. Auch auf der verlorenen Soltauer Taufe und der verlorenen Glocke und Tauffünte der Lüneburger Klosterkirche St. Michaelis befanden sich Abgüsse des Marienzeichens 49 . Sicher datiert sind das jüngste Zeichen auf der inschriftlich 1310 gegossenen Ebstorfer Taufe und das älteste Zeichen auf der Soltauer Taufe von um 1350. Bei dem Vergleich der heute erhaltenen Abgüsse kam ein erstaunliches Ergebnis heraus: die sieben Marienzeichen auf der Ebstorfer Fünte, der Abguss auf der Oldenstadter Glocke und der auf der Fünte aus Embsen sind modelgleich (Variante 1). Aufgrund des Erhaltungszustandes ist der Abguss auf der Fünte in der Lüneburger Nikolaikirche nur bedingt vergleichbar, scheint aber ebenfalls aus dem gleichen Model zu stammen. In Sachsen-Anhalt wurden fünf Marienzeichen erfasst, die in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts bis um 1350 datieren. Hier wurde für vier Abgüsse ein modelgleiches Zeichen verwendet (Variante 2), der fünfte Abguss auf der Dambecker Glocke ist mit denen aus dem Lüneburger Raum identisch. Für die zehn überlieferten Abgüsse auf den Taufen und Glocken wurden zwei Model verwendet, deren Verbreitungsgebiete sich kaum berühren und etwa zeitgleich in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datieren. Fragmente originaler Zeichen wurden in Dordrecht (Niederlande) und in der Hansestadt Rostock entdeckt (Abb. 77) 50 . Das Rostocker Zeichen datiert zwischen 1270 bis um 1300. Auf Grund der fragmentarischen Erhaltung der beiden Blei-Zinn-Güsse ist ein 327 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="328"?> 51 S C H Ä F E R / S C H Ä F E R / Z O R N , Kurze Fundberichte 2014 (wie Anm. 4), hier S. 359, S. 361 Abb. 247,7. 52 S A M A R I T E R , Pilgerzeichen (wie Anm. 6), hier S. 462. 53 K A U T E / R Ü T Z / Z O R N , Kurze Fundberichte 2017 (wie Anm. 2), S. 376 Abb. 358,4. Modelvergleich kaum möglich, das Rostocker Exemplar scheint jedoch etwas anders gestaltet zu sein. Christuszeichen Die Christuszeichen (Abb. 78), in drei leicht abgewandelten Varianten vorlie‐ gend, zeigen zentral den thronenden Christus als Weltenrichter. Der mandor‐ laförmige Rahmen, mit einer Perlleiste oder mit Linien verziert, wird von vier Engeln flankiert. In Greifswald wurde ein um 1300 abgelagertes vollständiges (Abb. 79) 51 und ein fragmentiertes Zeichen (Abb. 80), das um 1270 / 80 datiert, entdeckt 52 . Aus Rostock stammt ein Zeichen, das 1260 / 65 abgelagert wurde (Abb. 81) 53 . Der fragmentarisch erhaltene Greifswalder Blei-Zinn-Guss ist, unter Berücksichti‐ gung des Erhaltungszustandes, mit dem Rostocker Zeichen modelgleich. Als Abguss ist das Zeichen auf der Glocke in Plötzkau (Abb. 82) überliefert. Die 328 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="329"?> 329 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="330"?> 330 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="331"?> 54 K Ä H L E R , Lüneburg (wie Anm. 28), hier S. 30. verlorene Soltauer Tauffünte soll ebenfalls mit einem Abguss dieses Pilgerzei‐ chens verziert gewesen sein 54 . Der Abguss in Plötzkau und die Originalzeichen stammen aus drei verschiedenen Modeln. 331 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="332"?> 332 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="333"?> III. Zwischen-Fazit Mit der Differenzierung und Systematisierung der Zeichen ergibt sich ein klares räumliches und zeitliches Verbreitungsmuster. Die Zeichen der Kreu‐ zigungsgruppe treten ab um 1250, die Christuszeichen ab um 1260 und die Marienzeichen ab um 1270 in einem Gebiet auf, das sich von der südlichen Ostseeküste bis in den Harzraum erstreckt. Ein geographischer Ausreißer ist das in Dordrecht gefundene Marienzeichen. Die Zeichen der Kreuzigungs‐ gruppe und das Marienzeichen sind relativ weit verbreitet mit einer deutlichen Konzentration im Raum östlich von Halberstadt. Sie kommen gemeinsam als Abgüsse auf Bronzewerken in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen vor. Beide Kultstätten, auf die sich die als Pilgerzeichen gedeuteten Objekte beziehen, dürften sich daher in einem lokal eng begrenzten Raum befinden. Die räumliche Verteilung spricht für eine Herkunft aus Halberstadt, wo der Dom mit seinen kostbaren Reliquien schon seit dem 13. Jahrhundert Gläubige anzog und auch die unmittelbar benachbarte Liebfrauenkirche auf fromme Besucher eine große Anziehungskraft besaß, wie verschiedene Indizien nahe‐ legen. Die Triumphkreuzgruppe im Halberstädter Dom mit den Zeichen der Kreuzigungsgruppe Kleeblattkreuz in Verbindung zu bringen, liegt aufgrund der ikonografischen Übereinstimmung nahe. Für die Marienzeichen wird die benachbarte Liebfrauenkirche mit ihrem marianischen Gnadenbild, auf das die berühmte Ablasstafel hinweist, in Betracht gezogen. Eine Verbindung zwischen der Kreuzigungsgruppe lateinisches Kreuz schmaler Typ und der Halberstädter Triumphkreuzgruppe herzustellen erscheint auf‐ grund der unterschiedlichen Kreuzformen gewagt. Als Gründe für die Verortung dieser Gruppe nach Halberstadt können ihre geografische Nähe zur Gnaden‐ stätte sowie das zeitgleiche und gemeinsame Auftreten mit den Marienzeichen angeführt werden. Eine Zuweisung der Kreuzigungsgruppe lateinisches Kreuz gedrungener Typ nach Halberstadt kann noch nicht eindeutig belegt werden. Die Zeichen der seltenen und singulären Typen zeigen in ikonografischer Über‐ einstimmung mit der Halberstädter Triumphkreuzgruppe zentral ein Kleeblatt‐ kreuz und treten zusammen mit den Marienzeichen und der Kreuzigungsgruppe Kleeblattkreuz auf. Eine sichere Verortung dieser Zeichen nach Halberstadt wäre anhand von Neufunden oder schriftlichen Quellen möglich. Die Christuszeichen treten vereinzelt auf und sind im archäologischen Fundbild sowie als Abguss mit den Zeichen der Kreuzigungsgruppe und den Marienzeichen vergesellschaftet. Eine Erklärung dafür wäre der Erwerb der mandorlaförmigen Zeichen auf der Wallfahrt zur Mariengnadenstätte und / oder zum Wallfahrtsort des Heiligen Kreuzes. 333 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="334"?> 55 Zur Beteiligung Konrads am Kreuzzug zuletzt Stefan T E B R U C K , Kreuzfahrer, Pilger, Reli‐ quiensammler. Der Halberstädter Bischof Konrad von Krosigk (†1225) und der Vierte Kreuzzug, in: Kunst, Kultur und Geschichte im Harz und Harzvorland um 1200, hg. von Ulrike W E N D L A N D (Veröffentlichung des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt 8), Petersberg 2008, S. 26-48. 56 Georg-August-Universität Göttingen, Apparatus diplomaticus - Urkundenhauptbestand App. dipl. 78. Druck: Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe 1: Bis 1236, hg. von Gustav S C H M I D T (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 17), Leipzig 1883, Nr. 449, S. 400-403. Vgl. dazu Jörg R I C H T E R , Reliquienschatz und Pilger‐ strom. Spuren der Verehrung des Apostels Jacobus maior am Halberstädter Dom, in: Der Jakobuskult in Sachsen, hg. von Klaus H E R B E R S / Enno B Ü N Z (Jakobus-Studien 17), Tübingen 2007, S. 113-123, hier S. 114f.; Söhnke T H A L M A N N , Privileg Konrads von Krosigk, Bischof von Halberstadt (1201-1208), zugunsten des Halberstädter Domstifts, in: Kein Krieg ist heilig. Die Kreuzzüge, hg. von Hans-Jürgen K O T Z U R , Mainz 2004, Kat.-Nr. 51, S. 385f. Zur Reliquienschenkung Konrads vgl. jetzt ausführlich Patricia S T R O H M A I E R , Die erneuernde Kraft der Tradition. Spätmittelalterliche Schatz- und Ausstattungsobjekte des Halberstädter Doms (Neue Forschungen zur deutschen Kunst 13), Berlin 2019, S. 88-100. VI. Halberstadt als Pilgerziel - die Befunde der Schriftquellen Für eine plausible Verortung der vorgestellten Zeichen nach Halberstadt ist der Dialog mit den Schriftquellen zu suchen und allen Hinweisen nachzugehen, die belegen können, dass die Bischofsstadt an der Holtemme mit ihrem Dom St. Stephanus und Sixtus im 13. und 14. Jahrhundert eine nennenswerte Zahl von Pilgern aus den umliegenden Städten und Territorien angezogen hat. Eine zentrale Rolle ist dabei den hochrangigen Reliquien zuzuschreiben, die der Halberstädter Bischof Konrad von Krosigk (1201-1208, †1225) während des Vierten Kreuzzugs - insbesondere bei der Eroberung Konstantinopels - erbeutet hatte und bei seiner Rückkehr am 16. August 1205 nach Halberstadt brachte 55 . Der Wunsch, die Halber‐ städter Kathedralkirche zu einem Anziehungspunkt für Gläubige von nah und fern zu entwickeln, schlägt sich deutlich in der Urkunde nieder, die Bischof Konrad kurz vor seiner Resignation und seinem Rückzug in das Zisterzienserkloster Sittichenbach im Jahr 1208 ausstellte. Darin übertrug er dem Halberstädter Dom fast 40 Reliquien und liturgische Ausstattungsstücke, darunter eine Kreuzpartikel von nicht geringer Größe (lignum Domini in quantitate non modica), einen Teil des Schädels des Dompatrons Stephanus sowie den Schädel des Apostels Jakobus minor. Um den Tag seiner Rückkehr vom Kreuzzug und die Ankunft dieser Reliquien angemessen zu würdigen, bestimmte er, den 16. August von nun an in der ganzen Diözese als hohen Festtag zu begehen und allen, die an diesem Tage in der Kirche die Reliquien verehrten, einen Ablass zu geben. Schließlich bestätigte Konrad noch, dass er zu Ehren der erwähnten Reliquien einen neuen Altar geweiht habe 56 . Lohnend ist ein genauer Blick auf den Passus, mit dem Bischof 334 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="335"?> 57 … omnes qui ad dietam unam et infra sunt constituti, XL dierum, qui vero de remotioribus partibus venerint, LX iniuncte sibi penitentie a nobis nostrisque successoribus, qui predictam diem aput civitatem nostram presentialiter celebrabunt, congruam, ut premisimus, indulgen‐ tiam consequeutur. UB Hochstift Halberstadt 1 (wie Anm. 56), Nr. 449, S. 402. Zu dieser Praxis mit weiteren Beispielen Söhnke T H A L M A N N , Ablaßüberlieferung und Ablaßpraxis im spät‐ mittelalterlichen Bistum Hildesheim (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 254), Hannover 2010, S. 211; R I C H T E R , Reliquienschatz (wie Anm. 56), S. 114. 58 R I C H T E R , Reliquienschatz (wie Anm. 56). 59 Urkundenbuch der Stadt Halberstadt 1, bearb. von Gustav S C H M I D T (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 7), Halle 1878, Nr. 29, S. 37-39; R I C H T E R , Reliquienschatz (wie Anm. 56), S. 118. Konrad den Ablass verlieh: Die Höhe der Indulgenz war nach der Entfernung zum Ablassort gestaffelt: 40 Tage bei einer Tagesreise oder kürzer, 60 Tage bei längerer Anreise 57 . Deutlich sichtbar ist hier das Bemühen, Ablassnehmer auch überregional anzuwerben - auch fremde Diözesanen aus anliegenden Territorien sollten für eine Pilgerreise nach Halberstadt gewonnen werden. In einem 2007 in den Jakobus-Studien erschienenen Aufsatz hat sich bereits J ÖR G R I C HT E R ausführlich mit den Bemühungen der Halberstädter Bischöfe beschäftigt, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, um den Halberstädter Dom zu einem attraktiven Pilgerziel zu entwickeln 58 . So wurde die Weihe des seit 1205 umgebauten Domes im Jahr 1220 ganz bewusst in die adventus reli‐ quiarum - also am 16. August - gefeiert und weitere Ablässe für die Besucher des Reliquienfestes am Dom gewährt. R I C HT E R wies darüber hinaus auf die neuartige Präsentation der Reliquien in Schaugefäßen hin und konnte zeigen, dass die Bischöfe auch die Infrastruktur für die Beherbergung der Pilger verbesserten. So geht aus einer Urkunde Bischof Friedrich von Kirchbergs (1209-1236) aus dem Jahr 1235 hervor, dass das Heilig-Geist-Hospital neben der Krankenversorgung explizit zur Aufnahme von erschöpften Pilgern und Fremden bestimmt war 59 . Weitere Infrastrukturmaßnahmen, die mit einem Ausbau der Pilgerwege in Zusammenhang zu bringen sind, lassen sich ergänzen. Hinzuweisen ist auf einen Ablassbrief für den Halberstädter Dom, der 1296 in Anagni von nicht we‐ niger als 27 Ablassspendern ausgestellt wurde, nämlich von fünf Erzbischöfen, darunter der Magdeburger Erzbischof Burchard von Blankenburg (1296-1305), und von 22 Bischöfen. Am Schluss der Urkunde bestätigte zusätzlich der Halberstädter Bischof Hermann von Blankenburg (1296-1303) den erteilten Sammelablass. Die Indulgenz kam allen Gläubigen zugute, die den Halberstädter Dom causa devotionis seu peregrinationis aufsuchten, allen Wohltätern des Doms und darüber hinaus all jenen, die zur Ausbesserung der Dämme in Hornburg 335 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="336"?> 60 Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe 2: 1236-1303, hg. von Gustav S C H M I D T (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 21), Leipzig 1884, Nr. 1658, S. 577 f. Siehe auch die im selben Jahr und im Zusammenhang mit dieser Urkunde ausgefertigten Ablässe für die Nikolaikirche in Oschersleben und den Halberstädter Dom (ebd., Nr. 1657, S. 576 f.; Nr. 1659, S. 578 f.). Zur hohen Zahl der Aussteller in diesen Ablässen vgl. Alexander W O L N Y , Quantifizierung von Frömmig‐ keit im 13. Jahrhundert. Ablässe in den Bistümern Halberstadt und Naumburg, Diss. phil., Heidelberg 2016, https: / / doi.org/ 10.11588/ heidok.00022430 (Abruf: 21. März 2021), S. 272 f. 61 Vgl. die zahlreichen Belege bei Pierre F Ü T T E R E R , Wege und Herrschaft. Untersuchungen zu Raumerschließung und Raumerfassung in Ostsachsen und Thüringen im 10. und 11. Jahrhundert (Palatium. Studien zur Pfalzenforschung in Sachsen-Anhalt 2), 2 Bde., Regensburg 2016, hier vor allem Bd. 1, S. 199-201; Caspar E H L E R S / Lutz F E N S K E , Braunschweig, in: Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige im deutschen Reich des Mittelalters, hg. vom Max-Planck-Institut für Geschichte, Bd. 4: Niedersachsen, 1. Lieferung: Bardo‐ wick-Braunschweig (Anfang), Göttingen 1999, S. 18-106, hier S. 25. 62 Der das Bruch überquerende Damm und die dazugehörigen Brücken werden seit dem 13. Jahrhundert in den Quellen häufiger genannt, vgl. Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 11: Provinz Sachsen-Anhalt, hg. von Berent S C H W I N E K Ö P E R , Stutt‐ gart 2 1987, S. 355. Vgl. auch F Ü T T E R E R , Wege und Herrschaft 1 (wie Anm. 61), S. 306-309; Marie-Luise H A R K S E N (Bearb.), Die Kunstdenkmale des Kreises Haldensleben (Die Kunstdenkmale im Bezirk Magdeburg), Leipzig 1961, S. 44. 63 Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe 5: 1426-1513, aus dem Nachlass von Gustav S C H M I D T bearb. von Gerrit D E U T S C H L Ä N D E R (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 7), Köln / Weimar / Wien 2015, Nachträge Nr. 37 und 48, S. 460 und 464. und Oschersleben beitrugen 60 . Hornburg und Oschersleben liegen nordwest‐ lich bzw. nordöstlich von Halberstadt am Großen Bruch, einem fast 50 km langen Feuchtgebiet, das bis zur Trockenlegung im 16. Jahrhundert ein großes Verkehrshindernis darstellte. Das 994 ersterwähnte Hornburg war verkehrsge‐ ografisch höchst bedeutsam, da auf dem Hornburger Damm das Große Bruch überschritten werden konnte, um aus Richtung Hildesheim und Braunschweig über Osterwieck ins Halberstädtische zu gelangen 61 ; Oschersleben, gelegen auf einer Erhebung über der Talung von Großem Bruch und Bodeaue, hatte wichtige Funktionen in den Wegführungen von Halberstadt in Richtung Magdeburg und Altmark und war darüber hinaus mit den Trassen des in West-Ost-Richtung verlaufenden Hellwegsystems verbunden 62 . Der Halberstädter Bischof Volrad hatte bereits 1264 und 1287 allen einen 40-tägigen Ablass gewährt, die zur reparatio von Brücke und Damm bei Oschersleben beitragen 63 - die Sorge um sichere und bequeme Pilgerwege über das Große Bruch ist hier unverkennbar. Doch blicken wir nun auf die Halberstädter Triumphkreuzgruppe (Abb. 83), die den Innenraum des Domes beherrscht, und fragen nach ihrer Einbindung in 336 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="337"?> 64 Gerhard L E O P O L D / Ernst S C H U B E R T , Der Dom zu Halberstadt. Bis zum gotischen Neubau, Berlin 1984, S. 72, Rekonstruktion S. 73; Manuela B E E R , Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler, Regensburg 2005, vor allem S. 618 f.; Jörg R I C H T E R , Zur Geschichte des Kreuzaltars im Halberstädter Dom, in: „Würfelnde Kriegsknechte“ aus dem Ala‐ baster-Kalvarienberg. Dom und Domschatz Halberstadt, hg. von der Kulturstiftung der Länder (Patrimonia 349), Berlin 2010, S. 16-37, hier S. 18-20. 65 … unam [pallam altaris] quoque ad altare sancte Crucis auro textam, tres imperiales purpuras, duas in angulis et unam ad gradum, unam preterea ad pulpitum, ubi ewangelium legitur … UB Hochstift Halberstadt 1 (wie Anm. 56), Nr. 449, S. 401. Vgl. dazu Barbara P R E G L A , Das Festkleid der Kirche - die liturgischen Paramente zur Ausschmückung des Gottesdienstes. Einleitung, in: Der heilige Schatz im Dom zu Halberstadt, hg. von Harald M E L L E R / Ingo M U N D T / Boje E. Hans S C H M U H L , Regensburg 2008, S. 198-205, hier S. 199 f.; R I C H T E R , Geschichte des Kreuzaltars (wie Anm. 64), S. 18. Zu den textilen Schenkungen Konrads jetzt auch S T R O H M A I E R , Kraft der Tradition (wie Anm. 56), besonders S. 104-115. 66 Hans-Joachim K R A U S E , Der Halberstädter Reliquienfund, in: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 10,1 (2002), S. 5-25; Barbara P R E G L A , Die Reliquien der Triumphkreuz‐ gruppe im Dom zu Halberstadt. Untersuchungsergebnisse zu den Funden aus dem Christuskopf, in: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 16,1-2 (2008), S. 55-65; S T R O H M A I E R , Kraft der Tradition (wie Anm. 56), S. 120-122. die liturgischen Abläufe in der Kathedralkirche. In dem uns besonders interessie‐ renden Zeitabschnitt von der Weihe des spätromanischen Doms am 16. August 1220 bis zu den beginnenden Umbauten in Chor und Langhaus gegen Ende des 14. Jahrhunderts war die Triumphkreuzgruppe Teil eines Gesamtensembles am Ostende des Mittelschiffs, das vielleicht schon 1208, in jedem Fall aber vor 1220 fertiggestellt worden war. Der Unterbau der Kreuzgruppe bestand aus einer neuen Chorschranke mit dem Kreuzaltar, seitlichen Durchgängen und vermutlich zwei Ambonen zur Lesung von Evangelium und Epistel 64 . Dem Hei‐ ligkreuzaltar hatte Bischof Konrad in seiner Schenkungsurkunde von 1208 eine golddurchwirkte Decke sowie drei purpurfarbene kaiserliche Stoffe vermacht, eine weitere Decke für das Pult, an dem das Evangelium gelesen wurde 65 . So bot der westliche Chorabschluss mit Kreuzaltar und Chorschranke einen sichtbaren Rekurs auf die Reliquienstiftung Konrads, der durch ein Reliquiengrab in der Tri‐ umphkreuzgruppe noch gesteigert wurde: Bei der Restaurierung der Kreuzgruppe im Jahr 1996 wurde das unversehrt erhaltene Reliquiendepot geöffnet, das sich im Christuskopf befand. Dabei wurden Papierfragmente eines griechischen Textes, drei Reliquienbündel sowie ein Steintäfelchen geborgen, in das ein Doppelkreuz aus Holz sowie ein aus Knochenmasse bestehender Golgothahügel eingelassen sind. Dieses byzantinische Kreuzreliquiar stammt aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls aus dem Reliquienbestand, den Konrad von Krosigk bei der Eroberung von Konstantinopel in seinen Besitz gebracht hat 66 . 337 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="338"?> 67 So beispielsweise während der Karfreitagsliturgie: Ein Ordinarius des Triduum sacrum, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in das sogenannte Zemeke-Missale (Halberstadt, Domschatz, Inv.-Nr. 474 [olim M 114]) eingetragen wurde, belegt, dass nach der Kreuzver‐ ehrung im Altarraum des Chores die Prozession zum Kreuzaltar erfolgte, wo der Bischof mit dem Gesang Ecce lignum crucis die Kreuzerhöhung feierte. Et quando cantabitur „Miserere nobis“, episcopus vel sacerdos ascendet gradum altaris crucis accipiendo sanctam crucem in manibus et levando et cantando „Ecce lignum crucis“. Rector chori „Beati immaculati“ et iterum „Ecce lignum crucis“. Andreas O D E N T H A L , Die Liturgie des Gründonnerstags, Karfreitags und Karsamstags im Halberstädter Dom. Textzeugnisse eines Ordinarius der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 43/ 44 (2001/ 02), S. 22-46, hier S. 29. Anschließend wurde das Kreuz im Heiligen Grab niedergelegt. In den Opfergang waren Bischof, Geistlichkeit und auch die ganze Gemeinde eingebunden, vgl. ebd., S. 39f. 68 Zur Genese und den Bezeichnungen des Festes vgl. Patrizia C A R M A S S I , Zeit und Reform in mittelalterlichen Handschriften aus Halberstadt. Zeit-Dimensionen in liturgischen Quellen, in: ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750-1350, Abb. 83: Triumphkreuzgruppe im Dom St. Stephanus und St. Sixtus in Halberstadt Das Ensemble aus Kreuzaltar und Chorschranke, geschmückt mit kostbaren by‐ zantinischen Stoffen und gekrönt von der Triumphkreuzgruppe, die mit dem Kreuzesholz eine hochrangige Herrenreliquie in sich barg, war für Laien sichtbar und zugänglich 67 . Für unsere Fragestellung ist von besonderem Interesse, dass sich am Heiligkreuzaltar zentrale Elemente der Festliturgie des 16. Augusts abspielten, also jenes Festes, das Bischof Konrad 1208 für die ganze Diözese gestiftet hatte und das in den liturgischen Quellen als festum adventus reliquiarum, sanctorum adventus oder patronorum bezeichnet wird 68 . So wird das Fest im Kalendar eines 338 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="339"?> hg. von Anja R A T H M A N N -L U T Z / Miriam C Z O C K , Köln/ Weimar/ Wien 2016, S. 195-212, hier S. 209. 69 Missale, heute St. Petersburg, Russische Nationalbibliothek, F. 955, op. 2, Nr. 20 (olim M 127). Beschreibung der Handschrift und Zitat bei Karl Gustav S C H M I D T , Die Handschriften der Gymnasial-Bibliothek 2, in: Königliches Dom-Gymnasium in Halberstadt. Oster-Programm 1881, Halberstadt 1881, S. 1-32, hier S. 6. Zur Datierung des Missale siehe Patrizia C A R M A S S I (Bearb.), Katalog der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften in Halberstadt. Verzeichnis der Bestände der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Domschatz zu Halberstadt, und des Historischen Archivs der Stadt Halberstadt, Wiesbaden 2018, S. 176. 70 Liber de divino ordine servando in ecclesia Halberstadensi. St. Petersburg, Russische Natio‐ nalbibliothek, F. 955, op. 2, Nr. 8 (olim M 164), fol. 151v-152r. Zitiert und übersetzt bei C A R M A S S I , Katalog (wie Anm. 69), S. XVI. 71 Liber Ordinarius (14. Jahrhundert), St. Petersburg, Russische Nationalbibliothek, F. 955, op. 2, Nr. 8 (olim M 164), fol. 168v-169r. Zeugnis vom engen liturgischen Zusammenwirken Halberstädter Missale aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ausdrücklich am Kreuzaltar verortet; zum 16. August hat eine Hand des 13./ 14. Jahrhunderts einge‐ tragen: dedicatio ad altare Crucis festum patronorum ecclesie Halb[erstadensis] 69 . Die liturgischen Vollzüge an diesem Festtag schildert ein Liber Ordinarius aus dem 14. Jahrhundert, der sich heute in der Russischen Nationalbibliothek in St. Pe‐ tersburg befindet 70 . Zum 16. August sammelte sich der Klerus zur Terz im Chor der Kathedrale, gekleidet in die allerbesten Paramente. Genau beschrieben wird die Reliquienprozession, bei der ein Priester den Leib Christi, ein Diakon das Holz des Herrn und ein Subdiakon das große Missale trug; voraus gingen Fahnen und Kreuze. Den Domvikaren oblag es, die Reliquien vom Chor zu tragen. Die Prozession schritt unter Absingen des Responsoriums Isti sunt sancti über den Domplatz zur Liebfrauenkirche, in der in medio ecclesie die Marienantiphon Alma redemptoris gesungen wurde. Eine weitere Marienantiphon (Surge amica mea) wurde auf dem Rückweg zur Domkirche angestimmt. Die Prozession endete in der Kathedrale in medio ecclesie, hier stellten sich die Vikare mit den Reliquien an beiden Seiten auf, dann wurden die Kreuzantiphonen O crux gloriosa und Arbor amara gesungen. In dieser feierlichen Form präsentierte der Halberstädter Domklerus - links und rechts vom Kreuzaltar unter der Triumphkreuzgruppe stehend - den Gläubigen den wertvollen Heiltumsschatz der Kathedrale. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist die Zuweisung der ab 1250 auftretenden Zeichen mit Kreuzigungsgruppe zum Halberstädter Dom in Erwägung zu ziehen. Mit der von Bischof Arnulf (996-1023) an der Westseite der Domburg gegrün‐ deten Liebfrauenkirche wurde die nach dem Domstift älteste und ehrwürdigste Stiftskirche Halberstadts in die Festliturgie der Domgeistlichkeit zum festum patro‐ norum eingebunden. Auch an anderen Festtagen fanden solche Reliquienprozessi‐ onen vom Dom zur Liebfrauenkirche statt, so beispielsweise am 16. Oktober, dem Tag der Weihe der Domkirche 71 . Vor dem Hintergrund der oben vorgestellten 339 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="340"?> beider Stiftskapitel auf dem Halberstädter Domberg gibt unter anderem auch das Kalendar eines spätmittelalterlichen Breviariums (Halberstadt, Historisches Stadtarchiv, M 163), das die liturgische Praxis des Liebfrauenstifts widerspiegelt, vgl. dazu C A R M A S S I , Katalog (wie Anm. 69), S. 97. 72 Stadtarchiv Braunschweig, B I 23,7, Bl. 191. 73 Heute Domschatz Halberstadt, Inv.-Nr. 32. Beschreibung bei Hans F U H R M A N N (Bearb.), Die Inschriften des Doms zu Halberstadt (Die deutschen Inschriften 75/ Leipziger Reihe 3), Wiesbaden 2009, Nr. 27, S. 65f.; Johanna F L E M M I N G / Edgar L E H M A N N / Ernst S C H U B E R T , Dom und Domschatz zu Halberstadt, Leipzig 2 1990, S. 226. 74 Christine M A G I N , Ablassinschriften des späten Mittelalters, in: Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Berndt H A M M / Volker L E P P I N / Gury S C H N E I D E R -L U D O R F F (Spätmittelalter, Huma‐ nismus, Reformation/ Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation 58), Tübingen 2011, S. 101-120, hier S. 103, charakterisiert die Halberstädter Tafel als „wohl älteste Ablassinschrift im Reichsgebiet“. 75 Zur prekären Überlieferungssituation vgl. Hartmut B O O C K M A N N , Über Ablaß-„Medien“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983), S. 709-721, hier S. 713f.; Hartmut B O O C K M A N N , Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen Kirchen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40 (1984), S. 210-224, hier S. 211; zuletzt Winfried S T E L Z E R , Verschwundene Ablasswerbung des späten Mittelalters. Eine Spurensuche im Gebiet des heutigen Österreich, in: Semper ad fontes. Festschrift für Christian Lackner zum 60. Geburtstag, hg. von Claudia F E L L E R / Daniel L U G E R (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 76), Wien 2020, S. 317-340. Stelzer spricht von 55 Objekten der vortridentinischen Ablasswerbung, die sich für den ganzen deutschen Sprachraum erfassen lassen (S. 340). Marienzeichenfunde ist zu betonen, dass die Liebfrauenkirche innerhalb der Sak‐ raltopographie Halberstadt auch als eigenständiges Pilgerziel wahrzunehmen ist. Zeugnis davon gibt ein Braunschweiger Wallfahrtslegat von 1448, dass die Lieb‐ frauenkirche nennt. Das Testamentbuch des Braunschweiger Weichbilds Hagen überliefert die letztwillige Verfügung des Hans Meyger, der seine Erben beauftragt, einen Mann zu senden to user leven fruwen to halverstad mit einem halben Pfund Wachs 72 . Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine nach 1290 entstandene und heute im Domschatz verwahrte Ablasstafel aus Messing (Abb. 84), die ehemals am Südostportal der Liebfrauenkirche angebracht war 73 . Auf der gravierten Tafel sind die Bußnachlässe, die durch den Besuch der Kirche an den Marienfesttagen, dem Kirchweihtag und den entsprechenden Oktavtagen erworben werden können, addiert - quasi als Werbemaßnahme für die Gläubigen, die sich dem Gotteshaus näherten. Zumindest für den nordalpinen deutschen Sprachraum dürfte es sich bei der Halberstädter Tafel um das älteste erhaltenen Objekt seiner Art handeln 74 , wobei davon auszugehen ist, dass die meisten Ablasstafeln nach der Reformation bzw. dem tridentinischen Verbot des Ablasshandels verlorengegangen sind 75 . Unterhalb der eingravierten Ablassbestimmungen ist auf der Tafel eine thronende und gekrönte Madonna mit dem Kind dargestellt. Die Zeichnung ist als typisierte Wiedergabe 340 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="341"?> 76 Domschatz Halberstadt, Inv.-Nr. 586. Vgl. M E L L E R / M U N D T / S C H M U H L , Schatz (wie Anm. 65), S. 97; F L E M M I N G / L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Domschatz zu Halberstadt (wie Anm. 73), S. 224. Abb. 84: Ablasstafel, ehemals am Südostportal der Liebfrauenkirche Halberstadt (nach 1290) der sogenannten Halberstädter Sitzmadonna zu deuten. Diese äußerst qualitätvolle Muttergottes-Skulptur, um 1220 entstanden, war sicher mit Reliquien ausgestattet und dürfte bis zur Reformation eine herausgehobene Rolle im intensiven Marienkult der Liebfrauenkirche gespielt haben 76 . 341 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="342"?> 77 Chronica Sereni Montis auctore Conrado presbytero / Priester Konrad, Chronik des Lauterbergs (Petersberg bei Halle / S.), hg. von Klaus N A S S (MGH SS rer. Germ. 83), Wiesbaden 2020, S. 188 (zu 1203): Ibi Conradus Halverstadensis episcopus, qui unus fuit peregrinorum, multiplicem ornatum ecclesiasticum in indumentis pontificalibus et rebus aliis consecutus, multis et maximis sanctorum reliquiis ibidem acquisitis Halversta‐ densem ecclesiam insignivit, quarum veneracioni dies proxime sequens assumpcionem dei genitricis deputata est, multis undique ad ipsam celebritatem concurrentibus, quando et reliquie ipse aspectui omnium vel eciam contactui exponuntur et advenientes indulgenciam peccatorum suorum auctoritate apostolica consequuntur. Vgl. auch T E B R U C K , Kreuzfahrer (wie Anm. 55), S. 48 Anm. 38; R I C H T E R , Reliquienschatz (wie Anm. 56), S. 121. 78 Ernst S C H U B E R T , Einnahmen und Ausgaben des Halberstädter Dombauamts im Jahre 1367. Ein Beitrag zur gotischen Bautechnik, Bauökonomie und Liturgie. Amico certo Hans-Joachim Krause zum 75. Geburtstag (Veröffentlichungen der Abteilung Archi‐ tekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln 89), Köln 2009, S. 3: in festo assumptionis et patronorum 40 sol. Halb. den., eodem die in denariis Brunswicen, et Quedelingburgen. et in argento Stendal. et usuali 19 sol. cum 3 den. Vgl. auch R I C H T E R , Reliquienschatz (wie Anm. 56), S. 121 f. 79 Landesarchiv Sachsen-Anhalt, U 5 Hochstift Halberstadt, XII Anhang Nr. 43, von 1516 Juli 15. Erwähnt bei Petra J A N K E , Ein heilbringender Schatz. Die Reliquienverehrung am Halberstädter Dom im Mittelalter. Geschichte, Kult und Kunst, München 2006, S. 96. 80 Siehe die Transkription der Urkunde unten im Anhang dieses Beitrages. Das Fest der Ankunft der Reliquien in Halberstadt hat spätestens zwei Jahrzehnte nach seiner Stiftung auch überregionalen Zulauf erhalten. So ist in der in den 1220er Jahren verfassten Chronik des Stifts Lauterberg bzw. Petersberg bei Halle zu lesen, dass am 16. August zur Verehrung der von Bischof Konrad geschenkten Reliquien viele aus allen Gegenden in Halberstadt zusam‐ menkamen, da an diesem Tag die Reliquien für alle zum Anschauen und auch zur Berührung ausgestellt waren und die Teilnehmer kraft apostolischer Vollmacht einen Ablass erlangen konnten 77 . Die einzige mittelalterliche Baurechnung zum Halberstädter Dom, aus den Jahren 1366 / 67 überliefert, verzeichnet folgerichtig die höchsten Einkünfte aus Opfergaben (recepta oblationum) für das Dombauamt in festo assumptionis et patronorum, also zum Doppelfest am 15. und 16. August, nämlich 59 Solidi und 3 Denare, wobei als Einkünfte 40 Solidi Halberstädter und 19 Solidi Braunschweiger, Quedlinburger und Stendaler Währung aufgelistet werden 78 . Die Präsentation des Halberstädter Heiltumsschatzes innerhalb und außerhalb der Kathedralkirche wurde offensichtlich bis ins ausgehende Mittel‐ alter praktiziert, wie einer bisher unedierten und von der Forschung kaum wahrgenommenen Ablassurkunde vom 15. Juli 1516 zu entnehmen ist (Abb. 85) 79 . Darin gewährt der Magdeburger und Mainzer Erzbischof Albrecht als Administrator von Halberstadt allen Besuchern des Doms eine Indulgenz an jenen Tagen und Festen, an denen die Reliquien gezeigt oder herausgetragen werden (ostenduntur aut efferuntur) 80 . Erst die Reformation setzte dieser Praxis 342 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="343"?> 81 Im 1515 gedruckten Halberstädter Brevier war das Fest noch verzeichnet. Vgl. Andreas O D E N T H A L , Die Ordinatio Cultus Divini et Caeremoniarium des Halberstädter Domes von 1591. Untersuchungen zur Liturgie eines gemischtkonfessionellen Domkapitels nach Einführung der Reformation (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 93), Münster 2005, hier besonders die tabellarische Übersicht zum Kalendar S. 276. 82 Vgl. oben Anm. 72. 83 Zur Goslarer Heiltumsweisung vgl. Tillmann L O H S E , Die Dauer der Stiftung. Eine diachronisch vergleichende Geschichte des weltlichen Kollegiatstifts St. Simon und Judas in Goslar (StiftungsGeschichten 7), Berlin 2011, hier S. 107-114; Hartmut K Ü H N E , Reliquien und ihr Publikum. Spätmittelalterliche Kirchenschätze im Harzraum, in: „… das Heilige sichtbar machen“. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, hg. von Ulrike W E N D L A N D , Regensburg 2010, S. 257-272, hier S. 259-263. Zum Pilger‐ zeichen aus Goslar vgl. Hartmut K Ü H N E , Ein Pilgerbrief für die Wallfahrt nach Santiago de Compostela - zugleich ein Beitrag zum Wallfahrtswesen in Goslar um 1500, in: Marktkirchen-Bibliothek Goslar. Beiträge zur Erforschung der reformationszeitlichen Sammlung, hg. von Helmut L I E R S C H , Regensburg 2017, S. 146-160, hier S. 154-160. 84 Zu einem Braunschweiger Gussmodelfund für ein an das Vorbild des Lucceser Volto Santo angelehntes Kreuzzeichen vgl. S A M A R I T E R , Pilgerzeichen (wie Anm. 6), S. 430. Die Verehrung der crux nigra (Imervard-Kreuz) der Stiftskirche St. Blasii untersuchte Irmgard H A A S , Leben im Kollegiatstift St. Blasii in Braunschweig. Die liturgischen Stiftungen und ihre Bedeutung für Gottesdienst und Wirtschaft (Braunschweiger Werkstücke, Reihe A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv 54), Braunschweig 2011, S. 268-276. Zu einem Pilgerzeichen der Stiftskirche vgl. Hartmut K Ü H N E , Pilgerzeichen westfälischer Transitwallfahrten im Mittelalter, in: Pilgerzeichen - „Pilgerstraßen“, hg. von Klaus H E R B E R S / Hartmut K Ü H N E ( Jakobus-Studien 20), Tübingen 2013, S. 69-105, hier S. 95-97. ein Ende: Die Ordinatio Cultus Divini von 1591 des nun gemischtkonfessionellen Domkapitels kennt das festum patronorum am 16. August nicht mehr 81 . V. Ausblick Mit dem Halberstädter Dom und der benachbarten Liebfrauenkirche tritt eine historische Region in den Blick, die bisher in der Wallfahrtsforschung kaum eine Rolle spielte. In den verschiedenen Quellengruppen und Sachzeugen, in denen sich der Boom des spätmittelalterlichen Wallfahrtswesens gerade im 15. und frühen 16. Jahrhundert widerspiegelt, spielte Halberstadt bislang keine Rolle: Weder ein Mirakelbuch, ein Heiltumsdruck oder ein spektakulärer Papstablass ist aus der Zeit um 1500 bekannt, testamentarische Wallfahrtslegate sind bis auf das eine oben zitierte Beispiel 82 unbekannt und auch Pilgerzeichen waren bislang nicht nachzuweisen. Dies gilt im Übrigen auch für den weiteren Raum, der sich etwa mit dem Dreieck zwischen Halberstadt, Goslar 83 und Braunschweig 84 umschreiben lässt. Dies mag zum Teil an einem forschungsge‐ schichtlichen Desinteresse liegen, möglicherweise hat es aber auch damit zu tun, 343 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="344"?> 85 D I T M A R -T R A U T H , Magdeburger Gießformfund (wie Anm. 17), S. 54. dass hier bereits sehr früh Wallfahrtsanlässe geschaffen wurden - zu denken ist neben Halberstadt etwa an das Reliquienfest der Goslarer Stiftskirche oder das Imervardkreuz des Blasiusstifts in Braunschweig -, die später aber von den ‚Newcomern‘ im Wallfahrtswesen des 15. Jahrhunderts ‚überholt‘ wurden. Mit der Frage nach der Besonderheit des hier in den Blick genommenen Raumes hängt möglicherweise auch die Interpretation der hier diskutierten Weißmetallgüsse zusammen. Handelt es sich bei den Zeichen der Kreuzigungs‐ gruppe, den Marienzeichen und den Christuszeichen um Pilgerzeichen oder Devotionalien? Diese Frage soll hier, wie eingangs erwähnt, abschließend erwogen werden. Ein sicheres Indiz für die Funktion als Pilgerzeichen sind die an den Güssen angebrachten Ösen, die zu ihrer Befestigung an der Bekleidung oder der Tasche dienen. Die sichtbar getragenen Zeichen kennzeichneten den Träger als Besucher eines Heiligtums und stellten ihn auf seiner Pilgerreise unter den Schutz des jeweiligen Heiligen. Bei den drei vorgestellten Zeichen fehlen diese Befestigungsösen. Jedoch sind keineswegs alle Pilgerzeichen mit Ösen versehen; prominente Beispiele früher Pilgerzeichen ohne Ösen sind die Zeichen aus Gottesbüren und Stromberg. In der Regel sind Flachgüsse die bestimmende Form der Pilgerzeichen bis um 1300 / 1330. Die Kreuzigungsgruppe und das Christuszeichen, beides Git‐ tergüsse, also in der Fläche durchbrochene Güsse, weichen von dieser Regel deutlich ab. Gittergüsse gab es im 13. Jahrhundert bereits in großer Zahl, aller‐ dings fast ausschließlich in Form profaner Gegenstände. Der bereits erwähnte Magdeburger Modelfund umfasst zahlreiche Formen für kunstvolle Gittergüsse, überwiegend für Trachtenbestandteile, Schmuck und Spielzeug. Zwei Formen, ein Medaillon und die oben genannte Kreuzigungsgruppe Krückenkreuz, heben sich aus zweierlei Gründen aus diesem Fundkomplex heraus. Zum einen handelt es sich um die beiden einzigen religiösen Objekte, zum anderen sind beide Formen deutlich weniger sorgfältig gearbeitet als die anderen Gießformen der Werkstatt. Auf Grund der sehr vereinfachten Ausarbeitung werden beide Gussformen als Lehrlingsstücke gedeutet 85 . Vielleicht nahm ein Lehrling ein Halberstädter Zeichen als Vorbild für sein Elaborat? Die vorgestellten Zeichen lassen sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisen. Zu diesem Zeitpunkt sind sie von der südlichen Ostseeküste bis in den Harzraum weit verbreitet und in der Zeit um 1300 bis um 1325 erreicht ihre Verbreitung, insbesondere Abgüsse auf Glocken und Bronzefünten, ihren Höhepunkt. Die Zeichen der Kreuzigungsgruppe und die Marienzeichen 344 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="345"?> treten hier - zumindest teilweise - untereinander vergesellschaftet und in Kombination mit Pilgerzeichen der bedeutendsten Wallfahrtsorte im Rheinge‐ biet, mit Köln und Aachen, auf. Im Rhein-Maas-Gebiet ist die Herstellung von Pilgerzeichen in Köln, Aachen, Trier und Maastricht ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sicher belegt. Diesen linksrheinischen Pilgerorten stehen in Bezug auf die Pilgerzeichenproduktion im 13. Jahrhundert bisher nur zwei rechtsrheinische Gnadenstätten gegenüber, nämlich Marburg und Stromberg. Damit wären Pilgerzeichen aus Halberstadt neben Marburg und Stromberg die mit Abstand ältesten rechtsrheinischen Zeichen. Das mandorlaförmige Christuszeichen ist als Abguss u. a. mit einem Zeichen aus Canterbury vergesellschaftet, die Zeichen der Kreuzigungsgruppe und die Marienzeichen, wie bereits erwähnt, mit Pilgerzeichen aus Köln und Aachen. Es gibt also gute Argumente dafür, dass es sich bei den vorgestellten Güssen um Pilgerzeichen handeln könnte, auch wenn sich diese Verwendung (noch) nicht eindeutig belegen lässt. Die Schriftquellen lassen kaum Zweifel daran, dass es seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bis ins ausgehende Mittelalter nen‐ nenswerte Besucherströme aus den umliegenden Territorien nach Halberstadt gab. Fundorte, zeitliche Einordnung und zumindest ein Teil der Bildmotive der beschriebenen Zeichen lassen eine Zuschreibung nach Halberstadt nach jetzigem Kenntnisstand plausibel erscheinen. Eine endgültige Klärung dieser Frage müsste allerdings auch die Region mit in den Blick nehmen und nach weiteren, bislang möglicherweise übersehenen Spuren suchen. Anhang Albrecht, Erzbischof von Magdeburg und Mainz sowie Administrator von Halberstadt, erteilt allen Christgläubigen, die die Halberstädter Kathedralkirche St. Stephanus an jenen Tagen und Festen besuchen, an denen die Reliquien gezeigt oder herausgetragen werden, einen Ablass von 140 Tagen Landesarchiv Sachsen-Anhalt, U 5 Hochstift Halberstadt, XII Anhang Nr. 43 (Or., siehe Abb. 85), Siegel an Pergamentstreifen Halle, 1516 Juli 15 Albertus dei et apostolice sedis gracia sanctorum Magdeburgensis ecclesie ac Maguntine sedis archiepiscopus, primas et Sacri Romani Imperii in Germania archicancellarius, princeps elector et Halberstadensis administrator, marchio Brandenburgensis, Stettinensis, Pomeranie, Cassuborum Slavorumque dux, burggravius Nurembergensis ac Rugie princeps. Universis et singulis christifi‐ delibus, presentes litteras inspecturis, lecturis pariter et audituris salutem in 345 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="346"?> domino. Gratum atque pium altissimo tociens impendere credimus obsequium, quociens christifidelium mentes ad devocionis opera allectivis indulgenciarum numeribus propensius excitamus. Cupientes itaque ut ecclesia nostra cathedralis sancti Steffani Halberstadensis splendidissima et numerosa coacervacione reli‐ quiarum copiose dotata, congruis gaudeat honoribus, ac sanctorum reliquie in eadem contente iugis devotisque christifidelium accessibus frequententur et venerentur, atque cultus divinus in prefata ecclesia augmentetur, omnibus et singulis vere penitentibus et confessis hominibus christifidelibus, qui dictam ecclesiam nostram cathedralem in singulis diebus et festivitatibus dum et quo‐ cienscumque eedem sanctorum reliquie ibidem ostenduntur aut efferuntur de‐ vocionis et oracionis causa accesserint et coram eisdem Responsorium „Isti sunt sancti“, si clerici fuerint, si vero laici, oracionem dominicam cum salutacione angelica devote oraverint, de omnipotentis dei misericordia nec non beatorum Petri et Pauli apostolorum auctoritate ac sanctorum Mauricii et sociorum eius, Martini atque Steffani, nostrorum patronorum meritis confisi, ac ex speciali indulto et privilegio sedis apostolice tociens quociens id fecerint, de unaquaque particula reliquiarum seorsum centum et quadraginta dies indulgenciarum de iniunctis eis penitentiis misericorditer in domino relaxamus. In quorum fidem et evidens testimonium sigillum nostrum presentibus est appensum. Datum Hallis in arce divi Mauricii anno virginei partus Millesimo Quingentesimo Decimo Sexto die Martis Decimaquinta mensis Julii etatis nostre vicesimo septo, pontificatus et coronacionis nostre anno tercio. 346 Renate Samariter und Christian Popp unter Mitarbeit von Hartmut Kühne <?page no="347"?> Abb. 85: Ablassurkunde für den Halberstädter Dom von Erzbischof Albrecht, Halle 1516 347 Halberstädter Zeichen auf Erztaufen und Glocken zwischen Ostsee und Saale? <?page no="349"?> 1 Zur Baugeschichte und Architektur der Predigerkirche vgl. Rainer M Ü L L E R , Die Kirchen und Klöster der Bettelorden in Erfurt, in: Karl H E I N E M E Y E R / Anselm H A R T I N G E R (Hg.), Barfuß ins Himmelreich? Martin Luther und die Bettelorden in Erfurt. Textband und Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Erfurt 2017, Dresden 2017, S. 208-251 mit weiteren Literaturangaben. Zur Ausstattung vgl. Tim E R T H E L , Die Ausstattung der Erfurter Bettelordenskirchen zur Klosterzeit, in: ebd., S. 252-291. 2 Zu diesem Aspekt gibt es bisher nur eine knappe Untersuchung: Dieter S T I E V E R M A N N , Erfurt und die spätmittelalterliche Jakobusverehrung, in: Rudolf W. K E C K (Hg.), Kultur‐ geschichte im Dialog. Eine Freundesgabe für Josef Nolte (Hildesheimer Beiträge zur Kulturgeschichte 2), Hildesheim 2010, S. 107-113. Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung Tim Erthel Einleitung Die Erfurter Predigerkirche zählt wegen der Schönheit ihrer Architektur, der umfangreichen Überlieferung an seltenen architektonischen Details und dem bemerkenswerten Bestand an mittelalterlicher Ausstattung zu den künstlerisch bedeutendsten Dominikanerkirchen im deutschsprachigen Raum 1 . Bisher wurde wenig beachtet, dass die Kirche ein bedeutender Ort der Jakobus-Verehrung war 2 . Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts besaß das Kloster eine hochrangige Reliquie dieses Heiligen. Mit den Gräbern der Stiftsheiligen Eoban und Adolar im Erfurter Dom und dem Grab des hl. Severus von Ravenna, seiner Frau und Tochter in der Severikirche gab es so eine dritte überregional bekannte Reliquienstätte in der thüringischen Großstadt. Folgende Ausführungen haben das Ziel, die Jakobusverehrung an der Predi‐ gerkirche nachzuzeichnen. Nach einer knappen Kloster- und Baugeschichte wird zunächst die dafür grundlegende Schriftquelle, das Stifterbuch des Klosters, kurz vorgestellt. Anschließend werden die Anfänge des Kults in den Blick genommen. Es folgt die Schilderung der Reliquienüberführung und die Wieder‐ gabe der Seelgerätstiftung der Donatorin. In einem größeren Abschnitt werden schließlich die Auswirkungen der Schenkung auf die Ausstattung der Kirche zu <?page no="350"?> 3 Bei der Untersuchung erhielt ich vielfältige Unterstützung von Martin Sladeczek (Erfurt), dem dafür herzlich gedankt sei. betrachten sein 3 . Diese waren deutlich umfangreicher als bisher angenommen. Die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Reliquie und Kircheneinrichtung werden hier erstmals aufgezeigt. Kloster- und Baugeschichte 1229 erfolgte durch Graf Elger IV . von Honstein die Niederlassung der Dominikaner in Erfurt nahe der Paulskirche am linken Ufer der Gera. 1238 wurde eine erste Klosterkirche geweiht, die bereits ab dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts durch einen größeren Neubau schrittweise ersetzt wurde. Das Kloster zählte im Spätmittelalter als zentraler Konvent der 1303 gegrün‐ deten Provinz Saxonia und als Sitz eines Generalstudiums zu den wichtigsten Niederlassungen des gesamten Ordens. Es war Wirkungsstätte herausra‐ gender Ordensgeistlicher, wie beispielsweise Meister Eckart († 1328), der um 1275 als Novize Aufnahme fand, 1294 zum Prior und schließlich zum ersten Provinzial der Ordensprovinz Saxonia mit mehr als 50 Konventen vom Thüringer Wald bis an die Ost- und Nordsee gewählt wurde. Der Konvent bestand gut 300 Jahre. 1521 hat Georg Forchheim erstmals in der Kirche evangelisch gepredigt, 1525 wurde eine neue Gemeinde aus den umliegenden Pfarreien gebildet. 1559 wurde die Kirche zur evangelischen Hauptkirche des Stadtrates erhoben. Das Kloster blieb bis 1588 im Besitz des Ordens, ehe es der Stadtrat für Schulzwecke übernahm. Die Predigerkirche zählt zu den frühesten gotischen Bauwerken Erfurts. 1272 / 73 konnten die ersten fünf östlichen Joche unter Dach gebracht werden. Der erhaltene östliche Klausurflügel wurde 1278 / 79 errichtet. Der Neubau des westlichen Kirchenteils erfolgte ab der Mitte des 14. Jahrhunderts und wurde in den 1430er Jahren mit der Einwölbung abgeschlossen. Schließlich wurde zwischen 1447 und 1484 der Glockenturm errichtet. Die Kirche stellt eine dreischiffige, querschifflose Pfeilerbasilika von 15 Jochen aus sorgfältig gesetztem Werksteinmauerwerk dar (Abb. 1). Auf der Westseite, die den Quer‐ schnitt der Basilika mit ihren hohen Seitenschiffen abbildet, befindet sich das Hauptportal und darüber ein fünfbahniges Maßwerkfenster als Hauptschmuck der Fassade (Abb. 2). Das Mittelschiff endet in einem Fünf-Achtel-Polygon; die Seitenschiffe schließen flach. Das Kircheninnere präsentiert sich als weiter, kreuzrippengewölbter Raum von großer, im Hinblick auf die lange Bauzeit erstaunlicher architektonischer Geschlossenheit (Abb. 3). Die lange Reihung 350 Tim Erthel <?page no="351"?> steil proportionierter Arkaden bewirkt eine eindrucksvolle Tiefenwirkung. Auffällig ist, dass der Chor zum Langhaus zweifach abgeriegelt ist: Zum einen durch dreiseitige Chorschranken, die die vier östlichen Mittelschiffsjoche als Binnenlangchor abtrennen, und einen Lettner, der sich zwischen fünftem und sechstem Joch über die gesamte Kirchenbreite erstreckt. Eindrucksvoll sind die skulpturierten Gewölbeschlusssteine im Langhaus. Sie zeigen christliche Symbole, Heilige sowie Wappen und Zunftzeichen derjenigen Familien bzw. Zünfte, die zur Einwölbung beigetragen haben. Abb. 1: Erfurt, Predigerkirche, Grundriss 351 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="352"?> 4 Stifterbuch, Bibliothek der evangelischen Predigergemeinde Erfurt, Hs 2; August Z A C K E , Ueber das Todten-Buch des Dominikaner-Klosters und die Prediger-Kirche zu Erfurt, in: Jahrbücher der Königlichen Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, N. F. 2 (1861), S. 22-150. Die ausführlichste Beschreibung der Handschrift stammt von Thomas N I T Z , Das Stifterbuch des Erfurter Predigerklosters. Eine spätmittelalterliche Quelle für Stadtgeschichte und Bauforschung, Magisterarbeit Bamberg 1998, S. 4-41. Der Wert dieser Untersuchung wird gesteigert durch eine vollständige Transkription des Stifterbuchs im Anhang mit Orts- und Namensregister sowie Sachregister: Thomas N I T Z , Das Stifterbuch des Erfurter Predigerklosters als Quelle für die Baugeschichte der Predigerkirche, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 62 (2001), S. 71-101, v. a. S. 72-86; Julia M A N D R Y , Die Stiftungen für das Erfurter Predigerkloster von den Anfängen des Klosterbaus bis zur Reformation, Magisterarbeit Jena 2011, S. 4-6; Julia M A N D R Y , Die Stiftungen für das Erfurter Predi‐ gerkloster von den Anfängen des Klosterbaus bis zur Reformation. Statistische Analyse und Beispielbetrachtung, in: Joachim E M I G u. a. (Hg.), Vor- und Frühreformation in Abb. 2: Erfurt, Predigerkirche, Westansicht Abb. 3: Erfurt, Predigerkirche, Innenansicht, Blick nach Osten Das Stifterbuch Bei dieser spätmittelalterlichen Handschrift, die sich noch immer im Besitz der Predigergemeinde befindet, handelt es sich um eine wertvolle Quelle zur Geschichte des Klosters 4 . Das hauptsächlich zwischen etwa 1420 und 1520 352 Tim Erthel <?page no="353"?> thüringischen Städten (1470-1525 / 30) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 1), Köln u. a. 2013, S. 99-142, hier S. 101 f. 5 N I T Z , Stifterbuch (wie Anm. 4), S. 42; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 42 f., Kata‐ lognr. S13. 6 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 25r. niedergeschriebene Werk beinhaltet vor allem Angaben zu den Wohltätern des Klosters seit seiner Gründung und zu Art und Umfang der jeweiligen Stiftung. Es enthält Memorialstiftungen von Einzelpersonen sowie Bruderschaftsverträge, die auch Informationen zur Baufinanzierung und zur Anschaffung von Aus‐ stattungsstücken liefern. Des Weiteren verzeichnet es chronikalische Berichte, wie beispielsweise zur Gründung des Konvents 1229. Für die Erforschung der Jakobusverehrung an der Predigerkirche bildet es die zentrale Quelle. Es enthält nicht nur den Translationsbericht der Reliquie, sondern auch die Seel‐ gerätstiftung der Schenkerin. Außerdem finden mehrere Ausstattungselemente mit Bezug zur Jakobusverehrung Erwähnung. Außerhalb der klösterlichen Überlieferung hat die Jakobusreliquie keinen Niederschlag in den Schriftquellen gefunden, nicht einmal in der umfangreichen städtischen Chronistik Erfurts. Der Jakobusaltar als Familien- und Votivaltar des Patriziergeschlechts Lange 1279 stiftete Hugo Lange, einflussreicher Erfurter Patrizier und Prokurator des Predigerklosters, mit seiner Gemahlin Jutta den Jakobusaltar 5 . Die Memorialstif‐ tungen der Familie sind im Stifterbuch aufgeführt und mit einer Miniaturmalerei geschmückt, die das Wappen der Familie zeigt (Abb. 4). Es handelt sich um einen roten Löwen auf grünem Grund. Der Kopf des Löwen, die Tatzen und das Ende des Schweifs sind golden. Dit yst der Huge der Langen begenkenisse unde selegerete und yr erben. In lobe und ere des almechtigen gottis, der hochgelobeten iunkfrowen marien, syner werdigen mutter, und aller heyligen hat der erhaftige Huck der Lange, eyn getruwer vorstender vnd vormunde disses closters, und frow Gutte, syn eliche wertyn, dessem kloster und brodern bescheyden und gegeben czwey phunt geldis und haben lasen gebuwet den altar sente Iacob des großten apostoln vor deme kor und yn dy sakerstyen gegeben messe gewant und pallia. Darvmm haben sy gestyft und gemacht eyn ewig begenckenisse yn eyme iglicken iare myt vigilien und selemessen yn dyssem closter czu halden und got unsern hern flislichen vor ore selen und vor alle dy uß orme geslechte vorscheyden ewiglichen czu beten, und dyt begenkenisse yst gestift und gemacht nach Christi gebort tusent czwey hundert Dar nach in dem nun und sebynczigosten iare 6 . 353 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="354"?> Abb. 4: Stifterbuch des Predigerklosters, Memorialstiftungen der Familie Lange 354 Tim Erthel <?page no="355"?> 7 Vgl. Johannes B I E R E Y E , Erfurt in seinen berühmten Persönlichkeiten. Eine Gesamtschau (Sonderschriften der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt 11), Erfurt 1937, S. 65. Eine Zusammenstellung urkundlicher Belege zu Hugo Lange liefert Heinz-Rudolf K E I L , Etliche Erfurter Geschlechter im Mittelalter, Kleve 2009, S. 169f. 8 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 25r. 9 N I T Z , Stifterbuch (wie Anm. 4), S. 42. Es handelt sich hier um die erste fassbare Stiftung in der Predigerkirche überhaupt. Hugo Lange gründete mit seiner Frau Jutta einen Altar zu Ehren des hl. Jakobus des Älteren und stiftete dazu liturgische Gewänder, die in der Sakristei verwahrt wurden 7 . Das zu begehende Jahrgedächtnis umfasste eine Vigil sowie eine Messe und schloss das Gedenken an die bereits Verstorbenen aus dem Geschlecht der Familie mit ein. Die Stiftung wurde im 14. Jahrhundert durch weitere Angehörige der Familie mehrfach erweitert 8 . Dies fand einen künstlerischen Höhepunkt in der Beauftragung des hochgotischen Retabels mit der Darstellung des Kalvarienbergs, worauf noch einzugehen ist. Der Altar stand im nördlichen Bereich der westlichen Chorschranke, wie aus der Bezeichnung vor deme kor hervorgeht (Abb. 5). Mit dem kor ist hier nur der innere, durch die Chorschranken abgegrenzte Bereich im Ostteil der Kirche gemeint 9 . Da zum Zeitpunkt der Stiftung 1279 der Kirchenbau nur bis zu der Stelle des späteren Lettners vorangeschritten war, wurde der Altar offenbar zusammen mit der Abschrankung und als Teil von ihr errichtet. 355 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="356"?> 10 Gleich bey dem Chor, nach den Eintritt in das Chor liegt auf der Erden ein großer Stein mit dieser Inschrift: An: Dni. MCCLXXIX. VII. idus Augusti obiit venerabilis Dos. (Dominus) Hugo Longus procurator frm (frumenti) huius domus hic sepultus, cujus anima requiescat in pace. Führet unten zu den Füßen einen Löwen im Wappen. Noch ein größerer präsentirt sich in der Höhe. Stadtarchiv Erfurt, 5 / 101-4: Johann Michael W E I N R I C H , Notizen über Abb. 5: Predigerkirche, westliche Chorschranke, Standort des Jakobusaltars mit erhal‐ tenem Altaraufsatz Die Gestalt des frühgotischen Altaraufsatzes ist unklar. Der Stipes wurde spätestens im 19. Jahrhundert entfernt. Der Altar bildete das Zentrum des Totengedenkens der Langes, wie mehrere Grabmäler in seiner Nähe belegen. Der Gründer des Altars, Hugo Lange, war im Jahr seiner Stiftung 1279 gestorben. Er wurde unmittelbar östlich des mittleren Lettnerdurchgangs bestattet. Dort lag Anfang des 18. Jahrhunderts seine Grabplatte, wie der evangelische Geist‐ liche Johann Heinrich Tiemeroth mitteilt 10 . Das Grabmal datiert nach epigraphi‐ 356 Tim Erthel <?page no="357"?> Erfurter evangelische Kirchen, Bl. 16r. Der Verfasser dieser 1717 / 18 entstandenen Handschrift war nicht Johann Michael Weinrich, sondern Johann Heinrich Tiemeroth (1669-1758). Siehe hierzu Tim E R T H E L , „Sonderbahre alte und neue Merckwürdigkeiten, welche in der Stadt Erffurth hin und wieder anzutreffen“ - Johann Michael Weinrichs Kirchenführer vom Anfang des 18. Jahrhunderts, Typoskript des Vortrages, gehalten am 16. Juni 2016 vor dem Förderverein der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums Erfurt, S. 6 f. Zur Person Tiemeroth siehe Martin B A U E R , Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens (Schriftenreihe der Stiftung Stoye der Arbeitsgemeinschaft für mitteldeut‐ sche Familienforschung e. V. 22), Neustadt an der Aisch 1992, S. 313. 11 Richard J A H R / Wilhelm L O R E N Z , Die Erfurter Inschriften (bis zum Jahre 1550), in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 36 (1915), S. 1-180, hier S. 10, Nr. 17; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 43, Katalognr. G1; Peter-Jürgen K L I P P S T E I N , Erfurter Wappendarstellungen auf Epitaphien und Grab‐ platten des Mittelalters und der frühen Neuzeit - Steinerne Zeugnisse in der Prediger‐ kirche als Quellen der Genealogie und der Wappenkunde, Teil 1, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 9 (2014), S. 339-382, hier S. 368. 12 J A H R / L O R E N Z , Inschriften (wie Anm. 11), S. 13, Nr. 44; Peter-Jürgen K L I P P S T E I N , Erfurter Wappendarstellungen auf Epitaphien und Grabplatten des Mittelalters und der frühen Neuzeit - Steinerne Zeugnisse in der Predigerkirche als Quellen der Genealogie und der Wappenkunde, Teil 2, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 10 (2015), S. 329-398, hier S. 377. Eine Autopsie der Grabplatte ergab die Lesung AN(N)O D(OMI)NI MCCCIIII[…] und kann das von der Forschung angegebene Sterbejahr „1308“ nicht bestätigen. Zu den urkundlichen Belegen vgl. K E I L , Geschlechter (wie Anm. 7), S. 173 f.; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), Katalognr. G3. 13 Georg Q U E H L , Die Religion der Thüringer, Bd. 1: Die Prediger-Kirche zu Erfurt, Erfurt 1830, S. 101; zu Gottschalk Lange vgl. K E I L , Geschlechter (wie Anm. 7), S. 174. 14 Die Zeichnung stammt von Rudolf Böckner (Stadtarchiv Erfurt, 5 / 110 B 12-24, S. 119). Von der Inschrift konnte Böckner bis auf den Namen „[GOT]SChALCVS LONGVS“ nichts mehr erkennen. 15 T I E M E R O T H , Kirchenführer (wie Anm. 10), Bl. 16r. schem Befund jedoch nicht ins 13. Jahrhundert, sondern wahrscheinlich erst ins 15. Jahrhundert 11 . Heute steht es vor der Ostseite des Lettners (Abb. 6). Erhalten ist außerdem die Grabplatte für Hugo Lange den Jüngeren († 1304? ) 12 . Sie liegt heute im nördlichen Chorseitenschiff (Abb. 6). Die Grabplatte für den in der Mitte des 14. Jahrhunderts gestorbenen Gottschalk Lange lag direkt vor dem Jakobusaltar und war 1830 noch vorhanden 13 . Von ihr existiert eine Zeichnung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (Abb. 6) 14 . Bei diesen drei Grabmälern handelt es sich um Wappengrabsteine, von denen es deutlich mehr gegeben haben muss, wie Tiemeroth mitteilt: Es sind dieser Steine eine große Menge in der Kirche zu den Predigern zu finden 15 . 357 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="358"?> 16 N I T Z , Stifterbuch (wie Anm. 4), S. 45; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 50 f., Kata‐ lognr. S78. 17 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 25r. Abb. 6: Grabmäler für Hugo Lange († 1279) links; Hugo Lange den Jüngeren († 1304[? ]) Mitte und Gottschalk Lange († Mitte 14. Jahrhundert) rechts Die Familienmemoria wurde im 15. Jahrhundert manifestiert, indem die Brüder Hugo Lange der Ältere und Hugo Lange der Jüngere 1432 den Gewölbeteil über dem Lettner, der ihr Wappen im Schlussstein zeigt, stifteten 16 . Auch diese Stiftung ist mit Anweisungen für das Jahrgedächtnis dokumentiert 17 . Item Dy ersamen Junckern Juncker Hug der Lange der Alde unde Juncker Huge der Lange der Junge, der syn brodder yst gewest, haben ouch vele grosse mylde almosen dysseme geywertigen kloster und brodder czu gewant unde gegeben. Besundern haben sy lasen buwen eyn gewelb obbyr der borkerchen, do or wappen an gemalt stet, das da het gekostet 76 schogg groschen. Dor umm so haben eyn ewig begenckenisse yn eyme ixlichen iar myt vigilie und myt deme ampachte der heyligen selemesse Und gotte unsen herren fliseklichen vor or sele czu betyn und vor alle dy uß orme geslechte vorscheyden synt, und des haben so eynen bryf von deme kloster gestift und gemacht nach Christi gebort vyrczenhundert und yn deme czwey und dreyssigesten Jare. 358 Tim Erthel <?page no="359"?> 18 Die Tingierung ist falsch und resultiert aus einer jüngeren Restaurierung. Das Wappen zeigt einen goldenen Löwen auf blauem Grund. Zur korrekten Darstellung des Wappens der Familie Lange siehe oben. 19 Vgl. Z A C K E , Totenbuch (wie Anm. 4), S. 33 f. und 36 f.; Theodor K O L D E , Das religiöse Leben in Erfurt beim Ausgange des Mittelalters, Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Re‐ formation (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 16), Halle 1898, S. 12; S T I E ‐ V E R M A N N , Erfurt (wie Anm. 2), S. 108-110; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 69-72, Katalognr. S23. 20 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 14v-15v; abgedruckt in: Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen, Büchern, Uhrkunden, Controversien, Anmerckungen und Vorschlägen, Auff das Jahr 1721. Nebst den nöthigen Registern, Leipzig 1721, S. 339-343; Karl Heinrich Friedrich Chlodwig R E I T Z E N S T E I N , Regesten der Grafen von Orlamünde aus Babenberger und Ascanischem Stamm: mit Stammtafeln, Siegelbildern, Monumenten und Wappen, Bayreuth 1871, S. 148. 21 N I T Z , Stifterbuch (wie Anm. 4), S. 30-32. Der auffallend große Schlussstein mit dem Wappen steht gewissermaßen stell‐ vertretend für die zahlreichen Stiftungen der Familie 18 . Er zeugt von dem gestei‐ gerten Repräsentationsbedürfnis der Stifter, ihrer gehobenen gesellschaftlichen Stellung und ihrem Reichtum. Er drückt Familienstolz und Familienbewusstsein aus und sicherte als Denkmal den Nachruhm. Die Position des Gewölbes entspricht in etwa der des Jakobusaltars, wodurch der familiäre Andachtsraum hervorgehoben und räumlich konstituiert wurde. Im Zusammenhang mit der Gewölbestiftung 1432 erfolgte wahrscheinlich die (Neu)Anfertigung der Grabplatte für Hugo Lange († 1279), den Stifter des Jakobusaltars. Sie lag unter dem Schlussstein und erfüllte wie jener eine identitätsstiftende Funktion. Der Translationsbericht der Jakobusreliquie In spektakulärer Weise wurde im 14. Jahrhundert die Jakobusverehrung bei den Erfurter Dominikanern intensiviert. Der Konvent kam in den Besitz einer Armreliquie dieses Heiligen 19 . Konkret handelte es sich um den rechten Oberarm, also einen Teil des Schwertarms, mit dem Jakobus nach der Legende auf der iberischen Halbinsel gegen die Mauren gekämpft haben soll. Dieses Geschenk hatte eine verwickelte Vorgeschichte, die im Translationsbericht des Stifterbuchs festgehalten ist 20 . Dieser Abschnitt zählt zu den späten historischen Nachträgen des Stifterbuchs vom Ende des 16. Jahrhunderts. Sein Verfasser war womöglich Johann Keilmann, Prior des Predigerklosters 21 . Es handelt sich um die Abschrift einer älteren Vorlage, wie aus der Überschrift hervorgeht: 359 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="360"?> 22 Zu Fragen der Datierung hier und des Folgenden vgl. unten. COPEI AUS EINEM ALTEN VORZEICHNIS WIE DAS WERDE HEILIGE HEYL‐ THUM DAS ÖBERSTE THEIL DES ARMES DES HEILIGEN ZWÖLFBOTEN SANT IACOBS AUS HISPANIEN KOMMEN IST IN DÖRINGEN UND GEGEBEN DEM ORDEN DEN PREDIGERN ZU ERFORD. Man erfährt folgendes: 1332 war ein König Erich von Schweden ins Königreich Spanien gezogen. Bei seiner Abreise übergab ihm der spanische König den rechten Oberarm Jakobus‘ des Älteren als Geschenk. Wortwörtlich heißt es: Do man schreib nach christi geburt unsers herren tausent Drihundert zwei undt dreißig Jar, ist der hochgeborne könig zu schweden genand Ehrich in hispanien gezogen zu dem erleuchten könige und herren deßelbigen Reiches und etliche zeidt bei ihm geblieben, also das der königk von hispanien dem obgenanten könige Erico gar freundlichen und heimlichen worden ist, und ihn sehr Lieb hat gewonnen, iedoch nach vergangner Zeidt schikte sich der könig von Schweden wider heim Zu reisen in sein reich mit offenbarung gegen dem könige von hispanien, der eines sölchen abscheidens seines besondern sehr erschroken ist und bedachte was er ihm möchte geben Zu einem gedechtnus Geistlicher Liebe und christlicher erzeigung. Da gab er und uberantwortet ihme das öberste theil von dem Elnbogen bis an die achsel des rechten armes des großen Zwölfboten Sant Jacobs die aller höchste und beste gabe Zu einem ewigen gedechtnuß, also empfieng der getreue und christliche könig von schweden von dem getreuen hochgelobten könige von hispanien den achbarn edlen schatz mit großer freude und dangkbarkeid […]. Nach Schweden zum inzwischen heimgekehrten König Erich reiste nun ein Graf Burkhard von Querfurt. Er war mit einem der führenden Geschlechter des nordi‐ schen Reiches verwandt, den sogenannten Herren von Litzgau. Er blieb in Schweden bis zum Tod des Königs Erich 22 . Nach dessen Tod heiratete Graf Burkhard die Königswitwe Sophia und kehrte mit ihr und der Reliquie in seine mitteldeutsche Heimat zurück. Sie zeugten drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Die Tochter Sophia wurde Nonne in Roßleben. Die Tochter Mechtild wurde mit dem Herrn Burkard von Falkenstein vermählt. Der Sohn, der ebenfalls Burkard hieß, heiratete eine Tochter Hermans, des Grafen von Beichlingen: In der zeidt ist ausgezogen in Schwehden der Wolgeborn herr Burchardt Grave zu Quernfurd zu beweren seine Ritterschaft Zu dienst dem könige desselbigen Reiches, und auch Zu besuchen seine angeborne öhmen und nefen Die herren von Litzgaw, die vornembsten eldesten des Reichs in Schweden. Der genante Grave herr Burckhardt ist wol zu dienst und willen worden dem herren Eric könige in Schweden und bei ihm blieben bis an sein ende, aber nach Naturlicher vorscheidung des königs ist fraw Sophia Witwe des 360 Tim Erthel <?page no="361"?> vorscheidenen königes vertrawet worden dem genanten graven Burchardt mit rath und beförderung seiner nefen der genanten herren von Litzgaw und hat aber balde heimfart mit sampt dem schatze des edlen vorgenanten heilthums und andern seltzamen Stugken mehr, und kam in sein landt gen Quernfurdt, do er dan gewan mit der genanten frawen Sophien zwo töchter, deren eine ein Closterjungkfraw ward zu Roßleben genant Sophia. Die ander, genand Mechtild, vortrawet ward Herrn Burgkhardt von falkenstein. Er hat auch aus ihr gezielt einen sohn und jungen herrn, genandt Burckhan, der hernach zur heiligen ehe vertrauet ist der tochter herren Hermans, Graven zu Beichlingen. Nach Sophias Tod heiratete Graf Burkhard ein weiteres Mal, nämlich Mechtild, aus dem Hause der Grafen von Weimar-Orlamünde, die in erster Ehe mit Graf Heinrich von Honstein verheiratet gewesen war. Beide lebten auf der Burg Nebra. Es ist darnach vorscheiden fraw Sophia, des mehrgenanten herren zu Quernfurt ehgemahl Nachgelaßene des königes Weiland in Schweden, hernach hat itzgemelter grave gefreyet zur heiligen ehe fraw Mechtild die do war eine tochter des herren von Orlamunde und eine schwester der beider herren herren friderichs und hermans herren zu weymar, die zuvor gehat herren heinrich Graven zu honstein, und haben miteinander gewonet auf der Burgk Nebra bis an den todt des obgenanten Graven herren Burgkharts, der den arm S. Jacobs bracht aus Schweden. Nach Burkhards Tod zog Mechtild nach Erfurt, wohin sie die Reliquie mitnahm. Dort wohnte sie in der Nähe des Predigerklosters, um alle Tage die Messe zu hören und die sieben Tagzeiten mit begehen zu können. Darnach gedachte die edle wolgeborne fraw Mechtild Nachgelaßne Witwe des ehgenanten herren Burgkhards seligen wie sie ihren stand vnd wesen zu Gott dem allmechtigen möchte mit größerm dienst vnd Geistlikeid keren vnd ist gezogen gen Erfurd in die stadt wonhaftig dann zu bleiben umb freyheid vnd vortheidigung und hat genommen mit sich den obgenanten arm Sant Jacobi und von rechter sönderlicher andacht allernechst gewohnet in der behausung bey der prediger bruder closter, das sie alle tage möchte hören Meße und die sieben zeidt. Mechtild machte mit dem Rat von Geistlichen und der Zustimmung ihrer Mutter ihr Testament und bedachte das Predigerkloster mit der wertvollen Reliquie. In einer besonderen Lade brachte sie das Heiltum unter Tränen eigenhändig aus ihrem Haus in die Predigerkirche und legte es auf dem Hochaltar nieder. Als Gegenleistung verlangte sie nur die Gebete der Brüder sowie eine Grabstelle im südlichen Chorseitenschiff neben der Sakristei. Und die obgenante Mechtild von götlicher erleuchtung vnd Eingebung von tage zu tage ihr zeitliche guter zu bestellen und zu einem Testament zu geben an die ehre Gottes 361 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="362"?> 23 S T I E V E R M A N N , Erfurt (wie Anm. 2), S. 109 f. und ihr selbern zu einem ewigen friede, hierumb mit wolbedachtem Mute ihrer Mutter, Beichteger und anderer geistlicher personen Rathe, hat sie den vielgenanten arm Sant Jacobi in einer köstlichen Laden aus ihrem eigen hause in ihren eigen henden getragen in die kirch der prediger bruder in Erfurt mit großer gottes Liebe, andacht weinende bis in den chor auf den hohen altar den heiligen schatz gott dem allmechtigen zu einem opfer und Sant Dominico stiftern des prediger Ordens, und hat nit anders darumb begert dan das gebet der bruder und ihrer guten ubungen götlicher wergk. Darnach ist die andechtige fraw Mechtildis aus dem chore in die abseiten czu der rechten hand vor die Sacristey deßelbigen Closters in großer demut gegangen und auserwelet eine stete ihres begrebnus und ist ernach durch gottes ordenung daselbst begraben. Mechtild stiftete zudem 40 Pfund Erfurter Pfennige zu einem Reliquiar für das Heiltum. Ihre zu Weimar sitzenden Brüder Friedrich und Hermann waren mit der Reliquienübertragung anfänglich nicht einverstanden, sodass es zu Schlichtungsgesprächen kam, woraufhin die Grafen einwilligten. Auch zu der obgenanten gabe hat sie eine zeitliche milde almusen mitgeopfert viertzig pfund Erfordischer pfennige zu einer Monstrantzen darin man solte behalten den Edlen schatz des vorgemelten arms, es seind auch hierumb die obgenanten zwene Leibliche bruder frawen Mechtildt friderich und herman in den gezeiten herren zu Weymar un‐ gnedig vnd feinde worden dieweil sie hatten den edlen schatz des arms etc. aufgenommen ohne ihren wißen und willen und meineten das ihre schwester nit möchte oder sollte einen solchen edlen schatz ohn ihr vorjahung entpfremden, iedoch solche Zwitracht ist darnach durch gottes ordnung und guter herren vnd freunde vorbitte gewandelt in Liebe und gute gunst, die die wolgebornen obgenanten herren darnach hatten zu den prediger brudern bis an ihr ende. Und also ist der arm des heiligen zwölfboten des großen Apostels gen Erfurdt zu den predigern kommen. Dieser bemerkenswerte Bericht einer spätmittelalterlichen Reliquientranslation und -schenkung ist stellenweise sehr genau, hält aber nur teilweise einer Nachprüfung stand. Dieter Stievermann hat die historischen Angaben des Translationsberichts geprüft 23 . Daraus ergibt sich, dass der zu Beginn geschil‐ derte spanisch-schwedische Abschnitt nicht einwandfrei nachvollzogen werden kann. So wird beispielsweise der Name des spanischen Königs nicht erwähnt. Ein schwedischer König Erich kommt für das Jahr der Schenkung 1332 ebenfalls nicht in Frage; damals regierte Magnus II . Eriksson (1319-1364). Dafür hießen sein Vater und sein Sohn Erik bzw. Erich. Stievermann weist nach, dass es trotz der Probleme mit den Angaben des Stifterbuchs zum Schwedenkönig sehr wohl Indizien für einen historischen Kern des Berichts gibt und entwickelt mehrere 362 Tim Erthel <?page no="363"?> 24 Er war der Sohn von Gebhard VII. von Querfurt, Herr zu Querfurt († nach 29. Juni 1322), und Hardewig von Lobdeburg-Arnshaugk († vor 29. Juni 1322). Detlev S C H W E N N I C K E , Europäische Stammtafeln, Neue Folge, Bd. 29, Frankfurt am Main 2000, Tafel 91. 25 Das ergibt sich aus einer Urkunde vom 20. Februar 1331, in der sie als Ehefrau von Busso von Querfurt erscheint. Urkundenbuch der Stadt Erfurt, Bd. 2 (1321-1400), hg. von Carl B E Y E R (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 24), Halle 1897 (im Folgenden: UB Erfurt 2), Nr. 96. 26 Detlev S C H W E N N I C K E , Europäische Stammtafeln, Neue Folge, Bd. 1,2, Frankfurt am Main 1999, Tafel 185. 27 Er war der Sohn des Grafen Heinrich III. von Honstein-Sondershausen und der Gräfin Jutta von Ravensberg. Detlev S C H W E N N I C K E , Europäische Stammtafeln, Neue Folge, Bd. 17, Frankfurt am Main 1998, Tafel 91. 28 Urkundenbuch der Stadt Erfurt, Bd. 1 (bis 1320), hg. von Carl B E Y E R (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 23), Halle 1889, Nr. 628. Theorien. Diese sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Er verweist auf die verwandtschaftlichen Beziehungen der Querfurter zu den dynastisch vielfach verflochtenen nordischen Königen und ihrem Umfeld. Stievermann kommt zu dem Schluss, dass die spanisch-schwedische Vorgeschichte vereinfacht wieder‐ gegeben ist und sich in Wirklichkeit viel verwickelter dargestellt haben muss. Außerdem könne das Jahr 1332 als Datum für den Erwerb der Reliquie in Spanien nicht stimmen. Die Schenkung müsse früher stattgefunden haben. Die Passagen, die Mitteldeutschland und Erfurt betreffen, sind hingegen recht plausibel, wenn auch nicht fehlerfrei. Hier muss der Blick auf die Protagonisten geschärft werden. Bei Graf Burkard handelt es sich um Busso (Burchard) VI . von Querfurt, Herr zu Nebra (1325-1335) 24 . Er ist zwischen 1310 und 1337 urkundlich belegt und starb zwischen 1337 und 1340. Für seine im Translationsbericht erwähnte erste Ehe und deren daraus hervorgegangene Kinder gibt es keinen Nachweis. Er heiratete vor dem 20. Februar 1331 die Gräfin Mechtild von Weimar-Orlamü nde 25 . Sie war die Tochter des Grafen Hermann V. von Weimar-Orlamünde (vor 1279-1319) sowie der Gräfin Mechtild von Rabenswald († nach 1338) und hatte zwei Brüder - Friedrich I. († 1365) und Hermann VI . († 1372) 26 . In erster Ehe war sie nicht mit Graf Heinrich von Honstein verheiratet, wie es im Bericht heißt, sondern mit Graf Dietrich IV . von Honstein, Graf von Sondershausen-Strauß‐ berg-Greußen († 11. April 1317) 27 . Mechtild ist urkundlich von 1312 bis 1340 belegt. So hat sie beispielsweise 1320 am Verkauf des Orlamünder Hofs in Erfurt mitgewirkt 28 . Nach dem Tod ihres zweiten Ehemanns Ende der 1330er Jahre zog sie nach Erfurt und lebte dort bis zu ihrem Tod. Ihr Sterbejahr ist nicht bekannt. 363 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="364"?> 29 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 16r; abgedruckt in: Fortgesetzte Sammlung (wie Anm. 20), S. 337-339; R E I T Z E N S T E I N , Regesten (wie Anm. 20), S. 148; UB Erfurt 2 (wie Anm. 25), Nr. 108; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 70. Stievermann hat die Memorialstiftung Mechtilds für seine Untersuchung nicht zur Kenntnis genommen. 30 Zur Rekonstruktion des Erstzustands der Einträge der Memorialstiftungen von Einzel‐ personen im Stifterbuch siehe N I T Z , Stifterbuch (wie Anm. 4), S. 27-29. Mechtilds Seelgerätstiftung Wichtige ergänzende Informationen zu der Erfurt betreffenden Passage enthält die Memorialstiftung Mechtilds im Stifterbuch 29 . Sie steht an erster Stelle der Memorialstiftungen von Einzelpersonen und wurde zudem mit einer Minia‐ turmalerei ausgezeichnet, die das Wappen der Grafen von Honstein zeigt, wodurch die Wertschätzung zum Ausdruck kommt, die die Gräfin seitens der Predigermönche wegen ihrer Großzügigkeit erfuhr (Abb. 7) 30 . In lobe und ere des almechtigen gottes der hochgelobeten iunckfrowen Marien syner werdigen mutter und aller Heyligen hat dy erhaftige werdige grevinne frowe Mechtild von Honsteyn, eyne swester der graven czu Wymar, birtik von Orlamunde, von grosser ynnikeyt und andacht weyn dy so het gehat yn alle orme leben czu desseme kloster und broddern, sunderlichen yn der czit, do so was her yn Erfford geczogen und was wonhaftig yn deme hofe der von der Sachsen myt deme torme by desseme kloster keyn sente Pauel, hat czu gewant vele grosse woltat unde almosen und besundern 99 phunt Erfforcze phenge. Dar czu, obbyr das alle, so hat so bedacht dyt kloster myt deme aller heyligesten heyligetum, das dyt kloster yn syner gewalt hat. Das es myt deme heyligen gebeyne von deme arme des grosten heyligen apostoln sente Iacob. Wu nu desse selbige grevynne eyn solchen grossen heyligen schacz dem arme sente Iacob erkrege hat und hyr her gebracht hat warhafftiklichen, das fynd man warheyt und sryft yn unser kronyken und ouch yn deme kleynen lectionario, noch deme also man den das an syme tage alle iar hyr vorkundiget und prediget. Hyr umm alle desse woltat und almosen hat dy vorgenante erwerdige grevynne, frowe Mechtild von Honsteyn, begert got unsen herren flislichen vor ore sele und vor alle dy us orme geslechte yn lang adder kort vorscheyden synt czu betyn yn desseme geywertigen kloster. Dar czu so hat soe czu ewigen gecziten teylhaftikeyt alle tage besundern czwyer messe und alle dy geystlichen gotyr, dy alle iar geschen yn dem tage des heyligen werdigen apostel sente Jacob des grossen von den ynnigen brodder und pristere, wert soe czu ewigen gecziten teylhaftig. Und dy erwerdige yrgenante gravynne lyt begraben hyr yn desseme kloster vor der sacristien, do das gemelte yst, wo soe nu daz aller heyligeste heyligetum, den arm sente Jacobs, hyr her bracht hat unde wo yn grosser werdikeyt und ere das selbige heyligetum von dessen brodder uff den hoen altar yn deme kor von or enphangen yst. Noch Christi gebort tusent dryhundert dor noch yn deme czwy unde dryssigesten iare. 364 Tim Erthel <?page no="365"?> Abb. 7: Stifterbuch des Petersklosters, Memorialstiftung der Gräfin Mechtild von Weimar-Orlamünde Die Seelgerätstiftung datiert von 1332. Aus ihr geht hervor, dass Mechtild dem Predigerkloster ihr Leben lang eng verbunden war, insbesondere in der Zeit, als sie in Erfurt wohnte. Sie bedachte den Konvent mit reichen Gaben, zu denen u. a. 99 Pfund Erfurter Pfennige zählten. Interessant sind die Angaben zu ihrem Wohnort in Erfurt. Mechtild war wonhaftig yn deme hofe der von der sachsen myt deme torme. Es handelte sich um ein beim Kloster gelegenes Hofgrundstück gegenüber der Paulskirche, das im Besitz der Patrizierfamilie 365 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="366"?> 31 Wilhelm B I E R E Y E , Die von der Sachsen, in: Erfurter Genealogischer Abend. Wissen‐ schaftliche Abhandlungen 1, Erfurt 1928, S. 75-96, hier S. 78. 32 1399 erwarb Erhard von der Sachsen einen Hof beim Predigerkloster von Agnes von Wildenfels. UB Erfurt 2 (wie Anm. 25), Nr. 1127. 33 Für die Grafen von Gleichen, die Grafen von Schwarzburg und die Grafen von Orlamünde sind Stadthöfe nachgewiesen. von der Sachsen gewesen sein soll 31 . Diese Familie ist dort aber erst Ende des 14. Jahrhunderts nachweisbar 32 . Die Eigentumsverhältnisse des Grundstücks zu Mechtilds Zeit sind unklar. Der Gedanke an einen Hof der Honsteiner, den Mechtild als Witwengut bewohnte, drängt sich auf, doch gibt es dafür keine Belege 33 . Aufmerksamkeit verdient aber der das Grundstück näher charakteri‐ sierende Zusatz myt deme torme, womit ein Wohnturm oder eine Kemenate gemeint sein dürfte. Die Memorialstiftung beinhaltet ferner die Schenkung der Armreliquie und Anweisungen für das Jahrgedächtnis der Gräfin und ihrer Familienangehörigen. Außerdem wird erwähnt, dass die Herkunft der Reliquie und die Umstände, wie sie in den Besitz des Konvents gelangte, in einer Klosterchronik und einem kleinen Lektionar vermerkt sind und jedes Jahr am Jakobustag bei einer Predigt verkündet werden. Diese zwei Handschriften kommen als Vorlage für die Abschrift der Translatio im Stifterbuch in Frage. Schließlich wird mitgeteilt, dass Mechtild vor der Sakristei der Predigerkirche begraben wurde, wo sich ein Gemälde befand, dass die Schenkung der Reliquie an das Kloster und ihre Aussetzung auf dem Hochaltar dokumentiert. Der Inhalt der Memorialstiftung wiederholt die Angaben des Translations‐ berichts, enthält aber auch ergänzende Informationen. Es scheint so, dass dem Verfasser der Translatio die Formulierung der Memorialstiftung vorgelegen hat. Das könnte der Grund dafür sein, dass er den Erwerb der Reliquie durch den Schwedenkönig fälschlicherweise ins Jahr 1332 datiert. Nicht sicher zu entscheiden ist, ob Mechtild die Armreliquie schon 1332 dem Kloster schenkte, wie es die Formulierung der Stiftung nahelegt, oder ob dies erst kurz vor ihrem Tod nach 1340 geschah, wie es der Translationsbericht verlauten lässt. Falls die Schenkung schon 1332 erfolgte, setzt dies die Einwilligung Graf Burkhards voraus, der zu diesem Zeitpunkt noch lebte. Da sie im Translationsbericht als Witwe Burkhards genannt wird und nach dessen Tod 1340 noch einige Zeit in Erfurt lebte, dürfte sie in der Mitte oder am Ende der 1340er Jahre verstorben sein. Sehr wahrscheinlich verhielt es sich so, dass Mechtild dem Kloster bereits 1332 die Armreliquie in Aussicht stellte, diese aber noch bis an ihr Lebensende in Besitz behielt, um sie kurz vor ihrem Tod eigenhändig in die Kirche zu überführen. Eine Überlegung stützt diese These: Die Stiftung einer Monstranz für das Heiltum wird zwar in der Translatio erwähnt, nicht aber in 366 Tim Erthel <?page no="367"?> 34 T I E M E R O T H , Kirchenführer (wie Anm. 10), Bl. 16r. Es ist nicht klar, ob Tiemeroth den Stein selbst noch gesehen hat, wenn er schreibt: Jetzo liegt in diesen Grabe die Fr(au) Bürgermeistern Junckin. Er hat die Information wahrscheinlich von dem Kirchenführer bezogen, der ihm bei seinen Besichtigungen der Predigerkirche assistierte. Bei der Nachbestattung handelt es sich um Clara Catharina Jungk, geborene Bader († 1715). Sie war verheiratet mit Johann Wolfgang Jungk († 1721), Ratsherr und Kirchenvor‐ steher der Predigergemeinde, vgl. Martin B A U E R , Erfurter Personalschriften 1540-1800. Beiträge zur Familien- und Landesgeschichte Mitteldeutschlands (Schriftenreihe der Stiftung Stoye 30), Neustadt an der Aisch 1998, Nr. 417. Georg Quehl, dem Tiemeroths Ausführungen bekannt waren, hat die Grabplatte für das Ehepaar Junck heben lassen und näher untersucht, konnte aber keine Hinweise auf eine vorige Nutzung als Grabmal für einen Grafen von Honstein feststellen. Q U E H L , Religion (wie Anm. 13), S. 84 f. 35 So würde sich die Formulierung der Inschrift erklären, bei der es sich nicht um eine klassische Grabinschrift handelt. Vorstellbar wäre, dass das Grabmal erst einige Zeit nach dem Tod des Klostergründers angefertigt wurde. So könnte es zur Verwechslung des Namens gekommen sein. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Inschrift umfang‐ reicher war, aber nur bruchstückhaft überliefert ist. 36 Die Wörter bestehen aus schwarzen gotischen Majuskeln und bilden einen Alexand‐ riner. Gustav K L E T S C H K E , Die Predigerkirche in Erfurt (Deutsche evangelische Kirchen der Seelgerätstiftung. Grund hierfür dürfte sein, dass das Reliquiar erst mit der finalen Übergabe der Reliquie an das Kloster in Auftrag gegeben wurde. Zum Zeitpunkt der Seelgerätstiftung 1332 wurde die Reliquie noch in der köstlichen Lade aufbewahrt, in der sie später dem Kloster überantwortet werden sollte. An dieser Stelle ist nach dem Grund für Mechtilds große Zuneigung zum Dominikanerkloster zu fragen, das sie nicht nur materiell unterstützte, sondern auch für Gottesdienste aufsuchte und als Grablege auserkor. Das seelsorgerische Angebot dürfte nur einen Grund neben anderen darstellen. Möglicherweise ist der enge Bezug auf ihre erste Ehe mit Graf Dietrich von Honstein zurück‐ zuführen, dessen Familie zu den bedeutenden Wohltätern des Klosters zählte. Elger IV . von Honstein hatte 1229 den Erfurter Konvent gegründet. Nach unsicherer Überlieferung lag vor dem Hochaltar ein Grabmal, das an den Gründer erinnerte. Der heute verschollene Stein wird wie folgt beschrieben: In der vierten Reihe nach den Altar zu gantz am Ende vor den Auftritt, wenn man hinein gehet auf der lincken Seyte hat ein Stein gelegen, darauf stunde: Heinricus [sic] Comes ab Hohenstein Monasterii huius fundator. Der Graf war darauf gebildet in Lebens-Größe 34 . Offensichtlich handelt es sich um eine Verwechslung, da nicht Heinrich, sondern Elger IV . von Honstein der Gründer des Konvents war. Elger wurde in Eisenach bestattet, wo er 1236 ein weiteres Dominikanerkloster gegründet hatte. Es wäre gut vorstellbar, dass man ihm zum Gedächtnis in Erfurt ein Grabdenkmal in Form eines Kenotaphs geschaffen hatte 35 . Ein Graf Heinrich von Honstein stiftete den bis heute erhaltenen Hochaltar der Predigerkirche, wie aus einer Stiftungsinschrift an der Vorderseite der Mensaplatte hervorgeht 36 . 367 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="368"?> 1), Berlin 1939, S. 10, las: Me comes Heinricus Hoinstein et Estor [? ], amicus ordinis exstruxit, hinc perpetuo sibi lux sit. N I T Z , Stifterbuch (wie Anm. 4), S. 53, Anm. 199, vermutete, dass sich das Wort Elstor auf die Burg Ellrich im Südharz bezieht, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Besitz der Grafen von Honstein war. Meißner übersetzt die Inschrift folgendermaßen: Mich hat Graf Heinrich von Honstein […] erbaut, ein Freund des Ordens, möge ihm immerfort von hier aus Licht kommen. Karl-Heinz M E Iẞ N E R , Stiften zwischen Selbstlosigkeit und Selbstbewusstsein, in: Marina M O R I T Z / Kai B R O D E R S E N (Hg.), Amplonius. Die Zeit, der Mensch, die Stiftung. 600 Jahre Bibliotheca Amploniana in Erfurt (Schriften des Museums für Thüringer Volkskunde Erfurt 34), Erfurt 2012, S. 215-217, hier S. 215. 37 Frank Matthias K A M M E L , Kunst in Erfurt 1300-1360. Studien zu Skulptur und Tafelma‐ lerei, Berlin 2000, S. 181. 38 Vgl. S C H W E N N I C K E , Stammtafeln N. F. 17 (wie Anm. 27), Tafel 91. 39 J A H R / L O R E N Z , Inschriften (wie Anm. 11), Nr. 83. Das heute verschollene Grabmal ist durch eine Zeichnung überliefert. Sie zeigt eine Grabplatte mit Schild und Schwert sowie eine umlaufende Inschrift in gotischer Majuskel ANNO DOMINI MCCCXXXVIII IN DIE SANCTI KILIANI O(BIIT) DOMINUS HENRICUS COMES DE HONSTEIN CUI(US) A(N)I(M)A REQ(UI)ESCAT IN PACE. Stadtarchiv Erfurt, 1-1 / IV-212 „Nach‐ richten über Erfurter Patrizierfamilien und die von ihnen errichteten Grabdenkmäler“, ohne Seitenzahlen. 40 Das Sterbejahr lässt sich weder mit Heinrich III. noch mit Heinrich IV. von Honstein in Einklang bringen. Vgl. S C H W E N N I C K E , Stammtafeln N. F. 17 (wie Anm. 27), Tafel 91. Mög‐ licherweise ist die Jahreszahl falsch wiedergegeben. Sie könnte statt MCCCXXXVIII MCCLXXXVIII gelautet haben. In diesem Fall würde sich die Grabplatte auf Graf Heinrich II. von Honstein, den Stifter des Hochaltars, beziehen, der nach 1286 gestorben ist. Die Darstellung würde durchaus ins 13. Jahrhundert passen, wie ein vergleichbarer Stein in der Oberkirche in Arnstadt nahelegt, der 2017 geborgen wurde. Die für einen Herrn von Griesheim gefertigte Grabplatte, die in die Mitte bzw. zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert, zeigt ebenfalls Schild und Schwert. Rainer M Ü L L E R / Martin S L A D E C Z E K , Katalog der Grabdenkmäler in der Oberkirche, in: Martin S L A D E C Z E K (Hg.), Arnstädter Oberkirche. Klosterkirche - Stadtkirche - Residenzkirche, Petersberg 2018, S. 247-262, hier S. 252. Der aufwendig gearbeitete, 105 cm hohe Blockaltar weist an seiner Front sieben spitzbogige Blendarkaden auf; an den Seiten sind es je vier Blendarkaden mit Kleeblattbögen (Abb. 8) 37 . Auf der Rückseite befindet sich die quadratische Öffnung für das Sepulcrum. Falls es sich um den Altar der Kirchweihe von 1279 handelt, kommt als Stifter am ehesten Graf Heinrich II . von Honstein († 1286? ) in Betracht 38 . Denkbar wäre auch, dass sich die Inschrift auf das um 1320 / 30 geschaffene Retabel des Hochaltars bezieht, auf das noch einzugehen sein wird. Hierzu würde passen, dass ein anderer Graf Heinrich von Honstein 1338 in der Predigerkirche bestattet wurde 39 . Es handelte sich um einen Zeitgenossen Mechtilds, doch bereitet seine genealogische Zuordnung Schwierigkeiten 40 . 368 Tim Erthel <?page no="369"?> 41 Anton L E G N E R , Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darm‐ stadt 1995, S. 256-261. Abb. 8: Predigerkirche, Hochaltar Die Auswirkungen der Reliquienschenkung auf die Ausstattung der Kirche Das Armreliquiar Zum dem Zeitpunkt, als sich die Reliquie noch im Besitz der Gräfin Mechtild befand, war sie in einer köstlichen Lade verwahrt. Darin brachte sie die Gräfin eigenhändig zum Hochaltar der Kirche und überreichte sie den Brüdern. Für 40 Pfund Erfurter Pfennige ließ sie ein Reliquiar anfertigen. Da es sich um eine Armreliquie handelte, ist an ein klassisches Armreliquiar zu denken. Ein solches ergänzt die Reliquie zu einem Arm mit Hand, bei dem Haut und Gewand in Gold und Edelstein verwandelt erscheinen 41 . Bereits der Anblick dieses „sprechenden Reliquiars“ meldete dem Betrachter, von welchem Körperteil die im Behältnis 369 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="370"?> 42 Harald M E L L E R / Ingo M U N D T / Boje E. Hans S C H M U H L (Hg.), Der heilige Schatz im Dom zu Halberstadt, Regensburg 2008, S. 100-108. 43 Jörg R I C H T E R , Reliquienschatz und Pilgerstrom. Spuren der Verehrung des Apostels Jacobus maior am Halberstädter Dom, in: Klaus H E R B E R S / Enno B Ü N Z (Hg.), Der Jakobuskult in Sachsen ( Jakobus-Studien 17), Tübingen 2007, S. 113-123, hier S. 119 f. 44 Ilsabe S C H A L L D A C H , Der Erfurter Dominikaner-Konvent des 16. Jahrhunderts im Spiegel dreier Inventarverzeichnisse, in: Jahrbuch für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensge‐ schichte 10 (2014), S. 273-308, hier S. 286. Zum Hintergrund der durch den Rat der Stadt durchgeführten Inventarisierung siehe ebenda. 45 Ulman W E Iẞ , Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmit‐ telalter und in der Reformationszeit (Regionalgeschichtliche Forschungen im Verlag Böhlau), Weimar 1988, S. 172 f. 46 Verena F U C Hẞ , Das Altarensemble. Eine Analyse des Kompositcharakters früh- und hochmittelalterlicher Altarausstattung, Weimar 1999, S. 174-176; die aktuellste kunst‐ historische Besprechung des Werks bei K A M M E L , Kunst (wie Anm. 37), S. 310-341 mit Angabe der älteren Literatur; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 44-50; Katalognr. S31. eingeschlossene Reliquie stammt. Eine Vorstellung liefern mehrere erhaltene Armreliquiare des 13. und 14. Jahrhunderts im Halberstädter Domschatz 42 . Unter ihnen befindet sich auch ein vergoldetes Exemplar mit einem Partikel von Jakobus dem Älteren. Es überragt die anderen Stücke um mehr als 10 cm. Dieses Reliquiar wurde zu Hochfesten auf dem Jakobusaltar ausgesetzt 43 . Zum Umgang mit dem Erfurter Heiltum schweigen die Quellen, doch sollen diesbezüglich weiter unten Mutmaßungen angestellt werden. Außer der Erwähnung im Stifterbuch wird es zusammen mit weiteren Reliquien im ältesten erhaltenen Inventar des Klosters aus dem Jahr 1522 als heilthum des heiligen Jacobi Aposteln aufgeführt 44 . Sein Schicksal ist nicht bekannt. Es ist davon auszugehen, dass das Reliquiar, wie die Metallgegenstände anderer Erfurter Kirchen, im Zuge der Bauernunruhen vom Stadtrat eingezogen und eingeschmolzen wurde 45 . Die Reliquie selbst dürfte dabei verlorengegangen sein. Predella und Retabel des Jakobusaltars Mit der Reliquienüberführung erfuhr auch der Jakobusaltar eine deutliche Aufwertung. Es wurden eine Predella und ein neues schmückendes Retabel ge‐ schaffen, wofür sich erneut Angehörige der Familie Lange als Stifter nachweisen lassen 46 . Beide Objekte blieben erhalten (Abb. 9). Sie datieren in die Mitte des 14. Jahrhunderts. 370 Tim Erthel <?page no="371"?> 47 Eine weitere Restaurierung von Predella und Retabel erfolgte 1988. Gabriele S C H W A R T Z , Die Kirchlichen Werkstätten Erfurt 1952 bis 2002. Katalog der in den Abteilungen Holz und Farbfassung bearbeitenden Projekte, Dissertation HfBK Dresden 2015, Katalognr. 139. Abb. 9: Predigerkirche, Predella und Retabel des Jakobusaltars mit Darstellung des Kalvarienbergs, Mitte 14. Jahrhundert Die Predella misst 28 cm in der Höhe, 182 cm in der Breite und 30 cm in der Tiefe. Die Vorderseite ist als Klappe ausgebildet, die von zwei geschmiedeten Beschlägen mit Scharnieren gehalten wird. Seit einer zwischen 1960 und 1965 durchgeführten Restaurierung gibt die Lade wieder einen Eindruck von ihrer ursprünglichen Gestaltung 47 . Ihre Vorderseite zeigt auf rotem Grund sieben 371 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="372"?> 48 Die bisherige Forschung spricht fälschlicherweise von einer Nische. Die Öffnung wird auf der Ostseite vom Chorgestühl verstellt. 49 Eine restauratorische Untersuchung steht aus. schwarze Vierpässe mit Brustbildern von Heiligen. Von links nach rechts erblickt man zwei nimbierte bärtige Männer mit Büchern in den Händen, einen Bischof, mittig den hl. Jakobus den Älteren mit Pilgertasche, Stab und muschel‐ besetztem Pilgerhut und schließlich drei Märtyrerinnen, die Palmwedel tragen. Die sechs äußeren Gestalten beziehen sich in Kopf- und Körperwendungen auf den in der Mitte platzierten Pilgerapostel. Die Funktion der Lade ist nicht klar. Dass es sich um die Aufbewahrungsstätte der Jakobusreliquie handelt, wie bisher angenommen wird, ist kaum vorstellbar. Die Lade hatte kein Schloss. Zudem hätte man sie einfach entwenden können. Ein solch ungeschützter Ort scheidet für die Aufnahme eines wertvollen und exklusiven Objektes aus. Das Jakobusreliquiar dürfte stattdessen in der Sakristei oder im Armarium aufbewahrt worden sein. Das Gemälde mit der Darstellung des Kalvarienbergs ist das einzige noch am ursprünglichen Standort befindliche Retabel der Predigerkirche. Es zählt zu den bedeutendsten Werken der mittelalterlichen Tafelmalerei in Mitteldeutschland. Das mit Predella 180 cm hohe und 175 cm breite Retabel ist in eine spitzbo‐ gige und durch einen Wimperg ausgezeichnete Öffnung der Chorschranke eingelassen 48 . Die die Öffnung rahmenden Steine waren unterschiedlich farbig gefasst, wobei sich ein Wechsel von Rot und Schwarz abzeichnet. Auch das heute verputzte Giebelfeld scheint ursprünglich eine Bemalung aufgewiesen zu haben, von der geringe Reste zu erkennen sind 49 . Das von einem spitzbogigen Holzrahmen eingefasste Retabel lässt erkennen, dass es von vornherein für die Öffnung bestimmt war. Die Tafel zeigt auf Goldgrund eine sehr figurenreiche Kreuzigung. Insgesamt sind 61 und davon 28 berittene Figuren zu sehen. Vertikal ist die Komposition symmetrisch, horizontal ist sie in drei übereinanderliegende Handlungsebenen gegliedert. Die Mittelachse bilden, von unten nach oben betrachtet, zunächst der in eine Nische eingestellte kniende und anbetende Stifter, dann der hohe Felssockel, auf dem sich das Kreuz Christi erhebt, flankiert von Maria und Johannes. Oben schließlich ist der Gekreuzigte dargestellt. Um diese Mittelachse gruppiert sich auf steil ansteigenden Felsen in drei Reihen übereinander die große Zahl der fast ausschließlich aus berittenen Kriegern, Schriftgelehrten und Juden bestehenden Zuschauer. Aus der obersten Reihe ragen die Kreuze der beiden Schächer in die Sphäre Christi empor. Besonders erzählerisch wirken die lebhaften Gesten und die kommunikativ aufeinander bezogenen Bewegungen der am Geschehen Beteiligten. Vielgestaltig sind auch die Trachten, Kopfbedeckungen und Waffen. Der Goldgrund verleiht dem 372 Tim Erthel <?page no="373"?> Ganzen die notwendige Feierlichkeit, die durch die würdevoll zurückgehaltene Ruhe der Hauptfiguren unterstrichen wird. Diese sind einerseits durch ihre Größe hervorgehoben, was bedeutungsperspektivische Gründe hat, anderer‐ seits auch dadurch, dass sie, im Gegensatz zu den Zuschauern, durch Licht und Schatten plastisch modelliert sind. Sie unterscheiden sich von den durch Konturen begrenzten und flächenhaft aufgefassten Randfiguren. In gleicher Weise hervorgehoben sind auch die in abgeschlossenen Bildfeldern knienden Stifterfiguren am unteren Bildrand (Abb. 10). Rechts und links handelt es sich um zwei weibliche, vornehm gekleidete Figuren. Die rechte trägt ein rotes Gewand, einen grünen Mantel und einen Kruseler. Die linke Frau ist in ein grünes Gewand mit rosa Mantel gekleidet. Auch sie trägt einen Kruseler. Der männliche, in den mittleren Jahren stehende Stifter unter dem Kreuz hat halblanges, blondes Lockenhaar und einen kurzgeschorenen Bart. Sein Gesicht ist sehr fein gearbeitet. Er trägt einen blaugrünen Mantel und ein rotes Gewand. Das beigegebene Wappen kennzeichnet ihn als Angehörigen der Erfurter Patrizierfamilie Lange. Es stimmt mit dem Wappen, das die Seite mit den Memorialstiftungen der Familie Lange im Stifterbuch ziert, exakt überein. Abb. 10a Abb. 10b Abb. 10a-c: Predigerkirche, Kalvarienberg, Ausschnitte aus Abb. 9, „Stifterbildnisse“ 373 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="374"?> 50 Alfred O V E R M A N N , Die älteren Kunstdenkmäler der Plastik, der Malerei und des Kunstge‐ werbes der Stadt Erfurt, Erfurt 1911, Nr. 287. 51 K A M M E L , Kunst (wie Anm. 37), S. 334-339. 52 M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 47-50, 114 f.; Maria S T Ü R Z E B E C H E R , Das Judenbild in der christlichen Kunst in Erfurt, in: Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte, Bd. 1: Die jüdische Gemeinde von Erfurt und die SchUM-Gemeinden. Kulturelles Erbe und Vernetzung, Jena 2012, S. 130-135, hier S. 134 f. Auch die Bildunterschrift in Pilgerspuren. Wege in den Himmel. Von Lüneburg an das Ende der Welt, hg. von den Museen Stade und dem Museum Lüneburg, bearb. von Hartmut K Ü H N E , Petersberg 2020, S. 128, wiederholt bedauerlicherweise diese These. Sie stammt von der Redaktion des Katalogs und wurde ohne Absprache mit dem Autor vorgenommen. Sie widerspricht seiner Interpretation von 2017. Vgl. E R T H E L , Ausstattung Bettelorden (wie Anm. 1), S. 260. 53 UB Erfurt 2 (wie Anm. 25), Nr. 528. 54 Q U E H L , Religion (wie Anm. 13), S. 102. Quehl schreibt irrig vom Augustinusaltar, meint aber den Jakobusaltar. Ein Augustinusaltar ist sonst nicht überliefert. 55 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 25r. 56 UB Erfurt 2 (wie Anm. 25), Nr. 257. 57 K E I L , Geschlechter (wie Anm. 7), S. 174. Die Forschung erblickte in der männlichen Stifterfigur den letztmalig zum Jahr 1364 genannten Hugo Lange 50 . F R AN K M AT THIA S K AMM E L deutete die Stiftung als Legitimation und Sühneleistung des Hugo Lange, infolge seiner Beteiligung am Erfurter Judenpogrom 1349 51 . In den weiblichen Stiftern sah er die Frau und Tochter des Stifters. Überzeugende Anhaltspunkte für seine Interpretation weiß Kammel nicht anzuführen. Sie bleibt rein spekulativ und vermag nicht zu über‐ zeugen. Dennoch wurde sie von der jüngeren Forschung kritiklos übernommen 52 . Auslösendes Moment für die Schaffung des Retabels und der Lade dürfte keine Sühneleistung, sondern vielmehr die Schenkung der Armreliquie an das Kloster gewesen sein. Als Stifter des Werkes kommt weniger Hugo Lange in Betracht, der zuletzt 1360 53 erwähnt ist, sondern eher sein Bruder Gottschalk. Gottschalk trat als bedeutender Gönner des Predigerklosters in Erscheinung. 1338 hat er für sich, seine Frau Aleke sowie für seine Kinder Hugo und Isentrud am Jakobusaltar eine Seelgerätstiftung vorgenommen, die vom Prior Johann von Bienstedt und dem Konvent bestätigt wurde 54 . Auch im Stifterbuch begegnet sein Name im Zusammenhang mit einer Stiftung am Jakobusaltar 55 . Letztmalig ist Gottschalk zum Jahr 1345 urkundlich bezeugt 56 . Er dürfte zusammen mit seinen zwei Frauen, Katharina und Aleke, auf dem Retabel dargestellt sein 57 . Dazu passt außerdem, dass er sich vor dem Jakobusaltar bestatten ließ. Die Darstellung des Kalvarienbergs hätte so zusätzlich die Funktion eines Epitaphs erfüllt. Die Neugestaltung des Jakobusaltars blieb nicht die einzige Maßnahme im Bereich der Chorschranken in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Vor der Südpartie der westlichen Schrankenfront stand der Marienaltar. Er wird, wie sein Pendant 374 Tim Erthel <?page no="375"?> 58 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 19v. 59 Im 19. Jahrhundert war die Figur in den Chorabschluss versetzt worden. Dieser Standort wird bei O V E R M A N N , Kunstdenkmäler (wie Anm. 50), Nr. 17, angegeben. Vor 1928 muss sie an den angestammten Platz zurückversetzt worden sein, wie aus der Standortangabe bei Alfred O V E R M A N N , Die Predigerkirche, Erfurt 1928, S. 16, hervorgeht. 60 O V E R M A N N , Kunstdenkmäler (wie Anm. 50), Nr. 17; K A M M E L , Kunst (wie Anm. 37), S. 210 ff. mit weiterer Literaturangabe. M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 72 f., 112 ff. 61 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 19r; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 52, 115, Katalognr. S32. 62 T I E M E R O T H , Kirchenführer (wie Anm. 10), Bl. 11v: Gleich wenn man in den Chor gehen will, ist in einem dunkelen Ort ein Marien Bild, unter welchem eine eiserne Büchse, die man verschließen kann, darein man durch den Spalt von oben seine Gabe im Verborgen hatt einlegen können. Das Schloß stehet anitzo ofen. 63 O V E R M A N N , Predigerkirche (wie Anm. 59), S. 20, mutmaßt, es könnte sich bei dem dargestellten Stifter um Siegfried von Schwanring handeln, der 1366 als Ratsmeister genannt ist. 64 Ora pro me sancta virgo Katerina ut dignus efficiar Christo. In Übersetzung: Bitte für mich, heilige Jungfrau Katharina, auf dass ich Christi würdig werde. Für die Hilfe beim Lesen der Inschrift danke ich Michael Matscha und Frank-Joachim Stewing, beide Erfurt. 65 Rolf-Torsten H E I N R I C H , Erfurter Wappenbuch. Personen- und Familienwappen des 12. bis 18. Jahrhunderts, Teil 1, Norderstedt 2013, S. 180, Unbekannt 5.11. der Jakobusaltar, vor dem chore verortet 58 . Der Stipes ist nicht erhalten, dafür aber der Altaraufsatz - die sogenannte Schmedestedtsche Madonna. Die 110 cm hohe Figur steht in einer kastenförmigen Nische auf einer von einem Engel gehaltenen Konsole 59 . Sie bildet einen Höhepunkt gotischer Bildhauerkunst Thüringens 60 . Das Stifterbuch bestätigt die Ursprünglichkeit ihres Aufstellungs‐ ortes. 1352 stifteten Apel Schwanring und seine Erben eine ewige lampen und eyn ewig licht, das da tag und nacht sal ewiglichen borne vor Unser Liben Frowen bilde, das da stet czuschen unsen chore unde unser kerchen 61 . Diese Stiftung bildet einen terminus ante quem für die Entstehung der Madonna. Sie entstammt also der gleichen Zeit wie das Retabel des Jakobusaltars. Vor dem Bildwerk stand im frühen 18. Jahrhundert ein Opferstock, der in mittelalterliche Zeit zurückreichen könnte 62 . Wie die Westseite erhielt zumindest auch die Südseite der Chorschranken eine Neugestaltung. Auf ihrem mittleren Wandfeld sind umfangreiche Reste einer Wandmalerei aus der Mitte des 14. Jahrhunderts erhalten. Sie zeigt in einer Architekturrahmung einen Schmerzensmann und eine hl. Katharina, beiderseits gerahmt durch kniende Stifter. Der Mann ist durch die Helmzier seines Wappens als Angehöriger der Familie Schwanring ausgewiesen 63 . Auf seinem Schriftband fordert er die hl. Katharina um Fürbitte auf 64 . Das Wappen der Frau konnte bisher nicht identifiziert werden 65 . Auf ihrem Schriftband bittet sie Christus um 375 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="376"?> 66 O V E R M A N N , Predigerkirche (wie Anm. 59), S. 20; M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 53 f., Katalognr. S38. Erbarmen. Die sehr qualitätvolle Arbeit ist der Rest einer einst wohl im gesamten Chorbereich vorhandenen Wandmalerei 66 . Die Wandmalerei mit der Reliquienschenkung In diesem Zusammenhang verdient die bisher völlig unbeachtet gebliebene Nach‐ richt in der Seelgerätstiftung Mechtilds besondere Aufmerksamkeit, wonach es eine Wandmalerei mit der Darstellung der Reliquienschenkung gegeben hat. Und dy erwerdige yrgenante gravynne lyt begraben hyr yn desseme kloster vor der sacris‐ tien do das gemelte yst wo soe nu daz aller heyligeste heyligetum den arm sente Jacobs hyr her bracht hat unde wo yn grosser werdikeyt und ere das selbige heyligetum von dessen brodder uff den hoen altar yn deme kor von or enphangen yst. Die Malerei befand sich also beim Grab der Stifterin vor der Sakristei. Sie zeigte, wie die Gräfin die Reliquie in die Predigerkirche zum Hochaltar brachte, die dort von den Brüdern des Klosters in Empfang genommen wurde. Es handelt sich um eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Nachricht. Sie verdeutlicht die große Bedeutung des Reliquienerwerbs für das Kloster, der nun nicht allein schriftlich dokumentiert, sondern auch im Bild festgehalten war. Durch den räumlichen Bezug zum Grab der Stifterin erfüllte die Darstellung die Funktion eines Gemäldeepitaphs. Zum Grabmal liegen keine Erkenntnisse vor. Es gilt als verschollen, doch selbst wenn es erhalten wäre, befände es sich heute aufgrund mehrerer Restaurierungen des Kirchenraums nicht mehr an seiner ursprünglichen Position. Mit dem Wissen um die ungefähre Lage der Grabstätte Mechtilds lohnt es, diesen Kirchenbereich auf etwaige Reste der Wandmalerei zu untersuchen. In Frage kommt der östliche Wandabschnitt der südlichen Chorschranke gegenüber der Tür zur Sakristei (Abb. 11). Der Erhaltungszustand der dortigen Wandmalerei ist sehr schlecht. Es sind nur geringe Reste erkennbar. Historische Aufnahmen existieren nicht. Es lässt sich feststellen, dass drei Szenen dargestellt waren. Im linken Bildviertel können die Köpfe zweier sich gegenüberstehender Figuren ausgemacht werden. Die linke Person scheint beide Arme erhoben zu haben (oder handelt es sich um Flügel? ). Die rechte Person hat langes Haar und einen Heiligenschein. Zwischen den Figuren ist ein Banner dargestellt. Die anschließende Szene wird durch eine grüne Rankenmalerei zur linken Darstellung abgrenzt und reicht bis zur Mitte des Wandfeldes. Es zeichnet sich ein nach links blickender, möglicherweise behelmter Kopf ab. Der Rest des Körpers ist nicht erhalten. Darunter liegt oder sitzt eine gefangene Person. Man erkennt eine Hand. Am Handgelenk sitzt eine Schelle mit Kette. Die dritte Szene ist breiter angelegt und nimmt die rechte Hälfte des 376 Tim Erthel <?page no="377"?> Wandfeldes ein (Abb. 12). Dort erblickt man ein Kruzifix. Rechts unter dem Kreuz steht eine Figurengruppe, wobei die vorderste Figur die hinter ihr stehenden teilweise verdeckt. Kutte und Haarkranz weisen sie als Mönch aus. Er hält ein nicht definierbares goldenes Objekt in der Hand. Ein anderer Mönch hält vor sich einen länglichen gedrehten Gegenstand, wohl eine Kerze. Links unter dem Kreuz erblickt man eine weibliche Person in Adorantenhaltung. Ein Heiligenschein fehlt, sodass Maria nicht in Frage kommt. Sie steht vor einem quaderförmigen Gebilde mit Deckplatte und Spitzbögen an der Frontseite. Hinter diesem ragt ein hochrechteckiges Gebilde mit profiliertem oberem Abschluss und eingestellter Bogenarchitektur auf, das einem Tabernakel ähnelt. Abb. 11: Predigerkirche, südliche Chorschranke, östliches Wandfeld, Reste einer Wand‐ malerei 377 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="378"?> Abb. 12: Ausschnitt aus Abb. 11 Die verschiedenen Elemente der Malerei im rechten Wandabschnitt passen gut zu der schriftlich überlieferten Szenerie der Reliquienschenkung. In diesem Fall wäre die Frau in Anbetungshaltung unter dem Kruzifix als Gräfin Mechtild zu identifizieren. Bei den Mönchen dürfte es sich um Angehörige des Erfurter Predi‐ gerkonvents handeln, die die Reliquie in Empfang nehmen. Zuvorderst könnte der Prior dargestellt sein. Das quaderförmige Gebilde kann sehr gut als Altarblock interpretiert werden. Seine Gestalt ist vergleichbar mit dem erhaltenen Hochaltar der Predigerkirche, der ebenfalls eine spitzbogige Blendarkatur am Stipes aufweist (Abb. 8). Zum Hochaltar passt weiterhin das aufragende architektonische Gebilde dahinter. Es fände eine Entsprechung in dem kunstvoll gestalteten spätgotischen Tabernakel hinter dem Altarblock, das auf einen ähnlichen Vorgänger zurück‐ gehen könnte. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die Befundlage lässt den Schluss zu, dass in der rechten Bildhälfte des östlichen Wandfeldes der südlichen Chorschranke die Übertragung der Reliquie an das Kloster dargestellt ist. Eine Deutung der zwei Szenen der linken Bildhälfte ist wegen der extrem fragmentarischen Erhaltung nicht möglich. Eine Theorie sei dennoch gewagt: Geht man davon aus, dass alle drei Szenen des Wandfeldes inhaltlich zusammengehören, dürften die zwei linken Szenen ebenfalls mit der Jakobusverehrung in Zusammenhang stehen. Bei der gewohnten Leserichtung 378 Tim Erthel <?page no="379"?> von links nach rechts müssten sie zeitlich vor der rechten spielen. Ikonografisch wäre eine Darstellung des Martyriums des hl. Jakobus’ naheliegend. Dazu heißt es in der Apostelgeschichte, Kapitel 12, Vers 1-9: Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert. Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote. Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Abteilungen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Passafest vor das Volk zu stellen. So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott. Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir! Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. Die Schilderung ließe sich durchaus auf die Malereireste auf der Chorschranke beziehen. Die linke äußere Szene könnte die Ermordung des Jakobus’ darstellen. Die Person mit den erhobenen Armen könnte gerade zum Schlag ausholen. Die Person mit dem Heiligenschein wäre als Jakobus anzusprechen. Bei der angeketteten Person der anschließenden Szene könnte es sich um den gefangenen Petrus handeln. Der Kopf wäre einem Wächter zuzuordnen. Zum dem Engel, der Petrus befreit, könnte eine rote Flügelspitze an der oberen rechten Ecke der Szene gehören. Eine stilistische Einordnung der Malerei verbietet sich in Anbetracht des frag‐ mentarischen Erhaltungszustands, was auch die Datierung unmöglich macht. Die Malerei könnte zeitnah zur Reliquienübertragung entstanden sein und wie die Darstellung auf dem mittleren Wandfeld der Chorschranke in die Mitte des 14. Jahr‐ hunderts datieren. Eine spätere Entstehung ist aber nicht völlig auszuschließen. Der Lettner Zwischen dem fünften und dem sechsten Joch der Predigerkirche erstreckt sich der Lettner (Abb. 13). Es handelt sich um einen der wenigen erhaltenen Bettelordenslettner im deutschsprachigen Raum. Er reicht über alle drei Schiffe und ist zu beiden Seiten durch Arkaden gegliedert, deren Bögen eine drei Meter breite Lettnerbühne tragen. Drei Durchgänge führen in den Chor. Die Erschließung der Bühne erfolgte von Osten durch einen oder zwei Aufgänge. 379 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="380"?> 67 So sind die Lettner der Augustinereremitenkirche und der Peterskirche als Altar‐ standort belegt. M Ü L L E R , Bettelorden (wie Anm. 1), S. 234; zur mittelalterlichen Ausstat‐ tung des Erfurter Petersklosters bereitet der Autor einen Aufsatz vor, der voraussicht‐ lich 2022 erscheinen wird, künftig: E R T H E L , Ausstattung Peterskirche. 68 E R T H E L , Ausstattung Peterskirche (wie Anm. 67). Abb. 13: Predigerkirche, Lettner, Blick nach Osten Der Lettner erfüllte mehrere Aufgaben: Er grenzte den gesamten Chorraum vom Laienraum ab. Außerdem bot er sich als Standort für mindestens zwei Altäre an. Sie standen in den beiden geschlossenen Wandfeldern seitlich des mittleren Durchgangs zum Langhaus hin. Mit Blick auf andere nachgewiesene Lettner in Erfurter Kirchen ist es vorstellbar, dass auf seiner Bühne ein weiterer Altar stand 67 . Die Bühne dürfte darüber hinaus für Reliquienweisungen in Richtung Laienkirche genutzt worden sein. Diese Funktion konnte jüngst am Beispiel der Erfurter Peterskirche nachgewiesen werden, die über einen umfangreichen Reliquienschatz verfügte 68 . Auch für die Jakobusreliquie ist eine Weisung vom Lettner aus sehr gut vorstellbar. Aufschlussreich für diese Annahme ist einmal mehr die Seelgerätstiftung Mechtilds: Wu nu desse selbige grevynne eyn solchen grossen heyligen schacz dem arme sente Iacob erkrege hat und hyr her gebracht hat warhafftiklichen, das fynd man warheyt und sryft yn unser kronyken und ouch yn deme kleynen lectionario, noch deme also man den das an syme tage alle 380 Tim Erthel <?page no="381"?> 69 Erst für das 15. Jahrhundert ist eine Kanzel in der Predigerkirche belegt. Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 22r, 35v. 70 M Ü L L E R , Bettelorden (wie Anm. 1), S. 219 mit Anm. 58. 71 O V E R M A N N , Kunstdenkmäler (wie Anm. 50), Nr. 51. 72 M A N D R Y , Stiftungen (wie Anm. 4), S. 73 f., Katalognr. G15 und S34; Rolf-Torsten H E I N ‐ R I C H , Erfurter Wappenbuch. Personen- und Familienwappen des 12. bis 18. Jahrhun‐ derts, Teil 2, Norderstedt 2014, S. 117. Der Wappenschild an der Konsole der Maria zeigt drei übereinander angeordnete Trensen. Eine solche zeigt auch die zugehörige Helmzier an der Konsole des Engels. 73 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 48v. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sein Epitaph vorhanden, bevor es verputzt wurde. Z A C K E , Totenbuch (wie Anm. 4), S. 51 f., 64. Zacke verweist auf die starke Ähnlichkeit zum Grabmal des Theodor Lichtenhayn († 1366), das dem Meister der Cinna von Vargula zugeschrieben wird. Derselbe Meister zeichnet wiederum für die Verkündigungsgruppe verantwortlich. Es ist gut vorstellbar, dass er auch das Grabmal für den Stifter geschaffen hat. iar hyr vorkundiget und prediget. Die Herkunft der Reliquie und die Umstände, wie sie in den Besitz des Klosters gelangte, wurden alljährlich am Jakobustag vorkundiget und prediget. Dies ist gut mit einer gleichzeitigen Weisung der Re‐ liquie vorstellbar. Der Lettner hätte sich als Predigt- und Weisungsbühne hierfür besonders angeboten 69 . Entgegen der älteren Forschungsmeinung, der Lettner sei um 1400 entstanden, wurde er jüngst von R AIN E R M ÜL L E R anhand stilistischer Beobachtungen in die Zeit um 1360 / 70 datiert 70 . Ein wichtiges Detail bestätigt diese Frühdatierung und grenzt die Entstehung weiter ein: Seitlich des mittleren Durchgangs stehen auf Blattwerkkonsolen die Figuren einer sehr qualitätvollen Verkündigungsgruppe 71 . Konsolen und Befestigungsösen für die Figuren sind von vornherein in das Mauerwerk eingelassen und sprechen für eine gemein‐ same Entstehung von Lettner und Skulpturen. Entscheidend ist, dass das an den Konsolen angebrachte Wappen dem 1358 verstorbenen Ritter Berthold de Belman zugeordnet werden kann (Abb. 14) 72 . Das Stifterbuch beschreibt sein einst im Kreuzgang befindliches Grabdenkmal und gibt die Toteninschrift an 73 . Ob Belman lediglich die Verkündigungsgruppe stiftete oder aber darüber hinaus den Bau des Lettners mitfinanzierte, sei dahingestellt. Entscheidend ist, dass durch sein Todesjahr die Errichtung des Lettners aller Wahrscheinlichkeit nach noch in die 1350er Jahre vordatiert werden kann. Damit gehört der Lettner zur Ausstattungsphase der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die aufgezeigte mögliche Nutzung als Weisungsbühne der Jakobusreliquie verdeutlicht, dass er auch zum liturgischen Konzept gehört. So kann auch die doppelte Abriegelung des Chors durch Lettner und Chorschranken erklärt werden. 381 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="382"?> 74 Tettau bezeichnet es lediglich als eine gute Arbeit des 15. Jahrhunderts. Wilhelm Albert V O N T E T T A U , Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Erfurt und des Erfurter Landkreises, Halle 1890, S. 154. Auch Cornelius Gurlitt äußert sich knapp, fertigte aber drei Zeichnungen von Altar und Tabernakel an - zwei Ansichten und einen Grundriss. Cornelius G U R L I T T , Historische Städtebilder, Band 1: Erfurt, Berlin 1901, S. 14 f. Die einzige nähere Beschreibung liefert O V E R M A N N , Kunstdenkmäler (wie Anm. 50), Nr. 122. In den einschlägigen Kirchenführern der Predigerkirche wird es nur flüchtig erwähnt. O V E R M A N N , Predigerkirche (wie Anm. 59), S. 24; Gerhard K A I S E R , Predigerkirche zu Erfurt, Regensburg 2007, S. 21. Abb. 14: Predigerkirche, Verkündigungsgruppe am Lettner Das Tabernakel Auf dem Hochaltar der Predigerkirche befindet sich eines der schönsten und interessantesten mittelalterlichen Tabernakel Erfurts (Abb. 15). Gleichzeitig ist es eines der unbekanntesten Stücke der Kirche. Seitens der Forschung hat es bisher kaum eine Würdigung erfahren 74 . Es wird heutzutage kaum wahrgenommen, da es durch das spätgotische Retabel vollständig verdeckt wird (Abb. 8). Letzteres gelangte aus der Paulskirche wohl in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in die Predigerkirche. Das ursprüngliche Retabel beließ man an Ort und Stelle. Es war seit der Überführung des Retabels aus der Paulskirche ebenfalls verstellt. Dieser ursprüngliche Altaraufsatz in Form eines aus fünf aneinander gereihten Maßwerkgiebeln gebildeten Holzretabels mit Goldfassung 382 Tim Erthel <?page no="383"?> 75 O V E R M A N N , Kunstdenkmäler (wie Anm. 50), Nr. 14; bisher am ausführlichsten K A M M E L , Kunst (wie Anm. 37), S. 181-191 mit Angabe der älteren Literatur. und ehemals zehn Schnitzfiguren wird stilistisch um 1320 / 30 datiert (Abb. 16). Er ging nach 1945 verloren 75 . Abb. 15: Predigerkirche, Tabernakel auf dem Hochaltar, Blick nach Norden 383 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="384"?> 76 Den anderen fehlen die dafür notwendigen Scharniere. Abb. 16: Verschollenes Retabel vom Hochaltar der Predigerkirche, Foto vor 1950 Das 3,50 Meter hohe Tabernakel aus Sandstein ragte über das hochgotische Retabel hinaus und bildete zusammen mit diesem ein reizvolles Ensemble (Abb. 17 und 18). Auf einem fünfeckigen, mit konkaven Flächen versehenen Sockel, dessen Fuß aus zwei gegeneinander versetzten Fünfecken besteht, erhebt sich das laternenförmige Gehäuse in Gestalt eines unregelmäßigen Fünfecks. Seine drei Vorderseiten sind oben durch eine stark vorkragende, reiche Baldachin‐ architektur abgeschlossen und zeigen drei große Öffnungen, die mit Gittern versehen waren. Nur in der südlichen Öffnung blieb das Gitter erhalten. Es war das einzige, das zu öffnen war 76 . Auf der Rückseite befindet sich rechts eine kleine Öffnung, zu der man über eine siebenstufige Treppe gelangt. Die fünfseitige Bekrönung des Tabernakels blieb nicht erhalten. Sie wurde wohl bei der Aufstellung des spätgotischen Retabels entfernt, da sie über dieses hinausragte, was als störend empfunden wurde. Das Tabernakel war partiell gefasst. Auf dem Spitzbogen der kleinen hinteren Öffnung sind in roter Farbe Krabben und eine Kreuzblume gemalt. Auf den Innenwänden des Gehäuses sind 384 Tim Erthel <?page no="385"?> 77 Die Farbtöne müssen nicht dem ursprünglichen Erscheinungsbild entsprechen. Möglich ist eine Farbänderung infolge von Licht- und Wärmeeinwirkung. Hier könnte eine restauratorische Untersuchung genauere Aufschlüsse liefern. zahlreiche rote Sterne auf schwarzem Grund erkennbar. In den Ecken sind Reste goldener Farbe feststellbar 77 . Abb. 17: Predigerkirche, Ansicht des Hochaltars mit ursprünglichem Retabel und Taber‐ nakel 385 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="386"?> 78 Vgl. die Literaturangaben in Anm. 74. Abb. 18: Predigerkirche, Grundriss des Hochaltars mit ursprünglichem Retabel und Tabernakel Besondere Aufmerksamkeit verdient die ungewöhnliche Position des Taberna‐ kels auf dem Altar. Normalerweise stehen gotische Sakramentshäuser seitlich des Hauptaltars, zumeist auf der linken Seite. Erst seit dem Tridentinum sind sie auch auf dem Altar belegt. Daher drängt sich die Frage auf, ob das Erfurter Stück tatsächlich zur Aufnahme der konsekrierten Hostie vorgesehen war, wie bisher angenommen wurde 78 . Könnte es sich nicht viel mehr um einen erhöhten Reliquienschrein zur Aufnahme eines prominenten Heiltums handeln, in un‐ serem Fall der Jakobusreliquie? Es wäre vorstellbar, dass diese zu bestimmten Anlässen, wie am Tag des Heiligen, am Tag des Reliquienerwerbs oder zu Hochfesten im Tabernakel zur Schau gestellt wurde (Abb. 19). Die Armreliquie 386 Tim Erthel <?page no="387"?> 79 Arnold A N G E N E N D T , Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 176-179; L E G N E R , Reliquien (wie Anm. 41), S. 143 f. 80 Rolf L A U E R , Der Baldachin der Mailänder Madonna. Statuentabernakel oder Reliquien‐ gehäuse? , in: Kölner Domblatt 61 (1996), S. 147-162. 81 E R T H E L , Ausstattung Peterskloster (wie Anm. 67). 82 Vgl. dazu den Beitrag von Rainer Müller / Martin Sladeczek in diesem Band. 83 F U C H S S , Altäre (wie Anm. 46), S. 140-154. 84 Die nachträgliche Anfügung ist oberhalb der Öffnung des Sepulcrums ablesbar, wo die Profilierung des Stipes weiterverläuft. könnte sogar dauerhaft in das speziell dafür erbaute Tabernakel überführt worden sein. Das Verwahren von Reliquien in einem Schrein über bzw. hinter dem Altar war stark verbreitet und reicht in den Anfängen bis ins Frühmittel‐ alter zurück 79 . Im Kölner Dom gab es ein steinernes Baldachingehäuse für das hölzerne Gnadenbild der Mailänder Madonna. Es erhob sich zwischen Altar und Ostwand der Marienkapelle am Beginn des südlichen Chorumganges 80 . Für Erfurt lassen sich Beispiele für das Hoch- und Spätmittelalter anführen. In der Peterskirche war im Hochaltarretabel des 12. Jahrhunderts ein kostbares Reliquiar aus Elfenbein integriert, das zahlreiche Reliquien beinhaltete, die das Kloster von Wolfram, Propst des Klosters Ichtershausen, 1185 erhalten hatte 81 . In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde das spätgotische Retabel des Severusaltars in der Severikirche geschaffen. Der architektonisch aufwendig gestaltete steinerne Altaraufsatz zeigt drei spitzbogige Nischen, die die Kopfre‐ liquiare der Heiligen Severus, Vincentia und Innocentia aufgenommen haben 82 . Die drei Schreinnischen sind in das Retabel integriert. Auch im Falle des Hochaltars der Predigerkirche handelt es sich um einen Tabernakelretabel 83 . Die Schreinkonstruktion mit Unterbau und Rückwand wurde nachträglich an den Altar angebaut 84 . Die über den hochgotischen Altaraufsatz herausragende Laterne erweckte den Anschein, Bestandteil des Retabels zu sein. 387 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="388"?> 85 S C H A L L D A C H , Inventar (wie Anm. 44), S. 286 f. 86 Das Armarium der Predigerkirche lag im östlichen Klausurflügel. Es schloss sich südlich an die Sakristei an und war nur von dieser aus erschlossen. Es handelt sich um einen quadratischen gewölbten Raum mit einer Mittelstütze. Er diente zur Verwahrung der Abb. 19: Predigerkirche, Hochaltar mit ursprünglichem Retabel und Tabernakel mit Jakobusreliquiar (Fotomontage) Die Jakobusreliquie muss nicht das einzige Heiltum gewesen sein, das in der Predigerkirche über dem Altar ausgesetzt wurde. Das Kloster war im Besitz weiterer bedeutender Reliquien. Sie sind im Inventar von 1522 vermerkt. Dazu zählten ein silbern monstrantien dar inne behalten das heilthum des heiligen Thomas doctore […] ein cleine monstrantien dar inne behalt den zean santt Ursule […] das heilthum der heiligen merterer Cosmi et Damiani […] das heubt santte Ursule […] sowie sancte Valentins hanths silbern die do zelt VIII margk 85 . Diese Reliquien könnten an den jeweiligen Heiligentagen von ihrem gewöhn‐ lichen Aufbewahrungsort, einem Nebenaltar oder dem Armarium, entfernt und vorübergehend im Tabernakel am Hochaltar ausgesetzt worden sein 86 . Das 388 Tim Erthel <?page no="389"?> Ornate, der Bücher und weiterer Wertgegenstände. Vgl. M Ü L L E R , Bettelorden (wie Anm. 1), S. 239 f. 87 Zwischen 1432 und 1438 waren die Gewölbe des Langhauses eingezogen. Ab 1447 wurde der Turm gebaut. Das Ehepaar Franz und Agnes Kudorff stiftete 1456 den Antoniusaltar im nördlichen Seitenschiff und stattete ihn reich aus. 88 O V E R M A N N , Kunstdenkmäler (wie Anm. 50), Nr. 122. 89 Vgl. die Steinmetzzeichenerfassung von Rudolf Böckner (Stadtarchiv Erfurt, 5 / 110 B 12-15, Bd. 7, S. 65 f.). Außerdem sind die Steinmetzzeichen nachweisbar am Lang‐ haus des Erfurter Doms, das 1455(i) begonnen wurde, bzw. am Kornhofspeicher, der 1465 / 67(i) errichtet wurde. Vgl. Horst S T E C H E R , Steinmetzzeichen in Erfurt. Mit Beiträgen von Volker Düsterdick und Christian Misch (Erfurter Studien zur Kunst- und Baugeschichte 4 / Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 5), Berlin 2009, Nr. 423, 432, 1413. 90 J A H R / L O R E N Z , Inschriften (wie Anm. 11), S. 145, Nr. 60. Zum Turmbau siehe N I T Z , Stifterbuch (2001) (wie Anm. 4), S. 85 f. Tabernakel wäre als steinerner Reliquienschrein mit austauschbarem Inhalt anzusprechen. Seine auffallend großen Öffnungen von über einem Meter er‐ geben Sinn, bedenkt man, dass die in Reliquiaren verwahrten Reliquien bei der Präsentation vollständig sichtbar sein sollten. Vorstellbar ist auch, dass die Reliquien an hohen Festtagen vereint auf dem Hochaltar ausgesetzt wurden. Dies wäre vorrangig vom Mönchskonvent wahrgenommen worden, doch hätte die axiale Ausrichtung von Hochaltar, westlicher Chorschrankenpforte und mittlerem Lettnerdurchgang auch eine entfernte Wahrnehmung der Reliquien von der Laienkirche aus ermöglicht. Was lässt sich zum Alter, dem Künstler und möglichen Stiftern des Taber‐ nakels sagen? Seine Entstehung gliedert sich ein in die spätgotische Bau- und Ausstattungsphase der Kirche, die mit einer intensiven Stiftungstätigkeit einherging 87 . Es wird stilistisch in die Mitte bzw. ins dritte Viertel des 15. Jahr‐ hunderts datiert 88 . Dies bestätigen die Steinmetzzeichen an seiner Rückwand, die sich diesem Zeitraum zuordnen lassen. Insgesamt konnten drei Zeichen‐ typen ermittelt werden. Zwei davon treten am Turm der Predigerkirche auf 89 . Dieser wurde laut Inschrift ab 1447 von Meister Lorenz errichtet 90 . Es ist naheliegend, dass Steinmetzen dieses Bautrupps auch an der Errichtung des Tabernakels beteiligt waren. In Anbetracht der dargelegten Bedeutung dieses Ausstattungsstücks und seiner qualitätvollen Ausführung ist es sogar denkbar, dass Meister Lorenz persönlich dafür verantwortlich zeichnete. Zu 1452 ist ein Lorenz Roneberg schriftlich belegt. Er ist Zeuge einer Urkunde in der er als der 389 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="390"?> 91 Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, Bd. 3: Die Urkunden des Augus‐ tiner-Eremitenklosters (1331-1565), bearb. von Alfred O V E R M A N N , Magdeburg 1934, Nr. 217. Hier ist der Name des Meisters zu Boeneburg verlesen. Richtig muss es Roneberg heißen, wie aus dem Kopiar des Augustinerklosters hervorgeht. Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Cop., Nr. 1481 Copiarium monasterii ordinis S. Augustini (Eremitarum) Erfordensis, 1266-1533, Bl. 23r,v. 92 Zu einer Vorgängersituation könnten die Spolien gehören, die in der Rückwand des Tabernakels verbaut sind. 93 Ulman W E Iẞ , Die Erfurter Bettelorden und ihre Bruderschaften, in: H E I N E M E Y E R / H A R T ‐ I N G E R , Barfuß ins Himmelreich (wie Anm. 1), S. 138-147, hier S. 141. 94 Stifterbuch (wie Anm. 4), Bl. 35r,v; Fortgesetzte Sammlung (wie Anm. 20), S. 343-347. ersame unde wolerfarne meister, meister Lorentz Roneberg, steinmetz und burger zcu Erffurt bezeichnet wird 91 . Es ist vorstellbar, dass es ein Vorgängertabernakel gegeben hat. Auffällig ist nämlich, dass das hochgotische Retabel für einen Hauptaltar relativ niedrig war, also eventuell Rücksicht auf ein anderes Ausstattungsstück nahm. Dies könnte als Hinweis auf einen rückwärtigen Aufbau bereits im 14. Jahrhundert gedeutet werden 92 . In der Mitte des 15. Jahrhunderts könnte es ersetzt worden sein, da es beschädigt war oder als unmodern galt. Eine Erneuerung des Kults könnte ebenfalls ein Faktor gewesen sein. In diesem Zusammenhang muss auf die 1457 gegründete Jakobusbruderschaft aufmerksam gemacht werden 93 . Eine solche gab es in Thüringen außer in Erfurt noch in Altenburg, in Neustadt an der Orla und in Arnstadt, wo sie zumeist an der Jakobus dem Älteren geweihten Kirche ihren Sitz hatten. Dass die Erfurter Jakobusbruderschaft nicht am Schottenkloster, dessen Patron der Apostel war, sondern am Predigerkloster angesiedelt war, lag einmal mehr an der kostbaren Reliquie. Als das Wallfahren nach Santiago de Compostela im Spätmittelalter immer populärer wurde, entstand unter den Erfurter Pilgern der Wunsch nach einem Zusammenschluss. Als Ort wählte man den Jakobusaltar in der Predigerkirche. Der Bruderschaftsvertrag findet sich als Abschrift im Stifterbuch 94 . Ihn schmückt eine Miniatur mit der Darstellung des Apostels und zwei flankierenden Pilgern (Abb. 20). Drei namentlich genannte Pilger, Nikolaus Gehmayr, Heinrich Trumstorf und Hermann Schreiber, waren im Jahre 1457 die Initiatoren, die mit den Dominikanern die zu begründende Bruderschaft besprachen, in der sie mit Frau und Kind sowie allen anderen Pilgern aufge‐ nommen werden wollten. Auch künftige Wallfahrer sollten willkommen sein, sogar solche, die diese Pilgerreise nie unternehmen würden, aber die zur Reise Bereiten mit Geld und anderen Gaben bei deren Fahrt unterstützten. Viermal im Jahr wollten sie am Jakobusaltar zur gesungenen Vigilie und Seelenmesse zusammenkommen, nachdem dies am vorangegangenen Sonntag in der Kirche 390 Tim Erthel <?page no="391"?> von der Kanzel aus bekanntgegeben worden war. Außerdem sollte, wer sich auf Wallfahrt befand, Gott und dem hl. Jakobus in der Messe befohlen werden. Von den erwachsenen Mitbrüdern erhielten die Mönche zu jedem Begängnis zehn alte Groschen, von den Kindern sechs Pfennige. Schließlich war den Mitbrüdern eingeräumt worden, sich in der Kirche begraben zu lassen. Abb. 20: Stifterbuch des Predigerklosters, Miniaturmalerei im Vertrag der Jakobusbru‐ derschaft Für die gemutmaßte Nutzung als Weisungsort für die Jakobusreliquie kommt als Stifter des Tabernakels die 1457 gegründete Jakobusbruderschaft in Frage. Sie löste die Familie Lange, die nach der Gewölbestiftung 1432 nicht mehr in Erscheinung tritt, als Träger des Kults ab. 391 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="392"?> Fazit Durch glückliche Umstände gelangte der Erfurter Dominikanerkonvent in der Mitte des 14. Jahrhunderts in den Besitz einer Armreliquie Jakobus‘ des Älteren. Der Translationsbericht und die Seelgerätstiftung der Gräfin Mechtild, beide abschriftlich im Stifterbuch des Klosters überliefert, legen davon Zeugnis ab. Es handelt sich um herausragende und seltene Quellen für die Reliquienverehrung an einer Erfurter Kirche. Der Erwerb der Jakobusreliquie war Auslöser einer Ausstattungskampagne, die auf eine würdige Aufbewahrung und wirksame Inszenierung der Reliquie abzielte. Die Untersuchung zeigt, dass sich eine Fülle von bisher nicht erkannten Ausstattungsstücken mit dem Kult in Verbindung bringen lässt, woraus die Bedeutung der Jakobusverehrung für das Kloster abzuleiten ist. Mehrere Neuanschaffungen können direkt mit der Reliquie in Zusammenhang gebracht werden, wobei verschiedene Träger des Kults greifbar werden. Hierzu zählt an erster Stelle die künstlerische Neugestaltung des Jakobusaltars. Das Retabel mit dem Kalvarienberg wurde von der Familie Lange in Auftrag gegeben, die den schon 1279 gegründeten Altar zur familiären Memoria nutzte. Als Stifter des Retabels wird entgegen der bisherigen Meinung nicht Hugo, sondern Gottschalk Lange favorisiert. Er könnte zusammen mit seinen zwei Ehefrauen auf dem Retabel dargestellt sein. Der Jakobusaltar erfuhr in der Mitte des 15. Jahrhunderts eine weitere Aufwertung, indem er von der 1457 gegründeten Jakobusbruderschaft genutzt wurde. Die Bruderschaft löste die Familie Lange, die als Stifter letztmals 1432 nachweisbar ist, als Träger des Kults ab. Für die Reliquie hatte die Donatorin, Gräfin Mechtild, ein kostbares Armreliquiar gestiftet. Es blieb nicht erhalten, sondern wurde höchstwahrscheinlich 1525 vom Stadtrat kassiert. Bisher unbekannt war, dass die Reliquienübertragung auf einem Wandgemälde beim Grab der Stifterin dargestellt war. Es dokumentierte das für den Konvent so wichtige Ereignis und diente der Stifterin wohl auch als Epitaph. Allem Anschein nach befand es sich auf der rechten Hälfte des östlichen Wandfeldes der südlichen Chor‐ schranke. Die dort erhaltenen Malereireste passen gut zur Schilderung des Reliquienerwerbs. Möglicherweise zeigten sie außerdem das Martyrium des hl. Jakobus. Als Auftraggeber der Malerei kommt der Konvent in Betracht. Für weitere Ausstattungsstücke kann ein Bezug zur Jakobusreliquie wahrscheinlich gemacht werden. So dürfte der Lettner, dessen Entstehung bereits vor 1360 angenommen werden darf, als Weisungsbühne für Reliquien gedient haben, wie es für andere Erfurter Kirchen belegt ist. Es ist davon auszugehen, dass die Jakobusreliquie am Tag des Apostels feierlich präsentiert wurde, während man den Translationsbericht verkündete. Für das Tabernakel auf dem Hochaltar 392 Tim Erthel <?page no="393"?> wird eine Umdeutung seiner bisher angenommen Funktion als Sakramentshaus vorgeschlagen. Es ist viel eher davon auszugehen, dass es als steinerner Reliqui‐ enschrein für hochrangige Reliquien des Klosters, darunter das Jakobusheiltum, Verwendung gefunden hat. Schöpfer dieses exzeptionellen Werks war vielleicht Meister Lorenz, der zur gleichen Zeit für den Turmbau nachgewiesen ist. Die Errichtung des Schreins könnte von der 1457 gegründeten Jakobusbruderschaft initiiert worden sein, die für eine Erneuerung der Jakobusverehrung sorgte. Der Reliquienkult endete abrupt, als die Kirche 1525 evangelisch wurde und fortan als Ratskirche diente. Der Kult geriet in Vergessenheit, sodass heute nur noch seine Spuren zusammengeführt werden können. 393 Der Jakobuskult an der Erfurter Predigerkirche im Spiegel ihrer Ausstattung <?page no="395"?> Abb. 1: Erfurt, Domberg mit den beiden ehemaligen Kollegiatstiftskirchen St. Marien und St. Severi Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel Rainer Müller und Martin Sladeczek Der Erfurter Domberg ist bekannt für das einmalige Ensemble der Kirchen St. Marien, dem heutigen Dom, und St. Severi (Abb. 1). Auf den Berg führen die sogenannten Domstufen. Ungefähr auf halber Höhe der Treppenanlage befindet sich auf der linken Seite an einem Pfeiler der Kavaten eine lateini‐ sche Inschrift. Sie wurde dort in der Mitte des 15. Jahrhunderts angebracht und fordert das glückliche Thüringen auf, zu jubeln und sich der großartigen <?page no="396"?> 1 Bisher fand die Inschrift kaum Beachtung in der Forschung. Lediglich erwähnt wird sie bei: Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen, Bd. 1: Die Stadt Erfurt. Dom, Severikirche, Peterskloster, Zitadelle, bearb. von Karl B E C K E R u. a., Burg 1929, S. 129; Datierung auf um 1450 bei Richard J A H R / Wilhelm L O R E N Z , Die Erfurter Inschriften (bis zum Jahre 1550). Die Grabinschriften, Inschriften an Bauwerken, an Werken der Plastik, der Malerei und des Kunstgewerbes, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 36 (1915), S. 1 - 180, Nr. 68, S. 147; unbestimmte Datierung ins 14. Jahrhundert (? ) bei Joseph K L A P P E R , Die Blutkapelle im Erfurter Dom, in: Miscellanea Erfordiana, hg. von Erich K L E I N E I D A M / Heinz S C H Ü R M A N N (Erfurter theologische Studien 12), Leipzig 1962, S. 272 - 290, hier S. 285; Beschreibung und Übersetzung im Zusammenhang mit der Verehrung der hll. Adolar und Eoban bei Falko B O R N S C H E I N , Die heiligen Adolar und Eoban in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst am Erfurter Dom, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 6 (2011), S. 33 -130, hier S. 61 f. Erwähnungen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts bleiben hier unberücksichtigt. In der bisherigen For‐ schung wird die Inschrift auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert, eventuell ist eine Datierung ins 3. Viertel des 15. Jahrhunderts treffender. Transkription des Textes: In • cristi • laude • felix / • thuringia • plaude • / Cui(us) • habes • donis • tan / tis • gaude • patronis. In älteren Transkriptionen wurde der Sporn am Ende von gaude als Kürzungszeichen interpretiert und zu gaudere aufgelöst, was nach Meinung der Autoren aber ein Fehler ist. Eine grammatikalisch und inhaltlich einwandfreie Übersetzung gestaltet sich schwierig. Daher wird an dieser Stelle vorgeschlagen, den Kasus des Wortes donis in der Übersetzung anzupassen, um Versmaß und die markanten Imperative berücksichtigen zu können. Das Wort könnte dann schlicht mit „Gnade“ übersetzt werden. Sollte diese Interpretation zutreffen, wäre darin ein lyrisches Mittel des Urhebers zu sehen, um einen Reim zu patronis zu schaffen. Als Urheber ist wohl ein Kanoniker einer der Stiftskirchen zu vermuten. Abb. 2: Domstufen, Inschrift an einem Pfeiler der Kavaten, um 1450 / 60 Patrone zu erfreuen 1 (Abb. 2). Der etwas verklausulierte Inhalt und die un‐ gewöhnliche Position der Inschrift werfen Fragen auf: Welche Patrone sind 396 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="397"?> 2 Vgl. zur Datierung der Kavaten Barbara P E R L I C H / Mike S C H N E L L E / Ulrike S I E G E L , Der Ostschluss, in: Forschungen zum Erfurter Dom, hg. von Johannes C R A M E R / Man‐ fred S C H U L L E R / Stefan W I N G H A R T (Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege N. F. 20), Altenburg 2005, S. 30 -43. 3 Beispielhaft diese Formulierungen bei Frank Matthias K A M M E L , Bemerkungen zum Erfurter Heiligenkult des Spätmittelalters, in: Pielgrzymki w kulturze średniowiecznej Europy, hg. von Jacek W I E S I O Ł O W S K I , Posen 1993, S. 187-197, hier S. 190; Barbara P E R L I C H , Höher, Schöner, Prächtiger - Kirchenbauwettstreit auf dem Erfurter Domberg, in: Mittelalterliche Architektur. Bau und Umbau, Reparatur und Transformation. Festschrift für Johannes Cramer zum 60. Geburtstag, hg. von Barbara P E R L I C H / Gabri V A N T U S S E N B R O E K , Petersberg 2010, S. 13-30, hier S. 22 f. 4 Hartmann S C H E D E L , Die Schedelsche Weltchronik von 1493, kommentiert von Rudolf P Ö R T N E R , Dortmund 4 1988, fol. CLVIr; die lat. Ausgabe spricht von aras et basilicas. gemeint? Welche Funktion wurde der - doch für einen Großteil der Bevöl‐ kerung nicht enträtselbaren - Inschrift zugedacht? Welchen Anlass gab es zu ihrer Anbringung? In welchem Zusammenhang steht sie zu den im zeit‐ lichen Umfeld erfolgten Baumaßnahmen an den Kirchen 2 ? Gab es eventuell auch liturgische Hintergründe? Die Inschrift kann paradigmatisch für die vielen Fragezeichen um das Thema der Reliquienverehrung an den beiden Stiftskirchen auf dem Domberg stehen. Oftmals werden in der Literatur Pilgerströme oder Reliquienwallfahrten mit einem regen Besucherstrom auf den Berg vermutet; schriftliche Nachweise dafür existieren kaum 3 . Eine prominente Ausnahme bildet die auf eine überregionale Rezeption hinweisende Beschreibung Erfurts in der Schedelschen Weltchronik von 1493. Darin heißt es u. a.: In diser statt sind vil leichnam der heilligen durch hochberuembt mann bestattet. Nemlich der heilligen bischoff Adolarii Eobani Severi und vincencie, den sie auch weyt kirchen und tempel gepaut haben 4 . Grundsätzlich ist von einem ‚Pilgerbetrieb‘ auf dem Domberg, gleich welchen Ausmaßes, auszugehen. In der überregionalen Wallfahrtsforschung sind bisher keine Zeugnisse für ein bedeutendes Pilgerwesen an St. Marien und St. Severi im Mittelalter aufgetaucht. Klassische Quellenindizien wie Reiseberichte und Chroniken, Mirakelberichte und Sühneverträge oder Pilgerzeichen, die oftmals auch auf den Besuch heute unbekannter Wallfahrtsorte hinweisen, fehlen für den Domberg. Testamentarische Verfügungen zu Wallfahrten aus anderen Orten sind bisher ebenfalls nicht bekannt. Es stellt sich also die Frage nach der Prominenz der Kirchen als Pilgerziel. Dieser frappierenden Armut an Belegen aus schriftlichen Quellen stehen die beiden Kirchen selbst entgegen. Ihre bauliche Konzeption ist in weiten Teilen auf die Verehrung der Reliquien und auf einen Wallfahrtsbetrieb ausgelegt. Wie noch zu zeigen ist, gilt dies für alle Bauphasen von der Romanik bis 397 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="398"?> 5 Wir danken Falko Bornschein, Tim Erthel, Michael Matscha und Frank-Joachim Stewing, alle Erfurt, für wertvolle Hinweise. Kunstgewerbliche Arbeiten, wie die erhaltenen mittelalterlichen Reliquiare, finden in diesem Text keine Berücksichtigung. Vergleichsbeispiele aus anderen Städten werden nur angeführt, wenn sie zentral für die Argumentation sind. Es sei beispielsweise auf die Studie von Benjamin Müseg‐ ades zur Heiligenverehrung in Speyer und Lincoln verwiesen, wobei insbesondere die Beispiele aus Speyer viele Parallelen in den Details erkennen lassen; Benjamin M Ü S E G A D E S , Heilige in der mittelalterlichen Bischofsstadt. Speyer und Lincoln im Vergleich (11. bis frühes 16. Jahrhundert) (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 93), Wien / Köln / Weimar 2021, passim. 6 Auf eine eingehende Befunddiskussion der im Folgenden dargestellten Ergebnisse der Bauforschung sei an dieser Stelle insbesondere bei St. Marien verzichtet; sie erfolgt an anderer Stelle; Rainer M Ü L L E R , Der unbekannte Dom. Neue Erkenntnisse zur Gestalt der Erfurter Stiftskirche St. Marien im 12. und 13. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 82 (2021), S. 31-88; Rainer M Ü L L E R , Erfordia sacra. Mittelalterlicher Kirchenbau in Erfurt - Überlieferung, Themen und Motive, in: Erfurt im Mittelalter, Tagungsband des GWZO, erscheint voraussichtlich 2022. Grundlegend noch immer B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 11-131, zusammenfassend S. 132-138. Weiterhin Edgar L E H M A N N / Ernst S C H U B E R T , Dom und Severikirche zu Erfurt, Leipzig 1988; C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2). 7 Zur Einführung Enno B Ü N Z , Kollegiatstifte in Thüringen. Zu den Lebenswelten von Ka‐ nonikern um 1500, in: Thüringische Klöster und Stifte in vor- und frühreformatorischer Zeit, hg. von Enno B Ü N Z / Werner G R E I L I N G / Uwe S C H I R M E R (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 6), Köln / Weimar / Wien 2017, S. 21-63; zu St. Marien: Franz Peter S O N N T A G , Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt von 1117-1400. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Verfassung, seiner Mitglieder und seines Wirkens (Erfurter theologische Studien 13), Leipzig 1962; Josef P I L V O U S E K , Die Prälaten des zur Spätgotik. Weiterhin steht auch die Ausstattung beider Kirchen in vielen Objekten mit den Kulten in Zusammenhang. Da bisher keine zusammenfassende Darstellung dieses Problems existiert, erschien es geboten, zunächst diesen Widerspruch, den Forschungsstand und die daraus resultierenden Fragen festzuhalten, worum die Autoren nach Füh‐ rungen im Rahmen der Jahrestagung der Jakobus-Gesellschaft im September 2019 in Erfurt gebeten wurden. An dieser Stelle sollen daher die baulichen und realen Befunde bis zum Ausgang des Mittelalters knapp dargelegt und für beide Kirchen gegenübergestellt werden 5 . Sie werden mit den wenigen schriftlichen Hinweisen auf die Reliquienverehrung und Pilger abgeglichen. Zu beiden Kirchen besteht eine umfangreiche kunst- und bauhistorische For‐ schungslage; an dieser Stelle sollen die wesentlichen Phasen der Baugeschichte mit Bezug zur Reliquienverehrung vorgestellt werden 6 . Für beide Kirchen können dabei auch wesentliche neue Erkenntnisse zu den Bauphasen und der Ausstattung präsentiert werden. Die Erforschung der jeweiligen Stiftsge‐ schichte ist für St. Marien leidlich, für St. Severi überhaupt nicht vorhanden 7 . 398 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="399"?> Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt von 1400-1555 (Erfurter theologische Studien 55), Leipzig 1988. 8 Zur Geschichte des Kollegiatstifts siehe S O N N T A G , Kollegiatstift (wie Anm. 7). Erstmals in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird St. Marien als monasterium bezeichnet, das 752 von Bonifatius gegründet worden sei. Matthias W E R N E R , Die Gründungstradi‐ tion des Erfurter Petersklosters (Vorträge und Forschungen. Sonderband 12), Sigma‐ ringen 1973, S. 97 f. mit Anm. 343. 9 W E R N E R , Gründungstradition (wie Anm. 8), S. 97 f., mit Anm. 344. 10 Karl H E I N E M E Y E R , Erfurt im 12. Jahrhundert, in: Der Wolfram-Leuchter im Erfurter Dom. Ein romanisches Kunstwerk und sein Umfeld, hg. von Falko B O R N S C H E I N / Karl H E I N E M E Y E R / Maria S T Ü R Z E B E C H E R (Schriften des Vereins für die Geschichte und Alter‐ tumskunde von Erfurt 11), Erfurt 2019, S. 7-40, hier S. 21; Karl H E I N E M E Y E R , Erfurts Erst‐ erwähnung 742 im Rahmen der Bistumsgründungen des Bonifatius. Zur Frühgeschichte der Metropole Thüringens und zu den Anfängen ihrer Verbindung mit Mainz, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 78 (2017), S. 9-40, hier S. 22-24; S O N N T A G , Kollegiatstift (wie Anm. 7), S. 1-6; Alfred O V E R M A N N , Probleme der ältesten Erfurter Geschichte, in: Sachsen und Anhalt 6 (1930), S. 25-43, hier S. 38-41. 11 W E R N E R , Gründungstradition (wie Anm. 8), S. 98 f. mit Anm. 345, 348-350; vgl. ebd., S. 98-105; B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 20 (Reg. 9). Vgl. K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 279. Im ältesten Bericht ist von einer translatio die Rede; erst später wird von einer inventio gesprochen. 12 W E R N E R , Gründungstradition (wie Anm. 8), S. 99 mit Anm. 348. 13 Ebd., S. 98 f. mit Anm. 348. 14 Ebd., S. 99-103 mit entsprechenden Anm. 15 Ebd., S. 99, mit Anm. 350. Der Bericht der Translatio entstand nach Matthias Werner zwischen 1165 / 83 und 1237 / 1285. St. Marien - Reliquien, bauliche Befunde und Ausstattung Die Kirche des erstmals 1117 in den Quellen erwähnten Erfurter Marienstifts war eigener Überlieferung nach eine Gründung des Bonifatius 8 . Seit dem 14. Jahrhundert wurde sie zudem mit der Kathedrale des 742 von dem angel‐ sächsischen Missionar und Kirchenorganisator gegründeten Bistums Erfurt gleichgesetzt 9 . Diese Geltung hat sie bis heute 10 . Ein wesentliches Beweisstück in dieser Gründungstradition sind die Reliquien der hll. Adolar und Eoban, die im Jahr 1154 bei Erdarbeiten für den in Teilen noch heute bestehenden Kirchenbau aufgefunden worden waren 11 . Die beiden Heiligen waren Gefährten des Bonifatius und hatten gemeinsam mit ihrem Lehrer 754 in Friesland das Martyrium erlitten 12 . Nach fuldischer Überlieferung waren ihre Körper zunächst mit dem des hl. Bonifatius nach Fulda überführt und dort auch bestattet worden 13 . Wann die Reliquien nach Erfurt gelangten, ist nicht bekannt 14 . Die stiftseigene Überlieferung datierte die Translation in die Zeit des Mainzer Erzbischofs Lul und damit ins 8. Jh 15 . 399 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="400"?> 16 Ebd., S. 104. 17 S O N N T A G , Kollegiatstift (wie Anm. 7), S. 99. 18 B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1); Andrea L Ö T H E R , Prozessionen in spätmit‐ telalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Einheit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit 12), Köln / Weimar / Wien 1999, S. 209-234; Ulman W E Iẞ , Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (Regionalgeschichtliche Forschungen), Weimar 1988, S. 52-54; Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, hg. von Hartmut K Ü H N E / Enno B Ü N Z / Thomas T. M Ü L L E R , Petersberg 2013, S. 276 f. und 279-281; allgemein zu Reliquienprozessionen vgl. Anton L E G N E R , Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995, S. 120-133. 19 Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert K I R S C H B A U M , 8 Bde., Freiburg i. Br. 1968 (im Folgenden LCI), hier Bd. 5, Sp. 24. 20 LCI 6 (wie Anm. 19), Sp. 159. 21 Falko B O R N S C H E I N , Der spätgotische Reliquienschrein für die Heiligen Adolar und Eoban in der Stiftskirche St. Marien zu Erfurt, in: Gestalt - Funktion - Bedeutung. Festschrift für Friedrich Möbius zum 70. Geburtstag, hg. von Franz J Ä G E R / Helga S C I U R I E , Jena 1999, S. 101-121; Falko B O R N S C H E I N , Die Tumba der Heiligen Adolar und Eoban, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 71-85; B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1). 22 B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 94-98. 23 Carl B E Y E R (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Erfurt 1 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 23), Halle 1889, Nr. 554 (im Folgenden UB Erfurt 1); Alfred O V E R M A N N (Bearb.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster 1 (706-1330) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt N. R. 5), Magdeburg 1926, Nr. 1101 (im Folgenden UB Erfurter Stifter und Klöster 1); vgl. O V E R M A N N , Probleme (wie Anm. 10), S. 40. Schon bald nach ihrer Erhebung im Jahr 1154 waren die Gedenktage der beiden Heiligen am Stift als eigene Festtage eingeführt worden 16 . Zudem wurde der Tag des hl. Adolar um 1360 zu einem festum totum summum erhoben 17 . Den Höhepunkt der kultischen Verehrung stellte die sogenannte Bischofstracht dar, eine alle sieben Jahre stattfindende Prozession, bei der der Schrein der beiden Heiligen um den Bereich des heutigen Domplatzes getragen wurde. Sie ist erstmals für 1451 bezeugt, war aber eventuell älter 18 . In der stiftseigenen Tradition galt Adolar als erster Bischof Erfurts 19 . Daher wurde er ebenso wie Eoban, der 753 von Bonifatius zum Bischof von Utrecht bestimmt worden war 20 , im Allgemeinen mit vollem bischöflichem Ornat dargestellt 21 . Seit dem frühen 14. Jahrhundert tritt dann erstmals auch die Weihe Adolars und seine Amtseinführung durch Bonifatius als Thema in der Bildkunst entgegen 22 . In diese Zeit fallen zudem die ersten urkundlichen Bezeugungen Adolars als Bischof und Bonifatius‘ als Gründer der Marienkirche 23 . 400 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="401"?> 24 Zur bildlichen Überlieferung siehe die grundlegende Arbeit von Falko Bornschein; B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1). 25 Zur Stuckmadonna siehe ebd., S. 41-48; Roland M Ö L L E R , Zur Farbigkeit mittelalterlicher Stuckplastik, in: Stuck des frühen und hohen Mittelalters. Geschichte, Technologie, Konservierung. Eine Tagung des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS und des Dom- und Diözesanmuseums Hildesheim in Hildesheim, 15.-17. Juni 1995, München 1996, S. 79-93, hier S. 84-86; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 141 f.; zur Tumba siehe B O R N S C H E I N , Reliquienschrein (wie Anm. 21); B O R N S C H E I N , Tumba (wie Anm. 21); zu den Triangelskulpturen siehe Frank Matthias K A M M E L , Kunst in Erfurt 1300-1360. Studien zu Skulptur und Tafelmalerei, Berlin 2000, S. 57-80; zur Chorverglasung siehe B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 83-102. 26 Zum Reliquienschrein siehe B O R N S C H E I N , Reliquienschrein (wie Anm. 21); zu der Bemalung der Helme siehe B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 69-72, sowie Roland M Ö L L E R , Monumentale Malerei des späten Mittelalters in Erfurt, in: Erfurt. Geschichte und Gegenwart, hg. von Ulman W E Iẞ (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 2), Weimar 1995, S. 381-391; B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 27 (Reg. 71); Benjamin S O M M E R , Mitteldeutsche Flügelretabel vom Reglermeister, von Linhart Koenbergk und ihren Zeitgenossen. Entstehung, Vorbilder, Botschaften (Neue Forschungen zur deutschen Kunst 12), Berlin 2018, S. 241 f. 27 K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), passim. 28 Die Lage der Kapelle im südlichen Querhaus ist seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesen. B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 54; vgl. Falko B O R N S C H E I N , Zum Innen‐ raum des Erfurter Domes am Beginn des 16. Jahrhunderts und zu Elementen seiner künstlerischen Ausstattung, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 14 (2019), S. 17-99, Wie zahlreiche Bildwerke belegen, hatte die Verehrung der beiden Heiligen einen hohen Stellenwert in der spätmittelalterlichen Kultpraxis des Stiftes 24 . Zu den exponierten Stücken der umfänglichen bildkünstlerischen Überliefe‐ rung gehören die um 1160 geschaffene Stuckmadonna mit der Darstellung der beiden Heiligen auf dem Stuckrahmen der Altarnische (Abb. 3), die um 1330 entstandenen Skulpturen am Haupteingang der Kirche, dem sogenannten Triangelportal (siehe Abb. 17), die um 1353 geschaffene Adolar-Eoban-Tumba (siehe Abb. 14) und das um 1410 / 20 geschaffene Bonifatius-Adolar-Fenster der Chorverglasung (siehe Abb. 15) 25 . Nicht erhalten, aber durch Schrift- und Bild‐ quellen gut bezeugt, sind der 1477 von Meister Konrad Konigenrod gefertigte silberne Reliquienschrein der Heiligen und die 1494 / 95 entstandene Darstellung Adolars und Eobans zu Seiten der Stiftspatronin Maria als etwa acht Meter hohe Bilder auf den spätgotischen Turmhelmen durch den Maler Lienhart Koenbergk 26 . Außer dem Adolar-Eoban-Kult gab es am Marienstift mit einer Blutreliquie ein weiteres besonders verehrtes Heiligtum 27 . Ort der Verehrung war die Blut‐ kapelle. Sie befand sich laut Joseph Klapper seit dem 13. Jahrhundert im südli‐ chen Querhausarm 28 . Das namengebende Blutwunder ereignete sich im Jahr 401 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="402"?> hier S. 69-73. Klapper vermutet eine bis ins hohe Mittelalter reichende Ortstradition; K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 176-178. 29 K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 174-176. 30 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 294-296 (Nrn. 94, 96-98), 374 (Nr. 276), 376 (Nrn. 280, 281), 393-395 (Nrn. 333, 336, 337). Abb. 3: Dom St. Marien, sogenannte Stuckmadonna, Altarretabel, auf dem Stuckrahmen die hll. Adolar und Eoban, um 1160 1191 in einem Dorf bei Erfurt namens Rechstedt (wohl Bechstedt-Straß). Nach Prüfung durch eine Kommission wurde seitens des Mainzer Erzbischofs Konrad die Echtheit des Ereignisses bestätigt und ein Hochfest zur Verehrung der Blut‐ reliquie für den Tag nach Mariä Verkündigung angesetzt 29 . Darüber hinaus ist auf diverse, heute im Domschatz aufbewahrte Artefakte des 12. bis 16. Jahrhunderts, wie Reliquienkapseln, -büsten, -schränkchen und -kästchen sowie Monstranzen, hinzuweisen. Sie lassen einen kontinuierlich seit dem 12. Jahrhundert gepflegten und erweiterten Reliquienschatz erschließen, der gewiss für die Kultpraxis des Stifts eine besondere Bedeutung hatte (Abb. 4) 30 . Vor dem Hintergrund der Gründungstradition von St. Marien und der Fülle an bildkünstlerischen Zeugnissen, die besonders die Verehrung der hll. Adolar und Eoban am Stift bezeugen, soll im Folgenden das Bauwerk in den Blick ge‐ 402 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="403"?> Abb. 4: Dom St. Marien, Büstenreliquiar mit Darstellung eines Bischofs nommen und nach den Auswirkungen des Reliquienkultes auf die architekto‐ nische Erscheinung befragt werden. Der heutige Dom besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: erstens dem Hohen Chor, der durch Größe und exponierte Stellung die Ostseite des Dombergs be‐ herrscht und mit dem zweigeschossigen Portalbau des Triangels an der Nordseite als Zielpunkt der sich von der Stadt nähernden Besucher auch gestalterisch eine Einheit bildet, zweitens der markanten Dreiturmgruppe mit dem nach Westen angrenzenden sogenannten Chorhals und drittens dem mit hohem Walmdach versehenen Langhaus. Dahinter stehen drei signifikante bauliche Zustände, nämlich die romanische, die gotische und die spätgotische Stiftskirche. Sie entsprechen den am heutigen Bestand ablesbaren Hauptbauphasen (Abb. 5): 1. 1153-1237: romanischer Neubau mit den beiden Osttürmen, 2. Anfang 14. Jahrhundert bis 1370 / 72: Hoher Chor und Triangel, 3. 1455-1500: spätgotisches Langhaus, Erneuerung der Dreiturmgruppe. 403 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="404"?> 31 UB Erfurter Stifter und Klöster 1 (wie Anm. 23), Nr. 118; B E C K E R u. a., Kunstdenkmale, S. 20 f. (Reg. 9 und 12); vgl. W E R N E R , Gründungstradition (wie Anm. 8), S. 104 f.; K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 279. 32 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 21 (Reg. 18). 33 Ebd., S. 22 (Reg. 21). 34 L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 15. Abb. 5: Dom St. Marien, Grundriss mit farblicher Hervorhebung der Hauptbauphasen Unter den genannten Bauteilen repräsentieren die beiden seitlichen Türme der Dreiturmgruppe, der Chorhals und das im spätgotischen Langhaus aufge‐ gangene Querhaus die älteste Zeit. Sie gehören der 1153 begonnenen und im Wesentlichen um 1200 fertiggestellten romanischen Stiftskirche an. Wie zeitgenössische Quellen berichten, wurde der Bau nicht unwesentlich durch Spenden der Gläubigen finanziert, die die 1154 erhobenen Reliquien der Stifts‐ heiligen aufsuchten 31 . Schon in diesem Punkt zeigt sich die Bedeutung der Reliquien für die Baugeschichte. 1237 ist die Fertigstellung des Nordturms bezeugt 32 . 1253, einhundert Jahre nach dem Beginn der Erneuerungsarbeiten, bei denen die Reliquien der Stiftsheiligen aufgefunden wurden, erfolgte die Weihe der Kirche 33 . Eine erste Erweiterung stellte der um 1282 begonnene und 1290 geweihte Chorneubau dar 34 . Es war ein auf sieben Seiten eines Zehnecks konstruiertes Polygon, von dem Fundamente und Sockelmauerwerk in der 404 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="405"?> 35 P E R L I C H / S C H N E L L E / S I E G E L , Ostschluss (wie Anm. 2) mit einer Rekonstruktion auf S. 35. 36 Ebd.; Thomas N I T Z / Christine F U C H S / Oliver B U T Z , Die Steinmetzzeichen an Türmen, Hohem Chor und im Kreuzgang, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 86-93; Sonja B I E L S K I S / Jens B I R N B A U M / Britta H U N G E R / Andrij K U T N Y I / Alexander W I E S N E T H , Der nicht ausgeführte Anbau an der Südwand des Hohen Chores, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 50-60. 37 S O N N T A G , Kollegiatstift (wie Anm. 7), S. 167 f. 38 N I T Z / F U C H S / B U T Z , Steinmetzzeichen (wie Anm. 36), S. 90-92. 39 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 24 (Reg. 40). 40 Vgl. Rainer M Ü L L E R , Das Chorgestühl des Erfurter Doms. Überlegungen zu seiner Ikonographie und zur Architektur des Hohen Chores, in: Aus der Arbeit des Thüringi‐ schen Landesamtes für Denkmalpflege (Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege N. F. 13.2), Altenburg 2003, S. 7-31. 41 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 25 (Reg. 48). Die Hölzer des jetzt beste‐ henden Chordaches datierten auf 1416 / 17 (d); Thomas E IẞI N G , Kirchendächer in Thüringen und dem südlichen Sachsen-Anhalt. Dendrochronologie - Flößerei - Kon‐ struktion (Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäo‐ logie N. F. 32), Altenburg 2009, Taf. 29; vgl. Thomas E IẞI N G , Kirchendächer in Thüringen, in: Dächer in Thüringen, hg. von Johannes C R A M E R / Thomas E IẞI N G (Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege 9), Bad Homburg / Leipzig 1996, S. 21-60, hier S. 46-48. 42 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 25 (Reg. 51). Westwand der Krypta erhalten blieben 35 . Zu Anfang des 14. Jahrhunderts, etwa um 1310, begann der Bau des Hohen Chores. Bereits um 1330 waren die Kavaten bis in Höhe des Chorumgangs und der untere Teil des Hohen Chores bis zu den Fenstersohlbänken gediehen 36 . Durch die reichspolitischen Ereignisse um die Besetzung der Mainzer Kathedra bedingt, in die auch der Dekan des Marienstifts, Hermann von Bibra, hineingezogen worden war, kam es zu einer Bauunterbrechung 37 . Erst 1349 wurde an dem unter einem Notdach stehenden Torso des Chorneubaus weitergearbeitet. Eine Inschrift über dem südlichen Kryptazugang benennt dieses Jahr als Zeitpunkt des Baubeginns, was aber nachweislich nur für den oberen Teil zutrifft 38 . 1353, zum zweihundertsten Jubiläum der Kirchenerneuerung, wurde die Krypta geweiht 39 . Zu diesem Zeit‐ punkt dürften die Arbeiten am Triangelportal, die Wölbung der romanischen Bauteile von Chorhals und Querhaus sowie der Bau der heutigen Sakristei im Norden abgeschlossen gewesen sein. Mit der Weihe des Hohen Chores 1370 / 72 war der Bau wohl insgesamt vollendet 40 . 1416 zerstörte ein Brand die Turmaufsätze und das Chordach 41 . Es wurde sofort, die Türme bis 1454, also zum dreihundertsten Jubiläum der Reliquienerhebung, ergänzt um einen dritten, mittleren Turm, wiederhergestellt 42 . Nur ein Jahr später begann der 405 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="406"?> 43 Ebd., S. 25 (Reg. 54). 44 So L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 22; Georg D E H I O , Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen, bearb. von Stephanie E IẞI N G u. a., München ²2003, S. 237. 45 Das 1868-1870 geschaffene Dach von St. Marien war eine technisch anfällige Konstruk‐ tion und auch ästhetisch fragwürdig. Es wurde 1968 / 69 durch das jetzige Hallendach, mit dem in etwa die Kubatur des Vorgängerdachs wiederhergestellt wurde, ersetzt. Hans S C H O D E R , Denkmalpflege am Erfurter Dom, in: Denkmale in Thüringen. Ihre Erhaltung und Pflege in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl, Weimar 1974, S. 254-269, hier S. 258-262. Kritisch dazu Biagia B O N G I O R N O u. a., 140 Jahre Gestaltung im Namen der Denkmalpflege. Der Erfurter Dom 1829-1969, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 228-240. 46 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 40 f. (Reg. 157-166). 47 Zur Rekonstruktion des romanischen Doms siehe M Ü L L E R , Dom (wie Anm. 6). Neubau des Langhauses 43 . Eine Vollendung wird für 1465 angenommen 44 , dürfte aber erst in den 1470er / 1480er Jahren erfolgt sein. Der große Stadtbrand von 1472 schädigte auch die Kirche; die Turmhelme, die bis ins 18. Jahrhundert den hohen, spitzen Helmen der Severikirche entsprachen, waren erst Ende des 15. Jahrhunderts wiederhergestellt. Das heutige Langhausdach ist eine formale Kopie des spätgotischen von 1968 / 69 und ersetzte ein Satteldach mit Querdächern aus dem 19. Jahrhundert 45 . Auf die Restaurierung des mittleren 19. Jahrhunderts geht die Gestalt der jetzigen Turmhelme zurück 46 . Die romanische Stiftskirche (1153-1237) Die romanische Stiftskirche St. Marien war eine dreischiffige kreuzförmige Basilika mit Querhaus und östlicher Turmgruppe. Zu den Besonderheiten des romanischen Bauwerks zählen die eingerückte gerade Chorwand zwischen den Türmen, die nicht quadratische, sondern deutlich ost-westlich gestreckte Vierung und die ungleich breiten Querhausarme (Abb. 6) 47 . Das zwischen den Türmen gelegene Sanktuarium war als einziger Raum der Kirche mit einem Gewölbe, einem Tonnengewölbe, versehen; alle anderen Bereiche hatten flache Balkendecken. Vom Sanktuarium war die im Südturm gelegene Sakristei direkt zu erreichen. Im Nordturm gab es im Erdgeschoss wohl eine Schatzkammer, darüber einen Kapellenraum. Auch für das Pendant im Obergeschoss des Südturms kann nach Art der Erschließung und Belichtung eine liturgische Nutzung angenommen werden. Im westlichen Teil des Chormittelschiffs befand sich der Stiftschor. Er er‐ streckte sich, was bisher nicht zur Kenntnis genommen wurde, mit dem Chor‐ gestühl bis in die Vierung und dürfte gegen das Querhaus und die Chorseiten‐ schiffe mit einer Chorschranke abgegrenzt gewesen sein. Zudem befanden sich in beiden Chorseitenschiffen keine Altäre, sondern geradläufige Treppen, die in 406 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="407"?> 48 Zum oberen Raumabschluss im Chorhals siehe die Hinweise bei Christine F U C H S , Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der Turmgruppe - Ergebnisse der Untersuchungen 2002-2004, in: C R A M E R u.a., Dom (wie Anm. 2), S. 17-29, hier S. 20-23. Im Inventar wurde hier noch ein Gewölbe vermutet; B E C K E R u.a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 130. Abb. 6: Dom St. Marien, Grundriss von Chor und Querhaus im Zustand um 1200 die Obergeschosse der Türme führten. Auf die besondere Funktion dieser Treppen ist noch zurückzukommen (Abb. 7). Im Querhaus gab es in beiden Armen jeweils eine architektonisch ausge‐ zeichnete Altarstelle. Die südliche befand sich an der Position des jetzigen Sak‐ ramentshauses und war als Wandnische gestaltet, die nördliche lag anstelle der jetzigen Sakristei und war durch eine Apsis betont. Unter dem westlichen Vie‐ rungsbogen dürfte sich wie üblich der Kreuzaltar mit einer Kreuzigungsgruppe auf dem Kreuzbalken befunden haben. Nach Westen folgte dem Querhaus eine dreischiffige flachgedeckte Basilika 48 . Die Breitenmaße der Schiffe stimmten 407 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="408"?> Abb. 7: Dom St. Marien, Schnitt durch den Nordturm mit der Kapelle und dem Verlauf der beschriebenen Treppe 408 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="409"?> 49 Der Ansatz des südlichen Seitenschiffs an das Querhaus wurde 1864 / 65 ergraben und fluchtet offensichtlich mit einem Mauerzug unter dem jetzigen Seitenschiff. Für ein gleichbreites nördliches Seitenschiff sprechen nicht nur allgemeine künstlerische Verbindlichkeiten der romanischen Baukunst, sondern auch die Abbruchspuren an der Westwand des nördlichen Querhausarmes; Heinrich B E Y E R / Rudolf B Ö C K N E R , Kurze Geschichte der Stiftskirche Beatae Mariae Virginis zu Erfurt mit Benutzung zum Theil noch unbekannter Quellen, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 6 (1873), S. 126-222, hier S. 173; Bartel H A N F T M A N N , Zur Baugeschichte der Stiftskirche B. M. V. (Dom) und der Severi-Stiftskirche in Erfurt, Erfurt 1914, S. 15; vgl. auch L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 12. 50 Karin S C Z E C H , Archäologische Untersuchungen, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 13-16, S. 14 f. Eine zunächst seitens der Archäologie vermutete Entstehung des Bauwerks im 9./ 10. Jahrhundert hat sich nicht bestätigt. Wolfgang T I M P E L , Neue ar‐ chäologische Forschungsergebnisse zur Frühgeschichte Erfurts, in: Erfurt 742-1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, hg. von Ulman W E Iẞ , Weimar 1992, S. 11-20, hier S. 16; vgl. Wolfgang T I M P E L / Roland A L T W E I N , Das alte Erfurt aus archäologischer Sicht, in: W E Iẞ , Erfurt (wie Anm. 26), S. 67-79, hier S. 74 f. 51 S C Z E C H , Untersuchungen (wie Anm. 50). Inwiefern auch der romanische Bau von 1153 einen westlichen Gegenchor hatte, ließ sich bisher nicht klären, ist aber nach den bekannten Befunden unwahrscheinlich. 52 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 20 (Reg. 9). Dieses Zitat nach der im 13. Jahrhundert entstandenen Peterschronik. 53 Lisa S C H Ü R E N B E R G , Die ältere Baugeschichte des Erfurter Domes, in: Sachsen und Anhalt 4 (1928), S. 276-290, hier S. 277; Walter P A S S A R G E , Der Dom und die Severikirche zu Er‐ furt (Deutsche Bauten 8), Burg ² 1935, S. 6; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 14. 54 Bei der Peterskirche ist der Bezug ein anderer, zudem sie ursprünglich vier Türme hatte; Tim E R T H E L , Bauhistorische Untersuchungen zu den Westtürmen und der Vorkirche von St. Peter und Paul in Erfurt, in: Die Klosterkirche St. Peter und Paul in Erfurt. Neue Forschungen zu den Wandmalereien und zur Baugeschichte (Berichte der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten 13), Rudolstadt 2015, S. 25-35. Dass es auch bei der dabei mit denen des Chores überein 49 . Nach Westen reichte das Mittelschiff, wie archäologisch nachgewiesen, bis zur jetzigen Westwand, d. h. die Westwand des spätgotischen Langhauses steht knapp westlich der romanischen Außenwand 50 . Nachgewiesen ist auch die Westapsis eines wohl um 1100 entstandenen Vor‐ gängers 51 . Die nova ecclesia cum turribus munitissimis war deutlich auf die östlich gelegene Stadt bezogen (Abb. 8) 52 . Vorbild für das Motiv des turmflankierten Sanktuariums mit gerader, schwach eingerückter Ostwand war die 1147 ge‐ weihte Erfurter Peterskirche, die allerdings zudem Türme im Westen und damit eine andere Gestalt und städtebauliche Ausrichtung hatte 53 . Die Stellung der Türme im Osten wie auch ihre besondere Gestalt stehen, wie im Folgenden zu zeigen ist, mit deren Nutzung für den Reliquienkult im Zusammenhang 54 . 409 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="410"?> Marienkirche ein westliches Turmpaar gegeben hat, dürfte auszuschließen sein. Die mittelalterlichen Schriftquellen berichten nur von den vorhandenen Türmen. 55 Erstmals hatte Udo Sareik 1980 für den Nordturm und die in dessen Obergeschoss befindliche Kapelle einen solchen Zusammenhang hergestellt; Udo S A R E I K , Die Ostteile von Vorgängerbauten des Erfurter Domes, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hoch‐ schule für Architektur und Bauwesen Weimar 27 (1980), S. 61-71; vgl. L E H M A N N / S C H U ‐ B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 142. Hingewiesen wurde bereits auf die eigentümliche Lage der Treppen in den Chorseitenschiffen, eine ansonsten im romanischen Kirchenbau so nicht be‐ kannte Form der Turmerschließung. Eigentümlich ist sie, weil die Treppen von Chor und Querhaus voll einsehbar waren, was auf eine gewollte Inszenierung ihrer Benutzung verweist. Diese Form der Inszenierung lässt weiterhin auf eine besondere Bedeutung der oberen Turmräume schließen 55 . Abb. 8: Dom St. Marien, Ostansicht, Rekonstruktion des Zustands um 1237 410 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="411"?> 56 Das Fenstergewände hat eine nahezu waagerechte Sohlbank, auch die Laibungen sind fast senkrecht durch die Mauer geführt. Eine genaue Untersuchung des Fensters auf der Nordseite steht aus. Die Außenseite ist durch das Sakristeidach im unteren Teil abgedeckt. Innen aber reicht die Sohlbank wohl bis auf das ursprüngliche Niveau und läuft nahezu gerade nach außen. Das entsprechende Fenster im Südturm zeigt eine ebenso ebene Sohlbank. 57 Sie zeigt ein ähnliches Gewände wie das Fenster der Nordseite. Die Öffnung ist sowohl an der Kapellenseite wie an der Chorseite nachgewiesen; vgl. F U C H S , Turmgruppe (wie Anm. 48), S. 22, Abb. 8. Bei der Kapelle im Obergeschoss des Nordturms handelt es sich um einen balkengedeckten Raum von etwa 5 x 5 m. An seiner Ostseite befindet sich ein Altar mit einer Wandnische, rechts daneben ist ein jetzt vermauertes Portal angeordnet (Abb. 9). Licht empfängt der Raum durch ein Fenster an der Nordseite 56 . An der Südseite gab es eine zum Chor weisende, jetzt vermauerte Öffnung 57 . An der Westseite liegt etwa mittig das Eingangsportal, das über die Treppe vom Chorseitenschiff erreicht wird. Abb. 9: Dom St. Marien, Kapellenraum im ersten Obergeschoss des Nordturms, links der Altar mit Stuckestrich auf der Altarstufe, rechts die heute vermauerte Pfor-te (Weisungsöffnung? ) 411 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="412"?> 58 Thomas W E I G E L , Schmuckfußböden des 12. Jahrhunderts aus inkrustiertem Estrichgips, Petersberg 2009, S. 108-121, 300-304. Die Darstellungen zeigen Tugendallegorien. 59 Zusammenfassend zuletzt B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 41-48. 60 Dieser Zusammenhang ist durch Udo Sareik und Roland Möller nachgewiesen; Udo S A R E I K , Angewandte Astronomie im Mittelalter. Die Lichtöffnungen am Erfurter Dom und an der Klosterkirche zu Veßra, in: Die Sterne. Zeitschrift für alle Gebiete der Him‐ melskunde 62 (1986), S. 284-292; Roland M Ö L L E R , Das Stuckretabel im Dom zu Erfurt. Ein Vorbericht, in: Beiträge zur Erhaltung von Kunstwerken 3 (1987), S. 4-22; M Ö L L E R , Farbigkeit (wie Anm. 25), S. 84-86. Vgl. L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 141 f. 61 S A R E I K , Ostteile (wie Anm. 55), S. 64 und Abb. 3 (63). Vgl. die Rekonstruktionen von P E R L I C H / S C H N E L L E / S I E G E L , Ostschluss (wie Anm. 2), S. 32, Abb. 3. 62 Thomas Weigel erwägt einen Verbindungsgang zur erzbischöflichen Burg. Doch auch hierfür fehlt jeder Befund. W E I G E L , Schmuckfußböden (wie Anm. 58), S. 114-121. 63 Christian M I S C H , Zur Ostfassade des romanischen Nordturms, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 44-49. 64 Ebd, S. 46. Von der ursprünglichen Ausstattung der Kapelle haben sich bedeutende Frag‐ mente erhalten. Dazu gehören Reste eines figürlich intarsierten Stuckestrichs auf der Altarstufe 58 . Vor allem aber ist die berühmte, um 1160 zu datierende Stuckmadonna zu nennen (vgl. Abb. 3) 59 . Sie hatte ihren Platz in der Nische über dem Altar, die gleichfalls mit Stuck ausgekleidet und gerahmt war 60 . Auf diesem Stuckbogen sind u. a. die beiden Heiligen in bischöflichem Ornat und mit Krummstab dargestellt (Abb. 10). Restauratorisch konnte auch die ursprüngliche Fassung und die besondere Lichtinszenierung des Kunstwerkes geklärt werden. Dabei steht das Blutrot, das den Farbgrund des Bogens bildet, für das Martyrium der beiden Heiligen. Ungeklärt ist hingegen die Funktion der unmittelbar neben dem Altar an der Ostseite befindlichen Pforte (Abb. 11). Sareik hatte vermutet, dass sie zu einer Außentreppe geführt habe 61 . Für deren Existenz konnten bisher keinerlei Be‐ funde beigebracht werden. An der Außenseite des Turmes, die heute vom In‐ neren des Hohen Chores sichtbar ist, gibt es weder Konsolsteine noch sonstige Anhaltspunkte für einen Anbau 62 . Eine oberhalb der Portalöffnung gegebene, durch die Nut eines Dachanschlags begrenzte raue Mauerfläche hat Christian Misch mit einem an dieser Stelle befestigten Stuckbild in Verbindung gebracht, auf dem möglicherweise auch die Heiligen dargestellt waren 63 . Misch nimmt zudem an, dass die Pforte lediglich auf einen Balkon führte und als Weisungs‐ öffnung für die Reliquien diente 64 . Was bisher nicht zur Kenntnis genommen wurde, ist der Umstand, dass auch am Südturm Hinweise auf eine kultische Nutzung gegeben sind. Auch in diesem Fall wurde das Obergeschoss durch eine Treppe im Chorseitenschiff, hier des 412 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="413"?> 65 M Ü L L E R , Dom (wie Anm. 6), S. 45. 66 Die jetzigen Treppen stammen aus dem 19. Jahrhundert. Aufgrund der Befunde am Mauerwerk müssen auch schon die älteren Treppen in dieser Form geführt gewesen sein. Eine Übersicht hinsichtlich der Gestaltung romanischer Treppen fehlt; sie wäre für die Bewertung dieses Befundes von Bedeutung. 67 S A R E I K , Ostteile (wie Anm. 55), S. 64, Abb. 3. Abb. 10: Rekonstruktion der Farbfassung der Stuckmadonna und des Stuckrahmens mit den Darstellungen Adolars und Eobans südlichen, erschlossen 65 . Auch war der Obergeschossraum mit einem Fenster versehen, dessen Gewände wohl nahezu senkrecht die Mauer schnitt. Allerdings gibt es keinen Hinweis auf einen Altar. Die Erschließung der weiteren Oberge‐ schosse erfolgte im Inneren über mit mehreren Läufen und Podesten entlang der Turminnenseiten geführte Holztreppen 66 . Zwischen den Türmen bestand oberhalb des Chorgewölbes eine Verbindung. Sareik hatte aufgrund der Treppe im nördlichen Seitenschiff, der Kapelle im Nordturm mit ihrer besonderen Ausstattung, der Pforte an der Ostseite und der von ihm angenommenen Außentreppe einen Prozessionsweg rekonstruiert und diesen in Verbindung mit einer Wallfahrt zur Verehrung der beiden Stiftshei‐ ligen Adolar und Eoban gebracht 67 . Doch selbst wenn eine wie auch immer ge‐ artete Außentreppe bestanden haben sollte, bleibt die Frage, ob eine solche We‐ 413 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="414"?> 68 UB Erfurter Stifter und Klöster 1 (wie Anm. 23), Nr. 118 [1157-1194]; vgl. B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 21 (Reg. 12). Abb. 11: Dom St. Marien, Chorbau, Blick nach Westen auf die romanischen Türme, um 1920, rechts oberhalb des Gestühls die vermauerte Pforte geführung für Wallfahrten in dieser Zeit, also in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, gebräuchlich war. Denn der Weg führte vom Inneren direkt nach außen. Auch ist aufgrund der beschwerlichen Zugänglichkeit der Kapelle und ihrer geringen Größe eine Nutzung für Wallfahrten mit vielen Besuchern sehr unwahrscheinlich. Letztlich aber spricht eine zeitgenössische Quelle gegen diese Annahme. In der unter Propst Arnold (amt. 1157-1195) ausgestellten Urkunde heißt es, der Opferstock, in dem die für den Bau bestimmten Spenden der Gläubigen einge‐ worfen werden, stehe in der Mitte der Kirche unter dem Heiligen Kreuz, also wohl nahe dem Kreuzaltar unter dem westlichen Vierungsbogen - oblationes misse in arculam ad sanctam crucem in medio ecclesiae locatam 68 . Demnach beschritten die Gläubigen einen Weg innerhalb der Kirche. In welcher Form also wurden die Räume genutzt? Wenn man die Pforte an der Ostseite mit Misch als Weisungsöffnung versteht und die Fenster ihrer besonderen Form wegen als Orte für die Ausstellung von Reliquiaren deutet, so ist eine Nutzung der Kapelle im Nordturm wie des Obergeschossraums 414 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="415"?> 69 So M Ü L L E R , Dom (wie Anm. 6), S. 70-75. im Südturm in Verbindung mit dem Reliquienkult zu diskutieren (Abb. 12) 69 . Aufgrund der geringen Größe und der eingeschränkten Zugänglichkeit ist davon auszugehen, dass die Räume nur von kleinen Gruppen von Geistlichen aufgesucht wurden. Darüber, dass die Kultfeiern die Gestalt von Prozessionen hatten und die Geistlichen möglicherweise ihren Weg auch über die Türme nahmen, lässt sich, solange Quellen fehlen, nur spekulieren. Der durch die Treppen gezeichnete ‚Rundweg‘ über die Türme ließe dies aber zu. Abb. 12: Dom St. Marien, Schnitt durch den romanischen Baubestand der Türme, Richtung Osten 415 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="416"?> 70 Ebd., S. 61 f. 71 UB Erfurt 1 (wie Anm. 23), Nr. 554, vgl. K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 279. Siehe auch B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 22 (Reg. 28). 72 Joseph Klapper nimmt an, dass der Altar im südlichen Querhaus gestanden habe; K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 280-284. Falko Bornschein vermutet eine Aufstel‐ lung im neuen Chor oder aber im Langhaus; B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 47 f. Zu Reliquienschreinen vgl. L E G N E R , Reliquien (wie Anm. 18), S. 134-149, zur Aufstellung östlich oberhalb der Altäre vgl. ebd., S. 136 f. Nach dem Dargelegten ist jedoch zu bezweifeln, dass die Reliquien dauerhaft in der Kapelle aufbewahrt wurden. Die bildliche Darstellung der beiden Bischöfe an dem zur Stuckmadonna gehörigen Blendrahmen der Altarnische ist jedenfalls kein hinreichender Beleg. Sie bezeugt lediglich die besondere Verehrung am Stift. Sofern der Altar der Turmkapelle auch den beiden Märtyrern geweiht war, reichten in das Sepulcrum des Altars eingesenkte Partikel, um die Heils‐ verbindung herzustellen. Zum anderen aber war der Raum ursprünglich nicht gewölbt und damit nicht brandsicher. Es ist eine Frage an die Forschung, ob Reliquienkammern in dieser Zeit gewölbt zu sein hatten. Die Einwölbung des über der Kapelle gelegenen Raums erfolgte jedenfalls erst zu späterer Zeit, wohl um 1300 70 . Erstmals in einer Urkunde vom 1. Dezember 1309 ist von einem Altar der beiden Heiligen die Rede. In ihr wird eine Stiftung zu Gunsten des neuen Altars in der Marienkirche beglaubigt, über dem, wie es in der Quelle heißt, die Reliquien von Adolar und Eoban aufbewahrt seien: ad altare novum in eadem ecclesia, super quo sanctorum martirium et pontificum, scilicet Adelari et Eobani reliquie sunt locate 71 . Wo dieser Altar genau stand, wird nicht mitgeteilt, auch nicht, ob sich der Reliquienschrein direkt oberhalb des Altars oder in einem Raum darüber befand; ersteres ist das wahrscheinlichere 72 . Die Erwähnung des Standorts als in der Kirche gelegen lässt zudem nicht an eine Kapelle denken. Da der Altar als neu bezeichnet wird, ist von einer zuvor erfolgten Verlegung der Reliquien auszugehen. Zusammenfassend ist festzuhalten: Aufgrund des völligen Schweigens der schriftlichen Überlieferung für das 12. und 13. Jahrhundert bleiben Aussagen zu Einzelheiten des liturgischen Gebrauchs der romanischen Stiftskirche wie des Umfangs, der Verwahrung und der Präsentation der Heiltümer in vielen Punkten spekulativ. Die aufgezeigten baulichen Befunde lassen aber keinen Zweifel, dass die gegebene Situation auf Erfordernisse des Reliquienkultes zurückzuführen ist. Weisung und Aussetzung erfolgten offenbar in Form zeremonieller Akte, bei denen einzelne Priester mit den Heiltümern vom Chor über die Chortreppen in die Turmobergeschosse zogen. Große Menschenmengen werden sicher nicht über die Türme gelenkt worden sein. Wohl aber kann und wird es Präsenta‐ 416 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="417"?> 73 Zu dem Bild an der Ostseite des romanischen Nordturms siehe M I S C H , Ostfassade (wie Anm. 63); zur Turmhelmbemalung siehe B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 69-72; zur Bezeichnung des Turmes siehe B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 27 f. (Reg. 72); vgl. B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 60, Anm. 63. Es ist nicht auszuschließen, dass auch die vorherigen Turmhelme bildliche Darstellungen der Heiligen trugen. 74 Eobani ad australem, Adalarii ad septentrionalem plagam collocata; W E R N E R , Gründungs‐ tradition (wie Anm. 8), S. 100, Anm. 350. 75 P E R L I C H / S C H N E L L E / S I E G E L , Ostschluss (wie Anm. 2), S. 32-35. tionen der Reliquien in und an der Kirche gegeben haben, bei denen auch Laien und möglicherweise Pilger Zugang hatten. Doch ist deren genauer Ort unbekannt. Mit der Kapelle, den mutmaßlichen Schau- und Weisungsöffnungen und dem Armarium bzw. der Sakristei im Erdgeschoss sind die Türme vor allem als Großreliquiare zu verstehen. Für ein solches Verständnis spricht auch das von Christian Misch wahrscheinlich gemachte Bildwerk an der Ostseite des Nordturmes. In dieser Tradition stehen dann auch die 1494 erfolgte Bemalung der Turmhelme mit den Figuren der Heiligen, wie sie durch das große Christo‐ phorusbild im Langhaus auch bildlich überliefert ist, und die in den Rechnungen von 1494 gebrauchte Bezeichnung des einen Turms als turris sancti Adolarii (siehe Abb. 21) 73 . In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nach dem Translationsbericht Eoban auf der Süd-, Adolar auf der Nordseite bestattet worden war 74 . Die im Vergleich zum Südturm höherwertige Ausgestaltung der Kapelle im Nordturm, also dem Turm des hl. Adolar, fände somit in dessen besonderem Rang als erstem Bischof Erfurts ihre Begründung. Die gotische Stiftskirche (Anfang 14. Jahrhundert bis 1370 / 72) Anfang des 14. Jahrhunderts planten die Stiftsherren von St. Marien den Bau eines neuen Chores (Abb. 13). Der Umstand, dass dafür ein erst wenige Jahre zuvor, 1290, vollendeter und geweihter Chor abgebrochen werden musste, lässt bereits das Außergewöhnliche dieses Vorgangs und die besondere Bedeutung dieses Bauwerks für die Stiftskanoniker erkennen 75 . Der Neubau erforderte auf‐ wändige Vorarbeiten. Der Domberg musste künstlich um etwa 40 m nach Osten erweitert und ein Höhenunterschied von etwa 15 m ausgeglichen werden. Der Baumeister wählte für die Aufgabe eine Kombination aus mehrgeschossigem Hochbau und Brückenkonstruktion. So entstand ein dreigeschossiger Kernbau in den Grundmaßen des Hohen Chors, der ringförmig von Brückenbögen eingefasst wird. Auf diesen lagert als erhöhte Freiterrasse der Chorumgang. 417 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="418"?> 76 Bernd W E D E M E Y E R , Die Blasiuskirche in Mühlhausen und die thüringische Sakralbau‐ kunst zwischen 1270 und 1350 (Braunschweiger kunsthistorische Arbeiten 2), Berlin 1997, S. 264-281. Abb. 13: Dom St. Marien, Chorbau von Nordosten In dem Unterbau, den sogenannten Kavaten, wurden Gewölbekeller in zwei Ebenen und - direkt unter dem Chor - eine gewölbte Krypta angeordnet. Letztere ist nur vom Chorumgang zugänglich. Die Chorkapelle selbst, die etwa doppelt so hoch wie der Unterbau ist, stellt eine klassische hochgotische Architektur der Zeit um 1300 dar. Ihre Wurzeln hat sie in der Kathedralgotik des Westens; die Vorlagen für Einzelheiten wie Profile, Konsolen, Maßwerke usw. entstammen den Musterbüchern der Bauhütten von Köln und Straßburg 76 . Die lange Bauzeit - der Bau wurde erst um 1370 vollendet - gibt sich an den 418 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="419"?> 77 Zum Thema der Pariser Sainte-Chapelle und ihrer Nachfolge als begehbarem Reliquiar siehe Ulrich H E N Z E , Präsentation und Rezeption. Inszeniertes Heiltum im späten Mittelalter Zur Interaktion von Bildern und Reliquien 1250-1420, Heidelberg 2019, S. 235-243, besonders S. 238, abrufbar unter: http: / / archiv.ub.uniheidelberg.de/ artdok/ volltexte/ 2019/ 6452 (letzter Aufruf: 14. Juli 2021). 78 Der von Johannes Cramer und Barbara Perlich hergestellte Zusammenhang verschie‐ dener Sgraffiti zum mittelalterlichen Wallfahrtswesen erscheint fraglich, da sich die Zeichnungen zum einen in beträchtlicher Höhe an den Chorwänden befinden, zum anderen aber augenscheinlich erst im 16./ 17. Jahrhundert entstanden sind; Barbara P E R L I C H / Johannes C R A M E R , Wandmalerei und Graffiti am Hohen Chor, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 61-70; vgl. P E R L I C H / S C H N E L L E / S I E G E L , Ostschluss (wie Anm. 2), S. 41 f. 79 Zur Tumba siehe B O R N S C H E I N , Tumba (wie Anm. 21); B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 49-57. 80 S O N N T A G , Kollegiatstift (wie Anm. 7), S. 99. 81 B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 83-102. Maßwerken zu erkennen, deren strahlige, teils blumige Formen deutlich in die Mitte des 14. Jahrhunderts weisen. Sowohl in der grundsätzlichen Disposition als einschiffigem, großzügig befenstertem Saalchor mit Ober- und Unterkirche, als auch in Details wie der Traufbalustrade oder dem hier allerdings nur über dem Scheitelfenster gegebenen Brückenbogen ist der Bezug auf die Pariser Sainte-Chapelle unverkennbar. Wie diese war auch der Hohe Chor ein Haus der Heiligen, ein begehbares Reliquiar 77 Dabei dürften die Reliquien in der Krypta aufbewahrt worden sein. Auf diesen Zusammenhang verweist zunächst der Umstand, dass dieses bauliche Motiv im 14. Jahrhundert an sich ungebräuchlich ist und wie aus der Zeit gefallen erscheint. Zudem ist der Raum, wie schon angemerkt, nur vom Umgang zugäng‐ lich. Weiterhin spricht die gesamte Wegeführung für eine solche Nutzung. So ermöglicht der etwa sechs Meter breite Chorumgang auch größeren Gruppen ein bequemes Umschreiten des Chores 78 . Weiterhin besteht an und in der Krypta eine durch Portale und Treppen vorgegebene Situation, die eine gezielte Lenkung der Besucher erkennen lässt. Schließlich ist der Zeitpunkt von Kryp‐ taweihe und zeitgleicher Neuanfertigung der Tumba bemerkenswert (Abb. 14) 79 . Er fällt in das 200. Jubiläumsjahr der Kirchenerneuerung bzw. Auffindung der Heiligen 1353 bzw. 1354. Zudem erfolgte zu dieser Zeit auch, wie schon erwähnt, die Erhöhung des Tags des hl. Adolar zu einem festum totum summum 80 . Auch gehörte zur Chorverglasung das Bonifatiusfenster von 1410 / 20, das erstmals in der mittelalterlichen Kunst in dieser Ausführlichkeit die Vita des Heiligen darstellt und u. a. die Weihe Adolars zum ersten Bischof Erfurts wiedergibt 81 . Wie am Triangel so ist auch im Hohen Chor die Gründungstradition des Stiftes ein zentraler Aspekt der Bildausstattung (Abb. 15). 419 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="420"?> Abb. 14: Dom St. Marien, Krypta, Adolar-Eoban-Tumba von Südwesten, um 1350 Abb. 15: Dom St. Marien, Chor, Bonifatiusfenster, Einsetzung des hl. Adolar als Bischof von Erfurt, um 1410 / 20 420 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="421"?> 82 Das im 14. Jahrhundert (? ) entstandene Chorgitter ist heute im nördlichen Querhausarm angebracht. 83 Vgl. M Ü L L E R , Dom (wie Anm. 6), S. 79 f., 85. 84 Bezüglich des Gewölbes im südlichen Nebenraum hatten Edgar Lehmann und Ernst Schubert mit Verweis auf das Baldachingewölbe am Antoniusaltar von 1483 für eine Entstehung im 15. Jahrhundert votiert. L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 17. Die schlichten gekehlten Rippen und die Blattmaske mit gebeultem Laub am Schlussstein lassen auch eine Entstehung im 14. Jahrhundert möglich er‐ scheinen. Vgl. S C H Ü R E N B E R G , Baugeschichte (wie Anm. 53), S. 277. Eine genaue bauhis‐ torische Untersuchung der Nebenräume ist bisher nicht erfolgt. 85 Die Annahme von Barbara Perlich, Mike Schnelle und Ulrike Siegel, die Tür an der Ostseite hätte nach wie vor zu einer Außentreppe geführt, wird durch die eigene Be‐ funddarstellung klar widerlegt. P E R L I C H / S C H N E L L E / S I E G E L , Ostschluss (wie Anm. 2), S. 35 und Abb. 9 und 10 sowie Abb. 12. Vgl. auch F U C H S , Turmgruppe (wie Anm. 48), S. 28, Der Neubau des Hohen Chors brachte aber nicht nur einen neuen Ort für die Heiligen, sondern er hatte auch weitreichende Folgen für die bisherige liturgi‐ sche Ordnung des Innenraums. Denn anders als die erste Chorerweiterung von 1290, die lediglich eine ‚Modernisierung‘ des Sanktuariums war, zielten die nach 1300 von Dekan und Stiftskapitel ergriffenen Maßnahmen auf eine Neukonzeption der liturgischen Orte. War der Stiftschor bisher in Chorhals und Vierung angesiedelt, so wurde er nunmehr in einen großen hohen Raum mit farbig verglasten Fenstern östlich der Türme verlegt. Damit bezogen die Stiftsherren einen Ort, der, jenseits des schmalen Chorhalses gelegen, kaum vom Querhaus eingesehen werden konnte und sowohl durch seine Lage als auch Gestalt Exklusivität ausstrahlte. Zudem war er durch ein Chorgitter vom Gemeinderaum abgetrennt (Abb. 16) 82 . Seit der Verlegung von Hochaltar und Stiftschor fungierte das alte, seiner Enge wegen als Chorhals bezeichnete Sanktuarium nur noch als Durchgang zum neuen Chor. Der Teil des romanischen Stiftschors aber, der in die Vierung ragte, wurde inklusive der vermutlich einst bestehenden Chorschranken abgebrochen. Erst jetzt entstand das Querhaus als einheitlicher Raum mit durchgehendem Fußbodenniveau. Auch wurden zu dieser Zeit Chorhals, Querhaus und Lang‐ haus eingewölbt und zu diesem Zweck die Außenmauern um etwa zwei Meter erhöht 83 . Die Umbauten lassen erkennen, dass sich mit der Errichtung des Hohen Chors auch die liturgische Nutzung der Türme geändert hatte. Nicht nur wurde der südliche Turmaufgang um 1330 neu organisiert 84 , auch die Kapelle im Nordturm erfuhr erhebliche Veränderungen. Bereits bei der 1290 geweihten Chorerweite‐ rung war die Pforte an der Ostseite vermauert und die Lichtröhre für den Al‐ tarplatz funktionslos geworden 85 . Möglicherweise hängt mit der geänderten 421 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="422"?> Abb. 17. Mit dem Anbau der Kapelle am nördlichen Querhaus, der späteren Sakristei, wurde auch das Fenster an der Nordseite teilweise zugesetzt. 86 An dieser Stelle laufen drei Wege zusammen, erstens der von der erzbischöflichen Residenz im Norden, zweitens der von der Bürgerstadt im Osten und drittens der vom Sitz der erzbischöflichen Verwaltung, dem Mainzer Hof im Brühl, im Westen. 87 W E D E M E Y E R , Blasiuskirche (wie Anm. 76), S. 269-273; K A M M E L , Erfurt (wie Anm. 25), S. 47. 88 K A M M E L , Erfurt (wie Anm. 25), S. 57-80. Abb. 16: Dom St. Marien, Schnitt durch Querhaus, Chor und Kavaten mit Kennzeichnung der Lageänderung von Chorgestühl und Hochaltar mit Vollendung des Chorbaus Nutzung auch die bereits erwähnte Einwölbung der Turmkapelle wie auch die Aufstellung eines neuen Altars für die beiden Stiftsheiligen im Jahre 1309 an einem mutmaßlich anderen Ort zusammen. Mit dem Hohen Chor entstand auch das neue Eingangsgebäude an der Nordseite. In seiner Geometrie reagiert das Triangelportal auf die besondere Wegesituation auf dem Domberg (Abb. 17) 86 . Seine Architektur mit den von Wimpergen bekrönten Portaltrichtern und dem kapellenartigen Obergeschoss ist wie die des Hohen Chores den großen Kathedralen des Westens, namentlich Köln, verpflichtet 87 . Auch die Portalfiguren beziehen sich auf bekannte Werke der Kathedralkunst, auf Skulpturen in und an den Domen in Magdeburg und Naumburg 88 . 422 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="423"?> Abb. 17: Dom St. Marien, Portalbau, sogenanntes Triangel, von Norden mit den Figuren von Adolar, Bonifatius und Eoban Bemerkenswert ist am Bildprogramm insbesondere die Position von Bonifatius, Adolar und Eoban. Die Skulpturen der drei Märtyrer, sämtlich als Bischöfe in vollem Ornat dargestellt, stehen am Nordpfeiler. Als Vertreter der irdischen Kirche sind sie damit bildhaft zwischen das Erscheinen Christi auf Erden (Ostportal) und das Jüngste Gericht mit der Wiederkunft des Messias (Westportal) eingestellt. Sie stehen also zwischen Anfang und Ende der Heilszeit und verweisen damit auf ihre besondere Bedeutung als Mittler des göttlichen Heils auf Erden. Die zentrale Stellung der Ortsheiligen fand eine Fortsetzung im Inneren. Denn mit dem Triangelbau an der Nordseite entstand das große sechsbahnige Maß‐ 423 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="424"?> 89 Das Maßwerk des Querhausfensters ist in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts zu datieren. S C H Ü R E N B E R G , Baugeschichte (wie Anm. 53), S. 283. 90 Diese Vermutung hat bereits Joseph Klapper geäußert. K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 285. Dass die Scheibe für den 1290 geweihten Chor bestimmt gewesen sei, wie im Inventar vermutet, ist unwahrscheinlich, weil dieser um 1330 gerade abgebrochen wurde; B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 214. Zu den Glastafeln vgl. B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 94-98 und B O R N S C H E I N , Innenraum (wie Anm. 28), S. 53 f. 91 B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 83-102. Abb. 18: Dom St. Marien, Querhaus von Norden, Blutkapelle am südlichen Ende unter dem sechsbahnigen Maßwerkfenster werkfenster im südlichen Querhausgiebel (Abb. 18) 89 . Zu dessen Verglasung ge‐ hörte wahrscheinlich eine im Zweiten Weltkrieg im Kunstgewerbemuseum Berlin zerstörte, „um 1330 / 40“ entstandene Scheibe. Sie stellte die Weihe Ado‐ lars durch Bonifatius zum Bischof von Erfurt dar und steht wohl mit einer Al‐ tarstiftung für die beiden Stiftspatrone in der Heilig-Blutkapelle in Verbin‐ dung 90 . Eine ähnliche Szene ist dann auch Bestandteil der im Umfang und Ausführlichkeit einzigartigen, um 1410 / 20 geschaffenen Darstellung der Boni‐ fatiusvita in der Chorverglasung 91 . 424 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="425"?> 92 UB Erfurt 1 (wie Anm. 23), Nr. 554. 93 UB Erfurter Stifter und Klöster 1 (wie Anm. 23), Nr. 1101; vgl. O V E R M A N N , Probleme (wie Anm. 10), S. 40. Im Zusammenhang mit der prononciert auf Bonifatius und seine beiden Ge‐ fährten ausgerichteten Ikonographie sowie der insgesamt bemerkenswerten ka‐ thedralen Inszenierung des Neubaus des 14. Jahrhunderts ist an die oben bereits erwähnte Urkunde zur Altarstiftung von 1309 zu erinnern. In ihr werden Adolar und Eoban als Bischöfe bezeichnet, was letztlich bedeutet, dass die Marienkirche als Bischofskirche des Adolar angesehen wurde 92 . Auch ist in dieser Aussage impliziert, dass Bonifatius die Marienkirche gegründet und zum Bischofssitz be‐ stimmt hat. Einen solchen Zusammenhang bezeugt auch eine Urkunde, die 1319 anlässlich einer Reliquienschenkung Fuldas, die u.a. eine Reliquie des hl. Bonifatius beinhaltete, ausgestellt wurde 93 . In ihr wird ausdrücklich auf die Gründung und Ausstattung der Marienkirche durch Bonifatius - ecclesie sancte Marie, quam ipse sanctus Bonifazius fundavit et dotavit preexpresse - hingewiesen. Die genannten Dokumente belegen, dass zu Anfang des 14. Jahrhunderts, also zu der Zeit, als der Hohe Chor geplant wurde, die bonifatianische Gründungstradition in ihrer erweiterten Fassung, nämlich ergänzt um das Thema von St. Marien als Kathedrale des Bonifatius, voll ausgebildet war. Ihr ein bildkünstlerisches Gesicht zu geben, darf als wesentliche Triebfeder für die Erneuerung der Stiftskirche in kathedralgotischen Formen gesehen werden. Inwiefern das für die Entstehungszeit ungewöhnliche Motiv der Krypta eine Referenz an den Herkunftsort der Reliquien, nämlich die Grabeskirche des Bonifatius in Fulda, ist, bleibt zu diskutieren. Denn es scheint, als hätte man mit den Reliquien auch das altertümliche Motiv der Unterkirche von Fulda nach Erfurt überführt, um den Heiligen einen ihnen gemäßen, ehrwürdigen Ort zu bieten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass mit der Errichtung des Hohen Chores im 14. Jahrhundert eine umfassende Neudefinition der Räume und der liturgischen Wege stattfindet. Der auf einem hohen Unterbau gestellte Kapellenschrein war nicht nur eine deutliche Vergrößerung der Kirche, sondern er war vor allem eine machtvolle Inszenierung des Marienstiftes in der Stadt. Lag der Stiftschor im romanischen Dom im Inneren und hatte keinen direkten Außenbezug, so war er jetzt Teil eines Kapellenraums, der als eigenständiger Baukörper vor die Turmfassade trat und durch Lage, Größe und Erscheinung als nach außen strahlendes Hoheitszeichen wahrgenommen wurde. In der Ge‐ staltung von Hohem Chor und Triangel griff man sehr gezielt auf künstlerische Vorbilder von hohem Rang - Sainte-Chapelle de Paris, Kölner Dom, Domkirchen von Magdeburg und Naumburg - zurück und verlieh der Kirche damit ein 425 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="426"?> 94 L Ö T H E R , Prozessionen (wie Anm. 18), S. 209. 95 Vgl. Kat. Alltag und Frömmigkeit (wie Anm. 18), S. 276 f. kathedrales Erscheinungsbild, um darin die eigene Tradition als Gründung des Bonifatius und als Bischofskirche Adolars sichtbar zu machen. Mit dem Großbau des Hohen Chores wurden aber die Türme nicht nur optisch, sondern auch im liturgischen Gebrauch in den Hintergrund gedrängt. Weisung und Ausstellung der Stiftsreliquien waren jetzt nicht mehr an die Türme gebunden. Mit der Krypta und dem Triangel waren neue, kunstvoll gestaltete Orte geschaffen, die dieser Funktion dienen konnten. Die alten liturgischen Hauptorte der romanischen Stiftskirche - Sanktuarium, Chorpo‐ dest, Chorschranken und Chortreppen - verloren ihre Funktion und wurden verändert, umgestaltet, abgebrochen. Auch das Querhaus wurde grundlegend umgestaltet. Es erhielt mit dem Triangelportal an der Nordseite ein mehrdi‐ mensionales Eingangsbauwerk, das mit dem großen sechsbahnigen Fenster im Südgiebel ein künstlerisches Gegenstück besitzt. In diesem Gegenüber gibt sich das Querhaus als neue Einzugsstraße in die Stiftskirche zu erkennen. Mit dieser Einzugsstraße, dem Chorumgang und der Wegeführung in und durch die Krypta sind Orte gegeben, die wie für Prozessionen und das Umtragen der Heiligen geschaffen erscheinen. Zeitgenössische Quellen, die eine solche Nutzung bezeugen, sind bisher nicht bekannt geworden. Doch gerade die exzeptionelle Rolle der Heiligen und ihrer Reliquien für die Ausbildung von Architektur und Bildkunst lässt kaum daran zweifeln, dass es sie gegeben hat. Der spätgotische Umbau (1450-1500) Das erste gesicherte Zeugnis für eine Prozession am Marienstift mit gemein‐ samem Umzug von Geistlichkeit und Bürgerschaft und dem Umtragen der Reli‐ quien ist die Erwähnung der sogenannten Bischofstracht für das Jahr 1451 94 . Von großem Wert ist in diesem Zusammenhang, dass die Prozessionsordnung des Stadtrates den genauen Weg beschreibt. Der silberne Schrein mit den Reliquien war am Vorabend des Sonntags Trinitatis im Chor aufgestellt worden, wo ihn Kanoniker und Mitglieder des Stadtrates am Sonntag gemeinsam aufnahmen. Der Zug verließ die Kirche durch das Triangelportal und zog über den Severihof, die Straße Unter den Schilderern (heutiger Bereich vor dem Landgericht), den Markt vor den Graden und die Domstufen hinauf. Dann wurde der Umgang um den Chor beschritten, die Kirche über den Kreuzgang betreten und der Schrein wieder in der Heilig-Blutkapelle abgesetzt 95 . In diesem Zusammenhang ist also zu erfahren, dass zu dieser Zeit die Tumba mit den Reliquien der 426 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="427"?> 96 B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), S. 38, Anm. 9. 97 Für eine Aufstellung schon im 13. Jahrhundert, wie Josef Klapper vermutet, gibt es keine Belege; K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 280 f. Vgl. dazu auch K A M M E L , Heiligenkult (wie Anm. 3), S. 190. 98 Dass die Raumgestalt sich ergab, weil die alte Mittelschiffsbreite beibehalten wurde, liegt nahe. Inwiefern aber tatsächlich die Fundamentmauern des romanischen Langhauses bindend waren, bleibt zu prüfen. Hanftmann hat dieses mit drei langrechteckigen Jochen rekonstruiert. H A N F T M A N N , Baugeschichte (wie Anm. 49), Abb. 1. Schürenberg geht vom Quadrat aus und rekonstruiert vier Joche. S C H Ü R E N B E R G , Baugeschichte (wie Anm. 53), S. 285. Eine bauhistorische Untersuchung des Langhauses steht noch aus. Zur Ausstattung in spätmittelalterlicher Zeit siehe B O R N S C H E I N , Innenraum (wie Anm. 28). Abb. 19: Dom St. Marien, Langhausinneres von Südwest, deutlich zu erkennen ist die große Breite des südlichen Seitenschiffs beiden Stiftsheiligen Adolar und Eoban in der Heilig-Blutkapelle im südlichen Querhaus stand 96 . Seit wann sie sich dort befand, ist nicht bekannt 97 . Es fällt aber auf, dass kurze Zeit später, nämlich ab 1455, das Langhaus erneuert wurde. Es scheint, als gäbe es einen Zusammenhang zwischen der Ver‐ legung der Reliquien in die Heilig-Blutkapelle und dem Neubau des Langhauses. Das liegt auch deswegen nahe, weil der Neubau gerade für diesen Bereich einen deutlichen Platzgewinn erbrachte. Denn das 1455 begonnene und in den 1480er Jahren vollendete spätgotische Langhaus zeichnet sich durch eine für die Zeit ungewöhnliche Gestaltung aus: das Mittelschiff ist schmaler als die Seitenschiffe 98 . Dadurch war die Tumba auch vom südlichen Seitenschiff, das mit über 9 m sehr breit war, gut zu sehen (Abb. 19). 427 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="428"?> 99 Roland M Ö L L E R , Dokumentation zu den 1969 im Dom zu Erfurt ausgeführten Farb- und Putzuntersuchungen im Langhaus und Querarm (vorhanden: TLDA, BuK, Erfurt, Objektakte). 100 Vgl. auch die entsprechenden Fassungsbefunde bei M Ö L L E R , Dokumentation (wie Anm. 99) 101 Der spätgotische Taufstein stand etwas östlich des heutigen und befand sich unter dem Scheidbogen von drittem und viertem Joch. Falko B O R N S C H E I N , Der Renaissancetaufstein mit Brüstung und Überbau im Erfurter Dom. Eine Untersuchung auf Grundlage der zeitgenössischen Quellen, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 13 (2018), S. 45-139, hier S. 91 mit Anm. 117. 102 Ein Steinmetzzeichen an der Schauöffnung außen ist mit einem Steinmetzzeichen an der Antoniuskapelle im Langhaus und am nordwestlichen Vierungspfeiler identisch, was für eine Entstehung der „Vitrine“ in der Zeit zwischen 1455 und 1483 spricht. Möglicherweise war der Bau der Orgelempore um 1480 maßgeblich für den Umbau des nördlichen Chornebenraumes; B E C K E R u.a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 27 (Reg. 65-68). 103 Ebd. Für einen Zusammenhang des Neubaus mit dem Heiligengrab spricht auch die Tatsache, dass einzig das Gewölbe in der Heilig-Blutkapelle erneuert wurde. Der Raum erhielt ein Rautensterngewölbe mit Ziersteinen an den Rippen und einer dekorativen Bemalung der Gewölbeflächen aus Sternen und Pflanzen 99 . In Vierung und nördlichem Querhausarm blieben dagegen die alten, aus dem 14. Jahrhundert stammenden Gewölbe erhalten 100 . Um diese in situ zu belassen, mussten die beiden westlichen Vierungspfeiler unter Last ausgetauscht werden. Eine funktionale Begründung für die ungewöhnliche Raumdisposition des spät‐ gotischen Langhauses liegt auch deshalb nahe, weil ebenso wie das südliche auch das nördliche Seitenschiff eine Sonderfunktion hatte. In den beiden westlichen Jochen befand sich nämlich die Taufkapelle. Der Standort entsprach auffallend der Position des 1467 geschaffenen spätgotischen Taufgehäuses in der Severikirche 101 . Im Zusammenhang mit dem Taufort ist schließlich von Interesse, dass die bisher wahrscheinlich dafür genutzte Kapelle am nördlichen Querhausarm um 1480 zur Sakristei umgestaltet wurde. Mit deren Einrichtung hängt eine andere Umgestaltung eng zusammen, nämlich die des nördlichen Chorseitenschiffs des romanischen Chorhalses. Um 1480 wurden die Arkaden zu Chor und Querhaus vermauert, womit der Raum vom Kircheninneren abgetrennt wurde. Er erhielt ein Gewölbe, eine neue Turmtreppe und war nunmehr Teil der Sakristei und der Schatzkammer. Darauf verweist ein neben dem spätgotischen Sakristeiportal im Chorhals befindliches vergittertes Schaufenster, das wohl der Ausstellung von Reliquien diente und noch heute für die Präsentation von Gegenständen genutzt wird (Abb. 20) 102 . Schließlich erfolgte in den Jahren von 1480 bis 1484 im nördlichen Querhaus der Einbau einer Orgelempore 103 . Hinsichtlich der liturgischen Nutzung bleibt anzumerken, dass der Gemein‐ dealtar damals wie heute im östlichen Joch des Mittelschiffs gestanden haben 428 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="429"?> 104 K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 273; B O R N S C H E I N , Innenraum (wie Anm. 28), S. 81 mit Anm. 173. 105 Ein Querschnitt mit Darstellung des Gefüges des bis 1868 bestehenden spätgotischen Dachwerkes bei St. Marien zeigt ein 1833 aufgenommener Bestandsplan. Bildarchiv TLDA, TI 208 F9. Abb. 20: Dom St. Marien, sogenannter Chorhals, Sakristeipforte und Schaufenster, um 1480 dürfte 104 . Auf diese Lage bezieht sich auch das Westportal, das mit dem Mittel‐ schiff eine der beiden Hauptwegeachsen im Langhaus markiert. Den anderen Weg kennzeichnet das nördliche Nebenportal, auf dessen Lage das von Marcus Decker gestiftete große Wandbild mit der Darstellung des hl. Christophorus von 1499 bezogen ist. Haupteingang und Einzugsort für Prozessionen an Hochfesten dürfte aber weiterhin das Triangelportal am Querhaus gewesen sein. Der spätgotische Neubau hatte auch Auswirkung auf das äußere Erschei‐ nungsbild der Stiftskirche. Dazu gehörte das große Walmdach, das die spätgoti‐ sche Halle und das romanische Querhaus zu einem Bau zusammenfasste 105 . Dazu gehörte aber auch der dritte Turm, der zwischen 1416 und 1454 entstanden war und wie die äußeren Türme nach dem Brand von 1472 einen neuen Spitzhelm 429 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="430"?> 106 Die Chronik Hartung Cammermeisters, hg. von Robert R E I C H E (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 35), Halle 1896, S. 137. 107 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 27 (Reg. 70 und 71). 108 M Ö L L E R , Malerei (wie Anm. 26). 109 Die Nachweise bei K L A P P E R , Blutkapelle (wie Anm. 1), S. 280f. Eine vollständige Auswertung der umfangreichen Aktenüberlieferung des Marienstiftes in dieser Hinsicht steht aus. erhielt 106 . Das geschah bis 1494 107 . Auf die Helme wurden die etwa 8 m hohen Figuren der Muttergottes und der beiden Stiftsheiligen gemalt 108 . Eine Vorstellung vom Aussehen der spätgotischen Marienkirche gibt das erwähnte große Christophorus-Bild. Im Hintergrund sind oben rechts der Hohe Chor, die Domstufen und das Triangelportal zu sehen (Abb. 21). Diese Darstel‐ lung ist die erste realistische Wiedergabe eines mittelalterlichen Bauwerks der Stadt Erfurt und daher von unschätzbarem Wert, hält sie doch erstmals und mit hoher Genauigkeit das Erscheinungsbild der spätmittelalterlichen Stiftskirche St. Marien fest. Sie überliefert auch das Aussehen der bemalten Turmhelme. Erstaunen mag, dass die benachbarte Severikirche auf dem Bild fehlt, obgleich sie aus der gewählten Perspektive im Blick gewesen wäre. Doch hatte der Maler anscheinend den Auftrag, lediglich die Wirkungsstätte des Stifters darzustellen. Nachweise über Umstände der alltäglichen Verehrung oder über einzelne Pilger bringen erst die ab den 1470er Jahren unvollständig erhaltenen Fabrikrechnungen des Marienstiftes. Hier ist vom „Bruder in der Kapelle“ die Rede, der die Tumba bewachte und sie für vornehme Besucher öffnete. 1493 wurde er für zwei Wochen gesondert bezahlt, wegen der Menschen, die nach Aachen pilgerten und auf dem Weg das Grab der Bischöfe besuchten. Als einzelne Besucher lassen sich Frauen aus Breslau, die Ernestiner mit dem mecklenburgischen Herzog 1502, im selben Jahr Kardinal Raimund Peraudi und 1520 ein Graf von Nassau greifen. Weiterhin zeigen die Rechnungen die Spendeneinnahmen, die in den Spalt im Deckel der Tumba eingeworfen und regelmäßig zu wiederkehrenden Tagen entnommen wurden. 1498 wurden etwa am Tag des hl. Adolar elf Schock 22 Groschen, an jenem des hl. Eoban sechs Schock 51 Groschen eingenommen 109 . Zusammenfassung Wie die vorliegende Untersuchung aufgezeigt hat, bestand an der Stiftskirche St. Marien zwischen Reliquienkult und Architektur ein über Jahrhunderte ge‐ gebener beziehungsreicher Zusammenhang. Dabei lässt die Architektur insbe‐ sondere Rückschlüsse auf die Formen der Verehrung zu. Die 1154 erfolgte Auf‐ findung der beiden Stiftsheiligen muss, sofern sie nicht geplant, sondern zufällig war, umgehend im architektonischen Konzept Niederschlag gefunden haben. Denn die Osttürme des 1153 begonnenen und schon um 1160 in Teilen ausge‐ 430 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="431"?> Abb. 21: Dom St. Marien, Langhaus, Christophoruswandbild, 1499, Detail mit der Dar‐ stellung von St. Marien und den Domstufen 431 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="432"?> statteten Neubaus nehmen in ihrer Gestaltung auf die Anforderung der Reli‐ quienweisung Bezug. Möglicherweise ist die ungewöhnliche Lage der Turm‐ treppen in den Chorseitenschiffen gerade diesem ‚Überraschungsmoment‘ der Reliquienauffindung geschuldet. Die zeitgenössischen Zeugnisse berichten von Spenden der Gläubigen, die Kirche und Reliquien aufsuchten und damit zur Baufinanzierung beigetragen haben. Zeugnisse von Wallfahrten oder aber Pro‐ zessionen sind dagegen aus dieser Zeit nicht bekannt. Die zum Domplatz wei‐ sende Pforte an der Turmkapelle dürfte wahrscheinlich Weisungen, die großen Fenster der Türme der Ausstellung von Reliquien gedient haben. Unbekannt ist, wo und wie die Reliquien zu dieser Zeit aufbewahrt wurden. Kurz nach 1300 erfolgt eine grundlegende Erneuerung der Stiftskirche. Bis um 1370 entstand ein monumentaler Kapellenschrein auf hohem Chorpodest und ein neues Eingangsgebäude, beide in modernen kathedralgotischen Formen und mit Zitaten berühmter Bildwerke von Bischofskirchen des Westens und Mitteldeutschlands. Hintergrund dieser auffallend kathedralen Inszenierung sind die Bemühungen der Marienkanoniker um Rangerhöhung der Stiftskirche zur Kathedrale Thüringens. Zeugnis dessen sind die Erwerbung von Reliquien aus Fulda, u.a. des Bistumsgründers Bonifatius, und die betonte Inszenierung Adolars als ersten Bischofs Erfurts in mehreren Bildprogrammen. Der bildhaften Präsentation der Heiligen diente eine neue Tumba. Sie wurde anlässlich der 200. Jubelfeier der Wiederauffindung gefertigt. Ort ihrer Aufstellung dürfte die 1353 geweihte Krypta unter dem Chor gewesen sein. Das für die Zeit ungewöhnliche Motiv der Krypta hat möglicherweise in der Herkunft der Reliquien aus der Grabeskirche Bonifatius‘, dem Reichskloster Fulda, seine Begründung. Für die Krypta als für die Zeit nach 1353 gegebenem Ort der Verehrung sprechen die mit der Architektur angelegte Wegesituation mit dem breiten Chorumgang und der Portal- und Treppenführung an und in der Krypta. Dass diese zudem nur von außen zugänglich ist, erzwingt Formen der Prozessionen, über die wir aber nichts wissen. Einhundert Jahre später, um 1450, deutet sich erneut ein großer Umbau an. Ihm geht eine Verlegung der Reliquien in das südliche Querschiff voraus. Dieser Standort ist erstmals für 1451 bezeugt. Damit steht sicherlich die kurz darauf begonnene Vergrößerung des Langhauses in Verbindung. Die für die Spätgotik ungewöhnliche Disposition des Neubaus mit schmalem Mittelschiff und breiten Seitenschiffen dürfte in dieser Rücksichtnahme ihre Begründung finden. Schrift‐ quellen bezeugen die alle sieben Jahre stattfindende „Bischofstracht“ mit dem Umtragen der Heiligen, auch den im späten 15. Jahrhundert nachweisbaren Zulauf zu den Heiligen. Damit geht auch eine Erneuerung des Reliquienschreins (1477) einher. Ihren sinnfälligen Ausdruck als nach außen wirkende Werbung findet die Heiligenverehrung in der Bemalung der spätgotischen Spitzhelme mit 432 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="433"?> 110 Donatella F R I O L I , Art. „Severus von Ravenna“, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 1807 f. 111 Vita et Translatio S. Severi auctore Liutolfo, ed. von Lothar V O N H E I N E M A N N , in: MGH SS 15,1, hg. von Georg W A I T Z , Hannover 1887, S. 289-293. Die Gebeine seiner Tochter Innocentia folgten um 860; vgl. ebd. S. 293, wann jene seiner Frau Vincentia nach Erfurt kamen, ist unbekannt. Vgl. zur Frühgeschichte H E I N E M E Y E R , Erfurt (wie Anm. 10), S. 23-27; W E R N E R , Gründungstradition (wie Anm. 8), S. 105-112, insbesondere S. 105, Anm. 368. Das Verhältnis zu den am Fuß des Dombergs östlich der Severikirche aufgefundenen Apsiden und dem nach Quellen des 13. Jahrhunderts im Jahr 1123 vom Domberg verlegten Nonnenkloster muss grundsätzlich archäologisch und historisch untersucht werden. 112 Vita et Translatio S. Severi (wie Anm. 111), S. 293. Eine eingehende Auswertung dieser Quelle steht aus. 113 Zum möglichen hohen Alter des Stifts vgl. v. a. W E R N E R , Gründungstradition (wie Anm. 8), S. 108-111. Derartige Patrozinienwechsel, auch mit späteren Zuschreibungen, kamen auch bei Stiftskirchen häufiger vor; vgl. etwa das Beispiel Speyer mit Domstift und Johannesstift bei M Ü S E G A D E S , Heilige (wie Anm. 5), v. a. S. 90-92. den 8 m großen Figuren der Stiftspatronin Maria und der beiden Heiligen. Damit rücken noch einmal die Türme, die auch nach den Heiligen bezeichnet werden, als die eigentlichen Orte und Träger des Heiltums ins Blickfeld. St. Severi - Reliquien, bauliche Befunde und Ausstattung St. Severi verdankt sein Patrozinium den dort aufbewahrten hochrangigen Reliquien (Abb. 22). Der hl. Severus lebte der Legende zufolge als Wollweber mit seiner Frau Vincentia und seiner Tochter Innocentia in Ravenna. Während er der Bischofswahl beiwohnte, setzte sich drei Mal eine Taube auf seinen Kopf, was als Gotteszeichen interpretiert wurde. Er wurde zum Bischof gewählt und hatte dieses Amt ca. von 310 bis 350 inne. Historisch gesichert ist seine Teilnahme an einem Konzil 342 / 43 110 . Im Zeitraum zwischen 836 und 847 wurden durch den Mainzer Erzbischof Otgar die Gebeine des hl. Severus zunächst nach Mainz und dann in die Erfurter Kirche St. Paul überführt, wodurch sich die Verehrung dieses Heiligen auch im nordalpinen Raum ausbreitete 111 . Die Beschreibung stammt aus der Translatio S. Severi aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts 112 . Dass es sich bei dieser Paulskirche um eine Vorgängerin der Severikirche handelte, ist ein üblicher Analogieschluss angesichts der spätmittelalterlichen Verehrung der Reliquien an diesem Ort. Es ist nicht auszuschließen, dass das Stift an dieser Kirche bereits im 9. oder auch im 8. Jahrhundert bestand, und zu unbekannter Zeit das Hauptpatrozinium der Kirche aufgrund der prominenten Reliquien gewechselt wurde 113 . Die Erst‐ 433 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="434"?> 114 Monumenta Erphesfurtensia saec. XII. XIII. XIV., hg. von Oswald H O L D E R -E G G E R (MGH SS rer. Germ. 42), Hannover / Leipzig 1899, S. 33. 115 Peter A C H T , Ein unbekanntes Kopialbuch des Allerheiligenspitals und späteren Reg‐ lerstifts zu Erfurt, in: Sachsen und Anhalt 13 (1937), S. 90-116, hier S. 108 f. 116 UB Erfurt 1 (wie Anm. 23), Nr. 16. 117 Vgl. W E R N E R , Gründungstradition (wie Anm. 8), S. 95, Anm. 335 mit Literatur. 118 Vgl. Karl H E I N E M E Y E R , Zum Erfurter Freizinsrecht im 12. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 73 (2012), S. 10-102. Abb. 22: St. Severi, Ansicht von Norden, um 1930 erwähnung eines monasterium sancti Severi stammt aus dem Jahr 1080, als die Kirche bei dem Stadtbrand während der Plünderung der Stadt durch Kaiser Heinrich IV . stark beschädigt und anschließend in kleinerer Form wieder auf‐ gebaut wurde 114 . 1117 wird das Stift erstmals mit einem Propst erwähnt 115 . 1121 treten Kanoniker und ein Propst auf 116 . Wie St. Marien wurde auch St. Severi unter Erzbischof Adalbert I. Sitz eines Archidiakonates 117 . Weiterhin war die Kirche eine der beiden erzbischöflichen Freizinshebestellen der Stadt 118 . Beides demonstriert die auch in anderen Details greifbare Bedeutung des Severistiftes 434 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="435"?> 119 Alfred O V E R M A N N , Die Entstehung der Erfurter Pfarreien, in: Sachsen und Anhalt 3 (1927), S. 135-148, hier S. 144. 120 Chronicon Ecclesiasticum Nicolai de Siegen, hg. von Franz Xaver W E G E L E (Thüringische Geschichtsquellen 2), Jena 1855, S. 319. 121 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 404. 122 Vgl. Karin S C Z E C H , Archäologische Grabungen am Domberg, in: Kunst am Bau. Die Einrichtungsgegenstände in unseren Kirchen. Dombaumeistertagung in Erfurt, 26.-20. September 2017, hg. von Andreas G O L D , Erfurt 2018, S. 143-150. 123 So bei Verena F R I E D R I C H , Der Domberg zu Erfurt, Passau 2001, S. 198; L E H M A N N / S C H U ‐ B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6) S. 195; H A N F T M A N N , Baugeschichte (wie Anm. 49), S. 57-80; dazu zählt auch die wiederkehrende Meinung, dass die zwei Chöre den ehemals zwei Titelheiligen Paulus und Severus geweiht waren; zuletzt W E D E M E Y E R , Blasiuskirche (wie Anm. 76), S. 466. Auch dafür fehlt jeder Anhaltspunkt. 124 Wie archäologische fehlen auch bauhistorische Untersuchungen der Severikirche weitgehend. Dies betrifft insbesondere den Bereich im Westen der Kirche. 125 Vgl. zum Bauablauf Rainer M Ü L L E R , Die Erfurter Severikirche - ein kurzer Überblick zur Baugeschichte, in: Spätgotischer Taufstein mit Baldachin in der Erfurter Severi‐ kirche. Forschung, Untersuchung und Restaurierung (Arbeitshefte des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie N. F. 35), Altenburg 2010, S. 17-30; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 180-185. Zum Teil fehler‐ haft und mit falschen Annahmen W E D E M E Y E R , Blasiuskirche (wie Anm. 76), S. 464-513. 126 UB Erfurter Stifter und Klöster 1 (wie Anm. 23), Nr. 258. für die erzbischöfliche Verwaltung in Erfurt und dürfte ebenso ein Indiz für ein höheres Alter sein. Die Pfarrei an der Kirche ist erstmals 1259 bezeugt 119 , dürfte aber zumindest in das 12. Jahrhundert zurückreichen. Diesen ab dem 12. Jahrhundert zunehmenden Schriftquellen zur Entwicklung des Stifts sind keinerlei archäologische oder bauliche Befunde beizugeben. Zu 1142 ist eine Zerstörung der Kirche durch Brand überliefert 120 , nach unsicherer Überlieferung zu 1148 eine Neuweihe 121 . Weitere Aussagen zum romanischen Bau sind nicht möglich, da bauarchäologische Untersuchungen fehlen. So ist bisher auch unklar, ob die 2005 am Fuß des Dombergs östlich der Severikirche aufgefundenen Apsiden eines romanischen Kirchenbaus mit der Severikirche in Verbindung standen 122 . Die Meinung, dass der Grundriss des gotischen Baus den des romanischen Baus abbildet 123 , ist nur auf dessen altertümliches Erscheinungsbild mit zwei Querhäusern zurückzuführen, archäologische Indi‐ zien fehlen auch dafür. Der gotische Kirchenbau (1276 / 78 bis um 1370) Während der karolingische und der romanische Bau also völlig unbekannt sind, ist der gotische Kirchenbau weitgehend erhalten 124 , Er wurde in etwa 100 Jahren zwischen 1276 und ca. 1370 errichtet 125 . Bereits ab den 1230er Jahren gab es Pläne für einen Neubau, der aber anscheinend nicht recht anhob 126 . 435 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="436"?> 127 Zusammenstellung bei B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 405. 128 Ebd. 129 Alfred O V E R M A N N (Bearb.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster 2 (1331-1400) (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt N. R. 7), Magdeburg 1929 (im Folgenden UB Erfurter Stifter und Klöster 2), Nr. 21. 130 Vgl. M Ü L L E R , Severi (wie Anm. 125), S. 19; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 183. UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nr. 438 die Bestätigung mehrerer Vikarien durch den Mainzer Erzbischof 1356; W E D E M E Y E R , Blasi‐ uskirche (wie Anm. 76), S. 498 f., datiert das Langhaus inkl. Einwölbung auf die Zeit vor 1355. 131 Vgl. dazu M Ü L L E R , Erfordia (wie Anm. 6). Acht Ablässe zur Unterstützung des Baus stammen aus dem Zeitraum von 1273 bis 1295 127 . 1305 werden Messen im Chor erwähnt, 1308 erfolgte die Weihe des Hochaltars 128 . Zumindest die östlichen Bereiche dürften also zu Beginn des 14. Jahrhunderts fertiggestellt gewesen sein (Abb. 23). 1332 werden wegen Geldproblemen der Kirchenfabrik Abgaben der Kanoniker bei neuen Pfründen eingeführt 129 . Vikariestiftungen ab 1356 sowie v. a. eine noch deutlich greifbare Ausstattungsphase, beginnend in den 1360er Jahren, weisen auf den Abschluss der Bauarbeiten in diesem Zeitraum hin 130 . Das kompakte Erscheinungsbild des Außenbaus täuscht über die Vielglied‐ rigkeit der Konzeption und die ursprüngliche Unterteilung des Innenraums hinweg. Es handelt sich um eine fünfschiffige Hallenkirche mit zwei Querhäu‐ sern. Der in einem 5 / 8-Polygon auslaufende Chor wird von den beiden wuch‐ tigen Türmen flankiert - ein Motiv, das sich auch bei der romanischen Stifts‐ kirche St. Marien fand. Während der Bauarbeiten muss zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein Planwechsel erfolgt sein, mit dem das Langhaus von drei auf fünf Schiffe geweitet wurde 131 . Zeitpunkt und Ergebnis der Umplanung lassen es wahrscheinlich werden, in dieser grundlegenden konzeptionellen Än‐ derung eine Reaktion auf den gleichzeitig oder nur kurz zuvor begonnenen Neubau des Hohen Chores des Marienstifts zu sehen. Denn die an sich als Grund für die Umplanung wenig plausibel erscheinende Vergrößerung des Langhauses wird verständlich, wenn man annimmt, dass erst mit der Umplanung auch der Westchor und wohl auch das westliche Querhaus hinzukamen. Da der Westchor wie der Hohe Chor von St. Marien über das Plateau hinausragte und auf einem künstlichen Unterbau stand, ist zu erwarten, dass der formalen Entsprechung auch eine ähnliche Funktion zugrunde lag. Denn wahrscheinlich besaß der Westchor anders als der Ostchor der Kirche eine Krypta, die aufgrund der bau‐ lich-topographischen Situation - wiederum in Entsprechung zu St. Marien - nur von außen zugänglich gewesen sein konnte. Sollte sich diese These bestätigen, so ist die in der Literatur wiederholt konstatierte Altertümlichkeit des Grund‐ 436 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="437"?> Abb. 23: St. Severi, Chorbau und Südturm von Südosten risses als bewusste Rezeption zu deuten. Als Vorbild ist erneut insbesondere auf die Grabeskirche des hl. Bonifatius in Fulda mit ihrem ‚römischen‘ Westquer‐ haus und dem Heiligengrab im Westchor hinzuweisen. Eine weitere Besonderheit der Kirche ist die Anzahl der Zugänge. Über die Querhäuser und das Langhaus sind regelmäßig sechs ähnlich große Portale verteilt, was sicher auf viele Besucher zur selben Zeit bzw. auf Prozessionswege zurückzuführen ist (Abb. 24). Der für die Erbauungszeit sehr ungewöhnliche Bauentwurf der Severikirche kann nur mit bestimmten Nutzungsanforderungen erklärt werden. Wie im Falle von St. Marien dürfte dabei die Bedeutung der Reliquien und ihrer Verehrung ausschlaggebend gewesen sein, was zur Frage der Innenraumkonzeption überleitet. 437 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="438"?> 132 Vgl. B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 423 f. 133 Die Urkunden geben etwas widersprüchliche Anhaltspunkte. 1363 ist von Almosen‐ spenden in dem crutzegange zcu sente Sever die Rede; andererseits gibt es Indizien, dass das Kapitel zumindest Ende des 14. Jahrhunderts in der Kirche tagte; UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nr. 567; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 184. Da die urkundlichen Nachweise für die Sitzungen im Bereich der nördlichen Seitenschiffe aber allesamt aus den Jahren 1386 / 87 stammen, erscheint Abb. 24: St. Severi, Grundriss mit rekonstruiertem Westchor, die Pfeile markieren die Portale Der lichte, weite und vom ‚Säulenwald‘ bestimmte Innenraum verrät heute kaum etwas über die ursprüngliche Raumkonzeption mit einzelnen liturgischen Nutzungsbereichen (Abb. 25). Es steht zu vermuten, dass der abgegrenzte Chor‐ raum mit dem Chorgestühl in die östliche Vierung ragte. Für diese Lage des Stiftschors sprechen nicht zuletzt die beiden gewölbten Räume in den Turm‐ erdgeschossen, die als Armarium im Norden und als Sakristei im Südturm an‐ gesprochen werden 132 . Bemerkenswert ist dazu, dass für St. Severi klassische Klausurgebäude bisher weder schriftlich noch archäologisch nachgewiesen werden konnten 133 . Wahrscheinlich waren sie wegen der Auflösung der vita 438 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="439"?> auch denkbar, dass dies nur eine provisorische Raumnutzung war und ein gesonderter Kapitelsaal noch geschaffen werden sollte. 134 UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nr. 584, ohne Tagesdatum. 135 Zu den Streitigkeiten um den Bau der Blasiuskapelle siehe B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 408 (Reg. 24 und 26); vgl. Wilhelm J. A. V O N T E T T A U , Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Erfurt und des Erfurter Landkreises (Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen 13), Halle an der Saale 1890, S. 111 f. Abb. 25: St. Severi, Innenraum, östliches Querhaus und Langhaus von Südosten communis ab dem 13. Jahrhundert nie in Form einer geschlossenen Klausur vorhanden. An das südliche Seitenschiff der Kirche schließt die über zwei Arkaden zum Langhaus geöffnete Blasiuskapelle an. Sie lässt sich seit 1363 nachweisen, als aus dem Testament des Kanonikers Alboldi eine Vikarie an dem Altar der Kapelle eingerichtet wurde 134 . Die Kapelle war zum Teil auf dem Grundstück des Mari‐ enstiftes errichtet worden, was einen längeren Rechtsstreit auslöste. Der heutige Bau wurde daher in kleineren Ausmaßen 1429 fertiggestellt (Abb. 26) 135 . Bisher wurde nicht beachtet, dass im ältesten erhaltenen Inventar der Severikirche von 1716 neben den Gebeinen der hll. Severus, Vincentia und Innocentia eine hochrangige, in einem Silberreliquiar gefasste Reliquie des hl. Blasius erwähnt 439 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="440"?> 136 Pfarrarchiv Severi, Akten, Nr. 2, I. In Inventaren aus der Mitte des 19. Jahrhunderts im Bestand des Pfarrarchivs wird die Reliquie in einem Messingkästchen befindlich beschrieben. 137 Der Chronist Zacharias Hogel erwähnte bereits im 17. Jahrhundert eine Kapelle St. Blasii auf dem Unterberg um das Jahr 590, die durch einen Verwalter König „Diet‐ richs“ gestiftet worden war; https: / / dana.thulb.uni-jena.de / rsc / viewer / dana_derivat e_00 000 096 / Evangelisches-Augustinerkloster-Erfurt_Msc83_0023.tif (letzter Aufruf: 14. Juli 2021); Dies wurde in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts auf das Jahr 596 bezogen; Johann Heinrich V O N F A L C K E N S T E I N , Civitatis Erffurtensis Historia Critica Et Diplomatica, Oder vollständige Alt- Mittel- und Neue Historie von Erffurth …, Teil 1, Erfurt 1739, S. 10. 138 Pfarrarchiv Severi, B 54, S. 101. 139 Vgl. Falko B O R N S C H E I N , Der Holzbildhauer Johann Andreas Gröber. Ein mitteldeutscher Meister der Barockzeit, Heilbad Heiligenstadt 2016, S. 22 mit Anm. 105 und 106, sowie Enno B Ü N Z , Der niedere Klerus im spätmittelalterlichen Thüringen. Studien zu Kirchenverfassung, Klerusbesteuerung, Pfarrgeistlichkeit und Pfründenmarkt im thüringischen Teil des Erzbis‐ tums Mainz, 3 Bde., Habil. masch. Jena 1999, hier Teil 2/ 1, S. 227-230. 140 Überlegungen zu den Altarstandorten sollen an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 141 Als solcher bezeichnet 1486 unter Stadtarchiv Erfurt, 0-1/ 7A-77. wird 136 . Selbst wenn mittelalterliche Quellen zu dieser Reliquie fehlen - was bei der schlechten Überlieferungslage keine Überraschung ist -, dürfte darin die Erklärung für die prominente, baulich gesonderte Blasiuskapelle zu sehen sein. Auf eine besondere und ins Hochmittelalter zurückreichende Verehrung des hl. Blasius im Severistift verweisen auch chronikalische Nachrichten aus der Neuzeit, wonach ein Vorgänger der Severikirche eine dem hl. Blasius geweihte Kapelle war, in der als ältester Kirche Erfurts Ende des 6. Jahrhunderts das Messopfer gefeiert worden sei 137 . Dass zumindest im 18. Jahrhundert tatsächlich Pilger wegen der Blasiusreliquie die Severikirche aufsuchten, belegt die Wie‐ dergabe eines Gebets in einer Sammelhandschrift, das die Verehrer sprechen sollten, wenn sie mit der Reliquie am Hals berührt werden 138 . Weitere Rückschlüsse auf die Raumdisposition der Kirche und die Orte des Kultes erlauben die nachvollziehbaren Altäre und ihre Patrozinien. Der Hochaltar war auffälligerweise weder dem hl. Paul noch Severus, sondern den hll. Cosmas und Damian geweiht. Seine Lage wird jedoch als in choro s. Marie Magdalene be‐ zeichnet. Dies kann sich nur auf den gesamten Ostchor beziehen 139 . Die Lage der Nebenaltäre in der Severikirche ist nur in wenigen Fällen bekannt. Im Subsidienre‐ gister von 1506 sind 51 Vikarien genannt, ohne dass aus den Patrozinien sicher die Zahl der Altäre abgeleitet werden könnte 140 . Außer dem Altar in der Blasiuskapelle (Abb. 27), jenem in der Marienkapelle, jenem in der neuen Sakristei, dem mittig im Langhaus zu vermutenden Pfarraltar St. Maria Magdalena 141 und den beiden Al‐ tären an den Ostwänden des östlichen Querhauses muss es also eine große Zahl weiterer Altäre im Kirchenraum gegeben haben. Weiterhin ist bemerkenswert, dass 440 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="441"?> 142 Diese Übersetzung nach Overmann bei UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nrr. 865 und 866. Die Urkunde behandelt einen Baustreit zwischen den Stiftskirchen, wobei das Marienstift die Verlesung verschiedener Schriftstücke in ambone publice verlangte. Es ist also auch ein Ambo an Chorschranken möglich; Bistumsarchiv Erfurt, St.Marien, Urkunden I, Nr. 753. 143 R E I C H E , Cammermeister (wie Anm. 106), S. 128. 144 L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6). Abb. 26: St. Severi, Ansicht von Süden, links die Blasiuskapelle, rechts am östlichen Querhaus die Opfernische und darüber das mutmaßliche Hagioskop sich bereits für 1387 eine Kanzel in der Kirche nachweisen lässt 142 . Eine Orgel gab es spätestens ab der Mitte des 15. Jahrhunderts 143 . Für die Zeit nach der spätgoti‐ schen Umgestaltung lässt sich die Aufteilung des Innenraums bereits besser greifen, worauf noch zurückzukommen ist. Im Westen der Kirche gab es bis zum Stadtbrand von 1472 ein weiteres Chor‐ polygon, dessen Triumphbogen auf voller Höhe erhalten ist. Über die Nutzung dieses allem Anschein nach zweistöckigen Chorbereichs können keine gesi‐ cherten Aussagen getroffen werden. Das Patrozinium ist nicht bekannt. Übli‐ cherweise wird vermutet, dass dies der Ort der Verehrung der Reliquien des hl. Severus, der hl. Vincentia und der hl. Innocentia war 144 . Dieser für die Kirche bestimmende Kult tritt greifbar überhaupt erst mit Abschluss der Bauarbeiten an St. Severi nach der Mitte des 14. Jahrhunderts hervor. Über seine vorherige 441 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="442"?> 145 Bei der Darstellung am Trumeau handelt es sich um eine Kopie. Das Original befindet sich im nördlichen Seitenschiff. Die Figur zeigt Severus als hoheitsvollen Bischof mit Buch und ehemals Bischofsstab; vgl. B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 455. Darstellungen der Kirchenpatrone an den Portalen sind an den Erfurter Pfarrkirchen üblich. Zu den Glocken vgl. ebd., S. 508 f. 146 Vgl. B O R N S C H E I N , Adolar und Eoban (wie Anm. 1), passim. Abb. 27: St. Severi, Blasiuskapelle, Inneres nach Osten räumliche und dingliche Ausgestaltung können nur Vermutungen angestellt werden. Bildwerke, die die drei Heiligen zeigen, sind aus der Zeit vor der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ebenfalls nicht erhalten. Überhaupt gibt es aus mit‐ telalterlicher Zeit nur wenige Darstellungen des hl. Severus, nämlich den im Folgenden vorzustellenden Sarkophag, die Sitzfigur vom Trumeau des Südpor‐ tals von etwa 1370 (Abb. 28) und die Glocken Osanna von 1474 (mit Severus-, Paulus- und Ägidiendarstellung) und Vincentia von 1497 145 . Gerade im Vergleich mit der Fülle der Bildwerke zu Bonifatius, Adolar und Eoban am benachbarten Marienstift ist dieser Befund bemerkenswert 146 . Er ist wesentlich auf den gerin‐ geren Bestand bestimmter Gruppen der Ausstattung an der Severikirche zu‐ rückzuführen, v. a. betrifft dies Glasgemälde und Altartafeln, wofür ein voll‐ ständiger bzw. weitgehender Verlust zu konstatieren ist. 442 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="443"?> Abb. 28: St. Severi, südliches Portal am Langhaus mit der Sitzfigur des hl. Severus als Bischof Der Severi-Sarkophag (um 1365) und die Ausgestaltung der Verehrung Aus der Zeit zwischen der Translation der Reliquien im 9. Jahrhundert und der Fertigstellung des Kirchenbaus in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gibt es keine Quellen, die auf den Umgang mit den Reliquien hindeuten. In der - allerdings erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstandenen - Thüringischen Chronik des Eisenacher Kanonikers Johannes Rothe wird berichtet, dass nach dem Brand von 1080 die zuvor für lange Zeit verborgenen Reliquien der drei 443 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="444"?> 147 Düringische Chronik des Johann Rothe, hg. von Rochus V O N L I L I E N C R O N (Thüringische Geschichtsquellen 3), Jena 1859, S. 211. 148 Man denke nur an das benachbarte Marienstift oder das prominente Beispiel der „inventio“ der Gebeine des hl. Markus in Venedig 1094. 149 Vgl. Christine J Ä G E R , Der Sarkophag des heiligen Severus in Erfurt. Ikonographie - Funktion - Werkstattfragen, Dipl. masch. Jena 1990; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 256-259; Alfred O V E R M A N N , Die älteren Kunstdenkmäler der Plastik, der Malerei und des Kunstgewerbes der Stadt Erfurt, Erfurt 1911, Nr. 38, S. 38-43; Otto B U C H N E R , Der Severi-Sarkophag zu Erfurt und sein Künstler, in: Mittei‐ lungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 24 / 2 (1903), S. 135-157. Abb. 29: St. Severi, inneres südliches Seitenschiff, sogenannter Severi-Sarkophag, um 1365 Heiligen wieder aufgefunden wurden 147 . In die Erfurter Chronistik des Spätmit‐ telalters fand diese Nachricht keinen Eingang. Abgesehen von ihrer singulären und späten Überlieferung, könnte es sich auch um einen Topos nach dem Vorbild anderer Reliquienverehrungen handeln 148 , weshalb diese Nachricht sicherlich mit Vorsicht zu betrachten ist. Deutlich zutage tritt der Kult erst mit dem be‐ rühmtesten Ausstattungsstück der Kirche, dem sogenannten Severi-Sarkophag, der zum Notnamen dieses Werkstattzusammenhangs führte (Abb. 29) 149 . Die jetzige Form der ca. 2,20 m x 1,40 m messenden Tumba wurde erst 1982 ge‐ schaffen. Bei der Deckplatte handelt es sich um einen Abguss der Platte, die sich 444 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="445"?> 150 Deckplatte und Seitenplatten werden in der Forschung üblicherweise verschiedenen Meistern zugeordnet. Diese stilistischen Fragen sollen hier nicht behandelt werden. Abb. 30: St. Severi, Severus-Altar im östlichen Querhaus, mutmaßliche ursprüngliche Deckplatte des Sarkophags, um 1365 im Retabelaufbau des Severus-Altars befindet (Abb. 30). Sie zeigt mittig den hl. Severus, gerahmt von seiner Frau, der hl. Vincentia, und seiner Tochter, der hl. Innocentia. Die Figuren stehen unter krabbenbesetzten Wimpergen. Dass es sich ursprünglich um die Deckplatte des Sarkophags handelte, ergibt sich nicht nur aus der Darstellung und den Maßen, sondern auch aus zwei dreipassförmigen Öffnungen zwischen den Figuren 150 . Die Reliefs der Seitenplatten zeigen Szenen aus der Severuslegende vom Abschied des Wollwebers von Frau und Tochter 445 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="446"?> 151 Vgl. die Literatur in Anm. 149. Die Altarstiftung bei Jakob F E L D K A M M , Geschichtliche Nachrichten über die Erfurter Weihbischöfe, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 21 (1900), S. 1-93, hier S. 47, nach einer zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht auffindbaren Urkunde „im Archiv der Severi-Kirche“. Die Weihe durch den Erfurter Weihbischof Albert von Beichlingen erfolgte am Sonntag, dem 23. Oktober 1362, einen Tag nach dem Severustag. Dabei dürfte es sich kaum um einen Zufall handeln, es dürfte eher ein Hinweis auf eine festliche Begehung des Tages selbst mit der anschließenden Weihe am Sonntag, im Sinne eines ‚Festwochenendes‘, sein. Die Vikariestiftung von 1363, die sich eindeutig auf diesen Altar bezieht, da ihre Lage novi altaris bezeichnet wird, unter Bistumsarchiv Erfurt, St. Marien, Urkunden I, Nr. 637; vgl. UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nr. 572. Die in der Urkunde genannten Pflichten des Vikars lassen keine Besonderheiten erkennen, die in einem Zusammenhang zum Severus-Kult stehen könnten. 152 Dies ergibt sich auch aus einer relativ großen Zahl erhaltener Werke des „Meisters des Severi-Sarkophags“ in Erfurt; freundliche Auskunft von Tim Erthel, Erfurt. Datierung in die frühen 1360er Jahre bei L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 258. 153 Zur Stifterfigur vgl. B U C H N E R , Severi (wie Anm. 149), S. 144. 154 Konrad von Tannroda lässt sich zwischen 1353 und 1366 urkundlich als Kanoniker des Severistiftes nachweisen. Die Stiftungsurkunde der Vikarie vom 25. Mai 1363 bezeichnet ihn weiterhin als Pfarrer der Erfurter Johanneskirche. Dieses Amt bekleidete er noch 1375; UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nrr. 378, 572, 618; Carl B E Y E R (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Erfurt 2 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 24), Halle 1897, Nr. 719. über das Gotteszeichen der Taube auf seinem Kopf bei der Bischofswahl hin zur Inthronisation als Bischof von Ravenna. Im jetzt westlichen Relief mit dem Got‐ teszeichen befindet sich eine ursprüngliche fenestella confessionis. Das in der heutigen Aufstellung südliche Relief zeigt die Anbetung der Hl. Drei Könige. Dieses ikonographische Programm führte zu der äußerst plausiblen These, einen Zusammenhang zur Einrichtung eines Altars der Heiligen Severus, Vincentia, Innocentia, der Hl. Drei Könige, Johannes des Täufers und des Evangelisten Lukas im Jahr 1362 und einer zu diesem Altar gehörigen Vikariestiftung 1363 zu sehen 151 . Dieser Zusammenhang wird durch die stilistische Datierung des Sarkophages in die Jahre um 1365 gestützt 152 . Die Stifterfigur, die auf der nördlichen Platte der Bischofsweihe beiwohnt, zeigt einen wohlgenährten, älteren Geistlichen mit Tonsur 153 . Durch seine Klei‐ dung mit Albe und Almutium, also leinenem Chorhemd und dem Pelzkragen mit Kapuze, ist er zweifelsfrei als Kanoniker ausgewiesen. Sollte der Zusam‐ menhang mit der Altarstiftung zutreffen, ist in der Figur der Stifter des Altars zu vermuten. Bei der damit verbundenen Vikarie handelte es sich um eine Seel‐ gerätstiftung des Kanonikers Konrad von Tannroda (Abb. 31) 154 . Noch um 1500 446 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="447"?> 155 B Ü N Z , Klerus (wie Anm. 139), Teil II / 1, S. 227-230. 156 Bistumsarchiv Erfurt, St. Marien, Urkunden I, Nr. 672; vgl. UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nr. 674; vgl. Das Mainzer Subsidienregister für Thüringen von 1506, hg. von Enno B Ü N Z (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Große Reihe 8), Köln / Weimar / Wien 2005, S. 162 und 165. Dabei handelt es sich um die Vikarien St. Severus sowie St. Severus und St. Bonifatius. 1379 erfolgte eine weitere Vikariestiftung durch einen Kanoniker der Severikirche, die u. a. Severus als Konpatron hatte; Karl August Hugo B U R K H A R D T , Urkundenbuch der Stadt Arnstadt 704-1495 (Thüringische Geschichtsquellen 4), Jena 1883, Nr. 181. Abb. 31: St. Severi, sogenannter Severi-Sarkophag, Detail Stifterfigur, Konrad von Tann‐ roda (? ) wird die Bedeutung dieses Altars deutlich, gab es an ihm doch allem Anschein nach nicht weniger als neun Vikarien 155 . Zusätzlich gab es einen Altar zu Ehren der hll. Severus, Bonifatius und seiner Gefährten sowie der hl. Katharina, der 1370 durch den Stiftskantor Werner von Gelnhausen neu gestiftet wurde. Um 1500 können ihm zwei Vikarien zugeordnet werden 156 . Es ist davon auszugehen, dass der Sarkophag ursprünglich einen sehr prominenten Standort hatte oder mehr noch: seine Funktion wesentlich für 447 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="448"?> 157 B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 454 f.; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 183 und 257 f., formulieren gleichzeitig leise Zweifel, dass es überhaupt ein Sarkophag war; vgl. J Ä G E R , Sarkophag (wie Anm. 149), S. 44-48 mit einer möglichen Rekonstruktion im Westchor. 158 Das Aufstellen eines Schreins hinter dem Altar war im 12./ 13. Jahrhundert der Normal‐ fall; vgl. allg. Thomas R I C H T E R , Art. „Reliquiar“, in: Lexikon für Theologie und Kirche 8 ( 3 2006), Sp. 1088-1091; Arnold A N G E N E N D T , Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Hamburg ² 2007, S. 167-179 und S. 207 f., hier S. 176-179; L E G N E R , Reliquien (wie Anm. 18), v. a. S. 134-140; Verena F U C Hẞ , Das Altarensemble. Eine Analyse des Kompositcharakters früh- und hochmittelalterli‐ cher Altarausstattung, Weimar 1999, mit vielen Beispielen, v. a. S. 33-36, 96-108. Zur Einbindung des Severi-Sarkophags können keine sicheren Angaben gemacht werden. Der mutmaßliche Zusammenhang mit einem Altar und der erwähnten Stiftung ergäbe bei üblicher Anordnung in etwa die aufgrund der Untersicht der Reliefs zu vermutende Höhe. Ein erhöhter Sockel, der es gestattete, unter dem Sarkophag hindurchzukriechen, ist z. B. am Grabmal des hl. Otto in Bamberg nachvollziehbar. Hinter einem Altar auf Säulen oder Sockeln aufgestellte Sarkophage, die ebenfalls ein Durchschreiten oder Durchkriechen ermöglichen, lassen sich beispielsweise noch in Köln, St. Severin und St. Ursula, oder in Echternach nachvollziehen. die Raumkonzeption der Severikirche war. Dennoch ist sein ursprünglicher Standort unbekannt. Die übliche Hypothese geht davon aus, dass er seinen Platz im Westchor hatte 157 . Dafür gibt es bisher jedoch weder bauliche noch schriftliche Indizien. Oben wurde bereits die mutmaßliche Zweigeschossigkeit des Westchors geschildert. Wegen Analogien - nicht zuletzt bei St. Marien - wäre also auch eine Aufstellung in einer Krypta im Westen zu überlegen. Aufgrund der Ausrichtung des Kirchenraumes und des Ehrenvorrangs des Objekts sind aber auch andere Orte denkbar, etwa eine Aufstellung in der westlichen Vierung oder ‚in medio ecclesiae‘. So ist neben den Querhäusern auch die zentrale Nord-Süd-Achse durch die Portale sowie ein breiteres und stärker profiliertes Fenster ausgezeichnet. Gleich an welchem Ort ist aber von einem um etwa eineinhalb Meter höheren und wohl auch komplexeren Aufbau als in der modernen Rekonstruktion auszugehen. Dafür spricht zunächst, dass die Reliefs der Seitenplatten stark auf Untersicht gearbeitet sind (Abb. 32). Für eine höhere Aufstellung östlich hinter dem Dreikönigsaltar spricht aber auch der Vergleich mit anderen Reliquiengräbern aus romanischer und gotischer Zeit 158 . Dabei ermöglichte eine Aufstellung auf Säulen oder einem durchbrochenen Sockel oftmals ein Schreiten oder Kriechen unter einem Schrein, um Demut zu zeigen und den Segen der Reliquien zu empfangen. Möglicherweise diente in diesem Falle gleichzeitig eine der reliefierten Seitenplatten des Severi-Sarkophages als Retabel. 448 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="449"?> 159 UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nr. 859. 160 Bisher ist diese Stiftung nicht bekannt gewesen. Der Scholaster stiftete der Kirchen‐ fabrik dafür Silberkleinodien mit einem Gewicht von 16 Mark; Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Ms. Bud. f. 141, f. 42r. Wir danken Frank-Joachim Stewing, Erfurt, für den wertvollen Hinweis auf diese Handschrift. Die Datierung ergibt sich aus den bekannten Lebensdaten des Stifters. 1387 tritt er als Scholaster und als einer von zwei Unterhändlern des Stiftes bei einem Streit mit dem Marienstift auf; UB Erfurter Stifter und Klöster 2 (wie Anm. 129), Nrr. 868, 870-872. Zu diesem Zeitpunkt war er Abb. 32: St. Severi, sogenannter Severi-Sarkophag, Relief mit der Anbetung der hl. drei Könige, Aufnahme in Untersicht zur Verdeutlichung der mutmaßlichen ursprünglichen Aufstellungshöhe Zur Frage, wie der Sarkophag und der dazugehörige Altar liturgisch ‚bespielt‘ wurden, existieren nur wenige Hinweise. Selbstverständlich ist aufgrund der vielen Vikarien zumindest für das 15. Jahrhundert von regelmäßigen Messen auszugehen - eventuell mehreren am Tag. Weiterhin werden bereits 1386 Prozessionen der Kanoniker und Stiftsangehörigen zum Tag des hl. Severus erwähnt, wobei die Wegeführung völlig unbekannt ist 159 . Von großer Bedeu‐ tung ist in diesem Zusammenhang eine bisher nicht beachtete Stiftung: Der Scholaster des Severistiftes, Konrad von Beringen, ließ - wohl in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts - silberne, mit Gold und Edelsteinen verzierte Schädelreliquiare der drei Heiligen anfertigen 160 . Diese wurden im Rahmen der 449 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="450"?> also bereits länger Mitglied des Kapitels und hatte eine angesehene Stellung inne. 1392 immatrikulierte er sich als Vikar der Severikirche an der den Lehrbetrieb aufneh‐ menden Erfurter Universität. Er verstarb der Inschrift seines Grabsteins zufolge 1411; J A H R / L O R E N Z , Inschriften (wie Anm. 1), Nr. 223, S. 42; B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), Nr. 60, S. 476. Dass die in der Stiftung beschriebene und finanzierte Prozession bereits 1386 genannt ist, dürfte als terminus ante quem zu interpretieren sein. Zu Schädelreliquiaren und ihrer symbolischen Bedeutung vgl. allg. L E G N E R , Reliquien (wie Anm. 18), S. 242-255, 278-284. 161 Dabei handelte es sich vermutlich um die Äbte des Petersklosters und des Schotten‐ klosters. 162 Walther Peter F U C H S , Akten zur Geschichte des Bauernkriegs in Mitteldeutschland 2, Jena 1942, Nr. 1605, S. 403 f.; vgl. W E Iẞ , Bürger (wie Anm. 18), S. 172. 163 Stefan M E N Z E L , Von der Reliquienzur Offizientranslation. Der Erfurter Severus-Kult aus musik- und kulturhistorischer Perspektive (ca. 850-1500), in: B Ü N Z / G R E I ‐ L I N G / S C H I R M E R , Thüringische Klöster (wie Anm. 7), S. 287-314. Das Offizium ist im Antiphonar des Marienstiftes überliefert, die Texte in Brevieren beider Stifte. Später wurde es auch in gedruckte Mainzer Diözesanbreviere aufgenommen. 164 Stadtarchiv Erfurt, 0-1 / 7-76; vgl. B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 406. 165 Quellenzitat bei M E N Z E L , Offizientranslation (wie Anm. 163), S. 306, Anm. 72. Ebd., S. 306 f. Nachweise aus Brevieren anderer Bistümer, wobei der Festtag nur vereinzelt erscheint. Prozessionen am Severustag durch vier Kanoniker getragen. Die Stiftung um‐ fasste auch Präsenzgelder für zwei mitwirkende Äbte 161 . Diese Reliquiare waren fortan zentrale Elemente des Kultes, worauf noch einzugehen ist. Sie wurden im Zuge des Bauernkrieges Ende April 1525 durch den Stadtrat konfisziert. Die drei silbern heupter zu Sanct Sever, darin die heupter der heiligen Sancti Severi, Vincencii und Innocencii gefaßt seint, wurden in Körbe geworfen, aufs Rathaus gebracht und gemeinsam mit dem Silbersarg der hll. Eoban und Adolar und vielen weiteren Wertgegenständen aus Erfurter Stiften und Klöstern im Mai 1525 eingeschmolzen 162 . Als ein weiteres wichtiges Zeugnis für die Ausgestaltung des Kultes hat sich ein Severus-Offizium erhalten, dass zu unbekannter Zeit im 13. oder 14. Jahrhundert als Kontrafaktur eines Vorbilds aus dem Kloster Saint-Bertin im nordfranzösischen Saint-Omer an der Severikirche eingeführt wurde 163 . Dass der Severus-Kult regelmäßige Erneuerungen erlebte, ist aus einem Ablass zur Verlegung des Festes der Translation des hl. Severus von 1433 abzuleiten 164 . In diesem Zusammenhang erhob der Mainzer Erzbischof Konrad von Dhaun den Tag des Heiligen im Erzbistum in den Rang eines Apostelfests, das in allen Kirchen entsprechend zu begehen sei 165 . Dass der Severustag durch das Stift dauerhaft festlich begangen wurde, kann weiterhin aus der erhaltenen Festpredigt von 1509 abgeleitet werden, die der Kanoniker des Severistiftes Se‐ bastian Weimann hielt, der außerdem eine Lektoralpräbende am benachbarten 450 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="451"?> 166 Zu Weimann vgl. Paul B A H L M A N N , Art. „Weinmann, Sebastian“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 41 (1896), S. 511 f.; zu seinen Ämtern und Pfründen vgl. B Ü N Z , Klerus (wie Anm. 139), Teil 3 / 2, S. 367 f. mit weiterer Literatur; die Predigt zum Severustag in der Handschrift Bistumsarchiv Erfurt, Hs. theol. 20; wir danken Frank-Joachim Stewing, Erfurt, der einen Aufsatz zu drei Erfurter Handschriften mit Predigten Weimanns vorbereitet, für diesen wichtigen Hinweis. Weimann predigte in St. Severi auch Him‐ melfahrt 1509 und zur Kirchweihe 1510. Auch für die Bewertung der vermeintlich dauerhaften Konkurrenz der beiden Stifte verdient dies Beachtung. 167 Vgl. Hartmut K Ü H N E , Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbrei‐ tung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75), Berlin 2000, S. 228-250. 168 Der Einzug hat in der Forschung bisher v. a. aus herrschaftsgeschichtlicher Sicht Beachtung gefunden. Initiativ dafür war die Beschreibung in der Chronik Hartung Cammermeisters, wonach der Erzbischof erst nach Bestätigung der städtischen Freiheit und der Privilegien in die Stadt gebeten wurde und ein Geschenk erhielt; R E I C H E , Cammermeister (wie Anm. 106), S. 43 und 194 f.; Friedrich B E N A R Y , Die Vorgeschichte der Erfurter Revolution von 1509. Ein Versuch, Bd. 1: Bis zu den Friedensschlüssen von Amorbach und Weimar, Erfurt 1911, S. 47-49; Eberhard H O L T Z , Erfurt und Kaiser Friedrich III. Berührungspunkte einer Territorialstadt zur Zentralgewalt des späten Mittelalters, in: Erfurt 742-1992. Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, hg. von Ulman W E Iẞ , Weimar 1992, S. 185-202, hier S. 186. 169 Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Ms. Bud. f. 141, f. 26v. Vgl. die Schilderung des Einzugs des Bamberger Bischofs in Nürnberg mit der prozessionalen Weisung von Reliquien, v. a. des Hauptes des hl. Sebald; Xaver H A I M E R L , Das Prozessi‐ onswesen des Bistums Bamberg im Mittelalter (Münchner Studien zur historischen Theologie 14), München 1937, S. 87-100, v. a. S. 92 f. Marienstift innehatte 166 . Dies verdient aus einem weiteren Grund Beachtung: Weimann ist der Forschung nicht zuletzt als Verfasser eines nicht gedruckten Magdeburger Heiltumsbuches von 1501 bekannt 167 . Ob er sich nach seiner Rückkehr nach Erfurt auch den dortigen Reliquien widmete, ist nicht bekannt, aber sehr gut denkbar. Das Beispiel verdeutlicht die mögliche Aussagekraft prosopographischer Forschungen um die beiden Erfurter Stiftskirchen auch für die dortigen Reliquienkulte. Die Reliquien hatten für das Stift eine überragende Bedeutung. Dies wurde bisher anhand des Kirchenbaus, seiner Ausstattung und den Prozessionen deutlich. Welche Rolle sie in der Repräsentation des Stiftes einnahmen, zeigt eine Schilderung des Einzugs des Erzbischofs Dietrich von Erbach 1440. Bis zur sogenannten Reduktion, der Unterwerfung Erfurts unter Mainzer Herrschaft 1664, war er der letzte Erzbischof, der die Stadt betrat 168 . Einem bisher nicht be‐ achteten Bericht in einer Handschrift des Severistiftes aus dem 16. Jahrhundert zufolge wurde der Erzbischof nach seinem Einzug in die Stadt von beiden Stiften an den Domstufen empfangen 169 . Die Stiftsangehörigen des Marienstiftes zogen dabei in einer Prozession mit Fahnen und suis reliqis [sic] die südliche Hälfte der 451 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="452"?> 170 Darauf könnten eine kaum aussagefähige Einzeldatierung im Langhausdach auf 1451 / 52 (d), v. a. aber die Datierung weiter Teile des in seiner jetzigen Form aus dem 19. Jahrhundert stammenden Chordaches auf 1454 / 55 (d) hinweisen; wir danken Thomas Nitz, Erfurt, für Auskünfte. 171 Bistumsarchiv Erfurt, Urkunden St. Severi, Nr. 44 zur Stiftung der Vikarie des Altars St. Bartholomäus, der 11 000 Jungfrauen und des hl. Erasmus in der Blasiuskapelle im Jahr 1456. 172 J A H R / L O R E N Z , Inschriften (wie Anm. 1), Nr. 86, S. 150 und Nr. 89, S. 150 f. 173 Taufstein Severi (wie Anm. 125), passim. 174 Zum Michaelsrelief vgl. L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severirkirche (wie Anm. 6), S. 260; Forschungsstand zur Werkstattfrage bei Markus H Ö R S C H , Niederländer, Niederländische Kunst oder Niederländische Formen? Beobachtungen zum Kunst- und Stilimport im höfischen Milieu Mitteleuropas, in: Niederländische Kunstexporte nach Nord- und Ostmitteleuropa vom 14. bis 16. Jahrhundert. Forschungen zu ihren Anfängen, zur Rolle höfischer Auftraggeber, der Künstler und ihrer Werk‐ Domstufen hinab (vgl. Abb. 1 und 21). Für die Angehörigen des Severistifts auf der nördlichen Hälfte der Treppen erfolgt eine genauere Beschreibung der Pro‐ zession: Auf jüngere Schüler mit Fahnen folgte der Rektor der Severi-Schule mit älteren Schülern, darauf Vikare und Kanoniker mit Chorkappen, hinter diesen sechs oder acht Vikare in Dalmatiken, die Reliquien trugen. Auf diese folgten als Höhepunkt zwei Kanoniker in Chorröcken, die das caput S. Severi trugen, also das im 14. Jahrhundert gestiftete Schädelreliquiar. Diese einrahmend (unus ad dextera alter ad sinistram) präsentierten zwei Vikare die Häupter der hll. Vincentia und Innocentia. Nachdem der Erzbischof eingetroffen war, führten ihn die Pröpste der Stifte die Stufen hinauf, während Vikare Responsorien sangen. Der Zug ging zuerst in die Marienkirche, wo der Erzbischof auf den Hochaltar und in der Blutkapelle spendete, danach in die Severikirche. Es handelt sich also gleichermaßen um eine Ehrerbietung für den Erzbischof, wie auch um eine Respektbekundung desselben vor den Stiften und den diese repräsentierenden Heiligen. Bei der Quelle handelt es sich um ein sehr wichtiges Zeugnis symbolischer Kommunikation und um ein einmaliges Zeugnis für den Umgang mit den Reliquien an den beiden Stiftskirchen. Die spätgotische Umgestaltung (1450er-1490er Jahre) Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts erfolgten, wie bei St. Marien, auch bei St. Severi umfassende bauliche Erneuerungen, eventuell ab den 1450er Jahren 170 . Deutlich wird diese Bau- und Ausstattungsphase v. a. durch ver‐ schiedene Objekte und Stiftungen: Stiftungsurkunden 171 , Altarinschriften von 1466 und 1467 172 , den berühmten Taufstein von 1467 173 , das Michaels‐ retabel aus demselben Jahr und wahrscheinlich auch die Orgelempore im nördlichen Seitenschiff 174 . Schon die auffälligen Parallelen zur benachbarten 452 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="453"?> stattbetriebe, hg. von Jiři F A J T / Markus H Ö R S C H (Studia Jagellonica Lipsiensia 15), Ostfildern 2014, S. 165 - 184, hier S. 175 - 179; zur Orgelempore vgl. B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 421 f. Eine dendrochronologische Datierung des Brüstungsholzes scheiterte 2019. 175 Zum vorherigen Erscheinungsbild und der mutmaßlichen Dachform vgl. M Ü L L E R , Erfordia (wie Anm. 6). 176 Zur Möglichkeit, dass der Turm bereits vor dem Brand in Bau war, vgl. ebd. 177 Memoriale. Thüringisch-erfurtische Chronik von Konrad Stolle, hg. von Richard T H I E L E (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 39), Halle 1900, S. 461. 178 L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 184. 179 Dies wurde in der Forschung bisher nicht erkannt. Der Altar wird von L E H M A N N / S C H U ‐ B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), Tafelteil, Abb. 156, in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert, was mit der Formensprache nicht in Einklang zu bringen ist. S. 256 datieren sie ihn implizit nach 1472. B U C H N E R , Severi (wie Anm. 149), S. 144 f., datiert ihn vor 1410, datiert den architektonischen Rahmen der Deckplatte des Sarko‐ phags aber auf um 1470; ebd., S. 151. Neben allgemeinen baulichen und stilistischen Merkmalen spricht v. a. das Motiv der zwei von einem Rundbogen überfangenen Blendmaßwerkspitzbögen, das an Stipes und Retabel auftritt, für eine einheitliche Erstellung. Diese Maßwerkform tritt beispielsweise auch am Langhaus des Erfurter Domes auf, das auf die 1450er / 1460er Jahre zu datieren ist. Wahrscheinlich handelt es Kirche St. Marien hinsichtlich der liturgischen Orte lassen vermuten, dass eine Neuordnung des Innenraums auch bezüglich der Reliquien erfolgte. Darauf ist noch zurückzukommen. Nach oder noch während dieser Bau- und Ausstattungsphase kam es durch den großen Stadtbrand von 1472 auch an der Severikirche zu großen Schäden. Das heutige äußere Erscheinungsbild des Kirchenbaus entstand in den Jahren danach. Dabei wurden die Seitenschiffmauern auf die Höhe der Querhäuser er‐ höht und der gesamte Kirchenraum mit einem großen Walmdach überspannt 175 . Spätestens nach dem Brand erhielt die Kirche mit dem Mittelturm die heutige, die Kompaktheit unterstreichende dreitürmige Ostansicht 176 . Die Turmhelme wurden 1494 und 1495 aufgesetzt 177 . Erst nach dem Brand wurde auch der Westchor aus dem 14. Jahrhundert aufgegeben - der Triumphbogen und die erhaltenen Fenstergewände weisen sehr starke Brandspuren auf - und statt seiner die noch heute bestehende Kreuzkapelle mit unbekannter ursprünglicher Nutzung eingerichtet (Abb. 33). Ab 1485 wurden am nordöstlichen Portal der Kirche eine neue Sakristei und ein neuer Kapitelsaal angebaut 178 . In der spätgotischen Bauphase wurde auch der Severusaltar an der südlichen Ostwand des Ostquerhauses neu errichtet. Mit seinen spätgotischen Formen sind er und sein steinerner Retabelaufbau trotz einer historistischen Restaurie‐ rung stilistisch eindeutig in die Mitte oder das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts zu datieren (Abb. 34) 179 . In der unteren Ebene der Retabelwand befinden sich 453 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="454"?> sich bei diesem Altar ursprünglich um den 1370 gestifteten Severusaltar. Sollte diese Zuordnung zutreffen, wäre es ein weiteres Indiz, dass der reich ausgestattete Altar der Hl. Drei Könige, der wahrscheinlich mit dem Sarkophag in Verbindung stand, einen anderen Ort im Kirchenraum einnahm (vgl. oben). 180 Heute befinden sich darin Reliquiare des Bildhauers Joseph Fink aus Köln von 1884. Abb. 33: St. Severi, Ansicht von Nordwesten, links die Marienkapelle, rechts die spätgo‐ tischen Anbauten an Stelle des Westchors, oberhalb des Pultdaches ist die Spitze des Triumphbogens zu erkennen drei verschließbare Nischen, die sicherlich auch ursprünglich zur Aufnahme der oben genannten Schädelreliquiare des 14. Jahrhunderts vorgesehen waren 180 . In die obere Ebene wurde während dieser spätgotischen Neugestaltung die mut‐ maßliche Deckplatte des Severus-Sarkophags eingefügt. Dies führte zur geläu‐ 454 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="455"?> 181 Wie die Seitenplatten nach der Auflösung des Tumbazusammenhangs weitergenutzt wurden, ist bisher unbekannt. Noch in den 1920er Jahren befanden sie sich am Marienaltar im nördlichen Arm des östlichen Querhauses bzw. an der Südwand, bevor der Sarkophag erstmals 1930 wieder zusammengebaut wurde; vgl. B E C K E R u. a., Kunstdenkmale (wie Anm. 1), S. 454 f.; L E H M A N N / S C H U B E R T , Dom und Severikirche (wie Anm. 6), S. 256-259. B U C H N E R , Severi (wie Anm. 149), S. 141, vermutete aufgrund der fehlenden Beschädigung, dass der Sarkophag bereits vor 1472 auseinandergebaut worden war. 182 J Ä G E R , Sarkophag (wie Anm. 149), S. 6 f., wies auf dieses Testament eines Vikars am Severistift hin, der sein Grab beim Altar der hll. Sebastian und Fabian sub sarcophago wählte. 183 Eine genauere bauhistorische Untersuchung steht aus. Wahrscheinlich stehen das Lanzettfenster und eine darunter an der Außenwand befindliche bauzeitliche Opfer‐ nische in Beziehung. Die Klappe zur Entnahme der Spenden aus der Opfernische be‐ findet sich hinter der Zugangstür zur Empore. Der Bereich hinter dem Lanzettfenster ist einige Stufen weiter oben ebenfalls von der Spindel aus zugänglich. Entlang der Sohlbank und des Sturzes befindet sich hier ein Anschlag mit Aussparungen, der auf eine Verschließbarkeit der Fensterlaibung von innen hindeutet. Ausgehend vom Opferstock am gegenüberliegenden Triangelportal der Marienkirche vgl. Christiane H A R T L E I T N E R -W E N I G , Das Triangel - Aspekte zur Baufinanzierung, in: C R A M E R u. a., Dom (wie Anm. 2), S. 198-203. Vgl. H A N F T M A N N , Baugeschichte (wie Anm. 49), S. 83. Hanftmann bezeichnet das Lanzettfenster als „Öffnung für das Allerseelenlicht“. 184 Eines der Steinmetzzeichen findet sich am Westportal der Erfurter Wigbertikirche, das in die 1430er Jahre zu datieren ist, ein weiteres am Turm der Augustinerkirche (bis figen Annahme, dass der Sarkophag in diesem Zuge aufgelöst wurde 181 . Eine Erwähnung des Sarkophags in einem Testament von 1527 macht allerdings wahrscheinlich 182 , dass er im 15. Jahrhundert lediglich umgestaltet wurde und die nunmehr im Severus-Altar befindliche Deckplatte durch eine neue Gestal‐ tung ersetzt wurde. Durch die Brandzerstörung des Westchors 1472 kann sich der Sarkophag zumindest danach aber nur an einer anderen Stelle im Kirchen‐ raum befunden haben. Wann der Tumbazusammenhang aufgelöst wurde, ist also unbekannt. Der Severusaltar im östlichen Querhaus steht räumlich in enger Beziehung zu einer mit einer bemalten Tür gesicherten Wendeltreppe in der südöstli‐ chen Ecke des Kirchenraumes. Diese Treppe erschließt einerseits ein wohl als Hagioskop oder Weisungsfenster anzusprechendes Lanzettfenster in der Süd‐ wand der Kirche, andererseits eine steinerne Empore, die ebenfalls dieser spätgotischen Erneuerung zuzurechnen ist 183 . Die Empore ist reich verziert mit Maßwerkbrüstung, Maßwerkschleiern, apotropäischen Figuren und ver‐ zierten Kragsteinen (Blattmaske, Vera icon, Pelikan). Die bisher aufgefun‐ denen Steinmetzzeichen legen sehr wahrscheinlich eine gemeinsame Datie‐ rung von Empore und Altar in die Bauphase vor dem Stadtbrand 1472, wahrscheinlich in die Jahre um 1450 nahe 184 . Über die Empore gelangt man 455 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="456"?> 1444), ein drittes am Dom sowohl an der Clemenskapelle (bis 1455), am Mittelturm (bis 1454) als auch am nördlichen Seitenschiff des Langhauses (ab 1455) und am Hin‐ terhaus des Hauses „Zum Lilienfass“ (1445 i); vgl. Horst S T E C H E R , Steinmetzzeichen in Erfurt (Erfurter Studien zur Kunst- und Baugeschichte 4), Berlin 2009, Nrr. 11, 1007, 1044, bzw. ebd., Nr. 49, bzw. ebd., Nrr. 357, 419, 510, 1427. Abb. 34: St. Severi, Severus-Altar im östlichen Querhaus, mit Wendelstein und Empore als Erschließung des Turmraums, um 1450 durch eine ursprünglich doppelt mit Metalltür gesicherte Pforte in einen auf‐ fällig hohen, gewölbten Raum im Obergeschoss des Südturms. In dem Raum sind eine sehr hohe, heute vermauerte Fensteröffnung zum Chor und ein im Boden befindlicher Ausgussstein bemerkenswert. Eine Kapellennutzung er‐ scheint denkbar, wenngleich eindeutige bauliche Indizien dafür fehlen. Die doppelte Erschließungsfunktion der Empore und die Tatsache, dass das bau‐ zeitliche Fenster in der Ostwand des südlichen Querhausarms kürzer ist und so die Existenz der Empore berücksichtigt, bedingen, dass es vor der spätgo‐ tischen Umgestaltung eine ähnliche Situation gab. Die Befunde zeigen die Möglichkeit auf, dass es sich bei diesem Raum bereits bauzeitlich, also Ende des 13. Jahrhunderts, um eine Schatz- und Heiltumskammer handelte (Abb. 456 Rainer Müller und Martin Sladeczek <?page no="457"?> 185 Dies wurde bisher nicht in Erwägung gezogen. Fraglich bleibt das zeitliche und räumliche Verhältnis zu den Altarstandorten und dem Aufstellungsort der Tumba. 186 Vgl. Lorenz D R E H M A N N , Der Weihbischof Nikolaus Elgard. Eine Gestalt der Gegenre‐ formation (Erfurter Theologische Schriften, 3), Leipzig 1958, S. 55 f.; wir danken Falko Bornschein, Erfurt, für diesen Hinweis. 187 Zu Heiltumskammern vgl. Franz J. R O N I G , Die Schatz- und Heiltumskammern. Zur ursprünglichen Aufbewahrung von Reliquien und Kostbarkeiten, in: Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800-1400, Ausst.-Kat. Köln 1972, hg. von Anton L E G N E R , Köln 1972, S. 134-141, v. a. S. 134; L E G N E R , Reliquien (wie Anm. 18), v. a. S. 214-219; K Ü H N E , Ostensio (wie Anm. 167), S. 74-79. Weiterhin sei auf den Naumburger Dom verwiesen. Hier hat sich im Obergeschoss des Nordostturms ein gewölbter, nur vom Chor begehbarer und mit zwei Türen gesicherter Raum erhalten, der wohl ebenfalls als Heiltumskammer anzusprechen ist; vgl. Barbara P R E G L A / Elisabeth R Ü B E R -S C H Ü T T E , Thesaurus super aurum et topazion nobis dilectus. Einführung in die Thematik mit besonderem Bezug zur „Schatzlandschaft“ Sachsen-Anhalt, in: … das Heilige sichtbar machen. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Regensburg 2010, S. 11-30, hier S. 17 f. 35) 185 . Sie stellte die gespiegelte Entsprechung zur Kapelle im Nordturm von St. Marien dar (vgl. oben). Schriftliche Hinweise auf die mittelalterliche Nut‐ zung existieren nicht; 1577 befanden sich hier die Pontifikalgewänder, was zumindest als Hinweis auf die Nutzung als Armarium zu verstehen ist 186 . Hin‐ sichtlich der Lage im Obergeschoss eines Turms, der Wölbung und der mehr‐ fachen Sicherung des Zugangs finden sich Parallelen zu derartigen Räumen in anderen Kloster- und Stiftskirchen 187 . Selbstverständlich konnte der Raum auch nur der Aufbewahrung und dem Schutz, nicht aber der Weisung von Reliquien dienen. Die auffällige Neugestaltung der Empore lässt aber die In‐ terpretation zu, dass von ihr zumindest nach 1450 / 60 - zeittypisch dem Schaubedürfnis entsprechend - Weisungen in den Kirchenraum erfolgten. Zusammenfassend ist also naheliegend, die Veränderungen der 1450er bis 1490er Jahre hinsichtlich des Konzeptes als eine Bauphase anzusehen, die durch den Stadtbrand 1472 lediglich unterbrochen wurde. Die dabei erfolgte Umge‐ staltung des Innenraums steht aufs engste in Verbindung mit dem Severuskult. Die Aufgabe des hohen Westchors spätestens nach 1472 sowie die Neugestal‐ tung des Severus-Altars und der Empore im südlichen Querhausarm könnten daher in Verbindung mit der Veränderung des Umgangs mit den Reliquien im 15. Jahrhundert stehen. Neben den oben genannten kopial überlieferten Quellen, die die Prozessionen beschreiben, fehlen weitere Hinweise auf den Umgang mit den Reliquien zu Festtagen. Selbstverständlich ist auch denkbar, dass es keine 457 Der Erfurter Domberg als Ort der Reliquienverehrung und als Wallfahrtsziel <?page no="458"?> 188 Vgl. den Auftritt Capistrans auf einer hölzernen Bühne mit Altar auf dem Domplatz 1452; R E I C H E , Cammermeister (wie Anm. 106), S. 131 f.; zu hölzernen Heiltumsstühlen vgl. K Ü H N E , Ostensio (wie Anm. 167), S. 74 f. Abb. 35: St. Severi, Schnitt durch die Türme nach Osten stationären Weisungen der Reliquien an der Severikirche gab oder diese über eine provisorische, hölzerne Bühne erfolgten 188 . Der aufgezeigte bauliche Entwurf der Severikirche sowie der wiederkehrend große Aufwand bei ihrer Ausstattung und der Präsentation der Reliquien lassen einen Wallfahrtsbetrieb vermuten. Schriftliche Nachweise über einzelne Pilger, Gruppen oder Wallfahrten, und sei es als Begrü