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Kompetenzentwicklung im filmbasierten Englischunterricht

Eine Studie zu kognitiv-affektiven Prozessen Jugendlicher am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards

0425
2022
978-3-8233-9547-8
978-3-8233-8547-9
Gunter Narr Verlag 
Sophia Finck von Finckenstein
10.24053/9783823395478

Im Rahmen dieser Arbeit wird untersucht und praxisnah aufgezeigt, wie der Englischunterricht durch den Einsatz aktueller Serien zeitgemäß und motivierend gestaltet werden kann. Am Beispiel eines Projekts in der gymnasialen Oberstufe wird ein neuer Forschungsbereich zur Kompetenzentwicklung im serienbasierten Englischunterricht erschlossen, bei dem der Fokus auf die kognitiv-affektiven Prozesse Jugendlicher gelegt wird. Daraus werden Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart abgeleitet, wobei z.B. die Anforderungen an die Planung, Konzeption und Durchführung eines serienbasierten Englischunterrichts beleuchtet werden.

<?page no="0"?> Sophia Finck von Finckenstein Kompetenzentwicklung im filmbasierten Englischunterricht Eine Studie zu kognitiv-affektiven Prozessen Jugendlicher am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards <?page no="1"?> Kompetenzentwicklung im filmbasierten Englischunterricht <?page no="2"?> Augsburger Studien zur Englischdidaktik Edited by Engelbert Thaler (Augsburg) Editorial Board: Sabine Doff (Bremen), Michaela Sambanis (Berlin), Daniela Elsner (Frankfurt am Main), Carola Surkamp (Göttingen), Christiane Lütge (München), Petra Kirchhoff (Erfurt) Volume 2 Volume 12 <?page no="3"?> Sophia Finck von Finckenstein Kompetenzentwicklung im filmbasierten Englischunterricht Eine Studie zu kognitiv-affektiven Prozessen Jugendlicher am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395478 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2367-3826 ISBN 978-3-8233-8547-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9547-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0368-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Für meine Familie: meine Eltern Vera und Wolfram, meine Geschwister Juliane und Nicki und meinen Partner Markus. <?page no="7"?> 11 13 I 15 II 23 1 23 1.1 23 1.2 26 1.3 31 1.4 35 1.5 44 2 45 2.1 45 2.2 49 2.3 50 2.4 62 3 71 3.1 71 3.2 72 3.3 75 3.4 83 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata im Bereich des filmbasierten Englischunterrichts Diskussionsstand: Ein Überblick über Schwerpunkte der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Konzepte und Termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskurse zum Thema Film in den Fächern sprachlicher Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Film-Based Language Learning: Defizite, Desiderata und Grenzen - Vorteile, Chancen und Potentiale . . . . . . . . . All these Aspects Considered: Einführung eines Filmkompetenz-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära . . . . Der Erfolgszug von Video-on-Demand-Diensten . . . . . . Das Netflix-Imperium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Netflix-Effekt und seine Konsequenzen . . . . . . . . . Series21 und literarisches Prestige . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral bei der Rezeption von Qualitätsserien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitorische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implikationen für den Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Aspekte und Prozesse der Filmrezeption . . . . Controversial and Morally Ambivalent Issues im Englischunterricht der Sekundarstufe II . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 4 87 4.1 87 4.2 102 5 123 5.1 123 5.2 124 5.3 126 5.4 138 III 147 6 147 6.1 147 6.2 177 6.3 203 6.4 226 6.5 243 7 262 7.1 262 7.2 279 7.3 291 7.4 304 7.5 328 8 341 8.1 342 8.2 It’s Not TV. It’s House of Cards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrundinformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teaching English with the Political Drama Series House of Cards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie Forschungsziele und Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen zu Forschungsdesign und Methodologie der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ablauf der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung der empirischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der Einzelfallauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel Romina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel Sven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel Anastasia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel Stefan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel Florian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Positionen und Dimensionen gesellschaftspolitischen Lernens am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards . . . . . . . . . . . . . Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards . . . . . . . . . . . . . Moralvorstellungen von Jugendlichen am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards . . . . . . . . . . . . . Entwicklung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eignung von Viewing Journals als Begleitinstrumente des Hörsehverstehens-Prozesses Jugendlicher beim intensiven, außerschulischen Serienkonsum . . . . . . . . . Anforderungen an die Planung, Konzeption und Durchführung eines kompetenzorientierten 8 Inhalt <?page no="9"?> 363 8.3 376 9 385 IV 399 V 407 VI 411 447 453 477 Englischunterrichts mit einer authentischen Politdramaserie wie House of Cards . . . . . . . . . . . . . . . . Kriterien zur Auswahl von authentischen Serien für den Englischunterricht in der Sekundarstufe II . . . . . . . . . . Forschungsdesign und Forschungsmethodologie in der Retrospektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serien- und Filmverzeichnis: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 1: Fragebogen zu Beginn des W-Seminars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 2: Auszüge aus den Viewing Journals zu House of Cards, Season 1-3 . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="11"?> 1 Um die Anonymität der in diese Studie direkt involvierten Personen zu wahren, benutze ich in der vorliegenden Arbeit konsequent Codenamen. Danksagung Zunächst möchte ich mich herzlich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Engelbert Thaler, für seine Unterstützung und sein Vertrauen in mich und meine Arbeit bedanken. Herr Prof. Dr. Thaler hat diese Arbeit nicht nur ermöglicht, sondern mein Projekt auch stets mit besonnenem Rat bereichert. Seine Bürotür stand mir immer offen und auch in herausfordernden Zeiten der Promotion fand Herr Prof. Dr. Thaler aufbauende und ermutigende Worte. In diesem Kontext möchte ich besonders die Kultur der Wertschätzung hervorheben, die Herr Prof. Dr. Thaler an seinem Lehrstuhl pflegt. Großen Dank möchte ich meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Christiane Fäcke, für ihre wertvolle Unterstützung aussprechen, mit der sie mich zuverlässig und engagiert bei meiner Arbeit begleitete. Frau Prof. Dr. Fäcke brachte mich durch konstruktive Kommentare und wichtige Anstöße immer wieder dazu, als Forscherin weiterzudenken, neue Perspektiven einzunehmen und meine Arbeit dadurch zu optimieren. Bei Frau Prof. Dr. Eva Matthes, der Drittprüferin der vorliegenden Dissertation, möchte ich mich dafür bedanken, dass sie mich seit meinem Beginn als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg mit herzlich-konstruktivem Rat unterstützte und sich immer wieder für mich einsetzte. Zudem danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen, deren Feedback mir immer wieder weiterhalf und mich inspirierte; hier möchte ich insbesondere Frau Stephanie Bajor, Frau Dr. Stephanie Schaidt, Herrn Manuel Schwarz und Frau Dr. Katrin Thomson erwähnen, die mich nicht nur als Kollegen, sondern auch als Freunde stets unterstützten, mir Mut machten, großes Interesse zeigten und an meiner Seite waren. Dieses Projekt wäre außerdem nicht möglich gewesen ohne Frau Potter 1 , die Lehrerin, mit der ich das W-Seminar unterrichtete. Dementsprechend geht mein herzlicher Dank an Frau Potter, deren Engagement, Kompetenz und Ideen‐ reichtum als Lehrerin mich immer wieder beeindruckten. Mit Frau Potter konnte ich nicht nur inspirierende Gespräche über House of Cards führen, sondern sie bereicherte meine Arbeit auch mit hilfreichen Anmerkungen während der Durchführung der empirischen Phase. Darüber hinaus möchte ich unseren 15 überaus motivierten, engagierten und klugen Schülerinnen und Schülern <?page no="12"?> danken, die sich niemals über zeitaufwändige Hausaufgaben oder Viewing Tasks beschwerten und in jeder Seminarsitzung für leuchtende Momente sorgten. Großen Dank möchte ich auch meinen Freunden aussprechen, die zu jedem Zeitpunkt an mich glaubten, mir Mut zusprachen und mir mit unendlicher Geduld zur Seite standen. Besonders bei Frau Dr. Maria Assel möchte ich mich für ihre Freundschaft, tiefgründige sowie wohltuende Gespräche und unver‐ gessliche Care-Pakete bedanken. Schließlich möchte ich Herrn Frédéric Erben ein großes und herzliches Dankeschön aussprechen für seine unbezahlbare Hilfe bei der aufwändigen und anspruchsvollen Formatierung dieser Arbeit. Frédéric erwies sich als Mastermind und stand mir mit kompetentem Rat (zu sämtlichen Tages- und Nachtzeiten! ) zur Seite, indem er bei jeder noch so „spannenden“ technischen Herausforderung eine Lösung fand. Mein bester Freund und Fels in der Brandung in der entscheidenden Phase der Promotion war zweifellos der Mann an meiner Seite, mein Partner Markus Huber. Markus bereicherte diese Arbeit zum Beispiel mit seinem beeindru‐ ckenden cineastischen Expertenwissen, das auch in einige Fußnoten dieser Arbeit einfloss. Zudem sorgte Markus mit liebevollen Überraschungen für zahlreiche Lichtblicke (Stichwort: What’s in the box? ). Mein Dank geht also an Markus, der mir zeigte, wie wichtig zwei Prisen Gelassenheit und Humor sein können. Last but certainly not least möchte ich mich von Herzen bei meinem Kompe‐ tenzteam, meiner Familie, bei meinen Eltern und meinen Geschwistern mit Lukas, Léonie und Felina bedanken, die mir dabei halfen, mein komplexes Kartenhaus zu errichten und bei Wind und Wetter aufrecht zu erhalten. Ihnen danke ich für ihre bedingungslose Liebe, für ihren Glauben an mich, für ihre Wertschätzung, ihre Fürsorge, ihre Geduld, für ihren klugen, ehrlichen und einfühlsamen Rat. Liebe Familie, ihr konntet den Ring nicht für mich tragen, aber ihr habt mich getragen - dafür bin ich euch für immer dankbar! 12 Danksagung <?page no="13"?> Abkürzungsverzeichnis Abb. Abbildung Abk. Abkürzung bpb Bundeszentrale für politische Bildung eig. Darst. eigene Darstellung EU Englischunterricht FSU Fremdsprachenunterricht SuS Schülerinnen und Schüler VoD Video on Demand TEFL Teaching English as a Foreign Language Abkürzungen für Kurzbzw. Klammerverweise auf Forschungsinstrumente: IV Interview FB Fragebogen SA Seminararbeit VJ Viewing Journal <?page no="15"?> 2 Im Folgenden abgekürzt als EU. 3 Im Folgenden abgekürzt als FSU. I Einleitung Der zielgerichtete Einsatz von Filmen im Englischunterricht 2 ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit: Während das Lernen über Literatur und Kultur einen Grundbaustein des gymnasialen Fremdsprachenunterrichts 3 darstellt, findet ein Lernen über Filme eher selten statt (vgl. Blell et al. 2016: 19). Thaler (2014: 17) spricht aus diesem Grund von einer „Cinderella existence“, die Filme im EU häufig fristen. Da der Film noch immer eher als Medium und weniger als Unterrichtsgegenstand eingesetzt wird, kommt das Lernen über filmspezifische Gestaltungsmittel, über Funktion und Wirkkraft bewegter Bilder oft zu kurz oder gar nicht zur Sprache (vgl. Blell et al. 2016: 19). Diesbezüglich hält Abraham (2016: 35) fest: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte - aber nur dem, der es entziffern oder ‚lesen‘ gelernt hat“. Dies sei jedoch nicht in ausreichendem Maße der Fall, was beispielsweise Kepser mit seiner Erhebung (2008) zur Spielfilmbildung an deutschen Schulen (mit Fokus auf den Abiturjahrgang 2006) verdeutlicht. Filme sind unbestreitbarer „Teil der Lebenswelt Heranwachsender“ (Lütge 2012: 6) und es gibt keinen Zweifel daran, dass das „Medium Film unsere Kultur und unseren Alltag wie kaum ein anderes“ (Nünning und Surkamp 2006: 245) prägt. Diesem Aspekt wurde auf bildungspolitischer Ebene insofern Rechnung getragen, als der Film mittlerweile einen festen Platz im Rahmen der Text- und Medienkompetenz in den Kerncurricula der Bundesländer erhalten hat. Statt weiterhin eine kulturelle Verflachung der Bildungsinhalte durch den Einzug der Populärkultur in den FSU zu befürchten (vgl. Volkmann 2017: 278 f), werden seit der Jahrtausendwende verstärkt die Chancen eines filmbasierten Unterrichts betont (vgl. Surkamp 2017: 73). Dies spiegelt sich in einer Vielzahl an Publikationen zum filmbasierten EU in den letzten beiden Jahrzehnten wider, wobei hier z. B. Stempleski und Tomalin 2001, Sherman 2003, Blell und Lütge 2004, Leitzke-Ungerer 2009, Henseler, Möller und Surkamp 2011, Kerst 2011, Lütge 2012, Thaler 2014 und Blell et al. 2016 zu nennen sind. Die Oscar-Preisträgerin Penélope Cruz formulierte 2020 folgendes Plädoyer für Filme und deren Wirkkraft: […] Life has so much more to show us than what we see every day. Films from around the world not only provide a vivid window into places and cultures unlike our own, <?page no="16"?> they open a doorway into our minds and hearts. The more we watch, the more we know. The more we know, the more we care. No matter where we are from, we all ask ourselves the same questions. And sometimes the answer could be hidden in a film that represents our global language of cinema. (Oscars 2020: voiceover by actress Penélope Cruz, as an introduction to the presentation of the nominees in the category “Best International Feature Film”) Das vielfältige Potential von audiovisuellen Medien könnte kaum einprägsamer verdeutlicht werden: Cruz spricht davon, dass Filme als „vivid window into places and cultures unlike our own“ fungieren können. Hier klingt eine der Chancen an, die ein zielgerichteter Filmeinsatz für interkulturelles und trans‐ kulturelles Lernen mit sich bringt. Ähnlich thematisiert auch Besand (2018: 29) die Selbstbildungsprozesse, welche durch das „Qualitätsfernsehen mit Bildungs‐ wirkung“ initiiert werden können. Für solche individuellen Bildungsprozesse ist ein emotionales Filmerleben entscheidend (vgl. Walberg 2007: 34; Lütge 2012: 23). Dieses primär von Gefühlen bestimmte Filmerlebnis kann in einem nächsten Schritt durch filmanalytische Aktivitäten ergänzt werden (vgl. Decke-Cornill und Luca 2010: 210). Emotionen werden im schulischen Kontext allerdings oft zugunsten des rationalen Denkens zurückgedrängt (vgl. Bonas und Wilts 2016: 98 ff). Mittlerweile konnte gezeigt werden, dass persönlich bedeutsame Inhalte, welche die Jugendlichen auf einer affektiven Ebene involvieren, tiefer verarbeitet und damit besser gelernt und behalten werden (vgl. Wolff 2004: 98; Hänze 1998: 44, 50). Emotion und Kognition wirken also interdependent zusammen und sollten nicht als isolierte Konstrukte erachtet werden (vgl. Wolff 2004: 91). An dieser Stelle kann erneut der Bezug zum Voiceover von Cruz hergestellt werden, die überzeugt ist, dass Filme „a doorway into our minds and hearts“ öffnen können. Diese Auffassung spielt in der Filmwirkungsforschung eine zentrale Rolle und bildet ein konstitutives Element meiner theoretischen Vor‐ überlegungen: Filmrezeption wird als subjektiver Prozess verstanden, in dem sich die Rezipienten affektiv und kognitiv verorten. Emotionen steuern dabei die Richtung des Wahrnehmens, Erkennens und der Bedeutungskonstruktion. Gemäß der Rezeptionsästhetik ist die Interaktion zwischen dem Rezipienten und dem Text zentral für das Verständnis (vgl. Bredella 2002: 79). Dabei wird eine „Vieldeutigkeit bewegter Bilder“ (Decke-Cornill und Luca 2010: 194) ange‐ nommen, mit der eine Betonung subjektiver sowie individuell verschiedener Sichtweisen auf den jeweiligen audiovisuellen Text einhergeht. Dies hat eine Balance aus Gegenstandsorientierung und Subjektorientierung zur Folge. Die bislang vorgebrachten Überlegungen beziehen sich nicht nur auf Filme, sondern auch auf Serien. Dementsprechend möchte ich den Fokus im Folgenden 16 I Einleitung <?page no="17"?> auf Serien legen, die sich als zentrale Erzählform des 21. Jahrhunderts etablieren konnten (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016: 9). Serielles Erzählen ist keine innovative Erscheinung, sondern stellt vielmehr eine anthropologische Grundkonstante der Menschheit dar, wobei „die Regel‐ mäßigkeit des Unterhaltenwerdens […] den seriellen Durst nach mehr“ (Bendix et al. 2012: 295) anregt. Die emotionale Bindung, die von einer zyklisch-seriellen Erzählung ausgehen kann, zeigte sich bereits vor dem 15. Jahrhundert am Beispiel der Faszination, die die Sammlung morgenländischer Erzählungen Tausendundeine Nacht auslöste. Als zentrale Epoche populärer Serialität gilt das 19. Jahrhundert, was auf die Beliebtheit der seriell in Zeitungen und Zeit‐ schriften publizierten Romane von beispielsweise Charles Dickens und Arthur Conan Doyle zurückgeführt wird (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016: 15 f). Im Zuge dieser neuartigen und erfolgreichen Form der Distribution entwickelten sich Fortsetzungsromane, mit welchen ein gewisser Suchtfaktor einherging (vgl. ebd.: 19). Ähnlich verhielt es sich mit Comics und daily comic strips, die meist in komprimierter Form und zugespitzt auf eine Pointe in Tageszeitungen veröffentlicht wurden (z. B. The Yellow Kid (1895 - 1898), Little Nemo (1905 - 1926) und später die Peanuts (1950 - 2000)). Solche seriell produzierten Comics inspirierten wiederum frühe Fernsehserien wie The Adventures of Superman (1952 - 1958) und Batman (1966 - 1968), welche in jeder Folge ein neues Abenteuer mit wiederkehrenden Protagonisten und Antagonisten präsentierten (vgl. Balzer und Wiesing 2010: 13 ff). An dieser Stelle muss auch auf populäre US-Serien aus der Frühzeit des Fern‐ sehens hingewiesen werden, wobei hier zum Beispiel Lassie (1954 - 1974), Bo‐ nanza (1959 - 1973), Flipper (1964 - 1967) und Daktari (1966 - 1969) zu erwähnen sind. Spätestens seit den 1980er-Jahren zeichnete sich mit Prime-Time-Soaps wie Dallas (1978 - 1991) die Erfolgsgeschichte der Fernsehserie ab: Sitcoms, Kriminal-, Krankenhaus- und Familienserien erreichten ein Massenpublikum. Für Kritiker implizierte die Abhängigkeit von Quoten jedoch Trivialität und Mangel an Qualität (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016: 42). Dieser Vorwurf haftete den Fernsehserien mehrheitlich bis in die 2000er-Jahre an, doch mit dem Aufstieg des Pay-TV-Sektors und ambitionierten Produktionen durch Video-on-Demand-Anbieter änderte sich dies. Die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts markierten mit Serien wie The Wire (2002 - 2008), Mad Men (2007 - 2015), Breaking Bad (2008 - 2013) und House of Cards (2013 - 2018) eine Ära des Qualitätsfernsehens (vgl. ebd. 49 f). Solche innovativen Serien werden als „Romane des 21. Jahrhunderts“ (Graf 2021: 34) gefeiert und „zur Selbststili‐ sierung und Selbstinszenierung eingesetzt“ (Calmbach et al. 2011: 50), womit sie „eine wichtige Ressource bei der Identitätskonstruktion“ darstellen (ebd.). 17 I Einleitung <?page no="18"?> 4 Im Folgenden als HoC abgekürzt. 5 Hier beziehe ich mich auf die politischen Kompetenzen, die Detjen et al. (2012: 15) in ihrem Politikkompetenzmodell benennen. Wenn man bedenkt, dass die Figur des Antihelden in zahlreichen Qualitätsserien eine tragende Rolle spielt (vgl. Gormász 2015; Kessler 2016; Vaage 2016; Ustorf 2019), stellt sich die Frage, inwieweit Jugendliche dadurch im Prozess ihrer Identitätsfindung beeinflusst werden. Dies wurde bislang nicht ausführlich im fremdsprachendidaktischen Forschungsdiskurs thematisiert, weshalb dieser Aspekt im Rahmen der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet und untersucht wird. Besonders der Streaming-Dienst Netflix sorgte in den letzten Jahren für zahl‐ reiche Serien-Erfolge, wobei sich zuletzt The Queen’s Gambit (2020), Bridgerton (seit 2020), Tiger King (2020) und The Crown (seit 2016) als Publikumslieblinge und Quotengaranten entpuppten. Damit hat Netflix inzwischen mehr als 200 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, was mit einem „Rekordzuwachs“ (vgl. Tagesschau 2021) zusammenhängt: Allein im ersten Quartal des Jahres 2020 verzeichnete Netflix ca. 16 Millionen Neuanmeldungen (vgl. Graf 2021: 34). Ins‐ besondere bei Jugendlichen erfreut sich Netflix großer Beliebtheit (vgl. Manzel 2018: 375). Bislang gibt es trotz solch eindeutiger Tendenzen in der aktuellen Medienlandschaft keine englischdidaktischen Studien zu Netflix-Serien und deren Potential für den FSU. Mit meiner Erhebung möchte ich diese Forschungs‐ lücke schließen und einen Beitrag dahingehend leisten, sowohl die Chancen als auch die Herausforderungen während eines intensiven Viewing-Projekts in der Sekundarstufe II empirisch zu untersuchen. Im Rahmen meiner qualitativen Studie wird dafür exemplarisch ein W-Seminar zu der von Netflix produzierten Politdramaserie House of Cards  4 konzipiert. Damit wird folgendem Forschungstrend entsprochen: In den letzten Jahren wurden etliche Studien hinsichtlich des Potentials von Politserien für die politische Bildung Jugendlicher durchgeführt (z. B. Holbert et al. 2003; Moy und Pfau 2010; Bock 2014; Morris und Evans 2014; Nitsch und Wünsch 2016; Batroff et al. 2018). Dabei steht meist die Frage im Fokus, inwieweit der Einsatz von Politserien im Unterricht einen Beitrag zur Entwicklung politischer Kompetenzen (wie z. B. politische Urteils- und Handlungsfähigkeit, Wissen, politische Einstellung und Motivation 5 ) leisten kann. In der vorliegenden Studie sollen - konkreter als bisher geschehen - folgende Aspekte adressiert werden: Was löst ein sozialkritisches Politdrama wie HoC bei den Jugendlichen aus? Inwieweit differenzieren die Lernenden zwischen der fiktiven Darstellung von US-Politik und realer US-Politik? Inwiefern werden dabei Verbindungen zur 18 I Einleitung <?page no="19"?> 6 Im Folgenden als SuS abgekürzt. deutschen Politik hergestellt? Wie sind die Schülerinnen und Schüler 6 grund‐ sätzlich gegenüber Politik und Politikern eingestellt? Inwiefern beeinflusst HoC deren politische Haltungen? Die Thematisierung solcher Fragen erscheint in den spannungsgeladenen Zeiten einer Brexit- und Post-Trump-Ära sowie wieder aufgekeimter rechtsextremistischer Strömungen zeitgemäßer denn je. Es mangelt an komplex angelegten qualitativen Studien, die politische Tendenzen und politische Lernsowie Konstruktionsprozesse bei einzelnen SuS über einen längeren Zeitraum untersuchen. Genau an diesem Forschungsdefizit setzt meine Studie an, indem die Jugendlichen sich mit drei Staffeln von HoC - begleitet durch ein introspektives Forschungsinstrument - intensiv auseinandersetzen. Der Fokus liegt dabei auf den individuellen kognitiv-affektiven Prozessen der Lernenden. Darüber hinaus bildet Intertextualität seit Jahren einen Schwerpunkt fremd‐ sprachendidaktischer Überlegungen (vgl. Fäcke und Wangerin 2007: 4): Der intensive Blick auf den Einzeltext wird ergänzt durch die Thematisierung intertextueller Bezüge zwischen mehreren Texten, wodurch die Vernetzung zu einem komplexen Textgewebe besprochen werden kann. Am Beispiel der Netflix-Serie HoC, die als Adaption einer Adaption Mediengeschichte schrieb, kann das Phänomen der Intertextualität verdeutlicht werden. Im Kontext der vorliegenden Studie konzentriere ich mich auf die Bezüge zu Shakespeares Dramen Macbeth, Othello und Richard III, welche für HoC eine wichtige Rolle spielen. Es soll untersucht werden, wie der Literaturunterricht und speziell die Behandlung von Shakespeares Werk von den Jugendlichen empfunden wird, wenn diese im Rahmen eines intermedialen Vergleichs erfolgt. Mein Forschungsanliegen steht also primär in Zusammenhang mit text-, medien- und filmdidaktischen Diskursen, wobei ich diese durch Erkenntnisse und daraus abgeleitete konkrete Vorschläge hinsichtlich einer zeitgemäßen Se‐ riendidaktik bereichern möchte. Dies geht mit der übergeordneten Frage einher, wie Serien effektiv und motivierend in den EU integriert werden können. Eine solche Frage kann als zeitgemäßer Forschungsgegenstand betrachtet werden, denn Serien, „nicht Filme, [konnten sich als] Kunstform des 21. Jahrhunderts“ (Meier 2009: 34) etablieren. Um konkrete Anforderungen an einen serienbasierten EU formulieren zu können, ist es zunächst erforderlich, die kognitiv-affektiven Prozesse einzelner Jugendlicher bei der Serienrezeption zu untersuchen. Somit steht in der vorlie‐ genden Arbeit die Frage im Vordergrund, welche Emotionen und Denkprozesse eine Serie wie HoC bei SuS auslösen kann. Für die Beantwortung dieser Frage ist 19 I Einleitung <?page no="20"?> 7 Grundsätzlich wird in der vorliegenden Arbeit darauf geachtet, die weibliche und die männliche Form zu nennen. An bestimmten Stellen wird für eine bessere Lesbarkeit das generische Maskulin, das beide Geschlechter umfasst, verwendet. es von entscheidender Bedeutung, dass die Jugendlichen ihre Gedanken und Ge‐ fühle im Anschluss an die Rezeption versprachlichen. Hierfür ist die Schaffung kommunikativer Situationen unerlässlich, in denen echte Begegnungen mit der Serie möglich sind und in denen die Jugendlichen „das zunächst sprachlose Erleben zum Ausdruck […] bringen“ (Decke-Cornill und Luca 2010: 195). Im Rahmen der vorliegenden Studie interessiert vor allem, inwiefern intensive Emotionen der SuS beim Serienerlebnis für Sprachlernprozesse und authenti‐ sche Sprachproduktion nutzbar gemacht werden können. Der Empfehlung Burwitz-Melzers (2019: 289) Folge leistend, wird der Rezipient 7 somit mit seinen Emotionen sowie Kognitionen und darüber hinaus mit seiner Kompetenzent‐ wicklung in das Zentrum der Auseinandersetzung mit dem audiovisuellen Text gerückt. Zusammenfassend verfolge ich mit der vorliegenden Studie das Anliegen, individuelle kognitiv-affektive Prozesse von Jugendlichen in ihrer Auseinander‐ setzung mit HoC sichtbar zu machen. Da es sich hierbei um ein weitgehend unerforschtes Terrain handelt, ist es sinnvoll, die Gefühle und Denkprozesse Einzelner aufzuzeigen, um einen ersten Einblick in das Forschungsfeld eröffnen zu können, indem Tendenzen, Interdependenzen sowie Ambivalenzen erläutert werden. Hierfür bietet sich ein qualitatives Forschungsparadigma an, welches sich in einem ersten Schritt auf detaillierte Einzelfallanalysen konzentriert. Um diesbezüglich Prozesse in ihrer Tiefe beleuchten zu können, wird eine Studie an einem bayerischen Gymnasium in Form eines W-Seminars durchgeführt. Auf diese Weise kann ich die SuS mehr als ein Jahr lang begleiten und entspre‐ chend authentische sowie umfassende Daten erheben, während eine intensive Beschäftigung mit HoC sowohl im Unterricht als auch außerhalb des Unterrichts stattfindet. Das Schauen der Serie soll außerhalb der Schulstunden erfolgen, um den SuS Gelegenheit zu geben, ihre Gedanken und Gefühle zur Serie möglichst frei entfalten zu können. Hierfür erhalten die Jugendlichen Filmtagebücher bzw. Viewing Journals, die den Rezeptionsprozess begleiten und unterstützen sollen. Die Methode der Diary Studies gewann seit den 1980er-Jahren durch den vermehrten Einsatz von Lesetagebüchern an Bedeutung, was mit einer zu‐ nehmenden Aufwertung der affektiven Dimension des Fremdsprachenlernens einherging (vgl. Bailey und Ochsner 1983; Nunan 1992; Bailey und Nunan 1996; Mosner 2000; Fäcke 2006). Folgende Kernfragen möchte ich am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC beantworten: Welche politischen Positionen und Dimensionen (gesell‐ 20 I Einleitung <?page no="21"?> schafts-)politischen Lernens werden bei den Jugendlichen sichtbar? Welche Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie zeigen sich? Welche Moralvorstellungen äußern die SuS? Welche sprachlich-kommu‐ nikativen Kompetenzen entwickeln die Jugendlichen? Fragen dieser Art wurden bislang nicht ausführlich in den Forschungsdiskurs aufgenommen. Bei der Be‐ antwortung geht es mir darum, der Individualität der einzelnen Fälle Rechnung zu tragen. Auf einer zweiten Auswertungsebene ist es mein Ziel, von den in der Studie sichtbar gemachten kognitiv-affektiven Prozessen allgemeinere Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart abzuleiten. Dafür widme ich mich folgenden Fragen: Inwieweit eignen sich Viewing Journals als Begleit‐ instrumente des Hörsehverstehens-Prozesses Jugendlicher beim intensiven, außerschulischen Serienkonsum? Welche Anforderungen entstehen an die Planung, Konzeption und Durchführung eines zeitgemäßen EU, wenn mit einer authentischen Politdramaserie wie HoC kompetenzorientiert unterrichtet wird? Welche Kriterien lassen sich zur Auswahl von authentischen Serien für den filmbasierten EU in der Sekundarstufe II entwickeln? Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen strukturiert: Zunächst konzentriere ich mich auf theoretische Grundlagen, indem ich den Diskussionsstand zu filmdidaktischen Konzepten, Schwerpunkten, Begriffen, Entwicklungen und Desiderata beleuchte. Im zweiten Kapitel des Theorieteils widme ich mich dem bereits angebrochenen Zeitalter einer neuen Fernsehära, welches durch den Erfolgszug von Video-on-Demand-Diensten - allen voran Netflix - besiegelt wurde. Neben Medienkonsumtrends wie z. B. Binge-Watching waren und sind die Streaming-Anbieter für die Produktion qualitativ hochwer‐ tiger Serien verantwortlich. Um solche Qualitätsserien von weniger gelungenen Produktionen unterscheiden zu können, lege ich Kapitel 2.4 einen detaillierten Kriterienkatalog zugrunde, wobei ich mich hierfür an Autoren wie Thompson (1996), Blanchet (2011), Mittell (2012), Däwes (2015), Schleich und Nesselhauf (2016), Schlütz (2016) und Gormász (2015) orientiere. Entsprechend der zentralen Zielsetzung der vorliegenden Studie, der Analyse kognitiv-affektiver Prozesse in der Auseinandersetzung mit HoC, untersuche ich in Kapitel 3 die Rolle von Emotion, Kognition und Moral bei der Serienrezep‐ tion und leite daraus Implikationen für den Unterricht ab. Dies wird in Kapitel 4 am Beispiel der Politdramaserie HoC konkretisiert, indem ich deren didaktisches Potential für den EU der Sekundarstufe II anhand eines Filmkompetenz-Modells illustriere. Anschließend werden forschungsmethodologische Fragen diskutiert und das eigene Forschungsdesign wird entwickelt. Dafür thematisiere ich Ziele, Fragen 21 I Einleitung <?page no="22"?> und Instrumente meiner Forschung und gehe auf Erhebungssowie Auswer‐ tungsverfahren für eine strukturierte Vorgehensweise bei der Kodierung und Kategorisierung der Daten ein. Dabei spielen auch Aspekte wie kommunikative Validierung und Triangulation eine wichtige Rolle (vgl. Kap. 5). Hinsichtlich der Auswertung der empirischen Untersuchung widme ich mich meinen Ergebnissen auf mehreren Ebenen (vgl. Kap. 6-8): Zunächst erfolgt die Auswertung kognitiv-affektiver Prozesse in fünf detaillierten Einzelfallanal‐ ysen. Diese werden in einem nächsten Schritt ergänzt durch eine vergleichende Fallanalyse, in die ich alle 15 Probanden einbeziehe und entlang meiner For‐ schungsfragen auswerte. Davon ausgehend ziehe ich konkrete Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart. Den Abschluss der Arbeit bildet eine kritische Reflexion der von mir durch‐ geführten Untersuchung, wobei ich das Forschungsdesign und die Forschungs‐ methoden in der Retrospektive analysiere (vgl. Kap. 9). 22 I Einleitung <?page no="23"?> II Theoretische Grundlagen 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata im Bereich des filmbasierten Englischunterrichts 1.1 Diskussionsstand: Ein Überblick über Schwerpunkte der Forschung Das Lehrwerk erfüllt im Unterricht zweifellos wichtige Funktionen und bietet sowohl den Lehrkräften als auch den SuS Anhaltspunkte hinsichtlich Orientie‐ rung, Struktur und Übersichtlichkeit. Nichtsdestotrotz sollten insbesondere in der Sekundarstufe II vermehrt authentische und herausfordernde Medien zum Einsatz kommen (vgl. Humes 2012: 13). Um Aspekten wie Schülerorientierung und lebensnaher Ausrichtung des Unterrichts Rechnung tragen zu können, bieten sich Filme und Serien als populärkulturelle Leitmedien Jugendlicher an, welche deren Freizeitverhalten entscheidend prägen (vgl. JIM 2019: 5 f; JIMplus 2020). Allerdings war mit der Nutzbarmachung der Populärkultur für schulische Zwecke lange eine skeptische Grundstimmung verbunden. Volk‐ mann (2017: 278) beschreibt die Ablehnung der Populärkultur als „kulturell minderwertige Unterhaltungsware“ bis in die späten 1990er Jahre. Dies kann auf die lang vorherrschende Trennung zwischen Hochkultur und Populärkultur bzw. Massenkultur zurückgeführt werden, gegenüber der eine kritische, wenn nicht gar bewahrpädagogische Grundhaltung dominierte. Thaler (2014: 12) fasst diese folgendermaßen zusammen: Ein Objekt, dessen Sinn und Zweck lediglich in der Manipulation der passiven Konsumenten und einer Profitorientierung bestehe, habe keine Daseinsberechtigung im Unterricht. Bildung könne nur in der Auseinandersetzung mit der sogenannten „big-C culture“ (Thaler 2012: 271) gelingen. Andernfalls müsse man mit einer kulturellen Verflachung und einer ästhetischen Verwahrlosung der Bildungsinhalte rechnen (vgl. Volkmann 2017: 279). Erst im Rahmen der Kulturdidaktik erfuhr die Populärkultur eine positive Neubewertung, da sie „als integraler Bestandteil der Zielkultur“ (ebd.: 278) wertvolle Einblicke leisten könne und mit ihr ein großes Motivationspotential verbunden sei (vgl. ebd.). Hinsichtlich der audiovisuellen Medien fand zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Umdenken dahingehend statt, dass die Zugehörigkeit des Films zur Pop‐ <?page no="24"?> kultur im schulischen Kontext primär als Chance gesehen werden müsse. So bildete sich die Filmdidaktik als „eine vergleichsweise junge Teildisziplin der Fremdsprachendidaktik“ (Surkamp 2017: 73) heraus. Seitdem wurden bezüglich der Abwertung des Films gegenüber der Hochkultur eindeutige Forderungen laut, welche zuletzt in bemerkenswerter Weise von Blell et al. (2016: 18) auf den Punkt gebracht wurden: „Film soll und muss Bestandteil kultureller Bildung sein und zwar gleichberechtigt neben der Bildung in anderen kulturellen Handlungs‐ feldern wie der Printkultur oder der Theaterkultur“. Dass Filme mittlerweile verstärkt einem weiten Literaturbegriff zugeordnet werden, zeigt sich daran, dass sich in zahlreichen Werken zur fremdsprachigen Literaturdidaktik ein Ka‐ pitel zu mehrfach kodierten Texten findet. Dies wird exemplarisch an Nünning und Surkamp (2006) deutlich: Die Autoren plädieren für eine Erweiterung des Textbegriffs und fordern „die Einbeziehung eines möglichst breiten Spektrums von Genres und Medien […], da einseitige mediale Beschränkungen (z. B. auf schriftsprachliche Texte) den Zugang zu fremden Kulturen verstellen“ (Nünning und Surkamp 2006: 43). Folgende Überlegungen, die ihren Ursprung in der Literaturdidaktik haben, spielen auch für eine zeitgemäße Filmdidaktik eine wichtige Rolle. Großen Einfluss auf die Literaturdidaktik übte vor allem die Rezeptionsästhetik aus, die sich primär der Interaktion zwischen Text und Rezipient bzw. Rezipientin widmet (vgl. Iser 1970, 1976; Bredella 2002; Bredella und Burwitz-Melzer 2004; Fäcke und Wangerin 2007). Dabei wird die Bedeutungsfindung in der Auseinandersetzung mit Texten zum „Produkt einer Interaktion von Text und Leser“ (Iser 1970: 7) erhoben. Bredella (2004: 22) zufolge orientiert sich die rezeptionsästhetische Literaturdidaktik an einem Lehr- und Lernkonzept, das von komplexen Phänomenen ausgeht und die Lernenden dazu motiviert, sich auf Unbekanntes und Mehrdeutiges einzulassen. Indem Vermutungen geäußert und Fragen gestellt werden, stehe nicht das Einüben isolierter skills, „sondern die Synthese im Kopf der Lernenden im Mittelpunkt“ (Bredella 2004: 22). Zudem hält Bredella fest, dass Literaturunterricht nicht primär der Vermittlung litera‐ turwissenschaftlicher Erkenntnisse dienen dürfe. Vielmehr sei es entscheidend, die SuS zu einer intensiven Interaktion mit dem Text anzuregen und sie zum Kommunizieren über ihre individuellen Rezeptionserfahrungen zu animieren (vgl. ebd.: xiii). Demgegenüber stehen einseitig text- und textanalytisch orien‐ tierte Umgangsweisen, die in der Praxis des FSU eine lange Tradition haben, „u.a. weil sie einen festen und determinierten Sinn postulieren und damit in der schulischen Praxis gerade im Blick auf Vergleichbarkeit von Leistungen leichter handhabbar scheinen“ (Fäcke und Wangerin 2007: 4). 24 II Theoretische Grundlagen <?page no="25"?> 8 Dabei stellen Textorientierung und Leserorientierung keine unvereinbaren Gegensätze dar (vgl. Fäcke und Wangerin 2007: 5). Erst seit den 1970/ 80er-Jahren etablierten sich zunehmend rezeptionsorien‐ tierte Ansätze sowohl in der literaturdidaktischen Theorie als auch in der schu‐ lischen Praxis, was in einem dynamischen Literaturverständnis 8 - nicht zuletzt als Folge konstruktivistischer und kognitionspsychologischer Überlegungen - resultierte (vgl. ebd.: 4 f). Konkret heißt dies, dass Texte ihre Wirkung und subjektive Realität erst durch die Imaginationskraft und aktive Sinnkonstruk‐ tion der Rezipienten entfalten; andernfalls ist aufseiten der Leserinnen und Leser keine Erkenntnis möglich. Mit diesem Umdenken in der Literaturdidaktik wurde die Reduzierung der Lektüre auf eine von vornherein feststehende und vermeintlich einzig richtige Interpretation des Textes außer Kraft gesetzt (vgl. Wangerin 2007: 67), was Thaler zu folgender Forderung führt: „Teachers have to accept the open, dynamic, and polysemous nature of literary texts and be open to a variety of interpretations. It is up to the readers, i.e. the students, to ascribe meanings to the text and justify their personal interpretations” (Thaler 2008: 153). Dieser Arbeit liegt somit eine rezeptionsorientierte bzw. subjektorientierte Position zugrunde, welche den Rezipienten und seine individuellen Zugänge zum Text ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Eine solche Berücksichtigung der aktiven Bedeutungskonstruktion durch die Zuschauenden kann durch einen schülerorientierten Unterricht realisiert werden, der nicht auf ein einheitliches Interpretationsergebnis abzielt, sondern die individuellen Filmlesarten der Ju‐ gendlichen in den Blick nimmt (vgl. Henseler, Möller, und Surkamp 2011: 14). Diese Vorstellung eines aktiv in die Sinnkonstruktion eingebundenen Rezipienten müsse sich im Kontext des Filmschauens noch (mehr) durchsetzen (vgl. Blell et al. 2016: 21 f; Surkamp 2012: 80). Hier sei nämlich die aktive Mitarbeit des Zuschauers noch nicht genügend ins Bewusstsein gedrungen - vielleicht auch aufgrund der (zu kurz greifenden) Auffassung, dass Filme durch ihre Bild- und Tongewalt Geschichten viel stärker konkretisieren als Schrifttexte. Dabei muss der Zuschauer die in der Montage durch Zeitsprünge oder Ortswechsel entstehenden Leerstellen eines Films selbstständig ergänzen, um ihn verstehen zu können. Kein Film zeigt alles, was für die Kohärenz einer Geschichte wichtig ist (Henseler, Möller, und Surkamp 2011: 13). Decke-Cornill hält transformative Bildungsprozesse in der Auseinandersetzung mit Filmen für möglich, wenn Lernende „produktiv mit Irritation und Befrem‐ dung […] umgehen können“ (Decke-Cornill 2016: 73), wobei zielgerichtete 25 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="26"?> Aufgabenimpulse entscheidend seien, um eine Beziehung zwischen den Ler‐ nenden und dem Film zu unterstützen. Sie spricht in diesem Kontext von einer „Dreierkonstellation“ (ebd.: 74), die folgendermaßen veranschaulicht werden kann: Abb. 1: Prozessmodell: Irritation - Konstruktion - Versprachlichung (eig. Darst.) Irritation könne beispielsweise dadurch entstehen, dass sich moderne Serien einer einfachen Informationsentnahme stellenweise entziehen, indem sie sich ein Spiel der Mehrdeutigkeit zu eigen machen: „Filme irritieren, nehmen die Lerner/ -innen mit in fremde Welten und konfrontieren sie mit fremden Lebens‐ entwürfen und ungewohnter Ästhetik. Darin liegt ihr Lern- und Bildungspo‐ tential begründet“ (Bonas und Wilts 2016: 103). Die Tatsache, dass es sich bei der Filmrezeption um eine anspruchsvolle und keineswegs passive Tätigkeit handelt, spiegelt sich auch in zahlreichen Definitionen wider, von denen einige im Folgenden präsentiert werden. 1.2 Zentrale Konzepte und Termini Zunächst muss die Begriffsvielfalt erwähnt werden, die im Kontext des film‐ basierten EU vorherrscht, wobei Hörsehverstehens-Kompetenz, Film Literacy, Filmkompetenz, Filmlesekompetenz und Filmbildung die am häufigsten ge‐ nannten Termini sind (vgl. Lütge 2012: 12). Zudem wird das Unterrichten mit Filmen häufig mit der Ausbildung von Text- und Medienkompetenz in Verbin‐ dung gebracht. Die Begrifflichkeit der Text- und Medienkompetenz wurde zunächst im Rahmen der Bildungsstandards verwendet und anschließend von den Lehrplänen entsprechend übernommen, wobei sie eine der vier tragenden Säulen im Kompetenzstrukturmodell des bayerischen Lehrplans für Gymnasien darstellt (vgl. LehrplanPlus). Jugendliche leben in einer „noch nie da gewesenen Fülle an Mediengeräten und -angeboten“ (Frederking, Krommer, und Maiwald 2018: 69), welche er‐ heblichen Einfluss auf Prozesse wie Identitätsbildung, Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung nehmen können. Frederking, Krommer und Maiwald (ebd.: 64) halten fest, dass es in der heutigen Zeit kaum noch Menschen gebe, deren 26 II Theoretische Grundlagen <?page no="27"?> Wirklichkeitserfahrung nicht entscheidend mit Medien - und insbesondere audiovisuellen Medien - zu tun habe. Dementsprechend sei Filmkompetenz als Teil der Medienkompetenz im Unterricht zu vermitteln (vgl. Thaler 2012: 290). An dieser Stelle sollen einige wichtige Hintergründe und Positionen hinsichtlich der Medienkompetenz prägnant erläutert werden. In erster Linie spiegelt der Diskurs zu Medien ambivalente Positionen wider: Einerseits seien Medien Träger fragwürdiger Praktiken, Werte und Weltbilder (hier können Kommerz, Scheinwelten, Gewalt sowie Pornographie als Schlagworte genannt werden) mit entsprechend negativen Auswirkungen - sowohl körperlicher (z. B. Übergewicht und Müdigkeit) als auch psychosozialer Art (wie beispielsweise Isolation, Abstumpfung, Sprachverfall oder Gewaltbereitschaft). Andererseits könnten Medien für Information, Unterhaltung, Selbstausdruck und Verständi‐ gung produktiv nutzbar gemacht werden; die Medien sind dieser Sichtweise zufolge als Quelle zu beurteilen, aus der geschöpft werden kann, um das Leben zu bewältigen, zu bereichern und zu gestalten (vgl. Frederking, Krommer, und Maiwald 2018: 69 f). In der Medienpädagogik des 20. Jahrhunderts dominierten zunächst medi‐ enkritische Positionen, wobei hier beispielsweise die Namen Postman (z. B. 1985, 1987) und Glogauer (z. B. 1993) zu nennen sind. Insbesondere Postman gilt als einer der führenden Medienkritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die medienkritischen Stimmen beinhalten vor allem folgende grundlegende Vorwürfe, die bis heute vorgebracht werden: ● moralische Primitivierung des Publikums aufgrund einer Überbetonung von Egozentrik und Genusssucht, ● Aufstacheln erotischer Neigungen durch stark sexualisierte Inhalte, ● Kriminalisierung des Publikums, ● Informationsüberfluss und eine damit einhergehende Orientierungslosig‐ keit der Konsumenten. Neben der kritischen Medienpädagogik spielte und spielt die handlungsorien‐ tierte Medienpädagogik eine wichtige Rolle, wobei Baacke und Tulodziecki als prominente Repräsentanten gesehen werden. In Tulodzieckis Definition (2015: 210) von Medienkompetenz zeigt sich exemplarisch die Wichtigkeit, die er der Handlungsorientierung beimisst: Medienkompetenz meint die „Bereitschaft und Fähigkeit […] in Medienzusammenhängen sachgerecht, selbstbestimmt, kreativ und sozial verantwortlich zu handeln“. Baacke (1997: 98 f) definiert Medienkompetenz, indem er folgende Subkonzepte benennt: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. Trotz einer Erweiterung des Konzepts der Medienkompetenz durch Hurrelmann (2002) und Groeben 27 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="28"?> (2002) stellen die von Baacke benannten Dimensionen weiterhin eine wichtige Grundlage des Diskurses dar. Grünewald (2017: 245) sieht Medienkompetenz als eine der Schlüsselqua‐ lifikationen der Informationsgesellschaft, wobei deren Vermittlung im Rahmen des FSU „die Lernenden dazu befähigen sollte, Medien für die Erweiterung ihrer eigenen fremdsprachlichen kommunikativen und interkulturellen kom‐ munikativen Kompetenzen zu nutzen“ (ebd.: 245 f). Darüber hinaus sei eine Sensibilisierung der SuS für den kritischen Umgang mit fremdsprachigen Informationen aus unterschiedlichen Medien wichtig (vgl. ebd.: 246). In den Bildungsstandards (KMK 2014) nimmt die Text- und Medienkom‐ petenz (kurz: TMK) eine wichtige Position ein, wobei hier explizit auf audiovi‐ suelle Texte Bezug genommen wird (vgl. KMK 2014: 20). Damit ist die Fähigkeit gemeint, Texte selbstständig, zielbezogen sowie in ihren historischen und sozialen Kontexten zu verstehen, zu deuten und eine Interpretation zu begründen. Text- und Medienkom‐ petenz schließt überdies die Fähigkeit mit ein, die gewonnenen Erkenntnisse über die Bedingungen und Techniken der Erstellung von Texten zur Produktion eigener Texte unterschiedlicher Textsorten zu nutzen (ebd.). Auch folgende Aussage aus den Bildungsstandards ist von zentraler Bedeutung: „Als komplexe, integrative Kompetenz geht die Text- und Medienkompetenz über die in den zugrunde liegenden funktionalen kommunikativen Kompe‐ tenzen definierten Anforderungen hinaus (insbesondere im Vergleich zum Lese- und Hör-/ Hörsehverstehen)“ (ebd.). In anderen Worten heißt dies, dass die funktional kommunikativen Kompetenzen der Text- und Medienkompetenz gewissermaßen untergeordnet sind, indem sie als Grundlage fungieren, um den Anforderungen komplexer Texte gerecht werden zu können. Unter Punkt 2.1.1 der Bildungsstandards (ebd.: 15) sind Hör- und Hörseh‐ verstehen weiterhin als ein Punkt zusammengefasst, was Thaler kritisiert, da er das Hörsehverstehen als „eine eigenständige Kompetenz […], die deutlich vielschichtiger ist als das Hörverstehen“ (Thaler 2012: 169; Hervorhe‐ bung im Original), einstuft. Thaler (ebd.: 170) beschreibt das Hörsehverstehen als „äußerst komplexe[n] Prozess, zu dessen Gelingen sehr viele verschie‐ dene Teilkompetenzen erforderlich sind: Hörverstehens-Kompetenz, Sehverste‐ hens-Kompetenz, Hör-Seh-Verstehens-Kompetenz, interkulturelle Kompetenz, Medien-Kompetenz, linguistische Kompetenzen“. Diese wichtige Erkenntnis wird in den meisten bildungspolitischen Dokumenten noch immer nicht ausrei‐ chend berücksichtigt. Auch Begriffe wie Filmlesekompetenz, Filmbildung oder Filmkompetenz werden in den Bildungsstandards (KMK 2014) nicht erwähnt. 28 II Theoretische Grundlagen <?page no="29"?> Hildebrand (2006) geht auf den Begriff der Filmlesekompetenz ein, indem er auf die Zeichenhaftigkeit kinematographischer Wirklichkeitsrepräsentati‐ onen verweist. Filmbilder müssten demnach gelesen und entschlüsselt werden. Auch Henseler, Möller und Surkamp (2011: 8) sehen es als unerlässlich an, die Lernenden bei ihrer Entwicklung zu kompetenten Leserinnen und Lesern bewegter Bilder zu unterstützen, indem sie mit den spezifischen Darstellungs‐ verfahren von audiovisuellen Medien wie Kameraperspektive, Schnitt und Montage vertraut gemacht werden. Häufiger als von Filmlesekompetenz ist in der Literatur von Filmbildung die Rede. Lütge (2012: 118) beschreibt den Begriff der Filmbildung als einen Zugang zum audiovisuellen Medium […], der nicht nur auf Hörsehverstehenskompe‐ tenzen und einzelne Aspekte des Filmverstehens abzielt. Beim Aufbau einer umfas‐ senden film literacy geht es nicht nur um die vom Lehrer gesteuerte Filmanalyse oder den gelegentlichen Einsatz kreativer post-viewing activities. Das Filmerleben und die Einordnung der audiovisuellen Erfahrung in größere thematische Kontexte stehen hier im Vordergrund. Folglich meint Filmbildung weitaus mehr als das rezeptive Verstehen eines Films; stattdessen wird eine stärkere Fokussierung auf Aspekte wie Filmgenuss und reflexive Aushandlung der Filmerfahrung betont. Dies unterstreicht Middel (2011) auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), wobei er der Filmbildung attestiert, einen wesentlichen Beitrag zu umfassender audiovisueller Alphabetisierung [zu leisten]. Durch das Erlernen und Verstehen des Films, seiner Geschichte, Sprache und Wirkung, wird die ästhetische Sensibilität gefördert, die Erlebnis- und Ausdrucksfä‐ higkeit entwickelt, die Geschmacks- und Urteilsbildung unterstützt. Filmische Zei‐ chen und Symbole verstehen und gestalterisch nutzen zu können, ist eine Grundlage zur Orientierung in der Kommunikationskultur bewegter Bilder. Während das Hörsehverstehen also das Dekodieren gesprochener Sprache in Zusammenhang mit der damit einhergehenden Mimik und Gestik meint, sind für die Entschlüsselung von Filmen darüber hinaus noch weitere interdepend‐ ente Teilkompetenzen nötig, welche in Anlehnung an Blell und Lütge (2004: 404) im Folgenden stichpunktartig aufgelistet werden: 29 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="30"?> ● Wahrnehmungs- und Differenzierungskompetenz, wobei intentionales Sehen und Hören unter Rückgriff auf ein sogenanntes Filmizitätswissen essenziell sind; ● filmästhetische und -kritische Kompetenz, so dass dem Kunstcharakter des Films Rechnung getragen werden kann. Folgende Aspekte spielen hier eine wichtige Rolle: ○ eine Sensibilisierung für filmspezifische Darstellungsverfahren und deren Funktionssowie Wirkweise, ○ die Schaffung eines Bewusstseins für manipulative Effekte, ○ filmanalytische Grundkenntnisse und Beherrschung des entspre‐ chenden Vokabulars, ○ die Förderung der Reflexions- und Kritikfähigkeit der Rezipienten; ● interkulturelle Kompetenz zum Verständnis der Einblicke, die Filme in fremdkulturelle Lebenswelten gewähren; ● fremdsprachliche Handlungs- und Kommunikationskompetenz (z. B. durch die Befähigung zur Artikulation emotionaler Reaktionen in der Fremd‐ sprache, was eine Grundvoraussetzung für sprachproduktive Selbstständig‐ keit darstellt). Als übergeordneten Begriff für diese Teilkompetenzen wählen Blell und Lütge (2004: 404) den Terminus Film Literacy und definieren diese „als Befähigung zu einem sachgerechten und kritischen, selbstbestimmten, sozial-verantwort‐ lichen, fremdsprachlich-kreativen und interkulturellen Handeln mit Filmen“. Film Literacy - bzw. in deutscher Übersetzung Filmkompetenz - ist somit kein Modebegriff für ein Sich-Berieseln-Lassen im Unterricht, sondern verlangt den SuS „sehr viel mehr als das reine Hörsehverstehen“ (Lütge 2012: 17) ab (vgl. dazu auch Surkamp 2017: 77 f). Auch Thaler legt seinem Modell den Begriff der Film Literacy zugrunde und ordnet diesem das Hörsehverstehen als eine notwendige Fertigkeit (neben den skills des analysing und creating) unter (vgl. Thalers Film Literacy-Modell, das sich aus den Dimensionen knowledge, skills und attitudes zusammensetzt; 2014: 33). Auffällig ist, dass die sprach- und handlungsbezogene Dimension der Film‐ bildung im Kontext der kommunikativen Ausrichtung des FSU eine Aufwertung erfuhr, was exemplarisch am Beitrag von Blell et al. (2016: 21 ff) deutlich wird, der im nächsten Punkt genauer betrachtet wird. Indem die sprachliche Selbstständigkeit der SuS bei der Filmarbeit gefördert wird, kann eine Entwick‐ lung zur filmbezogenen Diskursfähigkeit unterstützt werden. Dies ermöglicht wiederum die fremdsprachige Teilhabe am kulturellen Handlungsfeld ‚Film‘, womit die Fähigkeit der SuS gemeint ist, „filmische Bedeutungen mit anderen 30 II Theoretische Grundlagen <?page no="31"?> auszuhandeln, sprachlich und terminologisch präzise über Filme zu sprechen, seinen Eindrücken und Emotionen Ausdruck zu verleihen und so in schulischen und in lebensweltlichen Kontexten an filmbezogenen Diskursen teilzuhaben“ (Hallet 2016: 190). Für die vorliegende Arbeit wähle ich den Begriff der Filmkompetenz, auch wenn hier ein begrifflicher Widerspruch zum oben erwähnten rezeptionsästhe‐ tischen Anspruch vermutet werden könnte. Grundsätzlich steht nämlich fest, dass Filmsowie Text- und Medienkompetenz aufgrund ihrer Fokussierung auf einen messbaren Output, den die SuS erbringen sollen, nicht rezeptionsästhe‐ tisch ausgerichtet sind. Nichtsdestotrotz strebe ich im Kontext dieser Arbeit eine Balance aus Output-Orientierung und Rezeptionsästhetik an, indem ich bei der Filmarbeit entsprechend konzipierte Lernaufgaben einsetze. Dabei spielt die Grundannahme der Rezeptionsästhetik, dass Texte von den Rezipienten durch individuelle Sinnzuweisungen (je nach persönlichen Erfahrungen, Vorwissen, Biographie usw.) unterschiedlich interpretiert werden, eine wichtige Rolle. Die Zuschauenden müssen die Geschichte des Films mitgestalten und sind somit an der Bedeutungskonstruktion beteiligt (vgl. Henseler, Möller, und Surkamp 2011: 13). Diese aktive Mitarbeit lässt sich durch kreative Begleitaufgaben zur Unterstützung des while-viewing fördern. Henseler, Möller und Surkamp (ebd.: 14) zufolge führt die Berücksichtigung der aktiven Bedeutungskonstruktion durch entsprechende Aufgaben zu einem Filmunterricht, der - statt auf ein ein‐ heitliches Interpretationsergebnis abzuzielen - die individuellen Filmlesarten der SuS in den Blick nimmt. Dies stimmt mit folgenden im Rahmen der TMK (KMK 2014: 20 f) festgehaltenen can-do-Statements überein: Die SuS können bei der Deutung eine eigene Perspektive herausarbeiten und plausibel darstellen; auf einem erhöhten Niveau können sie zudem die von ihnen vollzogenen Deutungsprozesse darlegen und reflektieren. Neben sprachlichem Output geht es bei den genannten Anforderungen also auch darum, dass die Jugendlichen Texte in ihrer unmittelbaren und ästhetischen Wirkung subjektiv erfahren und interpretieren können. Dies entspricht auch den Forderungen des LehrplanPlus für die Sekundarstufe II. 1.3 Diskurse zum Thema Film in den Fächern sprachlicher Bildung In den letzten beiden Jahrzehnten wurde eine Vielzahl an Publikationen zum Thema ‚Unterrichten mit Filmen in sprachlichen Fächern‘ veröffentlicht, wo‐ durch Lütge (2012: 6) zufolge der Einzug des Films im Rahmen der Text- und Medienkompetenz in die Kerncurricula der Bundesländer forciert wurde. Die im Folgenden erwähnten Publikationen leisteten in diesem Kontext einen 31 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="32"?> 9 Als Kompetenzbereiche der Filmbildung werden Filmproduktion und Präsentation, Filmnutzung, Film in der Mediengesellschaft und Filmanalyse genannt (vgl. Länderkon‐ ferenz MedienBildung 2015: 5). wichtigen Beitrag, wobei hier bewusst nicht nur auf Veröffentlichungen der Englischdidaktik eingegangen wird. Die Ausbildung von Filmkompetenz betrifft nämlich nicht nur den EU, sondern ist ein fächerübergreifender Auftrag, welcher vor allem im Deutsch- und EU realisiert werde (vgl. Kepser 2008). Dies soll nun vertieft und schließlich in einem fächerübergreifenden Ansatz (vgl. Blell et al. 2016) abgerundet werden. Einen nicht zu unterschätzenden Wegweiser hinsichtlich der Erstellung eines Konzepts zur Filmbildung an deutschen Schulen markierte der Berliner Kongress Kino macht Schule im März 2003, bei dem die Kritik laut wurde, dass SuS in Deutschland derzeit kaum systematisch an den Film als Kulturgut herangeführt würden (vgl. bpb 2003: 25). Der Spielfilm habe nämlich keinen angemessenen Platz in bildungspolitischen Dokumenten, da der Begriff der Filmkompetenz an keiner Stelle Erwähnung finde. Im Zuge dieser Erkenntnis erließ die Initiative der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im Jahr 2003 eine Filmkompetenzerklärung und entfachte damit eine Diskussion um ein filmschulisches Kerncurriculum sowie einen Filmkanon. Die Filmkompetenzer‐ klärung von 2003 stellte einen wichtigen Ausgangspunkt für eine Aufwertung der Filmdidaktik dar, indem sie dem Thema schulische Filmbildung öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte. Dabei wurde zunehmend die Frage nach der Not‐ wendigkeit von verbindlichen Qualitätsstandards und Kompetenzfestlegungen laut, die Middel (2011) verdeutlicht: Wenn der Film seine Bildungsbedeutung verankern wolle, dann müssten im Rahmen der KMK-Vorgaben überprüfbare Filmkompetenzerwartungen beschrieben werden. Dementsprechend wurden von den zuständigen Filmbildungseinrichtungen der Bundesländer filmspezifi‐ sche Kompetenzbeschreibungen in einem abgestimmten Konzept veröffentlicht, welches auf den Seiten der Länderkonferenz für MedienBildung (AFK 2009/ 2015, 2020) eingesehen werden kann. Der zuständige Arbeitskreis Filmbildung (AFK) erarbeitete bislang zwei kompetenzorientierte Konzepte zur Filmbildung (Al‐ lenstein et al. 2009 mit Fortschreibung 2015; Bauser et al. 2020). Im Rahmen der Veröffentlichung von 2015 erfolgte eine detaillierte Auflistung der für die Filmbildung erforderlichen Kompetenzbereiche 9 inklusive entsprechender Kompetenzerwartungen, welche mit konkreten Angaben für die Klassenstufen 4, 10 und 12 angereichert wurden. Dies soll am Beispiel der Filmästhetik exemplarisch illustriert werden: 32 II Theoretische Grundlagen <?page no="33"?> Teilbereiche Kompetenzerwartungen Klasse 4 Kompetenzerwartungen Klasse 10 Kompetenzerwartungen Klasse 12 Filmästhetik − ästhetische Wirkungen eines Films erörtern − ästhetische Gestaltung eines Films in ihrer Gesamtheit analysieren und beurteilen − ästhetische Wirkungen eines Films beschreiben und begründen − Film als ein gestaltetes Werk analysieren − Gefühle und Eindrücke benennen und begründen (  Bezug zum Kompetenzbereich Filmnutzung) − Film als gestaltetes Werk an einfachen Beispielen beschreiben Abb. 2: Auszug aus dem Kompetenzbereich Filmanalyse (Länderkonferenz MedienBildung 2015: 6) Im Kontext wichtiger filmdidaktischer Publikationen muss auch die von Kepser durchgeführte und groß angelegte empirische Studie erwähnt werden, bei der mehr als 700 Abiturientinnen und Abiturienten aus sechs Bundesländern zu ihrem Spielfilmwissen, der subjektiv erlebten Film‐ didaktik und der Filmnutzung im Unterricht befragt wurden. Die empirische Erhebung in Form eines Fragebogens ließ keinen Zweifel daran, dass der Abitur‐ jahrgang des Jahres 2006 erhebliche Defizite im Bereich der Filmbildung aufwies (vgl. Kepser 2008: 25-46). Kepser spricht von schockierenden empirischen Daten zum mangelhaften Filmwissen von Schulabsolventen in Deutschland und hält folgende Erkenntnis fest: [Audio-visuelle Medien] sind ohne Zweifel ein wesentlicher Bestandteil des gegen‐ wärtigen kulturellen Diskurses; für Abiturientinnen und Abiturienten sind sie das fiktionale Leitmedium schlechthin. Schülerinnen und Schüler sind überaus interes‐ siert daran, Spielfilme inhaltlich, formal und […] historisch zu reflektieren. Die Schule stellt ihnen derzeit nicht in ausreichendem Maße Begrifflichkeiten zur Verfügung, die zur Filmanalyse notwendig sind. […] Sofern überhaupt mit dem Spielfilmwissen gearbeitet wird, gehen die angewendeten Methoden größtenteils an den Bedürfnissen der Schüler/ -innen vorbei (ebd.: 46). Kepser macht mit seinem Beitrag zur mangelhaften Spielfilmbildung an deut‐ schen Schulen unmissverständlich deutlich, dass die Schule handeln muss, um den Jugendlichen eine reflexive Beschäftigung mit audiovisuellen Medien zu ermöglichen und ihren Wissensdurst diesbezüglich zu stillen. Dabei sei es Aufgabe der Lehrkräfte, den Lernenden deklaratives Wissen zu vermitteln, so dass eine Einführung in die audiovisuelle Grammatik mehrfach kodierter Texte stattfinden könne. Diesbezüglich erwähnt Kammerer (2009: 82) den schulischen Alphabetisierungsauftrag, welcher anhand von übersichtlichen Lehr- und Lernmaterialien erfüllt werden könne. Dabei gehe es darum, den SuS terminologisches Wissen bezüglich der Filmsprache und die Bedeutung grund‐ legender Formen der Montage sowie spezieller Kameracodes näherzubringen. 33 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="34"?> Nur so könnten sich Jugendliche kompetent im kulturellen Handlungsfeld ‚Film‘ bewegen. 2016 schloss sich Kepser mit Blell, Grünewald und Surkamp für das Projekt und die gleichnamige Publikation Film in den Fächern der sprachlichen Bildung zusammen. Das Forschungsanliegen der Autoren bestand in der Konzeptuali‐ sierung einer sprachen- und kulturenübergreifenden Filmbildung aus Sicht der sprachlich orientierten Schulfächer. Im Rahmen ihres Beitrags entwickelte die Autorengruppe ein aus fünf Kompetenzfeldern bestehendes Modell (vgl. Blell et al. 2016: 41), wobei das Kompetenzfeld „Filmbezogen sprachlich handeln“ als Alleinstellungsmerkmal des Modells deklariert wurde. Film gestalten Film analysieren Film kontextualisieren Film erleben, Film nutzen, Film verstehen Filmbezogen sprachlich handeln Abb. 3: Kompetenzfelder in den Fächern der sprachlichen Bildung (nach Blell et al. 2016: 41) Das Modell zeigt, dass das Feld „Filmbezogen sprachlich handeln“ sämtliche abgebildeten Bereiche durchzieht, womit es als grundlegend für jede filmdidak‐ tische Überlegung zu erachten ist (vgl. Blell et al. 2016: 23). Das bedeutet, dass alle oben dargestellten Kompetenzfelder im Unterricht kommunikativ auszu‐ handeln sind, was durch geeignetes Filmmaterial angestoßen werden kann: „[E]in Film, der die Schüler/ -innen anspricht, [lädt] zur spontanen Reaktion und zur weiteren reflexiven oder kreativen sprachlichen Auseinandersetzung ein“ (Leitzke-Ungerer 2016: 111). Obwohl hinsichtlich der Publikationen zum filmbasierten EU Konjunktur herrscht (z. B. Stempleski und Tomalin 2001; Sherman 2003; Blell und Lütge 2004; Leitzke-Ungerer 2009; Henseler, Möller, und Surkamp 2011; Kerst 2011; Lütge 2012; Thaler 2014), erscheinen filmdidaktische Theorie und Praxis nach 34 II Theoretische Grundlagen <?page no="35"?> wie vor als unvereinbare Gegensätze. Dies hängt auf den ersten Blick damit zusammen, dass zahlreiche Lehrkräfte den Filmeinsatz noch immer meiden. So ergab eine Umfrage von Thaler aus dem Jahr 2007, dass nur sechs Prozent der Lehrkräfte Filme häufig einsetzen würden (vgl. Thaler 2014: 17). Auch wenn sich dies in den letzten 14 Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit geändert haben dürfte und von Filmen mittlerweile wohl häufiger Gebrauch gemacht wird, ist das eigentliche Problem ein anderes: Entscheidend ist nämlich nicht die Quantität des Filmeinsatzes, sondern dessen Qualität - und die Qualität eines didaktisch wertvollen Filmeinsatzes hängt davon ab, wie und mit welchen Zielen Filme im EU verwendet werden. Hier zeigen sich nach wie vor Defizite: Eine Analyse des Forschungsdiskurses verdeutlicht, dass die vorherrschende Kluft zwischen theoretischen Abhandlungen darüber, was Filmdidaktik leisten soll, und kritischen Befunden zur Praxis des filmbasierten EU oft beklagt wird. Den (vermeintlichen) Defiziten der Unterrichtspraxis werden dann die Chancen gegenübergestellt, die ein zielgerichteter Filmeinsatz verspricht. Über diesen Diskurs der Chancen und Grenzen möchte ich im folgenden Punkt einen Überblick geben. 1.4 Film-Based Language Learning: Defizite, Desiderata und Grenzen - Vorteile, Chancen und Potentiale 1.4.1 A Long Way to Go Zunächst muss festgehalten werden, dass Filmbildung in Deutschland in der Regel nicht im Rahmen eines speziellen Schulfaches wie Film- oder Medien‐ kunde erfolgt, sondern zur fächerübergreifenden Aufgabe erklärt wurde. Dies habe zur Folge, dass sich kein Fach wirklich für die Filmbildung der SuS verant‐ wortlich fühle (vgl. Blell et.al. 2016: 16). Während andere Bereiche kultureller Bildung (wie beispielsweise Kunst oder Musik) im Rahmen eines Schulfaches unterrichtet werden, friste der Film ein Schattendasein (vgl. Thaler 2014: 17). Zudem argumentiert Surkamp (2017: 76), dass mit der Ausbildung filmanalyti‐ scher Fertigkeiten wesentlich früher als im gymnasialen Lehrplan vorgesehen (dieser schlägt eine erste Anbahnung durch eine Auseinandersetzung mit Filmmusik in der achten Klasse vor) begonnen werden sollte. Im Sinne einer spiralförmigen Progression befürwortet Surkamp eine stetige Entwicklung von Film Literacy, um der Allgegenwärtigkeit des Films in der Lebenswelt der SuS Rechnung zu tragen. 35 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="36"?> a) Bonbon-Didaktik Stattdessen werden Filme laut Nünning und Surkamp (2006: 245) „viel zu häufig bloß als unterhaltsame Lückenfüller verwendet, was auf Seiten der Lernenden [wiederum] eine passive Konsumentenhaltung“ begünstigen könne. Dies verdeutlicht Surkamp (2008: 15), indem sie festhält: „[F]ilm analyses can by no means be considered common practice in the classroom”, was mit bonbondidaktischen Filmeinsätzen zusammenhänge. Mit der Metapher der Bonbon-Didaktik ist gemeint, dass Filme im Unterricht bisweilen nur den Zweck des Zeitvertreibs erfüllen würden, indem sie lediglich zum Einsatz kämen, um besonders heiße Unterrichtstage, Vertretungsstunden oder die Zeit kurz vor den Ferien zu überbrücken (vgl. Kepser 2008: 40). Selbstverständlich ist ein solcher bonbondidaktischer Filmeinsatz, bei dem eine DVD zum Stundenbeginn eingelegt und am Ende der Stunde wieder ein‐ gepackt wird, ohne ein Wort darüber zu verlieren, sinnlos. Genauso ineffizient wäre es, ein Gedicht von Shakespeare vorlesen zu lassen und anschließend weder auf sprachliche Besonderheiten noch auf mögliche Interpretationen oder die Wirkkraft des Textes einzugehen. Das Potential eines Inhalts hängt in entscheidendem Maß von seiner didaktisch-methodischen Aufbereitung im Unterricht ab. Bonbon-Didaktik ist im kompetenzorientierten Unterricht fehl am Platz und fungiert im Kontext audiovisueller Medien letztlich nur als „hübscher“ Begriff für einen sinnentleerten Filmeinsatz. b) Verkopfung im filmbasierten EU Bonas und Wilts (2016) zufolge herrscht im filmbasierten EU eine Tendenz zur kognitiv-analytischen Ausrichtung und eine damit einhergehende Verengung zugunsten prüfbarer Inhalte vor, die sich den Kategorien ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ eindeutig zuordnen lassen. Dies führen Bonas und Wilts (ebd.: 98) darauf zurück, dass sich viele Lehrkräfte mit diesem Fokus wohler bzw. sicherer fühlen würden. Der Einsatz von Filmen, zu denen es keine vorgefertigten Unterrichtsmaterialien gebe, stelle für einige Lehrpersonen nach wie vor unsicheres Terrain dar. Dies habe eine Orientierung an kognitiv-analytischen Aufgaben zur Folge, welche in Materialsammlungen und Lehrwerken omnipräsent seien (ebd.). Damit komme das emotionale Filmerleben, welches für individuelle Bildungsprozesse von entscheidender Bedeutung sei, jedoch zu kurz (vgl. Walberg 2007: 34; Lütge 2012: 23). Surkamp fordert aus diesem Grund, dass das subjektive Filmerleben und die damit einhergehende Lernerorientierung im FSU stärker berücksichtigt werden müssten. Bei Filmanalyse und Filmgenuss handle es sich nämlich nicht um einander entgegengesetzte Pole, sondern um zwei untrennbar miteinander verbundene Prozesse der Rezeption (vgl. Surkamp 2017: 76; Blell et al. 2016: 36 II Theoretische Grundlagen <?page no="37"?> 10 Tatsächlich finde meist eine Reduktion auf das Hörverstehen statt, indem die visuelle Komponente bei vermeintlichen Hörsehverstehens-Aufgaben vernachlässigt werde. Auch Musik und Geräusche würden in der Regel außenvorgelassen und nur Aspekte der gesprochenen Sprache würden in klassischen Multiple-Choice-Aufgaben abgefragt (vgl. Bonas und Wilts 2016: 97). Stempleski und Tomalin warnen explizit vor einem solchen „killing the magic of the experience because we overdo the grammar, the vocabulary, or the pronunciation” (Stempleski und Tomalin 2001: 9). 21; Decke-Cornill und Luca 2007: 19; Leitzke-Ungerer 2009: 17). Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass ein emotionales Filmerleben die SuS dazu motivieren kann, sich intensiver mit dem jeweiligen Medium auseinandersetzen zu wollen: Wenn die Jugendlichen begreifen möchten, warum sie von bestimmten Szenen ergriffen sind, erweisen sich filmanalytische Wissensbestände als besonders erstrebenswert. Auf diese Weise können die Lernenden zu einer tiefen und zugleich begründbaren Wertschätzung gut gemachter Filme gelangen. Daraus ergibt sich Fäcke und Wangerin (2007: 3) zufolge die dringende Forderung nach einer ganzheitlichen Ausrichtung des filmbasierten FSU, welcher den Schüler als denkendes, fühlendes und kommunikativ handelndes Subjekt be‐ rücksichtigt. Statt einer starr ausgerichteten Gegenstandsorientierung müsse die schulische Filmarbeit demnach als Prozess gesehen werden, der individu‐ ellen Sinnkonstruktionen, kreativen sowie reflektierenden Zugangsweisen und offenen Gesprächen Raum gewährt. c) Defizitäre Aufgaben-„Kultur“ beim Abprüfen des Hörsehverstehens Mit der Verkopfung geht Bonas und Wilts (2016: 98 ff) zufolge ein weiteres oft zu beobachtendes Defizit des filmbasierten EU einher, nämlich eine zu einseitige Fokussierung auf bloßes Hörsehverstehen bei der Filmarbeit. Es steht außer Frage, dass das Hören, Sehen und Verstehen eines mehrfach kodierten Textes die Grundlage jeglicher Filmarbeit darstellen sollte. Aber auf dieser grundlegenden Ebene zu verharren, würde - vor allem in der Sekundarstufe II - einer letztlich banalen Vorgehensweise gleichkommen, da Filme weitaus mehr Potential bieten. Zudem sollte ein Film für den Unterricht von der Lehrkraft von vornherein so ausgewählt werden, dass er von den SuS verstanden werden kann - andernfalls wäre das Resultat der Filmarbeit nur eine erhebliche Demotivation und Frust bei den Jugendlichen. Derzeit sehe filmbasierter EU häufig so aus, dass die SuS eine kurze Filmsequenz schauen und parallel ein Arbeitsblatt ausfüllen müssen, das ihr Hör(seh)verstehen 10 abprüft. Typische Arbeitsaufträge seien dabei Zuordnungsaufgaben (z. B. von Aussagen zu verschiedenen Charakteren) 37 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="38"?> 11 Bei jüngeren SuS, die an das Filmschauen in der Fremdsprache herangeführt werden sollen, machen solche Aufgaben grundsätzlich Sinn. Aber in höheren Jahrgangsstufen ist eine solche Aufgaben-„Kultur“ künstlich und unangemessen. und true/ false-Ankreuzvarianten. 11 Solche geschlossenen Aufgabentypen seien insofern problematisch, als den SuS suggeriert werde, dass es lediglich ein rich‐ tiges oder ein falsches Verständnis von Texten gebe, wodurch die Lernenden in ihrem individuellen sowie ganzheitlichen Verstehensprozess gehemmt werden könnten. Bonas und Wilts (2016: 100) halten völlig zutreffend fest, dass ein „selbstbewusstes Individuum, das auch gegen Widerstände für sein Verständnis einer Filmszene eintritt“, auf diese Weise wohl kaum gefördert werden könne. Darüber hinaus gehen die Autoren auf eine problematische Konsequenz im Kontext geschlossener Aufgabenformate ein: Diese führen „fast notwendiger‐ weise zu einer Beschränkung auf solche Filme, die in ihren Aussagen eher banal, eben eindeutig, bleiben“ (ebd.: 103), was mit einem Verlust gehaltvoller sowie bedeutungsvoller Inhalte einhergehen könne. Ein auf solchen Inhalten aufbauender Unterricht würde wesentliche Bildungschancen vergeben, sowohl im Bereich der Persönlichkeitsbildung als auch hinsichtlich der ästhetischen Wahrnehmungsschulung. Aus diesem Grund muss betont werden, dass sich die Auswahl von Filmen für einen kompetenzorientierten, zeitgemäßen EU nicht dem Diktat der eindeutigen Überprüfbarkeit beugen sollte. Die Dominanz geschlossener Aufgaben bei der Filmarbeit sollte zugunsten kreativer und zum Nachdenken anregender Denk‐ anstöße in Form authentischer Kommunikationsanlässe aufgehoben werden. Statt mehr oder weniger eindeutige Informationen aus Filmszenen abzufragen, sollte das ganzheitliche Verstehen der filmischen Ästhetik und Mehrdeutigkeit sowie das Erkenntnisinteresse der Lernenden im Zentrum aller didaktischen Überlegungen stehen. d) Instrumentalisierung von Filmen Darüber hinaus wird in der Forschung die Instrumentalisierung von Filmen kritisch diskutiert: Filme würden im Unterricht „häufig […] lediglich als Unter‐ richtsmedium und weniger als Unterrichtsgegenstand“ (Blell et al. 2016: 19) eingesetzt, was eine Instrumentalisierung zur Folge habe und einen weiteren Missstand darstelle. Während ein Lernen mit dem Film häufig stattfinde, besonders um die Hörsehverstehens- oder interkulturelle Kompetenz der SuS zu fördern, werde das Lernen über den Film im EU höchstens am Rande berücksichtigt. Auf diese Weise werde der Stellenwert des Films als eigenstän‐ diges ästhetisches Kunstwerk vernachlässigt (vgl. Lütge 2012: 8; Henseler, Möller, und Surkamp 2011: 8; Nünning und Surkamp 2006: 245), wodurch die 38 II Theoretische Grundlagen <?page no="39"?> Ausbildung von Filmkompetenz letztlich verhindert werde. Diese erfordere unter anderem die Fähigkeit, das Wissen über die dem Film eigene Sprache, das komplexe Zusammenwirken kinematographischer Techniken und die kunst‐ volle Verschränkung von Ton- und Bildebene anzuwenden. Zudem habe die Forschung gezeigt, wie gewinnbringend die „Einbeziehung des Produktions- und Rezeptionskontextes eines Films im Unterricht ist“ (Surkamp 2017: 75). Blell et al. (2016: 34) integrieren das Kompetenzfeld „Film kontextualisieren“ dementsprechend in ihr Modell und formulieren die Forderung, dass SuS lernen müssten, „Filme als kulturelle Ausdrucksträger zu verstehen und sie im Rahmen ihres jeweiligen kulturellen Bezugssystems zu deuten“. Surkamp (2009: 69) betont diesbezüglich das didaktische Potential von Shake‐ speare-Verfilmungen, da mit diesen das Bewusstsein dafür geschärft werden könne, dass im intermedialen Netz um einen Ausgangstext vielfältige Interpre‐ tationen in Form unterschiedlicher Adaptionen möglich seien. Dies werde vor allem dann deutlich, wenn zu einem literarischen Text mehrere Verfilmungen vorliegen, die einander im Unterricht gegenübergestellt werden. Auf diese Weise könne eine Sensibilisierung der SuS für die Kontextgebundenheit und die damit einhergehenden Darstellungskonventionen der jeweiligen Adaptionen bewirkt werden. Somit könne gezeigt werden, dass es aufgrund der Offenheit bzw. Polyvalenz von Texten nicht ‚die eine wahre‘ Interpretation gibt. Die Beschäftigung mit Auszügen aus unterschiedlichen filmischen Adaptionen würde die Jugendlichen zudem dabei unterstützen, mögliche Ängste bezüglich des literarischen Textes abzulegen und zu einer eigenen Lesart zu gelangen. Während Surkamp eine Art best-case-Szenario in der Auseinandersetzung mit Shakespeare-Adaptionen beschreibt, hält Lütge (2012: 50) hinsichtlich der Unterrichtspraxis fest, dass eine Instrumentalisierung audiovisueller Medien noch immer häufig mit dem Einsatz von Literaturverfilmungen verbunden sei: Es sei nach wie vor gängige Praxis, die Behandlung eines Dramas oder Romans mit der Verfilmung des jeweiligen Werkes abzuschließen, wobei der Aspekt der Werktreue zum Gütesiegel für gelungene Literaturverfilmungen erklärt werde. Dies widerspricht jedoch den Grundsätzen einer integrativen Mediendidaktik, bei der nicht die Werktreue, sondern die Kunst des Medienwechsels zu berück‐ sichtigen ist. Viele der oben genannten Defizite hängen damit zusammen, dass bei einigen Lehrkräften scheinbar nach wie vor Berührungsängste und Unsicherheiten hinsichtlich des Filmeinsatzes im EU vorherrschen (vgl. Nünning und Surkamp 2006: 245). Dies führen Henseler, Möller und Surkamp (2011: 6) darauf zurück, dass die Filmvermittlungskompetenz in der universitären Lehrerbildung häufig eine untergeordnete Rolle spiele. Um diesem Missstand entgegenzuwirken, 39 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="40"?> wurde vom Arbeitskreis Filmbildung der Länderkonferenz MedienBildung ein kompetenzorientiertes Konzept für die Lehrerbildung zur „Filmbildung in der digitalen Welt“ (Bauser et al. 2020) vorgelegt. Dieses verschafft Lehrkräften einen Einblick in die verschiedenen Kompetenzbereiche der Filmbildung und be‐ nennt konkrete can do-Dimensionen, welche als Orientierungshilfe fungieren. Wenn Lehrkräfte zu ihren Bedenken hinsichtlich des filmbasierten EU befragt werden, berufen sie sich oft auf folgende fünf Konfliktbereiche: time, language, reception, goal und technology conflict (vgl. Thaler 2014: 28 f). Thaler erklärt, dass diese Konflikte mit sinnvoll ausgewähltem Filmmaterial und mithilfe geeigneter Methoden umschifft bzw. gelöst werden können. So müsse ein Film beispielsweise nicht komplett gezeigt werden, was bei den Verfahren straight through approach und segment approach der Fall ist; sandwich und clip approach bieten hier mögliche Alternativen (zu den Modes of Film Presentation vgl. Thaler 2014: 23). Eine große Herausforderung erwächst für den filmbasierten EU darüber hinaus aus einer sich stetig wandelnden Medienlandschaft, in der sich Strea‐ ming-Dienste mit ständig neuen Serienproduktionen etablieren, die laut Emp‐ fehlung der Anbieter am besten im Binge-Watching-Modus zu rezipieren sind. Dieser im Kontext der vorliegenden Arbeit zentrale Aspekt wird im nächsten Kapitel genauer beleuchtet. Neben den genannten Missständen, Defiziten und Herausforderungen bringt der Einsatz von Filmen im EU in erster Linie vielfältiges Potential und zahlreiche Vorteile mit sich. Diese Chancen werden in den meisten Publikationen zum filmbasierten EU (z. B. Sherman 2003; Henseler, Möller, und Surkamp 2011; Lütge 2012; Thaler 2014) betont, wodurch der Eindruck entstehen kann, dass es noch immer notwendig ist, eine Rechtfertigung für das Unterrichten mit Filmen vorzubringen, indem auf die Vorteile von audiovisuellen Medien explizit verwiesen wird. 1.4.2 The Perks of Learning with Film a) Motivation Hinsichtlich der Vorteile, die der Einsatz von Filmen im Unterricht mit sich bringen kann, sind in erster Linie motivationale Aspekte zu nennen. Filme gelten als authentischer, unverbrauchter sowie weniger künstlich anmutend als traditionelle Lehrwerkstexte und stoßen bei Jugendlichen aufgrund ihres Status als populäre Leitmedien häufig auf Begeisterung und fast immer auf Zustimmung (vgl. Lütge 2012: 8; Thaler 2014: 19). Durch den Einsatz geeigneter und zeitgemäßer audiovisueller Medien kann das lebensferne Image der Schule 40 II Theoretische Grundlagen <?page no="41"?> zumindest immer wieder stückweise zurückgedrängt werden. Filme können für die Zuschauenden zudem eine individuelle Bereicherung darstellen und zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen (vgl. Blell et al. 2016: 21). Darüber hinaus werden bestimmte Filme der Allgemeinbildung zugeordnet und ihre Kenntnis geht mit Prestige einher, was ebenfalls motivierend wirken kann. Zu‐ sammenfassend möchte ich erneut auf Kepsers zentrale Erkenntnis verweisen: „Schülerinnen und Schüler sind überaus interessiert daran, Spielfilme inhaltlich, formal und […] historisch zu reflektieren“ (2008: 46). b) Film als Sprachmodell: Ausbau sprachproduktiver und sprachrezeptiver Kompetenzen In einschlägigen Publikationen (z. B. Henseler, Möller, und Surkamp 2011; Lütge 2012; Thaler 2014; Blell et al. 2016) zum filmbasierten FSU wird betont, dass Filme ein enormes Potential für den Ausbau kommunikativer Kompetenzen, sowohl im sprachrezeptiven als auch im sprachproduktiven Bereich, aufweisen. Dies spiegelt sich beispielsweise im Kompetenzfeld „Filmbezogen sprachlich han‐ deln“ nach Blell et al. wider, wobei die Autoren den Bereich in sprachrezeptives (Hör-, Lese- und Sehverstehen sowie Sprachreflexion) und sprachproduktives (sprechen, szenisch spielen, schreiben) Handeln untergliedern (vgl. Blell et al. 2016: 26). Sherman bezeichnet den Film als „language model” (2003: 2) und spricht ihm für den FSU zentrale Bedeutung zu, da er nicht nur authentischen Sprachinput liefere, sondern die SuS darüber hinaus auch zum sprachlichen Output anrege (vgl. ebd.: 14). Dabei fungiere die Authentizität des Films als entscheidender Anreiz im Kontext des EU (vgl. ebd.: 2). Die Tatsache, dass in einem Großteil der Filme Muttersprachler auf Englisch miteinander kommuni‐ zieren, bringe für Lernende grundlegende Vorteile mit sich: Die Konfrontation der SuS mit authentischer Sprache, die in authentischen Kontexten gesprochen wird, könne dafür sorgen, dass sich die Jugendlichen mit dem Gesagten stärker identifizieren und am Modell des Native Speaker nachhaltiger lernen können (vgl. Haß 2006: 154; Lütge 2012: 14). Bei der Memorierung von sprachlichen Mitteln werde die Situation, in der diese präsentiert wurden, nämlich mitabge‐ speichert. Für eine nachhaltige Wortschatzerweiterung ist folglich eine authentische Situationseinbettung nötig, die die SuS motiviert, affektiv involviert und damit im besten Fall ein vernetztes Lernen von Sprachmaterial ermöglicht. Somit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, nicht nur die isolierte Vokabel, sondern auch die typische Kollokation des jeweiligen Wortes zu behalten. Dies sei insofern entscheidend, als eine sinnvolle Kombination von Wörtern in der Zielsprache als ausschlaggebend dafür gelte, als kommunikativ erfolgreich wahrgenommen 41 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="42"?> zu werden (vgl. Kerst 2011: 127). Ein für Jugendliche relevanter und emotional ansprechender Film könne in besonderem Maß dafür sorgen, dass sprachliche Inhalte, die als words in context audiovisuell ansprechend verpackt sind, „prak‐ tisch automatisch behalten werden“ (ebd.: 128). Auch Lütge führt die Kraft des Films hinsichtlich der Memorierung sprachlichen Inputs darauf zurück, dass die SuS sich die englische Sprachmelodie beim intensiven filmischen Sprachbad einprägen können; das Zusammenwirken von Bild und Ton bewirke eine erhöhte Merkfähigkeit (vgl. Lütge 2012: 14). Somit stellen Filme einen wichtigen Anhaltspunkt bei der nachhaltigen Speicherung von Redemitteln dar. Haß und Kieweg (2013: 58) zufolge rangiert das mehrmalige Sehen von Filmen auf Englisch nach dem Spracherwerb im Ausland an zweiter Stelle der effektiven Methoden für das Lernen einer Fremdsprache. Diese Auffassung teilt Sherman, die festhält, dass nur eine regelmäßige Filmrezeption die Menge bzw. das Maß an authentischem Sprachinput zur Verfügung stellen könne, von dem SuS beispielsweise bei einem längeren Aufenthalt im englischsprachigen Ausland profitieren würden. Ob durch einen längeren Auslandsaufenthalt oder durch häufig praktiziertes Schauen von Filmen auf Englisch, „students need such exposure because to learn to speak to people they must see and hear people speaking to each other“ (Sherman 2003: 14). Mit dem sprachaktivierenden Charakter des Films gehe zudem ein Auffor‐ derungspotential einher, das die SuS zum Sprechen und Schreiben animiere (vgl. Leitzke-Ungerer 2009: 14). Der intrinsische Drang, sich über einen Film auszutauschen, um Bedeutungen und Sinnangebote aushandeln zu können, sei dabei untrennbar mit dem Filmkonsum verbunden. Dies könne nutzbar gemacht werden für einen kommunikativ ausgerichteten Sprachunterricht, der bestrebt ist, authentische Sprech- und Schreibanlässe zu schaffen (vgl. Blell et al. 2016: 21). Mittlerweile stehe fest, dass Filme stärker als schriftsprachliche Texte zu emotionalen Reaktionen und persönlichen Stellungnahmen in Bezug auf das dargestellte Geschehen herausfordern (vgl. Surkamp 2017: 73). Henseler, Möller und Surkamp (2011: 15) zufolge unterstützen Filme die affektiv-emotionale Seite des Fremdsprachenlernens in entscheidender Weise. Damit verbunden ist ein wichtiger Aspekt im Kontext des inter- und transkulturellen Lernens, worauf im Folgenden eingegangen wird. c) Film als Fenster zu anderen Kulturen Durch Filme werden andere Kulturen „nicht nur kognitiv, sondern auch emo‐ tional erlebbarer“ (Lütge 2012: 7), da die beim Filmschauen erzeugten Affekte und Gefühle Anreize für Empathie, emotionale Teilhabe und Identifikation schaffen können. Diese Aspekte gelten als wichtige Voraussetzung für einen 42 II Theoretische Grundlagen <?page no="43"?> gelingenden Perspektivenwechsel, welcher für interkulturelles Verstehen uner‐ lässlich ist (vgl. Schumann 2009: 173). Bredella hält diesbezüglich fest, dass Filme „einen differenzierten Einblick in die Gedanken, Gefühle und Handlungsmotive von Charakteren [gewähren], wie dies in der Lebenswelt nur selten möglich ist“ (2017: 151). Mithilfe geeigneten Filmmaterials könne darüber hinaus eine Reflexion über kulturelle Aspekte angestoßen werden, was die Chance auf eine Erweiterung des kulturellen Horizonts der Lernenden erhöhe. Stempleski und Tomalin (2001: 1) verdeutlichen den Mehrwert des Films für kulturelles Lernen folgendermaßen: The medium of film is excellent at communicating cultural values, attitudes, and behaviours. It is very effective at bringing the outside world into the classroom and providing a stimulating framework for classroom communication and discussion. Darüber hinaus halten Filme Möglichkeiten zur Thematisierung von global bedeutsamen Fragestellungen und Themen bereit, welche im Rahmen des trans‐ kulturellen Lernens nutzbar gemacht werden können (vgl. Leitzke-Ungerer 2009; Rösch 2007; Blell und Doff 2014). Blell und Doff (2014: 83) äußern folgende Hoffnung: „[T]he modern EFL-language classroom will increasingly include globally oriented cultural media (literature, image, film etc.) that negotiate global and cross-cultural topics and movements as well”. Dies sei bislang nicht in aus‐ reichendem Maße geschehen: Bis dato hätten Prozesse der Globalisierung und damit einhergehende (beispielsweise kulturwissenschaftliche) Theoriekonzepte nur oberflächlich Einzug in den EU gefunden - wenn überhaupt (vgl. ebd.: 77). Hier besteht also Handlungsbedarf, welchem durch den Einsatz geeigneter Filme und Serien Rechnung getragen werden kann, was im Kontext der vorliegenden Arbeit am Beispiel von HoC verdeutlicht werden soll. Die Chancen, die der Film als Sprachmodell sowie als Fenster zu anderen Kulturen bietet, können zugleich als Zieldimensionen aufgefasst werden, was ich mit meinem Modell der Filmkompetenz illustrieren möchte. 43 1 Filmdidaktik: Konzepte, Begriffe, Entwicklungen und Desiderata <?page no="44"?> 12 Im Modell abgekürzt als HSV. 1.5 All these Aspects Considered: Einführung eines Filmkompetenz-Modells Abb. 4: Filmkompetenz-Modell (eig. Darst.) Meiner Ansicht nach sollte die Ausbildung von Filmkompetenz im Zentrum film‐ didaktischer Überlegungen stehen, was sich auch in meinem Modell widerspiegelt. Filmkompetenz impliziert das Potential, sich rezeptiv, reflexiv und produktiv mit dem Medium Film auseinandersetzen zu können. Dafür sind fünf interdependente Teilkompetenzen erforderlich, auf die ich kurz eingehen möchte: ● Grundvoraussetzung für einen kompetenten Umgang mit audiovisuellen Medien stellt ein gelingendes Hörsehverstehen 12 dar: Bildsprache und Tonspur müssen zueinander in Beziehung gesetzt und als zusammenwir‐ kende Elemente betrachtet werden. ● Das Verstehen eines Films, welches häufig prozesshaft verläuft, kann durch kommunikative Aushandlung (z. B. sprechend, schreibend, spie‐ lend) entscheidend unterstützt werden. Mit dem Spielen im Anschluss an Filme sind Gedankenspiele, Rollenspiele und andere spielerisch-kreative Verfahren gemeint, die den konstruktiven Umgang mit komplexen Filmen unterstützen können. Die kommunikative Dimension der Filmarbeit ist dabei als grundlegend für sämtliche Kompetenzfelder zu erachten. ● Um sich kompetent im sogenannten Handlungsfeld ‚Film‘ bewegen zu können und beispielsweise qualitativ hochwertige Filme von weniger überzeugenden Produktionen unterscheiden zu können, benötigen Jugendliche sowohl film‐ ästhetische als auch filmkritische Kompetenz. Dementsprechend muss im Unterricht eine Balance aus Filmgenuss und kritischer Filmarbeit sichergestellt werden, da beide Aspekte einander bedingen. Filmästhetische und filmkritische 44 II Theoretische Grundlagen <?page no="45"?> 13 Y2K meint das Jahr 2000. Kompetenz erfordern solide Wissensbestände hinsichtlich filmspezifischer Gestaltungsmittel und deren Funktion sowie Wirkweise. Dabei spielen film‐ analytische Kenntnisse eine wichtige Rolle. Filmanalyse sollte im Unterricht funktional auf das Verstehen und Genießen von Filmen ausgerichtet sein, so dass subjektive Rezeptionseindrücke und Reaktionen auf den gesehenen Film erklärbar gemacht werden können (vgl. Blell et al. 2016: 20f). ● Das Kompetenzfeld „Film kontextualisieren“ ist dem Modell von Blell et al. (2016) entnommen und besagt, dass ein rein textimmanentes Interpre‐ tieren meist nicht ausreicht, um zu einem tieferen Verständnis des jewei‐ ligen Films zu gelangen; dies macht es erforderlich, den politischen, sozialen, kulturellen und/ oder gesellschaftlichen Kontext von Filmproduktion und Filmrezeption zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 32). Je nach Film oder Serie können ganz unterschiedliche Kontexte relevant sein. Wie sich das Modell mit konkreten Inhalten füllen lässt, wird in Punkt 4.2.2 dargestellt. 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära Die von Edgerton (2015: 33) verwendete Formel Y2KTV 13 steht für die Fern‐ sehrevolution ab der Jahrtausendwende, wobei Nesselhauf und Schleich mit der Bezeichnung „Fernsehen 2.0“ (2016: 10) ein deutsches Begriffspendant schufen. Thaler prägte den Terminus „Lit21“ (Thaler 2019a: 13; Thaler 2019b: 5) und meint damit die neuen literarischen Genres des 21. Jahrhunderts (z. B. Text-Talk-Fiction, Digi Fiction, Crisis Fiction). Dementsprechend erscheint auch ein Begriff wie TV21 sinnvoll, der Phänomene wie Smart TVs, Video-on-Demand, Binge-Watching, Pay TV, Complex bzw. Quality TV impliziert. Darauf soll im Folgenden eingegangen werden. 2.1 Der Erfolgszug von Video-on-Demand-Diensten Will man die grundlegende Neuentwicklung des Fernsehens im 21. Jahrhundert nachvollziehen, sollte zunächst die zunehmende Verschmelzung zwischen dem traditionellen Fernsehen und dem Internet erwähnt werden, die den Anstoß für zahlreiche Transformationen gab und gibt. Im Zuge der Digitalisierung erhielten Smart TVs Einzug in den deutschen Durchschnittshaushalt, wodurch Aspekte wie Personalisierung und Individualisierung begünstigt wurden. Lotz 45 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="46"?> 14 Im Folgenden mit VoD abgekürzt. (2007: 245) fasst die aktuellen Entwicklungen rund um das Phänomen TV21 anhand von 5 Cs zusammen und nennt diese choice, control, convenience, customization und community, wobei Schlütz (2016: 96) convergence hinsichtlich der technischen Geräte ergänzt. Aufgrund des tiefgreifenden Wandels der Distributions- und Rezeptionsbedingungen, welche das „post-televisuelle[…] Zeitalter“ (Köhler 2011: 25) mit sich bringt, werden auch die Optionen der Zuschauenden mit Blick auf Partizipation sowie Interaktion potenziert. Dabei spielt die Emanzipation des Publikums eine wichtige Rolle: Statt sich den Vorgaben eines linearen Fernsehprogramms zu unterwerfen, seien die Rezipi‐ enten zu Programmmanagern geworden, die sich ihre Inhalte gezielt aussu‐ chen und anschließend anschauen würden, wann, wo und wie sie möchten (vgl. Groebel 2014: 9 f). Diese Entwicklung wäre ohne den Erfolgszug der Video-on-Demand  14 -Dienste undenkbar gewesen. Die Nutzung von VoD, welche auch als Streaming bezeichnet wird, erfreut sich zunehmend großer Beliebtheit, während sich der Anteil des (klassischen) linearen Fernsehens innerhalb der letzten beiden Jahre von fast der Hälfte auf etwas mehr als ein Viertel (29 %) des Zeitbudgets verringerte (vgl. Fuhr 2018). In Deutschland verdreifachte sich die Anzahl der Abonnenten von VoD-Diensten innerhalb der letzten Jahre nahezu, was folgende Statistik (SevenOne Media 2020: 5) illustriert: Abb. 5: Nutzung von Video-on-Demand in Deutschland (Quelle: SevenOne Media) 46 II Theoretische Grundlagen <?page no="47"?> 15 Die in diesem Kapitel abgebildeten Statistiken sind den von Statista 2020 veröffent‐ lichten Daten zu „Video-on-Demand in Deutschland“ entnommen. 16 FFA steht für Filmförderungsanstalt. 17 BVV steht für Bundesverband Audiovisuelle Medien. Netflix etablierte sich mit ambitionierten Eigenproduktionen seit 2013 als Marktführer unter den Streaming-Diensten und gilt deshalb als „Strea‐ ming-Branchenprimus“ (Schuler 2020). Dabei wurde der Serie HoC eine Schlüs‐ selrolle zuteil, da sie als erste Netflix-Eigenproduktion einen entscheidenden Punkt in der Erfolgsgeschichte des Unternehmens markierte und als mehrfach ausgezeichnete Qualitätsserie einen neuen Standard begründete, worauf ich noch im Detail eingehen werde. Der Geschäftsführer von Netflix, Reed Hastings, prophezeite am Ende des Jahres 2014 den Tod des klassisch-linearen Fernsehens bis 2030 und sorgte mit dieser Prognose für kontroverse Diskussionen (vgl. dazu auch Lampprecht 2015). Bei der Betrachtung aktueller und repräsentativer Zahlen wird deutlich, dass Hastings Recht behalten könnte, da VoD-Dienste das Medienverhalten insbesondere der unter 30-Jährigen entscheidend prägen. Laut JIM-Studie 2019, in deren Rahmen 1200 Teenager im Alter von zwölf bis 19 Jahren befragt wurden, greifen 73 % der in Deutschland lebenden Jugendlichen regelmäßig auf Streaming-Dienste zurück, wobei die Zahl der VoD-Nutzenden bei den 16bis 17-Jährigen bei 82 % und bei den 18bis 19-Jährigen sogar bei 84 % liegt (vgl. JIM 2019: 6). Zwischen den Jahren 2017 und 2018 zeigt die Studie einen enormen Anstieg von 54 % auf 77 % hinsichtlich der Abonnements bei VoD-Anbietern (vgl. ebd.). Nach einem minimalen Rückgang der Zahlen im Jahr 2019 ändert sich die Bilanz im Corona-Ausnahmejahr nochmal zugunsten von VoD, wobei solche Plattformen (hier ist auch YouTube eingeschlossen) von 82 % aller Jugendlichen genutzt werden (vgl. JIMplus 2020, Pressemitteilung). Doch nicht nur bei Heranwachsenden, sondern auch bei der Über-50-Generation wächst der Anteil derer, die kostenpflichtige Streaming-Dienste nutzen, stetig (vgl. Tagesschau 2021). Die unten abgebildete Statistik 15 (FFA 16 , BVV 17 2019: 30) ist in diesem Kontext aufschlussreich, da sie die Umsätze in den einzelnen Segmenten des deutschen Home-Videomarktes im Jahr 2018 sowie Prognosen für 2019 und 2020 aufzeigt. Im Segment SVoD (Subscription Video on Demand) werden die Umsätze laut GfK-Prognose 2020 bei rund 1,4 Milliarden Euro liegen, wobei die tatsächlichen Umsätze in der Corona-Sondersituation deutlich höher ausfielen (vgl. nächster Punkt). 47 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="48"?> Abb. 6: Trends im deutschen Home-Videomarkt (Quelle: FFA; BVV) Folglich kann festgehalten werden, dass das traditionelle TV-Gerät keineswegs mehr die einzige Erscheinungsform des Fernsehens darstellt. Stattdessen sorgen Onlineplattformen, Downloadhubs und Streaming-Dienste wie Netflix, Amazon Prime, Hulu, Sky on Demand und seit 2019 auch Apple TV+ sowie Disney+ für erhebliche Konkurrenz und sichern sich zunehmend die Vormachtstellung als TV21-Avantgarde. Selbstverständlich ist diese Streaming-Avantgarde nicht gratis und gehört zum Pay-TV-Sektor, welcher auf ein kaufkräftiges und gebil‐ detes Publikum setzt, dessen Bedürfnisse im Free-TV nicht befriedigt werden können (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016: 44). Bei einer repräsentativen Befragung der 14bis 69-jährigen Abonnenten geben diese folgende Gründe an, warum sie VoD-Dienste dem linearen Fernsehen vorziehen (vgl. TNS Infratest 2018: 24): ● Zeitunabhängigkeit, Flexibilität, Mobilität: immer das sehen können, was, wann und wo man möchte; ● Möglichkeit, mehrere Folgen einer Serie am Stück zu schauen aufgrund der Aufhebung des weekly-release-model; ● keine Werbeunterbrechungen; ● schnellere Verfügbarkeit aktueller Spielfilme und Serien; ● größere Auswahl (hochwertige Nischenprodukte auch abseits des Main‐ streams). 48 II Theoretische Grundlagen <?page no="49"?> Vor allem hinsichtlich des letzten Punktes konnte Netflix seine Vormachtstel‐ lung im Wettkampf der VoD-Anbieter erfolgreich behaupten, was im nächsten Punkt erläutert wird. 2.2 Das Netflix-Imperium Bei Netflix handelt es sich um „the most successful company in the newest distribution sector of the television industry” (Edgerton 2015: 48). Das US-Un‐ ternehmen fing 1997 als Online-Videothek mit dem Postversand von DVDs an. Zehn Jahre später wagte Netflix den Einstieg in das VoD-Geschäft und schaffte 2013 mit HoC den großen Durchbruch (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016: 209). Die Erfolgsstrategie von Netflix kann mit folgendem Zitat von Reed Hastings erläutert werden: „If the Starbucks secret is a smile when you get your latte… ours is that the Web site adapts to the individual’s taste”. Ebenso wie Starbucks bekannt dafür ist, Kaffeeprodukte für sämtliche geschmackliche Vorlieben im Repertoire zu haben, verfolgt auch Netflix eine Strategie des „Narrowcasting“ (Lampprecht 2015: 24) mit Nischenprodukten für jeden Geschmack. Anstelle eines Broadcastings, welches ein williges Massenpublikum voraussetzt, ist mit Narrowcasting „das gezielte Bedienen von Sparteninteressen“ (ebd.) gemeint, welches Streaming-Dienste wie Netflix durch eine „datafication of the audience“ (Arnold 2016: 53) problemlos erreichen können. Arnold erläutert dies folgen‐ dermaßen: […] Netflix gains insights on, and develops recommendation models for, individual subscribers. In addition, it acquires insights on overall, total audience patterns and behaviors. It can assess the performance of individual assets (TV shows or films) much more closely and with much greater accuracy. With large amounts of data on overall user engagement […], it can more quickly act (to purchase or remove content). It can […] target content to users more effectively, based on the way in which such data can be used to predict viewing patterns (ebd.). Hastings bezeichnet sein Unternehmen dementsprechend als „learning ma‐ chine”, die jede neue Veröffentlichung hinsichtlich ihres Erfolgs beim Publikum genauestens unter die Lupe nehme: „Every time we put out a new show, we are analyzing it, figuring out what worked and what didn’t so we get better next time”. Letztlich geht es also um eine effektive Befriedigung von Zuschau‐ erwünschen, wobei die Inhalte möglichst passgenau auf die Konsumenten zugeschnitten werden. Netflix repräsentiert mit diesem Erfolgsrezept heute „wie kein anderer Anbieter prototypisch […] das nicht-lineare Fernsehen“ (Schleich und Nesselhauf 2016: 209). Zudem tut sich der VoD-Anbieter mit ambitionierten 49 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="50"?> Eigenproduktionen hervor, die den Abonnenten staffelweise zur Verfügung gestellt werden. Die Corona-Krise habe Netflix zusätzlich dabei geholfen, den Vorsprung gegenüber anderen Streaming-Diensten noch weiter auszubauen, was Schuler (2020) in seinem Artikel „Netflix boomt. Rekord in der Corona-Krise“ darlegt. Ihm zufolge sind Netflix seit Beginn des Jahres 2020 Zuwächse im zweistelligen Millionenbereich (die Rede ist von 15,7 Millionen Neu-Abonnenten) gelungen. Ende Januar 2021 weist das Unternehmen mehr als 200 Millionen zahlende Kunden auf und übertrifft damit sämtliche Prognosen (vgl. Tagesschau 2021). Dies hängt beispielsweise damit zusammen, dass Netflix von der Corona-be‐ dingten Schließung der Kinos sowie vom kurzzeitigen Fußball-Aus und den dadurch entstandenen Lücken im linearen Fernsehprogramm profitierte: Wenn früher „Wetten, Dass…“ oder „Verstehen Sie Spaß? “ im Fernsehen lief, versam‐ melte sich die Familie am Samstagabend vor dem Fernseher. Netflix gelingt genau das in Corona-Zeiten. Das Lagerfeuer ist zurück, nur, dass es jetzt digital ist. Die Dokuserie „Tiger King“ über einen schrägen Züchter von Tigern, der schließlich im Gefängnis landet, kommt allein auf 64 Millionen Zuschauer (Schuler 2020). Auch wenn die Karten für Netflix momentan gut zu sein scheinen, steht fest: „Netflix and its competitors will face new challenges as media, technology, and entertainment industries continue to evolve“ (McDonald und Smith-Rowsey 2016: 11). 2.3 Der Netflix-Effekt und seine Konsequenzen Auf den ersten Blick brachte der Netflix-Effekt vor allem eine Vielfalt namhafter Serien mit sich (z. B. HoC, Orange Is the New Black, 13 Reasons Why, Stranger Things, Sex Education, Away u.v.m.). Dies ist unter anderem auf strategische Gründe zurückzuführen: Serien schaffen für die Rezipienten wiederholt und damit langfristig Anreize, den jeweiligen Anbieter zu abonnieren - zum Beispiel, um eine neue Staffel sehen zu können. In ihrer Beschaffenheit „als mehrteilige Abfolgen abgegrenzter, aber miteinander verbundener Filme“ (Schlütz 2016: 29) liegt also einer der Vorteile von Serien für Streaming-Dienste. Serien zeichnen sich durch eine Verknüpfung von einzelnen Episoden auf formaler (Ausstrah‐ lungsrhythmus, Vorspann, Titelmelodie), inhaltlicher (Personen, Handlungen, Schauplätze, Themen, Motive) und struktureller Ebene (Handlungskomposition, Aufmachung) aus, durch die eine kontinuierliche Erzählung entsteht (vgl. ebd.). So oder ähnlich beschaffene serielle Formate sind jedoch nicht erst seit dem TV21-Zeitalter populär, sondern haben eine lange Tradition (vgl. Einleitung der 50 II Theoretische Grundlagen <?page no="51"?> vorliegenden Arbeit). Heute wie damals fungieren Serien als Zufluchtsort für die Zuschauenden, da sie aufgrund ihrer kontinuierlichen Elemente (Figuren, Themen, eventuelle running gags) Sicherheit und Verlässlichkeit suggerieren. Anders als bei einem neuen Film weiß der treue Serienfan genau, auf was er sich einzustellen hat. Zudem kann mit einem abendlichen Serienritual das Bedürfnis nach einer Strukturierung des Tagesablaufs befriedigt werden. Ein wöchentli‐ ches Schauen der jeweiligen Serie am immer gleichen Wochentag, zu einer be‐ stimmten Uhrzeit wurde durch das sogenannte weekly-release-model im Rahmen des traditionellen Free-TV begünstigt. Dieses Modell gehört mittlerweile jedoch der Vergangenheit an, da die meisten Serien heutzutage staffelweise veröffent‐ licht werden. Somit können neue Serien ohne Wartepausen am Stück genossen werden, was den Weg für den Medienkonsumtrend Binge-Watching ebnete. 2.3.1 A New Age of Binge-Watching Binge-Watching, das laut Oxford Learner’s Dictionary (Online) „the practice of watching several episodes of a TV show on one occasion“ meint, gilt mittlerweile als gängige Konsumweise für das Schauen von Serien (vgl. McCormick 2016: 101; Schlütz 2016: 130). Schleich und Nesselhauf (2016: 210) zitieren beispiels‐ weise eine repräsentative Umfrage unter Netflix-Nutzern aus dem Jahr 2013, bei der über 60 % der Befragten angeben, regelmäßig zu „bingen“, was für 73 % bedeutet, zwei bis sechs Episoden am Stück zu konsumieren. Allerdings herrscht Uneinigkeit hinsichtlich einer genauen Abgrenzung, ab wie vielen Episoden von Binge-Watching zu sprechen ist. McCormick (2016: 101) definiert binging als das Schauen von „three or more episodes in a row“ und betont die Chancen eines solchen Serienmarathons: „[B]inging is a productive, often deliberate, and potentially transformative mode of viewing. […] I do think the lived experiences of binge-viewing reveal more complex relations of narrative power“ (ebd.: 104). Binge-Watching kann folgende Vorteile mit sich bringen: ● ein intensiveres Erlebnis des Gesehenen durch die Ermöglichung eines vollständigen Eintauchens in die fiktive Welt; ● eine stärkere emotionale Bindung der Zuschauenden an die Seriencharak‐ tere; ● den ungetrübten Genuss des Serienerlebnisses, da das Risiko minimiert wird, durch Spoiler enttäuscht zu werden. Snider hingegen konzentriert sich auf den schädlichen Einfluss, den ein maß‐ loser Konsum auf die Rezipienten haben könnte, wobei er folgende Begriffs‐ bestimmung vornimmt: Binge-Watching ist „the process of viewing an entire season of a particular series, if not even an entire series, by watching all of 51 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="52"?> its episodes back-to-back for excessive, uninterrupted periods of time“ (Snider 2016: 117). Diese Betonung des Exzessiven deckt sich mit dem Wortbestandteil binge, der zahlreiche gesundheitsgefährdende Assoziationen wie Sucht, Gelage, Kontrollverlust und Völlerei weckt. Ähnlich wie beim Binge-Drinking und Binge-Eating spricht auch der SZ-Journalist Richter in „Filme schauen, bis der Arzt kommt“ von einer Strapaze für Geist und Körper (vgl. Richter 2013) und beurteilt den Serienkonsum dementsprechend als gefährlich, was im Folgenden untersucht wird. 2.3.2 Serienkonsum als Gefahrenzone 2.3.2.1 Eskapismus oder Lost in Streaming Snider sieht beim marathonartigen Schauen von komplexen Serien wie Mad Men, Breaking Bad oder HoC das Risiko, dass das zu schnell und somit unver‐ arbeitet bleibende Gesehene schädliche Auswirkungen auf die Zuschauenden haben könne: „[It] ultimately hinders viewers‘ real world judgments and inter‐ personal relationships“ (Snider 2016: 117). Das Serienpublikum könne durch die Flucht in die Welt der Serie - Snider bezeichet dies als over-immersing - ein Übermaß an Empathie für die fiktionalen Figuren entwickeln und damit den Bezug zur Realität verlieren, worunter insbesondere zwischenmenschliche Beziehungen zu leiden hätten. Dies könne vor allem für leicht beeinflussbare Jugendliche eine Gefahr darstellen, wenn sie sich von ihrer Begeisterung für das Gesehene unreflektiert mitreißen ließen. Aspekte wie Vermeidung, Verdrängung und Flucht vor den Problemen des echten Lebens könnten dabei zum Tragen kommen. Auf solche durch einen exzessiv betriebenen Eskapismus verursachte negative Auswirkungen weist beispielsweise Begley (2015) in ihrem Artikel für das Time Magazine hin: Einer in Texas durchgeführten Studie zufolge sind für Binge-Watching vor allem Menschen anfällig, die mit Einsamkeit und Depressionen zu kämpfen haben und sich nach einer Fluchtmöglichkeit in eine fiktive Welt sehnen. „The researchers said that binge-watching should no longer be seen as a ‘harmless addiction’, and pointed out that the activity is related to obesity, fatigue, and other health concerns” (Begley 2015). In diesem Kontext stößt insbesondere der von Netflix initiierte Auto Play-Modus auf Kritik. Dieser Algorithmus wurde programmiert, um ein völlig reibungsloses Serienerlebnis sicherzustellen, bei dem am Ende einer Episode unverzüglich die nächste Folge gestartet wird. Als Zuschauer muss man also nicht einmal zur Fernbe‐ dienung greifen, wodurch eine bewusste Entscheidung für ein Weiterschauen gewissermaßen ausgehebelt wird. Selbst wenn eine Serie beendet ist, wird den Konsumenten ein neuer Streaming-Inhalt vorgeschlagen, der auf das bisherige 52 II Theoretische Grundlagen <?page no="53"?> User-Profil zugeschnitten ist (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016: 212). Für eine reibungslose Flucht in fiktive Serienwelten und für einen störungsfreien Verbleib in diesen wird von den VoD-Diensten also auf geschickte Weise gesorgt. 2.3.2.2 Zunahme an expliziten Gewalt- und Sexszenen Über den fortwährenden Zuwachs an Gewalt-, Mord- und Sexdarstellungen in Serien wird derzeit viel geschrieben und berichtet (vgl. z. B. Däwes 2015; Johnson 2005; Hamburger 2018; Mayer 2019; Kunczik und Zipfel 2006). Kunczik und Zipfel sprechen von einer „Publikationsflut“ (2006: 11) hinsichtlich der möglichen sozialschädlichen Auswirkungen im Kontext medialer Gewaltdar‐ stellungen und schätzen die Zahl der dazu veröffentlichten Studien auf über 5000 (ebd.). Die verstärkte Aufmerksamkeit diesbezüglich hängt wohl mit folgendem Aspekt zusammen: „[…] we get to see the bodily details of […] violence in ways that would have been unimaginable just fifty years ago” ( Johnson 2005: 190). Die Welt werde als „böser, hasserfüllter Ort“ (Mayer 2019) inszeniert und Gewalt gehöre zu den grundlegenden Handlungselementen in Serien wie Dexter, American Gods, Spartacus, Vikings, Hannibal, The Walking Dead oder Game of Thrones. In Anbetracht des primär von Jugendlichen praktizierten exzessiven Schauens von Serien, die Gewalt und auch sexuelle Inhalte offen zur Schau stellen, wurden zur Vorsicht mahnende Stimmen laut. Dies möchte ich an zwei Beispielen aus der aktuellen Serienlandschaft kon‐ kretisieren: Im Zentrum der Kritik stand die 2017 veröffentlichte Netflix-Serie 13 Reasons Why, welche aufgrund von Themen wie Vergewaltigung und Suizid eine Art „Werther-Effekt“ (Künzl 2019) bewirkt haben soll. Dies führte zu Warnungen von Suizidpräventionsorganisationen, die besorgt waren, dass die expliziten Szenen Traumata auslösen könnten - insbesondere bei Teenagern, dem Zielpublikum der Dramaserie (vgl. Hollmer 2017). Auch wenn Netflix auf die Warnungen und Vorwürfe reagierte (u. a. durch die Erstellung einer Liste mit Anlaufstellen für Suizidprävention und durch einen von den Hauptdarstellern der Serie ausgesprochenen Warnhinweis bezüglich der potenziell verstörend wirkenden Inhalte), wurde an der viel kritisierten Altersfreigabe der Serie ab 16 Jahren nichts geändert. Dies hängt damit zusammen, dass weder die FSK (freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) noch die KJM (Kommis‐ sion für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten) die Befugnis hat, „gegen internationale Streamingdienste mit Sitz im Ausland […] vor[zu]gehen“ (Hollmer 2017), selbst wenn die Inhalte über Streaming-Dienste in Deutschland verfügbar sind. Netflix nimmt eine Prüfung seiner Inhalte in Eigenregie vor und lehnt eine Verpflichtung zur FSK bis heute ab. Nichtsdestotrotz schützt der Streaming-Anbieter die jüngere Zuschauerschaft durch die Schaltung entspre‐ 53 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="54"?> 18 Der Autor der Romanvorlage von Game of Thrones, George R.R. Martin, reagierte schriftlich auf die Vorwürfe hinsichtlich der Brutalität der Serie und stellte klar, dass er eine Auslassung solcher Aspekte als „falsch und unehrlich“ (Schmieder 2014) im Kontext der Kriegsthematik empfunden hätte. 19 Bei der Auflistung der Gründe orientiere ich mich größtenteils an den Ausführungen von Kunczik und Zipfel (2006: 61-74). chender Warnhinweise, durch die Möglichkeit einer Kindersicherung in Form einer vierstelligen PIN und durch die Option, ein Kinderprofil mit geeigneten Inhalten zu erstellen (vgl. dazu z. B. Winterbauer 2017). Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass Jugendliche sich mit solchen Kindersicherungen besser auskennen dürften als ihre Eltern. Gerade eine Serie wie 13 Reasons Why, die mehrere Monate im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit stand, wirkte auf Teenager - vermutlich verstärkt durch den Reiz des potenziell Gefährlichen und Verbotenen - anziehend. Nicht nur 13 Reasons Why, sondern auch die erfolgreiche HBO-Serie Game of Thrones sah sich mit Vorwürfen konfrontiert, wobei im Fall von Game of Thrones vor allem die Inszenierung von „[z]u viel Suff, Sex und Mord“ (Schmieder 2014) kritisiert wurde. Im Rahmen einer Alles-muss-gezeigt-werden-Devise wurden Inzest, Vergewaltigungen, Foltersowie Hinrichtungsszenen zur Schau gestellt. 18 Ähnlich wie Leroy (2015: 288) stellt auch der SZ-Journalist Mayer (2019) in diesem Kontext die Frage in den Raum, wie man sich menschliche Abgründe dieser Art als Zuschauer antun könne. Mayer (2019) hält es für mög‐ lich, dass solche Serien als eine Art Mutprobe oder Aufputschmittel fungieren könnten. Fest steht, dass der Reiz, der von gewaltvollen Inhalten ausgeht, seit jeher Bestand hat (vgl. Wuketits 2000; Johnson 2005; Hamburger 2018). Johnson (2005: 189 f) hält diesbezüglich fest: „Violence has always been a constant in the narratives we tell ourselves - it’s part of that tendency of narrative to seek out the extremes of human experience”. Folgende Argumente und Ansätze werden herangezogen, um das menschliche Bedürfnis nach medialen Gewaltdarstellungen erklärbar zu machen: 19 ● ästhetische Funktion, indem Brutalität als Stilmittel eingesetzt wird, was Leroy (2015: 298) als „aesthetic pleasure in television killing as an art form” bezeichnet; dies wird beispielsweise in Tarantino-Filmen praktiziert; ● evolutionstheoretische Ansätze, die gewalttätiges Verhalten in der Entwick‐ lung der Menschheit verorten; ● Mood-Management durch mehr Aufmerksamkeit, Erregung und Spannung beim Konsum gewalthaltiger Medieninhalte, was oftmals mit einem „Sen‐ sation-Seeking“ (Kunczik und Zipfel 2006: 66) einhergeht; damit ist die 54 II Theoretische Grundlagen <?page no="55"?> Sehnsucht „nach neuen, intensiveren und risikoreicheren Reizen und Er‐ fahrungen“ (ebd.) gemeint; ● Genugtuung, wenn Gewaltanwendung und daraus resultierendes Leid als gerechte Bestrafung empfunden wird (z. B. in Selbstjustizfilmen der Kate‐ gorie Rape and Revenge); ● Gruppenzugehörigkeit und Identitätsbildung, um „mitreden“ (ebd.: 69) zu können; Medien, die besonders grausame Gewaltdarstellungen beinhalten, können unter Jugendlichen als Übergangsmedien zur Erwachsenenwelt gelten; ● Angstbewältigung und Angstlust. Mayer (2019) zufolge wirkt das, was früher eine solche Angstlust auslösen konnte, heute oft banal, was seiner Ansicht nach mit den „abgestumpfte[n] Streaming-Opfer[n]“ (ebd.) zusammenhängt. Dieser Verdacht der gefühlskalten Konsumenten ohne Hemmschwelle soll im Folgenden untersucht werden. 2.3.2.2.1 Jugendliche und mediale Gewalt Der öffentliche Diskurs zum Thema „Mediengewalt und Jugend“ könnte eine ganze Dissertation füllen; an dieser Stelle soll jedoch eine Verkürzung durch Konzentration auf wesentliche Punkte stattfinden. Zunächst muss betont werden, dass Gewaltdarstellungen kein Phänomen neuer Medien sind, sondern seit jeher publikumswirksam zum Einsatz kommen. Dies führt Kunczik und Zipfel (2006: 29) zu folgender bewusst provokativ formulierten Überlegung: Während ein Mord bei Shakespeare oder Homer als Bestandteil eines Kunstwerkes ein so genanntes Bildungsgut darstellt, wird ein vergleichbares Delikt etwa im Rahmen einer Fernsehserie als Ausgeburt niederer Massenkultur angesehen, auf die der Kulturkritiker nur mit Abscheu blicken kann. Es gilt die Faustregel: Je länger ein Autor tot ist, desto höher die Chance, dass Gewalt als Kunst interpretiert wird. Pauschalurteile hinsichtlich einer Brutalisierung der Gesellschaft durch die der Populärkultur angeblich inhärente Mediengewalt sind laut Fischer (2018: 1) omnipräsent. Vor allem im Hinblick auf die jugendliche Mediennutzergruppe seien Begriffe wie Abstumpfung, Verstörung, Nachahmung und Verrohung üblich. Fischer (ebd.) übt Kritik an jenem öffentlichen Besorgnis-Diskurs, der vieles übersehe, populistisch stark verkürze und aus diesem Grund keine geeignete Grundlage für eine fundierte Einschätzung und Beurteilung des Themenkomplexes „Mediengewalt und Jugend“ darstellen könne. Tatsächlich herrscht inzwischen Konsens darüber, dass eine direkte Wirkung gewaltbezogener Medieninhalte auf das Handeln des Betrachters nicht nachgewiesen werden kann. 55 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="56"?> Vielmehr ist davon auszugehen, dass nur bestimmte Individuen und Problemgruppen negativ auf spezifische Formen medialer Gewalt reagieren (Meister et al. 2008: 178). Als empirisch erwiesen gilt auch, dass mediale Gewaltdarstellungen von Jugendlichen als alltägliches Fernseherlebnis, von dem ein besonderer Reiz ausgeht, empfunden werden (vgl. Meister et al. 2008: 47 f; Hartmann 2013: 109). Gewaltbezogene Genres erfreuen sich bei Teenagern großer Beliebtheit, was jedoch nicht mit einem Abstumpfen gegenüber realer Gewalt gleichgesetzt werden dürfe, wozu Meister et al. sich folgendermaßen positionieren: „Wer von einer Vorliebe für Thriller und Horrorfilme auf den unsensiblen Umgang mit realen Gewaltdarstellungen oder gar eine grundsätzlich Gewalt befürwortende Haltung schließt, greift ganz eindeutig zu kurz“ (Meister et al. 2008: 73). Mit medialen Gewaltinhalten werden Action und Nervenkitzel assoziiert, was Jugendliche als willkommene Abwechslung vom Alltag empfinden (vgl. ebd.: 48). Der bei aufregenden Filmen erlebten Spannung werde eine „stimmungsre‐ gulierende Funktion“ (Fischer 2018: 177) zuteil, die aufgrund der intensiveren Wahrnehmung des Gesehenen Langeweile vertreiben könne. In diesem Kontext ist der bereits erwähnte Begriff der Angstlust aufschlussreich, der das „genuss‐ volle Erleben von Gefahr“ (ebd.: 178) meint. Jugendliche „wollen spannende und gruselige Erfahrungen machen, ohne wirkliche, reale Angst um ihr Leben oder das anderer Menschen haben zu müssen“ (Meister et al. 2008: 89). Der Genuss von medialer Gewalt speise sich folglich aus der Realitätsferne, indem man sich als Zuschauer mit dem Angstmachenden quasi probeweise konfrontieren könne (vgl. ebd.: 210; Kunczik und Zipfel 2006: 70). Wichtig sei dabei auch, dass die Rezipienten bei einem in einer Serie zur Schau gestellten Gewaltakt nicht (wie bei einem Computerspiel) selbst am Hebel sitzen: Der/ die Rezipient/ in habe beim Schauen einer Serie keinen Einfluss darauf, wer, wie und wann erschossen wird (vgl. Hartmann 2013: 122 f). Letztlich zeigt sich ein „Pessimismus-Optimismus-Dualismus“ (Kepser 2004: 7) bei einer Analyse des Diskurses zu den Medienwirkungen: Es stehen sich Vertreter des sogenannten Boxer-Modells und Anhänger der Katharsis-Hypo‐ these gegenüber. Das Boxer-Modell besagt, dass Medien mit gewalttätigen Inhalten aggressives Verhalten auslösen, während die Katharsis-Hypothese annimmt, dass Medien mit gewalttätigen Inhalten dazu dienen, aggressive Impulse abzureagieren und loszuwerden (vgl. ebd). 2.3.2.2.2 Individuelle Unterschiede bei der Reaktion auf Mediengewalt Im Kontext der Angstlust gibt es genderspezifische Unterschiede, auf die ich kurz eingehen möchte. Verschiedene Publikationen legen den Schluss nahe, dass bei Rezipientinnen unangenehme Empfindungen beim Konsum von Medienge‐ 56 II Theoretische Grundlagen <?page no="57"?> walt überwiegen (vgl. Luca 1993; Röser 2000; Fischer 2018; Hartmann 2013), was Röser (2000: 23) folgendermaßen auf den Punkt bringt: „[T]atsächlich ist es ein wiederkehrender Befund, dass Frauen und Mädchen mehr Belastung und weniger Vergnügen beim Konsum von Mediengewalt empfinden“. Meister et al. (2008: 50) konkretisieren dies folgendermaßen: Während es den männlichen Jugendlichen um >>Action<< in Form von >>Mord und Totschlag<< geht, sehen die weiblichen Jugendlichen ihre Interessen offenbar eher in Konflikten und Problemen bekannter Charaktere realisiert. […] [D]ie Jungen [sehen] ihre Rezeptionsbedürfnisse in der Darstellung schneller und deutlicher (Gewalt-)Handlungen realisiert […], während die Mädchen eher die empathische Komponente präferieren, bei der es um Gefühle für oder gegen bekannte Protago‐ nisten geht. Mediale Gewaltdarstellungen werden auch in Abhängigkeit der Persönlich‐ keit des/ der Zuschauenden und je nach seinen/ ihren Genreerwartungen unter‐ schiedlich empfunden. So würden sich beispielsweise sensible und empathische Rezipienten stark abgestoßen fühlen von einem ungerechtfertigten Gewaltakt, welcher vom Protagonisten begangen wird (vgl. Hartmann 2013: 122 f). Zu‐ schauende mit einer distanzierteren Haltung seien davon hingegen weniger emotional beeinträchtigt. Zusätzlich spielen sogenannte moral disengagement cues in der Rezeption von medialer Gewalt eine wichtige Rolle, die in diesem Kapitel an späterer Stelle noch genauer beleuchtet werden. 2.3.2.2.3 Begründung für vermehrte Gewalt- und Sexdarstellungen: Die Dynamik serieller Überbietung Blanchet (2011), Jahn-Sudmann und Kelleter (2012) führen den seit dem Jahr 2000 in ihren Augen eindeutig erkennbaren „numerische[n] Zuwachs an nackten oder toten Körpern“ ( Jahn-Sudmann und Kelleter 2012: 209) in Serien auf den vorherrschenden „Selbstüberbietungswettbewerb im US-ameri‐ kanischen Fernsehen” (Nesselhauf und Schleich 2016: 16) zurück. Wenn man einen Blick auf die derzeit blühende Serienlandschaft werfe, werde schnell deutlich, dass sich serielle Formate in erster Linie als Konkurrenzformate be‐ haupten müssen, wobei zwischen einem intraseriellen und einem interseriellen Wettbewerb zu differenzieren sei (vgl. Jahn-Sudmann und Kelleter 2012: 207). Mit intraseriellem Wettbewerb ist gemeint, dass eine kommerzielle Serie mit sich selbst konkurriert, indem sie sich „mit früheren Ausformungen ihrer selbst“ (ebd.) vergleichen muss, um eine Zuschauerbindung über mehrere Jahre hinweg sicherzustellen. Wenn Staffel 1 beispielsweise durch schnelle Kampfszenen Auf‐ merksamkeit erregte, müssen die Kampfszenen in Staffel 2 mindestens genauso 57 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="58"?> 20 Den ambivalenten Konsumentenwünschen nach innovativer Reproduktion, nach Ver‐ lässlichkeit und zugleich variierenden Themen wurde und wird durch Genre-Kom‐ binationen und Hybridisierung Rechnung getragen, indem beispielsweise typische Highschool-Stories mit Vampir-Sagas verbunden werden. 21 Dabei haben US-Bezahlsender den entscheidenden Vorteil, dass sie einerseits nicht auf Werbeeinnahmen angewiesen sind und andererseits nicht den Regulationen der FCC (Federal Communications Commission) unterliegen, weshalb sie kontroverse Themen behandeln können, ohne Zensur befürchten zu müssen (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016: 44). 22 HBO ist die Abkürzung für Home Box Office; der Pay-TV-Sender ist bekannt für erfolgreiche und meist ambitionierte Eigenproduktionen. rasant oder besser noch spektakulärer ausfallen. Es ist also wichtig, den Balan‐ ceakt zwischen Wiedererkennbarkeit durch Reproduktion charakteristischer Elemente einerseits und Erneuerung durch innovative Elemente andererseits zu meistern, was als größte Herausforderung serieller Narration und kommerzi‐ eller Kultur insgesamt gilt. 20 Serien sind in der Regel nur dann wettbewerbsfähig, wenn sie sowohl im Vergleich mit ihren früheren Staffeln (intraseriell) als auch im Vergleich mit anderen Serien (interseriell) eine fortwährende Steigerung aufweisen: „Erzähltechnisch kann das heißen, dass man dieselbe Geschichte noch einmal, aber in gesteigerter (und somit potenziell neuer) Form präsentiert, etwa mit mehr Figuren oder sichtbar höheren Produktionskosten oder spektaku‐ läreren Spezialeffekten“ (ebd.). Diese popkulturelle Überbietungsdynamik im Sinne eines ‚noch schneller, noch schöner, noch grausamer, noch spektakulärer, noch teurer‘ scheint eine Spirale der wettbewerbsorientierten Steigerung zu begünstigen, die in einem ‚Immer-noch-mehr-Sehen-Wollen‘ resultiert. Der interserielle Wettkampf wird besonders unerbittlich zwischen Free- und Pay-TV geführt, wobei Bezahlsender das Ziel verfolgen, „ihrem Publikum das zu bieten, was sie auf den Gratissendern nicht finden können“ (Blanchet 2011: 63). Das heißt, dass diese auch vor Inzest, Gewalt, Sex-, Alkoholsowie Drogenexzessen und anderen Extremen als potentielle Serieninhalte keinen Halt machen. 21 Dies dürfe jedoch nicht zu einer vorschnellen Verurteilung oder Abwertung des Pay-TV führen, was Gormász (2015: 70) verdeutlicht: Sie nennt einerseits die Schlagworte „Nudity, Violence & Profanity“ als charakteristischen Markendreiklang des US-amerikanischen Programmanbieters HBO 22 ; anderer‐ seits seien die von künstlerischer Freiheit geprägten HBO-Serien aber auch „[h]erausfordernd, eigenwillig und kompromisslos“ (ebd.: 72). Dies spiegelt sich auch im vielzitierten Slogan „It’s not TV. It’s HBO.“ wider, welcher Mitte der 1990er-Jahre für Aufsehen sorgte. Der Slogan macht unmissverständlich deut‐ lich, dass HBO sich um jeden Preis „vom ‚Einheitsbrei‘ der werbefinanzierten Networks“ (Schleich und Nesselhauf 2016: 45) abgrenzen möchte. Dies sei dem 58 II Theoretische Grundlagen <?page no="59"?> 23 Gormász (2015: 172) zufolge sind Antiheldinnen im prestigeträchtigen Umfeld der Quality Drama Series eher eine Ausnahmeerscheinung. Als eine der wenigen Antiheldinnen nennt Puff (2015: 103) Olivia Pope in ihrem Beitrag zur US-Serie Scandal, in dem sie darlegt, „How a Transgressive, Black Anti-Heroine Makes for New ‘Quality TV‘“. Auch Claire Sender seit nunmehr 48 Jahren gelungen, wobei HBO insbesondere von 1990 bis 2010 mit seinen Serienproduktionen als künstlerisch führend gegolten habe; in diesem Kontext seien vor allem The Sopranos (1999-2007) und The Wire (2002-2008) zu nennen (vgl. ebd.). Es muss also festgehalten werden, dass der serielle Wettbewerb experimen‐ telle, unkonventionelle und ästhetisch innovative Produktionen hervorbrachte und hervorbringt. Bezüglich der Darstellung von Gewalt und Sex ist die Tendenz zu erkennen, dass deren Darstellung zunehmend mit Qualitätsmarkern wie ‚realistisch‘ und ‚authentisch‘ versehen wird (vgl. ebd.). Auch wenn diese Erkenntnis mit Sorge beäugt wird, besteht kein Zweifel daran, dass gerade medienaffine Teenager an diese Art des Realismus gewöhnt sind und dement‐ sprechend erwarten, dass moderne Serien dem Überbietungsanspruch gerecht werden und sich in die Überbietungskette seriellen Erzählens einordnen. Ham‐ burger (2018: 103) stellt fest, dass sich das Böse als Sujet […] hervorragend dazu [eignet], die doppelte Anforderung von Konti‐ nuität und Spannung zu verwirklichen. Zum einen bieten Verbrechen genug Raum, sich immer wieder zu gruseln, zum anderen ist der Verbrecher, wenn er nur attraktiv genug ist, eine solide Identifikationsfigur. Auf diesen Figurentypus, welcher das Herzstück zahlreicher aktueller Serien bildet, wird im Folgenden eingegangen. 2.3.2.3 Allgegenwärtigkeit des Antihelden in modernen Serien Seit der Jahrtausendwende zeigt sich in seriellen Formaten die deutliche Ten‐ denz, die Figur des Antihelden als Protagonist in das Handlungszentrum zu rücken (vgl. Martin 2013: 266). Als Antihelden bezeichnet Kessler (2016: 93) Figuren, „die in ihrem Verhalten und Empfinden moralischen (oder auch ästhe‐ tischen) Maßstäben, wenn überhaupt nur bedingt genügen, trotzdem aber im Mittelpunkt der Narration stehen und […] zur Parteinahme angeboten werden“. So konnten sich hochintelligente Psychopathen, gerissene Verbrecher und smarte Mörder als zentrale Identifikationsfiguren moderner Serien etablieren (vgl. Fahle 2012: 171; Leroy 2015: 298). Der Antiheld - ich verwende hier bewusst die maskuline Form, da es bislang fast nur männliche Protagonisten in dieser Funktion gibt (vgl. z. B. Ustorf 2019: 34; Gormász 2015: 172; Vaage 2016: xiii, 150) 23 - sei von sich aus zunächst weder gut noch böse. Der determinierende 59 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="60"?> Underwood ist eine solche Antiheldin, die sich spätestens in der finalen Staffel von HoC als Protagonistin im Zentrum der Serie emanzipiert (vgl. Vaage 2016: 171). Schließlich ist in diesem Kontext Clare Danes in der Rolle der bipolaren Geheimdienst-Analystin Carrie Mathison in Homeland zu erwähnen (vgl. Ustorf 2019: 34). 24 Die Bezeichnung angry young men bezog sich ursprünglich sowohl auf die Protago‐ nisten in den literarischen Texten als auch auf ihre Autoren. Hinsichtlich der aktuellen Serienlandschaft trifft der Terminus in erster Linie auf etliche Antihelden zu, die nicht unbedingt jung sind, aber dafür umso wütender auf gesellschaftspolitische Missstände reagieren (z. B. Frank Underwood, Tony Soprano, Don Draper, Dexter Morgan, Jack Bauer u.v.m) - mit den Serienschöpfern wird er jedoch nicht in Verbindung gebracht. Als angry young men können Jesse Pinkman (Breaking Bad), Billy Butcher (The Boys) und Adam Groff (Sex Education) bezeichnet werden. Faktor diesbezüglich sei die Welt, in der sich der Antiheld bewege und die Um‐ stände, die ihm mitunter keine Wahl ließen (vgl. Kessler 2016: 96); eine Welt, die von Neid, Bosheit und Machtgier regiert werde, zwinge auch die darin lebenden Menschen immer wieder zu moralisch zweifelhaften oder gar verwerflichen Handlungen, um das eigene Vorankommen oder Überleben zu sichern. Dies könne eine Dynamik in Gang setzen, deren Resultat Cuddon (2013: 38 f) als angry young men bezeichnet. Der Terminus hatte in den späten 1950er-Jahren Konjunktur und seine Wurzeln liegen Cuddon zufolge in John Osbornes Stück Look Back in Anger (1957), welches stellvertretend gesprochen habe „for a generation of disillusioned and discontented young men strongly opposed to the social and political mores of the establishment” 24 (ebd.). Arenhövel fasst die sich daraus ergebenden neuen Anforderungen an das Figureninventar aktueller Se‐ rien mit folgenden Worten zusammen: „[D]ie Zeit der moralisch unantastbaren Helden ist ebenso vorbei wie die Zeit der langweiligen Superhelden, welche die Armen und Schwachen schützen und immer wieder die Welt retten“ (Arenhövel 2018: 23 f). Während Serien des 20. Jahrhunderts oft dem Paradigma des Least Objectionable Programming (kurz: LOP; vgl. dazu Vaage 2016: xii) Folge geleistet hätten, sei die klassischerweise meist heile und intakte Fernsehwelt im Rahmen des seriellen Erfolgszugs des Antihelden außer Kraft gesetzt worden (vgl. Metz und Seeßlen 2018; Schleich und Nesselhauf 2016: 84; Ustorf 2019: 32). Statt den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und immer wieder die gleichen Handlungsmuster zu stricken, widmen sich moderne US-Serien häufig […] de[n] Probleme[n] der westlichen Welt […]. Sie erzählen von gesellschaftlichen Missständen und Fehlentwicklungen: von korrupten öffentlichen Einrichtungen (The Wire, House of Cards), von einer Krise der Männlichkeit (The Sopranos, Breaking Bad), von den USA im Ausnahmezustand nach 9/ 11 (24, Homeland), von der Isolation und Verlorenheit des Einzelnen in einer fragmentierten Gesellschaft (Mad Men) (Ustorf 2019: 34). 60 II Theoretische Grundlagen <?page no="61"?> Ihre Glaubhaftigkeit würden die Antihelden dieser fragmentierten Gesellschaft primär durch ihre ambivalente, bisweilen paradoxe und widersprüchliche Charakterveranlagung erreichen, welche von einer moralischen Komplexität begleitet werde (vgl. Vaage 2016: xvi; Wulff 2002: 438; Ustorf 2019: 32). Serien haben hinsichtlich der Charakterentwicklung nämlich den entscheidenden Vorteil, dass sie dieser weitaus mehr Raum und Zeit widmen können als ein in sich abgeschlossener Spielfilm. Somit sei die Zeichnung psychologisch schlüssiger Figuren mit Ecken und Kanten, Licht- und Schattenseiten möglich, bei der kein Serien-(Anti-)Held dem anderen gleiche (vgl. Hamburger 2018: 100; vgl. Gormász 2015: 115). Der Figur des Antihelden werde primär die Funktion zuteil, „der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, um sie schlussendlich zu verändern“ (Nesselhauf und Schleich 2015: 13), wobei es essentiell sei, dass das Publikum zum Nachdenken angeregt werde (vgl. ebd.). Die Frage, die sich nun stellt, bezieht sich darauf, wie sich die neuen Helden- oder vielmehr Nichtheldenfiguren auf jugendliche Zuschauer auswirken. Fest steht, dass die Phase der Pubertät häufig von einer Suche nach geeigneten Vorbildern geprägt ist. Ob sich jene angry young men als Vorbilder bzw. Identifikationsfiguren eignen, ist fraglich und zahlreiche Autoren äußern in diesem Kontext Bedenken. Brown (2002) erklärt beispielsweise: „[P]eople will imitate behaviors of others when those models are rewarded or not punished for their behavior”. Tatsächlich bleibt das moralisch fragwürdige Verhalten, welches die Antihelden moderner Serien an den Tag legen, meist unbestraft. Hamburger (2018: 103) sieht diesbezüglich eine „nachweislich negative Wirkung etwa auf den ‚Glauben an eine gerechte Welt‘“ und ordnet sich damit in einen andau‐ ernden Besorgnisdiskurs ein, der folgendermaßen zusammengefasst werden kann: „[T]he moral standards of children [are] being eroded by messages in film” (Eden, Grizzard, und Lewis 2013: 1). Da die Frage nach den Moralvorstellungen Jugendlicher in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle spielt, möchte ich mich diesem Thema an späterer Stelle des Kapitels detailliert widmen, indem ich es im größeren Kontext kognitiv-affektiver Prozesse betrachte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die vielerorts geäußerten bewahr‐ pädagogischen Stimmen hinsichtlich moderner Serien und der damit einherge‐ henden Trends (Gewalt, Sex, wütende Antihelden, Binge-Watching) nachvoll‐ ziehbar sind (vgl. dazu z. B. Welbhoff 2017; Wadhawan 2015). Natürlich kann die Schule in Anbetracht der Gefahrenzonen die Augen verschließen und die (vermeintlich) schädlichen Inhalte mit aller Macht aus den Klassenzimmern fernhalten. Fest steht jedoch auch, dass die Inhalte längst Einzug in die Wohn- und Schlafzimmer der Jugendlichen erhalten haben (vgl. Manzel 2018). Mit einer Verbannung solcher Inhalte aus dem Unterricht würde die Kluft zwi‐ 61 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="62"?> schen der Schul- und der Lebenswelt der Heranwachsenden nur noch tiefer werden. Statt eines resoluten Fernhaltens wäre eine bewusste Konfrontation mit den Gefahrenherden im Rahmen einer Aufarbeitung im Unterricht meiner Auffassung nach zeitgemäßer. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Sex- und Gewaltorgien gezeigt werden sollten; aber ein reflexiver Umgang mit sorgfältig ausgewählten Inhalten, der die Wirkung und Funktion auch kontroverser sowie fragwürdiger Themen kritisch unter die Lupe nimmt, sollte in der Sekundarstufe II nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Zudem dürfen die Gefahren im Kontext der neuen Medien nicht deren Chancen und Potentiale verschleiern, denen ich mich im Folgenden widme. 2.4 Series21 und literarisches Prestige 2.4.1 Qualitätsserien auf Augenhöhe mit Literatur Aufgrund der lang vorherrschenden strikten Trennung zwischen Populär- und Hochkultur verwundert es nicht, dass ambitionierte Serienproduktionen darum bemüht sind und waren, die Nähe zur Literatur herzustellen. Doch die Medien‐ wirkungsforschung seit den 1950er-Jahren hatte mit ihrem medienskeptischen Grundton dazu beigetragen, dass sich das den Serien anhaftende Etikett der Populärkultur als langlebig erwies. Einer der vorgebrachten Vorwürfe lautete, dass die trivialen Inhalte, die einfach gestrickten Wiederholungsmuster und die stereotypen Darstellungsformen letztlich zur Verdummung und Entmündigung der Zuschauenden beitragen würden (vgl. Köhler 2011: 18). Dieser pejorative Grundton findet sich beispielsweise in den Abhandlungen von Adorno (1954 und 1971). In deutlichem Kontrast dazu stehen die Lobeshymnen, mit denen Fernseh‐ kritiker derzeit den intellektuellen Anspruch sowie die Ästhetik von Qua‐ litätsserien preisen. Mittlerweile wird in der Medienforschung kaum mehr angezweifelt, dass „[…] Serien […] die Kunstform des 21. Jahrhunderts“ (Meier 2009: 34) darstellen. Dieses Umdenken ist unter anderem auf das seit der Jahrtausendwende vorangetriebene Angebot von Serien als aufwändig und hochwertig produzierte DVD-Boxen zurückzuführen, welche ihren Einzug in die Bücherregale zahlloser Serienfans fanden. Die somit forcierte „Vorstellung von einem Gesamtwerk aus Autorenhand“ (Gormász 2015: 48) sorgte dafür, dass das Image der Serie als Kulturgut eine Aufwertung erfuhr: Serien etablierten sich als „prime-time novels“ (ebd.: 47), zumal eine Intensivierung des Seriener‐ lebnisses durch eine konzentrierte Serienrezeption ohne Zwangspausen durch Werbeunterbrechungen ermöglicht worden war (vgl. ebd.: 48). DVD-Editionen 62 II Theoretische Grundlagen <?page no="63"?> und Streaming-Anbieter, die Serien staffelweise veröffentlichen, „unterstreichen Qualitäten wie Einheit, Komplexität, klare Anfangs- und Endpunkte - alles Eigenschaften, die bei einer schrittweisen Veröffentlichung weniger in Erschei‐ nung treten“ (Mittell 2011: 147). Hier zeigt sich die literarische Nähe, welche neben den Begriffen der Komplexität und Qualität einen prominenten Rang im aktuellen Diskurs zu Serien einnimmt (vgl. Jahn-Sudmann und Kelleter 2012: 206; Klein 2012: 225; Johnson 2005: XV; Nesselhauf und Schleich 2015: 13). Ein weiterer Grund, der hinsichtlich des wachsenden Ansehens der Serie eine Rolle spielt, ist deren flexiblere Produktion in Staffeln. Diese erlaubt es dem Produktionsteam, je nach Resonanz durch Publikum und Kritiker, sofort zu reagieren, wenn sich ein Handlungsstrang als erfolgreich oder unpopulär erweist (vgl. Kramp und Weichert 2007; Frizzoni 2012: 342). Zuschauerwünsche, -kritik und -vorlieben können damit berücksichtigt werden, was zur Folge habe, dass Serienproduzenten oft risikofreudiger seien, Unkonventionelles ermöglichen und mehr Innovation zulassen würden: Der Wagemut zahle sich entweder aus und erfahre Zustimmung oder ernte Kritik - dann könne die Serie in der nächsten Staffel wieder in altbewährte Fahrwasser zurückgesteuert werden. Dies bestätigt auch Edgerton: US-Filme seien tendenziell „conservative and cautious” (Edgerton 2015: 45), wohingegen Serien oft „more daring, topical and willing to risk giving offense” (ebd.) seien. Frizzoni spricht in diesem Kontext von „serieller Innovationsdynamik“ (2012: 343), die dazu geführt habe, dass viele Serien mittlerweile sowohl in inhaltlicher als auch in ästhetisch-formaler Hinsicht dem Kino Konkurrenz machen würden. Die Einschätzung, dass die neuen Serien häufig das bessere Kino liefern, findet sich derzeit in zahlreichen einschlägigen Publikationen (vgl. Schleich und Nesselhauf 2016; Metz und Seeßlen 2018; Blanchet 2011: 37; Meteling, Otto, und Schabacher 2010: 7; Köhler 2011: 20 u.v.m.). Als Entsprechung zum Begriff der Cinephilie prägt Lampprecht den Neologismus „Seriephilie“ (Lampprecht 2016: 62), der die Aufwertung der neuen Kultur der Serienrezeption verdeutlichen soll (vgl. ebd.). Für diese Aufwertung war auch die Entwicklung amerikanischer Serien hin zur literarischen Nähe durch mehr Komplexität und Vielschichtigkeit entscheidend, welche Anfang der 1980er-Jahre mit einer stetig wachsenden Beliebtheit von Primetime-Serien wie Dallas, Dynasty oder Mary Hartman, Mary Hartman einsetzte (vgl. Mittell 2012: 105; Schlütz 2016: 70). Als endgültige Umbruchphase gelten die 1990er-Jahre (vgl. Däwes 2015: 18; Köhler 2011: 20), die den entscheidenden Wendepunkt in der Produktion von Qualitätsserien darstellten. Der Terminus Qualitätsserie verdient an dieser Stelle Beachtung, denn „[w]ohl kein Begriff wurde in den vergangenen Jahren so oft in Bezug auf die Fernsehserie verwendet wie das Schlagwort des ‚Quality Television‘, 63 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="64"?> 25 Der Begriff Qualitätsserie wurde häufig problematisiert und kritisiert (vgl. dazu z. B. Nesselhauf und Schleich 2016; Lampprecht 2016; Borsos 2017: 9; Vaage 2016: xi), da er „too vague, too hierarchichal, and too ideologically burdened” (Däwes 2015: 23) sei. Auch die „historic gender bias that labels male-centred shows more often as ‘quality TV’ than the shows that seem to cater to a female audience” (Puff 2015: 121) wurde als defizitär hervorgehoben. Trotz aller Kritik folge ich der Auffassung Blanchets, dass der Begriff Qualitätsserie keine Wertung im engeren Sinn impliziert, sondern sich auf Machart, Ausstattung, Stil, Themen, Narration sowie Komplexität einer Serie bezieht (vgl. Blanchet 2011: 68), was ich anhand des Kriterienkatalogs in 2.4.1.1 konkretisieren möchte. 26 Der bereits erwähnte HBO-Slogan, It’s not TV. It’s HBO, greift Thompsons Idee eines Qualitätsfernsehens abseits des Mainstreams äußerst publikumswirksam auf. und das sowohl im Feuilleton wie auch in der Wissenschaft“ (Schleich und Nesselhauf 2016: 93). Diesem Trend Folge leistend, verwende ich in der vorlie‐ genden Arbeit den Begriff Qualitätsserie, auch wenn mir dessen Umstrittenheit bewusst ist. 25 Nesselhauf und Schleich erläutern, dass das Attribut „Qualitäts-“ als „Steigbügelhalter für den Einzug der Fernsehserie in den akademischen ‚Elfenbeinturm‘“ (2016: 17) gesorgt habe. Die von Thompson (1996) in die wissenschaftliche Debatte eingeführten Bezeichnungen Quality Television Series und Quality TV wurden bewusst konträr zum traditionell schlechten Ruf des Fernsehens gewählt (vgl. Blanchet 2011: 38), was sich in Thompsons ebenso zutreffender wie prägnanter Definition von Quality TV widerspiegelt: „Quality TV is best defined by what it is not. It is not ‘regular’ TV” 26 (1996: 13). Neben „Qualität“ bzw. „Quality“ finden sich in der Literatur auch die Attribute „Art“ (Mittell 2006), „High End“ (Nelson 2007), „Auteur“ (Dreher 2010, 2014), „Prestige“ (Hill 2013) und „Complex“ (Mittell 2015), welche sich allesamt auf jene vielseitigen, innovativ sowie experimentell erzählenden und stark an Literatur erinnernden Serien des 21. Jahrhunderts beziehen (vgl. Nesselhauf und Schleich 2016: 10). Folglich wohnt der akademischen Serienforschung ein Grundton der Bewunderung mit einer damit einhergehenden Aufwertungsrhetorik bei (vgl. Köhler 2011: 20). Dementsprechend wurden im letzten Jahrzehnt die Parallelen zwischen US-Serien und Werken der Weltliteratur verstärkt betont, was folgende Schlagzeile auf dem Titelblatt der Schweizer Weltwoche am 8. Fe‐ bruar 2007 verdeutlicht: „TV-Serien sind der Shakespeare des 21. Jahrhunderts“. Ähnlich positioniert sich auch Graf (2021: 34): „Die relevanten Narrative unserer Zeit finden sich nicht mehr in den Werken der Großschriftsteller, sondern in den Empfehlungen bei Netflix und Amazon Prime“. Das heißt freilich nicht, dass jede Serie seit den späten 1990er-Jahren in die Kategorie der Qualitätsproduktionen fällt und dem Vergleich mit einem Shakespeare-Drama standhalten kann. Als negatives Pendant zur Qualitätsserie 64 II Theoretische Grundlagen <?page no="65"?> 27 Frizzoni (2012: 342) hält fest, dass sich Thompsons Kriterienkatalog, obwohl dieser aus dem Jahr 1996 stammt, bis heute eignet, um das Phänomen der Qualitätsserie zu erfassen. Deshalb dient er einschlägigen Medienwissenschaftlern auch heute als Grundlage ihrer Betrachtungen zu Serien (z. B. Dunleavy 2009; Blanchet 2011). existieren sogenannte Trash-Serien, die an ihren flachen Charakteren, einer ebenso simplen wie vorhersehbaren Erzählstruktur, ihrer minderwertigen Aus‐ stattung sowie an billigen Effekten erkennbar sind (vgl. Frizzoni 2012: 340). Serien, die das Label Quality TV verliehen bekommen, erhalten eine Art Güte‐ siegel und werden damit gewissermaßen in einen Kanon aufgenommen, „um sie damit für die Allgemeinheit vor dem Vergessen zu bewahren“ (Schlütz 2016: 55). Dies gelte beispielsweise für „die ‚großen Vier‘“ (Nesselhauf und Schleich 2016: 11): The Wire, The Sopranos, Mad Men und Breaking Bad. Frederking, Krommer und Maiwald (2018: 179) nennen statt The Sopranos und Mad Men andere Serien und halten zusammenfassend fest: Man kann behaupten, dass die neue amerikanische Fernsehserie […] im beginnenden 21. Jahrhundert den Platz des Romans eingenommen hat. In jedem Fall haben erzählerische und filmästhetische Innovationen zuletzt weitaus stärker in Serien wie The Wire (2002-2008), Lost (2004-2010), Breaking Bad (2008-2013) und House of Cards (seit 2013) als im Kinospielfilm stattgefunden. 2.4.1.1 Kriterienkatalog für Series21 Um Qualitätsserien als solche identifizieren zu können, soll der folgende fun‐ dierte und bewusst ausführliche Kriterienkatalog Aufschluss geben. Bei der Erstellung orientierte ich mich an Thompsons 12-Punkte-Katalog aus dem Jahr 1996 (13-15) 27 , Blanchets aktualisierenden Ergänzungen diesbezüglich (2011: 44-69) und Mittells Liste (2012: 97-122); zudem flossen Informationen aus den Beiträgen von Jahn-Sudmann und Kelleter (2012: 205-224), Klein (2012: 225-239), Däwes (2015: 18 ff), Lampprecht (2016: 66 f), Schleich und Nesselhauf (2015: 13 ff, 2016: 84); Schlütz (2016: 118) und Gormász (2015: 7) in meine Überlegungen ein. Qualitätsserien zeichnen sich aus durch (1) ihre Nähe zu Literatur und ihren damit verbundenen Status als narrative Leitmedien a) narrative Komplexität • Wechselspiel zwischen episodisch-abgeschlossenem und fortset‐ zungsorientiertem und damit auf Langfristigkeit angelegtes Er‐ zählen • Multiplizierung und Verflechtung von vielschichtigen Hand‐ lungssträngen 65 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="66"?> • saubere Auflösung der komplexen Handlungsbögen (kein sog. lazy story-telling) • besondere Erzählstrategien und damit einhergehende innovative sowie experimentelle Erzählweisen: z. B. Voraus- und Rück‐ blenden, Zeitreisen, parallele Zeitlinien, Traumsowie Fanta‐ siesequenzen, Voice-Over-Narration, Einbeziehung der Zuschau‐ enden durch Asides • großes Figurenrepertoire, wodurch unterschiedliche Handlungs‐ stränge und Perspektiven gezeigt werden können (z. B. Erzäh‐ lung derselben Geschichte aus mehreren Blickwinkeln) • Erzählverfahren mit Ähnlichkeiten zu literarischen Schreib‐ weisen: Detailreichtum, formale Raffinesse und Leerstellen • Entwicklung eines seriellen bzw. werkimmanenten Gedächt‐ nisses b) Gestaltung der Charaktere • Tiefe, Komplexität sowie Unvorhersehbarkeit der Figuren und deren Beziehungen zueinander (statt eines stereotypen Figure‐ ninventars) • feine Schattierung von Haupt- und Nebencharakteren • psychologischer Realismus in der Gestaltung der einzelnen Fi‐ guren und deren Motive • pointierte und mitunter gewitzte Dialoge Durch die narrative Komplexität und die Vielschichtigkeit der Cha‐ raktere ergibt sich eine re-watchability dieser Serien (vgl. Schlütz 2016: 95). (2) kunstvolle Bild- und Tongestaltung in Form einer „Hochglanzkinema‐ tographie“ (Lampprecht 2016: 67), so dass universell-zeitlose Themen durch besondere Ästhetik inszeniert werden; Qualitätsserien bemühen sich gemäß einer Every frame a painting-Devise darum, einprägsame Bildwelten zu erschaffen. Dabei wird ein sogenannter signature look 66 II Theoretische Grundlagen <?page no="67"?> 28 Game of Thrones zeichnet sich beispielsweise durch ein aufwändig inszeniertes Mittelalter-Setting aus; HoC setzte neue Standards als zeitgemäßes Politdrama, dessen Ästhetik und Symmetrie in der Bildsprache die Perfektion von Underwoods meisterhaft durchdachten Plänen unterstreicht; die dystopische Welt in The Hand‐ maid’s Tale wird durch einen besonderen Farbcode der Kostüme (u. a. bestehend aus roten Roben und strahlend weißen Hauben) und eine damit einhergehende makellose Bildkomposition untermalt, die in deutlichem Kontrast zum Inhalt der albtraumhaften Zukunftsvision steht. Von Rütte (2017) illustriert dies am Beispiel einer öffentlichen Hinrichtung: „[A]us der Vogelsicht gefilmt wirkt die brutale Exekution wie ein perfekt choreographiertes Tanzstück“. Trotz des grausamen In‐ halts sei die Serie „so unheimlich meisterhaft gemacht und gespielt, dass man nicht wegsehen“ könne. Diese besondere Art der Ästhetik ist für viele Qualitätsserien des 21. Jahrhunderts charakteristisch. 29 Die veränderte Wahrnehmung der Serie als eigenständige Kunstform wurde dadurch begünstigt, dass sich renommierte Produzenten und Regisseure wie David Lynch (Twin Peaks), Aaron Sorkin (West Wing), J. J. Abrams (Lost und später Teile von Westworld) und David Fincher (House of Cards) der Serienwelt widmeten und ihr dadurch zu Prestige verhalfen (vgl. Fahle 2012: 169). 30 Däwes führt den Begriff des „transgressive television“ (2015: 18) ein und bezieht diesen auf ein „remarkable blurring of conventional boundaries of genre, of fictional time and space, of plot patterns and chapter types, of social and ethical norms, of language, and of visual representation” (ebd.). In diesem transgressiven Charakter liegt zugleich auch die innovative Beschaffenheit der Qualitätsserien begründet. angestrebt, der für die Unverwechselbarkeit der jeweiligen Serie sorgt. 28 (3) das Engagement etablierter Regisseure mit künstlerischen Ambitionen, die maßgeblich in die Produktion und Machart von Qualitätsserien involviert sind, oft in Kooperation mit namhaften Schauspielerinnen und Schauspielern 29 (4) intellektuellen Anspruch und ein entsprechend gebildetes Publikum, hauptsächlich „Akademiker und kulturell bewanderte Mediennutzer, die das Fernsehen früher meist nur verhohlen genießen konnten, bei den neuen, auf ihre Ansprüche zugeschnittenen Produkten aber kaum noch Anlass haben, sich zu schämen“ (Blanchet 2011: 52) (5) Innovation 30 a) durch die Kreierung neuer Genres beispielsweise durch Kombina‐ tionen (z. B. Lost als „Robinson-Crusoe-Genre“ mit Fantasy-, Mys‐ tery-, Science-Fiction- und Drama-Elementen) b) spektakuläre Effekte und Überraschungsmomente (z. B. völlig uner‐ wartete plot twists) (6) zeitgemäße sowie mitunter ironisch-kritische Anspielungen auf die Hoch- und Populärkultur (7) einen hohen Realitätsanspruch und Authentizität 67 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="68"?> (8) Preise und Auszeichnungen (9) neue Anforderungen an die Zuschauenden, die aktiv Bedeutung konstru‐ ieren müssen (s. u.) (10) die Behandlung kontroverser und gesellschaftlich relevanter Themen wie Homosexualität, Rassismus, Religion, Selbstjustiz, Folter, Schönheits‐ ideale, wobei auch Tabubrüche (z. B. Inzest) inszeniert werden. Dabei spielen Realismus, Härte und moralische Ambiguität eine Schlüsselrolle (vgl. Lampprecht 2016: 67). Schlütz (2016: 68) nennt Quality TV als Oberbegriff „für anspruchsvolle US-ame‐ rikanische Serien, die tabuisierte oder moralisch relevante Themen behandeln“. Damit wird das Tabu bzw. der moralisch relevante Inhalt als inhaltlicher Grundbaustein der Qualitätsserie angenommen, wobei es primär darum gehe, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten (vgl. Puff 2015: 121). Auch Däwes (2015: 27) sieht aktuelle Serien als „ideal laboratory for the diagnosis of contem‐ porary American epistemes and cultural codes“, wobei Grenzüberschreitungen und Tabubrüche eine Schlüsselrolle spielen. Doch inwieweit rückt dies die Qualitätsserie in literarisch-künstlerische Nähe? 2.4.1.2 Die Rolle von Tabubrüchen Zunächst muss auf die richtungsweisende kulturtheoretische Schrift Totem und Tabu von Sigmund Freud aus dem Jahr 1913 verwiesen werden. Freud löste das Phänomen Tabu aus seinem ursprünglich religiös konnotierten Kon‐ text und stellte es in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, indem er dem Tabu eine kulturstiftende Funktion zuschrieb. Dabei sah Freud den Tabubruch als Motor kultureller Entwicklung und Dynamik (vgl. Süwolto 2017: 9). Zudem prägte er den Begriff der heiligen Scheu, was auf die oszillierende Begriffsambivalenz zwischen heilig und unrein hindeutet. Dies greifen Benthien und Gutjahr (2008: 7) auf, die die Bedeutung von Tabu mit den Adjektiven „untersagt, verboten, unverletzlich, unberührbar oder heilig“ beschreiben. Der Aspekt der Unantastbarkeit erwachse aus der tiefen Verwurzelung von Tabus als „nicht hinterfragbare Normen und Werte einer Gemeinschaft“ (Schröder 2008: 55). Tabus stellen demnach als Meidungsgebote die Wahrung der Werte‐ gemeinschaft sicher, wobei die Übergänge zwischen Tabu, Verbot und Grenze fließend sind (vgl. Süwolto 2017: 8; Schröder 2008: 53; Kraft 2006: 10; Nordhoff 2017: 157; Ulrich 2003: 961). Tabus haben laut Kraft (2006: 9) Konjunktur im 21. Jahrhundert, wobei Tabubrüche vor allem in den Medien eine wichtige Rolle spielen und als aktuelle Phänomene unserer Gesellschaft gelten. Mit medialen Darstellungen 68 II Theoretische Grundlagen <?page no="69"?> von Tabubrüchen werde häufig ein Werteverfall assoziiert. Anders sähe es in der Kunst aus, in der Tabus schon immer gezielt zum Einsatz gekommen seien, was Schmieder (2014) mit folgendem Zitat auf den Punkt bringt: „Kunst entwickelt sich seit jeher durch das Brechen von Tabus und die explizite Darstellung unschöner menschlicher Aspekte“. Aktuelle Qualitätsserien entsprechen diesem Kunstideal, indem sie die Zuschauenden nicht sanft berühren, sondern wach‐ rütteln, anspringen und ihnen mitunter sogar wehtun wollen. In ihrem Streben nach Authentizität verfolgen die prestigeträchtigen Serien des 21. Jahrhunderts eine Strategie des Zeigens und Aufmerksam-Machens, wodurch beim Zuschauer eine große Wirkkraft entfaltet werden könne (vgl. Hupertz 2019; Schmieder 2014). Freilich ist hier zu differenzieren zwischen einerseits publikumswirksam eingesetzten Tabubrüchen für höhere Einschaltquoten und andererseits Tabu‐ brüchen, die provozieren sollen, um das kritische Bewusstsein der Rezipienten zu schärfen. Letztere können im Rahmen moderner Qualitätsserien einen wichtigen Beitrag für kulturelle (Aufklärungs-)Arbeit leisten. Laut Däwes (2015: 28) ist dieser Beitrag besonders wertvoll, wenn Serien den Mut aufbringen, alternative kulturelle Codes, Normen und Werte so darzustellen, dass diese den Zuschauenden nähergebracht werden können. Dies konkretisiert Frei (2009 und 2011), die sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit Serien wie Queer as Folk und The L World zur Dekonstruktion von hegemonialen und heteronor‐ mativen Denkweisen beitragen. Homo-, bi- und transsexuelle Lebensweisen bilden in diesen Serien das narrative Zentrum, wobei eine Vielfalt kontroverser Themen wie HIV, Geschlechtsumwandlungen, politische Dimensionen eines Coming-out und homosexueller Sichtbarkeit adressiert werden (vgl. Frei 2011: 299). Frei zeigt, wie dabei alternative Werthierarchien (z. B. Stolz, Individualität, Selbstakzeptanz, gelebte Sexualität und Genuss) offeriert werden (vgl. Frei 2009: 305). Auf diese Weise könne Homosexualität „mittels erhöhter Sichtbarkeit in den Medien ihren Status des Undenkbaren, Unaussprechlichen, Schandhaften verlieren“ (Frei 2011: 305), wodurch ein Anstoß in Richtung mehr Verständnis für Diversität und im besten Fall in Richtung Anerkennung menschlicher Vielfalt erfolgen könne (vgl. ebd.: 311). 2.4.2 Anforderungen an die Zuschauenden: Aktive Bedeutungskonstruktion statt passiver Berieselung Im Zuge des Imagewandels der modernen Qualitätsserie erfuhr auch die Rolle der Zuschauenden eine Aufwertung, indem sie nicht mehr als passive, leicht manipulierbare Rezipienten, sondern als autonome Nutzer erachtet wurden (vgl. Köhler 2011: 24). Heute steht fest, dass komplexe Serien von ihren Zu‐ schauern produktive Mitarbeit und konstante Aufmerksamkeit erfordern (vgl. 69 2 Y2KTV und TV21: Der Anbruch einer neuen Fernsehära <?page no="70"?> 31 Offene Fragen und rätselhafte Bilder bzw. Szenen bleiben entweder ungeklärt im Raum stehen, was eine Bedeutungskonstruktion durch die Rezipienten unabdingbar macht, oder solche Szenen werden zeitlich verzögert aufgeklärt, um die Zuschauenden an die Serie zu binden (vgl. Klein 2012: 228). dazu Däwes 2015: 18; Schleich und Nesselhauf 2016: 9; Johnson 2005: 12; Schlütz 2016: 185; Busselle und Bilandzic 2008: 272; Fischer 2018: 55). Aktuelle Serien (und Filme, insbesondere Thriller,) zeichnen sich durch ein extrem schnelles Erzähltempo aus, was mit hohen Anforderungen an das Publikum verbunden ist (vgl. Johnson 2005: 65). Booth (2012) und Brinker (2015: 309) gehen darüber hinaus auf die komplexe zeitliche Beschaffenheit moderner Serien ein, welche ein aufmerksames Schauen nahelegen, das möglichst ohne Unterbrechungen erfolgen sollte. Andernfalls sei es schwierig, story gaps innerhalb der oft zum Einsatz kommenden „accelerated passage of time“ (McCormick 2016: 105) zu rekonstruieren. Bei der Rezeption von Serien seien die Zuschauenden also aufgefordert, genau hinzuschauen, Verbindungen herzustellen und „verdeckten Anspielungen nachzugehen“ (Rieger-Ladich 2016: 83). Mittell spricht in diesem Kontext von Rätseln, die die Zuschauenden lösen müssen, indem sie sich aktiv in die Bedeutungskonstruktion einbringen und auch kleinen, scheinbar un‐ wichtigen Details Aufmerksamkeit schenken. Für ein tiefgehendes Verständnis anspruchsvoll erzählter Serien müsse das Publikum folglich die Bereitschaft mitbringen, sich den „notwendigen Dechiffrierungsprozesse[n]“ (Mittell 2012: 119) zu widmen und zwischen den Zeilen zu lesen. 31 Kelleter (2012: 20) sieht die Herstellung psychologischer sowie kultureller Signifikanz im Aneignungsakt als zentrale Herausforderung beim Serienschauen. Rezeption müsse demnach als Sinnkonstruktion verstanden werden (vgl. Schlütz 2016: 185) und dafür sei ein kognitiver Aufwand nötig (vgl. Gormász 2015, 101). Darüber hinaus geht Gormász auf die „psychologische Lesart“ (ebd.: 117) ein, ohne die die Rezipienten keine Nähe zu den komplexen und ambivalenten Figuren aufbauen könnten; darunter würde das Serienerlebnis erheblich leiden. Interessant ist auch die Idee des Spielens mit mehrfach kodierten Texten (vgl. Hoff 1992; Luhmann 2004; Mittell 2012; Klein 2012), wobei Mittell (2006: 38) die an Serien gekoppelte Spielerfahrung als Einladung an die Zuschauenden beschreibt, „to play along with the creators to crack the interpretive codes to make sense of their complex narrative strategies“. Ohne ein solches playing along, also ein Einlassen auf das Gedankenspiel, das eine Interaktion mit dem Gesehenen erforderlich macht, können komplexe moderne Serien häufig nicht vollständig verstanden werden. Johnson erläutert am Beispiel der Politthrillerserie 24, dass die Aktivität der Rezipienten der entscheidende Grund dafür sei, dass die oben genannten 70 II Theoretische Grundlagen <?page no="71"?> gefährlichen Faktoren beim Medienkonsum die Zuschauenden nicht negativ beeinträchtigen würden: […] the content of a 24 episode is more violent and disturbing than an episode of My Three Sons. But 24 makes the viewer think in ways that earlier shows never dared; it makes them analyze complex situations, track social networks, fill in information withheld by the creators. The great majority of television viewers understand that the violence they encounter on these contemporary shows is fiction; they understand that they should not look to Tony Soprano for moral guidance […] ( Johnson 2005: 190 f.) Ein aufmerksamer Zuschauer kann sich also den Gefahren eines unreflektierten Medienkonsums entziehen, indem er eine kritisch-alerte Grundhaltung an den Tag legt und aktiv Bedeutung konstruiert: Serien have […] increased the cognitive work they demand form their audience, exercising the mind in ways that would have been unheard of thirty years ago. […] Part of that cognitive work comes from following multiple threads, keeping often densely interwoven plotlines distinct in your head as you watch. But another part involves the viewer’s ‘filling in’: making sense of information that has been either deliberately withheld or deliberately left obscure. Narratives that require that their viewers fill in crucial elements take that complexity to a more demanding level. To follow the narrative, you aren’t just asked to remember. You’re asked to analyze (ebd.: 62 ff). Ähnlich hält auch Fischer fest, „dass durch die Rezipienten eine Selektion, eine Interpretation wie auch eine Verarbeitung der Medieninhalte erfolgt“ (2018: 71). Neben kognitiven Anforderungen erwähnt Johnson einen „emotional IQ“ (2005: 107), welchen er als soziale Intelligenz des Menschen bezeichnet. Emotion und Kognition spielen bei der Rezeption also eine wichtige Rolle, was ich im Folgenden genauer beleuchten werde. 3 Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral bei der Rezeption von Qualitätsserien 3.1 Definitorische Grundlagen Schlütz (2016: 100) beschreibt Quality TV als „eine Herausforderung in […] affektiver und kognitiver Hinsicht“. Der Terminus Kognition wird in den psychologischen Wissenschaften assoziiert mit „Fähigkeiten des Wahrnehmens, Lernens, Denkens und Urteilens […]“ (Wolff 2004: 89); es geht dabei also primär 71 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="72"?> 32 Eines der bedeutendsten Vorhaben, das Verhältnis von Kognition und Emotion zu bestimmen, stammt von Jean Piaget (1981), der in der Literatur immer wieder zitiert wird (zum Beispiel bei Mandl und Huber (1983) sowie Hänze (1998)). Piaget versuchte im Rahmen seines Phasenmodells der kognitiven Entwicklung des Kindes, auf jeder Entwicklungsstufe Parallelen zwischen kognitiven und emotionalen Merkmalen nach‐ zuweisen. Dabei zeigte er, dass jede kognitive Entwicklungsstufe einer emotionalen entspricht. um rational gesteuerte Prozesse des Abstrahierens, Verstehens und Begreifens. Eine Definition des Begriffs Emotion gestaltet sich weitaus schwieriger, da dieser hinsichtlich feiner Abgrenzungen schwer greifbar sei (vgl. ebd.: 89 f.). Hermann-Brennecke (1998: 53) geht im Kontext des Phänomenbereichs Affekt- und Gefühlswelt auf ein breites Spektrum von Erscheinungen ein und nennt „Stimmungen, Emotionen, Einstellungen, Interessen, Motivation, Instinkte, An‐ triebe und Motive“. Eine hilfreiche Klassifikation affektiver Phänomene nimmt Eder (2009: 226 f) vor, der zwischen Empfindungen (wie Schwindel, Übelkeit, Durst), Stimmungen (wie Traurigkeit oder Euphorie) und Emotionen (wie Furcht vor etwas oder Liebe zu jemandem) unterscheidet. Die Termini Gefühl und Affekt seien dabei „austauschbar als Oberbegriff für alle affektiven Phäno‐ mene“ (ebd.: 226). Erst seit den 1980er-Jahren erforschen Psychologie, Neurologie und Evoluti‐ onsbiologie verstärkt menschliche Denkprozesse als ein Zusammenspiel von Emotion und Kognition 32 (vgl. Donnerstag 2017: 57), wobei folgende Feststel‐ lungen im Kontext der vorliegenden Arbeit besonders relevant sind: ● Emotion wird als ein prä- und zugleich postkognitives Phänomen erkannt: Emotionen beeinflussen Kognitionen, indem sie das kognitive Verhalten des Menschen steuern (schlechte Stimmung beeinflusst z. B. das Denken negativ) (vgl. Wolff 2004: 90; Hermann-Brennecke 1998: 53); darüber hinaus können Kognitionen aber auch Emotionen beeinflussen. ● Emotion und Kognition bestimmen gemeinsam das menschliche Handeln und müssen als miteinander verzahnte Komponenten der menschlichen Intelligenz aufgefasst werden (vgl. Wolff 2004: 92). ● Wolff (vgl. ebd.: 91) vergleicht das Zusammenwirken von Kognition und Emotion mit der Dynamik von Motor und Treibstoff. 3.2 Implikationen für den Unterricht Vor allem konstruktivistische Ansätze betonen das Zusammenwirken von Emotion und Kognition: „Konstruktion […] wird gesteuert durch kognitive und emotionale Prozesse, die interdependent auf die Verarbeitung einwirken und zu 72 II Theoretische Grundlagen <?page no="73"?> einem Lernergebnis führen“ (Wolff 2004: 102). Es konnte gezeigt werden, dass persönlich bedeutsame Inhalte, welche die Jugendlichen auf einer affektiven Ebene involvieren, tiefer verarbeitet und damit besser gelernt und behalten werden (vgl. ebd.: 98; Hänze 1998: 44, 50). In diesem Kontext ist auch die Untersuchung von Schürer-Necker (1994) aufschlussreich, die verdeutlicht, dass Texte mit emotional aktivierenden Themen von den SuS besser behalten werden als Sachtexte ohne affektive Komponente. Hinsichtlich eines erfolgreichen Lernprozesses spielt darüber hinaus die Motivation eine wichtige Rolle, indem sie einen sich selbst verstärkenden Kreislauf (vgl. dazu Schumann 2004: 264) anstößt, welcher sich folgendermaßen zusammensetzt: Abb. 7: Motivations-Kreislauf (eig. Darst.) Das Modell zeigt die positive Interdependenz von Motivation, Emotion, Ko‐ gnition und wiederum motivierend wirkenden Erkenntnissen. Dörnyei (1998) nennt 3 Faktoren, die die intrinsische Motivation im schulischen FSU maßgeb‐ lich beeinflussen können: 1) Lerninhalte, Materialien und Methoden; 2) lehrers‐ pezifische Faktoren; 3) gruppenspezifische Faktoren. Diese Aspekte müssten einander positiv beeinflussen, so dass eine intrinsische Motivation entstehen könne, aus der heraus im besten Fall Lernfreude und Lerninteresse erwachsen würden (vgl. dazu auch Schumann 2004: 265). Schumann (ebd.: 268 f) sieht die Lehrkraft als entscheidende Instanz, um die positive Motivationsspirale bei den Schülern in Gang zu setzen und sie durch seinen [oder ihren] Unterricht zur Selbstmotivation zu führen. Das bedeutet, ein schü‐ lerorientierter Unterricht, der das emotionale Potenzial der Schüler aktiviert und sie zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Lernstoff führt, setzt einen hochmotivierten 73 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="74"?> 33 Während der Intelligenzquotient (IQ) zur Bewertung des intellektuellen Leistungsver‐ mögens ermittelt wird, bezieht sich der EQ auf die emotionale und soziale Intelligenz des Menschen. Das Konzept der emotionalen Intelligenz wird auf die in den 1980er-Jahren durch Howard Gardner entwickelte Theorie der multiplen Intelligenzen zurückgeführt. Letztlich kann der EQ als Ergänzung zu einer Vorstellung von Intelligenz erachtet werden, die starr auf akademische und kognitive Fähigkeiten ausgerichtet ist. Lehrer voraus, der nicht nur über solide Fach- und Methodenkompetenz verfügt, sondern auch zu begeistern versteht für seine Unterrichtsgegenstände. Zudem sollte im Unterricht neben allen kognitiven Vorgaben auch das Ziel verfolgt werden, die emotionale Intelligenz bzw. den EQ 33 der SuS zu fördern, worunter Hänze (1998: 9) die Fähigkeit versteht, Gefühle bei sich selbst und anderen adäquat erkennen und interpretieren zu können, die eigenen Gefühle und Stimmungslagen effektiv regulieren zu können und sie für das Denken, Lernen und Problemlösen produktiv nutzen zu können. Trotz der dargelegten Erkenntnisse begünstige die Schule nach wie vor eine eher rationale Grundhaltung, was zu einer nicht ausreichenden Berücksichtigung der für das Lernen wichtigen emotionalen Komponente führe (vgl. Donnerstag 2017: 57). Dies trifft auch auf den FSU zu, dem Wolff (2004: 87) eine Überbetonung der kognitiven Komponente und eine dadurch bedingte Verkopfung vorwirft: Die zentralen fremdsprachendidaktischen Themen waren und sind auch heute noch weitgehend kognitiv orientiert: die Vermittlung und der Erwerb grammatischer Re‐ geln, die systematische Wortschatzvermittlung, die Förderung von Sprachbewusstheit und von metasprachlichen und metakognitiven Strategien. Diese Tendenz spiegelt sich auch in der fremdsprachendidaktischen Forschung wider, in der das Thema Emotion - von wenigen Ausnahmen abgesehen (z. B. Hermann-Brennecke 1998) - laut Wolff (2004: 88) ein Schattendasein fristet. Auch wenn sich dies langsam ändert, indem den Empfindungen der Lernerpersönlichkeit schrittweise mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, bleibt die affektive Komponente der Fremdsprachendidaktik aufgrund des ihr anhaf‐ tenden Eindrucks der Unübersichtlichkeit - vor allem empirisch - schwer fassbar und somit nach wie vor vernachlässigt. Diesem Defizit möchte ich mit meiner Studie Rechnung tragen, indem ich verdeutliche, wie Kognition und Emotion im sprachlichen Rezeptions- und Produktionsprozess bei der Auseinandersetzung mit fremdsprachlichen Texten positiv zusammenwirken können. Die Forderung nach einer Balance hinsichtlich einer gleichermaßen kognitiven und affektiven Ausrichtung des FSU erfährt mittlerweile zumindest in der Theorie breite Zustimmung (vgl. dazu Donnerstag 2017: 57; Börner und 74 II Theoretische Grundlagen <?page no="75"?> Vogel 2004: IX). Um eine stärkere Berücksichtigung von Emotionen im FSU auch praktisch realisieren zu können, bietet sich die Behandlung literarischer und mehrfach kodierter Texte an. Dabei müsse der Fokus auf die empathische Aus‐ einandersetzung mit den fiktiven Figuren gelegt werden, anstatt sich lediglich auf kognitiv-analysierende Beschreibungen von Textstrukturen zu beschränken (vgl. Donnerstag 2017: 57; Henseler, Möller, und Surkamp 2011: 22). Das mit der intensiv-emotionalen Beschaffenheit von audiovisuellen Medien einhergehende Potential dürfe im FSU nämlich nicht ungenutzt bleiben. 3.3 Zentrale Aspekte und Prozesse der Filmrezeption 3.3.1 Die Rolle von Gefühl und Verstand Ganzheitlicher Filmgenuss impliziert sowohl eine kognitive als auch eine affektive Dimension, die untrennbar zusammenwirken (vgl. Henseler, Möller, und Surkamp 2011: 22). In der Wissenschaft herrscht Konsens dahingehend, dass es verschiedene Rezeptionstypen gibt, wobei Hartmann (2013: 110) folgende grundlegende Unterscheidung trifft: „[U]sers may approach media either in an [experiential and] involved or in a critically analytic and more distanced reception mode”. Der erfahrungsbasierte und involvierte Rezeptionsmodus habe zur Folge, dass die Zuschauenden vollständig in die erzählte Welt eintauchen und mitunter ihren Bezug zur Realität verlieren könnten. Emotional extrem involvierte Rezipienten „may start feeling like being in the company of the characters depicted on the screen” (ebd.: 121), was ein „think[ing] ‘within the narrative’” (ebd.: 110) bewirken könne. Im Falle des rationalen und kritisch-ana‐ lytischen Rezeptionsmodus seien sich die Zuschauenden stets der fiktiven Beschaffenheit der Inhalte bewusst und könnten dem filmischen Illusionsan‐ gebot so Widerstand leisten. Dies könne zu einer abgeklärten Distanz und einem verminderten Filmgenuss führen (vgl. ebd.: 111 ff). Die involvierte und die distanzierte Rezeptionsweise würden jedoch nicht zwangsläufig als zwei einander ausschließende Modi des Zuschauens auftreten, sondern: […] users process media content based on two distinct information processing systems that operate in parallel during exposure. The idea of two distinct processing modes has been […] empirically substantiated in various psychological dual-process theories (ebd.: 111). Trotz dieser Erkenntnis ist festzuhalten, dass der emotional involvierte Re‐ zeptionsmodus beim Filmschauen in der Regel die Überhand gewinnt (vgl. Hartmann 2013: 112; Vaage 2016: 186). Dies hängt damit zusammen, dass 75 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="76"?> eine Erlebnisorientierung im Rahmen des Eintauchens in die filmische Welt weniger Anstrengung erfordert als eine kritisch-analytische Grundhaltung (vgl. Hartmann 2013: 113). Zudem sind Filme und Serien meist auf die emotionale Eingebundenheit der Rezipienten angelegt (vgl. Schmetkamp 2016: 108). Welche Rolle Affekte im Filmerleben spielen, stellt derzeit das Zentrum zahlreicher Untersuchungen dar, nachdem das Gefühlsleben der Rezipienten in der filmwissenschaftlichen Theoriebildung lange Zeit kaum Beachtung fand (vgl. Tröhler und Hediger 2009: 7; Wuss 2009: 217). Eder (2009: 227) erkennt ein komplexes „Spektrum affektiver Phänomene“ im Zusammenhang mit Filmen und den darin vorkommenden Charakteren. So finde beispielsweise die empa‐ thische Anteilnahme an Filmfiguren nicht nur in Form von Emotionen statt, sondern könne auch Empfindungen und Stimmungen bei den Zuschauenden bewirken. Hinsichtlich der affektiven Phänomene spiele die Empathie für das Filmerleben eine Schlüsselrolle, wobei sie nicht mit Sympathie gleichzusetzen sei. Wuss (2009: 218) definiert Empathie als „einfühlendes Verstehen“ und legt damit eine Begriffsbestimmung zugrunde, die die beiden untrennbaren Seiten der Empathie betont: Gefühl und Verstand. In der Erforschung des Filmerlebens spricht man dementsprechend von einem Zusammenspiel aus kognitiver und affektiver Empathie, wobei die kognitive Empathie als Voraussetzung für empa‐ thische Emotionen fungiert (vgl. Gormász 2015: 126). Kognitive Empathie meint ein sogenanntes „Gefühlsverständnis“ (ebd.: 125), also ein (Bemühen um das) Verstehen dessen, was man fühlt. Affektive Empathie umfasst das empathische Mitgefühl bzw. das Nachempfinden der Gefühle einer Filmfigur (vgl. ebd.). Das Bewusstsein, dass es sich bei dem Filmcharakter um ein handelndes, fühlendes und urteilendes Subjekt handelt, sei „für den […] empathisierenden Nachvollzug der fiktionalen Figur wichtig“ (Wulff 2009: 386). Dies erfordere auch ein Verständnis für die sozialen Prozesse, Rollen und Beziehungen, in die die Figuren eingebunden sind (vgl. ebd.: 381). Letztlich werde ein Film also erst durch ein geeignetes Figureninventar kognitiv wie emotional und damit empathisch erlebbar (vgl. Wulff 2002: 439; Mastro et al. 2013: 85). Neben den Charakteren spielen auch Konfliktmomente beim Filmschauen eine wichtige Rolle, da sie nicht nur die Handlung narrativ wirksam vorantreiben, sondern zugleich intensive Emotionen bei den Zuschauenden evozieren (vgl. Wuss 2009: 212 f). Zeitgemäße Qualitätsserien inszenieren Konflikte häufig als Gewissens‐ konflikte bzw. als das Resultat von Situationen, die den Antihelden zu einem moralisch fragwürdigen Handeln zwingen. Bei der Rezeption und Verarbeitung von solchen Konfliktsituationen, kommen laut Wulff (2009: 386) folgende vier Ebenen der Textaneignung zum Tragen: Kognition, Empathie, Emotion und Moralisieren. Ich verstehe Empathie im Kontext meiner Arbeit als Schnittstelle 76 II Theoretische Grundlagen <?page no="77"?> von Emotion und Kognition und gehe von einem Dreiklang der Rezeption aus, bei dem die Zuschauenden kognitiv, emotional und moralisch tätig werden. Dem Moralisieren wird in meiner Studie besondere Bedeutung zuteil, weshalb ich auf diesen Bereich näher eingehen möchte. 3.3.2 Moralisieren als Element der Textaneignung Moralisieren meint eine die Rezeption permanent begleitende moralische Eva‐ luation der Figuren und deren Handlungen (vgl. Wulff 2009: 378), welche auch das Verstehen moralischer Konflikte impliziert (vgl. ebd. 381). Vaage (2016: 4) sieht moralische Evaluation als grundlegendes Element in der Auseinanderset‐ zung mit Filmen, Serien und Literatur an. Kaum ein Thema wurde so kontrovers diskutiert wie the morality of entertainment bzw. die Rolle der Moral bei der Unterhaltungsrezeption (vgl. Raney und Janicke 2013: 152; Schlütz 2016: 204; Eden, Grizzard, und Lewis 2013), wobei sich Pädagogen, Eltern, Theologen, Medienforscher, Politiker usw. in die Diskussion einmischen. Besorgnis entsteht vor allem im Kontext moderner Serien, die den Antihelden mit seinen Moral‐ verstößen als prägende Figur des 21. Jahrhunderts zelebrieren (vgl. Raney und Janicke 2013: 152). Mit dem Antihelden seien „multiple transgressions of political, social, ethical, generic, structural, and representational boundaries” (Däwes 2015: 18) verbunden, worin der negative Einfluss der Medien auf die Moral der Zuschauenden gesehen wird. Konkret wird den Medien häufig un‐ terstellt, für einen „decay in moral values“ (Mastro et al. 2013: 75) verantwortlich zu sein. Müller-Mall (2018: 101) führt moralische Gewissenskonflikte beim Schauen moderner Qualitätsserien auf die mit dem Antihelden einhergehende Ambivalenz zurück: Das Publikum fühle mit einem Helden, der jedoch nicht zu den „Guten“ gezählt werden könne. Im Extremfall würden die Zuschauenden sich mit einem Helden identifizieren und ihn als den „Guten“ empfinden, obwohl er ganz offensichtlich „böse“ ist (vgl. Wulff 2002: 450). Eden, Grizzard und Lewis (2013: 1) untersuchen die Art der Prozesse, welche bei der moralischen Urteilsfindung eine Rolle spielen. Zunächst wurde ein „moral judgment as the result of […] cognitive-based reasoning about right and wrong” (ebd.) angenommen. Diese Auffassung von einer kognitiv gesteuerten Moral erfuhr Kritik durch die Moralpsychologie: Hier wird der Moral in erster Linie eine intuitive und affektive Komponente zugeordnet, welche in einem nächsten Schritt durch prüfendes, rationales Abwägen ergänzt wird (vgl. ebd.; Mastro et al. 2013: 75; Hartmann 2013: 111). Mittlerweile besteht kein Zweifel mehr an der Wichtigkeit von Emotionen im Prozess der moralischen Urteilsfindung und die sogenannte dual-process theory (vgl. Eden, Grizzard, und Lewis 2013: 2) bzw. das dual-process 77 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="78"?> model of morality (ebd.: 9) gelten als etabliert. Ausschlaggebend ist in der Regel die moralische Intuition, bei der es sich um eine unverzüglich erfolgende positive oder negative Reaktion auf ein Verhalten handelt, welche als „sudden experience of emotion in response to a moral infraction” (ebd.: 8) beschrieben wird. Empirische Studien (z. B. Tamborini et al. 2009) haben gezeigt, dass die moralische Intuition entscheidend für den Mediengenuss ist: Wenn das Handeln eines Protagonisten bei einem Rezipienten intuitiv beispielsweise nur Wut und Abscheu hervorruft, dann wird ihm der Konsum des Mediums mit großer Wahrscheinlichkeit nicht viel Freude bereiten. Folgende Schlussfolgerung findet sich bei Mastro et al. (2013: 77): „[I]ndividuals will enjoy and be attracted to media content that adheres to their moral code and will reject and avoid content that violates their moral code”. Jeder Zuschauer hat einen anderen Moralkodex und reagiert entsprechend unterschiedlich auf Verstöße gegen die Moral. In Anlehnung an Eden, Grizzard und Lewis (2013: 10) und deren moral foundations theory hängt der Mediengenuss von folgenden Codes ab: 1. Sorge und Fürsorge, 2. Gerechtigkeitsempfinden, 3. Loyalität und Treue, 4. Akzeptanz von Autorität und damit einhergehenden Hierarchien, 5. Unantastbarkeitsgebot bezüglich bestimmter Werte. Ist ein Rezipient beispielsweise sehr religiös und schaut eine Serie, in der vom Protagonisten immer wieder blasphemische Kommentare geäußert werden, dann kann der Seriengenuss stark eingeschränkt oder gar verhindert werden. Allerdings ist es möglich, moralische Überzeugungen durch narrative Strategien zu manipulieren - insbesondere bei Zuschauenden, die sich leicht beeinflussen lassen (vgl. Vaage 2016: 1 f). 3.3.3 Wichtigkeit von Moral Disengagement Cues Zunächst kann moralische Loslösung recht unkompliziert gelingen, wenn die Zuschauenden sich vergegenwärtigen, dass es sich bei der in der Serie erzählten Geschichte um Fiktion handelt. Tabubrüche und Gewaltakte erweisen sich dann als „morally [not] significant in that [they do] not involve any real harm-doing” (Hartmann 2013: 110). Vaage (2016: xvii) bezeichnet dies als „fictional relief ”; damit ist gemeint, dass die Zuschauenden sich davon freigesprochen fühlen, 78 II Theoretische Grundlagen <?page no="79"?> 34 Vaage nennt den reality check als Pendant zum fictional relief (vgl. Vaage 2016: 26) und geht davon aus, dass die Konzepte einander ergänzen. Der Realitätscheck komme dann zum Einsatz, wenn die Zuschauenden in einen Gewissenskonflikt geraten. Dementsprechend definiert Vaage (ebd.: 25) den reality check folgendermaßen: „The spectator feels conflicted because she has been disregarding a rational moral evaluation of what the antihero does, but the reality check confronts her with and reminds her of the consequences of his actions, had they been actions in the real world, not just a fictional one“. fiktionale Charaktere rational und objektiv beurteilen zu müssen (ebd.: 23 und vgl. dazu auch Gormász 2015: 166; Johnson 2005: 188). 34 Für sämtliche Betrachtungen zur moralischen Dimension im Kontext der Unterhaltungsmedien ist die Affective Disposition Theory (kurz ADT) von ent‐ scheidender Bedeutung. Diese geht auf Zillmann und Cantor (1976) zurück und wurde seither oftmals adaptiert (zum Beispiel von Raney und Janicke 2013: 152). Die ADT besagt, dass Mediennutzer moralische Urteile über die fiktionalen Charaktere treffen, was wiederum ihren Genuss der jeweiligen Geschichte maßgeblich beeinträchtigt. Raney und Janicke (2013: 153) halten bezüglich der ADT fest, dass das Unterhaltungserlebnis von folgenden emotionalen Reaktionen gesteuert werde: ● Sympathie für bestimmte Charaktere, ● Hoffen für und Bangen um Lieblingscharaktere, ● Vergnügen und Genuss beim Sieg bzw. Vorankommen der Lieblingsfiguren. Der Grundgedanke der ADT lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: „According to ADT, a strong disposition toward the characters is a necessity for any enjoyment experience” (ebd.: 157), womit folgende Tendenz einher‐ geht: „The spectator enjoys a story the most if liked characters succeed, and disliked characters are given a proportionate punishment” (Vaage 2016, 8). Mit der ADT-Formel lässt sich der Genuss klassischer Hollywood-Geschichten mühelos erklären: Mutiger Superheld kämpft gegen Bösewicht, gewinnt den Kampf und zugleich das Herz der Zuschauer. Aber immer weniger Erzählungen folgen dem stereotypen brave hero fights and defeats evil villain-Plotmuster: Derzeit dominieren „protagonists whose conduct is (at best) morally ambiguous, questionable, and at times unjustifiable” (Raney und Janicke 2013: 154) die Serienlandschaft. Dies wirft Fragen hinsichtlich der Gültigkeit der ADT auf, mit welcher sich der Genuss von Serien nicht erklären lässt, die jenen moralisch am‐ bivalenten Charakteren eine Bühne bieten. Laut ADT müsste es zu einem „moral disapproval […] and ultimately decrease[d] enjoyment“ (ebd.: 155) kommen, was jedoch nicht der Fall ist. Empirische Studien (z. B. Raney 2004; Shafer 2009; Raney et al. 2009) belegen, dass die Zuschauenden Medieninhalte mit Antihelden 79 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="80"?> bevorzugen und dem Antihelden sogar mehr Sympathie entgegenbringen als einer traditionellen Heldenfigur. Aus diesem Grund schlagen Raney und Janicke eine Modifikation der ADT vor, wobei genreabhängige „specific story schemas“ (Raney und Janicke 2013: 157) eine entscheidende Rolle spielen. Damit ist gemeint, dass medienkompetente Rezipienten spezifische Schemata und Erwar‐ tungen ausbilden, die sie auf den jeweiligen Film bzw. auf die jeweilige Serie, die gerade geschaut wird, entsprechend anwenden. Diese Anwendung geschieht in der Regel unterbewusst und damit automatisch. Ein Rezipient, der z. B. einen Blockbuster wie Wonder Woman (2017) im Kino sieht, weiß in der Regel, dass ihn ein klassisches Superheldenmuster und jede Menge Action im Kampf gegen das Böse erwartet. Entscheidet man sich als Zuschauer hingegen für eine Serie wie Game of Thrones oder HoC, wird man bereits in der ersten Folge mit einer Welt konfrontiert, in der das traditionelle Schwarz-Weiß-Muster aufgehoben wurde. Als Rezipient erkennt man folglich, dass eine Superheldenfigur hier künstlich und fehl am Platz erscheinen würde und es können sich neue Erwartungen herausbilden, die mit neuartigen Anforderungen an die moralisch komplexe Hauptfigur verknüpft sind (vgl. ebd.: 156 f). Je öfter unterschiedliche Genres konsumiert werden, desto reibungsloser gelingt es, das passende story scheme anzuwenden, um den Protagonisten bewundern, sein Handeln gutheißen und die Erzählung genießen zu können. Gormász (2015: 166) erläutert, dass „die Frage nach Gut und Böse, richtig oder falsch ein wesentliches und immer wiederkehrendes Moment der Einbindung ist - selbst wenn die entsprechenden Antworten an den spezifischen Entwurf der erzählten Welt angepasst werden“ müssten. In diesem Kontext spricht Gormász (ebd.: 167) von einer „genrespezifi‐ sche[n] Wertanpassung“, welche durch story schemes erleichtert werden könne. Dies zeigen Janicke und Raney in einer Studie (2011) am Beispiel der Serie 24. Nachdem die Macher der Show den Protagonisten und Anti-Terror-Agent Jack Bauer und dessen moralisch fragwürdige Vorgehensweise (z. B. Folter als Mittel der Informationsgewinnung bei Vernehmungen) sorgfältig eingeführt und für eine entsprechende Erwartungshaltung bei den Fans der Serie gesorgt hatten, konnte folgende Entwicklung beobachtet werden: „Fans‘ enjoyment of the episode increased the more unattractive and immoral they rated the protagonist, Jack Bauer” (Raney und Janicke 2013: 157). Dies kann als moral disengagement bzw. als moralische Loslösung bezeichnet werden: Die Fans gewöhnten sich daran, dass Jack Bauer im Kampf gegen den Terrorismus moralische Grenzen übertritt, was sie dem Protagonisten jedoch nachsahen aufgrund eines „reframing harmful acts as moral ones through linkage to worthy purposes” (Hartmann 2013: 118). Auf diese Weise können die Rezipienten von Schuldgefühlen sowie moralischen Bedenken befreit werden und ohne 80 II Theoretische Grundlagen <?page no="81"?> schlechtes Gewissen in die fiktive Welt eintauchen (vgl. ebd.: 119). „Zu verstehen und zu billigen, warum eine Figur handelt, wie sie handelt, kann dazu beitragen, unsere moralische Beurteilung ihres eigentlichen Handelns milder ausfallen zu lassen“ (Gormász 2015: 137 f). Schlütz spricht in diesem Zusammenhang von moral disengagement als Rationalisierungsstrategie: Ein rationaler Grund für amoralisches Verhalten könne die Unmoral ein Stück weit entlasten (vgl. Schlütz 2016: 205). Solche in der Erzählung strategisch eingesetzten moral disengagement cues haben die Funktion, dem Zuschauer auf narrativer Ebene glaubhaft zu vermit‐ teln, dass die Handlungen des Protagonisten in irgendeiner Weise - und wenn auch nur scheinbar - gerechtfertigt sind (vgl. Hartmann 2013: 123; Raney und Janicke 2013: 159; Schlütz 2016: 205; Kessler 2016: 96). Moderne Serien zeichnen sich durch eine Vielzahl solcher moral disengagement cues aus, die in die Erzäh‐ lung eingeschrieben sind und von einem willigen Rezipienten entsprechend aufgegriffen werden können (vgl. Raney und Janicke 2013: 160). Ein moral disengagement cue kann beispielsweise in Form eines Voiceover-Kommentars des Antihelden eingesetzt werden, in dem dieser seine Tat erklärt; oder es kann sich dabei um eine Szene handeln, in der deutlich wird, dass der Gegner des Antihelden zu weitaus grausamerem Handeln fähig ist als der Antiheld. Somit würde eine Ausschaltung des „Bösesten“ gemäß eines „Bezugssystem[s] relativer Moral“ (Gormász 2015: 138) gerechtfertigt erscheinen. Letztlich steht außer Frage, dass ein Zuschauer, der eine Serie bzw. einen Film genießen will, einen Weg finden wird, dies zu tun - „even if this means they must overlook the moral failings in characters” (Raney und Janicke 2013: 158). Es komme nur auf die Aktivierung eines geeigneten story schemas an, welches eine moralische Loslösung in Gang setzen könne. Hier sollen noch einige mögliche Gründe aufgelistet werden, die den Reiz des Antihelden als Dreh- und Angelpunkt moderner Serien und jene Sympathy for the Devil nachvollziehbar machen, von der Carroll (2004), García (2013) und Hamburger (2018) in ihren gleichnamigen Beiträgen sprechen: ● Dabei kann zunächst der Frust in Anbetracht der Ungerechtigkeit der Welt eine Rolle spielen: [M]orally complex media characters may offer us a refuge from the cycle of frustration […], providing us an opportunity to enter a world where unfettered moral licence can be vicariously experienced, where [perceived] wrongs are righted even if the rules must be bent to do so (Raney und Janicke 2013: 162). Die Zuschauenden fühlen sich besonders zu den Antihelden hingezogen, da diese in der Lage sind, sich gegen das System effektiv zur Wehr zu setzen. 81 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="82"?> Auf diese Weise fungieren Antihelden als Hoffnungsträger für die Rezipi‐ enten, da sie stellvertretend für die Serienfans gegen die Unterdrückung und für die Freiheit kämpfen (vgl. ebd.: 162 f). ● Indem die Zuschauenden viele Informationen zur Geschichte, zum Hinter‐ grund und zum Umfeld des Antihelden erhalten, fällt es ihnen leichter, seine Perspektive einzunehmen und seine Handlungen nachzuvollziehen (vgl. Schlütz 2016: 207). Dadurch entsteht eine empathische Nähe zu den moralisch ambivalenten Charakteren, welche für den Seriengenuss wichtig ist (vgl. Gormász 2015: 19). Das Gefühl der Nähe suggeriert den Rezipienten zudem, den Antihelden besser als alle anderen Figuren zu kennen: „The spectator is blinded by familiarity with [the antihero], and perceives others as morally worse” (Vaage 2016: 90). ● Die Identifikation mit moralisch komplexen Helden fällt dem Publikum meist leichter als mit einer unerreichbaren Superheldenfigur, was damit zusammenhängt, dass „morally complex characters offer more ‘surface area‘ for the viewer to ‘grip‘” (Raney und Janicke 2013: 159). Statt eines perfekten Helden begegnet den Zuschauenden ein mit sich und der Welt hadernder Mensch mit Fehlern und Schwächen, Sorgen und Problemen. ● Oft wird die moralische Nachsicht mit dem Antihelden damit erklärt, dass das Unterhaltungserlebnis nur so aufrechterhalten werden kann (vgl. Schlütz 2016: 205 ff). Vaage (2016: 22 f) hält dazu fest: „[W]e morally disengage because we want to be entertained“. ● Moralische Komplexität sowie Ambiguität in der Figur des Protagonisten tragen zudem zum Realismus und zur Authentizität einer Serie bei, was die emotionale Involvierung der Zuschauenden erhöhen kann (vgl. Raney und Janicke 2013: 164). ● Schließlich spielt auch die Sensationslust mancher Rezipienten eine Rolle, die dem Antihelden gerne bei seinen Verstößen gegen die Moral zuschauen: „[T]he spectator quite commonly desires immoral events to befall characters in fiction simply because it makes a good story” (Vaage 2016: 103) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass viele Zuschauende beim Serienkonsum bereitwillig verhaltensrechtfertigende Disengagement-Strategien nutzen, um den Ermessensspielraum moralischer Akzeptanz ausweiten zu können. Auf diese Weise können sie ihre Lieblingsserien ohne Gewissensbisse genießen und den Antihelden fasziniert beobachten. Zudem spielt selbstverständlich die Erzählperspektive und die damit verbundene Zuschauerlenkung eine entschei‐ dende Rolle: Da Qualitätsserien meist aus Sicht des Antihelden erzählt werden, können die Rezipienten dessen Gedanken, Gefühle sowie Motive am besten 82 II Theoretische Grundlagen <?page no="83"?> nachvollziehen. Man hofft als Zuschauer in der Regel auf den Sieg bzw. das Vorankommen der Figur, deren Sicht die Erzählung dominiert. Darüber hinaus gibt es zwischen den Rezipienten, die für moral disengage‐ ment cues empfänglich sind und denen, deren Moralkodex eine Identifikation mit dem Antihelden verbietet, auch solche, die hin- und hergerissen sind zwischen Faszination und Abneigung. Ebenso wie die Antihelden Licht- und Schattenseiten aufweisen, ist auch davon auszugehen, dass viele Zuschauende ihnen ambivalente Gefühle entgegenbringen (vgl. Eder 2009: 238). In diesem Fall erscheint die These einleuchtend, die Schlütz (2016: 208) aufstellt: „Möglicher‐ weise wird den komplexen Medienfiguren weniger Empathie und Sympathie als vielmehr Interesse entgegengebracht […]. Faszination […] impliziert intensive Aufmerksamkeit kombiniert mit moralischer Distanziertheit“. Schlütz betont die wichtige Rolle, welche das Interesse an komplexer Unterhaltung und intellektueller Herausforderung bei der Rezeption von Qualitätsserien spielen kann. Dies sei jedoch von Zuschauer zu Zuschauer unterschiedlich und von zahlreichen individuellen Faktoren abhängig, welche im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit beleuchtet werden. 3.4 Controversial and Morally Ambivalent Issues im Englischunterricht der Sekundarstufe II 3.4.1 Neue Anforderungen an einen serienbasierten Englischunterricht: Umdenken statt Bedenken Die vielleicht offensichtlichste Anforderung im Kontext der Qualitätsserien und deren Einsatz im EU ergibt sich daraus, dass die einzelnen Serienstaffeln ein Gesamtkunstwerk darstellen, das möglichst nicht auseinandergerissen werden sollte. Da die Zeit für eine vollständige Serienrezeption im Unterricht in der Regel nicht zur Verfügung steht, ist es erforderlich, Begleitmaterialien (z. B. Viewing Journals, Diaries o.ä.) für das Schauen zuhause zu erstellen. Dadurch kann der Medienkonsumtrend des Serienmarathons für schulische Zwecke insofern lernwirksam genutzt werden, als die Lernenden sich sowohl rezeptiv als auch produktiv mit der Fremdsprache beschäftigen. Bei der Konzeption der Begleitmaterialien ist es wichtig, dass die Lehrkräfte umdenken, da eine Verkopfung durch eine einseitig kognitive Ausrichtung der Aufgabenimpulse vermieden werden sollte. Stattdessen ist eine Aufgabenkultur sinnvoll, die den Fokus auf das Empathisieren und das Moralisieren der SuS legt. Dies entspricht, wie oben aufgezeigt, dem natürlichen Rezeptionsverhalten. 83 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="84"?> 35 An dieser Stelle ist der Beitrag von van Driel und Kahn aus dem Jahr 2012 zu erwähnen, der auf den mangelhaften Umgang mit LGBT issues im Unterricht aufmerksam macht. Die Autoren sprechen von einem „oversimplifying sexual orientation and gender identity into ‘manageable’ binary categories. These include references to behaviour as being masculine or feminine, gay or heterosexual, normal versus abnormal, deviant versus acceptable and healthy versus unhealthy” (2012: 178). Dieser Befund sollte zum Nachdenken anregen - vor allem, wenn man bedenkt, dass die überwiegende Mehrheit der SuS, die sich als LGBT identifiziert, im europäischen und US-amerikanischen Raum mit Diskriminierung zu kämpfen hat: „LGBT-identified individuals experience overt and subtle intolerance in schools and the extent to which fundamental human rights appear to be violated” (2012: 176). Zur Untermauerung dieser Erkenntnisse zitieren die Autoren etliche Studien, wobei Kosciw et al. (2008) die wohl eindringlichsten Ergebnisse liefern, indem verdeutlicht wird, dass die Intoleranz gegenüber „anomaler“ sexueller Orientierung oft von Lehrkräften ausgehe. Die mitunter kompromisslos provokativen Qualitätsserien seit der Jahrtau‐ sendwende fordern die Zuschauenden moralisch heraus, indem sie ambivalente und kontroverse Inhalte thematisieren. Mit ihrem Einzug in den EU kann der oft geäußerten Forderung nach bedeutungsvollen Texten Rechnung getragen werden; Humes (2012: 13) erachtet es beispielsweise als „essential to present challenging material in order to encourage young people to engage constructi‐ vely with the complexities of the modern world”. In ihrer Beschaffenheit als herausfordernde Materialien, die sich den „complexities of the mordern world“ widmen, liegt eine weitere Anforderung an den serienbasierten EU: Die Inhalte müssen entsprechend aufbereitet werden, so dass eine zielgerichtete kommuni‐ kative Aufarbeitung im FSU erfolgen kann. Die sogenannten controversial issues können sich beispielsweise auf brisante und gesellschaftlich relevante Themen wie Rassismus, Politikverdrossenheit, soziale Ungerechtigkeit, Tierversuche, Impfdebatte, Schwulenfeindlichkeit, Sexismus oder auch die Legalisierung be‐ stimmter Drogen beziehen (vgl. Cowan und Maitles 2012: 1). Bei einigen dieser Aspekte handelt es sich um Brennpunktthemen, die im derzeitigen EU nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient hätten. 35 Cowan und Maitles (ebd.: 6) halten diesbezüglich fest, dass die Fremdsprachendidaktik sich nach wie vor „in the infancy of teaching controversial issues” befinde - obwohl ein didaktisch-pädagogischer Diskurs, welcher die Behandlung kontroverser und polarisierender Themen in den Blick nimmt, bereits vor ca. zehn Jahren eingesetzt habe (vgl. dazu Alter und Merse 2014; Showalter 2009; Gutjahr 2008). Nach wie vor bestehe Handlungsbedarf hinsichtlich der Erstellung di‐ daktisch-methodischer Leitlinien, wie das Lehren und Lernen mit controversial issues im EU konkret ablaufen könne. Insgesamt ist hinsichtlich der Behandlung kontroverser Themen ein Um‐ denken erforderlich: Lehrkräfte sollten diese nicht als Hürde im ohnehin 84 II Theoretische Grundlagen <?page no="85"?> stoffüberladenen Unterricht abtun oder sich von bewahrpädagogischen Vor‐ sichtsmaßnahmen leiten lassen. Controversial issues sind primär als Chance für den EU zu sehen, da sie als „Experimentierfeld alternativen Denkens“ (Alter und Merse 2014: 162) nutzbar gemacht werden können, indem sie die Möglichkeit bieten, „sich mit den Komplexitäten und Ambiguitäten der Welt auseinander‐ zusetzen“ (ebd.: 165). Durch eine Bewusstseinsschärfung gemäß dem Leitsatz Understanding the Modern World in all its controversy and complexity (vgl. Humes 2012: 21) könne die Demokratiefähigkeit der Jugendlichen gefördert werden: Die Diskussion von controversial issues anhand geeigneter Texte führe zunächst zu einem respektvolleren Klima zwischen den Jugendlichen, „as students feel that the school and classroom are where they can meaningfully contribute and discuss issues that seem relevant to their understanding of the outside world“ (Cowan und Maitles 2012: 7). Diese Einsicht spiele wiederum eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der SuS zu aktiven und engagierten Bürgerinnen und Bürgern, wobei Ross (2012: 42) von „individuals who will critically engage with, and seek to affect the course of, social events” spricht. Mit dem Erkennen und Beschreiben der Darstellung kontroverser Themen und einer anschließenden Aushandlung im Unterricht könne folglich ein hohes Bildungsmoment für Lernende einhergehen, womit ein wichtiger Beitrag zur Kompetenzentwicklung geleistet werde (vgl. Alter und Merse 2014: 161; Benthien und Gutjahr 2008: 15). Diesen Aspekt möchte ich im Folgenden vertiefen. 3.4.2 Controversial Issues und deren kommunikatives Potential für den Englischunterricht Das Potential von Serien, in denen Tabubrüche, moralische Verstöße durch Antihelden und controversial issues verhandelt werden, besteht in erster Linie darin, dass solche Texte affektiv markiert und somit in hohem Maß emotional aufgeladen sind (vgl. Schröder 2008: 55). Das liegt daran, dass in Serien insze‐ nierte Tabubrüche meist auf provozierende Weise bestehenden Normen und Werten widersprechen. Dies kann bei Jugendlichen ein stark ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis erzeugen, was für intensive Diskussionen genutzt werden kann, in denen die SuS sich über ihre Gefühle und Gedanken austauschen dürfen. Dabei sollte die Lehrkraft als Moderator dafür Sorge tragen, dass: ● unterschiedliche SuS-Stimmen geäußert und gehört werden - denn nur so könne ein „[E]mpower[ing] Students with Their Own Voice” (Smith 2012: 102) gelingen, ● ein respektvoller Umgang der Jugendlichen miteinander eine Gesprächs‐ kultur ermöglicht, 85 3 Rezeption von Qualitätsserien: Die Rolle von Emotion, Kognition und Moral <?page no="86"?> 36 Ein (fast) absoluter Freiheitsgedanke ist vor allem für die Kunst zu befürworten, in der es keine Einschränkungen geben sollte - abgesehen davon, dass Menschen nicht unfreiwillig zu Schaden kommen dürfen. Ansonsten gilt: Kunst darf aufrütteln, Augen öffnen, schreien und wehtun, um eine Botschaft wirksam zu kommunizieren. ● ein Klima der Aufgeschlossenheit vorherrscht, in dem Multiperspektivität als Chance geschätzt wird, ● eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik gelingt statt eines oberflächlichen Dahinplätscherns (vgl. Humes 2012: 15). Das auf diese Weise vollzogene Überschreiten der Tabugrenze des Schweigens durch Sprechen darüber „erzeugt ein Spannungsfeld, von dem eine produk‐ tive Kraft“ (Alter und Merse 2014: 162) ausgehen kann. Dies führt Braun (2007: 7) folgendermaßen aus: „Unweigerlich erzeugen [Tabus] den Reiz, die Verbote sprechend, schreibend, zeigend zu übertreten“. Das Sprechen über tabuisierte Inhalte könne darüber hinaus emanzipatorisch wirksam werden, wenn beispielsweise ein Tabu in der Phase der Aushandlung kritisch evaluiert und womöglich sogar in Frage gestellt werde (vgl. Alter und Merse 2014: 162). Auf diese Weise können bestehende Traditionen, gesellschaftliche Regulations‐ mechanismen und eventuell verkrustete Denkweisen hinterfragt werden, was einer soziokulturell relevanten Aufgabe entspricht. Dies dürfte insbesondere für Lernende, die sich in der Phase des Erwachsenwerdens befinden, als Bereiche‐ rung empfunden werden, denn „pupils are keen to know and understand the world they live in, they themselves could be the drivers of future development” (Simpson 2012: 55). Jugendliche benötigen die Fähigkeit, sich zu kontroversen, moralisch ambivalenten und auch tabuisierten Themen in der Fremdsprache kompetent und reflektiert äußern zu können und diesbezüglich Stellung zu beziehen. Damit würde eine Entwicklung Einzug in den EU erhalten, die ohnehin unaufhaltbar erscheint: Die zunehmende Enttabuisierung der Gesellschaft (vgl. Schröder 2008: 68), welche die „Aufhebung von Verneinung“ (Gutjahr 2008: 20) einerseits und die Bejahung gesellschaftlichen Wandels andererseits zum Ziel hat. Dem aufgeklärten Gedankengut folgend, herrsche nämlich die Ideal‐ vorstellung einer tabu- und schrankenlosen Gesellschaft vor, um maximale individuelle Freiheit sicherzustellen 36 (vgl. Süwolto 2017: 9). Dies darf jedoch nicht mit einem Werteverfall und moralischer Verrohung verwechselt werden; statt Werteverfall ist ein Wertepluralismus anzustreben. Tabubrüche können als Triebfeder bzw. Produktivkräfte kulturellen Fortschritts und der Expansion von Wissen fungieren und verdienen dementsprechend einen angemessenen Platz im zeitgemäßen EU (vgl. ebd.: 14). So könnte beispielsweise Radecks Überlegung 86 II Theoretische Grundlagen <?page no="87"?> 37 Michael Baron Dobbs wurde 1948 in einem Londoner Vorort geboren und verfolgte nach seinem Studium in Oxford und Massachusetts eine politische Karriere in England. Dobbs galt seinerzeit als wichtiger politischer Drahtzieher für die Konservative Partei und wurde vom Guardian 1987 als „Westminster’s baby-faced hit man“ bezeichnet (vgl. Chakelian 2015). Seit 2010 ist Dobbs Peer auf Lebenszeit im House of Lords. Neben seinen (2006: 6), „Tabus sichern Identität - Tabubrüche ermöglichen Entwicklung“, einen geeigneten Kommunikationsanstoß für einen reflexiven Stundenausstieg darstellen. Dies heißt nicht, dass im Kontext der vorliegenden Arbeit eine offensive Auseinandersetzung mit kontroversen oder gar tabuisierten Inhalten im EU be‐ fürwortet wird. Eine diesbezügliche Entscheidung hängt immer vom konkreten Thema und von der damit verbundenen Zielsetzung ab. Die Behandlung von LGBT issues mit dem Ziel, bei den SuS eine liberale Einstellung, Respekt und eine Distanzierung von einer heteronormativen Sichtweise zu fördern, erscheint beispielsweise zeitgemäß und wichtig. In meinen Augen kann sich der Mut, sich auf das Terrain der controversial issues zu wagen, auszahlen und die Chancen überwiegen gegenüber den Gefahren und Herausforderungen. Wenig sinnvoll wäre eine Diskussion über Tabubrüche allerdings mit unreifen SuS, die sich mit der Thematik nicht in ausreichend reflexivem Maß auseinandersetzen können. Dies könnte dazu führen, dass die Jugendlichen durch Albernheit und deplatzierte Kommentare ein vernünftiges Gespräch vereiteln. In der vorliegenden Dissertation möchte ich am Beispiel der Serie HoC untersuchen, inwieweit gerade provozierende Szenen, die controversial issues thematisieren und den Protagonisten beim Brechen von Tabus zeigen, aufgrund ihrer Wirkkraft Potential für den EU haben. 4 It’s Not TV. It’s House of Cards 4.1 Hintergrundinformationen 4.1.1 Geschichte der Serie: House of Cards als Adaption einer Adaption Die US-Dramaserie HoC spiegelt wie kaum eine andere Serie des 21. Jahrhun‐ derts wider, wie „Serien als operatives Gedächtnis des Fernsehens” (Engell 2011: 115) fungieren können. Das amerikanische Politdrama ging nämlich als „Adaption einer Adaption“ (Lampprecht 2015: 13) in die Mediengeschichte ein: Alles begann mit der preisgekrönten Romantrilogie des englischen Politikers Michael Dobbs 37 ; zwischen 1989 und 1994 verfasste Dobbs die Politthriller House 87 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="88"?> politischen Tätigkeiten gilt Dobbs als renommierter Journalist und Schriftsteller von politischen Romanen. of Cards, To Play the King und The Final Cut, wobei er auf seine Erfahrungen und Einblicke zurückgreifen konnte, die er als wichtige Figur des politischen Betriebs in England gewonnen hatte. Angesichts des Erfolgs der Buchreihe wurde diese von der BBC zu Beginn der 90er-Jahre für das Fernsehen adaptiert und in Form von drei je vierteiligen Miniserien ausgestrahlt. Beinah 20 Jahre später engagierte Netflix David Fincher für eine Neuauflage des HoC-Stoffes. Während die erste Staffel der US-Version der britischen Vorlage noch relativ eng folgt und mit Intertextualität bewusst spielt (so bedient sich der Politiker Underwood einer Reporterin gegenüber beispielsweise der gleichen charakteristischen Wortwahl, „You might very well think that, but I couldn’t possibly comment“, wie sein britisches Pendant, Politiker Urquhart), entfernen sich die übrigen fünf Staffeln zunehmend vom Original. Das amerikanische HoC ist also kein Abziehbild eines schon einmal da gewesenen Stoffes, sondern geht eigene Wege, indem es zeitgemäße Themen wie Politikverdrossenheit, Cyberspionage, Frauen in Führungspositionen, Abtreibung, Terrorismus und die Bedeutung von Social Media für die Politik aufgreift. Dusi (2011: 362) zufolge kann HoC als stark transformiertes Remake bezeichnet werden, da es eine Aktualisierung in Form „wesentliche[r] Veränderungen in Bezug auf Figuren, Zeit und Schauplatz“ vornimmt. Sowohl für das britische Original als auch für die US-Adaption spielen die zahlreichen Bezüge zu Shakespeares Dramenwelt eine wichtige Rolle. Shakespeares Dramen: Romantrilogie von Michael Dobbs BBC- Miniserie US-Version von House of Cards Macbeth, Othello, Richard III Abb. 8: HoC als Adaption einer Adaption (eig. Darst.) 88 II Theoretische Grundlagen <?page no="89"?> Der Dramaturgie des Shakespeare‘schen Königsdramas folgend, ermöglicht die Serie „einen Blick in tiefste menschliche Abgründe“ (Landau 2015: 20). In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass der Hauptdarsteller Kevin Spacey, kurz bevor die Dreharbeiten zu HoC begannen, als Erzbösewicht Richard III im Londoner Old Vic Theatre auftrat. Diese Performance prägte Spaceys Interpretation der Underwood-Rolle in HoC maßgeblich. HoC handelt von Frank Underwood, einem skrupellosen Südstaaten-Abge‐ ordneten der demokratischen Partei. Nachdem Underwood bei der Besetzung eines Ministerpostens übergangen worden ist, wird er zum Usurpator, der sich mit einem gleichermaßen intelligenten wie intriganten Plan vom Whip zum Vice President und schließlich zum President der Vereinigten Staaten hocharbeitet. Underwood geht auf seinem Weg an die Spitze der Macht buchstäblich über Leichen und wird immer ehrgeiziger und skrupelloser. Der Titel House of Cards könnte sowohl als Anspielung auf das Weiße Haus als auch auf das Parlament (The House entspricht dem House of Representatives) gedeutet werden; in beiden Fällen nimmt der Titel auf die US-Politik als fragiles Konstrukt Bezug, wobei die Karten von Underwood gemischt und ausgeteilt werden. Lampprecht (2015: 13) beschreibt HoC als das „faszinierende […] Porträt eines brutalen […] Self-made man, der, assistiert von seiner Frau, alle Widerstände überwindet.“ Die Paarkons‐ tellation im Zentrum der Serie stellt zweifellos eine ihrer bemerkenswertesten Attraktionen dar, wobei Claire Underwood (dargestellt von Robin Wright) von Staffel zu Staffel an Kontur und Stärke gewinnt. Trotz einiger Krisen finden Claire und Frank immer wieder zusammen und agieren als intellektuell gleichwertige Partner meist Seite an Seite. Die Vertrautheit der Verschwörer Frank und Claire schafft Lampprecht zufolge einen elitären Bereich in der Serie, zu dem die Zuschauenden privilegierten Zugang erhalten, was wiederum zur affektiven Bindung an die Protagonisten beitrage (vgl. ebd.: 15). Erwähnenswert hinsichtlich der Eheleute Underwood sind zudem die Par‐ allelen zu Lord und Lady Macbeth: Beide Paare sind kinderlos, womit die Ehefrauen hadern; darüber hinaus fungieren sowohl Lady Macbeth als auch Claire als Antriebskräfte, die hinter ihren Männern als manipulative master‐ minds agieren und keine Passivität oder Resignation dulden (vgl. Landau 2015: 22 ff; von Finckenstein 2017: 5-8; von Finckenstein 2019: 8-11). Während Claire also als moderne Lady Macbeth gesehen werden kann, unterscheidet sich der hemmungslose Frank von Macbeth und gleicht stattdessen dem Shakespeare-Urintriganten Richard III. Zudem bestehen Parallelen zwischen Frank und der Figur des Iago aus Othello, was sich insbesondere in den Asides widerspiegelt, die Frank ebenso wie Iago an die Zuschauenden richtet - mit 89 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="90"?> 38 Detailliertere Ausführungen zu den Parallelen zwischen HoC und Shakespeares Dramen finden sich in von Finckenstein 2019: 111-114, von Finckenstein 2017: 5-8 und von Finckenstein 2019: 8-11. Hier sind auch didaktische Hinweise für einen intertextuellen Vergleich zwischen Underwood und Richard III sowie Claire und Lady Macbeth enthalten. 39 Heidböhmer (2013) berichtet von „800 Millionen Dollar Gewinn“, die Netflix gemacht habe - „dank Kevin Spacey“. schwerwiegenden Folgen, auf die noch genauer eingegangen wird. 38 Hinsicht‐ lich der Shakespeare-Motive wird dem Sein-Schein-Leitmotiv in HoC tragende Bedeutung zuteil: Als prominenter Politiker ist Frank Underwood gezwungen, nach außen hin eine perfekte Fassade für seine Wähler aufrechtzuerhalten (vgl. Schubert 2017: 27). Hinter der Fassade des bodenständigen, gläubigen und kultivierten Bürgers verbirgt sich jedoch ein intriganter und machtbesessener Kämpfer, der seine Intelligenz und Gerissenheit für egoistische Ziele einsetzt. Die Underwoods machen folglich Lady Macbeth‘ Aufforderung, „look like th’innocent flower,/ But be the serpent under’t” (Shakespeare: 850.66f), zu ihrem Programm und täuschen damit eine ganze Nation. 4.1.2 House of Cards als Prototyp der Netflix-Ära Der Serie HoC wurde Lampprecht (2015: 24) zufolge eine Vorreiterfunktion zuteil, da sie als erste Internetserie ausschließlich auf Abruf verfügbar war. Die Politdramaserie wurde als erste Originalproduktion von und auf Netflix veröffentlicht und schrieb damit Mediengeschichte. Das Streaming-Portal ging ein großes Risiko ein, als es am 1. Februar 2013 die erste Staffel von HoC en bloc - also alle dreizehn Folgen am Stück - ins Netz stellte; das Wagnis entpuppte sich jedoch rasch als großer Erfolg 39 : Netflix hatte ein neues Serien-Modell initiiert und damit eine neue Art der seriellen Erzählstruktur begründet. Die Zuschauenden waren „vom Zwang des wöchentlichen Rituals und der Qual der Cliffhanger entbunden“ (Pramstaller 2014), womit die traditionelle Darrei‐ chungs- und Rezeptionsform des Mediums Fernsehserie, immer an einem be‐ stimmten Wochentag zu einer festgelegten Uhrzeit den Fernseher einschalten zu müssen, der Vergangenheit angehörte. Die Beschaffenheit von HoC als jederzeit verfügbare Internetserie habe die Art, wie eine Geschichte erzählt werden kann, grundlegend verändert (vgl. Richter 2013): Dies sei nun mit mehr Ambivalenz, narrativer Komplexität und Tiefgang möglich (vgl. dazu Brinker 2015: 309). Die Option, eine Serie am Stück zu rezipieren, sei besonders dann interessant, wenn die Episoden wie die Kapitel eines Buches als Teil eines größeren Ganzen konzipiert sind (vgl. Gormász 2015: 48). Für diesen Weg entschieden sich die HoC-Macher: Um sich von der traditionellen Organisation einer TV-Serie 90 II Theoretische Grundlagen <?page no="91"?> (bestehend aus in einzelne Episoden unterteilte Staffeln) abzugrenzen, wählten die Produzenten Chapters mit einer Kontinuität über die Staffelgrenzen hinaus (Staffel 2 beginnt also mit Chapter 14, Staffel 3 mit Chapter 27 usw.). Dadurch erfolgte eine Markierung des Textes als „‘quality’ or ‘good’ cultural object - associating House of Cards with the prestige of literature instead of TV” (McCormick 2016: 105). Die Verbindung zur Literatur wird in HoC darüber hinaus durch die bei Shakespeare entliehenen Asides verstärkt, welche Frank Underwood an sein Publikum richtet. Franks Asides werden häufig inszeniert, indem sein Gesicht in Naheinstellung gezeigt wird, was eine gewisse Nähe und narrative Interaktivität mit dem Protagonisten suggeriert, welche McCormick (ebd.: 106) mit dem Begriff der „screen intimacy“ beschreibt: The screen is likely closer to the [Netflix audience], perhaps even in [his or] her lap or bed, and this screen is the same one used for various forms of personal communication. So when Frank looks into the camera and says, “welcome to Washington” just before the opening title sequence of the first episode, the text has already established a particular relationship with the viewer. We might even think of Frank’s asides in terms of a Skype ontology, that we are video-conferencing with the narrative, or particularly with Frank himself. This structural choice plays on the dream of narrative interactivity - without, of course, actually allowing the viewer to speak back to Frank. Nonetheless, these direct addresses […] establish a textual intimacy that encourages binging as a means of sustaining the relationship as such (ebd.). Bei den 65th Primetime Emmy Awards wurde Netflix für die Serie HoC ausgezeichnet, welche „ein Novum in der Geschichte der Serienrezeption“ (Pramstaller 2014) begründet habe; damit wurde erstmals ein Preis an eine Serie verliehen, die nie im traditionellen Fernsehen ausgestrahlt worden war (vgl. Gormász 2015: 53). An dieser Stelle muss der nicht zu unterschätzende Einfluss des renommierten Regisseurs David Fincher erwähnt werden, der für die filmästhetisch ansprechende und aufwändige Aufmachung der Serie verantwortlich war (vgl. Edgerton 2015: 47). 4.1.3 Das Genre Politdrama: Popularität, Prestige und Provokation Das 21. Jahrhundert gilt als Blütezeit der Politdramaserien, die derzeit „im internationalen Fernsehen eine ausgeprägte Konjunktur“ (Dörner und Simond 2018: 33) bzw. „einen großen Boom“ (Dörner 2018: 187) erleben (vgl. dazu auch Besand 2016: 196; Däwes 2015: 25). Dies trifft in erster Linie auf die USA zu, aber der Trend zeigt sich auch in zahlreichen europäischen Ländern, wobei hier vor allem das viel gelobte dänische Format Borgen (2010 - 2013) erwähnt werden 91 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="92"?> muss. Interessanterweise stellt Deutschland Fuhrmann und Hellner (2018: 225) zufolge eine Ausnahme dar, wenn es um die Produktion und Rezeption von Politdramen geht: Auch wenn die wissenschaftliche Community dem Trend der Politdramaserie Aufmerksamkeit schenkt, was sich beispielsweise in der im Oktober 2016 in Dresden stattgefundenen Tagung „Politik in Fernsehserien“ widerspiegelt, fallen Politserien in Deutschland nicht in die Kategorie der Pu‐ blikumslieblinge (vgl. Dörner 2018: 187). Dies verwundert, wenn man bedenkt, dass politische Dramen aus dem Grundbestand der westlichen Literatur nicht wegzudenken sind und eine lange Tradition haben. William Shakespeare begründete mit seinen Historien eine eigene Dramen‐ gattung und verhalf politischen Stoffen damit nachhaltig zu Popularität. Auch das dramatische Schaffen von Friedrich Schiller, der wiederum stark von Shake‐ speare beeinflusst wurde, lässt sich in vielen Fällen dem Genre des Politdramas zuordnen, da er in seinen Texten historische sowie politische Stoffe aufgriff (wie beispielsweise in Don Karlos, Maria Stuart oder Wilhelm Tell). Im 20. Jahrhundert zeichneten sich populärkulturell gesehen neue Vorlieben ab und das politische Drama büßte seine prominente Stellung kurzzeitig ein, wenngleich es nie ganz verschwand (vgl. Lampprecht 2015: 1). Im 21. Jahrhundert änderte sich dies grundlegend und politische Stoffe wurden vermehrt in serieller Form erzählt: 24, House of Cards, Madam Secretary, Designated Survivor und Scandal sind nur einige Beispiele, wobei HoC als „erfolgreichste Polit-Serie“ (Breitweg et al. 2018: 243) in die Geschichte einging. Politik als Thema einer Serie über mehrere Staffeln hinweg bietet sich an, da die Serialität dem Politischen von Natur aus inhärent ist (z. B. durch Wahlen und Legislaturperioden). Dies kann an der Konzeption der Politserie The West Wing (1999-2006) verdeutlicht werden, bei der die zyklische Beschaffenheit des politischen Procedere in den USA zum strukturellen Charakteristikum der Staffeldramaturgie erhoben wurde. Zudem haben Politserien den Vorteil, dass sie während der Produktion einer neuen Staffel aktuelle Ereignisse, Stimmungen und Tendenzen aufgreifen und dem Zeitgeist entsprechend vermarkten können. Lampprecht (2015: 23) hält dazu Folgendes fest: Politdramaserien widmen sich Themen, Ängste[n], Spekulationen des Zeitgeists […] und spielen sie fiktional durch, wobei die um sie entstehenden Debatten Teil des Serienuniversums selbst werden. Serien sind damit in erster Linie politische Foren, Plattformen, auf denen Zeitthemen sichtbar und greifbar gemacht, aber nie in eine letztgültige Form gegossen werden. […] Mehr als eine politische Vision entwickeln sie also […] allgemeine Visionen davon, was Macht, was politisches Handeln im 21. Jahrhundert ausmachen kann. 92 II Theoretische Grundlagen <?page no="93"?> Dörner und Simond (2018: 34) verstehen unter dem Begriff Politdramaserie eine serielle Erzählung über politische Zusammenhänge, bei der es um Geschehnisse [geht], die mit politischen Institutionen und Akteuren wie Regierungen und Parlamenten, Präsidenten, Parteien und politischen Journalisten, Geheimdiensten und Spionage zu tun haben. Teilweise wird bei dem Begriff ‚Polit-Serie‘ auch ein wei‐ terer Politikbegriff zugrunde gelegt, sodass Serien, die sich mit Macht und Herrschaft sowie mit Kämpfen und Anerkennung befassen, ebenfalls einbezogen werden. Politik werde dabei entweder als Ideal-, Real- oder Machtpolitik dargestellt (vgl. Arenhövel 2018: 17; Breitweg et al. 2018: 249), wobei das Konzept der Machtpolitik für die Serie HoC zentral sei (vgl. dazu Kirchmeier 2016; Schubert 2017; Hackett 2015; Lim 2014). Darüber hinaus finden sich in HoC auch Elemente der Realpolitik, indem Politik zwar gute Ziele erreichen wolle, aber für deren Umsetzung mitunter moralisch fragwürdige Handlungen tolerieren müsse (vgl. Breitweg et al. 2018: 256). Ebenfalls zentral ist Lampprechts (2015) Unterschei‐ dung von drei Typen der Politdramaserie, wenngleich graduelle Abstufungen eine solche Differenzierung erschweren: a) Serien, in denen das Politische mehr am Rande eine Rolle spielt; politische Prozesse werden also nur in Teilen der Handlung thematisiert (z. B. The Good Wife). b) Serien, die zwar auf den ersten Blick nicht im politischen Milieu ange‐ siedelt sind, sich aber dennoch für ihre Dramaturgie in konstitutiver Weise politischen Prozessen und Problemen widmen; dabei geht es meist um Gemeinschaftsbildung, Legitimitäts- und Verfassungsfragen sowie das Spannungsfeld zwischen Politik und Ethik (z. B. Deadwood, Battlestar Galactica). c) Serien, die die unter b) genannten Themen ebenfalls behandeln und sich darüber hinaus explizit im politischen Milieu abspielen. Im amerikani‐ schen Kontext sind solche Serien als White House Dramas bekannt. Die in der hoffnungsvollen Stimmung des Bill-Clinton-Amerika entstandene Serie The West Wing gilt als Urtext dieses Subgenres. Zahlreiche neuere Serien nehmen darauf in unterschiedlicher Weise Bezug, wobei HoC als „zynische, postideologische Antwort“ (Kohlenberg 2016) auf The West Wing gesehen wird. Statt einer idealistischen Darstellung von Politik als Gutmenschentum, die als „naive Realitätsflucht“ (Herrmann 2018: 157) kritisiert wurde, trage HoC nämlich der depressiven Stimmung des zum po‐ litischen Stillstand gekommenen Post-Obama-Amerika Rechnung. Damit habe sich HoC als zeitgemäßes „Produkt einer veränderten politischen Kultur“ (Breitweg et al. 2018: 256) erwiesen. 93 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="94"?> Trotz der unterschiedlichen Typen im Bereich der Politdramen verweist Lampp‐ recht (2015: 17) auf ein Merkmal, welches alle diesem Genre zugehörigen Serien gemein haben: Eine Politdramaserie beziehe nie eindeutig politisch Stellung, um keine politische Interessensgruppe von der Rezeption auszuschließen. Dem‐ entsprechend müssen Politserien dem Gebot der politischen Unbestimmtheit und der Balance der Inhalte Folge leisten. Zudem wird den Politdramaserien eine einheitliche Funktion zuteil: Sie stellen - oftmals in kritischer Absicht (vgl. Arenhövel 2018: 10) - „in fiktionaler und zugleich spekulativer Form die Frage nach dem Wesen des Politischen schlechthin“ (Lampprecht 2015: 4). Dementsprechend würden sie Visionen des Politischen entwerfen und als Labore fungieren, in denen zeitgenössische Realität geformt werde, indem Ideen durchgespielt und Möglichkeiten sichtbar gemacht werden (vgl. ebd.). Insbe‐ sondere Serien wie Game of Thrones und HoC schließen an kollektive Ängste und Hoffnungen der Gegenwart an und können „damit auch als Dokument des politischen Unterbewusstseins unserer Zeit gelesen werden“ (Besand 2018: 2). Tatsächlich kann ein Teil der amerikanischen Serienproduktionen der letzten zwölf Jahre als eine Geschichtsschreibung der USA - geprägt vom Grundton eines „social commentary” (Däwes 2015: 26) - gelesen werden (vgl. Klein 2012: 237). Denson und Mayer (2012: 185-203) legen in ihrem Beitrag überzeugend dar, inwieweit politische Stimmungen in besonderer Weise durch serielle Fi‐ guren reflektiert und dokumentiert werden, was an einem Beispiel verdeutlicht werden soll: Während Präsident Bartlet in The West Wing als integrer Team‐ player inszeniert wird, verkörpert Präsident Underwood den Wunsch vieler Amerikaner nach radikaler Veränderung in einer Ära der Politikverdrossenheit. Eine Umfrage von CNN ergab im August 2014, dass nur 13 % der US-Bevölkerung ihrer Regierung vertrauen. Dieser Tiefpunkt kann vor allem dann als solcher er‐ fasst werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Clinton-Administration Umfragen zufolge das Vertrauen von 42 % der US-Bürger genoss (vgl. Breitweg et al. 2018: 257). Dementsprechend kann festgehalten werden, dass Gutmensch Präsident Bartlet ebenso dem Zeitgeist entsprach, wie es der rücksichtslose und zugleich effektive Präsident Underwood fast 20 Jahre später tut. Die moderne Serienlandschaft ist geprägt von einem Willen zu größtmög‐ lichem Realismus und Authentizität, wobei der Fiktion dennoch das Recht vorbehalten ist, die Realität nicht eins zu eins abbilden zu müssen, sondern eine publikumswirksame Dramatisierung vorzunehmen (vgl. Landau 2015: 19 f); dies kann als fiction is the lie through which we tell the truth beschrieben werden. Besonders im Kontext der Politik, welche bisweilen als langwieriges und zähes Geschäft wahrgenommen wird, gilt die „Balance zwischen Unterhaltungswert und Realitätsbezug [als] Drahtseilakt, den politische Serien leisten müssen, um 94 II Theoretische Grundlagen <?page no="95"?> Erfolg zu haben“ (Dörner und Simond 2018: 34). Im Kontext der Politdramaserien werden häufig sogenannte Realitätsindikatoren eingesetzt, indem realpolitische Geschehnisse thematisiert werden oder reale Personen (Politiker, Reporter usw.) auftreten. Die US-Version von HoC zeichnet sich dementsprechend durch zahlreiche Gastauftritte von John King, einem amerikanischen Journalisten und CNN-Moderator, aus (z. B. bei der politischen Debatte in Chapter 37). Darüber hinaus werden oftmals Fachleute und Insider mit Expertenwissen in die Serienproduktion eingebunden, um diese möglichst realitätsnah gestalten zu können (vgl. ebd.: 35). Wie bereits erwähnt, geht HoC auf den Politiker Michael Dobbs zurück, der seine Einblicke in den Politikbetrieb in die Narration einfließen ließ. Im Kontext der US-Serie spielte insbesondere das Engagement von Showrunner Beau Willimon eine entscheidende Rolle, der unter anderem für Hillary Clinton und ihre Kampagne als New Yorker Senatorin gearbeitet hatte. Dies bringt mich zu der Frage, wieviel Wahrheit in HoC steckt bzw. wie realistisch die Serie ist. Ex-Präsident Bill Clinton äußerte dazu eine klare Meinung und richtete folgende Worte an Spacey: „Kevin, 99 % of what you do on that show is real. The 1 % you get wrong is you could never get an education bill passed that fast” (Larson 2015). Diese Aussage bedarf einer sorgfältigen Abwägung. Einerseits zeigt HoC das politische Washington in der Tradition der Königsdramen Shakespeares. Dies hat zur Folge, dass die politische Sphäre der Serie als Bühne für die Machtkämpfe und Intrigen der Protagonisten fungiert - eine Bühne, die insbesondere der Entfaltung von Franks manipulativem Geschick dient (vgl. Lampprecht 2015: 17). Die Dramatisierung des Politischen findet in HoC somit durch die Inszenierung eines schonungslosen Selbstbe‐ hauptungskampfes herausragender Individuen statt. HoC zeigt „Politiker als ungehemmte Machtmenschen“ (Arenhövel 2018: 17), die gemäß eines survival of the fittest agieren. Lampprecht (2015: 18) sieht den Realitätsgehalt von HoC aufgrund dieser Dramatisierung des Politischen in Shakespeare‘scher Manier zunächst skeptisch, gesteht der Serie letztlich aber zu, „überraschend reale Debatten aufzugreifen und mit kontroversen politischen Visionen zu spielen“. Welche realen Debatten, Konzepte und Kontroversen in HoC thematisiert werden, soll im Folgenden kurz beleuchtet werden: In der ersten Staffel von HoC wird der Fokus auf politische Positionen, Prozesse und Verfahren gelegt; so wird der komplizierte Gesetzgebungsprozess am Beispiel des Education Reform and Achievement Act und des Delaware River Watershed Act auf einprägsame Weise illustriert (vgl. Breitweg et al. 2018: 246). Darüber hinaus bilden in Staffel I „the complex relations between journalists and politicians […] the heart of the narrative“ (Boutet 2015: 83). Figuren wie Tusk und Feng, die in der zweiten Staffel eine wichtige Rolle spielen, machen die tiefe Durchdringung 95 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="96"?> Abb. 9: Wahlkampfplakat: FU2016 und Instrumentalisierung der Politik durch die Wirtschaft deutlich. In Staffel 3 stechen besonders die Parallelen zwischen Franks America Works-Programm und Roosevelts New Deal-Reformen hervor. In der seit März 2016 in den USA verfügbaren vierten Staffel zeigt sich, dass HoC das Wechselspiel zwischen Realität und Fiktion mittlerweile nahezu perfekt beherrscht. Capatides (2016) stellt in ihrem Beitrag zur Frage „Has House of Cards become our political reality? ” fest, dass die vierte Staffel von HoC einen nie da gewesenen politischen Realismus präsentiert habe. Die Journalistin belegt dies, indem sie folgende Themen aus Staffel IV benennt: ● Angst vor Islamisten und Terrorismus; ● die zunehmende Wichtigkeit der Präsenz und Transparenz von US-Präsi‐ dentschaftskandidaten in den sozialen Medien (vgl. Desta 2016). So ent‐ scheidet sich der republikanische Präsidentschaftsanwärter Will Conway in HoC dazu, die (mitunter sehr persönlichen) Daten seines Smartphones mit der Öffentlichkeit zu teilen. Damit spielt HoC auf Hillary Clinton und die E-Mail-Affäre an, als deren Folge Clinton ihre elektronische Kommuni‐ kation der Öffentlichkeit zugänglich machte, um Vorwürfen diesbezüglich Einhalt gebieten zu können. Staffel IV von HoC zeigt unmissverständlich, dass Politik, politisches Image und mediale Darstellungen bzw. Selbstinsze‐ nierungen in der heutigen Zeit nicht mehr voneinander getrennt werden können; ● die Dynamik des amerikanischen Wahl‐ kampfes, welcher im Jahr 2016 neue Aus‐ maße an Dramatik und Obszönität annahm (vgl. Kohn 2016); dies greift HoC, Staffel IV, auf, was in folgendem Zitat Franks deutlich wird: „Politics is no longer just theatre - it’s show business. Let’s put on the best show in town”. Im Anschluss an diese Aussage in‐ szenieren die Demokraten eine Open Con‐ vention in Form eines medialen Spektakels, um den Running Mate des Präsidentschafts‐ kandidaten möglichst öffentlichkeits‐ wirksam zu bestimmen. Insgesamt führen die HoC-Politiker - entsprechend der politischen Realität - einen harten, aggressiven Wahlkampf, der die Zu‐ schauenden in einen para-politischen und damit höchst realistisch anmu‐ tenden Bereich entführt (vgl. Arenhövel 2018: 17 f). Dies lässt sich mit der von Netflix ab Dezember 2015 betriebenen Marketingmaßnahme FU2016.com begründen, die „einen rundum realistisch gestalteten, alle Fa‐ 96 II Theoretische Grundlagen <?page no="97"?> cetten abdeckenden Netzwahlkampf für Frank Underwood“ (Batroff et al. 2018: 271) implizierte. Arenhövel (2018: 18) konkretisiert dies, indem er schildert, wie „am selben Tag der Fernsehdebatte der ‚echten‘ Präsident‐ schaftsbewerber der Republikaner ein Wahlkampf-Bus von Frank Under‐ wood unterwegs ist und Underwood/ Spacey sich mit dem Slogan ‚Under‐ wood 2016 - Anything for America‘ selbst als Präsidentschaftskandidat vorstellt bzw. die neue Staffel der Serie bewirbt“. Man kann im Falle von HoC folglich von einer transgressiven Beschaffenheit der Serie sprechen, da sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion häufig überschneiden und damit bewusst gespielt wird (vgl. Däwes 2015: 26). Doch was macht den Reiz der Serie HoC, die Politik als Machtkampf und Politiker als machtbesessene Egomanen zeigt, für Millionen Menschen weltweit aus? Auf zwei Faktoren möchte ich kurz eingehen: Zum einen besteht für viele Rezipienten die Faszination von Politdramaserien darin, dass diese einen Blick hinter die politischen Kulissen ermöglichen - je realitätsnäher die Serien dabei erscheinen, desto authentischer und exklusiver fühlt sich dieser Blick an (vgl. Dörner und Simond 2018: 35). Zum anderen lässt sich der Erfolg der Serie HoC damit begründen, dass eine populäre Politikauffassung gemäß dem Motto „Das Volk gegen das System“ bedient wird. Diese Gesinnung impliziert folgende Annahmen: Politiker seien falsch und würden lügen; die Bürger seien entweder passive Nutznießer, Opfer der Machttragenden oder zum Scheitern verurteilte Rebellen (vgl. Lampprecht 2015: 19). HoC findet einen ganz eigenen Weg, mit der momentan vorherrschenden Politikverdrossenheit umzugehen: Anstatt die aktuelle Lage zu idealisieren oder diesbezüglich den moralischen Zeigefinger zu erheben, will die Serie „als ironische[r] Kommentar auf die aktuelle Politik“ (Arenhövel 2018: 18) verstanden werden. Wenn die Politik in der Tat […] verdorben ist, dann muss moralische Empörung als antiquierter Aktionismus erscheinen. Die einzige […] stilsichere Reaktion kann hier sein, […] in der amüsierten Anerkennung unserer eigenen Machtlosigkeit den Trost eines überlegenen Wissens zu finden. House of Cards verschafft uns das Vergnügen der Komplizenschaft: Die Serie lädt uns ein, einen privilegierten Blick hinter die Kulissen der Macht zu werfen und dort in karikierend übersteigerter Form zu finden, was wir insgeheim immer schon vermutet haben. Indem wir uns […] der kalten Persona Frank Underwoods annähern, erheben wir uns […] über die Masse der Naiven […]. Mit anderen Worten: Als Fans von House of Cards feiern wir unsere eigene politische Abgeklärtheit (Lampprecht 2015: 19 f; meine Hervorhebung). Insgesamt haben es Politdramaserien in Deutschland eher schwer und zählen, wie bereits erwähnt, nicht zu den Lieblingssendungen auf dem deutschen Markt. 97 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="98"?> Wenn dennoch ein Politdrama geschaut werde, dann sei es für das deutsche Publikum attraktiver, wenn Protagonisten nach eigenen moralischen Grundsätzen handeln und dabei auch mal zivilen Unge‐ horsam gegen die Amtshierarchie durchsetzen […]. Polit-Märchen, denen zufolge man dem etablierten politischen Personal völlig vertrauen kann und am Ende des Tages immer alles wieder gut wird, möchte der deutsche Zuschauer nicht sehen. Kritische Helden jedoch, die den Eliten misstrauen und der Gerechtigkeit auch gegen Widerstände der Obrigkeit zum Durchbruch verhelfen, finden durchaus breite Zustimmung (Dörner 2018: 192). Dies zeigt sich am Protagonisten Frank Underwood, auf den ich nun genauer eingehen werde. 4.1.4 Faszination Frank Underwood 4.1.4.1 Charakterportrait des Antihelden Bei einer Charakterisierung von Frank Underwood ist auffällig, dass Franks private Seite (seine angedeutete Bisexualität, seine Vorlieben außerhalb der Arbeit, seine Beziehung zu Claire) meist im Schatten bleibt, was dem Reiz der Figur jedoch keinen Abbruch tut - im Gegenteil. Lampprecht (2015: 21) nimmt eine aufschlussreiche Analyse von Franks Persönlichkeit vor und beschreibt den Protagonisten als [h]ochintelligent, stets perfekt vorbereitet, weder von moralischen Zweifeln noch von persönlichen Schwächen behindert. Frank schläft wenig, arbeitet hart und tritt doch stets elegant, frisch und alert auf. Seine knappen Freizeitstunden nutzt er, um sich im Fitnesskeller und auf dem Joggingpfad auch körperlich zu stählen für den Krieg […]. So ist Frank in vielerlei Hinsicht ein Übermensch, der perfekte Homo sapiens 2.0, bis ins letzte angepasst an die Anforderungen der schönen neuen Welt neoliberaler Selbstausbeutung und Nutzenmaximierung. Wer House of Cards konsumiert, übt sich immer auch schon auf spielerische Weise für den eigenen Kampf auf dem Human-Resources-Markt. Von Frank Underwood lernen heißt siegen lernen […]. Damit ist durch Underwood ein neuer Menschenschlag repräsentiert, der Prototyp eines kompromisslosen, über Leichen gehenden Karrieremanns. Ustorf (2019: 33) hält fest, dass Soziopathen wie Frank Underwood in der kompetitiven Gesellschaft „mit ihrem Verhalten beruflich weit kommen“ würden. Tatsächlich gilt der Soziopath als eine der prägenden Figuren unserer Zeit, weshalb ihm ein entsprechender Platz in den Qualitätsserien sicher sei (vgl. ebd.). Hier trete er 98 II Theoretische Grundlagen <?page no="99"?> oft in Gestalt des Antihelden in Erscheinung. Frank Underwood erweist sich als einer der Antihelden, [who are] highly versatile in accommodating their linguistic registers to alternating situational contexts. As a result, they are framed as resourceful, multifaceted, and captivating individuals in a way that accounts for the tremendous pop-cultural impact and economic success of these TV shows (Schubert 2017: 25). Bei einer Charakterisierung von Frank lohnt es sich, einen Blick auf die Parallelen zwischen ihm und Donald Trump zu werfen: Sowohl Trump als auch Underwood können als Anti-Establishment-Politiker gesehen werden, die für radikale Veränderung stehen. Damit sei dem Wunsch zahlreicher Amerikaner entsprochen worden, die nach der politischen Unbeweglichkeit und dem Still‐ stand des Post-Obama-Amerika einen politischen Umschwung herbeisehnten (vgl. Kohlenberg 2016). Trotz der Unmenschlichkeit und Härte, die Frank im Kampf um die Macht immer wieder zeigt, müsse er in mancher Hinsicht dennoch als eine optimistische Figur [bezeichnet werden]. Er rettet Washington vor seinem eigenen Stillstand. Underwood will kein guter Mensch sein, er will effektiv sein. Denn Effizienz ist die Essenz seiner Macht. Es ist ein sehr zynischer Optimismus. Die Frage, die die Serie stellt, lautet: Ist jemand wie Francis Underwood an diesem Punkt in unserer amerikanischen Demokratie die einzige Person, die noch irgendetwas bewegen kann? (Eason im Gespräch mit Kohlenberg 2016). Frank Underwood kann folglich als politischer Antiheld klassifiziert werden, der mit allen Mitteln gegen den Stillstand des Systems vorgeht: In einem System, das so korrupt ist wie die US-Politik, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich mit noch korrupteren Mitteln an die Spitze zu kämpfen. Die moralische Ambivalenz entwickelt sich auf diese Weise zum strukturellen Grundprinzip der Serie: Nicht ein moralisch integrer Politiker (wie Präsident Garrett Walker in Staffel 1 und 2) kann der politischen Welt geben, was sie braucht; was gebraucht wird, scheint nämlich ein Mann wie Underwood zu sein, der ohne Rücksicht auf Verluste agiert und dennoch zur Parteinahme einlädt (vgl. dazu Kessler 2016: 93; Vaage 2016: xvi). Bei ihm handelt es sich um einen Protagonisten, dem „traditionell die Antagonistenposition vorbehalten war“ (Kessler 2016: 94). Dadurch komme es zu Situationen, in denen sich „tatsächlich […] ein ‚böser‘ Held und ein ‚guter‘ Widersacher gegenüber[stehen]“ (Kessler 2016: 94). Ob die Zuschauenden das so wahrnehmen, sei allerdings fraglich, da die „größte Nähe […] traditionellerweise zum Protagonisten hergestellt“ (ebd.: 101) werde. In HoC wird diese Nähe zu Frank forciert, indem Franks Asides als sympathiestrategische Verfahren 99 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="100"?> eingesetzt werden, die eine Komplizenschaft mit Frank unterstützen (vgl. ebd.: 102; Dörner und Simond 2018: 35). 4.1.4.2 Schlüsselrolle der Asides für die Komplizenschaft mit Frank Cuddon (2013: 55) definiert Aside, was mit Beiseite-Sprechen übersetzt werden kann, als a few words or a short passage spoken in an undertone or to the audience. It is a theatrical convention and by convention the words are presumed inaudible to other characters on stage; unless of course the aside be between two characters and therefore clearly not meant for anyone else who may be present. Das Durchbrechen der vierten Wand hat eine lange literarische Tradition und ist wohl besonders bekannt aus den dramatischen Stücken William Shakespeares und Bertolt Brechts, der damit einen Verfremdungseffekt anstrebte. In HoC fungieren Franks Asides als narrative Antriebskraft der Serie, indem sie erläutern, reflektierende Selbstbeschreibungen offenbaren und ironisch sowie bisweilen sarkastisch kommentieren. Dies fasst Schubert (2017: 33) fol‐ gendermaßen zusammen: „[Frank] reveals his true motivations and objectives to the implied television audience […]. In addition, his disarming self-ironic assessment greatly contributes to the show’s satirical humour”. Mit seinem satirischen Blick auf die US-Politik bringt Frank eine Sichtweise zum Ausdruck, die Schubert zufolge vor allem für jene Zuschauenden attraktiv sein dürfte, „who have a general feeling of political alienation” (ebd.). Auffällig sei dabei, dass Frank nur seinem Publikum gegenüber stets ehrlich sei und unverblümt die Wahrheit sage - im Gegensatz zu Lug und Trug im Umgang mit anderen Politikern (vgl. Sorlin 2015: 134; Landau 2015: 29). Auf diese Weise wird den Zuschauenden der Eindruck vermittelt, sie hätten einen privilegierten Zugang zu seinen Gedanken und Gefühlen und seien es wert, in geheime Pläne einge‐ weiht zu werden (vgl. Breitweg et al. 2018: 263). Ohne Franks Asides könnte das Publikum weder einen Blick hinter die Kulissen Washingtons werfen noch einen Einblick in die Gedankenwelt des Protagonisten erhalten, was eine moralische Verurteilung des Politikers sehr viel wahrscheinlicher machen würde (vgl. ebd.). Stattdessen gelingt es Frank durch seine nachvollziehbaren Rechtfertigungen, für kognitive Empathie aufseiten der Zuschauenden zu sorgen. Damit werden die Rezipienten zu Verbündeten, Mitwissern und Komplizen (vgl.ebd.). Im Falle von HoC fungieren die Asides folglich als moral disengagement cues „that convey justification for the immoral behavior to the viewer” (Raney und Janicke 2013: 160). 100 II Theoretische Grundlagen <?page no="101"?> Darüber hinaus bewirken Franks Asides ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktion und Realität, was insbesondere mit der Inszenierung des Beiseite-Sprechens zusammenhängt: Frank, dessen Gesicht meist als Nahein‐ stellung gezeigt wird, spricht nämlich eine Art Einladung zur „imaginativen Teilhabe“ (Rieger-Ladich 2016: 88) und „imaginierte[n] Interaktion“ (vgl. Gor‐ mász 2015: 121) an die Zuschauenden aus. Die Rezipienten, die diese Einladung annehmen (und mit Frank mitfiebern), werden beim Schauen von HoC als Verbündete in die Handlung involviert (vgl. Hamburger 2018: 101; Gormász 2015: 121). Hagen, Horton und Wohl sprechen in diesem Kontext von einer „parasoziale[n] Beziehung“ (Hagen 2011: 253) und spielen damit auf die durch die Serie erzeugte „Illusion einer Face-to-Face-Beziehung mit dem Akteur“ (Horton und Wohl 1956: 215) an. 4.1.4.3 Funktion der Tabubrüche in House of Cards Zunächst ist festzuhalten, dass HoC keine Serie ist, in der Blutbäder angerichtet werden oder ein Tabuthema wie Inzest behandelt wird. Dennoch spielen Tabu‐ brüche bzw. Aspekte, die als solche empfunden werden können (wie zum Bei‐ spiel Ehebruch, Promiskuität, Mord, Intrigen, Korruption, Drogen-, Tablettensowie Alkoholmissbrauch, Prostitution, Vergewaltigung und Abtreibung), eine Rolle. Schmetkamp (2016: 120) verdeutlicht, dass die Zuschauenden in der Regel fasziniert seien von solchen Entwicklungen, die sie moralisch herausfordern und zum Nachdenken anregen würden. Dabei sei es ein Vorteil von Fiktionen, den Rezipienten Möglichkeiten des imaginären Erprobens von Situationen und Handlungen zur Verfügung stellen zu können. Wie bereits aufgezeigt wurde, gehört die Darstellung von Tabus in das Handlungsrepertoire moderner Serien und bei den Zuschauenden herrscht meist eine entsprechende Erwartungshal‐ tung vor. Tabubrüche fungieren als Mittel der Zuschauerbindung, was im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit am Beispiel von HoC untersucht wird. In HoC agiert Frank als Tabubrecher, womit verdeutlicht werden soll, dass er sich ohne schlechtes Gewissen über moralische Gebote hinwegsetzt. Dies ist vor allem brisant, wenn man bedenkt, dass Underwood als (fiktiver) Präsident der USA Tabus verletzt, die eine wichtige gesellschaftsschützende Funktion haben: Tabus üben „soziale und politische Kontrolle aus“ (Schröder 2008: 53) und tragen zur Stabilität von Gesellschaften bei (vgl. Gutjahr 2008: 48). Indem Frank seine Erhabenheit darüber zelebriert, zeigt sich, dass er das politische Kartenhaus der USA mit allen Mitteln zum Einsturz bringen will. Franks Tabubrüche lassen folglich keinen Zweifel an der Gefahr, die von ihm ausgeht. Mit dieser Gefahr können die Thrillerelemente begründet werden, welche HoC einen besonderen Reiz verleihen. Auch wenn es sich bei HoC primär um ein Politdrama handelt, 101 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="102"?> 40 DJI steht für das Deutsche Jugendinstitut in München; die Jugendsurvey „Jugend und Politik“ umfasst mittlerweile drei Wellen: Hoffmann-Lange (1995), Gille und Krüger (2000), Gille et al. (2006). 41 Es muss jedoch angemerkt werden, dass Jugendstudien wie die oben genannten Angriffs‐ fläche bieten. Westle (2006: 215) kritisiert beispielsweise, dass politische Zufriedenheit/ Un‐ zufriedenheit und Interesse/ Desinteresse stark von momentanen Stimmungen und Krisen abhängig seien; Westle spricht in diesem Kontext von „situativen Großereignisse[n]“ (ebd.), die in der Lage seien, in der Gesellschaft kurzfristige Stimmungen in Form von Wellenbewegungen auszulösen. Um nicht nur jene schnelllebigen Bewegungen zu erfassen, seien Langzeitstudien statt punktueller Erhebungen erforderlich. weist die Serie stellenweise Elemente eines Politthrillers auf (vgl. Kategorisierung auf der Seite moviepilot.de). Golde (2002) geht in diesem Kontext auf das Konzept der Allmachtstellung ein, welches sie dem Genre des Psychothrillers zuordnet. Eine Figur demonstriere ihre Allmachtstellung vor allem im Töten, da sie so ihre maximale Kontrollfunktion über die Gesellschaft ausleben könne (vgl. Golde 2002: 88). Im Psychothriller habe das Anwenden von (psychischer und physischer) Gewalt das Ziel, „eine Veränderung der Gesellschaft und ihrer sozialen Normen sowie eine Etablierung des tätereigenen Wertesystems zu bewirken“ (ebd.). Ebendies trifft auf Underwood und seine Agenda zu. 4.2 Teaching English with the Political Drama Series House of Cards 4.2.1 Theoretische Vorüberlegungen: Die Politdramaserie im Englischunterricht der Sekundarstufe II 4.2.1.1 Jugend, Schule und Politik Die deutsche Jugendforschung widmet sich seit den 1990er-Jahren verstärkt dem Thema Jugend und Politik und legt dazu regelmäßig empirische Befunde vor. Die Ergebnisse und Trends ausgewählter repräsentativer Umfragen unter Jugendlichen möchte ich hier kurz zusammenfassen: Die DJI-Jugendsurveys 40 können für den Zeitraum zwischen 1992 und 2003 keine massiven Rückgänge hinsichtlich des politischen Interesses ermitteln (vgl. Gaiser et al. 2005: 191); im Gegensatz dazu steht die sich deutlich abzeichnende zunehmende Unzufrie‐ denheit mit der Wirklichkeit der Demokratie (vgl. ebd.: 177, 181). Zudem ist die 18. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2019 (Deutsche Shell 2019) zu nennen, die angibt, dass sich 41 % der Jugendlichen grundsätzlich als politisch interessiert bezeichnen. Zugleich kann die Shell-Studie ein ausgesprochen hohes Maß an Politikersowie Parteienverdrossenheit bei 71 % der befragten Jugendlichen nachweisen (vgl. ebd.: 19). 41 102 II Theoretische Grundlagen <?page no="103"?> Roller, Brettschneider und van Deth (2006: 7) halten fest, dass die Jugend von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Demokratie, für deren Stabilität und Funktionsfähigkeit sei. In diesem Kontext stimmen Befunde zur zunehmenden Distanzierung Jugendlicher von politischen Themen im engeren Sinn und etablierten politischen Institutionen nachdenklich (vgl. Shell-Studie 2019; Gille 2018a und 2018b; Schneekloth et al. 2017): Die Rede ist hier bei‐ spielsweise von einer stetig wachsenden Parteienverdrossenheit, die häufig mit Ohnmachtserfahrungen und einem damit verbundenen Gefühl, mit ihren Anliegen und Themen von den Politikern nicht gesehen und im schlimmsten Fall im Stich gelassen zu werden, zusammenhängt (vgl. Calmbach et al. 2011: 72; Shell-Studie 2019; Seidel 2019). Trotz der sich deutlich abzeichnenden Distanz Heranwachsender zum politi‐ schen System aufgrund eines Vertrauensverlusts gegenüber etablierten Parteien der bürgerlichen Mitte sind junge Menschen aber nicht unpolitisch. Im Gegenteil: Sie wollen mitgestalten, weichen allerdings aus auf punktuelle, themenspezifische oder andere informelle Aktionen außerhalb der Parteien, die eher expressiv und protestorientiert sind und auch im Internet stattfinden können (Gille 2018b: 17). Während Politik im engeren Sinn (z. B. Legislaturperioden, Diskussionen von Gesetzesentwürfen, Antrittsreden usw.) von Jugendlichen häufig als lebensfern und damit irrelevant eingestuft wird, zeigt sich ein zunehmender Trend bei jungen Menschen, sich für politische Belange im weiten Sinn einsetzen zu wollen. Dies sei besonders dann der Fall, wenn sie darin die Bedeutung für das eigene Leben oder den künftigen Fortbestand der Menschheit erkennen könnten (vgl. Seidel 2019; Hänel 2019). Somit entwickelte sich eine junge „Klima-Generation“ (Hänel 2019), die sich - inspiriert von Greta Thunberg - vor allem durch ihr Engagement für Umweltschutz hervortut. Dieser Trend spiegelt sich im Aufstieg der Bewegung Fridays for Future seit März 2019 wider, wobei vor allem junge Menschen in vielen Ländern der Welt zum Klimastreik mobilisiert wurden und werden (vgl. Hänel 2019; Olbrisch 2019). Insgesamt lässt sich festhalten, dass Jugendliche durchaus politisch engagiert sind und punktuell aktiv werden - auch wenn dieses Engagement sich meist nicht im Rahmen konventioneller politischer Beteiligungsformen (z. B. als Mitarbeiter/ in bei einer Partei) abspielt (vgl. Gille 2018b: 17). Gille (ebd.: 19) schließt von der oft kompromisslosen Haltung der jungen Generation, die sich in ihrer starren Protestorientierung zeigt, auf Defizite in deren Politikverständnis […]. Demokratie benötigt nicht nur aktive Bürgerinnen und Bürger, die ihre politischen Forderungen einbringen, sondern auch 103 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="104"?> 42 An dieser Stelle muss auf die Wirkkraft der Plattform YouTube verwiesen werden, die Jugendliche häufig als Informationsquelle nutzen (vgl. Hänel 2019). So erregte beispielsweise das kurz vor der Europawahl 2019 hochgeladene Video des deutschen YouTubers Rezo mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ Aufsehen. Rezo kritisiert in seinem Beitrag primär die CDU, indem er u. a. deren Mangel an Engagement für den Klimaschutz hervorhebt. Damit verschaffte sich Rezo eine große Reichweite: Bislang hat das Video über 18 Millionen Klicks erhalten (vgl. ebd.). die Akzeptanz von Interessenkonflikten sowie die Bereitschaft, sich auf Aushand‐ lungsprozesse mit politisch Andersdenkenden einzulassen. In der Vermittlung dieser beiden Aspekte demokratischer Politik liegt eine zentrale Aufgabe politischer Bildung. Als weiteres Defizit kristallisiert sich aus den Erkenntnissen repräsentativer Jugendstudien die offensichtliche Politiker- und Parteienverdrossenheit jugend‐ licher SuS heraus, wobei die „Schuld“ daran oft den Medien und ihrer publi‐ kumswirksamen Inszenierung politischer Themen zugewiesen wird. Vetter (2006: 241) kritisiert hier vor allem die privat-kommerziellen Sender und die mit ihnen seiner Ansicht nach einhergehende Informationsverflachung: „Politiknachrichten werden häufig als Infotainment verpackt. Skandalisierung und Negativismus dominieren in den neuen Medienformaten, die besonders jüngere Menschen ansprechen sollen“ (vgl. dazu auch Calmbach et al. 2011: 75). Heute gilt der negative Einfluss des Privatfernsehens auf Heranwachsende als überholt, da Internet und Social Media eine unanfechtbare Schlüsselposition im Bereich der politischen Informationssuche einnehmen (vgl. Shell-Studie 2019: 14). 42 Zweifellos genügt es hinsichtlich des mangelnden Vertrauens Jugendlicher in etablierte Parteien und Politiker nicht, die Schuld bei den Medien zu suchen. Da die Schule einen politischen Bildungsauftrag hat, wird der Stellenwert, welcher der politischen Bildung in der Sekundarstufe II beigemessen wird, im Folgenden untersucht: Boeser (2002: 119) und Westle (2006: 238) weisen auf die Defizite hinsichtlich politischer Bildung in der gymnasialen Oberstufe in Bayern hin. Boeser (2002: 121, 124) zufolge hat der Sozialkundeunterricht an bayerischen Gymnasien im Vergleich zu anderen Fächern quantitativ keinen hohen Stellenwert: Die zehnte Jahrgangsstufe sei die einzige Klassenstufe, in der am Gymnasium politische Bildung verpflichtend für alle SuS im Rahmen eines eigenen Un‐ terrichtsfaches vermittelt werde. Die einzige Ausnahme sei der wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Zweig an bayerischen Gymnasien, in dem das Fach Sozialkunde mehrjährig und mit höherem Stundenkontingent unterrichtet werde. Allerdings hält Boeser (ebd.: 121) diesbezüglich fest, dass „weniger als zehn Prozent aller Schülerinnen und [nur] ein Prozent aller Schüler diesen Zweig“ wählt. Ein Blick in den LehrplanPlus verdeutlicht, dass das Fach Sozial‐ 104 II Theoretische Grundlagen <?page no="105"?> kunde im naturwissenschaftlichen, sprachlich-humanistischen und musischen Zweig des Gymnasiums jeweils an den Geschichtsunterricht gekoppelt ist (vgl. LehrplanPlus). Dabei könnten Aspekte des Faches Geschichte stärker gewichtet werden. An dieser Stelle muss auf die verbindliche Bekanntmachung des Kultusministeriums in Form eines „Gesamtkonzepts für die politische Bildung an bayerischen Schulen“ (2017) verwiesen werden, die politische Bildung als fächerübergreifendes Bildungs- und Erziehungsziel festlegt. Hiermit sei jedoch die Gefahr verbunden, dass sich kein Fach zuständig fühle (vgl. Boeser 2002: 121). Der schulische Handlungsbedarf zeigt sich vor allem bei einer Analyse der genderspezifischen Besonderheiten im Bereich der politischen Bildung. Boeser (ebd.: 75) weist in diesem Kontext auf die „Bedeutsamkeit der Kategorie Geschlecht für die politische Jugendbildung hin“. Hinsichtlich des politischen Interesses wird bei Jugendlichen eine gender gap wahrgenommen, welche laut Boeser (ebd.: 71) sowie Krappidel und Böhm-Kasper (2006: 34) darin besteht, dass sich Jungen politisch interessierter zeigen als Mädchen. Dies könne auf traditionelle Sozialisationsmuster zurückgeführt werden: Eine mögliche Erklärung für das strukturell niedriger gelegene politische Interesse der weiblichen Befragten können die gegenwärtig übliche Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft und die damit verbundenen unterschiedlichen Rollendefinitions- und Sozialisationsprozesse zwischen den Geschlechtern bieten, die dazu führen, dass die öffentliche Sphäre - zu der Politik zweifelsohne gehört - eher den Männern vorbehalten bleibt (Krappidel und Böhm-Kasper 2006: 34). Böhm-Kasper (2006: 55) nimmt diesbezüglich an späterer Stelle eine differen‐ zierte Betrachtung vor, indem er sich auf Studien beruft, die die beobachtbare Geschlechterdifferenz im Bereich des politischen Interesses auf Unterschiede im jeweiligen Politikverständnis zurückführen: Das männliche Politikverständnis sei stark an den Aspekt der Sachkenntnis über institutionelle Politik geknüpft und erscheine zugleich eher instrumentell, konkurrenz- und machtorientiert. Dem weiblichen Politikverständnis werde hingegen eine stärkere Prägung durch Empathie und Kooperation zugeschrieben; Mädchen seien demnach an sozialen, sogenannten „weichen“ Politikfeldern im Bereich der praktischen Ver‐ antwortungsübernahme für das Gemeinwesen interessiert (z. B. Umweltschutz, Frieden, Tierschutz). Mädchen dürften folglich nicht grundsätzlich als politisch uninteressierter als Jungen bezeichnet werden: Stattdessen ließe sich eine Tendenz dahingehend nachweisen, dass Mädchen eher konsens- und Jungen 105 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="106"?> 43 Kroh weist darauf hin, dass man „einen abnehmenden Geschlechtereffekt im Laufe der gesellschaftlichen Modernisierung“ erwarten könne. „In dem Maße, in dem sich traditionelle Rollenvorstellungen auflösen und Lebenslagen zwischen den Geschlech‐ tern annähern, sollte der Geschlechterunterschied im politischen Interesse abnehmen“ (Kroh 2006: 200). eher konfliktorientiert seien (vgl. dazu Kuhn und Schmid 2004; Fritzsche et al. 2006; Boeser 2002; Hänel 2019). 43 Eine weitere Auffälligkeit hinsichtlich der gender gap im Bereich der politi‐ schen Bildung zeigt sich darin, dass junge Frauen ihre subjektive politische Kompetenz in der Regel schlechter einschätzen als junge Männer (vgl. Westle 2006: 221 f). Westle führt dazu eine Erhebung durch und kommt zu der Er‐ kenntnis, „dass weibliche Befragte häufiger dazu neigen, das eigene Interesse an Politik und die eigene politische Kompetenz zu untertreiben, männliche dagegen eher zur Übertreibung tendieren“ (ebd.: 229). Westle (ebd.: 221) definiert das subjektive politische Kompetenzgefühl als „Einschätzung der eigenen Fähigkeit, Politik zu verstehen und infolge der eigenen Fähigkeiten Einfluss auf Politik nehmen zu können“. Für die Wichtigkeit dieses internen politischen Effekti‐ vitätsgefühls nennt Vetter (2006: 244) folgende Gründe: Erstens stelle es die psychologische Voraussetzung für eine politische Beteiligung des Individuums dar. Zweitens sei es wahrscheinlich, dass eine stark ausgeprägte politische Kompetenz innerhalb der Bevölkerung die Rücksichtnahme der Regierenden auf die Wünsche der Bürger positiv beeinflussen würde. Die Ergebnisse der Jugendstudien (vgl. Gaiser et al. 2000; Hoffmann-Lange 2003) zur subjektiven politischen Kompetenz fallen vergleichsweise eindeutig aus und zeigen neben genderspezifischen Differenzen, dass Jugendliche ein geringeres politisches Effektivitätsgefühl als ältere Befragte aufweisen (vgl. Vetter 2006: 246). Zusammenfassend schließe ich mich der Einschätzung Vetters (2006: 242) an, der vor einem zur Dramatisierung neigenden Besorgnisdiskurs warnt, welcher häufig im Kontext der Thematik Jugend und Politik vorherrsche: „Ein Rückgang des Vertrauens in politische Institutionen zeigt sich nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei älteren Bürgern“. Das geringe Interesse an Politik im engeren Sinn und die damit einhergehende Parteienverdrossenheit müssten somit als ge‐ samtgesellschaftlicher Trend gesehen werden, der entsprechend aufzuarbeiten sei (vgl. dazu auch Böhm-Kasper 2006: 53). Milbradt, Heinze und König (2018: 4) greifen den Gedanken der Wichtigkeit politischer Bildung in einer Welt des Umbruchs auf und weisen darauf hin, dass Lehrkräfte „die existierenden gesellschaftlichen Konflikte zum Gegenstand der pädagogischen Arbeit machen [müssen]“ (ebd.: 7). Welche Rolle Politdramaserien dabei spielen können, soll im Folgenden beleuchtet werden. 106 II Theoretische Grundlagen <?page no="107"?> 44 Im Rahmen der Studie von Batroff et al. (2018) wurden 454 Teilnehmende (mehrheitlich Studierende an einer süddeutschen Universität) online befragt. 4.2.1.2 Politdramaserien und ihr Potential für politische Bildung Dörner und Simond (2018: 37) halten fest, dass die politische Serienforschung seit der Jahrtausendwende an Relevanz gewonnen habe, was sich in zahlreichen Studien diesbezüglich widerspiegle. Auf einige Ergebnisse möchte ich kurz eingehen: Holbert et al. (2003: 436) weisen in einer Vorreiterstudie zur Wirkung fiktionaler Politserien am Beispiel von The West Wing (1999 - 2006) nach, dass Zuschauende der Serie die Charaktereigenschaften des von 2001 bis 2009 amtierenden US-Präsidenten George W. Bush signifikant positiver beurteilen als die Kontrollgruppe. Moy und Pfau (2010) sowie Nitsch und Wünsch (2016) kommen zu ähnlichen Ergebnissen und betonen die positive Korrelation zwi‐ schen der Rezeption von Politserien und dem Bürgervertrauen in politische Institutionen, was von einer geringeren Politikverdrossenheit begleitet werde. Bock (2014: 31) konstatiert hingegen negative Effekte auf das Politikerbild bei Fans der Serie HoC. Morris und Evans (2014) bestätigen dies, indem sie zeigen, dass HoC-Rezipienten im Vergleich mit der Kontrollgruppe Rücksichtslosigkeit und Manipulation vermehrt mit Politikern assoziieren würden (vgl. dazu auch Dörner und Simond 2018: 37 f). Im Kontrast dazu stehen folgende Erkenntnisse, welche bei der in Deutschland durchgeführten Studie von Batroff et al. (2018) 44 gewonnen wurden: Die Rezeption der Serie HoC habe signifikante Folgen, da Zuschauende der Serie ein höheres Involvement und Interesse an US-Politik, verbunden mit einem stärkeren aktiven politischen Informationsverhalten, aufweisen würden (vgl. Batroff et al. 2018: 279). Um HoC im Rahmen der Studie realweltlich verankern zu können, wurden prominente US-Politiker des Jahres 2016 (der damals noch amtierende Präsident Obama sowie die Präsidentschaftskandidaten Clinton und Trump) als Bezugspunkte bei der Befragung gewählt: Barack Obama werden die besten politischen Qualitäten zugeschrieben; an zweiter Stelle folgt der fiktive Präsident Frank Underwood, auf den minimal bessere Werte als auf Hillary Clinton fallen. Donald Trump bildet das Schlusslicht (auch was Vertrauenswürdigkeit und persönliche Quali‐ täten angeht) (vgl. ebd.: 280 f). Die Brisanz dieser Erkenntnisse verdeutlichen die Autoren folgendermaßen: „Dem fiktiven Charakter Frank Underwood werden - obwohl er in der Serie mehrere Morde [begeht] und auch sonst regelmäßig gegen Moral und andere Normen verstößt - konstant höhere politische wie persönliche Kompetenzen zugeschrieben als Donald Trump“ (ebd.: 282). Die im Rahmen der Studie zudem erhobenen Daten zum politischen Zynismus 107 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="108"?> 45 Detjen et al. (2012: 14 f) betonen, dass die letzte Dimension in der Schule weder geprüft noch benotet werden dürfe. Politische Bildung und Erziehung habe nichts zu tun mit einer Indoktrination oder Manipulation der SuS. Aus diesem Grund sei es nicht vertretbar, die individuellen Haltungen der Jugendlichen mit einer Note zu bewerten. zwischen den Nutzergruppen (HoCvs. Nicht-HoC-Zuschauende) ergaben keine signifikanten Unterschiede: Insofern hat die Serie in dieser Erhebung zumindest keinen messbaren ‚Kultivie‐ rungseffekt‘ dergestalt, dass ‚Vielseher‘ die (US-)Politik pauschal ablehnen und ihr kritisch gegenüber eingestellt sind; vermutlich dürften hier die erwähnten höheren Informationsaktivitäten der HoC-Zuschauer moderierend wirken (ebd.: 279). Die Frage, die sich nun stellt, lautet, ob und inwieweit der Einsatz von Politdra‐ maserien im Unterricht einen Beitrag zur Entwicklung politischer Kompetenzen leisten kann. Diesbezüglich halten Detjen et al. (2012: 16) fest, dass ein zielge‐ richtetes Vorgehen entscheidend sei. Wenn Politserien beispielsweise eingesetzt würden, um die Politikkompetenz der SuS zu fördern, müsse eine Verzahnung der jeweiligen Serie mit einem geeigneten Politikkompetenzmodell erfolgen. Politikkompetenz wird definiert als die Fähigkeit zur erfolgreichen Bewältigung politischer Anforderungssituationen, die Bereitschaft zur politischen Teilhabe und Gestaltung demokratischen sowie friedlichen Miteinanders (vgl. ebd.: 7 ff). Folgende wechselseitig aufeinander bezogene Dimensionen umfasst das Politikkompetenzmodell nach Detjen et al. (ebd.: 15): ● politische Urteilsfähigkeit (z. B. Treffen von Entscheidungsurteilen, Er‐ kennen von Zukunftsaufgaben) ● politische Handlungsfähigkeit (kommunikativ und partizipativ: Äußern der eigenen Meinung, Nutzung geeigneter Medien für Informationen, Wahr‐ nehmung der Bürgerrolle in der Demokratie) ● Fachwissen (z. B. hinsichtlich Demokratie, Parteien, Ablauf von Wahlen, Fachsprache) ● politische Einstellung und Motivation (z. B. politisches Grundinteresse, angemessenes subjektives politisches Kompetenzgefühl, Systemvertrauen trotz kritischer Reflexivität). 45 In der Literatur findet sich insgesamt eine optimistische Grundhaltung, wenn es um die Förderung der oben genannten Kompetenzdimensionen in der Ausein‐ andersetzung mit Politserien im Unterricht geht: Breit und Weißeno (2004: 84) sowie Simon (2007: 4) betonen beispielsweise das Potential von Politdramaserien für den Politikunterricht, da diese auf anschauliche Weise Informationen und politische Inhalte vermitteln könnten. Manzel (2018: 376 f) bescheinigt Politse‐ 108 II Theoretische Grundlagen <?page no="109"?> rien wie HoC vor allem hinsichtlich der Kompetenzdimension Fachwissen eine große Wirkkraft, was sie auf Franks Asides zurückführt: In HoC „erklärt und begründet der Präsident der Vereinigten Staaten, Francis Underwood, seine Gedanken, Vorgehensweisen und Strategien durch eine direkte Zuwendung an das Publikum“ (Manzel 2018: 376), wodurch die Zuschauenden zu Mitwissern geheimer Strategien gemacht würden. Manzel zufolge ist an dieser Stelle die Lehrkraft gefragt, das suggerierte Insiderwissen der Rezipienten einem Realitätscheck zu unterziehen, um mögliche Stereotype und Fehlkonzepte auf‐ brechen zu können. Auf diese Weise könne konzeptuelles Fachwissen effektiv vertieft werden. Besand (2018: 34 f), die einem unreflektierten Einsatz von scheinbar realistischen Politserien wie HoC kritisch gegenübersteht, betont die Wichtigkeit des oben genannten Schritts: Ohne den von Manzel beschriebenen kritischen Realitätscheck könnten Serien wie HoC aus fachdidaktischer Sicht eine entpolitisierende Wirkung haben, da die vielen Intrigen und Lügen ein verzerrtes Bild der politischen Wirklichkeit vermitteln könnten. Ein weiteres - und in meinen Augen entscheidendes - Argument, welches laut Manzel (2018: 378) für den Einsatz von Serien wie HoC im Unterricht spricht, ist die Förderung der politischen Handlungsfähigkeit in Form eines Kommunizierens über Politik im Anschluss an ausgewählte Szenen. Dabei gehe es in erster Linie um den Austausch der SuS über die Inhalte der jeweiligen Serie, wodurch die Jugendlichen zugleich bei ihrer Meinungsbildung unterstützt werden können. Manzel (2018: 375) geht in ihrem Beitrag zudem auf empirische Befunde zum Einsatz von Politdramaserien im Fachunterricht aus Schüler- und Lehrerper‐ spektive ein und befragt elf Lehrkräfte und 276 Jugendliche aus Nordrhein-West‐ falen. Die Schülerbefragung zeigt, dass 97 % der Jugendlichen Serienerfahrung haben, womit Serien offensichtlich einen zentralen Platz im Medienverhalten der befragten SuS einnehmen (vgl. ebd.: 386). Bei den SuS des Gymnasiums kennen rund 48 % der Jugendlichen Politserien wie HoC (vgl. ebd.: 382). Dies führt Manzel zu der Erkenntnis, dass Politdramaserien dem Freizeitverhalten der SuS entsprechen, was als weiteres Argument für den Einsatz dieser Serien im Unterricht gesehen werden müsse (vgl. ebd.: 376). Hinsichtlich der Lehrerbefragung zeigt sich, dass ein Großteil der Lehrkräfte davon ausgeht, dass die Kompetenzdimension Fachwissen durch den Einsatz von Politdramaserien unterstützt werden könne; noch mehrheitlicher werde „die Förderung der politischen Urteilsfähigkeit durch Serien“ (ebd.: 385) bejaht, da diese einen motivierenden Diskussionsanlass für die Aushandlung politischer Themen darstellen würden (vgl. ebd.). Allerdings ist auffällig, dass sich die meisten Lehrkräfte beim Einsatz von Politserien im Unterricht nicht sicher 109 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="110"?> genug fühlen, weshalb diese Art des Medieneinsatzes eher selten zum Einsatz komme (vgl. ebd.: 386). Folgende Probleme sehen die befragten Lehrkräfte bezüglich des Einsatzes von Politdramaserien im Unterricht: ● Hürden im Rahmen der „technische[n] Ausstattung der Schule, Urheber‐ rechte, Download“ (ebd.: 386); ● die Notwendigkeit der didaktischen Aufarbeitung von Szenen aus Politse‐ rien, um sicherzustellen, dass SuS „auch wirklich wissen, was Realität und was Fiktion ist“ (ebd.); ● Bedenken, dass SuS durch den Konsum von Politserien in ihren Vorurteilen bestärkt werden könnten (vgl. ebd.). Mit der vorliegenden Studie möchte ich untersuchen, welche Dimensionen politischen Lernens am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC im EU sichtbar werden und inwieweit die oben geäußerten Bedenken im Rahmen des Projekts zum Tragen kommen. Im Folgenden werde ich am Beispiel der Serie HoC das Filmkompetenz-Mo‐ dell aus Kapitel 1 konkretisieren und vertiefen. 4.2.2 Didaktisches Potential der Serie House of Cards: Konkretisierung anhand eines Filmkompetenz-Modells Zunächst ist eine grundlegende Vorbemerkung nötig: Ich spreche im vorlie‐ genden Kapitel bewusst von Film- und nicht von Serienkompetenz, um ange‐ sichts der ohnehin vorherrschenden Begriffsvielfalt (die Termini Filmbildung, Filmlesekompetenz, Film Literacy, Hörsehverstehens-, Text- und Medienkom‐ petenz wurden in Kapitel 1 erläutert) nicht noch mehr Verwirrung zu stiften. Stattdessen lege ich meinem Filmkompetenz-Modell einen weiten Film-Begriff zugrunde, der alle audiovisuellen Formate (Serien, Musikvideos, Dokumenta‐ tionen, kurze Clips, Interviews, Nachrichten etc) einschließt. Dies erscheint mir zudem in Anbetracht der Tatsache sinnvoll, dass Qualitätsserien wie HoC als extrem langer Spielfilm rezipiert bzw. gelesen werden wollen; aus diesem Grund wählten die HoC-Showrunner - wie bereits erwähnt - für das Politdrama eine Aufteilung in Kapitel mit einer Fortführung über die jeweiligen Staffel‐ grenzen hinaus. Auch andere komplexe Serien konstruieren (wie Romane) lange Erzählbögen über viele Episoden hinweg, weshalb Cineasten davor warnen, im Unterricht lediglich mit kurzen und isolierten Serienausschnitten zu arbeiten. Auf diese Weise drohe die Gefahr der „Entkontextualisierung des verwendeten Materials“ (Besand 2016: 210). Wie mit Serien in ihrer Beschaffenheit als ultra long format zielführend im EU gearbeitet werden kann, möchte ich nun zeigen. Die folgenden Ausführungen 110 II Theoretische Grundlagen <?page no="111"?> verdeutlichen, wie der Ausbau von Filmkompetenz am Beispiel der Serie HoC gelingen kann und welche Teilkompetenzen hierfür erforderlich sind. Wichtig ist, dass die Teilkompetenzen in interdependentem Zusammenhang zueinanderstehen. Bei der Konzeption des Modells orientierte ich mich vor allem an Blell und Lütge (2004), Thaler (2014) und Blell et al. (2016). Internal HSV- Kompetenz Filmästhetische Kompetenz Filmkritische Kompetenz Film kontextualisieren Filmkompetenz Sprechen, Schreiben, Spielen im Anschluss an Filme Literarische Kompetenz Medien- Kompetenz Interkulturelle Kompetenz Abb. 10: Filmkompetenz-Modell für HoC (eig. Darst.) (1) Hörsehverstehens-Kompetenz Der Begriff der HSV-Kompetenz wurde hinsichtlich seiner Bedeutung für die Entwicklung von Filmkompetenz bereits bei den terminologischen Abgren‐ zungen im Rahmen der theoretischen Vorüberlegungen definiert. Deshalb möchte ich hier nur kurz ergänzen, dass das Hören, Sehen und Verstehen des jeweiligen audiovisuellen Mediums als Grundvoraussetzung für die Entwick‐ lung von Filmkompetenz zu sehen ist. Im Falle des Politdramas HoC erscheint dies besonders wichtig: Um dem rhetorischen Grundcharakter von Politik Rechnung zu tragen, bedient sich die Serie nämlich der filmästhetischen Form des „walk and talk“ (Lampprecht 2015: 10). Die vielbeschäftigten Politiker/ innen tauschen sich zwischen Meetings, Pressekonferenzen usw. in aller Kürze auf den Korridoren des Weißen Hauses aus, während sie bereits zum nächsten Termin eilen. Um die Schnelllebigkeit des politischen Betriebs zu verdeutlichen, wird das walk and talk meist durch eine rasche Kamerafahrt begleitet und als tracking shot inszeniert. Dies erfordert eine gut ausgebildete HSV-Kompetenz der SuS, da sie der beim walk and talk ausgetauschten Vielzahl an Informationen folgen müssen. Die Politiker/ innen in HoC sprechen dabei ein deutliches General American English, weshalb die SuS imstande sein sollten, ihre Konversationen 111 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="112"?> trotz der hohen Sprechgeschwindigkeit zu verstehen. Zudem entspricht das Hören, Sehen und Verstehen eines in Echtzeit praktizierten walk and talk einer guten Übung für die Lernenden, da dies eine realistische Anforderung bei einem Aufenthalt im englischsprachigen Ausland sein könnte. Die HSV-Kompetenz der Jugendlichen spielt nicht nur als rezeptive Kom‐ petenz, sondern auch im sprachproduktiven Austausch eine wichtige Rolle: Auch für das Sprechen und Spielen im Anschluss an Filme brauchen die SuS HSV-Kompetenz, da die Kommunikation miteinander andernfalls nicht gelingen kann. Ein Filmgespräch macht beispielsweise nur Sinn, wenn die Jugendlichen einander hören, sehen und verstehen, so dass sie angemessen aufeinander reagieren können. (2) Die „3 S“ der Anschlusskommunikation: Sprechen, Schreiben, Spielen Die Wichtigkeit eines Gesprächs im Anschluss an einen geschauten Film steht außer Frage, da dies dem natürlichen Bedürfnis nach einem Austausch über das Filmerlebnis entspricht. Als emotional aufwühlende und zum Diskutieren anregende authentische Serie bietet HoC vielfältige Möglichkeiten für einen zeitgemäßen und kommunikativen Einsatz im EU: Reizsowie Tabuthemen können die SuS animieren oder gar provozieren, sich in das Unterrichtsgespräch einzubringen und Stellung zu beziehen. Bei einem solchen Filmgespräch können zum einen die eigenen Gedanken und Gefühle kanalisiert sowie erklärbar gemacht werden und andererseits besteht die Chance, durch den Austausch unterschiedlicher Perspektiven einen neuen Zugang zum Film zu finden. Im Sinne der im Rahmen meiner Arbeit angestrebten rezeptionsästhetisch orientierten Filmdidaktik erscheint mir eine Unterstützung der Interaktionen zwischen dem filmischen Text und den Rezipienten essenziell. Aus diesem Grund entscheide ich mich für den Einsatz von Viewing Journals, welche die SuS bei der außerschulischen Rezeption der Serie begleiten sollen. Pro Staffel erhalten die Jugendlichen ein Viewing Journal mit einem möglichst abwechslungsreichen Aufgabenrepertoire, um die Interaktion mit der Serie zu unterstützen. Ein wichtiger Hintergedanke ist dabei, den SuS Gelegenheit zu geben, ihre spontanen und ganz individuellen Reaktionen, Gedanken und Gefühle während des Serienerlebnisses verschriftlichen zu können. Die Begrifflichkeit „Spielen im Anschluss an Filme“ mag zunächst kindliche und grundschuldidaktische Assoziationen hervorrufen; ich ziele jedoch in erster Linie auf klassische post-viewing-Aktivitäten ab, die den SuS beim Ausbau ihrer fremdsprachlichen Handlungskompetenz den nötigen gedanklichen sowie kreativen Spielraum lassen. Dies möchte ich anhand folgender Tasks konkreti‐ sieren: 112 II Theoretische Grundlagen <?page no="113"?> Spielen im Anschluss an Filme: Mögliche Aktivitäten zu HoC (Season 2, Chapter 26) Didaktischer Kommentar zu den Aktivitäten und Denkanstößen (Die folgende Aufgabe ist als while-viewing-task gedacht.) Imagine you are Frank and you need to convince President Walker that you are loyal and trustworthy. What would you do in order to win him over? Hierbei handelt es sich um ein Gedankenspiel, bei dem die SuS sich in die Situation eindenken und zugleich einen Perspektivenwechsel (Was möchte Frank? Was für ein Mensch ist Garrett Walker und wie könnte man ihn manipulieren? ) vollziehen müssen. Die Aufgabe könnte noch konkretisiert werden durch einen Zusatz wie: Work out a plan and think of at least two strategies which you can discuss with a partner in a next step. Somit würde auch der Sprechkompetenz Rechnung getragen werden. Zum Schluss könnte über den besten Plan abgestimmt werden, um das spielerische Element noch stärker zu gewichten. Act out a role play in which one of you is President Walker and the other person is Frank Underwood. How could this meeting go? What could you say to each other? Hier liegt ein klassischer Auftrag für ein Rol‐ lenspiel vor, bei dem die SuS die Perspektive Franks oder Garretts einnehmen müssen. Als Un‐ terstützung können den Jugendlichen role cards an die Hand gegeben werden, um ihnen den Perspektivenwechsel und das Einfühlen in die jeweilige Serienfigur zu erleichtern. Write a journal entry or a short poem about politics, which expresses your feelings after having watched Season 2 of HoC. Auch dieser Schreibauftrag zielt auf den spie‐ lerischen und zugleich kreativ-produktiven Umgang mit Sprache ab und ist als mögliche post-viewing-activity geeignet. Abb. 11: Spielerische Anschlussaufgaben und Impulse (eig. Darst.) Das Bedürfnis, ein aufwühlendes oder gar schockierendes Filmerlebnis kommu‐ nikativ verarbeiten zu wollen, kann im FSU als authentischer Sprech-, Schreib- und Handlungsanlass nutzbar gemacht werden. Um jedoch im Anschluss an Filme und Serien effektiv sprechen und schreiben zu können, benötigen die SuS für ihre „sprachproduktive Selbstständigkeit“ (Blell und Lütge 2004: 404) das entsprechende filmanalytische Wissen sowie das nötige filmsprachliche Voka‐ bular, das ihnen im Rahmen der Förderung von filmästhetischer Kompetenz vermittelt werden muss. (3) Filmästhetische Kompetenz Hier geht es vor allem darum, „Inhalt, Form und Funktion zueinander in Bezie‐ hung [zu] setzen“ (Leitzke-Ungerer 2009: 16), um die SuS dabei zu unterstützen, begreifen zu können, was das Filmerlebnis für sie ergreifend macht (vgl. Lampe 2009: 33). Der Begriff der Filmästhetik ist eng mit dem der Filmlesekompetenz 113 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="114"?> verknüpft, welche benötigt wird, wenn komplexe filmsprachliche Bilder ent‐ schlüsselt werden sollen. Eine Sensibilisierung hinsichtlich des Kunstcharakters audiovisueller Medien kann in der Auseinandersetzung mit der Serie HoC gelingen, bei der every frame a painting zu sein scheint. Grund hierfür ist die vielseits gelobte Ästhetik der Politdramaserie, die oft mit David Finchers Hand‐ schrift in Verbindung gebracht wird: Hammelehle (2014) betont, dass die Serie „hervorragend inszeniert“ sei und lobt insbesondere ihren „kristallklare[n], harte[n] Ästhetizismus“. Pramstaller (2014) bezeichnet Kameraeinstellungen und Licht als „durchweg exzellent“ und bringt seine Einschätzung auf den Punkt, indem er HoC filmisch als „wirklich großes Vergnügen“ beschreibt. Anhand der Serie können Jugendliche also für filmästhetische Aspekte sensibilisiert werden, indem sie exemplarisch mit zentralen Bereichen der Filmanalyse vertraut gemacht werden. Ich spreche im Filmkompetenz-Modell bewusst von filmästhetischer Kom‐ petenz statt filmästhetischem Wissen, da ich eine zu eindimensionale kognitive Ausrichtung diesbezüglich für unangebracht halte. Filmästhetische Kompetenz sollte als ganzheitlicher Kompetenzbegriff verstanden werden, der neben der Wissenskomponente (knowledge) auch eine Handlungs- (skills) und affektive Komponente (attitudes) einschließt, wobei diese in positiver Korrelation zuei‐ nanderstehen, was ich anhand folgender Visualisierung konkretisieren möchte: Abb. 12: Kreismodell der filmästhetischen Kompetenz (eig. Darst.) 114 II Theoretische Grundlagen <?page no="115"?> 46 An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass filmästhetische Kompetenz eine kri‐ tisch-reflektierte Genussfähigkeit impliziert, die nicht nur die Wertschätzung gut gemachter Filme im engeren Sinn meint. Zum einen ist das Bedürfnis legitim, sich hin und wieder ein filmisches gulity pleasure-Vergnügen zu gönnen, wobei den filmkompe‐ tenten Rezipienten bewusst sein dürfte, dass der jeweilige Film offensichtliche Mängel im Bereich der Filmästhetik, der Komplexität der Charaktere und/ oder des story-telling aufweist. Nichtsdestotrotz können guilty pleasure-Filme Vergnügen bereiten. Zum anderen gibt es vom Regisseur gewollt „trashig“ inszenierte Filme, welche ebenfalls eine Daseinsberechtigung haben, was sich beispielsweise im Grindhouse Double Feature der Regisseure Tarantino und Rodriguez aus dem Jahr 2007 widerspiegelt: Mit Death Proof und Planet Terror schufen die beiden renommierten Regisseure eine Hochglanz-Hom‐ mage auf die filmische Trash Culture der 60er- und 70er-Jahre. Zu dieser Zeit existierten nämlich spezielle Kinos, sogenannte grindhouses, in denen zweitklassige, low-budget Filme als „zwei zum Preis von einem“ einer breiten Masse zugänglich gemacht wurden. Bei der Rezeption des Grindhouse Double Feature von 2007 brauchen die Zuschauenden Das Kreismodell der filmästhetischen Kompetenz soll zeigen, wie Wissen, Können und Wollen einander positiv beeinflussen und im Idealfall einen ganz‐ heitlichen Kompetenzzuwachs bewirken können. Das Modell dient an dieser Stelle als theoretische Orientierungshilfe für die Planung eines filmbasierten EU (in meinem Fall für ein W-Seminar zu HoC) und die vier Felder können als Zielbereiche angesehen werden, bei deren Erreichung die SuS bestmöglich zu unterstützen sind. Der oben dargestellte Kreislauf kann jedoch nur in Gang gesetzt werden, wenn die Jugendlichen sich für Filmsprache interessieren und ihr Wissen diesbezüglich ausbauen wollen. Hierzu gibt es Studien, die belegen, dass SuS in der Regel motiviert sind, im Unterricht mehr über filmspezifische Gestaltungsmittel zu lernen (vgl. Kepser 2008). An erster Stelle des Kreislaufs steht die Vermittlung und Aneignung filmästhetischen Wissens. Diese Wissensvermittlung erfordert einen an‐ schaulichen Input zu filmgestalterischen Mitteln, wobei hier mit konkreten Filmbeispielen gearbeitet werden sollte, um Funktion und Wirkweise der filmsprachlichen Besonderheiten exemplarisch diskutieren zu können. Dies ist entscheidend, um die Motivation und Wissbegierde der Lernenden aufrecht zu erhalten und eine Sensibilisierung für filmästhetische Aspekte in der konkreten Filmarbeit sicherzustellen. Mit einer erfolgreichen Sensibilisie‐ rung geht die Fähigkeit der SuS einher, Filme mit anderen, gewissermaßen „geschulteren“ Augen sehen zu können. Die Jugendlichen bilden also einen geschärften Blick dafür aus, wie Filme funktionieren, was im besten Fall in einem aufmerksamen Hinschauen-Wollen bzw. einem Entschlüsseln-Wollen bewegter Bilder resultiert. Filmästhetische Kompetenz impliziert zudem, dass die Rezipienten gut gemachte Filme als solche identifizieren und entsprechend honorieren können. Die damit verbundene Fähigkeit, „gute“ Filme genießen 46 115 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="116"?> folglich filmhistorisches Wissen, um die „trashigen“ Elemente als Teil eines auf beson‐ dere Weise ästhetischen Gesamtkunstwerks in Form einer Anspielung auf alte Zeiten zu identifizieren. Nur mit diesem Hintergrundwissen, welches eine innovative Lesart eröffnet, kann das Tarantino-Rodriguez-Werk angemessen honoriert werden. zu können, ist ebenfalls Bestandteil der filmästhetischen Kompetenz. Selbstver‐ ständlich setzt das vierte Feld, Wertschätzung und Genuss gut gemachter Filme, kritisches Reflexionsvermögen voraus und könnte im Falle eines nicht überzeugenden Films auch durch „Distanzierung von schlecht gemachten bzw. belanglosen Filmen“ ersetzt werden, worauf ich im nächsten Punkt genauer eingehen möchte. Ein Kreislauf entsteht, wenn die zum kritischen Filmgenuss befähigten SuS noch mehr über Filmästhetik und Filmsprache wissen möchten und sich aus eigenem Antrieb weiterbilden. Dann wird die zunächst von der Lehrkraft gesteuerte Wissensvermittlung abgelöst durch eine von den Jugendli‐ chen selbstständig vorangetriebene Aneignung von Wissen. Als Lehrkraft kann man diese wünschenswerte Entwicklung unterstützen, indem man den SuS geeignete YouTube-Dokumentationen und Clips zu Cinematography empfiehlt. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine solche aus intrinsischer Motivation erwachsene Wissensaneignung den oben abgebildeten Kreislauf erneut - und zudem auf einem höheren Niveau - in Gang setzen kann, wodurch ein virtuous circle of the good viewer initiiert werden kann. (4) Filmkritische Kompetenz Filmästhetische und filmkritische Kompetenz wirken eng zusammen und erfordern Filmanalysekompetenz, welche wiederum Fiktionalitätskompetenz impliziert. Letztere wird von Blell et al. (2016: 30) definiert als Fähigkeit, den Fiktionalitätsgrad eines audiovisuellen Textes einschätzen und kritisch beurteilen zu können. Dafür sei wiederum die Fähigkeit erforderlich, „eine Balance zwischen emotionaler Beteiligung an der fiktionalen Welt und Medi‐ alitätsbewusstsein als Wissen um die Konstruiertheit der dargestellten Welt herzustellen“ (ebd.). Auch Henseler, Möller und Surkamp (2011: 18 f) betonen, wie wichtig es sei, ein Gleichgewicht aus identifikatorischem und distanziert, reflexiv-geprägtem Rezeptionsverhalten zu entwickeln. Diese reflexive Dimen‐ sion von Filmkompetenz umfasse nämlich die Fähigkeit zur Unterscheidung von Realität und Fiktion bzw. inszenierter filmischer Wirklichkeit und ermögliche den SuS kritische Stellungnahmen diesbezüglich (vgl. ebd.: 19). Für die Auseinandersetzung mit dem hochgradig realistisch erscheinenden Politdrama HoC ist ein kritisches Hinterfragen der scheinbaren Realitätsnähe der Serie essenziell, was beispielsweise durch einen gezielten Vergleich zwi‐ 116 II Theoretische Grundlagen <?page no="117"?> Abb. 13: Politische Beziehungen zwischen Russland und den USA in Realität und Fiktion schen Fiktion und Realität gelingen kann. Dabei sind diverse Anhaltspunkte für die Gegenüberstellung von fiction vs. reality möglich, wie zum Beispiel: ● Wie werden die US-russischen Beziehungen in HoC dargestellt? Was lässt über das politische Verhältnis zwischen Russland und den USA herausfinden? Wo liegen die Wurzeln der Rivalität? Den Auftakt einer diesbezüglichen Recherche könnte die Abbildung rechts darstellen, welche das Spiel der Serie HoC mit der Realität ansprechend illustriert. ● Wie werden politische Prozesse in HoC dar‐ gestellt und wie laufen diese tatsächlich ab? Hier könnte man sich mit den SuS zum Bei‐ spiel auf folgende Themen konzentrieren: politische Debatten, Wahlkampf, der Weg der bill zum law, impeachment-Verfahren HoC vs. Realität. ● Auch die Rolle von Claire Underwood als First Lady könnte mit einer historischen First Lady (zum Beispiel Eleanor Roosevelt) verglichen werden. Davon ausgehend wäre eine Behandlung der Thematik Women in US Politics denkbar. Insgesamt sollen die SuS also eine medienkritische Analysekompetenz inklusive eines Bewusstseins für die suggestive Kraft bewegter Bilder entwickeln. Dies erscheint besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass Politiker in HoC größten‐ teils als machtbesessene Intriganten dargestellt werden. Eine solche Darstellung bedarf einer kritischen Relativierung, wobei folgende Fragen mit den SuS dis‐ kutiert werden können: Warum werden Politiker in HoC als verlogene und nur auf den eigenen Erfolg bedachte Karrieristen inszeniert? Welche Intention der Produzenten von HoC könnte damit verbunden sein? Die zuletzt genannte Frage greift bereits in den Bereich der filmischen Kontextualisierungskompetenz über, auf die ich jetzt eingehen möchte. (5) Filmische Kontextualisierungskompetenz Blell et al. (2016: 34) heben die Wichtigkeit der Fähigkeit hervor, „Filme als kulturelle Ausdrucksträger zu verstehen und sie im Rahmen ihres jewei‐ ligen kulturellen Bezugssystems zu deuten“. Vor allem bei einer Serie voller gesellschaftspolitischer Anspielungen wie in HoC dürfe der Produktions- und Rezeptionskontext nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. Nünning und Surkamp 2006: 262 f). HoC lässt sich als Reflexion aktuellen Zeitgeschehens in Bezug auf 117 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="118"?> 47 Bezüglich des interkulturellen Lernens muss der Begriff der intercultural communicative competence (ICC) erwähnt werden, welcher eine Schlüsselrolle in Byrams gleichna‐ migem Modell spielt (vgl. Byram 1997: 34). Durch die Ausbildung von fünf Wissens- und Könnensbereichen, wobei die critical cultural awareness im Zentrum der Anforde‐ rungen steht, sollen die SuS bei ihrer Entwicklung zu intercultural speakers unterstützt werden. Dementsprechend rückt das Ideal der Muttersprachlichkeit in den Hintergrund des Foreign Language Classroom. Viel wichtiger erscheint es, bei den Lernenden Fähig‐ keiten zum respektvollen Umgang innerhalb interkultureller Begegnungssituationen zu fördern. Thaler (2012: 271) sieht den Terminus der interkulturellen Kompetenz als „eines der zentralen fremdsprachendidaktischen Schlagwörter des ausgehenden 20. Jahrhunderts“. Für das 21. Jahrhundert erweist sich Transkulturalität zunehmend als geeignetes Konzept, um kulturelle Komplexität und Hybridität deskriptiv zu erfassen und zu analysieren (vgl. Delanoy 2006, 2014; Fäcke 2006). Um die Entwicklung vom interkulturellen zum transkulturellen Lernen darzustellen, entwickelten Blell und Doff (2014: 85 f) - in Anlehnung an Byrams ICC-Modell (1997) - ein „modified and expanded Model of Inter- und Transcultural Communicative Competence (I/ TCC)“. Somit wird deutlich, dass zwischen inter- und transkulturellem Lernen kein Widerspruch besteht, sondern dass die Konzepte einander ergänzen und aufeinander aufbauen. Politik und Medien lesen und eignet sich für den EU der Sekundarstufe II, um daran anschließend Fragen zu diesen Themen diskutieren zu können. a) Interkulturelle Kompetenz Das Potential von HoC für inter- und transkulturelles Lernen 47 liegt vor allem in der Beschaffenheit der Serie als zeitgemäßes Politdrama begründet. Hin‐ sichtlich des transkulturellen Lernens spielt laut Blell und Doff (2014: 83) die Behandlung von Machtdiskursen eine wichtige Rolle, wobei die Autorinnen folgende Aspekte nennen: „challenging and deconstructing stereotypical and mostly asymmetrical notions in the field of policy (e.g., West/ East), race (e.g. black/ white), gender (e.g. male/ female) or language (e.g. English/ non English)”. Volkmann (2017: 280) geht in diesem Kontext auf die Bedeutung von global issues ein und nennt beispielsweise issues of gender als relevante Kategorie für den EU der Sekundarstufe II. HoC bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, um die Konstruktion von Geschlecht mithilfe einer „gender-reflexive attitude” (Surkamp 2008: 27) zu analysieren. Auf diese Weise können die Jugendlichen dazu ermutigt werden, ihre Eindrücke bezüglich der Geschlechterinszenierung in Verbindung mit den zum Einsatz kommenden filmästhetischen Mitteln zu äußern (vgl. König 2016: 272-275). Darüber hinaus kann HoC für die politische Bildung Jugendlicher nutzbar gemacht werden, was Besand (2016: 195) detailliert ausführt. In ihren Augen liegt gerade in der Fiktionalität bzw. in der sichtbaren Konstruiertheit des Seri‐ enplots eine große didaktische Chance (vgl. ebd.: 211). Somit können nämlich Als-ob-Situationen anhand folgender Denkanstöße durchgespielt werden: Was 118 II Theoretische Grundlagen <?page no="119"?> würde passieren, wenn wir einen Präsidenten wie Frank Underwood hätten? Würdest du Underwood deine Stimme geben? Welche Eigenschaften braucht ein guter Politiker in deinen Augen? In einem nächsten Schritt sind laut Besand folgende Fragen entscheidend, die gesellschaftlich immer wieder neu verhandelt werden müssen: In welcher Gesellschaft möchtest du leben? Wie lässt sich Macht legitimieren? Was ist gerecht? (vgl. ebd.: 206). Aufgrund der akkuraten Darstellung von politischen Prozessen in HoC könne die Serie zudem eine Reduktion der Komplexität des politischen Diskurses (z. B. hinsichtlich der Fachausdrücke) leisten (vgl. Klein 2012: 236). Besand (2016: 197 f) attestiert Franks Asides einen entscheidenden didaktischen Nutzen, da hier über Politik doziert werde, wodurch den Zuschauenden wertvolle Einblicke gewährt würden. Auch wenn diese Einblicke einer kritischen Reflexion be‐ dürfen, kann Franks Beiseitesprechen als Ausgangspunkt dafür dienen, Politik auf anschauliche und spannende Weise zu vermitteln. Um den Produktions- und Rezeptionskontext von HoC im EU kommunikativ aufarbeiten zu können, bietet sich eine Thematisierung folgender Cover an: Das Cover der ersten Staffel von HoC (erschienen 2013), das Stern-Titelblatt (er‐ schienen im Januar 2017) und das Cover der finalen Staffel von HoC (erschienen 2018). Abb. 14: Underwood - Trump - Underwood on the Lincoln Memorial Mit den SuS gilt es, Folgendes herauszuarbeiten: 2013 sehnten sich viele US-Amerikaner nach politischer Veränderung, was dazu führte, dass die fiktive Figur des kompromisslos handelnden Politikers Underwood ein Publikumshit wurde (vgl. Kohlenberg 2016). 2016 wurde mit Donald Trump ein Präsident gewählt, der radikale Veränderung ebenso zu seiner politischen Agenda machte 119 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="120"?> wie Underwood. Um die Parallelen zwischen Underwood und Trump sprachlich aufzuarbeiten, können zum Beispiel ausgewählte Underwood-Asides mit geeig‐ neten Trump-Tweets verglichen werden. Im Kontext der #MeToo-Debatte wurde Frank Underwood (bzw. Kevin Spacey) vom Thron (bzw. Lincoln Memorial) gestoßen, auf dem Claire Underwood, die lange im Schatten ihres Mannes gestanden hatte, Platz nahm. Passenderweise titelte die Washington Post am 15. November 2018: „A New Era of Women in Politics“. Diese neue Ära wurde in HoC mit Claire Underwood eingeläutet. b) Medienkompetenz Dass HoC als erste Internetserie sowie als Adaption einer Adaption Medienge‐ schichte schrieb, wurde bereits erwähnt. Im schulischen Kontext erscheint es besonders wichtig, das Bewusstsein der Lernenden bezüglich der möglichen Gefahren des Medienkonsumtrends Binge-Watching zu schärfen. SuS sollten in der Lage sein, ihren Medienkonsum zu hinterfragen und kritisch zu evaluieren, wobei folgende Denkanstöße als Anhaltspunkte dienen können: Wie viel Zeit verbringe ich mit dem Schauen von Filmen/ Serien? Werden meine sozialen Kontakte von meinem Medienkonsum beeinträchtigt? Fühle ich mich nur dann entspannt, wenn ich in eine fiktive Welt eintauchen kann? Gegebenenfalls sollte der/ die Jugendliche sein/ ihr Medienverhalten überdenken und diesbezüglich Änderungen vornehmen. Besonders hervorzuheben ist, dass durch HoC eine kritische Reflexion der Aufgaben von Journalismus für eine demokratische Gesellschaft angestoßen werden kann. In Zeiten von fake news und alternative facts muss die Wichtigkeit seriöser Berichterstattung für eine aufgeklärt-demokratische Gesellschaft mit Nachdruck betont werden. Diese Botschaft kommuniziert die Serie HoC „in more detail than other shows“ (Boutet 2015: 85). Das komplexe Zusammen‐ wirken von Journalismus und Politik bildet das narrative Zentrum von Staffel 1, in der der Fokus auf die Zusammenarbeit zwischen der Journalistin Zoe Barnes und dem Politiker Frank Underwood gelegt wird (vgl. ebd.: 83). Zoe tritt als Befürworterin des „digital journalism“ (ebd.: 88) mit dem Leitspruch „media equals social media, and print is dead“ (ebd.: 90) auf; ihr geht es zunächst in erster Linie darum, möglichst schnell an interessante Stories zu gelangen und sich selbst zu vermarkten. Der Handlungsstrang um Zoe illustriert dabei „den digitalen Medienwandel anschaulich“ (Breitweg et al. 2018: 249), welcher dafür sorgt, dass traditionelle Printmedien um ihr Überleben im Online-Zeitalter fürchten müssen. Manzel (2018: 377) fasst das Zusammenspiel von Medien und Politik folgendermaßen zusammen: 120 II Theoretische Grundlagen <?page no="121"?> 48 Margaret Tilden ist Boutet (2015) zufolge Katharine Graham (1917-2001) nachemp‐ funden, der berühmten Besitzerin und Verlegerin der Washington Post, der mit Meryl Streep in Spielbergs Historiendrama The Post (2017) ein Denkmal geschaffen wurde. So nehmen Medien in der Polit-Serie House of Cards eine zentrale Rolle ein und zeigen ihren Einfluss auf das politische Alltagsgeschäft. […] Die Serie zeigt einerseits, wie die Medien ihrer Informationsfunktion sowie Kritik- und Kontrollfunktion Rechnung tragen, indem sie die Handlungen und Aussagen der politischen Akteure durch ihre Berichterstattung kritisch hinterfragen und beleuchten. Gleichzeitig werden […] Einblicke ermöglicht, die zeigen, wie politische Akteure die Medien bewusst (aus)nutzen, um ihre Interessen und Vorhaben möglichst öffentlichkeitswirksam zur Geltung zu bringen, was wiederum gewinnbringend für den journalistischen Erfolg von Medienakteuren scheint. Besonders interessant ist die Entwicklung, die Zoe in Staffel 1 durchläuft: Die junge Reporterin lernt ihre journalistische Lektion und praktiziert zunehmend „serious journalism, checking information, and re-interviewing people in order to unveil the truth“ (Boutet 2015: 96). Dies führt Boutet (ebd.: 95) zu folgender Feststellung bezüglich des Politdramas HoC: „[T]he overall narrative shows that investigative journalism is still relevant and a ‘fourth power’ necessary for the good of democracy”. Dies sollte mit den SuS in der Auseinandersetzung mit HoC herausgearbeitet werden. Durch ausgewählte Szenen der Serie können die Unterschiede (siehe Abb. 15) zwischen investigativem Journalismus und Journalismus 2.0 zusammengetragen und diskutiert werden. Investigativer Journalismus Journalismus 2.0 The Washington Herald (reale Entsprechung: The Washington Post) Slugline (reale Entsprechung: Politico, Buzzfeed, Huffington Post) Quality Journalism: hard news, facts, in-depth coverage intensive Faktenrecherche & -analyse Objektivität Information Quantity Journalism: soft and catchy news, tweets, gossip kurzlebige Stories und Gerüchte Subjektivität Entertainment In HoC verkörpert durch: Tom Hammerschmidt, Janine Skorsky, Lucas Goodwin, Margaret Tilden 48 In HoC verkörpert durch: Carly Heath Zoe agiert als komplexe Figur, die als Journalistin 2.0 ihre Karriere beginnt, aber sich dann einer investigativen Journalistengruppe anschließt, um eine größere Wahrheit aufdecken zu können. Abb. 15: Investigativer Journalismus vs. Journalismus 2.0 (eig. Darst.) 121 4 It’s Not TV. It’s House of Cards <?page no="122"?> Wenn die SuS über die Unterschiede zwischen investigativem Journalismus und Journalismus 2.0 Bescheid wissen, können sie eine reflektierte Entscheidung dahingehend treffen, mithilfe welcher Medien sie sich politisch informieren und weiterbilden möchten. c) Literarische Kompetenz Die Parallelen zu Shakespeares Dramenwelt machen den Einsatz der Serie HoC im EU der Sekundarstufe II besonders attraktiv - zumal das Lesen eines Shakespeare-Textes in der gymnasialen Oberstufe nach wie vor mit Prestige verbunden ist. Die Shakespeare-Bezüge in HoC können folgendermaßen illus‐ triert werden: Abb. 16: Die Serie HoC und ihre Shakespeare-Bezüge (eig. Darst.) Anhand eines intertextuellen Vergleichs mithilfe geeigneter Dramenauszüge einerseits und Szenen aus HoC andererseits können die Shakespeare-Bezüge mit den SuS erarbeitet werden (vgl. von Finckenstein 2017, 2019a, 2019b). Ein so zustande kommendes intermediales Wechselspiel aus moderner Serie und fast 400 Jahre alten Dramenauszügen im EU kann sehr motivierend sein und eröffnet neue Perspektiven auf beide Texte. Inwieweit Jugendlichen die Entwicklung von Filmkompetenz im Rahmen der Auseinandersetzung mit HoC gelingt, wird in den Kapiteln 6 und 7 in detaillierten Einzelfallbetrachtungen und einer anschließenden vergleichenden Fallanalyse untersucht. 122 II Theoretische Grundlagen <?page no="123"?> 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie 5.1 Forschungsziele und Forschungsfragen Mit den folgenden Ausführungen möchte ich für Transparenz und intersubjek‐ tive Nachvollziehbarkeit hinsichtlich meiner Forschungsmethodik und meines Forschungsvorgehens sorgen (vgl. Steinke 2005: 324). Der Aufforderung von Cohen, Manion und Morrison (2007: 41) Folge leistend, erläutere ich zunächst meine Forschungsziele und die damit einhergehenden Forschungsfragen. Die vorliegende Studie zielt darauf ab, kognitiv-affektive Prozesse Jugendlicher bei der intensiven, außerschulischen Rezeption einer Netflix-Serie wie HoC empirisch zu beleuchten. Dabei soll das Potential einer solchen Qualitätsserie für einen kommunikativen EU untersucht werden. Auf einer ersten Auswertungs‐ ebene verfolge ich konkret das Ziel, folgende Fragen im Rahmen detaillierter Analysen zu beantworten: ● Welche politischen Positionen und Dimensionen (gesellschafts-)politischen Lernens werden am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC bei den Jugendlichen sichtbar? ● Welche Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie werden am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC sichtbar? ● Welche Moralvorstellungen werden am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC bei den Jugendlichen sichtbar? ● Welche sprachlich-kommunikativen Kompetenzen entwickeln die Jugend‐ lichen am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC? Auf einer zweiten Auswertungsebene ist es mein Ziel, von den in der Un‐ tersuchung sichtbar gemachten kognitiv-affektiven Prozessen allgemeinere Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart abzuleiten. Dafür spielt die Beantwortung folgender Fragen eine entscheidende Rolle: ● Inwieweit eignen sich Viewing Journals als Begleitinstrumente des Hör‐ sehverstehens-Prozesses Jugendlicher beim intensiven, außerschulischen Serienkonsum? ● Welche Anforderungen entstehen an die Planung, Konzeption und Durch‐ führung eines zeitgemäßen EU, wenn mit einer authentischen Politdrama‐ serie wie HoC kompetenzorientiert unterrichtet wird? 123 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="124"?> ● Welche Kriterien lassen sich zur Auswahl von authentischen Serien für den filmbasierten EU in der Sekundarstufe II entwickeln? Insgesamt geht es in meiner Studie darum, einen Weg aufzuzeigen, wie mit einem geeigneten Inhalt eine intensive Auseinandersetzung - sowohl emotional als auch kognitiv - auf Seiten der SuS angestoßen werden kann, die mit einer Kompetenzentwicklung einhergeht. Dabei wird der individuellen Beschreitung und Bewältigung des Weges ebenso viel Bedeutung beigemessen wie der Erreichung des Ziels durch den einzelnen Schüler bzw. durch die einzelne Schülerin: Der Weg ist also das Ziel. Infolge dieser Zielsetzung und der damit verbundenen Fragestellungen ist ein qualitatives Paradigma bei der Konzeption und Auswertung der Untersuchung sinnvoll. 5.2 Vorbemerkungen zu Forschungsdesign und Methodologie der Studie Um die aufgeführten Forschungsfragen in der erforderlichen Tiefe beantworten zu können, wird eine qualitative Studie im Zeitraum eines Jahres durchgeführt. Mayring (2016: 9) spricht von einem „Trend zu qualitativen Erkenntnisme‐ thoden“ und einer damit verbundenen qualitativen Wende in der Forschung des 21. Jahrhunderts. Innerhalb der qualitativen Ansätze müsse Einzelfallanalysen eine Schlüsselposition zuteil werden (vgl. ebd.: 41). Dementsprechend lege ich meiner qualitativen Untersuchung das Basisdesign einer Fallstudie (vgl. Flick 2005a: 253) bzw. case study (vgl. Cohen, Manion, und Morrison 2007: 85) zugrunde. Diese hat primär die Funktion, die Komplexität des Denkens und Fühlens des beforschten Subjekts zu erfassen, um somit einen Beitrag zu einer effektiven Ausrichtung des Unterrichts leisten zu können (vgl. ebd.). Als Schlüsselwörter im Zusammenhang mit case studies nennen Cohen, Manion und Morrison (ebd.) Attribute wie in-depth, interpretive, descriptive und analytical. In diesen Attributen klingen die Schwächen solcher Fallstudien bereits an, die mitunter als „selective, biased, personal and subjective” (ebd.: 256) kritisiert werden. Um dieser Kritik entgegenzuwirken, müsse der jeweilige Fall in seiner Kom‐ plexität, Tiefe und Ganzheit betrachtet werden, wobei jeder Fall als „besonders aufschlussreiches Beispiel für ein allgemeineres Problem“ (Flick 2007: 178) fungieren sollte. Auch wenn eine qualitative Fallstudie keinen repräsentativen Ansprüchen genügen kann, halten Cohen, Manion und Morrison (2007: 257) fest: 124 II Theoretische Grundlagen <?page no="125"?> the researcher need not always adhere to criteria of representativeness. It may be that infrequent, unrepresentative but critical incidents or events occur that are crucial to the understanding of the case. For example, a subject might only demonstrate a particular behaviour once, but it is so important as not to be ruled out simply because it occurred once; sometimes a single event might occur which sheds a hugely important insight into a person or situation. Damit seien Fallstudien authentischer und können Folgendes leisten: „replac[ing] quantity with quality and intensity; separating the significant few from the insignificant many instances of behaviour. Significance rather than frequency is a hallmark of case studies” (ebd.: 257 f). Steinke (2005: 320 f) formuliert für die qualitative Forschung zwei zentrale Kriterien: Zunächst geht sie auf das Prinzip der kommunikativen Validie‐ rung ein, womit gemeint ist, dass die Forschungsergebnisse den Studienteil‐ nehmenden zur Überprüfung vorgelegt werden. Auf diese Weise kann der/ die Forschende eine inhaltliche Zustimmung des beforschten Subjekts zu seinen/ ihren Aussagen einholen, wodurch mögliche Unstimmigkeiten ausgeglichen werden können. Dabei ist folgende Feststellung Grotjahns (1987: 67) entschei‐ dend: „[T]his criterion presupposes a symmetrical dominance-free dialogue between researcher and research subject”. Für diese hierarchiefreie Kommuni‐ kation müsse der/ die Forschende Sorge tragen. In meiner Studie dienen die Interviews mitunter der kommunikativen Validierung, um nach der Auswertung der Viewing Journals mit den SuS Rücksprache halten und kritische Punkte klären zu können. Das zweite Kriterium, das Steinke (2005: 320) nennt, ist die Triangulation: Durch den Einsatz komplementärer Methoden, Theorien, Daten oder Forscher in einer Untersuchung sollen Einseitigkeiten oder Verzerrungen […] kompensiert werden. Nachdem Triangulation anfangs als Instrument zur Validierung verstanden wurde […], wird sie heute als methodische Technik diskutiert, die zu einer breiteren und tieferen Erfassung des Untersuchungsgegenstandes führt. Auch Cohen, Manion und Morrison (2007: 141) betonen die Wichtigkeit der Triangulation als „multi-method approach”, wobei es sich um einen „powerful way of demonstrating concurrent validity, particularly in qualitative research” handle. Triangulation könne damit als wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer tieferen Erkenntnis hinsichtlich des untersuchten Gegenstandes gesehen werden (vgl. Flick 2005b: 311). Færch und Kasper (1987: 19) fassen dies fol‐ gendermaßen zusammen: „A combination of methods seems to be needed if we wish to substantially improve our understanding of learners’ declarative knowledge, their communication and learning processes and of the affective and 125 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="126"?> social aspects that interact with the cognitive dimension”. Für die qualitative Forschung gilt folgende Prämisse: „Um die theoretische Generalisierbarkeit zu erhöhen, ist der Einsatz unterschiedlicher Methoden [Triangulation! ] zur Untersuchung eines Phänomens an wenigen Fällen häufig aussagekräftiger als der Einsatz einer Methode an möglichst vielen Fällen“ (Flick 2005a: 260). Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um analytisch-interpretative didaktische Forschung, bei der unterschiedliche Forschungsinstrumente einge‐ setzt werden, die einen triangulierenden Zugriff auf das Datenmaterial ermög‐ lichen. 5.3 Forschungsinstrumente 5.3.1 Fragebögen Fragebögen zählen Nunan (1992: 143) zufolge zu den beliebtesten und damit sehr häufig eingesetzten Forschungsinstrumenten. Dies hängt damit zusammen, dass Fragebögen ein vergleichbar hohes Maß an Standardisierung - durch gleiche Fragen für alle Studienteilnehmende - garantieren (vgl. Flick 2007: 173; Brace 2008: 4). Im Kontext der vorliegenden Arbeit kommt ein Fragebogen zum Beginn der empirischen Studie (und damit zum Schuljahresanfang im September 2017) zum Einsatz, wobei in Entsprechung zum qualitativen Forschungsdesign hauptsächlich offene Fragen gewählt werden. Einerseits bringen solche Fragen einen größeren Aufwand bei der Kodierung des umfangreichen Datenmate‐ rials mit sich (vgl. Dörnyei 2010: 37). Andererseits sind mit den sogenannten open-ended questions zahlreiche Vorteile verbunden: Sie seien „particularly suitable for investigating complex issues“ (vgl. Cohen, Manion, und Morrison 2007: 321), da auf diese Weise „the limitations of pre-set categories of response“ (ebd.) vermieden werden können. Dies könne wiederum für die Generierung zusätzlicher und womöglich unvorhersehbarer Items nutzbar gemacht werden (vgl. ebd.). Nunan (1992: 143) hält Folgendes als entscheidenden Vorteil fest: „[R]esponses to open questions will more accurately reflect what the respondent wants to say”. Indem den Befragten mehr Freiraum bei der Beantwortung der Fragen gewährt werde, sei eine größere Vielfalt - Dörnyei spricht hier von „richness“ - innerhalb der Antworten möglich (vgl. Dörnyei 2010: 36). Hinzu kommt, dass vorgefertigte Antwortkategorien die Kreativität und Individualität bei der Bearbeitung des Fragebogens erheblich einschränken können. Cohen, Manion und Morrison (2011: 392) sehen offene Fragen damit als Chance für mehr Authentizität, Fülle, Aufrichtigkeit und Tiefgang der Antworten, was die Autoren als „hallmarks of qualitative data“ beschreiben. 126 II Theoretische Grundlagen <?page no="127"?> Vorstrukturierte Antwortkategorien werden im Fall des von mir eingesetzten Fragebogens nur im Anschluss an wenige Fragen gewählt - so beispielsweise bei der dritten Frage (Wie schaust du Filme und Serien? ): Ohne die Antwortka‐ tegorien (s. u.) wäre die Frage nicht präzise genug und damit missverständlich. Mit den Kategorien wird deutlich, dass die Frage sich darauf bezieht, ob die SuS das traditionelle bzw. lineare Fernsehen nutzen oder auf VoD-Portale oder ähnliches umgestiegen sind. Doch auch hier haben die SuS (neben einer Auswahl mehrerer der genannten Optionen) die Möglichkeit, ihr individuelles Medienkonsumverhalten zu beschreiben, falls keine der Kategorien auf sie zutreffen sollte. Ich schaue Filme und Serien, die im Free-TV laufen. Ich schaue Filme und Serien über Video-on-Demand-Portale wie Netflix, Sky oder Amazon Prime Video. Ich schaue Filme und Serien kostenlos im Internet, zum Beispiel auf YouTube. Ich schaue Filme und Serien _________________________________________ Abb. 17: Beispiel für vorstrukturierte Antwortkategorien im Fragebogen (eig. Darst.) Zudem sind die Fragen am Ende des Fragebogens, bei denen ganz konkrete Ein-Zeilerbzw. Ein-Wort-Informationen erwünscht sind, tabellarisch vorstruk‐ turiert, um die Kodierung zu erleichtern. Der Terminologie von Cohen, Manion und Morrison (2011: 382) folgend, handelt es sich bei den im Rahmen meiner Studie eingesetzten Fragebögen also um „semi-structured questionnaires with mainly open items“. Da die SuS die meisten Antworten selbst formulieren müssen, ist für die Bearbeitung des Bogens ausreichend Zeit einzuplanen. Die Fragebögen sind zudem auf Deutsch formuliert, um auch lernschwächeren Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich uneingeschränkt, aussagekräftig und ohne Scheu ausdrücken zu können. Der Fragebogen wird gleich zu Beginn der ersten Sitzung des W-Seminars in meiner Anwesenheit von den SuS ausgefüllt, so dass diese sich bei Unklarheiten an mich wenden können. Hinsichtlich der inhaltlich-formalen Gestaltung des Fragebogens orientiere ich mich an den Vorgaben von Dörnyei (2010). Um einem Ermüdungseffekt vorzubeugen (vgl. Brace 2008: 119), beschränke ich den Fragebogen auf vier Seiten, welche innerhalb von 30 Minuten problemlos bearbeitet werden können (vgl. Dörnyei 2010: 13). Insgesamt gliedert sich der Fragebogen in fünf Teilbereiche: 127 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="128"?> 1. Fragen zum Medienkonsumverhalten, zu medialen Gewohnheiten und Präferenzen der SuS 2. Fragen zum W-Seminar-Beginn: Erwartungen, Wünsche, Interessen 3. Fragen zu HoC: Vorwissen und Einschätzungen 4. Fragen zu bisher erlebten filmbasierten Unterrichtsstunden 5. Persönliche Interessen und sozio-demographische Angaben. Für den Fragebogeneinsatz entscheide ich mich vor allem aufgrund seiner Effizienz: Bei geringem zeitlichem Aufwand können sich alle Seminarteilnehm‐ enden zu forschungsrelevanten Fragen aus verschiedenen Bereichen äußern. Zudem besteht Konsens dahingehend, dass Fragebögen in der Regel ehrlichere und damit verlässlichere Antworten liefern als Interviews (vgl. Brace 2008; Dörnyei 2010). Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die SuS bei der schriftlichen Beantwortung der Fragen nicht durch die direkte Konfrontation mit dem bzw. der Interviewenden beeinflusst oder gar verunsichert werden können. Der Fragebogen erfülle als „medium of [remote] communication between the researcher and the subject” (Brace 2008: 4) demnach wichtige Funktionen. Das im Rahmen qualitativer Forschung häufig erwähnte Problem der sozialen Erwünschtheit, welches auch als Prestige Bias bzw. Social Desirabi‐ lity Bias (vgl. Dörnyei 2010: 8) bezeichnet und als SDB abgekürzt wird (vgl. Brace 2008: 195), kann mit einer schriftlichen Befragung immerhin minimiert werden. Als Forschende/ r müsse man sich über SDB bewusst sein und Folgendes versuchen: „to minimize [inaccuracies] and, where necessary, take into consi‐ deration the bias and inaccuracy in the data” (ebd.). Dies spiele besonders bei sogenannten face management-Fragen eine Rolle, die von den Befragten eine Selbsteinschätzung zu Themenbereichen wie being a good citizen oder being a well-informed and cultured person verlangen (vgl. ebd.: 196, 199). Um bei oberflächlich oder unklar beantworteten Fragen nachhaken zu können, werden die Fragebögen im Fall meiner Studie mit qualitativen Leitfa‐ deninterviews gekoppelt. Nunan und Bailey (2009: 319) betonen die Vorteile einer solchen Koppelung der Forschungsinstrumente und empfehlen entspre‐ chend ein „research design in which you first use questionnaires to get a broad cross section of information or opinions. You could subsequently use interviews to get more detailed data from a subgroup of your sample”. In meiner Studie kommen vor den Interviews Viewing Journals für die Erforschung kognitiv-affektiver Prozesse beim außerschulischen Serienschauen zum Einsatz. 128 II Theoretische Grundlagen <?page no="129"?> 5.3.2 Diary Studies: Viewing Journals Diary Studies dienen in erster Linie der „Introspektion“ (Mayring 2016: 31), um einen Zugang zu innerpsychischen Phänomenen des Forschungssubjekts erhalten zu können. Demnach handelt es sich um „a first-person account of a language learning or teaching experience, documented through regular […] entries in a personal journal and then analysed for recurring patterns or salient events” (Bailey 1990: 215). Introspektive Methoden beziehen sich auf „proce‐ dures of self-report, self-observation and self-revealment” (Grotjahn 1987: 55). Die Methode der Diary Studies gewann in Form des vermehrten Einsatzes von Lesetagebüchern seit den 1980er-Jahren an Bedeutung, was sich in einer Vielzahl an Arbeiten widerspiegelt (z. B. Bailey und Ochsner 1983; Nunan 1994; Bailey und Nunan 1996; Krück und Loeser 1997; Mosner 1997, 2000; Bray 2002; Anton 2014; Fäcke 2006; Schaidt 2018). Es kann also festgehalten werden, dass sich introspektive Methoden zunehmender Beliebtheit erfreuen (vgl. Nunan 1992: 132; Grotjahn 1987: 68), was in einer Aufwertung der affektiven Dimension des Fremdsprachenlernens resultiert sei (vgl. Færch und Kasper 1987: 11 f; Nunan 1992: 121). Diary Studies haben sich damit als „part of a growing body of literature on classroom research” (Nunan 1992: 120) etabliert, wobei hier besonders der Sammelband zur Introspektion in der Fremdsprachenforschung von Faerch und Kasper (1987) zu erwähnen ist. Vor allem Diaries, Logs und Jour‐ nals werden als bedeutende introspektive Forschungswerkzeuge eingestuft (vgl. Nunan 1992: 118), da diese authentische Einblicke in Lernprozesse ermöglichen, „which would be difficult, if not impossible, to obtain in any other way” (ebd.: 123). Ein weiterer Vorteil der Diary Studies ist, dass die Studienteilnehmenden selbst über die Ausführlichkeit, den Zeitpunkt und die Beschaffenheit ihrer Einträge entscheiden dürfen (Faerch und Kasper 1987: 284 f). Im Kontext meiner Studie geht es darum, introspektive Daten hinsichtlich der außerschulischen Auseinandersetzung der SuS mit der Serie HoC zu gewinnen. Dafür erstelle ich sogenannte Viewing Journals. Bevor ich deren Konzeption erläutere, möchte ich die Position der Fachdidaktik zu Filmtagebüchern kurz beleuchten. Henseler, Möller und Surkamp (2011: 20) halten als zentrale Aufgabe des fremdsprachlichen Filmunterrichts fest, dass die SuS zur intensiven Interaktion mit Filmen angeregt werden müssten, indem sie zum Sprechen und Schreiben (in der Fremdsprache) über ihre individuellen Rezeptionserfahrungen beim Film‐ schauen motiviert werden. Dafür seien entsprechende Aufgaben erforderlich, wobei die Autoren diesbezüglich auf die Wichtigkeit sowohl kognitiver als auch emotionaler Aspekte verweisen: Die SuS müssten Gelegenheit bekommen, „ihr Wissen und ihre Erfahrungen, ihre Einstellungen und Gefühle […] und ihre individuellen Seh- und Höreindrücke zum Ausdruck [zu] bringen“ (ebd.: 13). In 129 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="130"?> diesem Kontext empfehlen die Autoren den Einsatz von Filmtagebüchern (ebd. 106 ff): Eine […] Möglichkeit, sich individuell und intensiv mit einem Film auseinanderzu‐ setzen, stellt das Führen eines Filmtagebuchs (film response journal) dar. Die Lernenden notieren zum einen spontane Eindrücke, Gefühle und Gedanken zum Film, zum anderen haben sie Gelegenheit, Schwierigkeiten bei der Filmrezeption zu äußern sowie den Film zu bewerten. Dabei müsse den SuS Raum für eine individuelle Schwerpunktsetzung gegeben werden. Insbesondere „Szenen, die Leerstellen aufweisen, Fragen aufwerfen oder zum Perspektivwechsel auffordern, bieten sich für eine kreative Ausgestal‐ tung durch die Schülerinnen und Schüler an“ (ebd. 107). An dieser Stelle zeigt sich die Verbindung zur Rezeptionsästhetik, welche Leerstellen als Beteiligungs‐ angebote für die Zuschauenden sieht (vgl. Iser 1970: 16). Die Lernenden können an Stellen semantischer Unbestimmtheit (z. B. durch Aussparungen wichtiger Informationen oder durch Abbruch an exponierter Stelle) im Rahmen von Filmtagebüchern zur Bedeutungskonstruktion animiert werden (vgl. Wangerin 2007: 68 f; Nünning und Surkamp 2006: 13). Der Sinn eines Textes entstehe nämlich erst durch die Mitwirkung der Rezipienten, weshalb Nünning und Surkamp (ebd.: 53 f) die Arbeit mit Lesetagebüchern bzw. Reading Logs emp‐ fehlen. Die Ziele beim Einsatz von Lesetagebüchern treffen größtenteils auch auf Filmtagebücher zu: Die Jugendlichen sollen ihre Eindrücke während der Rezeption notieren, Szenen, die ihnen wichtig sind, herausschreiben, weiterfüh‐ rende Gedanken festhalten, produktiv-kreative Texte (z. B. innere Monologe von Figuren) verfassen usw. Lese- und Filmtagebücher sorgen damit für eine stark individualisierende Beschäftigung mit Texten durch die SuS (vgl. Spinner 2007: 27 f). Auch Stempleski und Tomalin (2001: 132) gehen auf Film Journals ein und halten als einzige Vorgabe fest, dass die SuS über alle Filme, die sie anschauen, einen möglichst ausführlichen Eintrag verfassen sollen. Thaler betont hingegen die für die Bearbeitung eines Film Response Journals erforderliche kreative Aktivität in der Auseinandersetzung mit Filmen und erklärt, dass die Mittei‐ lungsbereitschaft der SuS steigen würde, wenn die Jugendlichen über eigene Gefühle und Meinungen schreiben dürfen (vgl. Thaler 2008a: 213; Thaler 2014: 23). Um im Rahmen der vorliegenden Studie Einblicke in die kognitiv-affektiven Prozesse der Lernenden während der außerschulischen Rezeption der Politdra‐ maserie HoC erhalten und die „personal records“ (Schaidt 2018: 121) aller SuS nachvollziehen zu können, erstelle ich Viewing Journals zu den Staffeln I bis 130 II Theoretische Grundlagen <?page no="131"?> III von HoC. Auf diese Weise können die Verstehenssowie Denkprozesse, die Gefühle und Einstellungen der SuS während des Schauens der Serie untersucht werden. Einer der großen Vorteile dieses Procederes besteht darin, dass der bzw. die individuelle Seminarteilnehmende mit seinen bzw. ihren persönlichen Erfahrungen ins Zentrum des Hörsehverstehens-Prozesses gerückt werden kann. Aufgrund der Anlegung der Studie als intensives Filmprojekt bietet es sich an, den SuS pro Season ein Filmtagebuch mit jeweils 13 Kapiteln (ein Kapitel pro Episode) an die Hand zu geben; somit können kognitiv-affektive Prozesse und Entwicklungen innerhalb eines längeren Zeitraums sichtbar gemacht werden und die Seminarteilnehmenden können sich Schritt für Schritt (bzw. Staffel für Staffel) mit der Methode des Tagebuchschreibens vertraut machen. Dadurch, dass ein Tagebuch ein written record (Mc Donough und Mc Donough 1997: 122) darstellt, ist die tagebuchschreibende Person „durch die Versprachlichung […] in der Regel […] gezwungen, über den zu formulierenden Gedanken zu reflektieren, wodurch zusätzliche kognitive Prozesse in Gang kommen“ (Mosner 2000: 85). Auf diese Weise kann eines der Kernanliegen der Studie bezüglich der Erforschung kognitiver Prozesse berücksichtigt werden. Doch auch den affektiven Prozessen wird Rechnung getragen, da der Zugang zur Interpretation des Films primär mit den Emotionen der Rezipienten verbunden ist (vgl. Burwitz-Melzer 2019: 288). Dabei gibt es einerseits die Emotionen der Figuren auf der Darstellungsebene und andererseits die Emotionen der Rezipienten auf der Rezeptionsebene. Im filmbasierten EU müsse eine Ausein‐ andersetzung mit den Emotionen auf beiden Ebenen erfolgen: „Nur mit einer so genauen Reflexion und Selbstreflexion von Emotionen kann der Film mit seiner komplexen Sympathielenkung verstanden werden“ (ebd.: 292). Filmtagebücher eignen sich, um diese Auseinandersetzung zu unterstützen, was im Folgenden gezeigt werden soll. Im konkreten Fall der Viewing Journals zu HoC müssen einige konzeptio‐ nelle Besonderheiten erwähnt werden: Zunächst ist festzuhalten, dass die Aufgaben in englischer Sprache verfasst sind; dementsprechend wird von den SuS erwartet, die Serie auf Englisch zu schauen und die Tasks in der Fremdsprache zu bearbeiten. Somit soll einem der Anliegen der Dissertation von Kerst (2011: 15, 30 ff) entsprochen werden: Aufgrund des zunehmenden Einzugs des Englischen in die außerschulische Lebenswelt der SuS bestehe die Chance, das Konstrukt der Fremdsprache zunehmend zu entfremden. Eine solche Entfremdung scheint gerade stattzufinden: Die IQB-Studie (Stanat et al. 2016: 16 f) stellt einen klaren Aufwärtstrend bei den Englischkenntnissen der deutschen und speziell der bayerischen SuS fest, was vor allem auf ihr Medienverhalten zurückgeführt wird; insbesondere das extensive Schauen von 131 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="132"?> Serien auf Englisch spiele hier eine Rolle (vgl. dazu auch Spiewak 2016). Dieser Trend (bessere Englischkenntnisse durch Serienschauen) soll in meinem Projekt aufgegriffen und untersucht werden. Fäcke (2006: 72) sieht die Bearbeitung eines Tagebuchs in der Fremdsprache durch die SuS kritisch und macht deutlich, dass „begrenzte fremdsprachliche Kompetenzen die Aussagen über die eigentlichen Gedanken und Verstehensprozesse der Jugendlichen beeinflussen“ können. Trotz der Berechtigung dieses Einwands, dem sich auch Schaidt (2018) in ihrem Leseprojekt anschließt, wird für diese Studie ein rein englischsprachiges Design bevorzugt, da untersucht werden soll, wie sich die intensive Auseinanderset‐ zung mit einer englischsprachigen Serie auf den fremdsprachlichen Output der SuS auswirkt. Eine weitere Besonderheit der Diary Studies im Rahmen des W-Seminars zu HoC ist, dass die Viewing Journals der SuS benotet werden, worüber die Jugendlichen frühzeitig in Kenntnis gesetzt werden. Auch wenn eine Benotung forschungsethisch Angriffsfläche bietet, ist kein anderer Weg denkbar, um sicherzustellen, dass die SuS die Einträge gewissenhaft vornehmen. Hier kann mit dem Backwash effect (vgl. Thaler 2008a: 189) argumentiert werden: Nur was getestet wird, wird von den SuS auch gewissenhaft erledigt. Den Jugendlichen werden beim ersten Zusammenkommen vor offiziellem Seminarbeginn (zwei Wochen vor den Sommerferien) die Filmtagebücher zu Staffel 1 überreicht und sie erhalten einige Hinweise: Für die Bearbeitung des Filmtagebuchs zu Staffel 1 haben die SuS vom 14. Juli 2017 bis zum 20. September 2017 Zeit - also mehr als zwei Monate für 13 Folgen à 45 Minuten. Die SuS dürfen auch begründete Einträge wie I couldn´t understand the scene, because … oder I don´t want to comment on the scene, because … verfassen, ohne dass sich ihre Note dadurch verschlechtert. Wichtig ist nur, ehrliche und authentische Antworten zu geben. Insgesamt muss festgehalten werden, dass Viewing Journals als Forschungsinstrumente aufgrund ihrer Konzeption (Ausfüllen durch die SuS daheim, ohne Anwesenheit der Lehrkraft oder der forschenden Person) großes Potential für ehrliche, unverfälschte und authentische Antworten aufweisen (vgl. dazu Fäcke 2006: 73; Schaidt 2018: 123). Die von mir erstellten Filmtagebücher zu HoC zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie neben Fragen zu den Gefühlen und Einstellungen der Seminar‐ teilnehmenden, wie man sie in einem Diary erwarten dürfte, auch typische while-viewing-activities in Form von gezielten Verständnis-fragen beinhalten. Das Journal soll also nicht nur als Tagebuch, sondern auch als eine Art Workbook fungieren. Workbook Tasks erfordern eine eher kognitiv und rational ausgerichtete Auseinandersetzung mit dem Gesehenen, wobei hier beispiels‐ weise Verständnisfragen und Rechercheaufträge zu den in der Serie erwähnten 132 II Theoretische Grundlagen <?page no="133"?> politischen Begriffen zum Einsatz kommen. Die kognitiven Aufgaben und Anregungen sind wichtig, um die Denkmuster und Verstehensprozesse der SuS untersuchen und nachvollziehen zu können. Zudem dienen Denkanstöße dieser Art dazu, insbesondere schwächere SuS bei ihrem Verstehensprozess (v. a. in der Auseinandersetzung mit komplexen Plot-Entwicklungen) unterstützen zu können. Die Fragen primär affektiver Natur zielen hingegen darauf ab, den Lernenden ein Ventil für ihre individuellen Gefühle und Gedanken beim Schauen zu ermöglichen. Im Folgenden distanziere ich mich vom Begriff „Tagebuch“ und wähle stattdessen die Bezeichnung Viewing Journal, welche weiter gefasst ist und der konzeptionellen Beschaffenheit meines Forschungsinstruments besser ent‐ spricht. Zudem erscheint es mir forschungsethisch verwerflich, ein Tagebuch zu benoten, während die Bewertung eines Viewing Journals mit Workbook-Anteilen eher gerechtfertigt werden kann. Wie bereits erwähnt, nehmen Bonas und Wilts (2016: 97-110) eine kritische Bestandsaufnahme hinsichtlich der Aufgabenkultur im filmbasierten EU vor: Die Autoren führen die Dominanz meist geschlossener Aufgabenformate in Form von Ankreuz- oder Lückenaufgaben auf die Kompetenz- und Outputori‐ entierung des FSU zurück. Bonas und Wilts (ebd.: 98) halten Folgendes fest: Das Format dieser [geschlossenen] Aufgaben […] impliziert jedoch, dass es ein eindeu‐ tiges, objektives Verstehen gäbe […]. Eine individuelle Sinnkonstitution als Ergebnis einer Interaktion zwischen Rezipient/ -in und Text, wie sie die Rezeptionsästhetik nahelegt (vgl. Iser 1994), wird dadurch ausgeschlossen. Aus diesem Grund konzipiere ich für die Viewing Journals in erster Linie offene Aufgaben, welche die individuellen Verarbeitungs- und Erkenntnisprozesse der SuS in den Mittelpunkt stellen: Die Jugendlichen sollen durch die Aufgaben dazu ermutigt werden, in der Auseinandersetzung mit dem Text eigene Interessen, Erwartungen, Sympathien, Perspektiven und Schwerpunkte zu entwickeln, welche sie in den Viewing Journals entsprechend festhalten können. Dabei sollen die Jugendlichen selbstständig und selbstbestimmt agieren, womit der Forderung der Fremdsprachendidaktik nach mehr Autonomie Rechnung ge‐ tragen wird (vgl. Schmenk 2004: 67). Ebenso wie in Fäckes Studie (2006) wird keine Übertragbarkeit von Eintragungen des einzelnen Lernenden auf Lernende generell angestrebt; aufgrund des qualitativen Designs der Studie stehen die individuellen affektiv-kognitiven Konstruktionen der Seminarteilnehmenden im Vordergrund. Leitzke-Ungerer (2016: 132) sieht die Lernaufgaben für die sprachbezogene Filmbildung als spezifische Variante innerhalb des aufgaben‐ 133 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="134"?> orientierten Ansatzes, deren Ziel es sei, die SuS bei der fremdsprachlichen Kommunikation über Filme zu unterstützen. An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Überblick darüber geben, welche Art von Tasks in den von mir eingesetzten Viewing Journals zum Einsatz kommen: ● while-viewing-activities: unterstützende Verständnisaufgaben zu Plot-Ent‐ wicklungen und zu den Figuren (Motive, Charakterisierung, Hintergründe) ● begründete Formulierung von Erwartungen, Hoffnungen und Vorhersagen zum weiteren Verlauf der Handlung ● Fragen zu Filmsprache und Filmwirkung (meist anhand von Screenshots); Ermutigung zur Anwendung von filmbezogenem Wortschatz in sprachpro‐ duktiven Äußerungen ● Reflexion des individuellen Verständnisses der Serie durch die SuS (z.B.: Was there anything in Chapter … that was difficult to understand? Why? ) ● Anregungen zum Vergleich zwischen Fiktion und Realität - häufig ver‐ bunden mit Impulsen zu landeskundlichen Recherchen (meist mit Fokus auf US-Politik) ● Fragen zu den overall impressions der SuS (z.B.: How did you like the chapter? Who is your (least) favourite character? Give reasons for your answers.) ● Fragen zu den Gefühlen der SuS (z.B.: Please describe your feelings when you watched the scene.) ● Anstöße zur Wortschatzarbeit und zum Memorieren von Sprache (z.B.: Were there any unknown words in Chapter 1 that you looked up and want to remember? In Chapter 3, Frank uses the word “hypocrisy” a lot. What does it mean? Is it a good word to describe Frank’s behaviour? Why / why not? ) ● Fragen zur begründeten Positionierung der SuS (z.B.: Whose side would you take and why? ) ● Denk- und Interpretationsanstöße (z.B.: How do you interpret the “message” Claire leaves for Adam? How do you interpret the statement/ dialogue/ painting …? Why do you think the producers of House of Cards included a provocative scene like … in the show? How do you interpret the use of cross-cutting between the scenes? ) Bislang wurden Viewing Journals noch nicht hinsichtlich ihrer systematischen Eignung für den FSU untersucht - ein Defizit, welches ich mit der vorliegenden Arbeit ausgleichen möchte. 5.3.3 Leitfadeninterviews Abschließend führe ich im Rahmen meiner Studie Einzelinterviews mit den SuS durch, welche mit zahlreichen Chancen verbunden sind: 134 II Theoretische Grundlagen <?page no="135"?> 49 Fäcke (2006: 74) listet beispielsweise offene, standardisierte, fokussierte, biographische und narrative Interviews auf. Qualitative Interviews sind eine in der empirischen Sozialforschung häufig einge‐ setzte und weithin anerkannte Forschungsmethode, die eine Fülle von Möglichkeiten bieten, um an Informationen zu Prozessen und Sachverhalten, an Erfahrungen oder an Denk- und Wahrnehmungsmuster individueller Akteure zu gelangen (Trautmann 2012: 218). Terhart (1997: 35) beschreibt Interviews als „kooperative Form der Datenerzeu‐ gung im Forschungsprozess“, wobei das Adjektiv „kooperativ“ die zentrale Voraussetzung für ein gelingendes Interview impliziert: Ohne eine sich auf Augenhöhe abspielende Zusammenarbeit zwischen der interviewenden und der interviewten Person könne ein Interview keine wertvollen Ergebnisse liefern. Steinke (2005: 320) zufolge muss das Bündnis zwischen Forscher und Interviewpartner „von Offenheit, Vertrauen, Arbeitsbereitschaft und einem möglichst geringen Machtgefälle“ gekennzeichnet sein. Nur so könne davon ausgegangen werden, dass die Befragten in der für sie zweifellos ungewohnten Situation aufrichtig und wahrheitsgemäß berichten. Eine von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung geprägte Interviewsituation sei damit der einzig denkbare Weg, um dem Problem der sozialen Erwünschtheit Vorschub zu leisten. Die SDB auf Seiten der befragten Jugendlichen werde nämlich durch die in Interviews unvermeidbare face-to-face-Konfrontation mit der forschenden Person begünstigt (vgl. Cohen, Manion, und Morrison 2007: 349). Aus diesem Grund müsse man sich als Forscher/ in des Problems der sozialen Erwünschtheit bewusst sein und sich dies bei der Analyse und Auswertung der Daten kritisch vergegenwärtigen. Es existiert eine breite Vielfalt an Interviewvarianten 49 , die sich insbesondere hinsichtlich der von der forschenden Person zu bestimmenden Strukturiertheit unterscheiden. Aufgrund der Zielsetzungen meiner empirischen Untersuchung wähle ich ein eher flexibles, offenes, exploratives und qualitativ ausgerichtetes Leitfadeninterview. Den Leitfaden, bestehend aus ausformulierten Fragen zu verschiedenen Stichpunkten, strukturiere ich gemäß der Empfehlung von Patton (1980: 206) in Themenfelder, um die Datenerhebung systematisieren zu können und um ein gewisses Maß an Vergleichbarkeit sicherzustellen. Kuckartz et al. (2007: 21) und Witzel (1985: 236) sehen den Leitfaden, auch wenn dieser meist flexibel eingesetzt wird, als Orientierungs- und Merkhilfe für die interviewende Person. Die Entscheidung für offene Fragen ist wichtig, um den Befragten die Möglichkeit zu „expansion and elaboration“ (Schaidt 2018: 125) zu geben und um der „uniqueness of the individual case“ (ebd. 124) im 135 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="136"?> Rahmen der qualitativen Ausrichtung meiner Studie Rechnung zu tragen. Flick (2014: 197-198) schlägt für ein solches Interviewformat anhand von Leitfragen folgendes Procedere vor, das ich bei der Befragung meiner SuS berücksichtige: „This interview guide [consisting of prepared, mostly open-ended questions] should be applied flexibly and leave room for the interviewee’s perspective […] in addition to the questions”. Folgende Absichten verfolge ich mit dem Einsatz der Leitfadeninterviews: Zunächst erscheint es mir wichtig, am Ende des W-Seminars, mit einem größeren zeitlichen Abstand zu den Fragebögen und den Viewing Journals, ein Forschungsinstrument einzusetzen, welches die SuS ermuntern soll, ihre ko‐ gnitiv-affektiven Prozesse in der Auseinandersetzung mit HoC im Nachhinein zu reflektieren. Diese Taktik der verzögerten Retrospektion bzw. delayed retro‐ spection wird beispielsweise von Cohen und Hosenfeld (1981: 286) befürwortet. Zudem bieten mir die Interviews die Chance, nachhaken zu können, wenn die Einträge in den Viewing Journals Fragen aufwerfen oder eine Vertiefung sinnvoll erscheint. Somit kann dem Prinzip der kommunikativen Validierung Rechnung getragen werden (vgl. Cohen, Manion, und Morrison 2007: 351). Im Rahmen der Interviews werden also einige der aus den Fragebögen sowie Viewing Journals abgeleiteten Hypothesen überprüft. Die SuS haben die Möglichkeit, auf meine Nachfragen detailliert zu antworten, wodurch eine Sammlung reichhaltiger Informationen anvisiert wird. In den Interviews liegt der Fokus auf den subjek‐ tiven Interpretationen und Einschätzungen der Befragten, um Erkenntnis über das erkennende Subjekt gemäß dem Konstruktivismus gewinnen zu können (vgl. Steinke 1999: 91 ff). Die durch die Interviews erhobenen Daten basieren also zu großen Teilen auf subjektiven Konstruktionen der SuS. An der durch die forschende Person vorgenommenen Rekonstruktion solcher Konstruktionen wird häufig Kritik geübt, da mit der Auswertung einer Interviewsituation stets eine subjektive Dimension und eine Filterung einhergehe (vgl. Küppers 1999: 125; Atteslander 2000: 74). Dieser Punkt wird in Kapitel 9 kritisch reflektiert. Die Interviews werden in deutscher Sprache geführt, um sicherzustellen, dass die Befragten sich unbefangen und ungehemmt äußern können (vgl. Schaidt 2018: 125). Folgender Ablauf wird in allen Interviews eingehalten: Zunächst bedanke ich mich für die Teilnahme am Interview. Anschließend erkläre ich kurz Sinn und Zweck der Befragung und versichere, dass die Anonymität der Befragten gewahrt wird. Besonders wichtig ist mir zu betonen, dass es im Interview keine richtigen oder falschen Antworten gibt; auf diese Weise versuche ich die Seminarteilnehmenden zu ehrlichen und unverfälschten Aus‐ sagen zu ermutigen. Zudem informiere ich die SuS über den zeitlichen Rahmen 136 II Theoretische Grundlagen <?page no="137"?> (pro Interview sind 30 Minuten anberaumt) und darüber, dass sie sich beim Beantworten der Fragen Zeit lassen dürfen. Bei der Strukturierung der Interviews orientiere ich mich an erprobten Konzepten (z. B. Fäcke 2006; Schaidt 2018) und lege dem Leitfaden folgende Themenfelder mit konkreten Anhaltspunkten zugrunde: Angaben zu Biographie und Persönlichkeit: Name, Alter, sprachliche und kulturelle Sozialisation, Familie, berufliche Perspek‐ tiven; Interessen und Hobbies, politisches Engagement; Einstellung zum Englischunterricht, Erfahrungen diesbezüglich; Medienverhalten und Medienvorlieben, Rolle von Filmen und Serien in Freizeit W-Seminar zur Serie House of Cards: Erfahrungen, Gedanken und Feedback bezüglich des Seminars: Verbesserungsvor‐ schläge hinsichtlich der Seminargestaltung; Rolle von Lehrkräften, Mitschülern und Kursatmosphäre für Einschätzung; Favorisierung eines bestimmten Teilbereichs (z. B. Filmsprache, Medien, Politik oder Shakespeare? ); Einschätzung des Lernzuwachses in den jeweiligen Teilbereichen und insgesamt Einsatz von Viewing Journals: Arbeitsweise und Erfahrungen mit den Viewing Journals; Notwendigkeit, Szenen wiederholt schauen zu müssen? Favorisierung eines bestimmten Fragentyps? Lernzuwachs durch Viewing Journals: Wie und in welchen Bereichen? Verbesserungs‐ vorschläge? Sichtweisen im Nachhinein: Meinung und Einstellung zu House of Cards: Was ist dir bei der Beschäftigung mit House of Cards besonders in Erinnerung geblieben? Hat sich etwas bei dir durch die Beschäftigung mit der Serie verändert (Sichtweise, Verhalten, Perspektive)? Lieblingsfigur in House of Cards (Begründung? ); Meinung zu Frank und Claire Underwood; Was findest du an House of Cards (un)wichtig / (un)verständlich / überraschend / in‐ teressant / schockierend / (un)glaubwürdig? Welche Themen der Serie sind für dich besonders relevant? Was hättest du an der Serie als Drehbuchautor anders ge‐ schrieben? Schaust du House of Cards auch ohne das Seminar zu Ende? Motivation dabei? Tabubrüche in House of Cards: (kurze Phase des lauten Denkens); Bedeutung dieses Aspekts der Serie? Inwiefern waren Tabubrüche bzw. Schockmomente beim Schauen relevant? 137 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="138"?> Politdrama: Fiktion - Realität Einschätzung des Realitätsgehalts von House of Cards: Für wie realistisch hältst du die Darstellung von Politik und Politikern in House of Cards? Was daran erscheint realistisch und was unrealistisch? Gedanken und Gefühle zum Themenbereich Politik: Hat sich deine Einstellung zur Politik / zu politischen Themen durch House of Cards geändert? Hat sich dein politisches Interesse geändert? Inwiefern? Trotz der durchdachten Struktur des Leitfadens behalte ich es mir bei den Interviews vor, längere Ausführungen durch die Seminarteilnehmenden (sofern diese zielführend erscheinen) nicht vorschnell zu unterbrechen, um nicht in einen Scheuklappenmodus aufgrund einer „Leitfadenbürokratie“ (Flick 2007: 223) zu verfallen. Auf diese Weise kann ich meinen Interviewpartnerinnen und -partnern am besten gerecht werden und verbaue mir nicht die Möglichkeit, Unvorhergesehenes zu erfahren, an das vertiefend angeknüpft werden kann. Dies erscheint besonders vor dem Hintergrund der Kritik zentral, die Hopf (1978: 101) und Girtler (1988: 154) vorbringen: Beide betonen, dass jegliche Form der Vorstrukturierung durch einen Leitfaden eine natürliche Gesprächs‐ situation verhindern könne. Zudem sorge die strikte Rollentrennung zwischen der Person, die Fragen stelle, und der Person, die darauf antworte, für eine Künstlichkeit, die auf die Befragten befremdend oder sogar einschüchternd wirken könne. Umso wichtiger ist es mir, keine Leitfadendiktatur walten zu lassen. 5.4 Ablauf der Untersuchung 5.4.1 Konzeption und Ablauf des W-Seminars The Political Drama Series House of Cards: US Politics, the Media and Shakespeare Die Studie wurde in folgenden Schritten realisiert: (1) Finden einer geeigneten Schule Ausgangspunkt meiner Studie war die Überlegung, auf Grundlage der Serie HoC einen kompetenzorientierten, zeitgemäßen EU zu planen und durchzuführen, um untersuchen zu können, welche Lern-, Gefühls- und Denkprozesse dadurch bei den SuS in Gang gesetzt werden. Zunächst stand die Suche nach einer geeigneten Schule auf der Agenda, wobei folgende Voraussetzungen erfüllt sein mussten: Da es sich bei HoC um eine anspruchsvolle Serie handelt, die auch Themen wie Mord und Vergewaltigung beinhaltet, kam nur die Sekundarstufe II 138 II Theoretische Grundlagen <?page no="139"?> 50 Frau Potter erklärte sich am Ende des Projekts mit einer ausführlichen schriftlichen Befragung einverstanden, so dass ihre Perspektive auf das W-Seminar für die Studie nutzbar gemacht werden konnte. eines Gymnasiums in Frage. Die Durchführung eines W-Seminars kristallisierte sich zunehmend als Idealvorstellung heraus, da ich die SuS auf diese Weise über einen längeren Zeitraum begleiten könnte. Somit wäre ein intensives Langzeitprojekt mit einem wöchentlichen Repertoire von zwei Schulstunden möglich. Zudem war es mir wichtig, eine gemischte Klasse zu gewinnen, um eine eventuelle Genderspezifik bezüglich der kognitiv-affektiven Prozesse berück‐ sichtigen zu können. Darüber hinaus musste eine motivierte Lehrkraft für das Projekt gefunden werden, um nicht am „Lehrer-Forscher-Spagat“ zu scheitern. Diesbezüglich hält Nunan (1992: 109) fest: „The teacher is the researcher’s link with learners, and also the learners’ link with research”. Im Frühjahr 2017 fand ich eine geeignete Schule, die mir ein W-Seminar in Zusammenarbeit mit einer ebenso erfahrenen wie engagierten Lehrkraft ermöglichte. Die Kooperation mit der Lehrerin Frau Potter erwies sich als große Bereicherung für meine Studie. Der Austausch mit ihr stellte einen wichtigen Eckfeiler der empirischen Phase dar und die SuS schätzten das von uns praktizierte team teaching.  50 (2) Entwicklung folgender Forschungsinstrumente: Viewing Journals, Fragebögen, Interviews Bereits vor Beginn des W-Seminars erstellte ich den Fragebogen für die Semi‐ narteilnehmenden, der in der ersten Sitzung zum Einsatz kam. Von zentraler Bedeutung war die Konzeption der Viewing Journals, welche die SuS bei der außerschulischen while-viewing-phase begleiten und unterstützen sollten und gewissermaßen das Herzstück der Studie darstellten. Um für die Lernenden einen Anreiz für eine gewissenhafte Bearbeitung der Journals zu schaffen, wurden diese anstelle von Klausuren eingesetzt; die SuS bekamen für ihre Viewing Journals zu den Staffeln 1,2 und 3 von HoC also jeweils eine Note - dafür wurde in 11/ 1 und 11/ 2 auf eine Klausur verzichtet. Diese Vorgehensweise wurde von den SuS mit großer Zustimmung akzeptiert und trotz des großen Aufwands, der mit dem Schauen der Serie verbunden war, als fair empfunden. Mithilfe der Viewing Journals konnte jeder Schüler und jede Schülerin die Serie im eigenen Tempo schauen und anschließend konnte im Unterricht vertieft mit HoC gearbeitet werden. Den Interviewleitfaden erstellte ich nach Auswertung der Fragebögen und Journals, um Fragen, die sich ergeben hatten, mit den SuS im Gespräch klären zu können. Auf diese Weise sollten Irrtümer bei der Datenanalyse durch kommunikative Validierung vermieden werden. 139 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="140"?> (3) Planung und Durchführung des W-Seminars Die Informationen zu den (film)didaktischen Vorüberlegungen und zur Konzep‐ tion des W-Seminars finden sich in Kapitel 4.2.2. Das Filmkompetenz-Modell, das hier bereits vorgestellt wurde, stellte nämlich die Planungsgrundlage für das Seminar dar. Dementsprechend gliederte sich das Seminar in folgende inhaltliche Phasen: ● Lernen über Qualitätsserien, VoD, ein neues Fernsehzeitalter und eine sich wandelnde Mediennutzerlandschaft; ● Lernen über filmspezifische Gestaltungsmittel am Beispiel von HoC; ● Lernen über das komplexe Verhältnis von Medien und Politik bzw. Journa‐ listen und Politikern am Beispiel von Zoe Barnes und Frank Underwood; ● Lernen über US-Politik: ein Vergleich zwischen Fiktion und Realität (How much truth is in HoC? ); ● Lernen über Shakespeares Dramen: ein intermedialer Vergleich zwischen HoC und Shakespeares Macbeth, Othello und Richard III. Über die inhaltliche Struktur (Medien, US-Politik und Shakespeare) wurden die SuS vorab bei einer Informationsveranstaltung im Sommer 2017 in Kenntnis ge‐ setzt. Neben dem W-Seminar im Fach Englisch stellten bei dieser Veranstaltung auch zahlreiche andere Schulfächer ihre W-Seminar-Ideen vor. Anschließend durften die SuS sich entscheiden, wobei 15 Jugendliche das HoC-Seminar wählten. Die W-Seminar-Gruppe setzte sich also aus 15 Lernenden (elf Schüle‐ rinnen und vier Schülern) zusammen, wobei ein „culturally diverse EFL-lang‐ uage classroom[…], accompanied by the social phenomenon of multilingualism“ (Blell und Doff 2014: 78) zustande kam. Von Anfang an zeigte sich bei den SuS ihre Bereitschaft, sich auf Englisch zu verständigen, und der hohe Stellenwert, den sie Fach und Sprache beimaßen. Abschließend ist zu erwähnen, dass SuS in Bayern im Rahmen ihres W-Semi‐ nars, wobei das „W“ für wissenschaftspropädeutisch steht, eine Seminararbeit zu einem vorgegebenen Thema verfassen müssen, um ihre Fähigkeit zum selbst‐ ständigen wissenschaftlichen Arbeiten ausbauen zu können. Dies entpuppte sich als Vorteil für meine Studie, da ich ein weiteres Dokument zur Verfügung hatte, das ich entlang meiner Forschungsfragen kodieren und auswerten konnte. So flossen auch aus den Seminararbeiten gewonnene Erkenntnisse in die Einzelfallanalysen mit ein. Zweifellos profitierten die Lernenden davon, dass ihre individuelle Arbeit mit der Serie in einer vertieften und wissenschaftlichen Auseinandersetzung ihren Höhepunkt erreichte. Hinzu kam, dass die Jugendli‐ chen eigene Schwerpunkte setzen und diesbezüglich ins Detail gehen durften (vgl. dazu Ausführungen in der vergleichenden Fallanalyse). 140 II Theoretische Grundlagen <?page no="141"?> 51 Grundsätzlich ist zur Entscheidung bezüglich der Transkriptionsart anzumerken, dass diese sich im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch maximaler Detailgenauigkeit (auch bezüglich para- und außersprachlicher Merkmale) und möglichst großer Leser‐ freundlichkeit bewegt (vgl. Küppers 1999: 131 ff; Fäcke 2006: 79). (4) Auswertung der Daten Auf die Auswertung der Daten möchte ich im Folgenden im Detail eingehen. 5.4.2 Datenanalyse und -auswertung 5.4.2.1 Datenvorbereitung Den größten Aufwand hinsichtlich der Datenvor- und Datenaufbereitung erfor‐ derten die Interviews, da diese transkribiert werden mussten. Folgende Schritte waren damit verbunden: ● Erstellung eines Kurzmemos im direkten Anschluss an jedes Interview, so dass Aspekte des „social encounter“ (Cohen, Manion, und Morrison 2007: 365) nicht in Vergessenheit geraten konnten; ● Anonymisierung der Interviews (z. B. durch Codenamen); ● Transkription als notwendiger Zwischenschritt zwischen Aufzeichnung der Daten und ihrer Interpretation (vgl. Flick 1995: 161). Cohen, Manion und Morrison (2007: 365 ff) halten fest, dass die nonverbale Kommunikation bisweilen aufschlussreicher sei als die verbale Kommunikation. Aus diesem Grund müssten auch Aspekte wie Mimik, Gestik, Tonfall des Sprechers (bestimmt, zögernd, nachdenklich usw.), Pausen und die Intonation in der Transkription vermerkt werden. Ich entschied mich für relativ unkompli‐ zierte Transkriptionsregeln 51 nach Kuckartz et al. (2007: 27 f): 1. Es wird wortwörtlich transkribiert (inklusive Dialekte); 2. Längere Pausen werden durch Auslassungspunkte … markiert; 3. Besonders betonte Begriffe/ Passagen werden großgeschrieben; 4. Nonverbale Kommentare werden in eckigen Klammern vermerkt: z. B. [lacht], [nickt]; 5. […] zur Auslassung im Textausschnitt; 6. Fett zur inhaltlichen Hervorhebung durch die Forscherin. Mit den von mir verfassten Kurzmemos im Anschluss an jedes Interview mit Beobachtungen zur jeweiligen Interviewsituation (Auffälligkeiten, Atmosphäre, Besonderheiten) und mit einer prägnanten Zusammenfassung hinsichtlich der Quintessenz des Gesprächs verfolgte ich folgende Zielsetzung: Spontane Erst‐ eindrücke sollten festgehalten werden, um gegebenenfalls darauf zurückgreifen zu können. 141 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="142"?> 52 Von den 15 W-Seminarteilnehmenden stand lediglich die Schülerin Nina aufgrund einer langen Erkrankung nicht für ein Interview zur Verfügung. Die Empfehlungen Klinkhammers (2000: 56-59) berücksichtigend, führte ich die Transkriptionen der Interviews zeitnah selbst durch. Während sich unbeteiligte Dritte, die die Gespräche nicht in der Originalsituation erlebt hatten, mit einer akkuraten Transkription schwergetan hätten, brachte die Transkription durch mich als Forscherin mehrere Vorteile mit sich: Ich konnte mich so erstmals intensiv mit dem Datenmaterial auseinandersetzen, indem ich mich mit den einzelnen Fällen vertraut machte und auf erste Besonderheiten aufmerksam wurde. Alle transkribierten Interviews wurden von mir noch ein zweites Mal gegengehört, um Fehler sowie Feinheiten korrigieren zu können. Die 14 Interviews 52 haben insgesamt einen Umfang von 101 Seiten, wobei das kürzeste sechs und das längste zehn Seiten umfasst. 5.4.2.2 Strukturierung und Auswertung der Daten: Kodierung und Kategorisierung In der Forschungsliteratur wird zwischen einer induktiven und einer deduktiven Vorgehensweise unterschieden (z. B. bei Nunan 1992: 13; Mayring 2005: 472; Cohen, Manion, und Morrison 2007: 6): Induktiv impliziert, dass die Auswertung der Daten der Hypothesenbildung vorausgeht, was eine hypothesengenerie‐ rende Vorgehensweise zur Folge hat, bei der über die Strukturierung des Datenmaterials Hypothesen entwickelt werden. Deduktive Forschung beginnt hingegen mit einer Hypothese oder Theorie und sucht anschließend im Daten‐ material nach Belegen. Damit ist das deduktive Vorgehen hypothesenorientiert, indem vor der Auswertung formulierte Hypothesen die Grundlage der Auswer‐ tung darstellen. Ausgangspunkt meiner Studie war folgende, bewusst möglichst offen ge‐ haltene, übergeordnete Forschungsfrage: Welche kognitiv-affektiven Prozesse werden bei der intensiven, außerschulischen Rezeption einer Politdramaserie wie HoC sichtbar? Auch die Fragen nach den Dimensionen politischen Lernens und nach den sprachlich-kommunikativen Kompetenzen, die die Jugendlichen am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC entwickeln könnten, spielten bereits bei der Konzeption des W-Seminars eine Rolle und wurden dement‐ sprechend als Kategorien in die Auswertung aufgenommen. Dies entspricht einer deduktiven Vorgehensweise, da sich diese Kategorien nicht aus dem Datenmaterial entwickelten. Anders verhielt es sich mit den Fragen nach den Tendenzen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie und den Moralvor‐ stellungen von Jugendlichen am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC: 142 II Theoretische Grundlagen <?page no="143"?> Diese Aspekte wurden erst bei der Kodierung des Datenmaterials sichtbar und wurden dann in entsprechenden induktiven Kategorien berücksichtigt. Vor allem die moralischen Prozesse der Jugendlichen spielten eine wichtige Rolle bei der Auswertung der kognitiv-affektiven Prozesse. Mein Vorgehen war also sowohl deduktiv als auch induktiv, was Cohen, Manion und Morrison (2007: 6) als „inductive-deductive approach” bezeichnen. Mayring (2005: 472) hält als Grundgedanken induktiver Kategorienbildung fest, „dass die Verfahrens‐ weisen zusammenfassender Inhaltsanalyse genutzt werden, um schrittweise Kategorien aus einem Material zu entwickeln“. Trotz einiger von vornherein feststehender Kategorien wurde dieser Feststellung Mayrings große Bedeutung in der Phase der Auswertung zuteil. Cohen, Manion und Morrison (2007: 475 ff) bezeichnen Inhaltsanalyse und Grounded Theory als zentrale Formen der qualitativen Datenanalyse. Beide Formen prägten mein empirisches Vorgehen. Bei der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1997, 2005) handelt es sich um die klassische Vorgehensweise zur Analyse und Strukturierung von Textmaterial, wobei in der Regel bereits im Vorherein definierte „Kategorien […] an das Material herangetragen und nicht unbedingt daraus entwickelt [werden], wenngleich sie immer wieder daran überprüft und gegebenenfalls modifiziert werden“ (Flick 2007: 409 und vgl. dazu auch Cohen, Manion, und Morrison 2007: 475). Ziel der Inhaltsanalyse sei eine Reduktion der Material- und Datenfülle durch eine Kategorisierung der Inhalte, worin zugleich auch ihre größte Herausforderung bestehe (ebd.). Bei der Grounded Theory, die auf Strauss und Glaser zurückgeht, handelt es sich um eine rein induktive Vorgehensweise, bei der die Theorie ausschließlich aus den Daten generiert wird mit dem Ziel, eine sogenannte core category im Forschungsprozess identifizieren zu können. Strauss und Corbin (1994: 273) zufolge ist die Grounded Theory eine „general methodology for developing theory that is grounded in data systematically gathered and analysed”. Im Rahmen der vorliegenden Studie entschied ich mich bei der Datenstruk‐ turierung und -auswertung für das Thematische Kodieren nach Flick (1995, 2007, 2014). Das Thematische Kodieren verbindet Grundideen von qualitativer Inhaltsanalyse und Grounded Theory. Grundlegend umfasst das Thematische Kodieren eine Datenanalyse in zwei Schritten: Zunächst wird eine individuelle und anschließend eine vergleichende Fallanalyse vorgenommen (vgl. Flick 2007: 408, 473 f). Dabei werden Schlüsselwörter in Form sogenannter Codes in Kategorien gebündelt. Diese Kodierung, also die Zuordnung von Aussagen im Datenmaterial zu den Kategorien, sieht Flick als zentralen Schritt bei der Auswertung (Flick 1995: 165). Auf diese Weise könne nämlich eine thematische Struktur für die Fallanalyse entwickelt werden, was mit einer Reduktion der 143 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="144"?> 53 QDA steht für Qualitative Daten Analyse-Software, welche mit Textverarbeitungspro‐ grammen vergleichbar ist (vgl. Flick 2007: 452). Ursprungstexte einhergehe. Kodierung und Kategorisierung werden beim The‐ matischen Kodieren zunächst für den einzelnen Fall durchgeführt: Nach den ersten Fallanalysen werden die dabei entwickelten Kategorien und die thematischen Bereiche, auf die sie sich in den einzelnen Fällen beziehen, miteinander abgeglichen. Daraus resultiert eine thematische Struktur, die für die Analyse weiterer Fälle zugrunde gelegt wird, um deren Vergleichbarkeit zu erhöhen (Flick 2007: 404). Somit ist es erforderlich, alle Fälle mithilfe von Kodierung und Kategorisierung zu analysieren und auszuwerten, um diese anschließend in die thematische Struktur einbeziehen zu können (vgl. ebd.: 404 f). In meiner Studie wertete ich die mit den Forschungsinstrumenten gewonnenen Daten entsprechend aus und entwickelte dabei mein Code- und Kategoriensystem. Dieses wurde während des Auswertungsprozesses immer weiter ausdifferenziert und unterlag ständigen Verfeinerungen und Änderungen. Meine Vorgehensweise war dabei interpretativ, was Kuckartz et al. (2007: 48) folgendermaßen beurteilen: „Aus unserer Sicht ist es zwingend nötig zu interpretieren, um bei der Auswertung nicht nur auf einer beschreibenden Ebene […] zu verweilen“. Für die effektive Erstellung eines Codebzw. Kategoriensystems sind QDA 53 -Programme hilfreich, die die qualitative Forschung unterstützen, ohne sie automatisieren oder durchführen zu können (vgl. Flick 2007: 452). Flick schlägt beispielsweise das von Kuckartz (2005) entwickelte MAXQDA als Soft‐ ware für die qualitative Forschung vor. Dementsprechend setzte ich MAXQDA für mein Projekt ein; in Anbetracht der Fülle der Daten, die ich kodieren und auswerten musste, wäre kaum ein anderer Weg denkbar gewesen. Flick (1995: 169) beschreibt die ausführliche Analyse von Einzelfällen „als wesentliches Erkenntnisinstrument. Durch deren sorgfältige Rekonstruktion oder Beschreibung, die die Basis der anschließenden Fallkontrastierung bildet, wird jeweils Authentizität angestrebt“. In meiner Studie wertete ich von allen Seminarteilnehmenden deren Fragebögen, Viewing Journals zu den Staffeln 1,2 und 3, 30-minütige Interviews und Seminararbeiten nach dem Prinzip des Thematischen Kodierens aus. Um die Einzelfälle in ihrer Tiefe untersuchen und Prozesse sichtbar machen zu können, wählte ich fünf Fälle aus. Mir erschien es im Rahmen meines quali‐ tativen Forschungsdesigns sinnvoll, fünf Fälle detailliert darzustellen, anstatt 15 Fälle nur oberflächlich zu beleuchten. Dementsprechend musste ich ein Sampling in Form einer möglichst repräsentativen Auswahl vornehmen. Hier 144 II Theoretische Grundlagen <?page no="145"?> gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wobei Flick (2007: 167) folgende Sam‐ pling-Strategien nennt: Sampling extremer Fälle, Sampling typischer Fälle, Sam‐ pling maximaler Variation und Intensitäts-Sampling. Beim häufig gewählten Sampling gemäß der maximalen Variation werden Extremfälle oder abwei‐ chende Fälle einbezogen, um darüber ein Verständnis des Feldes insgesamt zu gewinnen (vgl. ebd.: 165). Hierbei geht es darum, „zwar wenige, aber möglichst unterschiedliche Fälle“ (ebd.) einbeziehen zu können. Eine weitere Option ist die gezielte Auswahl besonders typischer Fälle, „also diejenigen Fälle, in denen das Verhältnis von Erfolg und Scheitern oder der Verlauf besonders typisch für den Durchschnitt oder die Mehrzahl der Fälle ist. Hier wird das Feld eher von innen heraus, aus dem Zentrum, erschlossen“ (ebd.). Beim Intensitäts-Sampling „werden entweder die Fälle mit der größten Intensität gewählt oder systema‐ tisch Fälle unterschiedlicher Intensität einbezogen und verglichen“ (ebd.). Flick stellt fest, dass es letztlich um die grundlegende Entscheidung zwischen „Breite oder Tiefe als Ziel der Auswahl“ (ebd.: 167) gehe. In meiner Studie wähle ich die Tiefe: Statt das Forschungsfeld maximal breit erfassen zu wollen, ist es mein Ziel, möglichst tiefgründige Analysen durchzuführen, um weit in die Struktur des erforschten Feldes vordringen zu können. Somit nehme ich im Folgenden detaillierte Beschreibungen zu fünf Einzelfällen vor. Um die Breite des Feldes dennoch nicht außeracht zu lassen, lege ich anschließend - entsprechend der von Flick vorgeschlagenen Vorgehensweise beim Thematischen Kodieren - eine vergleichende bzw. kontrastierende Fallanalyse vor, in die alle untersuchten Fälle einbezogen werden. Für eine verstärkte Authentizität innerhalb der detaillierten Einzelfallanal‐ ysen integriere ich in meine Arbeit zahlreiche originale und stets unverfälschte Schülerzitate, wobei auch folgende Intention eine Rolle spielt: […] it is important to keep the flavour of the original data […] [by] report[ing] direct phrases and sentences, not only because they are often more illuminative and direct than the researchers’ own words, but also because they feel that it is important to be faithful to the exact words used (Cohen, Manion, und Morrison 2007: 462). 145 5 Erläuterungen zum Forschungsdesign der empirischen Studie <?page no="147"?> III Auswertung der empirischen Untersuchung 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung 6.1 Fallbeispiel Romina 6.1.1 Hintergrundinformationen Zum Zeitpunkt des Interviews ist Romina 17 Jahre alt und ihre Muttersprache ist Kroatisch. Als Interessen und Hobbies nennt die Jugendliche Gitarre spielen und fügt vielsagend lächelnd hinzu, dass sie „viel im Internet unterwegs“ (IV) sei, wobei sie vor allem Serien schaue. Damit verbringt die Schülerin täglich ca. drei Stunden. Als Netflix-Fan kennt Romina die Serie HoC bereits vor dem W-Seminar und sie entscheidet sich für den Kurs, „[w]eil mir die Serie gefällt, ich aber nicht alles zu 100 % verstanden habe“ (FB). Hier spiegelt sich bereits die für Romina kennzeichnende Position des Verstehen-Wollens in ihrer Auseinandersetzung mit HoC wider. Romina nennt Englisch als ihr Lieblingsfach, dem sie sich auch mit beeindru‐ ckendem außerschulischem Engagement widmet. Die Schülerin schaut nämlich nicht nur Serien stets auf Englisch mit englischem Untertitel, sondern sie wird auch produktiv in der Fremdsprache tätig, was sie im Interview folgendermaßen beschreibt: Ja, also ich nehm mich auf, wenn ich Englisch rede … Des mach ich seit, boah, ich weiß gar nicht welche Klasse, vielleicht der 7. oder so, als ich noch fast kein Englisch konnte. Da hab ich sehr oft Videos von mir gemacht, wie ich einfach auf Englisch so über alles Mögliche red und … ich hab des Gefühl, dass ich dadurch schon sehr mein Englisch verbessern konnte und man sieht auch in den Videos, wie des halt immer besser wird … Also früher hab ich so richtig viele Pausen gemacht und jetzt ist es halt immer mehr über die Jahre fließender geworden und des hat mir dann glaub ich auch im Unterricht geholfen, meine Noten verbessert und so, ja … (IV). Rominas fremdsprachliche Kompetenzen sind in der Tat hervorragend, sowohl schriftlich als auch mündlich. Die Schülerin hat einen fast muttersprachlich anmutenden amerikanischen Akzent mit einer authentischen Intonation, was auch am Abend der Präsentation besonders gelungener Seminararbeiten von zahlreichen Englischlehrkräften festgestellt und gelobt wird. Das aufmerksame <?page no="148"?> Schauen von Serien auf Englisch mit dem bewussten Ziel der Verbesserung ihrer fremdsprachlichen Kenntnisse in Kombination mit der Aufnahme von Videos, in denen Romina sich selbst beim „Drauflosreden“ über Alltagsthemen auf Englisch filmt, scheint ein vielversprechendes Erfolgsrezept für den Sprach‐ erwerb und gesteigertes Sprachbewusstsein zu sein. Hier drängt sich die Frage auf, warum die Schülerin sich in ihrer Freizeit mit derartiger Hingabe der Verbesserung ihrer rezeptiven und produktiven skills in der Fremdsprache widmet. Romina wählt diesen Weg, weil sie zunehmend den Eindruck gewinnt, im EU nichts dazulernen zu können. Die Schülerin lächelt schüchtern, als sie zugibt: […] die letzten paar Jahre fand ich’s schon eher langweilig [im EU]. Ich hatte halt das Gefühl, wir haben immer dasselbe gemacht und irgendwie sind wir nicht so wirklich weitergekommen und ja … irgendwie zuhause mit so YouTube und Netflix hab ich jetzt das Gefühl gehabt, dass ich […] mehr gelernt hab als im Unterricht (IV). Während sich die Schülerin im W-Seminar zurückhält und nur selten meldet, glänzt sie in ihrer außerschulischen Auseinandersetzung mit der Serie: Sowohl Rominas Einträge in den Viewing Journals als auch ihre Seminararbeit zeugen von einer äußerst intensiven Beschäftigung mit HoC und zeigen eine sprachlich herausragende Leistung. 6.1.2 Politische Positionen und Dimensionen politischen Lernens Im Fragebogen äußert Romina eine explizite Erwartungshaltung an das W-Se‐ minar: Die Jugendliche möchte US-Politik genauer verstehen. Sie ist sich der fortwährenden Relevanz des US-politischen Systems bewusst und geht davon aus, dass sie mit einem tieferen Verständnis die „gesamte politische Lage der Welt“ (FB) besser begreifen könne. Am Ende des W-Seminars schätzt die Jugend‐ liche ihren Lernzuwachs im Bereich Politik am größten ein. Die Darstellung des Politischen in der Serie HoC animiert die Schülerin beispielsweise dazu, über die die politische Welt scheinbar prägende Sein-Schein-Dimension zu reflektieren, was bei Romina zu folgender gedanklichen Veränderung führt: Ich merk, dass ich […] noch genauer hinschau … auch so in der echten Politik, so dass man n’bisschen mehr hinterfragt und sich denkt: Ist des wirklich so oder ist das nur‘n Vertuschungsversuch oder ne Täuschung, wie es halt bei HoC am laufenden Band der Fall ist? (IV). Die Einstellung, die Romina hier zum Ausdruck bringt, ist eine gesteigerte kritisch-aufmerksame Grundhaltung gegenüber Politik. Die Darstellung des Politischen in der Serie bewirkt bei der Schülerin also folgenden Rückschluss 148 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="149"?> von der Fiktion auf die Realität: „Die meisten Politiker in HoC sind falsche Heuchler, die uns manipulieren wollen. Das trifft sicher auch auf viele Politiker im echten Leben zu … und deshalb glaub ich nicht alles, was ich von ihnen les und hör“ (Romina, IV). In Bezug auf den angestrebten Realismus der Serie geht Romina davon aus, dass die große Mehrheit der Politiker in HoC „eher realistisch“ (FB) dargestellt ist, wobei Frank Underwood in ihren Augen davon ausgenommen sei. Romina bezweifelt nämlich, dass es Politiker gibt, „die so mörderisch sind wie er“ (FB). Damit erkennt die Schülerin, dass die Serie mit ihrer Repräsentation von US-Politik der Realität zwar durchaus nahekommt, aber dass die Grenzen zur Fiktion dennoch überschritten werden, z. B. bei den Morden. Die Intrigen, die Manipulation und die Vertuschung von Affären sowie Skandalen hält die Jugendliche jedoch für realistisch. Obwohl Romina davon überzeugt ist, dass Morde nicht zum politischen Tagesgeschäft gehören, spielen diese für sie eine wichtige Rolle in ihrer Faszination für die Serie. Die Schülerin stellt fest, dass dadurch „politisches Interesse gefördert wird, weil das Ganze ist nicht so theoretisch, sondern man sieht, dass es halt auch spannend sein kann“ (IV). Bei Romina gehen das gesteigerte politische Interesse und der Genuss der spannenden Serie also Hand in Hand, was die Schülerin als entscheidenden Bonus von HoC empfindet (vgl. FB). Die Jugendliche betont, dass die über Leichen gehenden Protagonisten der Serie, Frank und Claire, ihr geholfen hätten, sich von ihrem „Langweilerbild von Politikern“ (IV) zu distanzieren, weil die Underwoods „eben […] das komplette Gegenteil“ (IV) davon verkörpern. In diesem Zusammenhang erklärt Romina im Interview, dass sie somit neugierig geworden sei, woher ihr „Langweilerbild“ stammen könnte und ob deutsche Politik generell weniger interessant sei als amerikanische Politik. Aus diesem Grund habe sie begonnen mehr Zeitung zu lesen, um Artikel über US-Politiker und deutsche Politiker vergleichen zu können. Dabei stellt die Jugendliche beispielsweise Folgendes fest: […] I personally can’t remember a single story about a politician’s private life. I think in Germany, people are more concerned with a politician’s convictions and their skills, rather than their relationships etc. To me it seems like important American politicians are treated similarly to celebrities, whereas in Germany, they aren’t similar at all (VJ 2). Die Schülerin zieht also aktiv Vergleiche und kommt zu dem Schluss, dass es in Deutschland weniger Starrummel um Politiker gebe und dass Politik weniger Show und mehr Seriosität beinhalte. Hinsichtlich der Dimensionen politischen Lernens am Beispiel Rominas lässt sich aus ihrem vermehrten Zeitunglesen mit Fokus auf politische Artikel schließen, dass sie besser informiert sein möchte. 149 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="150"?> Diese durch die Beschäftigung mit HoC angestoßene Entwicklung ist als sehr positiv im Kontext eines gesteigerten politischen Interesses zu bewerten. Rominas Lieblingskapitel von HoC ist Chapter 37 (das Kapitel in Staffel 3, S03E11, in dem die Live-Debatte zwischen Frank Underwood, Jackie Sharp und Heather Dunbar stattfindet), wozu die Jugendliche im Viewing Journal Folgendes formuliert: I liked chapter 37 the best, because the debate scene was my favourite […]. It was so cool to watch the debate, while also knowing why each person said precisely what they said. Knowing the motives and the personalities of the competitors made this scene really special. Seeing how they followed their plans […] was fascinating. It really made me think about how much things like this happen in real politics. And I think that is exactly one of the shows goals and one of the reasons I enjoy it so much (VJ 3; meine Hervorhebung). Romina äußert sich - im Vergleich zu ihren ansonsten meist sachlich formu‐ lierten Einträgen - nahezu euphorisch über das stark politisch ausgerichtete Kapitel 37. Dabei gehen affektive und kognitive Prozesse Hand in Hand und begünstigen einander: Die Begeisterung der Schülerin („It was so cool to watch the debate […]“) für die Debatte und die Geschehnisse im Vorfeld resultiert in einem Nachdenken über die Realitätsnähe des Gesehenen. Vor allem der Einblick hinter die Kulissen (die Vorbereitungen und heimlichen Absprachen der Politiker) macht die eigentliche Diskussion für Romina noch sehenswerter und spannender. Bei der Schülerin bewirkt das Kapitel eine vertiefte kognitive Auseinandersetzung, wobei die Jugendliche ebensolche Denkanstöße als Ziel‐ setzung der HoC-Macher annimmt und als Grund für die eigene Begeisterung für die Serie nennt. In Rominas Beschäftigung mit HoC spielt also die Position des Nachdenken- und Vergleichen-Wollens sowohl hinsichtlich politischer Realität und politischer Fiktion als auch hinsichtlich deutscher und US-Politik eine wichtige Rolle. 6.1.3 Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie 6.1.3.1 Faszinationskraft von Claire Underwood Romina erwähnt im Fragebogen, dass sie Serien grundsätzlich gegenüber Filmen präferiere, weil die Geschichten der Figuren hier in der Regel „viel komplexer“ (FB) seien und man mehr Zeit habe, „die Charaktere kennenzulernen“ (FB), mitunter jahrelang und mit jeder Staffel neue Facetten. Hinsichtlich der Kom‐ plexität von Seriencharakteren wird Romina beim Schauen von HoC nicht enttäuscht und sie beweist, dass sie zu einer tiefgehenden Beschäftigung mit 150 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="151"?> 54 An dieser Stelle möchte ich erneut darauf hinweisen, dass sämtliche Aussagen und Einträge der Studienteilnehmenden im Rahmen der vorliegenden Arbeit unverfälscht und damit auch inklusive sprachlicher Fehler oder Ungenauigkeiten wiedergegeben werden. Nur so kann die Authentizität der Daten gewährleistet werden. dieser Komplexität fähig ist. Da Romina sich in ihren Viewing Journals mit besonderer Hingabe der weiblichen Protagonistin widmet, soll ihre kognitiv-af‐ fektive Auseinandersetzung mit Claire ausführlich beleuchtet werden. Zunächst distanziert sich die Schülerin von Claire, als diese ihre 59-jährige Mitarbeiterin Evelyn entlässt (nachdem diese zuvor von Claire gezwungen wurde, zahlreichen Angestellten zu kündigen). Dies empfindet Romina als „unnecessarily cruel“ (VJ 1). Im darauffolgenden Kapitel hat Claire eine mysteriöse Begegnung mit einer alten Frau auf einem Friedhof, die Claire wegen ihres respektlosen Verhaltens ( Joggen auf diesem Friedhof) zurechtweist. Die Kritik der alten Frau scheint die sonst so unbeirrbare Claire emotional aufzuwühlen, was Romina folgendermaßen mit der Kündigungsszene in Verbindung bringt: […] with an irritated expression, she runs out of the cementry 54 without saying a word, she puts her earphones back in and continues to jog. Maybe this scene is supposed to represent Claires situation at work. She ruthelessly fired half her staff, but instead of acknowledging that what she did might have been morally questionable, she just “puts her earphones back in” and pretends nothing happened (VJ 1). Romina ist die einzige Schülerin, die eine Verbindung zwischen Kündigungs‐ szene und Friedhofsszene herstellt, wobei ihr dies überzeugend gelingt. Zudem greift die Schülerin eines der Leitmotive der Serie auf, indem sie mit dem Hinweis „puts her earphones back in and pretends“ (meine Hervorhebung) auf die Sein-Schein-Thematik anspielt: Claire schirmt sich durch die Ohrstöpsel von der Außenwelt ab und will den Schein wahren, indem sie so tut, als sei nichts passiert (keine ungerechten Kündigungen, kein respektloses Verhalten). Doch der Schein trügt, da Claire weitere mysteriöse Begegnungen dieser Art hat; beispielsweise gibt sie einem Obdachlosen, der vor ihrem Unternehmen bettelt, einen Geldschein mit der Anweisung, er solle sich im nahegelegenen Supermarkt etwas zu essen holen. Als Claire am Abend das Gebäude verlässt, wirft der Bettler ihr den Geldschein, den er mittlerweile zu einem Origamivogel gefaltet hat, vor die Füße. Romina hält dazu folgende Erklärung in ihrem Viewing Journal fest: „Maybe he wants to show her that money isn’t the only thing that holds value. Art seems to be more important to him” (VJ 1). Als Claire in einer späteren Szene selbst mit der Origamifaltkunst beginnt, schreibt Romina dazu: 151 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="152"?> Claire probably starts making origami because of the homeless man, who turned her 20 dollar bill into a swan. It shows that she isn’t condescending toward the man just because he’s poor. Instead she thinks about what he could have meant by returning her money. It also represents Claire’s love for art and her calmness and patience (VJ 1). Die Schülerin zeigt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Origami-Hand‐ lungsstrang, wobei sie erkennt, dass Claire nicht nur die ehrgeizige Geschäfts‐ frau ist, sondern auch eine künstlerisch-kreative Seite hat. Mit ebendieser Seite der Protagonistin begründet Romina Claires Entscheidung, nach einem heftigen Streit mit Frank zu ihrer Jugendliebe Adam, einem Fotografen und Künstler, zu gehen: I think that she choses to go to Adam, because he makes her forget her troubles. Adam is an adventourus artist, who lives from one moment to the next. He’s basically the complete opposite of Frank. And weirdly enough, that’s why she likes him so much (VJ 1). An dieser Stelle beweist die Schülerin Empathie für Claires Wunsch nach Adams Nähe. Romina erkennt, dass Claire keine eindimensionale Persönlichkeit ist, sondern dass sie zwei scheinbar gegensätzliche Seiten in ihrer „unique personality“ (VJ 1) vereint: „[…] it’s like she’s two people in one. She has a soft, artistic side which is the one Adam is attracted to. And a ruthless, strategic one which may one day get her really far in politics” (VJ 1). Die Schülerin konstruiert folglich die Hypothese, dass der künstlerisch-besonnene Teil von Claire sich zu Adam hingezogen fühlt, während ihr rücksichtsloser und berechnender Teil in Frank seine ideale Entsprechung gefunden hat. Diese Überlegungen Rominas zeugen von einer tiefgehenden Beschäftigung mit Claire, in deren Rahmen die Schülerin ein psychologisch schlüssiges Profil ihrer Lieblingsfigur konzipiert. Der Origami-Handlungsstrang schließt sich, als Claire zu Frank zurückkehrt und Adam als Abschiedsbotschaft ein Puzzle hinterlässt (vgl. Chapter 11: S01E11, 50‘18‘‘). Dieses Puzzle besteht aus einem in Postergröße ausgedruckten Foto, welches eine junge Frau zeigt, die Adam an Claire in jungen Jahren erinnert. Claire zerschneidet die Fotographie in gleichgroße Quadrate und legt diese als Rahmen um einen Origamischwan, welchen sie aus einem Quadrat des Fotos gefaltet hat. 152 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="153"?> 55 In ihrer Seminararbeit interpretiert die Schülerin Claires Abschiedsbotschaft im Kon‐ text des von ihr gewählten Themas (Vergleich der filmischen Darstellung der Beziehung der Underwoods mit der Inszenierung der Affäre Claires und Adams) und ergänzt hier noch filmische Gestaltungsmittel, was ihren filmsprachlichen Lernzuwachs durch das W-Seminar unterstreicht. Romina hält fest: „This frame shows a ‘high-angle’ shot of the message. It consists of the cut-up picture that Adam named ‘Claire’ (cf. HoC - Chapter 11: 16’18’’- 16’19’’). […] The frame is well lit, but the only thing in direct light is the swan” (SA). Inhaltlich arbeitet die Jugendliche noch deutlicher heraus, was die Funktion von Claires Abschiedsbotschaft sein könnte: „This is Claire’s way of […] explaining why she cannot stay with him. […] She needs complexity and something to strive for (like solving the sliding puzzle), which is why she can’t stay” (SA). Abb. 18: Claires Abschiedsbotschaft (Chapter 11: S01E11) Die Frage im Viewing Journal, „How do you interpret Claire’s ‘message‘ for Adam? “, beantwortet Romina folgendermaßen: Her “message” represents herself. It shows that there’s much more to her than what Adam sees. He only focuses on the artistic, beautiful and “pure” part of Claire, which is represented by the swan in the middle. It’s like a metaphor for her heart. But Adam refuses to look beyond that. He denies the ugly, the ruthless and the cruel aspects of her personality. But those just are parts of her life that she can’t live without. The easy life Adam offers, wouldn’t be suitable for her. She’s much more complex. (As it’s represented by the puzzle around the swan). And Claire needs that complexity. It’s not a thing she can or wants to abandon (VJ 1). 55 Die verschlüsselte Botschaft, die Claire nicht nur Adam, sondern auch den Zu‐ schauenden zur Interpretation überlässt, wird von Romina in beeindruckender Weise selbstständig entschlüsselt und mit Bedeutung versehen. Die Schülerin erkennt, dass Claire mit ihrer Abschiedsbotschaft eine Art Abbild ihrer eigenen komplexen Persönlichkeit schuf, um Adam zu zeigen, dass sie nicht zusammen‐ passen und dass sie nicht mehr die unkomplizierte, junge Frau auf dem Foto ist. 153 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="154"?> Zudem gelingt es Romina, ihre Hypothese, dass Claire zwei konträre Seiten in sich vereint, in ihrer Interpretation der Abschiedsbotschaft zu untermauern. Eine weitere Schlüsselfolge in Rominas Auseinandersetzung mit Claire Un‐ derwood ist Chapter 17 (S02E04), in der Claire ein bewegendes Interview gibt, welches eine große Rolle für die weitere Handlung von HoC spielt. Claire wird in dem Live-Interview von der Journalistin bedrängt, die Hintergründe ihrer kinderlosen Ehe mit Frank zu erläutern. In die Enge getrieben, gibt sie schließlich zu, dass sie eine Abtreibung hatte. Claire kann sich im weiteren Verlauf des Gesprächs nur vor dem drohenden Aufschrei der Empörung durch die Pro-Life-Bewegung schützen, indem sie geschickt die Wahrheit manipu‐ liert: Claire rechtfertigt ihren Schwangerschaftsabbruch damit, dass sie Opfer einer Vergewaltigung geworden sei. Tatsächlich wurde Claire während ihrer Collegezeit sexuell missbraucht, aber dieser Vorfall steht in keinerlei Zusam‐ menhang mit ihren Abtreibungen, von denen sie bereits mehrere hatte. Diese Aspekte verschweigt Claire der Journalistin jedoch, während die Zuschauenden davon durch ihre Unterhaltung mit ihrem PR-Berater in den Werbepausen des Interviews erfahren. Dadurch entsteht ein interessantes Nebeneinander von Schein (in der HoC-Welt wird Claire durch ihren Mut, öffentlich über die ihr widerfahrene Vergewaltigung zu sprechen, zur Leitfigur für Frauen mit ähnlichem Schicksal, wodurch ihre Abtreibung in den Hintergrund gerät) und Sein (die Claire hinter den Kulissen „benutzt“ den sexuellen Missbrauch, um die Abtreibung rechtfertigen sowie davon ablenken zu können und im erwünschten Licht dazustehen). Romina fasst die Interview-Folge prägnant zusammen und positioniert sich dabei auch moralisch: […] When Claire was asked about having been pregnant, she easily could have lied and moved on to the next topic. But instead she leaves everyone shocked by admitting to having terminated her pregnancy. She takes a break and turns this seemingly impulsive statement into a story that turns the focus away from her abortion and towards the rapist McGinnis. Which is a smart but not entirely true move and therefore morally questionable (VJ 2). Romina erkennt die Gerissenheit, die sich in Claires geschickter Strategie zeigt, vom unangenehmen und potenziell rufschädigenden Abtreibungsthema abzulenken. An dieser Stelle erfolgt die moralische Positionierung der Schülerin, die die Verdrehung der Wahrheit als „morally questionable“ ansieht. Dies begründet Romina folgendermaßen: […] it’s wonderful that she inspires more women […] to speak out about their struggles. However, she’s doing it for the wrong reasons. Starting something like this should be done to help victims and to expose rapist and not to cover up being a reckless 154 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="155"?> 56 Romina hält im Viewing Journal auch die Ergebnisse ihrer Recherche zum Thema Abtreibung in den USA fest und geht auf Unterschiede zwischen konservativen Staaten wie Texas oder Mississippi einerseits und liberalen Staaten wie Kalifornien andererseits ein. teenager. It reveals that Claire is willing to do anything just to maintain a certain image (VJ 2). Die Schülerin distanziert sich also von den falschen Beweggründen Claires und damit von ihrer Lüge, mit der die Protagonistin ihr Image der perfekten Politikergattin wahren will. Romina greift im Anschluss an diese Kritik ihre bereits in Staffel 1 formulierte Hypothese der zwei Seelen, die Claire in ihrer Brust zu tragen scheint, auf: Claire, to me, sometimes seems like two people in one body. She has a soft, art-loving side, which is the one she likes to show publicly. She seems like a kind and compassionate person who just wants to help rape-victims […]. Partly I do think that there is some genuineness to this part of her […]. But a lot of it is also just a façade that conceals the dark parts of her personality. This is the side that was in charge when she started to lie about McGinnis’ involvement in her pregnancy. And the side that sees this rape story as a way to escape criticism rather than an opportunity to bring awareness toward this issue. Claire’s manipulative and most of the time only cares about herself (VJ 2). In den von Romina gewählten Wörtern show, seems, genuineness, façade, conceal, lie und manipulative spiegelt sich wider, dass die Schülerin das durch Claire Underwood verkörperte Sein-Schein-Leitmotiv der Serie erkennt. Romina ver‐ urteilt Claires Lüge aber nicht vorschnell, sondern sie versucht, durch eine Berücksichtigung des interkulturellen Kontextes ihr Handeln nachzuvollziehen: […] Abortions are an extremely controversial topic [in the USA]. 56 Claire probably feels the need to lie, because if she didn’t, a lot of people would see her as a heartless murderer, which would harm her and her husband’s political career (VJ 2). Die Schülerin rundet ihre kognitiv-affektive Auseinandersetzung mit dem Interview also damit ab, dass sie Claires Verdrehung der Wahrheit als Konse‐ quenz des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Thema Abtreibung in den USA klassifiziert. Damit wird Claire zur Antiheldin, die die Lüge nicht aus Freude am Lügen erzählt, sondern weil die soziokulturelle Realität ihr gewissermaßen keine Wahl lässt: Die Wahrheit hätte zur Folge, dass Claire alles riskieren würde, wofür sie und Frank so hart gearbeitet haben. 155 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="156"?> Zusammenfassend lässt sich zu Rominas Beschäftigung mit Claire festhalten, dass die affektive Bewunderung der Schülerin für ihre Lieblingsfigur ihre kognitiven Prozesse gleichermaßen beflügelt und anspornt. Weil Romina von Claire fasziniert ist, möchte sie die komplexe Hauptperson in all ihren Facetten verstehen und begreifen. In der Bewunderung der Jugendlichen spielt neben Claires Vielschichtigkeit ihre Unabhängigkeit als starke Frau an der Seite eines mächtigen Mannes eine entscheidende Rolle, was sich in folgendem Eintrag zeigt: „She’s always calm and knows how to get what she wants. She loves her husband, but she won’t let him control her. She’s mostly really nice to people, but other times she can be just as intimidating and ruthless as her husband” (VJ 1). Als es am Ende von Staffel 3 zur großen Auseinandersetzung zwischen Claire und Frank kommt, schreibt Romina dazu: Claire accuses Frank of having too much power in comparison to her. They aren’t equals anymore. Instead, Claire has to ask Frank for help, while he gets to make the big decisions on his own. […] Frank says that no matter what he does, nothing is ever enough for Claire, to which she responds, that it’s just him that’s not enough. He gets really angry and changes completely. He takes charge and lectures Claire on what he wants her to do. He says that Claire is nothing without him. […] I agree with Claire. When their goal was making Frank president, he was very cooperative and took everything his wife said seriously, because he still needed her. Now that he is the most powerful man however, he isn’t dependent on Claire anymore at all, which is why he doesn’t value her input anymore. Claire is right, that they aren’t equals. It’s almost like Frank just used her to become president, and now that he’s reached his goal, he tries to keep her quiet and reduce her to his pretty and likable first lady, when in reality she’s capable of so much more than that (VJ 3). An dieser Stelle im Viewing Journal zeigt sich nicht nur Rominas intensive Aus‐ einandersetzung mit der Streitszene, sondern auch ihre explizite Positionierung auf Claires Seite. In Rominas „she’s capable of so much more“ spiegelt sich ihre Faszination für die weibliche Protagonistin und deren Stärke wider. Insgesamt stellt Claire Underwood in Rominas Rezeption der Serie HoC den wichtigsten Anreiz dar, weiterzuschauen, da sie mit Spannung verfolgt, „where her character is going“ (VJ 2). Ein weiterer Motivationsfaktor bei der Rezeption der Serie sind für die Schülerin die komplexen, mysteriösen und rätselhaften Szenen, was im nächsten Punkt dargestellt werden soll. 156 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="157"?> 6.1.3.2 Freude an der Bedeutungskonstruktion 6.1.3.2.1 Wunsch nach Verstehen: Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Komplexen und Rätselhaften Neben der komplexen Beschaffenheit der Hauptpersonen lobt Romina bei der Auseinandersetzung mit HoC besonders die rätselhaften und mysteriösen Szenen, die für interpretatorische Leerstellen beim Schauen der Serie sorgen. Diese Leerstellen sind von den Rezipienten mit Bedeutung zu füllen. Romina schätzt diese Besonderheit des Politdramas, welches sie als „Meisterwerk“ (IV) sieht, an dem sie nichts ändern würde: Also meine Lieblingsszene ist […], als Claire Adam verlassen hat mit diesem Origami und des fand ich auch so schön an HoC, dass sie eben so viel … so nen großen Fokus auf dieses cinematic Zeug gelegt haben, eben dass man viel reininterpretieren kann und dass es nicht einfach so irgendwie mal schnell gefilmt ist, dass die Handlung schnell vorbei ist […]. [Man kann da] viel nachdenken, man könnte theoretisch immer pausieren, hab ich so das Gefühl und immer was Neues sehen und das fand ich eben toll an HoC […] es steckt einfach mehr dahinter … manchmal wie Rätsel, die man lösen darf als Zuschauer (IV; meine Hervorhebung). Auch am Ende von Staffel 1 hebt Romina im Viewing Journal hervor: I especially liked the subtle messages that were left for the viewer to interpret, like in chapter 7 with the trapped spider or in chapter 10 with Claire’s message to Adam. Those made the viewing experience really special (VJ 1; meine Hervorhebung). Besonders interessant an der Wortwahl der Schülerin ist, dass sie die Rätsel bzw. interpretatorischen Leerstellen der Serie als Botschaften für die Zuschauenden empfindet, die diese entschlüsseln dürfen. In Rominas Fall bleibt es folglich nicht bei einer Einwegkommunikation, sondern die Schülerin findet Freude daran, sich aktiv und kreativ an der Bedeutungskonstruktion und damit an der Kommunikation mit der Serie zu beteiligen. HoC ergibt nur dann einen tieferen Sinn, wenn die Zuschauenden zu dieser Art der Kommunikation (genaues Hinschauen, Achten auf Symbolik und Leitmotive, Erkennen von Leerstellen, Füllen dieser Leerstellen mit Bedeutung, aufmerksames Weiterschauen und Verknüpfung von scheinbar isolierten Szenen usw.) bereit sind. Romina nutzt ihre Viewing Journals in beeindruckender Weise, um ihre Kommunikation mit der Serie als persönliche Gedanken, Gefühle und Interpretationen im Anschluss an bestimmte Szenen festzuhalten. Dies wurde bereits am Beispiel von Rominas Auseinandersetzung mit Claire Underwood aufgezeigt. Mit ihrer Fähigkeit des Out-of-the-Box-Denkens gelingen Romina so auch differenzierte 157 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="158"?> Screenshot-Analysen. Chapter 7 (S01E07) endet beispielsweise damit, dass Frank in Zoes Apartment eine Spinne mit einem Glas einfängt, die den Zuschauenden anschließend in einer Nahaufnahme präsentiert wird. Romina schreibt dazu: The spider represents Peter and the glass represents his secrets and his past, which keep him trapped. Frank says that he’s trying to give him the opportunity to escape. But looking at the image, I’m not sure that’s really true. After all, it’s impossible for the spider to get out, despite the freedom being in such close reach. Maybe this is supposed to show that Frank is falsely getting Peters hopes up, even though he knows that Peter will never be able to escape his past, no matter what he does (VJ 1). Romina verknüpft das Bild der gefangenen Spinne überzeugend mit dem Politiker Peter Russo, der gewissermaßen Gefangener seiner Drogen- und Alkoholsucht ist und als solcher zunehmend in Franks Fänge gerät. Ebenfalls komplex - und für viele der Seminarteilnehmenden rätselhaft - ist die Ehe der Underwoods und die Art der Beziehung, die die beiden miteinander führen. Romina denkt sich intensiv in das Ehemodell der Protagonisten ein, was insofern bemerkenswert ist, als sich dieses Thema dem direkten Erfahrungs‐ raum der Jugendlichen entzieht. So antwortet Romina auf die Frage, ob Claire in ihrer Ehe mit Frank glücklich ist: No, I don’t think she’s married happily in the classical sense. But I doubt that that’s what she wants. She’s being challenged. […] Claire needs power and that’s why she needs Frank (and that’s also why Frank needs her). I just don’t think that happiness is a priority for Claire (VJ 3). Diese These greift Romina in ihrer Seminararbeit erneut auf, in der sie überzeu‐ gend argumentiert, dass „[…] their relationship is not as typical as they make believe. In fact, it was this deviation from the norm that made Claire choose Frank as her spouse” (SA). Die Schülerin erkennt folglich, dass die Ehe von Frank und Claire unkonventionell ist und dass unbeschwertes Glücklich-Sein nicht zu den Prioritäten im Ehekonzept der Underwoods gehört. Stattdessen verbindet die beiden ihr Streben nach Macht, was Romina nicht verurteilt, sondern hinnimmt und mit Interesse beobachtet. Im Interview sagt die Jugendliche dazu: Diese Art der Beziehung, die Frank und Claire haben, das fand ich am Anfang schon so’n bisschen … komisch … Es war mir irgendwie fremd. Aber ich hab dann verstanden, dass die beiden halt besonders sind und nicht so normal … Aber was ist schon normal? [lächelt] Man lernt die beiden halt immer besser kennen und weiß auch ihre Gefühle und so … und mir war‘s wichtig, sie zu verstehen (IV). 158 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="159"?> 57 Die Aufgabenstellung im Viewing Journal lautet: „Please analyse the screenshot […] and interpret Frank’s aside“. Romina überwindet also ihre Befremdung und erkennt, dass das, was sie als vertraut und normal empfindet, nicht als allgemeinverbindliche Norm voraus‐ gesetzt werden kann. Folglich entwickelt sie eine kognitiv-affektive Offenheit, die es ihr ermöglicht, Frank und Claire in ihren Gedanken, Motiven und Handlungen besser kennen zu lernen. Dies zeigt, dass die Schülerin in der Lage ist, ihre Normvorstellungen für ein tiefgehendes Verständnis der Serie zu rela‐ tivieren. Das damit einhergehende Einfühlungsvermögen in die Protagonisten der Serie stellt eine wichtige Teilkompetenz von Filmkompetenz dar, die Romina in bemerkenswertem Ausmaß entwickelt. So wird die Empathiefähigkeit der Jugendlichen durch ihr stark ausgeprägtes Verstehen-Wollen begünstigt, was zu einem tiefen Eintauchen in die fiktive Welt führt. 6.1.3.2.2 Freude an analytischen Betrachtungen zur Filmsprache Bei Romina zeigt sich in den Viewing Journals die eindeutige Tendenz, viel schreiben zu wollen - vor allem zu filmanalytischen Schreibaufträgen. Im Interview erwähnt Romina explizit, dass Szenen- und Standbildanalysen ihre favorisierten Aufgabentypen in den Viewing Journals gewesen seien und dass sie beim Verfassen solcher Einträge besondere Freude empfunden habe: „Da konnt ich dann manchmal einfach nicht mehr aufhören zu tippen … Ich war so im Flow. Mir sind einfach so viele Sachen aufgefallen und ich wollt alles aufschreiben, um nichts zu vergessen“ (IV). Im Folgenden soll eine der Screenshot-Analysen 57 Rominas aus dem Viewing Journal zu Staffel 2 untersucht werden, um die Ausführlichkeit und Tiefe ihrer Bearbeitung exemplarisch zu illustrieren: Abb. 19: Franks Amtseinführung als Vice President (Chapter 15: S02E02) 159 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="160"?> 58 Ich entschied mich bewusst dafür, diese sehr ausführliche Screenshot-Interpretation Ro‐ minas in meine Arbeit zu integrieren, um die Qualität und Intensität des Schreibflusses der Schülerin zumindest an einem ungekürzten und damit unverfälschten Beispiel aufzeigen zu können. Es hätte im Datenmaterial noch zahlreiche ähnliche Einträge von Romina gegeben, die im Rahmen dieser Arbeit freilich nicht alle aufgeführt werden können. This screenshot shows a close-up of Frank in a low angle. The camera is placed slightly to his left. He is looking straight ahead and is holding up his right hand while the other one’s on a bible. That hand of his is in the bottom right corner and out of focus. In this moment he is being sworn in as Vice President. On the outside he looks proud and serious, but his aside gives away his real attitude towards this matter. “Honored” is probably not the word he would use to describe what he’s feeling. He’s rather complacent about his own intelligence and the fact that he was able to get what he wanted through foul play. That’s why the bible is out of focus. All that matters is Frank and his plan. He doesn’t care about the people or being honest. Even when taking an oath upon the bible, he continues to play pretend. He says the words he is supposed to say, but just like the book, they are secondary in this scene. The main focus to us viewers is Francis’ real point of view. Everyone else sees the good politician. But we see the disrespect that is best reflected in his quote “One heartbeat away from the presidency, and not a single vote cast in my name. Democracy is so overrated”. People think, that through voting, they are given a voice and the ability to make a difference, which gives them freedom. In Frank’s eyes however, all of that is nothing but a naïve delusion. Democracy sounds good in theory but in this scene Frank proves his point that it has flaws and is easily abused. The bible could also stand for democracy itself. Through becoming Vice President in a democratic nation, without having a vote cast in his name he has risen above the system. The low angle highlights his significance and his superiority, because he now has so much power without needing the approval of the population (VJ 2). 58 Nach einer präzisen Analyse des Standbildes, bei der Romina filmische Gestal‐ tungsmittel wie Kameraperspektive, Fokus, Einstellungsgröße, mise-en-scène mit der genauen Bildeinteilung usw. nennt, geht die Schülerin zu einer Interpre‐ tation über. Dabei versäumt sie nicht, die kinematographischen Mittel mit ihrer jeweiligen Wirkweise im Kontext der Szene zu erklären. Romina thematisiert beispielsweise die Funktion des Asides, welches „us viewers“ einen Einblick in Franks „real point of view“ gewährt. Dieser Blick zeigt der Jugendlichen einen Politiker, der sich abfällig über die Demokratie äußert, während er einen Eid auf die Bibel schwört. Romina erkennt richtig, dass die Bibel verschwommen ist und in dieser Szene die Demokratie symbolisiert: Frank hat für den Eid seine Hand daraufgelegt, steht somit über ihr und unterdrückt sie damit letztlich. Der 160 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="161"?> Schülerin fällt zudem der Effekt der low angle auf, wodurch der Eindruck von Franks Überlegenheit und Übermacht zusätzlich verstärkt wird. Abschließend muss bezüglich Rominas Eintrag im Viewing Journal ihre Wortwahl hervorge‐ hoben werden, die ihr differenziertes Verständnis der Serie widerspiegelt: foul play; he continues to play pretend; die Unterscheidung zwischen Everyone else sees the good politician und But we see the disrespect (hier erkennt Romina das Sein-Schein-Leitmotiv); Franks superiority, mit der er sich über die naïve delusion des Volkes erhebt, was die Schülerin mit risen above the system zum Ausdruck bringt. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich lässt die Auseinanderset‐ zung der Schülerin mit der Szene ihre intensive Verarbeitung des Gesehenen erkennen. Romina konstruiert selbstständig Hypothesen zur Symbolsprache, wobei es der Schülerin in erster Linie um ein tiefes Verständnis des Textes geht. 6.1.4 Moralische Ambivalenz 6.1.4.1 Komplexe Interaktion von Gefühl, Verstand und Moral Die moralische Ambivalenz Rominas spiegelt sich beispielsweise in ihrer Aus‐ einandersetzung mit der Opening Scene (Chapter 1: S01E01) wider. Dazu schreibt Romina: The first scene gave me mixed feelings. On the one hand, Frank put the dog out of his misery, which I suppose is a somewhat “kind” thing to do. Nevertheless he killed it without showing even the slightest bit of compassion. I think the director chose this scene because he wanted to show us Frank’s true colours right away (VJ 1). Im nächsten Eintrag ergänzt die Schülerin: Frank is a cold […] person who acts upon his own beliefs while disregarding anyone else’s view. The scene makes this very clear. It may be best for the dog to die but it may just as well not be. However, Frank doesn’t even consider the latter. “I have no patience for useless things” - which means that he has no patience for the dogs pain, the owners’ emotions or anything else […]. This is why he does what hardly anyone else would do. He is a ruthless man who is willing to act (VJ 1). Zunächst betont Romina explizit, dass die Eröffnungsszene bei ihr für gemischte Gefühle gesorgt habe: Einerseits erlöst Frank den angefahrenen Hund von seinem Leid, andererseits bringt er ihn um und verwehrt damit den Besitzern des Tieres die Chance, Abschied zu nehmen. Am Ende des ersten Kapitels lobt Romina trotz ihrer ambivalenten Haltung gegenüber Frank besonders die Anfangsszene: „I especially liked the first scene with Frank and the dog because it was a great presentation of the protagonist and a fantastic representation of 161 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="162"?> the overall uniqueness of the show” (VJ 1). Dieses Lob unterstreicht, dass die Schülerin sich der Faszination des Staffelauftaktes nicht entziehen kann. Das Umbringen des Hundes ist nicht der einzige Tabubruch, den der Protago‐ nist begeht. Beim lauten Denken äußert Romina im Interview folgende rationale Begründung für das Vorkommen von Tabubrüchen in HoC: Diese seien ein Teil von Franks und auch ein bisschen von Claires Charakter […]. Sie stellen sich so als perfekte Menschen dar […], aber EIGENTLICH sind sie komplett anders und das zeigen diese Szenen halt … das zeigt, dass sie halt so fake sind, so’n bisschen … Dadurch wird die Serie halt auf jeden Fall interessanter, ich glaub dadurch sind Frank und Claire nicht so eindimensional, sondern haben eben mehrere Facetten und man ist auch ein bisschen schockiert, wenn man so was sieht, weil man’s halt voll selten sieht, vor allem in Bezug auf Politik […] für mich hat es das auf jeden Fall spannender gemacht (IV). Obwohl die Serie für die Schülerin als Gesamtkunstwerk durch die Tabubrüche interessanter wird, verfällt sie hinsichtlich der Protagonisten nicht der blinden Faszination. Romina ist bewusst, dass Franks Untaten zwar den Spannungs‐ faktor steigern, aber dass er damit auch zum Mörder wird und sich ebenso wie seine Frau schuldig macht: Die Underwoods sind ja nicht so gerade die guten Menschen, find ich. […] Man MAG sie […] trotzdem irgendwo, find ich, weil diese ganzen Asides und man sieht, was sie denken und warum sie was machen - also irgendwie mag man sie, aber man hasst sie auch, weil man sich denkt: „Nein, ich muss die Person hassen“, ja. Man ist halt trotzdem fasziniert (IV). Romina bringt ihren moralischen Konflikt auf den Punkt, wobei für kognitive und affektive Prozesse hier eine gegenläufige Dynamik kennzeichnend ist. Kognitiv weiß Romina, dass sie sich von Frank und Claire distanzieren müsste, weil sie keine guten Menschen sind. Affektiv gelingt der Schülerin das nicht immer, weil sie sich aufgrund der ihr bewussten Wirkkraft der Asides den Protagonisten bisweilen nicht entziehen kann. Romina bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen rationaler Ablehnung der Untaten einerseits und affek‐ tiver Bewunderung für die Underwoods andererseits. Letztlich lässt sich Romina emotional auf das Serienerlebnis und die damit verbundene Faszinationskraft des Bösen ein. Als Frank beispielsweise im letzten Kapitel von Staffel 2 (S02E13) erfolgreich das Oval Office betritt und den Resolute Desk in Besitz nimmt, empfindet die Schülerin Genugtuung: The last scene was great. The way that the camera slowly moved towards president Underwood was very powerful […]. Tapping his new ring on the table, shows that 162 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="163"?> he’s metaphorically preparing for battle. […] I did like watching Franks scheme play out perfectly. It’s morally wrong, and of course I didn’t like seeing so many people hurt, but for some reason, there was still a big moment of satisfaction when Frank finally entered the oval office as president. He got what we’ve all been waiting for at last (VJ 2). Rominas Wortwahl „what we’ve all been waiting for“ (meine Hervorhebung) impliziert, dass sie mit Frank emotional mitgefiebert hat und seinen siegreichen Einzug ins Oval Office innerlich mit ihm feiert - trotz ihrer moralischen Skrupel. Ähnlich äußert sich die Schülerin am Ende von Staffel 3, als sie auf die Frage, welche Figur sie am meisten beeindruckt habe, Folgendes antwortet: „Frank fascinated me the most. […] He is the type of person that you don’t see very often and despite being completely selfish and ruthless, he’s fascinating to watch” (VJ 3). Rominas diabolische Faszination geht folglich immer mit einem moralisch-kritischen Bewusstsein einher. 6.1.4.2 Reason Rules: Kopf über Gefühl Im Gegensatz zu den in der Regel ambivalenten Gefühlen und Gedanken, die Romina in der Auseinandersetzung mit den Tabubrüchen der Serie zeigt, reagiert sie auf die Ermordung der Journalistin Zoe rational, indem sie kritisch reflektiert: I […] didn’t expect it [Zoe’s death] to be this early in the series. […] The entire scene was a bit strange to me. After all, it’s quite risky for Frank to kill her in a public place, with so many potential witnesses and cameras. Also, his getup couldn’t have been more ominous. And while everyone else was shocked from seeing Zoe’s body, Frank just suspiciously kept walking (VJ 2). Romina distanziert sich von der Mordszene, da sie es als nicht glaubwürdig empfindet, dass Frank Zoe an einem öffentlichen Ort umbringt und anschlie‐ ßend einfach weitergeht, als sei nichts geschehen. Bei der Schülerin dominiert folglich eine rationale sowie kritische Auseinandersetzung mit der Szene, so dass Schock, Trauer oder andere Gefühle nicht zum Tragen kommen. Diese Kopf-über-Gefühl-Tendenz zeigt Romina auch bei ihrer Reflexion zu der Frage, ob sie sich gewünscht hätte, dass die Journalisten in Staffel 2 die Wahrheit über Frank und die Ermordung Zoes veröffentlichen, was das Ende von Franks Karriere bedeutet hätte. Romina antwortet folgendermaßen: I would have wanted the journalists to win. I have to admit, I do sometimes find myself relishing Frank’s victories. But I think that’s because we see the world from his perspective so often. His asides help to keep the focus on his goals, which results 163 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="164"?> 59 So stellt Romina beispielsweise nach der Ermordung Zoes durch Frank fest, dass sein Aside („Hunt or be hunted“) Folgendes impliziert: „It was either he or Zoe. And Frank essentially makes it seem like he had no choice but to kill her“ (VJ 2). Romina schreibt interessanterweise „he makes it seem like he had no choice […]” statt „he had no choice but […]“. Das zeigt, dass Romina hinsichtlich der Worte Franks kritisch bleibt. Nichtsdestotrotz kann sich die Schülerin der Wirkkraft des Asides nicht ganz entziehen, was am Ende des Kapitels deutlich wird: „I thought it was a great start for the season […]. Zoe’s death was a big surprise and Franks aside was thrilling. […] This chapter made me excited for the next one“ (VJ 2). Folglich verfehlt der Staffelauftakt von Season Two, der als Anreiz zum Binge-Watching fungieren soll, seine Wirkung nicht. 60 Nur bei der Hundeszene zu Beginn von Staffel 1 äußert sich Romina - wie bereits erläutert - zu ihren Gefühlen und Gedanken, indem sie ihre „mixed feelings“ begründet. in disregard for any harm his actions cause for others. 59 However, when I look at the bigger picture and consider what kind of a person Frank is, I just can’t root for him. He’s cruel, and cares only about himself. The journalists on the other hand put their lives in danger to reveal the truth (VJ 2). Auch wenn die Jugendliche Franks gelingende Intrigen kurzfristig mit ihm feiert, ist ihr bewusst, dass „Frank doesn’t really have a moral code“ (VJ 1). Somit kommt Romina zu dem Schluss, dass die Journalisten als Kämpfende für die Wahrheit den Sieg verdient hätten. Der Schülerin fällt auf, dass alle Staffeln von HoC mit einer schockierenden Opening Scene beginnen: In Staffel 1 erlöst Frank den Nachbarshund von seinem Leid, indem er ihn umbringt; in Staffel 2 stößt Frank die Journalistin Zoe vor einen Zug; in Staffel 3 uriniert Frank auf den Grabstein seines Vaters. Romina erklärt die Funktion der Staffelauftakte rational und geht nicht auf ihre Gefühle beim Schauen ein 60 : […] I think that all of those instances are supposed to clearly demonstrate who is in charge. I would argue that Frank is the one character in House of Cards, who has been driven by his longing to progress the most visibly. It almost seems like he’s addicted to chaos. […] The quote that comes to my mind is “Chaos is a ladder.” from Petyr Baelish (Game of Thrones Season 3 Episode 7). You could say that Frank lives by this aphorism, not only in his political career but also in his personal life. In all of these shocking opening scenes he creates disarray in the world to advance his own interest. His ruthlessness, pragmatism and general attitude towards life are being highlighted in these openers (VJ 3). Der Eintrag der Schülerin verdeutlicht Franks Streben nach Macht, wobei er oft Chaos heraufbeschwört, das nur er bezwingen kann. Die Verknüpfung des 164 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="165"?> 61 Tatsächlich gibt es einige Parallelen zwischen Game of Thrones und HoC, da beide Serien einen Machtkampf inszenieren, bei dem Manipulation und Intrigen als wichtige Waffen fungieren. Chaosmotivs in HoC mit der Serie Game of Thrones  61 überzeugt und zeigt, wie aufmerksam Romina beim Serienschauen ist und dass sie sich „gute Zitate notiert, um sie nicht zu vergessen“ (IV). Romina sieht in den schockierenden Staffelauftakten von HoC letztlich die Möglichkeit, den Zuschauenden Franks Persönlichkeit als rücksichtsloser und skrupelloser Politiker vor Augen zu führen. Dies gilt auch für die Kirchenszene in Chapter 30 (S03E04), wenngleich es sich hier nicht um eine Opening Scene handelt. Während andere Seminarteil‐ nehmende sich von dieser Szene schockiert und emotional aufgewühlt zeigen, reagiert Romina rational und erklärt im Viewing Journal, warum sie die Szene interessant findet: The scene was really interesting to watch because it showed how Frank thinks about power. He said that he doesn’t understand how Jesus was powerful through love. He only understands the God from the Old Testament who ruled through fear. This also reflects Frank’s position as president. There is no space for kindness and compassion in his world. It is all about people knowing that he is an authority. He wouldn’t mind people fearing him. In fact, I think he’d prefer that. When he […] looked up to Jesus, his face was full of disgust. I think to some degree, he might even be envious of the admiration Jesus gets. He is the one who truly left a legacy, while Frank is left with so many problems and so many people who hate him (VJ 3). Die Szene lässt Romina erkennen, dass Frank Macht als Voraussetzung dafür sieht, anderen Menschen Respekt und Furcht einflößen zu können. Mit dem Neuen Testament kann Frank deshalb nichts anfangen und empfindet für Jesus Verachtung. Dass der Protagonist trotzdem gezwungen ist, zu dem Kruzifix auf‐ zuschauen, scheint seinen Hass zusätzlich zu steigern, so dass er der Jesusfigur schließlich ins Gesicht spuckt. Auch wenn sich Romina mit der Szene im Viewing Journal rein rational auseinandersetzt und keine Gefühle während des Schauens beschreibt, nennt sie die Kirchenszene beim lauten Denken zu den Tabubrüchen der Serie als erstes und betont, dass diese ihr besonders in Erinnerung geblieben sei. Die Schülerin erwähnt, dass sie hier vor allem die gemeinsame Rezeption mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern als spannend erlebt habe: „[…] als wir im Mediengarten waren, haben wir über diese Szene diskutiert und das ist mir irgendwie in Erinnerung geblieben, weil mir die Szene gefallen hat und weil ich’s voll interessant fand, wie jeder das irgendwie anders aufgefasst hat“ (IV). Romina empfindet also die Anschlusskommunikation mit den anderen SuS als Bereicherung, da sie das Nebeneinander verschiedener Meinungen beeindruckt. 165 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="166"?> „Dass die Szene so polarisiert, hat mir halt dann auch nochmal gezeigt, dass es eine gute und starke Szene ist. Die macht was mit einem beim Zuschauen … Bei mir war‘s so, dass ich viel drüber nachgedacht hab. Ich wollt verstehen, warum die so ne Szene in die Serie eingebaut haben“ (IV), fügt Romina hinzu. Die Schülerin erkennt also die Wirkkraft der Kirchenszene, die an keinem/ keiner der Jugendlichen spurlos vorbeigeht, wobei die Reaktionen sehr heterogen ausfallen. 6.1.4.3 Unvereinbarkeit von Moral und Politik Rominas ambivalente Gefühle und Gedanken zeigen sich in ihrer Auseinander‐ setzung mit der Michael-Corrigan-Szene (Chapter 32: S03E06). Nach Corrigans Selbstmord ergreift Claire bei der Pressekonferenz Partei für ihn und stellt sich damit gegen den russischen Präsidenten Petrov und seine rückständige Haltung gegenüber Homosexualität. Romina positioniert sich zu dieser Szene folgendermaßen: I was surprised. It’s rare to see Claire give in to her emotions. Normally she’s a rather practical and rational person, but this time she acted impulsively […]. Of course, I agree with everything she said about Petrov. And Michael’s suicide was really sad. But I’m not sure if making the president of Russia your enemy was a good idea. Maybe there would have been a better way to make Corrigan’s death count (VJ 3). Im Eintrag der Schülerin wird deutlich, dass sie hin- und hergerissen ist, da sie Claire einerseits zustimmt, aber andererseits hinsichtlich der Auswirkungen der Worte Claires skeptisch ist. Frank ist nach dem emotionalen Ausbruch seiner Frau erzürnt und kritisiert sie scharf, was zu einem Streit zwischen den Eheleuten führt. Romina fällt es schwer, sich für eine Seite zu entscheiden, weil sie beide Standpunkte nachvollziehen kann: Morally, it isn’t right to lie about Michael’s death, especially when you consider that he died because HE didn’t want to lie into all these people’s faces. However, in this particular situation, maybe lying would have been the right thing to do for all of them. […] Had Claire stuck to everything she originally wanted to say about his suicide, all the deals with Russia still would have been on the table. They worked towards a cooperation like this for a very long time, and now it’s all gone because Claire acted impulsively. I’m not even sure, that her comment will change anything. It may have made his death “count”, but will it change Russia’s barbaric way of treating homosexuals? Most likely not. But who knows? […] (VJ 3). Moralisch gibt Romina also Claire Recht, da sie menschlich und im Sinne des für eine gute Sache gestorbenen Corrigan gehandelt habe. Politisch gesehen 166 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="167"?> und mit Blick auf das große Ganze stellt Romina fest, dass in diesem Fall eine Lüge „the right thing to do for all of them“ gewesen wäre. Diese Äußerung der Schülerin impliziert, dass in der Politik die Wahrheit nicht zwangsläufig die beste Option darstellt und dass politische Beziehungen gegebenenfalls mehr zählen als die Berücksichtigung eines Einzelschicksals. In der Corrigan-Folge erweisen sich politisch richtig und moralisch richtig Handeln für Romina demnach als unvereinbare Gegensätze. Generell ist die Jugendliche jedoch der Auffassung, dass Claire (a lot more than Frank) knows right from wrong, which is why I think Claire has a harder time at living this way, than her husband. Francis just moves on, while Claire has to consciously try to push away her feelings of guilt whenever she does something immoral (VJ 3). Damit ist Claire in Rominas Augen der „bessere Mensch, aber Frank […] der bes‐ sere Politiker“ (IV), was die Auffassung der Schülerin unterstreicht, dass Politik mit Unmenschlichkeit einhergehe bzw. dass in der Politik zu viel Menschlichkeit Schaden anrichten könne (wie beispielsweise in der Corrigan-Folge). 6.1.5 Entwicklung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen Romina ist eine der wenigen Jugendlichen, die bereits vor dem W-Seminar vier Staffeln von HoC gesehen hat. Allerdings erwähnt die Schülerin im Fragebogen, dass sie beim erstmaligen Schauen der Serie nicht alles verstanden habe und sich ein besseres Verständnis durch das W-Seminar erhoffe. Im Interview äußert sich Romina diesbezüglich folgendermaßen: Ich hab die Serie beim zweiten Mal schauen jetzt wirklich viel besser verstanden. Also das ist mir wirklich aufgefallen, als ich mich so intensiv damit beschäftigt hab, sind mir diese ganzen politischen Prozesse viel klarer geworden und die Handlung und auch die Dialoge und so … also da haben mir die Viewing Journals echt geholfen, ja (IV). Rominas Bedürfnis, die Handlung zu verstehen, kann also durch die beglei‐ tenden Viewing Journals gestillt werden, da die Schülerin auf diese Weise wichtige Anstöße für die selbstständige weiterführende Recherche (politische Hintergrundinformationen, Vokabeln, Filmsprache) bekommt. Somit kann die Lernende dazu übergehen, eigene Schwerpunkte in ihrer Auseinandersetzung mit der Serie zu setzen, was ihr beispielsweise bei ihren filmanalytischen Be‐ trachtungen auf beeindruckende Weise gelingt. Am Beispiel Rominas zeigt sich, dass zunächst ein vollständiges rezeptives Verstehen der Serie notwendig ist, um sich in einem nächsten Schritt produktiv mit dem Gesehenen auseinandersetzen 167 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="168"?> zu können. Darüber hinaus spielt filmsprachliches und filmanalytisches Wissen eine wichtige Rolle, wenn die SuS sich im Anschluss an die Rezeption über den jeweiligen Film kompetent äußern sollen. In Rominas Fall kristallisiert sich die positive Interdependenz von Filmanalyse- und Schreib-Kompetenz deutlich heraus: Je mehr die Schülerin über filmspezifische Gestaltungsmittel weiß, desto besser versteht sie das Gesehene und desto differenzierter fallen ihre schriftlichen Einträge in den Viewing Journals aus, was im Folgenden aufgezeigt wird. 6.1.5.1 Schreib-Kompetenz: Interdependenz von filmästhetischer Kompetenz und Qualität der Anschlusskommunikation Romina entdeckt während des Seminars und ihrer außerschulischen Beschäfti‐ gung mit der Serie ihre Begeisterung für das Analysieren von audiovisuellen Texten und legt darauf in ihrer Seminararbeit den Fokus. „Für mich war’s klar, dass ich ein filmanalytisches Thema möchte. Ich wollt halt möglichst viel mit der Serie und dann auch mit Screenshots arbeiten und die halt genauer untersuchen … so ähnlich eigentlich wie in den Viewing Journals“ (IV), erklärt Romina. Sie entscheidet sich für eine Analyse der filmischen Umsetzung der Affäre von Claire und Adam im Vergleich zur Ehe der Underwoods und bringt dabei Erkenntnisse zutage, die interessante Rückschlüsse auf die Intensität ihrer kognitiv-affektiven Prozesse zulassen. Dies spiegelt sich beispielsweise in der Konstruktion eigener Hypothesen und Interpretationsansätze wider (siehe nachfolgende Beispiele aus Rominas Seminararbeit), wobei die Jugendliche (visuelle, akustische, symbolische) Verbindungen zwischen auf den ersten Blick voneinander unabhängigen Szenen herstellt, indem sie diese zueinander in Beziehung setzt (z. B. leitmotivische Bedeutung der Rauchszenen). Die Arbeit der Schülerin erweist sich nicht nur für Frau Potter und mich, sondern auch für Kolleg/ innen als höchst erkenntnisreich, was am Abend der Präsentation besonders gelungener Seminararbeiten von einigen Lehrkräften rückgemeldet wird. Besonders bemerkenswert ist, dass die Schülerin im Ausarbeitungsprozess ihres Papers über passende Analyse- und Vergleichsschwerpunkte selbstständig entscheidet, wobei es ihr gelingt, ihre Thesen mit ansprechenden Beispielen aus der Serie zu belegen. So wählt Romina als eine Vergleichskategorie die Beleuchtung in den jeweiligen Szenen, um Claires Rolle als Franks Ehefrau mit der als Adams Geliebte zu vergleichen und stellt fest, dass Licht eine „especially big role in the portrayal of Claire’s relationships“ (SA) spiele. Die Jugendliche erkennt darüber hinaus Folgendes: 168 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="169"?> Most of her important moments with Adam or Frank happen at night, which is why the light is “low-key”. It creates a dark and mysterious ambience, which perfectly fits the content of these scenes. […] [T]his style of light is oftentimes associated with the “Femme Fatales […]”. It is thus an effective medium for depicting Claire’s personality (SA). Eine weitere Vergleichskategorie, auf die die Schülerin sich konzentriert, ist die „wardrobe“ (SA) der Protagonistin. Romina bezieht sich zunächst auf Zoes Äußerung, „It’s like steel“ (Chapter 11: S01E11, 17‘36‘‘), mit welcher Zoe auf eines von Claires Kleidern verweist. Davon ausgehend hält Romina folgende Analyse fest: This creates the image of Claire’s wardrobe being armor. As a woman in a powerful position, Claire […] uses her clothes to display confidence and reputability. Her power dressing ensures her impeccable exterior, which in turn means “fewer spots to attack”, i.e. people take her seriously the moment they see her. Claire puts a lot of thought into choosing her attire. […] An interesting moment occurs in Chapter 11: While she stays at Adam’s apartment, they start kissing and there is a shot of Adam unzipping Claire’s dress. It represents him taking off Claire’s armor. Alongside this, Claire allows herself to be vulnerable around him. […] Throughout this episode, Claire appears to be very comfortable with her situation and she doesn’t put her armor back on. Instead, we see her wear pants for the first time. This casual attire in combination with her joyous behaviour […] make her seem liberated (cf. Chapter 11: 36’40’’ - 37’28’’) (SA). Sowohl sprachlich als auch inhaltlich beeindrucken Rominas Ausführungen zu Claires Garderobe, die sie wie eine Rüstung bzw. ein Schutzschild trägt und nur in Gegenwart Adams ablegt, bei dem sie scheinbar keinen Schutz braucht. Die dritte Vergleichskategorie, die Romina wählt, ist die unterschiedliche Art der Interaktion, die Claire mit Adam bzw. mit Frank pflegt: Mit Frank ist „work […] the subject of most of their conversations“ (SA), während Adam und Claire fast ausschließlich „on a more personal level“ (SA) miteinander kommunizieren. Eine ähnliche Tendenz stellt die Schülerin hinsichtlich Claires Intimität mit den Männern fest, wobei sie erkennt, dass Claire and Adam show their affection through physical intimacy. […] During the short time these two spend together, they have more sexand kissing-scenes than Claire has with her husband throughout the first two seasons. This is because physical intimacy does not play a big role in the Underwoods’ relationship. […] However, this does not mean that Claire is not close to her husband. Most often, they express their affinity for one another through their shared cigarette […] (SA). 169 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="170"?> Erneut sind Rominas Erkenntnisse präzise und überzeugend. Franks und Claires Ritual des gemeinsamen Rauchens, welches die Jugendliche in ihrer Beschäfti‐ gung mit HoC selbstständig herausarbeitet, stellt ein wichtiges Leitmotiv der Serie dar. Die Schülerin realisiert beim konzentrierten Schauen, dass es auch eine Rauchszene zwischen Adam und Claire gibt und sie vergleicht die verschiedenen „smoking scenes“ (SA) in Form einer Analyse von „key frames“ (SA), wobei sie drei repräsentative Standbilder auswählt und gegenüberstellt. Abb. 20: Rauchszene Claire und Adam (Chapter 4: S01E04) Hinsichtlich des Screenshots, der die Rauchszene zwischen Claire und Adam zeigt (vgl. Abb. 20), hält Romina zunächst filmische Gestaltungsmittel wie Einstellungsgröße, Kameraperspektive, Fokus, Licht und mise-en-scène fest. Bezüglich der Beleuchtung formuliert die Schülerin folgende Beobachtung: The scene is rather dim, with Adam’s face being completely in the shadow, but the flame of the lighter illuminates Claire’s face. This represents Adam’s devotion to Claire. He gives her a cigarette […]. He does not expect anything in return, which Claire takes advantage of […]. Furthermore, Adam’s offset position and shaded face symbolize how he completely withdraws himself, to give Claire all of his time and attention […] (SA). 170 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="171"?> Abb. 21: Rauchszene Claire und Frank (Chapter 1: S01E01) Zu dem Standbild, das Frank und Claire beim Rauchen abbildet (vgl. Abb. 21), nennt Romina zunächst ebenfalls die zentralen filmanalytischen Begriffe („medium shot on eye-level, with the shallow focus on the couple […]“ (SA)), bevor sie die filmischen Gestaltungsmittel zueinander in Beziehung setzt und interpretiert: […] their faces are equally dark. The shot appears quite balanced because Claire and Frank are symmetrically placed on either side of the frame. In the middle of the screen, their hands touch, while Frank gives Claire the cigarette. This scene demonstrates the uniformity in their relationship. […] The cigarette goes back and forth between the two, just like they give and request help from one another for their work (SA). Romina rundet ihren Vergleich zwischen den beiden Rauchszenen folgender‐ maßen ab: „While Adam seems to put Claire on a pedestal, Frank and her are shown eye to eye“ (SA). Als dritten Screenshot fügt die Schülerin Franks alleinige Rauchszene ein (vgl. Abb. 22), nachdem Claire ihn für Adam verlassen hat (Chapter 10: S01E10, 15‘29‘‘). Abb. 22: Rauchsolo Frank (Chapter 10: S01E10) 171 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="172"?> Auch wenn Frank in einem Aside verkündet, dass er seinen Vormarsch im Weißen Haus alleine vollenden werde und niemanden an seiner Seite brauche, stellt Romina eine Diskrepanz zwischen Ton- und Bildebene fest: „His words give the impression of him being in control, while the frame clearly highlights Claire’s absence. She is gone from her place on the left, Frank only smokes half of the cigarette, because the other half belongs to Claire […]“ (SA). Dass die Jugendliche an dieser Stelle erkennt, dass die Tonspur dem widerspricht, was die Bildsprache subtil vermittelt, zeugt von ihrem filmanalytischen Verständnis. Im Gegensatz zur Mehrheit der Seminarteilnehmenden lässt Romina sich also von Franks Aside nicht manipulieren. Diese kurzen Ausschnitte aus Rominas filmästhetischen Betrachtungen lassen keinen Zweifel daran, dass die Schülerin sich in der Auseinandersetzung mit der Serie intensiv in Filmsprache und Filmanalyse eingearbeitet hat und am Ende des W-Seminars über eine beachtlich ausgeprägte Filmkompetenz verfügt, welche sie in überzeugenden Schreibprodukten zum Ausdruck bringt. Hinsichtlich des Ausbaus ihrer Schreib-Kompetenz muss festgehalten werden, dass Romina konsequent das Ziel verfolgt, ihre filmanalytischen Erkenntnisse möglichst eloquent, differenziert und überzeugend zu Papier zu bringen. Durch den Einblick in die Viewing Journal-Einträge und die Seminararbeit der Schü‐ lerin möchte ich sicherstellen, dass man als Leser/ in der Arbeit einen Eindruck von Qualität und Niveau der selbstständigen Bedeutungskonstruktion Rominas im Umgang mit HoC bekommt. Im Interview erklärt die Schülerin, dass das intensive Analysieren und das Formulieren entsprechender Feststellungen zwar viel Zeit gekostet habe (teilweise musste sie sich komplexe Szenen bis zu fünfmal genau anschauen), aber dass sie - durch immer mehr Kenntnisse und Erkenntnisse - zunehmend Freude daran gefunden habe, was mit folgendem Gefühl einhergegangen sei: „[…] am Ende war’s das dann irgendwie wert, weil ich so stolz auf mich war“ (IV). Diese Aussage verdeutlicht, dass die Schülerin in der erfolgreichen Auseinandersetzung mit der Serie sprachliches Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl ausbildet. Dieses Gefühl kann Romina im regulären EU nicht entwickeln, da sie sich hier unterfordert fühlt: […] es war nicht wie im Englischunterricht, wo man einfach so leichte Sachen macht, sondern es hat mich halt wirklich auch gefördert und ich musste neue Wörter googlen und hab so halt auch viel Neues, also neue Wörter und auch Fachbegriffe für die Analyse gelernt, was mich weiterbringt. Ja … sprachlich hab ich durch die Journals echt viel gelernt, beim Schauen und auch beim selber Schreiben […] (IV). Romina wächst folglich sowohl in Bezug auf ihre rezeptiven als auch ihre produktiven sprachlichen Kompetenzen an der Herausforderung, die die aktive 172 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="173"?> Beschäftigung mit HoC mit sich bringt. Die Jugendliche schätzt daran besonders, dass man […] halt wirklich kreativ sein [konnte], Spaß mit der Sprache haben, sich selbst verbessern, anstatt dass einem halt nur was erzählt wird die ganze Zeit … Man konnte halt wirklich damit arbeiten, so ganz allein und das fand ich schon echt gut (IV). Ganz im Sinne des Konstruktivismus spricht sich Romina für eine selbstständige Auseinandersetzung mit Text und Sprache aus. Inwieweit Romina dabei ihre lexikalische Kompetenz ausbauen kann, wird im nächsten Punkt genauer analysiert. 6.1.5.2 Lexikalische Kompetenz Romina betont an mehreren Stellen des Interviews, dass sie durch die Viewing Journals neue Wörter dazugelernt habe, da sie für ihre Einträge Vokabeln nachgeschlagen und politische Wörter gegoogelt habe. Die Schülerin sieht so‐ wohl hinsichtlich der „Umgangssprache“ als auch bezüglich „hochgestochener Wörter“ (IV) einen Lernzuwachs, da für die Serie beide Bereiche eine Rolle spielen. Die Verbesserung ihrer lexikalischen Kompetenz fällt der Jugendlichen vor allem dann auf, wenn sie englische Artikel oder Beiträge im Internet liest: „[Da] gibt es auch so Wörter, von denen ich dann selbst überrascht bin, so ‚ohh, woher weiß ich des? ‘, und dann fällt’s mir wieder ein: Ahhh … des ist vom Viewing Journal. So … des ist dann quasi in meinem passiven Wortschatz“ (IV). Um diese erfreuliche Selbsteinschätzung Rominas konkreti‐ sieren zu können, wird die Schülerin gebeten, ihre Viewing Journals zuhause dahingehend zu untersuchen, welche Szenen ein Googeln bzw. Nachschlagen unbekannter Begriffe erforderten. Romina erwähnt beispielsweise eine Szene zu den Themen Gender und Sexismus, in der Claire als UN-Botschafterin den russischen Botschafter Alexi Moryakov in eine Damentoilette lockt, um sich für einige seiner sexistischen Kommentare ihr gegenüber zu rächen. Romina schreibt im Viewing Journal zu der Racheszene auf der Damentoilette (Chapter 31: S03E05, 39´´48´): She talks to Alexi while getting ready in the ladies room. She puts on her makeup and even repeatedly asks him for his opinion, all the while discussing a political issue. She then goes to the toilet, while still talking to him. I think at first she wanted to play into his presupposition, that she’s just a woman that is way too concerned with her looks and that she doesn’t really know what she’s doing politically. Then however, she completely throws him off, by going to the toilet. Something that isn’t considered very ladylike. She’s purposefully making him uncomfortable and taking charge of 173 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="174"?> 62 Selbstverständlich müsste eine Langzeitstudie durchgeführt werden, um beurteilen zu können, ob der Wortschatz tatsächlich langfristig erworben wurde. Mit Wortschatzer‐ werb ist hier die konstruktive Beschäftigung mit Vokabeln und Wendungen in der Fremdsprache gemeint, welche im besten Fall zu einem Wortschatzerwerb führen kann. 63 Einige der Beispiele schickte Romina per E-Mail, nachdem sie ihre Viewing Journals konzentriert durchgegangen war und hinsichtlich ihres Wortschatzerwerbs untersucht hatte. the situation. I liked this sort of revenge. Alexi deserved something like that (VJ 3; meine Hervorhebung). Die Schülerin erklärt, dass sie zum Beispiel das englische Wort für Vorannahme (presupposition) gegoogelt habe und dass sie sich zudem hinsichtlich ihrer Wortwahl an manchen Stellen rückversichert habe: „Manchmal ist man unsicher … kann ich des jetzt so sagen oder klingt des komisch so? Zum Beispiel das mit throw off und take charge hab ich nochmal nachgeschaut“ (IV). Romina unterscheidet insgesamt zwischen vier Arten des Wortschatzer‐ werbs 62 bei der rezeptiven und produktiven Beschäftigung mit HoC, wobei jeweils einige Beispiele 63 zur Konkretisierung angeführt werden: 1. Aufmerksam-Werden auf ein neues Wort, das in der Serie vorkommt, welches die Schülerin googelt und mit der deutschen Bedeutung auf einem Block notiert. Dazu sagt Romina im Interview: „Also ich hab nicht jedes Wort nachgeschaut, das ich nicht verstanden hab, aber wenn es öfter vorkam, dann hab ich’s gegoogelt. So mach ich des immer bei Serien und dadurch hab ich auch nen guten Wortschatz“. Als Beispiele im Kontext von HoC nennt die Jugendliche Whip (VJ 2, Kapitel 14) und to take the plea (VJ 2, Kapitel 19). Einige der aufgeschnappten Vokabeln und Kollokationen wendet Romina auch produktiv in ihren Viewing Journals an, indem sie diese für eigene Einträge aufgreift: z. B. when the stakes are this high (erstmaliges Vorkommen in Kapitel 1; Verwendung von Romina in VJ 3, Kapitel 36); politisches Grundvokabular in HoC wie beispielsweise to be on the ticket (erstmaliges Vorkommen in Staffel 2; Verwendung von Romina in VJ 3, Kapitel 37), to run for office (Wendung wird in der Serie häufig von Politikern geäußert; Romina benutzt diese in VJ 3, Kapitel 27 und Kapitel 30); 2. Behebung einer Wissenslücke bei „deutsche[n] Wörter[n], die ich einfach nicht auf Englisch wusste“: Feststellen eines lexikalischen Defizits beim Verfassen der Einträge für die Viewing Journals; Googeln des jeweiligen Wortes und dann sofortige produktive Anwendung im Journal: z. B. complacent (VJ 2, Kapitel 15), unmerited (VJ 2, Kapitel 20), disarray 174 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="175"?> 64 Zu diesem Beispiel ergänzt Romina folgende Erklärung: „Zum einen wusste ich nicht genau, wie man in jeopardy schreibt und zum anderen war ich mir nicht ganz sicher, ob das an der Stelle passt“. 65 Auch zu den Kollokationen ulterior motive und infamous quote fügt Romina einen Kommentar hinzu: „Das waren beides Wörter, die ich ab und zu gehört hab, aber nie zu 100 % wusste, was genau sie heißen“. (VJ 3, Kapitel 27), missile defense (im Kontext des Konflikts zwischen Petrov und Underwood, VJ 3, Kapitel 32), adamant (in Bezug auf Michael Corrigan, der seinen Prinzipien um jeden Preis treu bleiben will, VJ 3, Kapitel 32), diligent (VJ 3, Kapitel 38); 3. Bemühung um elaborierten Stil; diese Kategorie ergänzt Romina in ihrer E-Mail mit folgender Erklärung: ich wollte mich oft auch einfach schöner ausdrücken oder Wiederholungen ver‐ meiden. Deshalb hab ich Wörter, die ich schon kenne, oft bei thesaurus.com eingegeben und dann ein Synonym benutzt, das ich schöner fand, oder das einfach meinen Gedanken besser getroffen hat. Das hat meinem Wortschatz auch sehr geholfen, glaub ich. Wie zum Beispiel in VJ 2, Kapitel 19. Da hab ich lunatic statt sowas wie crazy person gesagt. Oder im selben Kapitel bei 1e relishing statt enjoying; 4. Unsicherheit beim Verfassen der Einträge für die Viewing Journals, ob „man das so sagen kann“ und Vergewisserung durch Nachschlagen des jeweiligen Wortes bzw. der jeweiligen Wendung: z. B. putting her husband‘s career in jeopardy 64 (VJ 2, Kapitel 17), ulterior motive (VJ 2, Kapitel 24), infamous quote  65 (VJ 2, Kapitel 26), like a dog that has been tamed (VJ 3, Kapitel 37), dwell in the past (VJ 3, Kapitel 33), to sabotage the mission (VJ 3, Kapitel 35). 6.1.6 Zusammenfassung Rominas kognitiv-affektive Prozesse in der Auseinandersetzung mit der Serie enthalten folgende Schwerpunkte: Es dominieren Verstehen-Wollen, Freude am Komplexen, Offenheit für Neues/ Fremdartiges, Einfühlungsvermögen in die Figuren der Serie, Bewunderung, kritische Vernunft („Kopf über Gefühl“) und Bereitschaft zur Kommunikation mit der Serie durch aktive Bedeutungs‐ konstruktion. Einen besonders empathischen Zugang wählt Romina zur Protagonistin Claire Underwood, mit der sie sich ausführlich beschäftigt und die sie aufgrund ihrer vielschichtigen Persönlichkeit bewundert. Dieses Gefühl der Bewunde‐ rung - wenngleich diese nicht bedingungslos ist - scheint die kognitiven Prozesse der Schülerin zu beflügeln: Romina möchte Claire in all ihren Facetten 175 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="176"?> 66 Die Idee für dieses kreislaufartige Modell wurde von Nuttall (2005: 127) adaptiert, die hinsichtlich der Lese-Kompetenz einen virtuous circle of the good reader und auch ein entsprechendes Gegenmodell, den vicious circle of the bad reader, entwirft. Eine ähnliche Art der Dynamik darf zweifellos für die Rezeption mehrfach kodierter Texte angenommen werden. begreifen. Die positive Dynamik kognitiv-affektiver Prozesse, bei der die af‐ fektive Begeisterung für die Serie und deren Figuren eine vertiefte kognitive Auseinandersetzung begünstigt, zeigt sich in vielen Bereichen des Fallbeispiels. Das stark ausgeprägte Bedürfnis der Schülerin, die Serie zu verstehen, bezieht sich nämlich nicht nur auf die Protagonisten, sondern auch auf filmsprachliche Besonderheiten. Romina durchläuft in der Auseinandersetzung mit HoC einen kreislaufartigen Prozess, der sich aus folgenden interdependenten Stadien zusammensetzt, welche hier im virtuous circle of the good viewer  66 visualisiert werden: Abb. 23: The virtuous circle of the good viewer am Beispiel Rominas (eig. Darst.) Diese Dynamik von Rominas Hörsehverstehens-Prozess, die v. a. bei komplexen Szenen in Kraft tritt, hat zur Folge, dass Komplexität nicht als unerwünschtes Hindernis wahrgenommen wird, sondern als erwünschte Herausforderung in der selbstständigen und kreativen Bedeutungskonstruktion. Dabei vergrößert Romina ihre Filmkompetenz - insbesondere ihre filmanalytischen Fertigkeiten 176 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="177"?> 67 Anime-Serien, in Japan produzierte Zeichentrickformate im Manga-Stil, schaut Sven auf Japanisch mit englischem Untertitel. und ihre Schreib-Kompetenz - in beeindruckendem Maß. Romina beweist an zahlreichen Stellen, dass sie auch bezüglich der affektiven Dimension der Filmkompetenz die notwendige Empathie und Bereitschaft zum Perspektiven‐ wechsel entwickelt. Trotz des Eintauchens in die fiktive Welt der Serie bewahrt sich Romina ihre kritische Vernunft, wodurch sie ein gewisses Maß an Distanz mit genussvollem Schauen vereint. Hinsichtlich des Wortschatzerwerbs der Schülerin in der Auseinandersetzung mit der Serie zeigt sich ihr Engagement vor allem darin, dass sie selbst für Wörter, die ihr eigentlich auf Englisch bekannt sind, versucht, gehobene und „besser“ klingende Synonyme zu finden. Dies beweist, dass Romina äußerst interessiert daran ist, ihr Englisch immer weiter zu optimieren und sich kreativ mit der Fremdsprache zu beschäftigen. 6.2 Fallbeispiel Sven 6.2.1 Hintergrundinformationen Sven ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt und seine Muttersprache ist Deutsch. Als Hobbies gibt der Jugendliche neben Zeichnen, Lesen sowie Videospielen Serien an und fügt hinzu: „Meine Freizeit besteht beinahe nur aus Spielen und […] Serien“ (FB), wobei der Schüler eine besondere Vorliebe für Anime-Serien 67 hat. Er erklärt seine Präferenz von Serien gegenüber Filmen damit, dass Serien „eine deutlich tiefgängigere und komplexe Story aufbauen können“ (FB). Mit dem Schauen von Serien verbringt Sven je nach Schulstress zwei bis vier Stunden pro Tag und nutzt dafür in der Regel Netflix. Englische Serien schaut Sven stets in Originalsprache mit englischem Untertitel, was zur Folge hat, dass er in seiner Freizeit täglich mindestens zwei Stunden mit der englischen Sprache konfrontiert ist (vgl. dazu 6.2.3.1 Wunsch nach Dazulernen in der Fremdsprache durch Netflix & Co). Bei einem solch ausgiebigen außerschulischen Sprachbad (vgl. Thaler 2012: 40) erstaunt es nicht, dass die Englischkenntnisse des Schülers weitaus mehr 177 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="178"?> 68 Tatsächlich drückt der Schüler sich auf Englisch bisweilen sprachlich gewandter aus als auf Deutsch; so verwendet Sven im Interview beispielsweise zahlreiche Anglizismen und überträgt englische Strukturen auf die deutsche Sprache: z. B. „[…] durch HoC hat man halt mal so nen kleinen Einblick bekommen, wie’s hinter den Szenen ungefähr ablaufen könnte“ (IV, meine Hervorhebung). Diese Wendung benutzt Sven im Interview insgesamt an vier Stellen. Wenn der Schüler „hinter den Szenen“ sagt, hat er zweifellos die englische Wendung behind the scenes im Kopf, was hier zu einem negativen Transfer von der Fremdsprache in die Muttersprache führt. als überdurchschnittlich sind. 68 Dementsprechend äußert Sven folgenden Wunsch zu Beginn des W-Seminars: Ich hoffe ich kann endlich wieder etwas in Englisch dazu lernen, da das bisherige Englischniveau im Unterricht weit unter dem Niveau von dem Englisch lag, welches ich in meiner Freizeit nutze (FB). Der Schüler möchte also im Seminar seine Englischkenntnisse weiter ausbauen und wünscht sich einen FSU, der ihn fördert und fordert. Auch hinsichtlich des Einsatzes von audiovisuellen Medien übt Sven Kritik: Filme seien im bisherigen EU ausschließlich zum Zeitvertreib konsumiert worden (vgl. FB). Der Jugendliche macht deutlich, dass Filme und Serien im Unterricht „sinnvoll“ (FB) eingesetzt werden müssen, da er nur so die Chance habe, sein Wissen über diese zu vergrößern. Da Sven in seiner Freizeit hauptsächlich Serien schaut, ist es ihm wichtig, mehr über deren Machart und Hintergründe zu erfahren. Für den Jugendlichen spielt folglich der Wunsch, sowohl hinsichtlich der Fremdsprache als auch in Bezug auf filmspezifische Gestaltungsmittel dazuzulernen, eine entscheidende Rolle in seiner Auseinandersetzung mit HoC. Zur Persönlichkeit Svens muss erwähnt werden, dass er ein eher schüchtern und bisweilen leicht verschmitzt wirkender Schüler ist, der dem Unterricht stets aufmerksam folgt, aber sich nur selten zu Wort meldet. Seine Viewing Journals, sämtliche Projekte, Hausaufgaben (z. B. Rechercheaufträge, Kurzpräsentationen usw.) und auch seine Seminararbeit erledigt der Schüler mit Bravour und zeigt ein beeindruckendes außerschulisches Engagement. Als besonders erfreulich erweist sich das Aufblühen des Jugendlichen im Interview: Er beantwortet alle Fragen ausführlich, flüssig und ohne Zurückhaltung. Sven scheint fast enttäuscht, als das Interview beendet ist und er erwähnt, dass es für ihn eine wertvolle Erfahrung gewesen sei, seine Meinung zum EU ehrlich geäußert zu haben. 178 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="179"?> 6.2.2 Politische Positionen und Dimensionen politischen Lernens 6.2.2.1 Interesse am Realitätsgehalt der Serie: Fokussierung des Aspekts Fiction vs. Reality Sven interessiert sich zu Beginn des Seminars „ein bisschen“ (FB) für Politik und erwähnt im Interview, dass er vor dem Schauen von HoC „so ziemlich gar keine Kenntnisse über US-Politik“ (IV) gehabt habe. Diese Wissenslücke kann er seiner Einschätzung zufolge mithilfe der Politdramaserie weitgehend schließen: „Also durch House of Cards hab ich definitiv die Basics mitgenommen“ (IV). Auf die Frage, ob der Schüler sich nach dem Schauen der Serie mehr oder weniger für Politik interessiere, antwortet dieser: Gut, man könnte jetzt natürlich sagen, es fördert Politikverdrossenheit, weil Frank […] als so korrupt dargestellt wird teilweise. ABER … ich find eher Interesse […] nach dem Motto: Ist es denn wirklich so mit der Politik? Sind hier vielleicht Vergleiche zur Realität geschaffen worden? Wie realistisch ist das Ganze denn überhaupt? Also ich find Interesse persönlich. Hab ich ja auch bei mir gemerkt. […] Ich hab jetzt mehr Interesse an US-Politik, weil ich jetzt auch sehen will, ob’s tatsächlich … ob man vielleicht Spuren von diesen ganzen Andeutungen in House of Cards auch in der tatsächlichen Politik wiederfindet (IV). Diese Aussage Svens bringt die für ihn entscheidende Tendenz in seiner kognitiv-affektiven Auseinandersetzung mit den politischen Themen von HoC zum Ausdruck: Der Schüler will die Serie auf ihren Realitätsgehalt prüfen, indem er sich dem Vergleich zwischen Realität und Fiktion widmet. Dabei durchläuft der Lerner eine interessante Entwicklung hinsichtlich seiner Einschätzung. Im Fragebogen sowie im Interview - und damit vor der Fertigstellung seiner Seminararbeit - überwiegen beim Schüler kognitiv weitgehend ungefilterte Affektionen wie Bewunderung und Begeisterung hinsichtlich des Gesehenen, das Sven realitätsnah erscheint. Dies soll an zwei Zitaten des Schülers aufgezeigt werden: Das wichtigste Thema von House of Cards ist auf jeden Fall, wie groß der Einfluss von einzelnen Politikern hinter den Szenen tatsächlich sein kann und wie krass - ich sag jetzt mal Volksstimmen umgangen werden können … wie krass ein Mensch die ganze Politik manipulieren kann, wenn er die richtigen Mittel findet, was man vor allem durch Frank Underwood sieht. Ich halt das tatsächlich für SEHR realistisch, vor allem, wenn man jetzt auf die News achtet … Irgendjemand hat ja auch Trump im Hintergrund manipuliert, ist neulich rausgekommen. Da musste ich auch direkt an House of Cards denken. Also ich denke, es ist realitätsnah. Definitiv! (IV) 179 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="180"?> Sven sieht Frank Underwood folglich als Drahtzieher hinter den Kulissen, der mit seiner Gerissenheit die Demokratie austrickst und ein solcher Politiker kommt dem Schüler im Zeitalter Trumps absolut glaubhaft vor. Zudem hält der Jugendliche im Fragebogen fest: „Ich denke die Darstellung der Politik und Po‐ litiker in House of Cards sollte deutlich näher an die Realität herankommen als es so mancher Nachrichtenbericht tut“. Wenn man bedenkt, dass Politik in der Serie als „Machtkampf herausragender Individuen […] und die damit einhergehende Vernichtung minderwertiger Individuen, die ihnen im Weg stehen - Politik als Fortsetzung eines Krieges […]“ (Lampprecht 2015: 12) inszeniert wird, lässt Svens Einschätzung bezüglich der Realitätsnähe der Serie auf ein Bild von Politik schließen, das Intrigen, Manipulation und sogar Mord impliziert. Darüber hinaus stellt Sven den Wahrheitsgehalt der politischen Nachrichtenerstattung in Frage, indem er einer fiktiven Serie größeren Realitätsbezug zutraut. Aufgrund seiner Faszination für die Darstellung von Politik in HoC ent‐ scheidet sich Sven für eine vertiefte Beschäftigung mit diesem Thema in seiner Seminararbeit, die er mit Frank Underwood and Jackie Sharp vs. Heather Dunbar - The greatest fictional debate in television history betitelt. Der Jugend‐ liche analysiert also die Debatte in HoC (Chapter 37: S03E11), wobei er sich schwerpunktmäßig mit den darin zur Sprache gebrachten Schlüsselthemen bzw. -motiven, dem Verhalten sowie Auftreten der Kandidat/ innen (Sharp, Dunbar, Underwood) und kinematographischen Auffälligkeiten in der Inszenie‐ rung beschäftigt. Anschließend vergleicht Sven anhand geeigneter Kriterien die fiktive Diskussion mit einem repräsentativen Ausschnitt aus der ersten Präsidentschaftsdebatte zwischen Hillary Clinton und Donald Trump, welche 2016 stattfand. Sven beschreibt seine Zielsetzung zu Beginn der Seminarar‐ beit folgendermaßen: „The goal of this paper is to find out how well the Netflix original series House of Cards does in imitating a major event in U.S. politics” (SA). Der Schüler analysiert beide Debatten auf differenzierte und ansprechende Weise und fördert dabei insbesondere hinsichtlich des verbalen Schlagabtausches zwischen Trump und Clinton wichtige Erkenntnisse zutage, welche auf ein gutes politisches Verständnis und eine präzise Erfassung der unterschiedlichen Strategien der Präsidentschaftskandidaten schließen lassen. Sven hält beispielsweise fest: Their way of speaking, however, is very different: Hillary Clinton on the one hand uses a very defensive approach, she […] wants to bond with the audience by emphasizing many times that she is doing everything ‘just for them’, by using the word ‘you’ in almost every sentence; she even tries to be relatable by mentioning her daughter’s birthday and how she, just like the majority of Americans, started off in a mid-class family […]. Donald Trump argues in a quite different manner, he uses a rather 180 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="181"?> aggressive way of raising attention, using propaganda stating that Mexico and China are stealing America’s jobs and money […]. Other than Hillary he doesn’t try bonding with his audience directly, but rather uses the strong feeling of patriotism […] (SA). Besonders interessant ist, wie der Schüler seine zu Beginn gestellte Frage danach, „how well the Netflix original series House of Cards does in imitating a major event in U.S. politics“, am Ende seiner Arbeit beantwortet. Er hält hinsichtlich Fiktion vs. Realität fest, dass HoC die debattierenden Politiker, deren Ziele und politischen Werdegang realitätsnah repräsentiert und belegt dies mit überzeugenden Beispielen (vgl. SA). Den größten Unterschied zwischen Realität und Fiktion sieht der Schüler jedoch darin, dass [t]he debate just seems to get out of hand way too fast, mere minutes after it began, whereas in the real debate there is almost no sign of chaos whatsoever over the course of the whole 15 minute extract. This might be due to the fact that HoC’s debate suffers from the fact that the whole series is a political-drama-series. In order to keep the appearance of a series with high tension and excitement, […] “boring” things such as debates need to be made more exciting by the director to keep the viewer entertained. This is a problem you would never encounter in a real political debate since they aren’t mainly watched for entertainment, but rather for informational purpose (SA). In der Wortwahl Svens, „the HoC debate suffers from the fact“ (meine Hervorhebung), schwingt eine gewisse Enttäuschung darüber mit, dass die Darstellung der politischen Debatte durch HoC nicht so realitätsnah ist, wie der Schüler sich das gewünscht bzw. erwartet hätte. Der Jugendliche führt diese Verhinderung einer Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen Fiktion und Realität auf das Entertainment-Gebot der Serie zurück: Die reale Clinton-Trump-Debatte diene primär dem Zweck der Information, während bei HoC die Unterhaltung der Zuschauenden im Vordergrund stehe. Nichtsdestotrotz lautet das abschlie‐ ßende Fazit des Schülers: Ultimately, House of Cards did a fairly good job in simulating a political debate that is quite similar to the ones we were able to actually witness in the United States so far, [despite of] a larger amount of entertainment for the viewers of the show; a reasonable choice of the author, considering House of Cards’ main goal does not seem to be pure education but rather entertainment and excitement mixed with some political background information. In the end it might not be a one-on-one representation of how a real political debate looks like, but it still manages to be the best mixture of entertainment and education in a fictional debate mankind has been able to enjoy […] (SA). 181 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="182"?> In diesem Resümee Svens spiegelt sich die Faszination wider, die die Serie auf den Schüler ausübt. Der Jugendliche scheint sich damit versöhnt zu haben, dass die Serie keine Kopie der politischen Realität darstellt, sondern als fiktives Kunstwerk Information und Entertainment vereint. Sven durchläuft während des Verfassens seiner Seminararbeit und der intensiven Recherche dafür folglich einen Lernprozess, der ihn erkennen lässt, dass eine fiktive Serie - so realistisch sie auch scheinen mag - die Realität weder vollständig abbilden will noch kann. Damit distanziert sich der Schüler insofern von der realistisch anmutenden Wirkkraft der Serie, als er sie als fiktives und in erster Linie der Unterhaltung dienendes Medium durchschaut. Affektiv lässt Sven sich aber weiterhin auf den Genuss des Politdramas ein und weiß die „best mixture of entertainment and education“ (SA) zu schätzen. 6.2.2.2 Denkanstöße für interkulturelles Lernen Sven ist überzeugt davon, dass er „[p]olitisch und kulturell […] auf jeden Fall nen guten Einblick durch die Serie bekommen“ (IV) habe. Darüber hinaus schätzt er die politischen und interkulturellen „Randthemen, die wir im Seminar dann noch angesprochen haben“ (IV), da ihm dadurch ein tieferes Verständnis sowohl der Serie als auch der US-Kultur ermöglicht worden sei. Hinsichtlich dieser Randthemen erinnert sich der Schüler vor allem an die Unterrichtseinheit zum American Dream ausgehend von Franks Statement „The American Dream has failed you“ (Chapter 28: S03E02, 40‘33‘‘ - 44‘12‘‘) und die sich daran anschlie‐ ßende Diskussion, ob man die USA als welfare state bezeichnen könne. In diesem Kontext verweist Sven auf die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen dem US-Ideal der self-help bzw. self-reliance und der deutschen sozialen Marktwirt‐ schaft (vgl. IV). Auch beim Thema Abtreibung in den USA, welches insbesondere in Staffel 2 eine wichtige Rolle spielt, lernt der Schüler durch seine Recherche für das Viewing Journal dazu („Davor wusste ich zu dem Thema nicht grad viel“ (IV)) und erkennt richtig, dass Claire sich aufgrund des gesellschaftlichen Drucks gezwungen sieht, bezüglich ihres Schwangerschaftsabbruchs zu lügen: Abortion is a very controversial topic in the U.S. and is still being discussed between the “pro-life“ and “pro-choice“ followers. Legally however abortion is legal in all U.S. States and each state must have at least one abortion clinic. Looking at this situation it is quite understandable that Claire doesn’t want to talk about aborting her own child in front of TV since it could influence her image and even Frank’s voters a lot (VJ 2). An dieser Stelle gelingt es dem Schüler, Empathie für Claire Underwood und ihre Situation aufzubringen. 182 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="183"?> 6.2.3 Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie Sven ist einer der von HoC am meisten beeindruckten und faszinierten Schüler. Im Interview erwähnt er, dass HoC und Game of Thrones neben japanischen Anime-Produktionen zu seinen Lieblingsserien zählen. Als eine der zentralen durch das W-Seminar initiierten Veränderungen in seinen medialen Verhaltens‐ weisen nennt der Schüler sein angestiegenes Interesse an Netflix-Produktionen, was er folgendermaßen beschreibt: Nach House of Cards hab ich jetzt halt Lust bekommen und sämtliche Netflix-Sachen geschaut … also auch so Klassiker, die grad von vielen geguckt werden, wie 13 Reasons Why … Des war glaub ich ganz beliebt, hab ich extra angeguckt. Ja, oder auch so andere Serien […] (IV). HoC zieht Sven folglich in den Bann des Netflix-Effekts, wobei für ihn beim Serienschauen neben dem Unterhaltungswert die Nutzbarmachung für ein konstantes Dazulernen in der Fremdsprache eine wichtige Rolle spielt, was im Folgenden erläutert wird. 6.2.3.1 Wunsch nach Dazulernen in der Fremdsprache durch Netflix & Co Wie bereits angedeutet, fühlt sich Sven im EU unterfordert, da er diesen seit der zehnten Klasse als „zu langsam“ (IV) empfindet, was er damit begründet, dass „man in Serien, YouTube, Netflix und in den ganzen Bereichen deutlich schneller dazulernt als es tatsächlich im Unterricht der Fall ist“ (IV). Auch wenn der Schüler Verständnis dafür hat („es ist halt extra so gemacht, dass alle auch was lernen können“), geht der EU an Svens Bedürfnissen vorbei. Der Jugendliche bringt dies im Interview auf den Punkt, als er die Ausrichtung des FSU auf „hochgestochenes Altbackenenglisch, anstatt tatsächlich Umgangssprache“ (IV) kritisiert. Für das W-Seminar hingegen findet der Schüler lobende Worte: Der Unterricht hat mir eigentlich genau das geliefert, was ich wollte, nämlich ein höheres Sprachni‐ veau, was Englisch angeht und gleichzeitig mal nen anderen Blick auf Serien, da Serien halt eh nen großen Teil meines Hobbies ausmachen. Joa, deswegen fand ich es sehr gut bis jetzt, weil’s mir doch gut neue Perspektiven gegeben hat und man besser Englisch gelernt hat (IV). Auf die Nachfrage im Interview, wie Sven genau sein Englisch verbessert und dazugelernt habe, erklärt dieser: Durch die Serie hab ich definitiv neue Wörter gelernt, weil’s halt vor allem im Politischen diese Fachbegriffe und so spezielle Wendungen gab. Die wurden auch oft im Kontext der Serie klar oder ich hab das dann gegoogelt erstmal. Also generell … 183 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="184"?> wenn ich irgend’n Wort nicht kann, hab ich kurz die Folge pausiert und schnell auf der App nachgeschaut oder gegoogelt oder irgendwas in der Richtung. Also des mach ich generell bei Serien … weil sonst lern ich ja nix dazu. Also ich schau echt jedes Wort nach, das ich nicht kenn“ (IV, meine Hervorhebung). Vor allem in den letzten beiden Sätzen spiegelt sich der Wunsch des Schülers nach einem Dazulernen in der Beschäftigung mit Serien wider. Für Sven bleibt es folglich nicht beim rein rezeptiven oder gar passiven Konsum, sondern er beschäftigt sich produktiv mit neuem Wortschatz, indem er diesen unverzüglich recherchiert und notiert, um seine fremdsprachlichen Kenntnisse zu vergrößern (vgl. FB und IV). Darüber hinaus erklärt der Jugendliche, dass er Serien immer mit englischen Untertiteln schaue: Tatsächlich nicht wegen der Tatsache, dass ich Sachen akustisch nicht versteh, sondern nur weil ich nochmal ne Bestätigung haben will und gerne den Satz unten nochmal komplett dranstehen hab … auch für den Kontext - also wie bestimmte Wörter gebraucht werden - und so … dann merkt man sich’s besser, find ich (IV). Der Schüler ergänzt sein Hörsehverstehen folglich durch ein zusätzliches Leseverstehen, um words in context hören, sehen, lesen, verstehen und möglichst auch memorieren zu können. 6.2.3.2 Faszination und Bewunderung für Frank Underwood In der ersten Sitzung des W-Seminars beantwortet der Schüler die Frage, was er an HoC besonders schätze, folgendermaßen: „Besonders gut gefällt mir der Protagonist Frank Underwood, da er ein sehr komplexer, jedoch genialer Charakter ist und es immer wieder beeindruckt wie er mit manchen Situationen fertig wird“ (FB). Bereits in seiner ersten Stellungnahme zum Protagonisten Underwood wird also die große Faszination deutlich, die von Frank auf den Schüler ausgeht. Auch nach drei gesehenen Staffeln von HoC ändert Sven nichts an seiner Einschätzung, dass Frank für das gelingende Konzept der Serie entscheidend sei: Am meisten bewunder‘ ich an House of Cards, wie sie’s schaffen, Politik wirklich interessant darzustellen und so ne Art behind the scenes und schon fast ämm … satirische Sicht auf Politik zu geben […]. Das liegt halt vor allem wieder mal an Frank Underwood, er macht das Besondere aus … vor allem auch, wenn er so direkt in die Kamera schaut und mit uns redet … auch bei den Tabubrüchen … der größte Politiker Amerikas, der einfach so ne Frau getötet hat für seine eigenen Zwecke oder … keine Ahnung, Gott ins Gesicht spuckt buchstäblich (IV; meine Hervorhebung). 184 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="185"?> Der Schüler erkennt folglich, dass Frank den Zuschauenden einen Blick hinter die politischen Kulissen der Macht durch seine Asides ermöglicht, was zur Folge hat, dass das Publikum die Sicht des Protagonisten teilt. Sven hat dabei den Eindruck, dass Frank mit ihm kommuniziert und fühlt sich dementsprechend angesprochen. Interessant ist auch, dass der Jugendliche sowohl im Interview als auch im Fragebogen stets von „Frank Underwood“ spricht bzw. schreibt, wobei er Vor- und Nachnamen konsequent gebraucht, fast so, als wolle er seiner Lieblingsfigur dadurch Respekt erweisen. Zudem ist auffällig, dass Sven sich in jeder der zahlreichen Konfliktsitua‐ tionen, die in der Serie gezeigt werden, auf Franks Seite positioniert. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Erstreaktion des Schülers auf die politische Debatte in Chapter 37 (S03E11). Der Schüler hält dazu Folgendes fest: I think Frank Underwood won this debate since he defended attacks against him very well and managed to stay out of the fight between Heather Dunbar and Jackie Sharp and only delivered the finishing blow to Jackie when she was already lying on the ground. This being said I would vote for Frank Underwood since I like his campaign the best and he performed very well in this debate (VJ 3; meine Hervorhebung). Sven sieht Frank also aufgrund seiner sehr guten Kampf-Performance als klaren Gewinner der Debatte. Dabei ist die Wortwahl des Schülers aufschlussreich, beispielsweise hinsichtlich des von ihm erwähnten „finishing blow“, den der Politiker der bereits am Boden liegenden Jackie Sharp versetzt. Sven beschwört damit ein Bild herauf, das eher an einen gewaltsamen Schlagabtausch bei einem Boxwettkampf erinnert als an eine politische Live-Debatte. Obwohl Frank mit seinem „finishing blow“ Jackie Sharps politischer Karriere den Todesstoß versetzt und damit gegen die Abmachung der beiden verstößt, empfindet der Jugendliche dies nicht als moralisch verwerflich und bleibt fasziniert von Frank. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in der Reaktion Svens auf die Ermordung Zoes. 6.2.3.2.1 Diabolische Faszination in der Auseinandersetzung mit dem Mord an Zoe Im Viewing Journal zeigt Sven - trotz seiner Abgeklärtheit hinsichtlich der Morde im später stattfindenden Interview - als spontane Erstreaktion Schock über den Tod Zoes: This scene was by far the most shocking scene in House of Cards so far and even outnumbers Frank’s murder of Peter Russo with ease. It was already quite clear that Frank is a really ruthless person but him murdering Zoe with his own hands without 185 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="186"?> any warning can’t even be compared to leaving Peter behind in his closed garage even though he murdered a person in both cases […] (VJ 2). Der Eintrag des Schülers lässt keinen Zweifel daran, dass der Mord nicht spurlos an ihm vorbeigeht. Nichtsdestotrotz überwindet Sven seinen Schock rasch, indem er Zoe als wachsende Bedrohung für Frank einstuft: […] Zoe is getting closer and closer to the truth behind Peter Russo’s death which makes her a big threat for Frank. Fearing this threat getting any bigger, Frank decides to eliminate the threat by pushing Zoe in front of an incoming train, effectively killing her without leaving behind any traces since he was disguised the whole time (VJ 2, meine Hervorhebung). Es scheint so, als wolle der Schüler durch die dreimalige Verwendung des Wortes threat Franks Handeln rechtfertigen: Alle Bedrohungen, die Frank an seinem Rachefeldzug hindern könnten, müssen eliminiert werden. Letztlich ist die Verwendung von Wörtern wie „Gefahr“ oder „Bedrohung“ in Zusammenhang mit Franks Opfer Zoe ironisch, da ernste Gefahr in der Serie nur von Frank und Claire ausgeht. Am Ende von Chapter 14 (S02E01) ist von Svens anfänglichem Schock nichts mehr zu spüren, da er nunmehr im für ihn charakteristischen Stadium der diabolischen Faszination angekommen ist, in welchem Zweifel an Frank und seinen Taten undenkbar sind. An dieser Stelle könnte argumentiert werden, dass es „normal“ ist, als Rezipient bedingungslos mit dem Protagonisten der Geschichte mitzufühlen: Selbst wenn der Held der Böse ist, stellt eine entsprechende Leserlenkung sicher, dass man als Zuschauer die Perspektive des Protagonisten teilt. Diese Sicht verkennt jedoch, dass der Rezeption ein Dreiklang, bestehend aus kognitiven, emotionalen und moralischen Tätigkeiten, zugrunde liegt: So halten z. B. Wulff (2009: 378) und Vaage (2016: 4) fest, dass das Moralisieren als moralische Eva‐ luation der Figuren und deren Handeln die Rezeption permanent begleite. Sven wird in seiner Auseinandersetzung mit Frank Underwood jedoch kaum (und wenn, dann nur äußerst sporadisch) moralisch tätig und gibt sich stattdessen ganz seiner Faszination hin, was auch im folgenden Eintrag zu Chapter 14 (S02E01) deutlich wird: I was really impressed, the show managed to remind me what I like about Franks character and his way of acting […] kindly finishing off the episode with a close up on the rings with the more or less hidden message of this episode: ‘F.U.’. […] I love how the episode started slowly but eventually turned into a massacre of ‘holy shit’ moments. Especially the scene at the underground station and the following aside of 186 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="187"?> 69 Mit der Hervorhebung im Wort Vice President möchte ich auf folgende Doppeldeu‐ tigkeit anspielen: Frank macht als fiktiver US-Vizepräsident bzw. Vice President dem Wortbestandteil vice alle Ehre; vice kann nämlich mit Laster und Untugend übersetzt Frank Underwood [“Hunt or be hunted. Welcome back! ”] really made me get addicted to the show again (VJ 2). Vor allem Franks abschließendes Aside sorgt dafür, dass Sven in den HoC-Bann gezogen wird, was an seiner Wortwahl „[…] the following aside […] really made me get addicted to the show“ deutlich wird. Mit dieser Selbsteinschätzung offenbart der Schüler, wie intensiv er die Serie erlebt und welche Macht das Gesehene auf ihn ausübt. Diese Macht und Wirkkraft von HoC hängt in Svens Fall in erster Linie mit Franks Asides zusammen, welche als moral disengagement cues (vgl. Raney und Janicke 2013: 160) bzw. Mechanismen moralischer Loslö‐ sung fungieren. Statt Franks Untaten moralisch zu bewerten, nimmt Sven ein Reframing (vgl. Hartmann 2013: 119) vor, bei dem die Bedrohung nicht von Frank, sondern von seinen Gegnern ausgeht. Aufgrund der moral disengagement cues gewinnt im Fallbeispiel Sven also die Faszination die Überhand und verhindert somit eine moralische Evaluation von Franks Handeln (vgl. dazu die Ausführungen in Punkt 3.3.2 und 3.3.3). Diese Tendenz spiegelt sich auch in Svens Antwort auf die Frage wider, ob der Schüler es besser gefunden hätte, wenn Frank statt des von ihm zu Fall gebrachten Journalisten Lucas Goodwin inhaftiert worden wäre: I kinda wanted the journalists to win since I would’ve loved to see how Frank would’ve gotten out of such a difficult situation, but since this might be something that is even too much to handle for a person like Frank I prefer this outcome […] since I wouldn’t ever want for Frank to completely lose (VJ 2). Diese Aussage des Jugendlichen macht unmissverständlich deutlich, dass er niemand anderen als Frank gewinnen sehen möchte. Sven hätte den Journalisten nur einen kurzfristigen Erfolg gewünscht, um dann zu sehen, wie Frank diesen Sieg mit einem genialen Plan zunichtemachen würde. 6.2.3.2.2 Diabolische Faszination in der Auseinandersetzung mit Franks Agieren als Vice President Ähnlich wie in Shakespeares Macbeth geht es Frank und Claire in Staffel 1 und 2 in erster Linie um regicide bzw. entsprechend des Settings der US-Politik um das impeachment des amtierenden Präsidenten Garrett Walker. Um dies zu erreichen, macht Underwood seiner Amtsbezeichnung Vice President  69 alle 187 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="188"?> werden. Als Vizepräsident von Präsident Walker könnte Frank kaum verlogener und lasterhafter agieren. 70 Dass Sven die Intrigen Franks kognitiv versteht, zeigen seine Einträge in den Viewing Journals. Allerdings wird die Wahrnehmung des Schülers immer wieder aufgrund seiner bedingungslosen Faszination für Frank beeinträchtigt: Der Schüler versteht zwar, aber er will die Falschheit in Franks Handeln nicht wahrhaben. Ehre: In Analogie zu Shakespeares villain-Figur Iago schleicht Frank sich nämlich in das Vertrauen des Präsidenten ein und bereitet gleichzeitig dessen Untergang vor. Sven fällt ebenso wie Präsident Walker auf Franks Maske herein, was sich in folgendem Viewing Journal-Eintrag widerspiegelt: „It’s hard to tell if this is just part of Frank’s plan or if he is serious about his friendship with Garrett, but it seems like he does care about the President and even tries to help him with his marriage“ (VJ 2). Der Schüler lässt sich folglich von Frank täuschen, obwohl er sämtliche Intrigen, die hinter Walkers Rücken stattfinden, mitbekommt und auch versteht 70 . Frank Underwood manipuliert Garrett Walker also ebenso wie den Schüler Sven. Nachdem Frank die Amtsenthebung Walkers erreicht hat, betritt er als Prä‐ sident der Vereinigten Staaten das Oval Office und nimmt dort mit imposanter Geste den Resolute Desk ein (finale Szene der zweiten Staffel). Sven beschreibt die Wirkkraft der Szene folgendermaßen: The final scene was yet again a genius scene from the makers of House of Cards. Frank slowly getting comfortable in his new office supported by the quiet and peaceful music combined with the camera that keeps zooming in on Frank inch for inch make you watch and listen very carefully. When the camera zoom then stops and Frank is staring into your eyes for 5 seconds you expect him to say something big, but instead he does his ‘signature move’ by knocking on the table two times. However he doesn’t use his ring to knock as usual but instead uses his whole fist which gives the knock a lot more power and almost shocks the viewer - brilliant (VJ 2). Dieser Eintrag Svens macht sein von starken Emotionen begleitetes Erlebnis der Szene nahezu greifbar, was damit zusammenhängt, dass er die filmsprachlichen Details mit ihrer Wirkung auf ihn ansprechend beschreibt. Die Ausführlichkeit, in der Sven seinen Eintrag formuliert, zeigt, dass er an dieser Stelle intrinsisch motiviert ist, seine Gefühle und Gedanken im Anschluss an die Szene festzu‐ halten. Es scheint so, als wolle der Schüler sich seine starke emotionale Reaktion auf die Szene rational durch filmanalytische Betrachtungen erklären. Folgende Tendenz lässt sich hier zusammenfassend feststellen: Je größer die Faszination beim Schauen, desto stärker ist das Mitteilungsbedürfnis Svens. 188 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="189"?> 6.2.3.3 Tendenzen in der Auseinandersetzung mit Claire Underwood: Lob der loyalen Ehefrau - kritisch-kognitive Beurteilung - Distanzierung - Ablehnung der emanzipierten Politikerin In Chapter 17 (S02E04) gesteht Claire Underwood in einem Live-Interview, dass sie eine Abtreibung hatte und manipuliert die Wahrheit zugleich, indem sie vorgibt, dass ihr aufgrund einer Vergewaltigung keine andere Wahl geblieben sei, als die Schwangerschaft abzubrechen. Sven reagiert darauf folgendermaßen: Claire did a great job in the interview and even managed to answer the difficult questions by sometimes telling hard truths or coming up with lies that seemingly can’t be proven wrong and won’t even be taken for a lie by the viewers. […] The interview changed my opinion about Claire a little bit, since it shows what a nice and modest person she can be when she is not fighting an opponent (VJ 2). Der Jugendliche findet die Protagonistin also nur „nice and modest“, wenn diese nicht in einen Streit mit Rivalen verwickelt ist. Eine solche Aussage macht Sven an keiner Stelle in Verbindung mit Frank Underwood, der ihn vor allem in Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern beeindruckt. Für Claire wendet der Jugendliche offensichtlich andere Bewertungsmaßstäbe an als für Frank. Die Interviewszene entlockt dem Schüler ungewohnt positive Attribute („did a great job“, „a nice and modest person“) in Zusammenhang mit Claire, was damit zusammenhängt, dass die Protagonistin mit ihrer Manipulation der Wahrheit nicht nur sich selbst, sondern auch Frank in die Karten spielt. Sven schreibt dazu Folgendes: „[…] she protects her and Frank’s image by telling her story about being raped by Dalton McGinnis and blaming her pregnancy on him […]” (VJ 2). Am Ende der zweiten Staffel hält Sven folgende Einschätzung zu Claires Charakter fest: Claire isn’t a completely bad person and often shows her good sides, however she did some things that still make me disagree with the opinion of Claire being a good person. Claire proved multiple times that she doesn’t show mercy to people she knows, the most crucial examples for this in my opinion are when she fired half of her staff in the first season and when she backstabbed her former friend Adam in season 2. […] she did so many things wrong (VJ 2). In obigem Eintrag offenbart sich das rationale Abwägen des Schülers, wobei Claires negative Seiten in Svens moralischer Evaluation mehr Gewicht haben. In der Auseinandersetzung mit Frank zeigt sich der Jugendliche hingegen fasziniert und findet selbst für dessen schlimmste Untaten (beispielsweise Mord) eine Rechtfertigung, wobei der Protagonist ihm diese oft durch seine Asides liefert (vgl. dazu Punkt 6.2.3.2.1). Während die Beschäftigung des Schülers mit 189 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="190"?> der Figur Claire Underwood primär kritisch-moralisierender und kognitiver Natur ist, wählt Sven für Frank einen stark von Affektionen geprägten Zugang, welcher mit seiner bedingungslosen Bewunderung zusammenhängt. An dieser Stelle kristallisiert sich folgende Beobachtung heraus: Svens Meinung nach darf ein Mann rücksichtslos und egoistisch agieren, wohingegen er dieses Verhalten bei einer Frau als unangemessen und verwerflich beurteilt. Dies sehen Philip und Stefan ähnlich, während die weiblichen Jugendlichen Claire für ihre Courage und ihre Unbeirrbarkeit, wenn es um ihre Ziele geht, bewundern. Auf geschlechtsspezifische Auffälligkeiten möchte ich im Rahmen der verglei‐ chenden Fallanalyse in Punkt 7.5.2.2 genauer eingehen. Als Claire sich in Chapter 32 (S03E06) für den LGBT-Aktivisten Michael Corrigan und dessen Vermächtnis stark macht und dadurch den Zorn des russischen Präsidenten Petrov auf sich und Frank zieht, reagiert Sven kritisch: Of course […] it was a stupid thing to openly criticise Petrov when they were this close to achieving a peacekeeping agreement and I reacted the exact same way as Frank when watching Claire publicly attacking Petrov […] (VJ 3). Der Schüler distanziert sich folglich von Claire, die durch ihr beherztes Auf‐ treten Franks Abmachung mit Petrov zunichtemacht. Dies lässt den Jugendli‐ chen zu folgendem Schluss hinsichtlich Claires Fähigkeiten als Botschafterin kommen: Chapter 32 made me realize why […] Claire isn’t fit to be the Ambassador. Especially when she lost it at the TV interview you could see that Claire can’t differentiate between emotions and her job, which might be good if you’re trying to be as human as possible but bad when you try to be the Ambassador (VJ 3). In Svens Urteil spiegelt sich seine Überzeugung wider, dass ein unvereinbarer Gegensatz zwischen Herzlichkeit sowie Mitgefühl einerseits und politischer Professionalität andererseits bestehe. Das heißt, dass Claire für Sven durchaus menschliche Qualitäten besitzt, was sie jedoch als Politikerin zu einer unbrauch‐ baren Fehlbesetzung macht (vgl. dazu auch Punkt 6.2.4.1). Es drängt sich die Vermutung auf, dass der Schüler mit Claires Verhalten einverstanden ist, wenn diese in Franks Interesse handelt. Verfolgt Claire jedoch Ziele, die ihrer Selbstverwirklichung dienen (und Frank behindern könnten), stößt das bei Sven auf Ablehnung. Dies wird besonders in der kognitiv-affek‐ tiven Auseinandersetzung des Schülers mit Staffel 3 deutlich, in der Claire sich zunehmend von Frank distanziert und ihn schließlich verlässt. Auch wenn Sven darauf zunächst schockiert reagiert, 190 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="191"?> That was a really shocking way of ending the season […] To see them both fighting that seriously was quite unpleasant and sad considering they used to get along this well in the first two seasons (VJ 3), kommt er nach sorgfältiger Überlegung zu folgendem Schluss: „Honestly, I wouldn’t even mind Claire being gone. She might be a great character but for me she has never really been more than a sidekick to Frank that just held him back in some situations” (VJ 3). Sven ist der einzige Schüler, der so empfindet und sich vollständig von Claire distanziert. Dies hängt mit seiner scheinbar grenzenlosen Bewunderung für Frank zusammen: Claire ist für den Schüler folglich nichts weiter als eine nette Zugabe an Franks Seite, die in dem Moment anstrengend und lästig wird, in dem sie sich aus ihrer Rolle als First Lady befreien und emanzipieren möchte. Diese Entwicklung spielt auch bei der Kritik des Jugendlichen, die er am Ende seines Viewing Journals zu Staffel 3 formuliert, eine Rolle: In seinen Augen habe der Fokus zu stark auf der Beziehung zwischen Frank und Claire gelegen, anstatt Politik mit ihren Intrigen und manipulativen Manövern zu zeigen, was für ihn den Reiz der ersten beiden Staffeln ausmachte. Dementsprechend lautet Svens Hoffnung für die vierte Staffel, die er nach dem Abitur möglichst bald schauen möchte: I hope season 4 will be less about relationships and more about Frank and his style of dealing with politics, politicians and other problems. I’m especially interested to see if he actually manages to get elected in 2016 again and how the divorce with Claire changes his behaviour (VJ 3). Der Schüler möchte also statt Gefühlschaos wieder Frank als Politiker in Aktion sehen. Darüber hinaus hat er mit Claire offensichtlich abgeschlossen, da ihn nur interessiert, wie sich die Trennung auf Frank auswirken wird. 6.2.3.4 Keine Freude am Out-of-the-Box-Denken Sven erwähnt im Interview, dass er folgenden Aufgabentyp im Viewing Journal am wenigsten gemocht habe: […] wenn wir irgendwelche Bilder zum Beispiel analysieren mussten […]. [E]s gab ja auch Aufgaben, wo es hieß: Da hing ein Gemälde, wofür könnte dieses Gemälde stehen? Oder auch dieses Origamigedöns von Claire … Das fiel mir schwer. Da musste man auch teilweise sehr abstrakt denken, sehr out of the box … nicht immer meine Stärke. Für solche Fragen hab ich dann doch ne Weile gesessen … (IV). Vor allem in der Wortwahl „Origamigedöns von Claire“ schwingt eine Abwehr‐ haltung des Schülers mit, dem das Lösen der Rätsel rund um Claire offenbar keinen Spaß bereitet. Die Bedeutungskonstruktion im Umgang mit Leerstellen, 191 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="192"?> welche beispielsweise bei der Interpretation einiger Screenshots erforderlich ist, sieht Sven als größte Herausforderung in seiner Auseinandersetzung mit der Serie, was im Folgenden an zwei Beispielen konkretisiert wird. Im siebten Kapitel der ersten Staffel von HoC (S01E07) fängt Frank in Zoes Wohnung eine Spinne mit einem Weinglas ein, die daraufhin erfolglos versucht, sich daraus zu befreien. Frank richtet folgendes Aside an die Zuschauenden, während er die Spinne bei ihrem Überlebenskampf beobachtet: There’s value in having secrets. Creatures like myself, like Claire, like Zoe, we wouldn’t be ourselves without them. But Peter Russo, on the other hand, he’s trapped by his secrets. What I’m trying to do is give him the opportunity to set himself free. After all, we are nothing more or less than what we choose to reveal (Chapter 7: S01E07, Ende des Kapitels). Im Viewing Journal wird den SuS die Aufgabe gestellt, die Nahaufnahme der gefangenen Spinne unter Berücksichtigung von Franks Worten zu analysieren. Sven unternimmt folgenden Versuch: „I think that the spider symbolizes Frank Underwood and that the spiders web are his intrigues that he weaved over the years, but I am not sure why the spider is trapped […]“ (VJ 1). Das Spinnennetz als Metapher für Franks Intrigen erscheint isoliert betrachtet durchaus sinnvoll, ist aber im Kontext der Szene nicht zutreffend, was sich mit dem Aside des Protagonisten begründen lässt. Darin erwähnt Frank explizit, dass Peter Russo „trapped by his secrets“ ist. Sven fällt die Unstimmigkeit seiner Interpretation auf und er äußert diesbezüglich Zweifel („but I am not sure why the spider is trapped“) - dennoch überdenkt der Schüler seine Antwort nicht. Sven lässt also die Tonebene in Form von Franks Aside außer Acht, was seine unvollständige Auseinandersetzung mit der Szene unterstreicht. Die Unlust des Schülers bezüglich der Bearbeitung des oben genannten Aufgabentyps wirkt sich hier offensichtlich negativ auf die Qualität seines Eintrags im Viewing Journal aus, was auch in Chapter 27 (S03E01) der Fall ist, als Doug Stamper, Franks rechte Hand, schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Die Kamera verweilt auffällig lang auf einem verwelkten Blumenstrauß neben dem Krankenhausbett in Nahaufnahme, wobei die daran angebrachte Karte mit den Worten „Thinking of you, Frank & Claire“ in den Fokus gerückt wird. Die Frage im Viewing Journal, „Please interpret the screenshot with the bunch of flowers”, beantwortet Sven folgendermaßen: „In my opinion the fowers show how much the Underwoods still care about Doug” (VJ 3). Zunächst fällt auf, dass Sven seine Antwort äußerst knapphält, was in deutlichem Kontrast zu seinen sonst ausführlichen Einträgen steht. Der Schüler beschränkt sich auf das ihm offensichtlich Erschei‐ nende, indem er aus dem Gruß der Karte schließt, dass die Underwoods sich 192 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="193"?> weiterhin um ihren treuen Angestellten sorgen. Dabei übersieht Sven wichtige Aspekte der Bildebene, die für eine sorgfältige Interpretation zu berücksichtigen gewesen wären: Die Grußworte „Thinking of you“ stehen nämlich in deutlichem Widerspruch zu den verwelkten Blumen. Wenn Frank und Claire wirklich an Doug denken würden, hätten sie zweifellos frische Blumen für ihn organisiert. Die Faszination des Schülers für Frank macht ihn also gewissermaßen blind für jene Elemente der Bildsprache, die gegen den Protagonisten und seine Fürsorge für Doug sprechen. 6.2.4 Moralvorstellungen Wie bereits in 6.2.3.2.1 und 6.2.3.2.2 erläutert, wirkt die diabolische Faszination, die Frank Underwood auf Sven ausübt, als moralische Urteilsbremse. Mit der Begrifflichkeit „moralische Urteilsbremse“ meine ich das Ausbremsen bzw. die Verhinderung einer moralischen Auseinandersetzung mit dem Gesehenen, beispielsweise in Form einer Verurteilung des offen zur Schau gestellten Fehl‐ verhaltens durch Tabubrüche. In einem Eintrag im Viewing Journal zu Beginn der dritten Staffel erklärt Sven die provokativen Staffelauftakte, die jeweils Tabubrüche verschiedener Art zeigen, auf folgende Weise: By using such shocking and provoking scenes, House of Cards uses the most efficient way of sending the viewer a clear message about how exactly Frank Underwood behaves and what kind of […] cold hearted and reckless person he can be when he is serious. […] It takes quite a lot of guts to execute (VJ 3). Laut Sven haben die moralischen Entgleisungen also die Funktion, den Zuschau‐ enden Franks rücksichtslose Persönlichkeit in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, was den Schüler jedoch nicht abschreckt. Die Wortwahl des Jugendli‐ chen, „It takes quite a lot of guts to execute“ (meine Hervorhebung), impliziert, dass der Schüler Franks Courage bewundert. Als Sven zu den Tabubrüchen im Interview laut denken soll, positioniert er sich folgendermaßen: Ich mein, es hat aus dem langweiligen Stoff in Anführungszeichen was Interessantes gemacht. Es hat immer dafür gesorgt, dass die Aufmerksamkeit beim Zuschauer gesteigert wurde. Wir mussten ja auch oft so Schockszenen analysieren, da hat man zum Beispiel sehr gemerkt, was jetzt für ne message hinter dieser Schockszene steht und wie elegant quasi den Zuschauern vermittelt wurde: So, wir haben hier ein Tabu gebrochen, aber wieso ist das überhaupt ein Tabu? Und was soll das jetzt für Reaktionen auslösen beim Zuschauer? Also es hat auf jeden Fall immer zum Nachdenken angeregt … deswegen fand ich auch diese Szenen besonders interessant und gut. Ohne diese Szenen wäre es halt … deutlich langweilig! Ich find, die ham nen 193 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="194"?> großen Teil dazu beigetragen, dass die Serie spannend bleibt und dass man unbedingt weiterschauen will. Vor allem wenn’s jetzt um so was geht wie … MORD! […] (IV). Sven widmet sich der Aufgabe des lauten Denkens zu den Tabubrüchen aus‐ führlich und ungehemmt. Seine sich darin widerspiegelnde kognitiv-affektive Auseinandersetzung mit den moralischen Entgleisungen in HoC kann folgen‐ dermaßen visualisiert werden: Internal MET AEBE NE Politik als „langweiliger Stoff“ Tabubruch (Krönung: Mord) Interesse Nachdenken- Wollen gesteigerte Aufmerksamkeit Weiterschauen- Wollen message, Funktion, Hintergrund der Schockszene INTER- DEPENDENZ KOGNITIV AFFEKTIV Abb. 24: Kognitiv-affektive Auseinandersetzung mit Tabubrüchen am Beispiel Svens (eig. Darst.) Obige Darstellung verdeutlicht, dass die Tabubrüche bei Sven Langeweile verhindern und die Serie für ihn interessant und sehenswert machen. Dieses In‐ teresse wirkt sich sowohl auf die kognitiven als auch auf die affektiven Prozesse positiv aus, die in einem interdependenten Verhältnis zueinanderstehen, was eine ganzheitliche und tiefgehende Auseinandersetzung mit den Tabubrüchen bewirkt. Zum einen wird der Schüler durch entsprechende Denkanstöße in den Viewing Journals dazu angeregt, Funktion, Wirkung und Hintergrund der Tabuszenen von einer Metaebene aus zu analysieren, was eine bloße Sensationslust beim Schauen verhindert. Zum anderen lässt sich Sven emotional auf das Serienerlebnis ein und taucht in die Geschehnisse ein, was letztlich im Wunsch resultiert, HoC weiterzuschauen. 194 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="195"?> 6.2.4.1 Unvereinbarkeit von Moral und Politik Für den Schüler steht fest, dass politisches Handeln in der Regel weder mo‐ ralischen noch ethischen Maßstäben genügen könne (vgl. IV). Sven erklärt im Interview beispielsweise, dass die von Frank begangenen Morde „das Ganze realistischer und authentischer“ (IV) gemacht hätten. Dies lässt darauf schließen, dass der Jugendliche Morde in der realen politischen Welt für möglich hält. Auf Nachfrage im Interview bestätigt Sven meine Annahme mit einer Einschränkung: Wahrscheinlich ist Mord nicht SO direkt realistisch wie bei Frank Underwood, der ja wirklich erste Hand angelegt hat, aber … dass Leute aus dem Weg geräumt werden in der Politik, also hinter den Szenen, dass ein Politiker jemanden beauftragt, halte ich für absolut realistisch. Leider … (IV). In der Auseinandersetzung Svens mit der Serie wirkt folglich auch seine Über‐ zeugung hinsichtlich der Unvereinbarkeit von Moral und Politik als moralische Urteilsbremse bzw. moral disengagement cue: Den Jugendlichen überrascht es nicht, dass Politiker über Leichen gehen und dementsprechend verurteilt er Frank nicht, als er zum Mörder wird. Das Gegenteil ist der Fall, da Sven die Serie dafür schätzt, dass sie durch die Tabubrüche eine „satirische Sicht“ (IV) auf die US-Politik ermöglicht, die dem Schüler zeitgemäßer erscheint, weil Politik ist nun mal nichts Positives und des sollt auch nicht so rübergebracht werden … Keiner will sehen, wie Politiker als so … perfekte Menschen, die die Welt retten und so Zeug, dargestellt werden. Da passt einer wie Frank Underwood einfach besser in unsre Zeit, find ich (IV). Insbesondere mit dem letzten Satz bringt Sven eine wichtige und für das Verständnis der Serie zentrale Ansicht zum Ausdruck. Der Schüler stellt sich die Moralfrage nicht, weil er keinen Moralapostel, sondern einen realistischen Politiker sehen möchte, der den politischen Zeitgeist des 21. Jahrhunderts glaubhaft repräsentiert. 6.2.4.2 Diabolische Faszinationskraft in der Auseinandersetzung mit der Kirchenszene Einer der in HoC wohl am meisten polarisierenden Tabubrüche ist Franks respektloses Verhalten in der Kirche in Chapter 30 (S03E04: Anspucken eines Kruzifixes durch den Protagonisten). Während andere SuS beim Schauen Ent‐ setzen, Fassungslosigkeit, Wut oder Mitleid empfinden und sich moralisch explizit positionieren, wirkt die von Frank ausgehende Faszinationskraft auf 195 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="196"?> Sven erneut als moralische Urteilsbremse. Dies zeigt sich in folgendem Eintrag des Schülers: I really like this scene, it may be a very shocking one considering he literally spat into the face of god, however it perfectly demonstrates Franks characteristics like his ruthlessness and fearlessness as well as his guts. Then there is this hidden message of god trying to punish or warn those opposing him by almost killing off Frank with the falling statue. Last but not least the scene ends with Frank taking the ear of the statue with him saying ‘Well, I’ve got God’s ear now’, a very funny yet symbolic moment (VJ 3). Zunächst ist die Wortwahl Svens interessant, der das schockierende Potential der Szene erkennt („it may be a very shocking one“), obwohl er selbst keinen Schock verspürt, sondern stattdessen Begeisterung („I really like this scene; […] it perfectly demonstrates […]“) äußert. Für den Jugendlichen stellt die Kirchenszene eine willkommene Gelegenheit dar, die diabolischen Züge der Figur Frank Underwood ein weiteres Mal erleben zu dürfen. Er verurteilt den Protagonisten nicht, sondern reagiert stattdessen mit Bewunderung aufgrund von Franks „fearlessness as well as his guts“. Der Schüler zeigt seine tiefe Auseinandersetzung mit der Szene, indem er auf die „hidden message of god“ (das Herabfallen des bespuckten Kruzifixes als Strafe) eingeht. Sven belässt seinen Eintrag jedoch nicht dabei, da in seinen Augen nicht Gott mit seiner Botschaft das letzte Wort hat, sondern Frank mit seinem Aside. Dieses Aside rezitiert der Schüler wörtlich und beschreibt den Abschluss der Kirchenszene als „very funny yet symbolic moment“. Bei Sven erreicht Frank Underwood folglich das, was er erreichen will bzw. das, was die Showrunner zweifellos erreichen wollen: Beim Schmunzeln über Franks sarkastische Kommentare „feiern wir unsere eigene […] Abgeklärtheit“ (Lampprecht 2015: 20). 6.2.5 Lernzuwachs hinsichtlich Film Literacy durch „nen schärferen Blick auf […] Serien“ Eine Erwartung Svens zu Beginn des W-Seminars besteht darin, mehr über Serien und deren Machart zu lernen, da audiovisuelle Medien im EU nach Einschätzung des Jugendlichen lediglich zum Zeitvertreib eingesetzt wurden. Im Interview hält der Schüler Folgendes fest: Also ich hab definitiv mehr über - mmhh, ich nenn’s jetzt mal Filmsprache gelernt … also Stilmittel des Films, so was wie Beleuchtung, welche Art von camera shots, welche angles, wie sie alle heißen und was damit bezweckt wird beim Zuschauer … also wie man dadurch gelenkt wird quasi. Des fand ich interessant und da kriegt man definitiv nen schärferen Blick auf wie genau Serien aufgebaut sind und funktionieren. 196 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="197"?> Das ist mir auf jeden Fall hängengeblieben. Das merk ich voll. […] Auch diese genauen Analysen von Szenen, die wir im Unterricht gemacht haben, waren hilfreich … Man fragt sich jetzt halt beim Schauen: Inwiefern hat das Licht jetzt welche Auswirkung? Warum ist der Bereich jetzt hell und warum ist der dunkel? Warum steht sie jetzt genau da und guckt so in die Kamera? Warum seh ich das so und nicht anders? (IV) Fragen dieser Art zeigen, dass Sven nicht auf der Ebene der isolierten Aufzäh‐ lung filmspezifischer Gestaltungsmittel verharrt, sondern interessiert daran ist, deren Funktion und Wirkweise mit einem geschärften Blick zu durchschauen. Diesen Blick nimmt der Schüler an vielen Stellen seiner Viewing Journals und auch seiner Seminararbeit ein, wobei folgende Analyse der ersten Präsident‐ schaftsdebatte zwischen Trump und Clinton hier als Beispiel fungieren soll: The camera work starts off with a well thought-out and rather complex set of camera settings in the opening, but then gets simple and easy to follow during the debate itself. Before the debate, the camera is positioned on a high angle and pans over the whole audience once before transitioning into the next shot with a dissolve-style transition, meaning the first camera starts fading out while the next camera setting fades in smoothly. Next comes the opening of the debate which is filmed from an eye-level perspective in a medium shot size, drawing all the attention to the person in focus […]. When the host introduces the participants of the debate, the camera setting changes to a medium shot of Hillary Clinton, then Donald Trump entering the stage, then jump-cuts into a wide shot showing them both shaking hands […]. When the debate itself begins […], yet another type of camera setting is used: A very special (one) only used in ‘1 v 1’ situations such as duels or […] debates, known as split-screen (SA, meine Hervorhebung). Sven unterstützt seine differenzierten filmanalytischen Betrachtungen durch Screenshots zur Veranschaulichung der jeweils zum Einsatz kommenden film‐ gestalterischen Mittel. Dieser kurze Auszug aus der Seminararbeit des Schülers zeigt seine sichere Verwendung von kinematographischen Fachbegriffen, wobei er auch komplexere Techniken erkennt (z. B. dissolve style, jump cuts). Auch in der Auseinandersetzung mit Chapter 38 (S03E12) im Viewing Journal überzeugt der Schüler mit folgender Analyse: The scene starts off with Frank being shown from an low angle making him look big and powerful, with the dim lighting giving him a mysterious vibe as well. Heather is shown from an very high angle making her look small and weak while the bright lighting makes it seem like you, or rather Frank, knows everything about her (VJ 3). Der Schüler beschreibt den Effekt der Kamerawinkel anschaulich und formuliert darüber hinaus eine sehr wichtige Beobachtung: Kamera und Licht sorgen in 197 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="198"?> der Szene dafür, dass die Zuschauenden den Eindruck bekommen, mit Frank auf Dunbar herabschauen und sie zugleich durchschauen zu können. In Svens Worten „makes it seem like you, or rather Frank knows everything” wird deutlich, dass der Jugendliche durch geschickte Kamera- und Lichtführung das Gefühl hat, Franks Perspektive einnehmen zu dürfen. Obwohl Sven die tiefere Auseinandersetzung mit den mysteriösen Elementen der Serie als anstrengend empfindet, gesteht er den Denkanstößen in den Viewing Journals diesbezüglich zu, dass „man letztlich ne größere Bedeutung rauslesen kann - auch aus den Bildern, die ich nicht so gern analysiert hab, aber … was in einem Screenshot alles drinstecken kann, das war schon krass“ (IV). Folglich sieht Sven darin die Chance, zu einem tieferen Verständnis der Serie zu gelangen, was sich motivierend auf ihn auswirkt. Im Viewing Journal zu Staffel 3 schreibt er in diesem Zusammenhang: „Some of the metaphors in this season were kinda cryptic like the whole series of egg metaphors in Chapter 28 for example, but after thinking about it and doing some research on it it became quite clear“ (VJ 3). Auch wenn der Schüler sich mit solchen kryptischen Bildelementen nach wie vor schwertut, recherchiert er dafür zusätzlich, was für sein wachsendes Engagement und für sein Bedürfnis spricht, die Serie vollständig zu verstehen. Sven ist beispielsweise einer der wenigen Schüler, dem die Häufung der Ei-Symbolik in Chapter 28 (S03E02) auffällt. Im Viewing Journal hält er diesbezüglich fest: There were a lot of metaphors using eggs in this episode like Claire had to choose between several eggs and chose the black one. Later on Frank makes a metaphor using the eggs where he makes clear that instead of trying to balance the egg he should reverse his way of thinking. This last scene involving [Claire frying two] eggs might have a very interesting meaning: The two eggs seem to symbolize the fates of Frank and Claire that are still connected (egg-white) yet are now clearly separated from each other (egg yolks) (VJ 3). Obwohl Sven die Ei-Symbolik vor eine Herausforderung stellt, lässt er sich auf das Spiel mit der Serie ein und wagt vorsichtig („might have a very interesting meaning“) eine Interpretation, die überzeugt: Tatsächlich markiert Kapitel 28 einen wichtigen Punkt in der Distanzierung der Underwoods voneinander, da Claire die ersten Schritte auf dem Weg ihrer politischen Selbstverwirklichung geht. 6.2.6 Entwicklung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen Sven entwickelt bei der außerschulischen Rezeption von Serien auf Englisch sprachlich-kommunikative Kompetenzen auf einem Niveau, welches die durch‐ 198 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="199"?> 71 In diesem Kontext muss erwähnt werden, dass ca. ein Drittel der W-Seminar-Stunden im Mediengarten stattfand, da dieser die optimale Atmosphäre für das gemeinschaft‐ liche Serienerlebnis bot: Ausstattung mit fest installiertem Beamer, automatischer Verdunkelung, einer Leinwand im Kinogrößenformat, Dolby Surround und gemütlichen Sesseln sowie Sitzsäcken. Im Interview kommt von einigen SuS - darunter auch Sven - die Rückmeldung, dass ihnen die Unterrichtsstunden im Mediengarten gefallen hätten, da sie so in den Genuss einer Kinoatmosphäre gekommen seien. Erfreulicherweise funktionierte der Wechsel zwischen Phasen des Seriengenusses, Phasen der konzen‐ trierten Filmanalyse, Phasen des gemeinsamen Meinungsaustauschs usw. sehr gut. schnittlichen Schulenglischkenntnisse der meisten Abiturienten (und auch einiger Anglistik-Studenten) in den Schatten stellen dürfte: Sven spricht bis‐ weilen umgangssprachliches, aber stets idiomatisches Englisch. Gemäß seiner Selbsteinschätzung verfügt der Schüler bereits vor dem W-Seminar über sehr gute Englischkenntnisse, wobei er diese durch das Schauen von HoC, durch die Arbeit mit den Viewing Journals und durch die gemeinsame Besprechung im Unterricht vertiefen kann. 6.2.6.1 Ausbau von Sprech-Kompetenz im Rahmen der kommunikativen Anschlussphase Im Interview betont Sven an mehreren Stellen, dass er durch den Unterricht im Rahmen des W-Seminars besser Englisch gelernt habe, wobei er „vor allem die Gespräche und Diskussionen im Kurs“ (IV) lobend hervorhebt. Der Schüler erwähnt, dass er Serien privat stets allein auf seinem Smartphone rezipiere. Aus diesem Grund sei das gemeinsame Schauen von Schlüsselszenen von HoC im Mediengarten der Schule für ihn ein Highlight gewesen (vgl. IV). 71 Auch die für einen Großteil der W-Seminar-Sitzungen von mir vorbereiteten PowerPoint-Präsentationen, die beispielsweise in Phasen der Information zum Einsatz kamen, hätten auf der großen Leinwand eindrucksvoll gewirkt. Sven sagt dazu Folgendes: Das Seminar war ja doch ziemlich spät am Nachmittag und ich mein … man ist dann - das ist ganz klar - nicht mehr so fit. Aber der Raumwechsel war da echt hilfreich und ich mocht des voll gern. Also ich kann mich da vor allem an die Präsentationen von Ihnen erinnern, wo wir über diese ganzen Stilmittel … diese filmischen Besonderheiten … wie angles, Licht, sound und cutting und des alles gelernt ham … da fand ich’s halt gut, dass des nicht nur so theoretisches Blabla in Anführungszeichen war, sondern dass wir … dass Sie immer Beispiele aus Filmen dazu gezeigt haben und … wir konnten sagen, was unsere Meinung dazu ist, wie des bei uns ankommt und so. Dann hat sich des viel mehr eingebrannt - auch mit der großen Leinwand … auf jeden Fall. Besonders die Beispiele aus House of Cards waren natürlich ziemlich 199 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="200"?> genial … man hat dann gesehen, was für’n Meisterwerk des eigentlich ist (IV; meine Hervorhebung). Auf die Frage, ob Sven HoC vorher nicht als Meisterwerk erlebt habe, antwortet dieser: Doch schon, aber … ich schau Serien halt normal mit meinem Smartphone und … das Schauen mit den andern war schon cool. Man hat so die Anspannung im Raum gespürt, wenn was Krasses passiert ist, bei der Szene in der Kirche zum Beispiel. Ich fand’s auch echt interessant, was die andern dazu gesagt ham … Diese Diskussionen ham mich da echt weitergebracht, sprachlich und auch so insgesamt. Das hat schon nochmal so Anstöße zum Nachdenken gegeben (IV; meine Hervorhebung). Was aus den Worten des Jugendlichen deutlich hervorgeht, ist, dass er die für ihn ungewohnte Erfahrung der intensiven Anschlusskommunikation und -diskussion mit Gleichaltrigen als Bereicherung empfindet. Sven erkennt damit den Austausch über das Gesehene mit seinen Mitschülern als Teil eines ganzheit‐ lichen Filmerlebnisses. Darüber hinaus profitiert Sven von den Diskussionen im Klassenverband insofern, als ihm dadurch neue Perspektiven eröffnet werden, was wiederum in weiterführenden Reflexionen resultiert. 6.2.6.2 Lexikalischer Lernzuwachs Zunächst muss erwähnt werden, dass Sven beim Verfassen seiner Einträge für die Viewing Journals um eine elaborierte Wortwahl bemüht ist, die über den in der Schule erworbenen und von ihm als restringiert empfundenen Basiswortschatz hinausgeht. Bei der Formulierung seiner Einträge hat Sven hohe Ansprüche an sich selbst: Ich wollt mich da natürlich schon möglichst gut ausdrücken und halt nicht so … ich sag mal ‚einfach‘. Die Serie war ja in sehr gutem Englisch gehalten, also mehr so ‚gehobene‘ Sprache. Und das wollt ich in den Journals auch so umsetzen. Ämm … dafür hab ich natürlich schon das ein oder andere Synonym gegoogelt […], um nicht das … ja, halt einfache Wort zu nehmen … und da kriegt man schon ein breites Wissen - vor allem konnt ich halt manche Worte dann auch öfter verwenden (IV). Interessant ist, dass Sven sich bei der Formulierung seiner Einträge für die Vie‐ wing Journals am sprachlichen Niveau der in HoC vernommenen „gehobenen“ Sprache orientiert. Für ihn fungiert die Serie folglich als sprachliches Vorbild bzw. Modell. Zudem googelt er zur Verbesserung seines Ausdrucks gezielt entsprechende Vokabeln. Um dies zu konkretisieren, sollen hier einige Beispiele aus Svens Viewing Journals angeführt werden: 200 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="201"?> 72 Es kann natürlich nicht garantiert werden, dass der Schüler sich die unterstrichenen Worte beim Schauen von HoC aneignete, aber bei einem Abgleich mit dem Drehbuch fällt auf, dass ebendiese Wendungen des Öfteren in der Serie verwendet werden. Sven ist sich bei gezielter Nachfrage „ziemlich sicher“, dass er sich die Vokabeln beim Schauen von HoC eingeprägt habe. ● „[…] Jackie took a rather defensive stance while Frank had a very powerful and aggressive demeanour” (VJ 3; meine Hervorhebung). Für stance hätte der Schüler auch position/ point of view und statt demeanour hätte er beha‐ viour/ attitude verwenden können; er entscheidet sich aber bewusst gegen solch „einfache“ Vokabeln (IV); ● „Viktor seems to show some interest for Claire which he openly shows by using some rather cheap pick up lines on her“ (VJ 3, meine Hervorhebung). Hier bemüht sich Sven um idiomatische Wortwahl; ● „The Walkers definitely seem to have some issues with their relationship. While eating they often interrupt each other and make hidden accusations completely unlike the Underwoods who are fully in sync, take their time for each other and get along perfectly” (VJ 2; meine Hervorhebung). Erneut zeigt sich die Idiomatik im Ausdruck des Schülers und darüber hinaus gelingt ihm ein komplexer und dennoch schlüssiger Satz; ● „The Underwoods deny the fact that there has been an affair and claim that Adam took the photo as a gift for Frank. When Adam gives Remy a second picture of Claire […] after being blackmailed by Remy, the Underwoods create a fake copy […]. In other words what they did was they dodged the bullet by making Adam seem like a liar (VJ 2; meine Hervorhebung). Auch hier zeigt sich, dass der Schüler bemüht ist, „gute Wendungen auf Englisch“ (IV) zu recherchieren, um seine lexikalische Kompetenz und damit seine schriftliche Ausdrucksfähigkeit zu verbessern. Insbesondere in Svens Seminararbeit fällt auf, wie aufmerksam der Schüler HoC geschaut haben muss, da er einige in der Serie häufig vorkommende sprachliche Wendungen (diese sind in der folgenden Auflistung fett hervorgehoben und unterstrichen) aufgreift, wie zum Beispiel: 72 ● „Frank Underwoods starts dodging questions, steering the debate down a different path […]“ (SA); ● „The discussion […] gets even more out of hand […]” (SA); ● „[…] not only did Jackie Sharp straight up accuse Heather Dunbar of hypocrisy […]” (SA); ● „AmWorks […] is a legally very questionable operation in her eyes” (…) (SA); 201 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="202"?> ● Frank Underwood makes use of „some humorous comments to gather some attention of the audience and distract from arguments that could weaken him […]“ (SA); ● „It quickly raises suspicion that Jackie Sharp seems to always agree with Frank“ (SA). Diese Beispiele zeigen den elaborierten Stil sowie die idiomatische Wortwahl des Schülers, welche für seine Schreibprodukte (Seminararbeiten und Viewing Journals) kennzeichnend sind. Im Interview bestätigt Sven den Eindruck, dass er während des Schauens der Serie viele Wörter notiert und gelernt habe - vor allem, wenn diese in der Serie vermehrt vorgekommen seien. Auf diesen in der Auseinandersetzung mit HoC erworbenen Wortschatz greift der Schüler in seiner Seminararbeit erfolgreich zurück. 6.2.7 Zusammenfassung Sven repräsentiert das Paradebeispiel für eine neue Schülergeneration, die durch täglichen außerschulischen Medienkonsum in der Fremdsprache (z. B. Serienschauen, Computerspielen) permanent ihr Englisch verbessert. Der EU geht an den Bedürfnissen des Jugendlichen vorbei, wobei er Schulenglisch mit „Altbackenenglisch“ assoziiert. Hinsichtlich der politischen Thematik von HoC wählt Sven einen analyti‐ schen und stark kognitiv geprägten Zugang zur Serie: Er will das Politdrama auf dessen Realitätsgehalt untersuchen, indem er die fiktive Darstellung der US-Politik mit realem US-politischen Tagesgeschehen vergleicht. Der Schüler gelangt dabei zu der Erkenntnis, dass HoC keine Dokumentation der US-Politik anstrebt, sondern als Politdrama in erster Linie unterhalten möchte. Letztlich findet Sven diesbezüglich zu einer Balance aus kritisch-bewusster und genuss‐ voller Rezeption. Die für Sven entscheidende Tendenz in seiner Auseinandersetzung mit HoC ist zweifellos die diabolische Faszinationskraft, die der Protagonist auf den Schüler ausübt. Zu Frank wählt der Jugendliche einen stark von Emotionen geprägten Zugang und er sieht dem Politiker bei seinem Siegeszug im Weißen Haus mit Begeisterung zu. Svens Bewunderung für den Protagonisten setzt eine kritische Distanzierung von Franks moralisch verwerflichem Verhalten außer Kraft. Zudem macht die Faszination für Frank den Schüler meist blind für die Bedürfnisse und Empfindungen anderer Figuren. Vor diesem Hintergrund erklärt sich beispielsweise die Positionierung des Jugendlichen zu Claire: Wenn Claire die loyale und unterstützende Frau an Franks Seite ist, äußert Sven Anerkennung für ihr Verhalten; sobald Claire jedoch eigene Ziele verfolgt und sich aus ihrer Rolle als First Lady befreien möchte, empfindet der Schüler sie als 202 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="203"?> 73 Der interdisziplinäre Studiengang Anwendungsorientierte Interkulturelle Sprachwissen‐ schaft setzt die Beherrschung von mindestens drei Fremdsprachen voraus. lästigen Klotz an Franks Bein. Dies führt zu einer vollständigen Distanzierung von Claire Underwood. Im W-Seminar erlebt Sven die für ihn bereichernde Erfahrung eines gemein‐ schaftlichen Serienerlebnisses durch die Möglichkeit zum Austausch und zur Anschlusskommunikation mit Gleichaltrigen. Das Sprechen über Filme ermög‐ licht dem Schüler innovative Perspektiven durch gemeinsame Bedeutungskon‐ struktion und zugleich wird der EU dadurch zu einem neuartigen Erfahrungs‐ raum, in dem echte Kommunikationsbedürfnisse berücksichtigt werden. 6.3 Fallbeispiel Anastasia 6.3.1 Hintergrundinformationen Anastasia ist zum Zeitpunkt des Interviews 18 Jahre alt. Sie wurde in Deutsch‐ land geboren, ihre Eltern stammen aus Griechenland. Dementsprechend wächst Anastasia mit Deutsch und Griechisch zweisprachig auf. Die Jugendliche zeigt sich aufgeweckt sowie herzlich und beteiligt sich rege am Unterricht, wobei vor allem ihre sehr gute englische Aussprache auffällt. Diese begründet Anastasia damit, dass sie seit der siebten Klasse Serien auf Englisch schaut, womit sie mindestens 30 Minuten pro Tag verbringt - oft auch mehr, was sie von der schulischen Aufgabenbelastung abhängig macht. Zudem hört sich die Schülerin Serien häufig per Smartphone auf Englisch an („ohne visuals“ (IV)), wenn sie unterwegs ist, so dass sie mit der Fremdsprache außerhalb des Unterrichts täg‐ lich in Berührung kommt. Dies hat zur Folge, dass die Jugendliche übermäßig oft von Anglizismen Gebrauch macht, wenn man sich mit ihr (wie im Interview) auf Deutsch unterhält. In der vorliegenden Auswertung werden diese Anglizismen kursiv gesetzt. Zum Zeitpunkt des Interviews nützt Anastasia das Free-TV nicht mehr und ist stattdessen im „Netflix-Fieber“ (IV). Für die Schülerin stellen Serien neben ihrem Unterhaltungswert ein wichtiges Lerninstrument dar, von dem sie Gebrauch macht, um ihre fremdsprachlichen Kenntnisse gezielt verbessern zu können. Die Jugendliche ist überaus interessiert daran, möglichst viele Sprachen zu erlernen und äußert im Interview ihre Begeisterung für den Studiengang ANIS 73 . Anastasia bezeichnet sich als multilingual (vgl. IV), wobei sie Deutsch, Griechisch, Englisch, Französisch und Spanisch gut bis fließend spricht; darüber hinaus befindet sich die Schülerin in ihrem dritten Lernjahr Chinesisch. Serien schaut sie entweder in einer der oben genannten Fremdsprachen (dann jeweils 203 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="204"?> mit englischem Untertitel) oder auf Englisch ohne Untertitel, wobei letztere die von Anastasia am meisten und am liebsten praktizierte Rezeptionsart ist. Auf die Frage, warum ihr Mehrsprachigkeit so wichtig ist, antwortet die Schülerin: „Wenn man ne Sprache kann, dann lernt man auch gleich was Kulturelles mit“ (IV); diese Antwort lässt auf Neugierde und Offenheit hinsichtlich anderer Kulturen schließen. Mit Neugierde und Offenheit begegnet die Schülerin auch den Inhalten des W-Seminars, das von ihr sehr geschätzt und gelobt wird: „I love it. It’s one of a few subjects where I can honestly say my opinion and know for it to be valued“ (VJ 2). Während Anastasias Äußerung einerseits ihre positive Einstellung dem W-Seminar gegenüber zeigt, schwingt darin andererseits Kritik am regulären Unterricht mit, in dem die Jugendliche nicht das Gefühl hat, dass ihre Sichtweisen respektiert und ernstgenommen werden. Der Hintergrund dieser Einschätzung soll im Folgenden genauer untersucht werden. 6.3.2 Kritik am Englischunterricht aufgrund seiner nicht mehr zeitgemäßen Ausrichtung Eigentlich ist Englisch das Lieblingsfach der Schülerin, weil sie die Sprache mag und stark intrinsisch motiviert ist, ihre Englischkenntnisse zu perfektio‐ nieren. Anastasia empfindet den regulären EU jedoch oft als „langweilig und lehrerorientiert“ (IV), was sie vor allem damit begründet, dass sie und ihre Mitschüler nur selten die Chance hätten, „eigene Meinungen einzubringen“ (FB). Die sprachbegeisterte Jugendliche ist davon überzeugt, dass erfolgreicher Fremdsprachenerwerb so nicht gelingen könne: „If you don’t use it, you lose it“ (IV). Anastasia bringt explizit ihr Bedürfnis zum Ausdruck, im EU mehr sprechen zu dürfen und zwar über Themen, die sie für motivierend und zeitgemäß hält. Im filmbasierten FSU ist es Anastasia besonders wichtig, sich im Klassenverband austauschen und eigene Interpretationen äußern zu dürfen, wobei die Jugendliche betont, eine solche Anschlusskommunikation im regulären EU noch nie erlebt zu haben. Die starke Fokussierung des FSU auf „Vokabel- und Grammatiktests, wo’s halt immer nur um’s Schriftliche geht“ (IV), empfindet die Schülerin als „too 20th century“ (IV): Du wirst halt nur so auf den nächsten Test trainiert, so ok … hier hast du deine Blätter, hier sind deine Vokabeln, lern die! Und schreib hier noch nen Text und da … Ich find, man sollte das halt eher so praktischer und individueller gestalten (IV). Anastasia spricht wichtige Punkte an, die als Herausforderungen des EU in seiner derzeitigen konzeptionellen Ausrichtung gesehen werden können, wie beispielsweise die Dominanz der Schriftlichkeit in bestehenden Testformen und eine zu starke Ausrichtung auf prüfbare Kompetenzen sowie auf Standar‐ 204 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="205"?> disierung statt Individualisierung. In diesem Zusammenhang erinnert sich die Schülerin an ihre „Krise“ (IV) im EU der fünften und sechsten Klasse, als sie in Englisch die Note 4 hatte, weil ihr das „sture[…] Pauken“ (IV) von Grammatik und Vokabeln widerstrebte. Ihren Ausweg aus der „Krise“ beschreibt Anastasia folgendermaßen: Also die modernen Medien haben mir da sehr geholfen […]. Des Gute ist bei sowas, dass man für die Zeiten n Gefühl bekommt. Ich könnt Ihnen jetzt nicht genau die ganzen tenses und die Regeln dafür aufsagen … aber ich hab‘n Gefühl dafür bekommen und weiß, wann man welche Zeit benutzt und ich find, das hat ganz, ganz viel damit zu tun, dass ich mir diese ganzen englischen YouTuber und Serien angeschaut hab … Und auch wenn ich‘s manchmal am Anfang nicht verstanden hab … man hört die Sprache halt und weil ich des halt - okay nicht 24/ 7 - aber schon täglich mach … Ich glaub, des hat geholfen, dass ich jetzt da bin, wo ich bin (IV). Anastasia entwickelt also beim außerschulischen Serien- und Medienkonsum ein Gefühl für die Sprache, was der in den Bildungsstandards geforderten Sprachbewusstheit bzw. language awareness entspricht (vgl. KMK 2014: 21 f). 6.3.3 Vergleich Fiktion vs. Realität - Wissensaneignung über US-Politik - kritische Grundhaltung Hinsichtlich des Themenbereichs US-Politik besteht bei Anastasia zu Beginn des W-Seminars der Wunsch, dazuzulernen, besser informiert zu sein und sich weiterzubilden (vgl. FB und IV). Die Schülerin schätzt die Einflusskraft der Serie hierfür als sehr positiv ein: Ich find, da man halt sowas anschaut, kriegt man halt auch ein understanding für politics - also viel mehr Wissen kommt da rüber als würde man sich jetzt halt irgendwie Comedy-Serien anschauen […]. Also anderes Beispiel: Ich bin ein riesiger Grey’s Anatomy-Fan und deswegen hab ich auch den Anreiz, Biologie zu lernen, weil mich des schon interessiert. Ich mein, es ist ja unser Körper! Und es ist schon cool, sich in unserer Anatomie ein bisschen auszukennen. Und das Gleiche kann man halt dann auch auf political series übertragen: Ich find, wenn ich halt ne Serie hab, die mich packt, dann will ich das Thema verstehen. […] Mir persönlich hat es den Ansporn gegeben, mich da’n bisschen zu informieren … Genau deswegen hab ich des auch als Schwerpunkt meiner Seminararbeit [Titel: Donald Trump and Frank Underwood: Reality and Fiction Compared] genommen (IV). Deutlich stärker als bei der Krankenhausserie Grey’s Anatomy verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität an etlichen Stellen von HoC, wobei ehemalige US-Präsidenten wie Clinton und Obama diesen Eindruck durch 205 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="206"?> entsprechende Kommentare noch verstärkten. Anastasia ist (ebenso wie einige ihrer Mitschüler) von der scheinbaren politischen Realitätsnähe von HoC faszi‐ niert und widmet sich in ihrer Seminararbeit dem Vergleich zwischen Donald Trump und Frank Underwood. Dabei thematisiert sie auch die Nebentexte rund um HoC (z. B. Auftritte in Talkshows, Interviews mit den Schauspielern usw.): The connection between those two [Trump and Underwood] has been made before by […] Kevin Spacey himself. Kevin was interviewed by the late-night host Stephen Colbert, who asked to whom Frank refers in his asides. His answer was to Donald Trump (cf. Sohr 2017). He also revealed that the writers are having problems because […] some of the storylines are similar to Trump’s then presidency and therefore cannot be released. […] Just the fact, that they had to change the storyline of a fictive series because it is too identical to the real one, confirms my statement [that] we have come to a point where [the lines between] reality and fiction are blurred. […] fiction finds its way into reality, as well as reality finds its way into fiction. The best example to demonstrate this, is by comparing Donald Trump with Frank Underwood (SA). Die Schülerin beginnt die Recherchen für ihre Seminararbeit nicht unvoreinge‐ nommen, sondern mit einem negativen Bild vom damaligen US-Präsidenten Trump. Anastasia drückt beispielsweise im Interview ihre Fassungslosigkeit über die Wahl Trumps aus: Man muss sich halt hinsetzen und sich drüber informieren und das […] leichtere Übel wählen oder heraussuchen … Ich mein, manche haben doch dann einfach aus Protest Kermit the Frog […] gewählt … oder halt gar nicht gewählt - des ist halt auch nicht der Weg. Ich mein, jetzt ham sie halt nen frauenfeindlichen … ich will lieber keine Ausdrücke sagen … Trump! Der ist genauso uneducated in politics wie ich vor dem Seminar […]. Und dann auch mit dem Muslim Ban, was war‘n des für ne Entscheidung? So viele Muslime leben in dem Land und der hat sie so diskriminiert, der hat sich so daneben und einfach falsch verhalten […] (IV). Die Schülerin setzt ihre starke Kritik, die ihre emotionale Betroffenheit offen‐ bart, im Interview an zahlreichen Stellen fort. In den Augen der Jugendlichen sollten Politiker ihrer Vorbildfunktion gerecht werden: „politicians should be role models […] we and children should look up to“ (VJ 2). Mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten verliert Anastasia jedoch ihren Glauben an die Integrität von Politikern, wenngleich ihr ein kleiner Restfunken Hoffnung bleibt: „I’d like to believe that the German politicians aren’t that corrupt” (VJ 2). Ebenso kritisch wie Trump sieht Anastasia Frank Underwood, der eine nachhaltige Veränderung in ihrer Beschäftigung mit Politik und politischen Themen anstößt: Die Schülerin gibt an, diesbezüglich „auf jeden Fall kritischer 206 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="207"?> 74 Mit citizens meint Anastasia die fiktionale US-Bevölkerung, der Frank etwas vormacht; we impliziert die HoC-Zuschauenden, die über mehr Wissen verfügen, weil ihnen durch Franks Asides ein exklusiver Einblick in seine wahren Gedanken ermöglicht wird (der den citizens verwehrt bleibt). und aufmerksamer als früher [= vor dem Schauen von HoC]“ (IV) geworden zu sein. Während sie Frank bei seinen Intrigen im Weißen Haus zugeschaut habe, sei ihr nämlich bewusst geworden, „dass man […] diese sneaky Sachen, die er halt immer gemacht hat […], dass des halt auch in Echt passieren könnte“ (IV). In der Auseinandersetzung mit der Kirchenszene in Staffel 3 (S03E04) wird Anastasia bewusst, dass für Politiker eine Diskrepanz zwischen Sein und Schein charakteristisch ist: Sein bezieht sich auf den Menschen, der sich hinter der Maske des Politikers verbirgt; Schein meint das Image, das gewahrt werden muss, um in der Gunst der Wählerschaft nicht zu sinken. Anastasia schreibt dazu: I think they [= the producers of HoC] wanted to show that in this time and age you can’t be certain anymore because the citizens don’t get to see what we see. 74 They see him [= the politician] on TV while giving interviews or during conferences but there he knows he’s being observed and therefore acts different […] (VJ 3; meine Hervorhebung). Beim Schauen von HoC erkennt Anastasia also, dass Politiker vor der Kamera nicht immer ihr wahres Gesicht zeigen. Dies verstärkt das kritische Bewusstsein der Schülerin bei der Beschäftigung mit politischen Themen. Auch wenn die Jugendliche die Darstellung von Politik in der Serie als „korrupt und kalt“ (IV) erlebt, stimmt Anastasia das Gesehene nicht politikverdrossen, sondern sie stellt eine Steigerung ihres politischen Interesses fest. Dabei interessiert sie besonders die Beziehung zwischen Politik und Medien. Hinsichtlich Trumps Umgang mit den Medien kommt Anastasia zu folgendem Schluss: Trump brutally abuses the media as it suits him. Not only does he bash the media and reporters by saying they are fake news when they post something bad about him or just something that he disagrees with, he also uses twitter […] to offend people or even countries. […] He does not even care about his grammar or his spelling either, the infamous ‘covfefe’ incident, makes that very clear […]. He could use this attention [which he gets for his tweets] for something good like spreading awareness about climate change but instead he denies it (SA; meine Hervorhebung). Die Wortwahl der Schülerin (siehe Hervorhebungen) lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Instrumentalisierung der Medien durch Trump ablehnt. Eine weitere interessante Beobachtung, die Anastasia in ihrer Seminararbeit festhält, ist, dass 207 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="208"?> Frank seine gehässige und sarkastische Seite in seinen Asides offenbart (von denen die anderen Figuren der Serie ausgeschlossen sind), wohingegen Trump sich in seinen Tweets für die ganze Welt sichtbar mit sozial unerwünschten Botschaften inszeniert. Anastasia kommt somit zu dem Schluss, dass die poli‐ tische US-Realität die politische Fiktion in Sachen Drama und provokativen Inhalten mittlerweile eingeholt - wenn nicht sogar überholt - habe. Die damit einhergehende Erkenntnis lautet: „Underwood is acting more presidential than Trump” (SA). Am Ende des W-Seminars betont Anastasia ihren Lernzuwachs im Bereich der US-Politik: Politisch hab ich SEHR VIEL dazugelernt … Ich wusste vorher nicht, was ein Whip ist und auch allgemein, dass der ja impeached werden kann, der Präsident, und dass dann eigentlich for the time being der Vice President dann einfach Präsident werden kann, was ja Frank sehr ausgenutzt hat, auch strategisch … und es ist halt krass, dass man das im Fiktionalen sieht, aber des halt auch auf die Realität anwendbar ist … also es könnt auch im real life passieren, weil es ist ja based on real laws (IV). Insgesamt muss betont werden, dass Anastasia sämtliche Rechercheaufträge zu politischen Themen und Begriffen in den Viewing Journals ausführlich und gewissenhaft bearbeitet, was ihre intrinsische Motivation unterstreicht, politisch dazulernen zu wollen. 6.3.4 Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie 6.3.4.1 Angst - Erfolgserlebnis - Interesse Anastasia erwähnt im Interview, dass sie zunächst kein gutes Gefühl bezüglich des bevorstehenden W-Seminars gehabt habe: Also das Seminar war eigentlich nicht meine Erstwahl […] und dann war’s halt auch noch so, dass meine Schwester mir so’n bisschen Angst gemacht hat, weil … sie hat die Serie auf Deutsch geschaut und sie ist halt in Deutsch nicht mal richtig mitgekommen und dann sie so zu mir: ‚Ich weiß nicht, wie du da auf Englisch mitkommen willst! ‘ Und dann hat sie mir halt n‘ bisschen Angst gemacht, um ehrlich zu sein (IV; meine Hervorhebung). Dieses Gefühl der Angst verstärkt sich bei der Jugendlichen, als die SuS das Viewing Journal zu Staffel 1 von HoC zur selbstständigen Bearbeitung bereits am Ende der zehnten Klasse erhalten. Die Schülerin erinnert sich, dass sie sich dadurch zunächst überfordert gefühlt habe. Sobald Anastasia jedoch mit dem 208 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="209"?> Schauen von HoC beginnt, erkennt sie im Viewing Journal eine große Stütze für das Verständnis der Serie: Das Journal hat mir sehr gut gefallen, da es mir auch geholfen hat. Meistens schaut man sich eine Folge einmal an auch wenn man nicht alles verstanden hat. So musste ich sie zwar zweimal anschauen, hab aber alles verstanden (FB). Das Engagement der Schülerin zeigt sich daran, dass sie einige Folgen zweimal schaut, um ihr Viewing Journal vollständig bearbeiten zu können und wirklich alles zu verstehen. Der Fleiß der Jugendlichen wird belohnt und sie erhält eine sehr gute Note für ihre Leistung. Dies bewirkt bei Anastasia ein Erfolgsgefühl, das sie durch das W-Seminar begleitet und ihr Selbstbewusstsein stärkt. Vor dem Beginn des Seminars konsumierte die Schülerin in ihrer Freizeit weniger anspruchsvolle Serien, die sie weitaus weniger forderten als HoC - sowohl sprachlich als auch inhaltlich (vgl. IV). Die für Anastasia überraschende Er‐ kenntnis, eine komplexe Serie wie HoC verstehen zu können, verändert ihr Medienkonsumverhalten nachhaltig und sie entwickelt Freude am Schauen von Netflix Originals (vgl. IV). Im Interview beantwortet die Schülerin die Frage nach ihren Hobbies folgendermaßen: „Ich schau mega gern Netflix … Das hab ich mir lustigerweise wegen House of Cards geholt und das war die beste Investition, die ich jemals gemacht hab. Seitdem schau ich da vor allem sämtliche Serien“ (IV). Anastasia begründet ihre Präferenz von Serien gegenüber Filmen damit, dass Serien ihre Charaktere und deren Geschichten über einen längeren Zeitraum und damit ausführlicher erzählen können (vgl. FB). Wie die Jugendliche den Charakter Frank Underwoods von Staffel 1 bis 3 erlebt, wird im Folgenden dargestellt. 6.3.4.2 Frank Underwood: Interesse - Befürwortung - Kritik - Ablehnung und moralische Verurteilung Anastasias Reaktion auf die Hundeszene in Chapter 1 (S01E01) macht deutlich, dass die Jugendliche zunächst darum bemüht ist, Franks Handeln zu verstehen. Ihr Eintrag, „At first it scared me but then I realised that he just did it in the dog’s favour […]” (VJ 1), zeigt, dass Anastasia versucht, den Protagonisten in einem guten Licht zu sehen, indem sie einen plausiblen Grund für sein Handeln nennt („he […] did it in the dog’s favour“). Somit bewirkt Kapitel 1 noch keine Distanzierung von Frank, den die Schülerin als „man who has a special way of doing things. He seems very knowlegeable like it seems that he’s been through a lot and therefor knows how to handle it“ (VJ 1) beschreibt. In dieser Charakterisierung schwingt Bewunderung für Frank mit, den die Jugendliche als klugen Mann der Tat einschätzt; dies ist zweifellos eine Reaktion 209 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="210"?> auf Franks Aside, in dem er den Zuschauenden den Unterschied zwischen „pain that makes you strong and useless pain“ erklärt. Das Gesamturteil der Schülerin für Kapitel 1 lautet: „It was a very interesting beginning for a series. Also it has a different style than other shows I’ve watched […]” (VJ 1). Hier beweist Anastasia ihre Offenheit hinsichtlich der für sie neuartigen Serienerfahrung. Auch in Bezug auf Frank Underwood versucht die Schülerin weiterhin, das Handeln des Protagonisten positiv auszulegen. In Chapter 3 (S01E03, 28‘52‘‘ - 33‘15‘‘) lässt sich Anastasia von Frank manipulieren und fällt auf die von ihm kreierte Sein-Schein-Illusion herein: Frank hält in seiner Heimatstadt eine heuchlerische Ansprache in der Kirche, in der er vor der Gemeinde und insbesondere vor den Eltern der verunglückten Jessica so tut, als täte ihm der Unfall des Mädchens leid. Die Schülerin schreibt dazu: „He wants them to know that he is indeed sorry for the incident […] his speech was so powerful” (VJ 1). In der Tat ist Franks Rede powerful enough, um Anastasia in den Bann zu ziehen und zu täuschen. Erst in Chapter 4 (S01E04) hält Anastasia zum ersten Mal im Viewing Journal fest, dass Frank seine Macht einsetzt, um andere Menschen zu manipulieren und für seine Zwecke auszunutzen: „Peter has no choice because […] Frank forces [him] to do what he wants with his power” (VJ 1). Diese Erkenntnis kann als Wendepunkt in Anastasias Einschätzung von Franks Persönlichkeit und seinen Handlungen gesehen werden. Zunächst werden die Einträge der Schülerin auffallend kürzer und distanzierter, wenn sie im Viewing Journal Franks Verhalten beurteilen soll. So beantwortet die Jugendliche die Frage, „What do you think about Frank’s behaviour in the debate between him and Marty Spinella? “ (Chapter 6: S01E06), sehr knapp mit den Worten: „Too overpowering and inappropriate“ (VJ 1). Untypischerweise schreibt Anastasia hier keinen ganzen Satz und packt ihre Kritik stattdessen in vier Worte, ohne eine Begründung für ihr Urteil zu formulieren. Während die Schülerin von Franks Effizienz zunächst fasziniert ist, empfindet sie ihn zunehmend als „forcing and intimidating“ (VJ 1). Die Gefühle der Jugendlichen gegenüber Frank gipfeln schließlich in Schock und Ablehnung, als er Peter Russo umbringt (vgl. VJ 1). Anastasia positioniert sich explizit auf Peters Seite und verurteilt Franks Handeln. Die Frage nach ihrem least favourite character am Ende des Viewing Journals zu Staffel 1 beantwortet die Jugendliche entschieden, indem sie dreimal so großschreibt wie sonst: „Frank in the end because HE KILLED SOMEONE! “ (VJ 1). Die Begründung für ihre Abneigung hebt Anastasia zusätzlich durch Großbuchstaben hervor, womit sie offensichtlich zeigen möchte, dass es für sie keinen Zweifel an Franks Unmenschlichkeit gibt. In Staffel 2 ist von Anastasias einstiger Befürwortung Franks nichts mehr übrig und sie reagiert auf den Protagonisten nunmehr mit Ablehnung sowie 210 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="211"?> (bisweilen ironischer) Distanz. Diese schlägt in ein Gefühl der moralischen Überlegenheit um, als Frank Zoe vor einen Zug stößt und damit seinen zweiten Mord begeht. Die Jugendliche verfasst als Reaktion darauf einen der ausführ‐ lichsten Einträge aller SuS, der hier in leicht verkürzter Form wiedergegeben wird: So angry! Frank did it again. It also looked like a very impulsive reaction because everything looked fine, they both [= Frank and Zoe] acted like they trusted each other again […]. Once she said what she’s really afraid of which is if she helped in the process of murdering someone, Frank left. She runs after him and he pushes her in front of the […] train. But if I think about it now it could’ve been a planned action as well because […] he wanted her to erase their messages on her phone, even his contact so all the connection to him would’ve been destroyed and he was also in disguise when they met at the station […]. But to be honest, for me it doesn’t matter if it was planned or just an impulsive reaction because once again he just does what he wants, like a child and the thing that annoys me the most is that he always gets away with it which makes sense because he’s Vice President and therefore has a lot of power. As he said in Season 1 power over money (VJ 2; meine Hervorhebung). Dieser Eintrag zeigt, dass die Ermordung Zoes für die Schülerin - trotz ihrer Abneigung gegenüber Frank - einen motivierenden Schreibanlass darstellt, was sich in der Bearbeitungstiefe ihrer Antwort widerspiegelt. Anastasia äußert sowohl ihre Gefühle als auch ihre Überlegungen zu den Hintergründen von Franks Tat (der Mord als impulsive Handlung oder sorgfältig geplante Aktion? ). Das Nebeneinander von Emotion, moralischer Evaluation und Reflexion ver‐ deutlicht die Aufgebrachtheit der Schülerin, die offensichtlich ein Ventil braucht, um sich Klarheit hinsichtlich der Mordszene zu verschaffen. An Anastasias ethisch-moralischer Verurteilung ändert auch das vom Protagonisten geäußerte - und auf fast alle Seminarteilnehmende faszinierend wirkende - Aside („Hunt or be hunted“) am Ende von Chapter 14 (S02E01) nichts; Franks Asides haben scheinbar ihre Wirkkraft auf die Schülerin verloren und sie durchschaut seinen Rechtfertigungsversuch mit kritischer Distanz: […] he refers to Zoe, like he wants to justify what he did, that he had no other choice than to kill her. That again shows me that he’s acting like a child because there are more ways to deal with things, then just the two extremes (VJ 2; meine Hervorhebung). Erneut verwendet die Jugendliche das Wort child in Zusammenhang mit Frank und macht damit deutlich, dass sie jeglichen Respekt vor ihm verloren hat und sich ihm überlegen fühlt. Die völlige Distanzierung von Frank führt dazu, dass die Schülerin auch die anderen Charaktere aus HoC zunehmend kritisch 211 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="212"?> 75 Präsident Walker fungiert in Staffel 2 als Kontrastfigur zu Frank: Walker gleicht dem grundsätzlich edelmütigen, aber leichtgläubigen Othello, der vom rachsüchtigen Frank als moderne Iago-Figur umschmeichelt wird. beäugt. Die Frage im Viewing Journal, ob Garrett Walker 75 ein guter Präsident sei, beantwortet Anastasia folgendermaßen: So far I have nothing I can hold against him, but we also don’t get a lot to see from him […]. But what I get to see so far from him I like but again we don’t really know if he’s the same as Frank […]. As you can see I am really careful now with judging because this show taught me to be expecting everything so please excuse if I don’t give an exact answer (VJ 2). Die Schülerin ist sichtlich auf der Hut und möchte keine unbedachte Sympa‐ thiebekundung für einen Politiker aus der Serie aussprechen, die sie später bereuen könnte. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Jugendliche in der Hundeszene (Chapter 1) an das Gute in Frank glaubte, ist mittlerweile einer kritisch-distanzierten und skeptischen Grundhaltung beim Schauen gewichen. 6.3.4.3 Befürwortung von Claires Emanzipation Auch wenn Anastasia sich bei der endgültigen moralischen Urteilsfindung in Bezug auf Claire schwertut, besteht für die Schülerin kein Zweifel daran, dass Claire eine starke Frau ist, die sich in einer Männerwelt behaupten muss. In diesem Kontext ist die Reaktion der Jugendlichen auf Chapter 31 (S03E05, 26‘46‘‘ & 39‘48‘‘) aufschlussreich: In dieser Episode wird Claire in ihrer Rolle als Bot‐ schafterin zunächst mit sexistischen Kommentaren des russischen Botschafters Moryakov konfrontiert; anschließend rächt sie sich dafür auf unkonventionelle Weise (vgl. The Bathroom Scene). Auf Moryakovs Äußerung, „The truth is, you have no business being Ambassador any more than I do being First Lady“, reagiert Anastasia folgendermaßen: Even his first statement is sexualising her just because she is a woman. She can handle being Ambassador and then his comment about her dress [“That’s a very nice dress by the way”]. He is stereotyping her, the first lady has to represent her husband well and therefore dress well because if she doesn’t it will reflect on her husband. [He thinks] that is what she should do rather than interfere in politics. His views are so medieval his remark implies that he does not take her serious as Ambassador (VJ 3). Trotz einiger sprachlicher Fehler in obigem Eintrag wird deutlich, dass Anas‐ tasia sich auf Claires Seite positioniert und die Ansichten des russischen Botschafters als frauenfeindlich und deplatziert erachtet. Dementsprechend empfindet die Schülerin Schadenfreude, als Claire Alexi in einer Damentoilette 212 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="213"?> vor vollendete Tatsachen stellt, um ihm ihre Macht als Frau zu demonstrieren. Anastasia schreibt dazu: She makes him go into the women toilet. While they are discussing she does her makeup and always checks up on him if it looks good […] she says it is always nice to have a man’s opinion. Then she goes to urinate making him feel so uncomfortable he even wants to leave but she doesn’t let him. Also treating him like a servant by asking to hand her a towel and […] entitling him as a gentleman. […] I loved it. She did it in such a clever way because she acted like a typical woman in front of him by doing her makeup so she fulfilled his stereotype. Also she said it’s nice to hear a man’s opinion while she literally pisses on his opinion. While doing that she also showed him that she is an enemy who you should take seriously (VJ 3). Die Bathroom Scene interpretiert die Jugendliche überzeugend und bringt ihre Begeisterung über Claires klugen Schachzug anschließend explizit zum Ausdruck („I love it“). 6.3.4.4 Verständnisschwierigkeiten Als herausfordernd bei der Beschäftigung mit HoC empfindet die Schülerin sowohl die politischen Bezüge (dazu gehören z. B. die von politischen Fachbe‐ griffen dominierten Dialoge) als auch die zahlreichen Handlungsstränge der Serie. Anastasia gibt als eine der wenigen Schülerinnen am Ende des ersten Kapitels von HoC im Viewing Journal zu, dass ihr die Anfangsepisode zwar gefallen habe, „But I have to admit it is a bit overwhelming at times because so much happens“ (VJ 1). Overwhelming kann im Sinne von atemberaubend positiv konnotiert sein, aber auch ein Gefühl der Überforderung implizieren. In Anbetracht des Satzbeginns mit der konzessiven Konjunktion but ist in diesem Kontext letztere Bedeutung wahrscheinlicher. Die Jugendliche gibt als unbekanntes Wort in Kapitel 1 zwar nur Whip an, aber offensichtlich machen ihr die vielen komplexen Handlungsstränge zu schaffen. Schwierigkeiten hat Anastasia auch im Umgang mit den interpretatorischen Leerstellen in Form mysteriöser bzw. rätselhafter Szenen. So begründet die Schülerin beispielsweise die Sequenz mit dem Bettler (Chapter 6: S01E06), der Claire ihren zu einem Origamischwan gefalteten Geldschein vor die Füße wirft, folgendermaßen: „He throws a swan made out of money to her feet. To give her something in exchange for her giving him money, like he’s done something to deserve the money” (VJ 1). Die Jugendliche missversteht die Szenenabfolge grundlegend, da der Bettler Claire nichts in exchange gibt; stattdessen wirft er ihr den Schein hin, den Claire ihm zuvor mit dem Hinweis, er solle sich etwas zu essen kaufen, überreicht hatte. Als Claire in Chapter 7 (S01E07) selbst 213 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="214"?> beginnt, sich mit der Origamifaltkunst zu beschäftigen, stellt Anastasia keine Verbindung zu der Szene mit dem Bettler her und betrachtet dies lediglich als „start[ing] something new like a hobby“ (VJ 1). Die entscheidende Szene im Origamihandlungsstrang, Claires Abschiedsbotschaft für Adam, interpretiert die Schülerin nicht wirklich, sondern notiert dazu lediglich folgende isolierte Feststellung: „Bec. she has too many feelings for him“ (VJ 1). Diese Aussage begründet Anastasia nicht weiter und geht weder auf den Origamischwan noch auf das zerschnittene Foto ein. Bezüglich einer weiteren rätselhaften Szene schreibt die Schülerin: „I really have no clue” (VJ 2). Diese oberflächliche und bisweilen defizitäre Auseinandersetzung mit den mysteriösen Elementen der Serie hängt nicht mit einem Motivationsdefizit zusammen (dies beteuert Anastasia im Interview an etlichen Stellen), sondern mit Schwierigkeiten beim Interpretieren von Szenen, die ein kreatives Out-of-the-Box-Denken erfordern. 6.3.5 Moralvorstellungen Als die Schülerin zu den Tabubrüchen der Serie laut denken soll, redet sie sich schnell in Rage, was für die Analyse ihrer Moralvorstellungen wichtige Rück‐ schlüsse zulässt. Folgende Gedanken äußert Anastasia zu den Tabubrüchen: Also das, dass er die Medien missbraucht hat und dass er die dann halt - ok er hat sie jetzt nicht sexuell misshandelt, aber dieses Einverständnis, das die [=Zoe und Frank] hatten. Dann, wo ich ja Frank instantly eigentlich gehasst hab, nachdem er halt Peter Russo einfach umgebracht hat. […] Dann auch wegen Religion, wo er dann einfach das Kreuz angespuckt hat und da komm ich gleich zum nächsten Punkt mit dem Grab seines Vaters. Er hat einfach keinen Respekt vor irgendwelchen anderen Personen, weil er halt sich selber als Gott sieht … Tabubrüche, da gibt’s so viel! […] Dann, wie er sich im Allgemeinen auch gegenüber Claire verhält … Ich finde halt, es sollte [in einer Ehe] ein Geben und ein Nehmen sein und von Frank ist es nur so’n Nehmen […] und er gibt halt nichts […]. Und ämm … auch seine Einstellung zu Kindern … Ich mein, er ist Präsident, die Kinder sind halt nunmal die Zukunft … ich mein, er muss natürlich keine haben, aber einfach zu sagen, „Ich hasse Kinder“, und dann Präsident sein zu dürfen, find ich sehr paradox. Bei solchen Momenten bin ich innerlich AUSGEFLIPPT (IV). Keine/ r der anderen SuS äußert sich so ausführlich zu den Tabubrüchen der Serie im Interview. Dies lässt darauf schließen, dass die moralischen Entgleisungen für Anastasia ein zentrales Thema in ihrer kognitiv-affektiven Auseinanderset‐ zung mit der Serie darstellen. Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Jugendliche ein sehr stark ausgeprägtes moralisches Bewusstsein hat und sich vehement empört, wenn es in ihren Augen zu Ungerechtigkeiten kommt. So 214 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="215"?> vergisst Anastasia beispielsweise nicht, dass Claire ihre langjährige und loyale Mitarbeiterin Evelyn in Chapter 2 fristlos entlässt; auch acht Kapitel später verurteilt die Schülerin dieses Verhalten ebenso wie sie Zoes Verhältnis mit Frank kritisiert: „I like and dislike both [Claire and Zoe] the same, like I dislike that Claire fired Evelyn after she did what she wanted or that Zoe was sleeping with Frank“ (VJ 1). Folglich verwundert es nicht, dass Anastasia - als einzige Schülerin - am Ende von Staffel 1 keinen Lieblingscharakter aus HoC im Viewing Journal nennt (andere Seminarteilnehmende halten ganze Listen mit Namen ihrer liebsten Figuren fest). Anastasia hingegen kann - obwohl sie die Serie mag und gerne schaut (dies stellt die Schülerin klar) - keine Figur finden, die ihren moralischen Ansprüchen gerecht wird. Die Frage nach ihrem least favourite character beantwortet die Jugendliche hingegen eindeutig mit Frank Underwood. 6.3.5.1 Ablehnung des Mörders Frank: Mitleid mit dem Opfer - Schock und Zorn hinsichtlich der Tat Im Interview erklärt Anastasia: Was mich am meisten geschockt hat, war das mit Peter Russo. Also … ich musst da weinen, muss ich sagen […] weil ämm, er hat halt einfach ein Leben genommen und ämm ich mein … Peter Russo war halt schon einer von den Guten, aber ihm ging’s halt miserable … er war halt ein alcoholic und am Tiefpunkt … und Frank hat ihn ja eigentlich rausgeholt und hat ihn wieder aufgebaut […] und als es ihm dann nicht mehr so ganz reingepasst hat, hat er einfach kurzen Prozess gemacht. Des fand ich halt schon krass - […] weil wenn man des halt aus psychologischer Sicht betrachtet: Peter ist wieder aufgestanden und hat halt seine Erleuchtung gefunden … und so einen Menschen dann wieder auszulöschen, der grade seinen Weg wiedergefunden hat und auch noch zwei Kinder hat … das war hart für mich (IV). Zunächst muss festgehalten werden, dass Anastasia sensibler als ihre Mit‐ schüler/ innen auf die Ermordung Peters reagiert. Dies hängt damit zusammen, dass die Schülerin Mitleid mit Peter hat und ihn als einen von „den Guten“ (IV) mit einer Sonderstellung innerhalb der intriganten HoC-Politiker in Erinnerung behält. Die Jugendliche trennt bei der Rezeption von HoC ganz klar zwischen Gut und Böse, wobei es für sie keine Zwischenschattierungen gibt und Frank eindeutig in die Kategorie der Bösen fällt. Zur Ermordung Zoes durch Frank positioniert sich Anastasia folgender‐ maßen: Ich find halt, man hatte zu Peter Russo emotional n bisschen mehr Bezug, weil er halt so miserable war, wenn man ehrlich ist. Ich glaub Mitgefühl hat da ne ganz große Rolle 215 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="216"?> gespielt, aber bei Zoe war ich […] wirklich eher geschockt als traurig - und SAUER! Ja, bei Zoes Ermordung war ich so sauer […], weil es auch mitten aus dem Nichts war, wo er sie dann einfach vor den train schiebt. Ihn interessieren die Konsequenzen halt null. Natürlich hat er viel Macht, aber trotzdem! Man muss doch‘n bisschen Respekt vor was Höherem haben und des ist halt, was er nicht hat (IV). Anastasia äußert als einzige Schülerin Wut auf Frank, als dieser nach Peter auch Zoe umbringt. Während das Mitgefühl mit Peter und die Traurigkeit über dessen Ermordung auf eine nach Innen gerichtete und somit introvertierte Form der Verarbeitung der Szene schließen lassen, geht die Jugendliche mit der Ermordung Zoes anders um: Ihr anfänglicher Schock schlägt in gegen Frank - und damit nach Außen - gerichteten Zorn um. Ein Auszug aus ihrer Erstreaktion im Journal lautet folgendermaßen: „So angry! Frank did it again. […] once again he just does what he wants, like a child and the thing that annoys me the most is that he always gets away with it” (VJ 2). Die Wortwahl der Schülerin zeigt, dass sie sich Frank moralisch überlegen fühlt und genervt auf sein infantiles Verhalten herabschaut. Die Schülerin überlegt sich sogar eine Alternative für Frank, durch die der Mord an Zoe hätte verhindert werden können: „Er hätte sie irgendwie im social media bashen können, dass sie halt keine valid voice mehr hat und dass Leute nicht mehr auf sie hören“ (IV). 6.3.5.2 Wertkonservative Grundhaltung bezüglich religiöser Tabubrüche Nachdem Frank Peter Russo umgebracht hat, sucht der Protagonist im letzten Kapitel von Staffel 1 (Chapter 13: S01E13) eine Kirche auf, in der er nach einem kurzen Anflug von schlechtem Gewissen wieder zu seinem üblichen überheblichen Selbst zurückkehrt. Anastasia hält diesbezüglich Folgendes fest: He’s asking if God can hear him but also kind of insults him. He gets down on his knees and denies the fact that God or something above us all exists. Instead he prays to himself for himself. I just find it insulting towards God and for those who believe in him (VJ 1). Der Eintrag der Schülerin spiegelt die Widersprüchlichkeit wider, die für die Szene kennzeichnend ist: Frank spricht zu Gott und leugnet im nächsten Moment die Existenz Gottes. Anastasia findet klare Worte für die Wirkung der Szene auf sich: Sie empfindet diese als beleidigend für gläubige Christen. Im Interview äußert sich die Schülerin nicht dazu, ob sie an Gott glaubt oder nicht, aber ihre starken emotionalen Reaktionen auf sämtliche Kirchenszenen legen eine religiöse Affinität der Jugendlichen nahe. Die Kirchenszene in Staffel 3 (Chapter 30: S03E04), in der Frank ein Kruzifix bespuckt, wird bewusst mit den SuS gemeinsam geschaut, um sie mit dieser möglicherweise verstörend 216 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="217"?> wirkenden Szene bei der Erstrezeption nicht allein zu lassen. Anastasia ist die Schülerin, die darauf am stärksten reagiert - sowohl emotional als auch körperlich in Form eines heftigen Zusammenzuckens. Im Viewing Journal verfasst die Schülerin einen ausführlichen Eintrag zur Kirchenszene, der auf ihr Mitteilungsbedürfnis aufgrund ihrer Aufgebrachtheit schließen lässt: Just the conversation between the Pastor and Frank had me totally confused. He first asks about the meaning of justice, which makes no sense because we as viewers know he doesn’t give a… about no other justice than the one he defines. The pastor tells him that there are just 2 laws he must keep in mind to love god and to love others to which he replies that you cannot love the ones who you want to kill. The pastor disagrees. Then Frank says that he understands the Old Testament God who rules through fear and I think he refers to himself. The pastor who also gets what Frank is secretly saying gets kind of mad [with Frank] […]. I was so satisfied after their talk because again for the second time in this episode someone put him into place. But after seeing him spitting on the Jesus figure I was furious! How can someone be so disrespectful. Disrespecting a person is something else but disrespecting a whole religion just because he wants all power to himself. That scene confirmed my assumption that something is wrong with him - I mean psychological speaking (VJ 3). In diesem Eintrag zeigt sich die Interdependenz kognitiv-affektiver Prozesse: Zunächst drückt Anastasia starke Verwirrung aus, weil sie nicht versteht, warum Frank sich bei einem Priester nach der Bedeutung von Gerechtigkeit erkundigt; dies kann sie nicht mit ihrem bisherigen Bild von Frank (der niemals Rat sucht und nicht an Gott glaubt) vereinbaren. Franks Erwähnung vom alttestamentlichen Gott hingegen durchschaut Anastasia sofort: „he refers to himself “. Anschließend empfindet die Jugendliche ein Gefühl der Genugtuung, als Frank vom Priester zurechtgewiesen wird. Diese Genugtuung schlägt jedoch in Zorn um, sobald sich der Protagonist in der Kirche respektlos und gottes‐ feindlich verhält. Dadurch sieht sich Anastasia bestärkt in ihrer Annahme, dass Frank psychisch nicht gesund sei („something is wrong with him […] psycho‐ logical[ly] speaking“), was sie auf seinen Größenwahn („he wants all power to himself “) zurückführt. Dass die Schülerin Frank nach der Zerstörung eines „religious artefact“ (VJ 3) als Psychopathen sieht, zeigt ihre strikte Ablehnung des Protagonisten im Kontext des religiösen Tabubruches. 217 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="218"?> 76 Ihre Unsicherheit in Bezug auf Claires Charakter begründet Anastasia folgendermaßen: „Manchmal hat sie die richtigen Ansätze, aber manchmal macht sie wieder Sachen, wo ich mir so denke: Die hätten jetzt echt nicht sein müssen! Was mit Gillian war, was mit Evelyn war […]. Manchmal sagt sie Frank schon direkt ihre Meinung und dann hilft sie ihm wieder bei so Sachen, die ich nicht korrekt finde“ (IV). Ähnlich ambivalent fällt Anastasias Reaktion im Viewing Journal zu Staffel 2 aus, als sie ihre Gedanken zur Interview-Szene (Chapter 17) festhält: „I am somewhat proud of her because calling out what McGinnis did means that he gets his well deserved punishment. But I disliked that she lied about connecting her pregnancy with her being raped […]. […] But on the other hand it led to a good thing because another victim found justice in this story. So I am very conflicted if I like her or not […]” (VJ 2). Die Schülerin scheint sich mit ihrer Beurteilung Claires schwer zu tun, da diese nicht eindeutig in die Kategorien „böse“ oder „gut“ passt, derer sich Anastasia für gewöhnlich bedient. 6.3.5.3 Moralische Überlegenheit Claires gegenüber Frank Auch wenn sich Anastasia in Bezug auf ihre Einschätzung von Claire Under‐ wood insgesamt „nicht sicher“ 76 (IV) ist, steht für die Schülerin fest, dass Claire im Vergleich zu Frank die menschlich und moralisch Überlegene ist: „[…] bei ihr find ich des auch spannend, … ob sie halt noch den richtigen Weg findet oder halt auch so endet wie Frank“ (IV). Ein Kapitel, das Anastasia darin bestärkt, dass Claire auf dem richtigen Weg sein könnte, ist Chapter 32 (S03E06), in dem die Protagonistin nach Michael Corrigans Selbstmord den russischen Präsidenten Petrov für die homophoben Gesetze seines Landes öffentlich kritisiert. Daraufhin hält die Schülerin im Viewing Journal Folgendes fest: I was so proud because she was totally right he wouldn’t have committed suicide if he thought there would’ve been a different way to handle the situation but he was pushed from both sides to do something he didn’t want to and he didn’t believe in. […] she is the First Lady which means this case is going to get a lot more attention and that is exactly what Michael wanted. By doing so she is honouring him (VJ 3). Anastasia ist stolz auf Claire, weil sie in ihren Augen das Richtige tut. Obwohl sie Franks Zorn in der Auseinandersetzung mit seiner Frau nachvollziehen kann („I understand him being mad, everything he worked in cooperation with Russia vanished ”), antwortet die Jugendliche auf die Frage, ob sie Frank oder Claire zustimme, Folgendes: Of course Claire […] he should at least acknowledge that the thing she did was very noble of her. It was a good thing with good intention. It was to fight for justice. Also it [is] so frustrating to hear if one person takes his life that it is a small matter and that he [=Frank] is glad he [=Corrigan] died. How can a president say such words and how can you as a woman stand behind him (VJ 3). 218 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="219"?> Für Anastasia steht außer Frage, dass Claire moralisch richtig handelte und sie versteht nicht, wie die Protagonistin an Franks Seite bleiben kann. Die Schülerin erklärt, dass sich ihre Einstellung zu Claire nach der Corrigan-Folge verändert habe: I was always so torn. I didn’t know if I liked her or not. Sometimes she did reasonable things and sometimes she did Frank like things which […] made me hate her like the dispute with Gillian or with Evelyn. But that [= Claire’s behaviour in the Corrigan Chapter] made me look at her like a human again as we established Frank is not […]. Because she showed empathy towards him [= Michael] she took the time, talked to him tried to persuade him for his own good (VJ 3). Die Differenzierung der Schülerin zwischen „reasonable things“ und „Frank like things“ zeigt, wie sehr Anastasia die „Dinge“ widerstreben, die sie Frank und seinem Handeln zuschreibt. Darüber hinaus streitet sie ihm mittlerweile jegliche Menschlichkeit ab, wohingegen Claire in ihrer Begegnung mit Corrigan ihre empathische Seite offenbart habe. Auch bei den anderen Auseinandersetzungen der Underwoods positioniert sich Anastasia auf Claires Seite, identifiziert und solidarisiert sich mit ihr. Die Jugendliche hat z. B. Verständnis für die Protagonistin, als diese in Chapter 10 (S01E10) ein Verhältnis mit einem anderen Mann hat: „She did everything he [=Frank] wanted and she stayed always on his side but in return [he] couldn’t do a little thing for her. Yes, I can totally [understand Claire]” (VJ 1). Als Claire Frank im letzten Kapitel von Staffel 3 (S03E39) verlässt und die Worte „I’m leaving you, Francis“ an ihren Mann richtet, reagiert Anastasia begeistert und lässt ihrer Schadenfreude freien Lauf: The best words I have heard so far. Finally someone that close to him hurts him in an emotional way but also career wise it won’t be good for Frank. Who would want a president whose wife divorced him because he is such a monster (VJ 3). Mit der Bezeichnung Franks als Monster möchte die Jugendliche vermutlich seine Unmenschlichkeit ein weiteres Mal unterstreichen. Anastasias Wunsch für Staffel 4 lautet: „The producers are going to make them [= the Underwoods] enemies which I desperately hope“ (VJ 3). Die Schülerin wünscht sich folglich eine starke Gegenkraft, die im Kampf gegen Frank eine Chance hat und dies traut sie Claire zu. 6.3.5.4 Identifikation mit „den Guten“ Kein(e) andere(r) Seminarteilnehmer(in) urteilt so streng und konsequent über Richtig und Falsch wie Anastasia. Während Frank in den Augen der Schülerin 219 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="220"?> das Böse repräsentiert, verkörpern die Journalisten das Gute, auf dessen Sieg die Jugendliche bis zum Schluss hofft. Anastasia sagt dazu im Interview: „die [Reporter] waren ja grad dabei, die truth aufzudecken … und ich wollte, dass des auch paper-mäßig rausgeht und dass des dann jeder lesen kann“ (IV). Als einzige Schülerin wünscht sich Anastasia den uneingeschränkten Sieg der Journalisten über Frank. Dieser Wunsch bleibt unerfüllt, da Frank die Reporter in Staffel 2 unschädlich macht. Das ist der Grund für folgende Äußerung Anastasias: „I miss the journalists and them seeking for justice. Also I think I liked season 1 better because season 2 was very sad just overall […] to see them [=the reporters] suffer because of Frank […]” (VJ 2). Bezüglich Staffel 3 hält die Schülerin fest, dass sie sich am meisten über die Rückkehr „of my beloved journalists“ (VJ 2) freuen würde. Die Verwendung des Attributs „beloved“ lässt keinen Zweifel an der emotionalen Bindung Anastasias an die Reportergruppe. Neben einer unverkennbaren Tendenz zur moralischen Evaluation zeigt Anastasia auch eine stark affektiv geprägte Grundhaltung beim Schauen von HoC. Die Jugendliche äußert in ihren Viewing Journals auffallend oft Emotionen wie Mitleid, Mitgefühl, Trauer, Entsetzen und Zorn. Die Schülerin identifiziert sich mit den Guten der Geschichte (also beispielsweise mit den Journalisten sowie mit dem Ex-Präsidenten Walker und seiner Frau) und will diese Menschen nicht leiden sehen. In Staffel 3 etabliert sich Heather Dunbar als moralische Instanz unter den HoC-Politikern, was sie zu einer gefährlichen Gegenspielerin Franks macht. Dunbar, die zunächst US Solicitor General ist und dann als demokratische Präsidentschaftskandidatin gegen Frank antritt, wird für Anastasia aufgrund ihrer Integrität zur moralischen Leitfigur. In der einzigen Szene (Staircase Scene, Chapter 38: S03E12: 23‘55‘‘ - 26‘33‘‘), in der Dunbar von ihrer rechtschaffenen Art abweicht, indem sie versucht, Frank zu bestechen, hält Anastasia dennoch zu ihr: […] she now uses ulterior methods to get what she wants. She wants him [= Frank] to resign if not she is going to make public that Claire lied about her abortion. She is now acting like Frank digging for something [for the purpose of] blackmailing. […] if I had to choose who would be president it would be her that is […] why I am partly ok with [her blackmailing him] because she wants to get rid of him (VJ 3). Die Abneigung der Schülerin gegenüber Frank ist mittlerweile so stark, dass sie bei Korruptionsversuchen ein Auge zudrückt, wenn diese der Ausschaltung Franks dienen - für Anastasia heiligt in diesem Fall also der Zweck die Mittel. Als Frank in Chapter 37 (S03E11) seine Anhänger Remy und Jackie verliert, freut sich die Schülerin darüber: „I celebrated the fact that he lost Remy and Jackie as his 220 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="221"?> companions. He finally gets what he deserves“ (VJ 3). Die Hoffnung, dass Frank seine verdiente Strafe bekommt, wird zu Anastasias entscheidendem Anreiz, der dafür sorgt, dass sie die Serie weiterschauen möchte, was im Folgenden kurz beleuchtet werden soll. 6.3.5.5 Hoffnung auf Gerechtigkeit als Motiv beim Serienschauen Obwohl für Anastasias Auseinandersetzung mit HoC ein stark ausgeprägter Gerechtigkeitssinn charakteristisch ist, mindern die in der Serie dargestellten Ungerechtigkeiten und Verstöße gegen die Moral nicht ihre Lust am Schauen. So hält die Schülerin beispielsweise am Ende von Chapter 14 (S02E01) - trotz ihrer starken Kritik an Frank und dessen Mord an Zoe - fest: „I loved it [=Chapter 14] […] as I come to learn with this show they always find a way to surprise me“ (VJ 2). Offensichtlich lässt sich Anastasia gern überraschen, wenn es um einen spannungsgeladenen Staffelauftakt geht. Trotz der Verachtung Franks bringt Anastasia Begeisterung für die Serie als Gesamtwerk auf, wobei die Tabubrüche dabei keine unwichtige Rolle spielen. Dazu sagt die Schülerin im Interview: Wenn ich ehrlich sein soll … ich glaub ohne diese Szenen [Mord, Betrug etc.] wär’s schon langweilig gewesen. Weil in jeder Serie passiert immer irgendetwas, was out of the norm ist, und das ist halt das, was eine Serie interessant macht. VOR ALLEM, weil’s um eine politische Serie geht. […] Mich hat das dann voll zum Weiterschauen animiert (IV). Die Jugendliche tritt folglich mit einer leicht voyeuristisch erscheinenden Er‐ wartungshaltung an moderne Serien heran. Insbesondere eine Politdramaserie kann sie sich ohne dramatische Aspekte in Form von Tabubrüchen nicht vorstellen. Allerdings wartet Anastasia nach solchen Normverstößen nicht auf den nächsten Schockmoment, sondern sie möchte HoC weiterschauen, um zu sehen, wie Frank für seine Fehler bestraft wird: „Ich hab ja immer auf den downfall von ihm gehofft … I’m waiting for it! Da muss Gerechtigkeit her und das will ich sehen! “ (IV). Die Schülerin schaut also - im Gegensatz zur Mehrheit der Seminarteilnehmenden - die Serie nicht mit der Hoffnung auf Franks nächste Untat bei seinem Siegeszug, sondern mit dem ausdrücklichen Wunsch nach Gerechtigkeit. Anastasias Motivation bei der Rezeption von HoC unterscheidet sich damit grundlegend von der ihrer Mitschüler/ innen. 6.3.6 Entwicklung sprachproduktiver Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit House of Cards: Sprechen und Schreiben Als die Schülerin im Interview ihren Lernzuwachs einschätzen soll, hebt sie vor allem hervor, wie sehr sie von der Kommunikation - sowohl schriftlich als auch 221 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="222"?> mündlich - im Anschluss an Szenen der Serie HoC profitiert habe. Hinsichtlich der Verbesserung ihrer Sprech-Kompetenz hält Anastasia fest: Im W-Seminar konnt ich Sprechen trainieren … sonst hat man des halt nur auf Deutsch, dass man mit Freunden nach einem Film redet … und da verwend ich dann viel die Anglizismen, von denen ich nicht mehr wegkomm [lacht], aber das Gespräch ist auf Deutsch, klar. […] Im W-Seminar hatten wir halt die Praxis … wir konnten dann einfach auch echt drauflosreden und unsere Meinung dazu sagen … und das Besondere ist, dass es halt valuable war, also das wurde dann auch gewertschätzt, was wir gesagt haben […]. Dieses offen Drauflosreden im W-Seminar, das hat auch den meisten von uns gefehlt in Englisch und des hat auch am meisten Spaß gemacht. Und ich hab dadurch auch am meisten gelernt (IV). Besonders interessant an obiger Äußerung ist der Teil, in dem die Schülerin betont, dass es für sie von zentraler Bedeutung sei, dass ihre Beiträge im Unterricht von der Lehrkraft geschätzt werden. Anastasia möchte also nicht nur reden, sondern sie möchte auch gehört werden. Nur so entstehen bei der Schülerin ein Mitteilungsbedürfnis und das Gefühl eines echten Gesprächs in der Fremdsprache. Eine solche Art der Kommunikation grenzt die Schülerin von der Künstlichkeit folgender Gesprächsdynamik ab: „So Pseudofragen vom Lehrer, auf die er EINE bestimmte Antwort hören will. Das gibt es so oft, grad auch in Englisch, und das nervt einfach. Dann braucht er [=der Lehrer] sich nicht wundern, wenn niemand mehr mitmacht“ (IV). Hinsichtlich des W-Seminars sieht Anastasia eine Verbindung zwischen der positiven Gesprächsdynamik und dem Aufblühen schüchterner Jugendlicher: Der Unterricht hat echt viel Spaß gemacht und war nie langweilig. Auch mit den Leuten, die drin waren, muss ich sagen. Also manche … zum Beispiel Philip oder Sven, die sind ja auch richtig aufgeblüht … also was die manchmal sagen, da bin ich richtig baff. Und des kommt dann auch mit so ner anderen Perspektive, wo ich jetzt nicht gleich dran gedacht hätte … und ich find, da wir halt als Gruppe so diverse waren und … da wir halt immer über unsere Meinungen reden durften, ja und halt auch ermutigt wurden … erweitert das unseren Horizont halt auch (IV). Für Anastasia ist also nicht nur das Äußern ihrer persönlichen Meinung im Unterricht wichtig, sondern sie schätzt es auch, wenn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler deren Ansichten mitteilen. Dadurch, dass im W-Seminar viele Jugendliche bereit sind, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, entwickeln sich intensive Phasen der Anschlusskommunikation, in denen die Lernenden sich gegenseitig zuhören und im Austausch miteinander Bedeutung konstru‐ 222 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="223"?> 77 Dies erwähnt die Schülerin an etlichen Stellen lobend - beispielsweise in folgendem Feedback: „I am fascinated, how you both [Mrs Potter and Ms von Finckenstein] manage to structure the lessons […] where we share our opinions each from a different perspective and for treating us as equals. I am always looking forward to Wednesday’s thank you both for that […]” (VJ 2). Um den Eindruck der Schmeichelei zu vermeiden, fügt Anastasia noch hinzu: „not saying that to soft-soap you I am just letting you know my honest opinion! “ (VJ 2). ieren. Als Voraussetzung dafür sieht Anastasia eine angstfreie Kursatmosphäre, welche die Schülerin am W-Seminar mehrfach positiv hervorhebt. 77 Neben ihrer Sprech-Kompetenz sieht Anastasia auch eine Verbesserung in Bezug auf ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit: Ich merk auch … schriftlich zum Beispiel, wo wir dann die Viewing Journals machen mussten, [da hat] man sich halt auch schriftlich mega verbessert […]. Auf jeden Fall! Die Viewing Journals haben mir da voll geholfen. […] Man musste halt für das Journal die Sätze schon bisschen schöner umformen, deshalb bin ich auch ganz froh, dass ich die Seminararbeit auf Englisch schreiben darf […]. Mir gefällt halt die englische Sprache und ich möchte das auch in der Sprache lernen, dass es halt so classy klingt und nicht so urban - besonders wenn ich was schreibe (IV). Die von der Schülerin beschriebene Verpflichtung („man musste halt für das Journal die Sätze schon bisschen schöner umformen“) wird den Seminarteil‐ nehmenden nicht von den Lehrkräften auferlegt, sondern von Anastasia für ihre Einträge als Anspruch an sich selbst festgelegt. Die Jugendliche möchte demnach ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit durch ein gehobenes Register optimieren. Dabei bemüht sie sich beispielsweise um eine bildhafte Sprache, was in folgendem Eintrag deutlich wird: „Claire planted a seed in the First Lady’s head and this seed is beginning to grow with every time she sees the President and Christina together. […]“ (VJ 2; meine Hervorhebung). Darüber hinaus geht die Jugendliche davon aus, dass ein gehobener Schreibstil mit längeren und komplexen Sätzen einhergehen müsse (vgl. IV). Dies führt stellenweise dazu, dass Anastasia sich verzettelt und ihre Satzkonstruktionen zu verschachtelt werden, was zum Beispiel in folgendem Eintrag der Fall ist: We have seen what Frank’s capable of, just take Peter and Zoe as an example they started off as friends as partners and now because both of them crossed an invisible line that Frank made up and now they are dead so I think it’s even worse if you befriend him because when you’re close to him that is where you can hurt him which will lead to horrible consequences (VJ 2; meine Hervorhebung). 223 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="224"?> 78 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob bzw. inwieweit korrekte Kommasetzung im FSU behandelt wird. Die Einträge der SuS in ihren Viewing Journals weisen diesbe‐ züglich Mängel auf. Um dem Wunsch der Lernenden nach einer möglichst perfekten Ausdrucksfähigkeit nachzukommen, sollten im EU der Sekundarstufe II zumindest Grundregeln der Interpunktion thematisiert und vermittelt werden. Auch wenn die Bemühungen der Schülerin um idiomatische Wortwahl (siehe Hervorhebungen) erkennbar sind, mindern die Satzlänge und der Verzicht auf Kommas die Qualität und Verständlichkeit des Eintrags. Die Viewing Journals werden von Frau Potter und mir korrigiert und mit ausführlichem Feedback versehen. Auf diese Weise wird Anastasia darauf aufmerksam gemacht, wie sie ihre Schreib-Kompetenz verbessern könnte (z. B. Vermeidung von Schachtel‐ sätzen, Achten auf korrekte Interpunktion, Verwendung von Satzkonnektoren). Dies setzt die Schülerin im Viewing Journal zu Staffel 3 häufig um, was ich an einem Beispiel verdeutlichen möchte: Like here for example we have Kate who is writing about Frank’s tyrannical presidency even comparing him to the upcoming hurricane. She is one of a few who has seen through Frank’s fake façade how he uses fear to get his power. Then on the other hand we have Tom who writes about Frank’s journey in a kind of magical way […] (VJ 3; meine Hervorhebung). Anastasia versucht, in weniger ausufernden Sätzen zu schreiben und die Sätze durch passende linking words zu verknüpfen. Dies setzt die Jugendliche an zahlreichen Stellen im Viewing Journal zu Staffel 3 um, wobei „on the one hand - on the other hand“, „that’s why“, „in the end“, „finally“ und „instead“ zu den von ihr am häufigsten gebrauchten Konnektoren zählen. Hinsichtlich der Kommasetzung im Englischen zeigen sich in den Viewing Journals Anastasias (wie auch in den Journals vieler anderer SuS) weiterhin erhebliche Defizite. 78 Die Jugendliche erklärt im Interview, dass sie nach der Bearbeitung der Viewing Journals ihre Einträge meist noch einmal durchgegangen sei, um „gewisse Sachen zu überarbeiten und schöner zu formulieren“ (IV). Lediglich die Ausformulierung von Stichpunkten in ganze Sätze mindert die Schreiblust der Schülerin: Es war halt am Ende manchmal so, dass ich nach dem Schauen mehrere Fragen nur in Stichpunkten beantwortet hatte … und sich dann nochmal hinzusetzen und des nochmal zu schreiben und schön auszuformulieren … puuuhhh [lacht] (IV). Nichtsdestotrotz sieht Anastasia in solchen Anstrengungen den Grund für ihre verbesserte Schreib-Kompetenz: „Durch die Journals hab ich Schreiben auf Eng‐ lisch gelernt, also wie man gehoben schreibt“ (IV). Neben diesem Lernzuwachs 224 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="225"?> (Know-How) entwickelt die Jugendliche beim Verfassen der Einträge für ihre Viewing Journals zunehmend Freude am Schreiben, was sich auch in ihren immer länger und ausführlicher werdenden Einträgen widerspiegelt. Dabei greift sie sowohl in ihren Viewing Journals als auch in ihrer Seminararbeit des Öfteren auf Wendungen zurück, die sie beim Schauen der Serie „aufschnappt“: z. B. „Trump was born with a silver spoon in his mouth“ (SA; Vorkommen in HoC bei der Debatte in Chapter 37: S03E11; meine Hervorhebung). 6.3.7 Zusammenfassung Anastasia kann aufgrund der vielen Sprachen, die sie spricht, als multilingual bezeichnet werden. Die Schülerin ist interessiert daran, ihre fremdsprachlichen Kenntnisse konstant zu verbessern, wofür sie authentische audiovisuelle Me‐ dien nutzt. In der Auseinandersetzung mit HoC wächst das sprachliche Selbst‐ bewusstsein der Schülerin, was ihr als Anstoß dient, zunehmend anspruchsvolle und komplexe Serien (mit einer besonderen Vorliebe für Netflix-Originals) auf Englisch zu schauen. Anastasia entwickelt beim Schauen von HoC eine kritische Distanz zu Frank, welche mit ihrem stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und dem daraus resul‐ tierenden moralischen Überlegenheitsgefühl ihm gegenüber zusammenhängt. Die Schülerin reagiert äußerst sensibel auf moralisch-ethische Verstöße und hofft permanent auf einen Sieg der Guten über die Bösen. Kritische Distanz klingt auch in Anastasias Vorwürfen hinsichtlich des regulären EU an. Die Jugendliche differenziert explizit zwischen regulärem EU und W-Seminar, wobei sich letzteres vor allem durch die Ermöglichung echter Kommunikation abhebe. Dabei betont Anastasia, wie wichtig ihr das Sprechen in der Fremdsprache sei und wie positiv sich die Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung im Seminar auf ihre Sprech-Kompetenz ausgewirkt habe. Spre‐ chen ist für Anastasia untrennbar an ein Zuhören aufseiten der Lehrkraft gekoppelt. Die Möglichkeit, auf Englisch reden zu dürfen und mit der eigenen Meinung ernst genommen zu werden, stellt für die Schülerin eine neue Erfah‐ rung dar, die sich positiv auf ihre funktional-kommunikativen Kompetenzen ausübt. Neben dem Sprechen baut Anastasia auch ihre Schreib-Kompetenz aus, wobei die Viewing Journals hier eine Schlüsselrolle spielen. Ebenso wie beim Sprechen motiviert die Schülerin der Gedanke, dass sie ihre Ansichten zur Serie offen und ehrlich äußern darf. 225 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="226"?> 6.4 Fallbeispiel Stefan 6.4.1 Hintergrundinformationen Stefan ist zum Zeitpunkt des Interviews 17 Jahre alt. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater wurden in Deutschland geboren. Beruflich hat Stefan ein konkretes Ziel vor Augen: Er möchte BWL studieren und Steuerberater werden. Englisch ist eines seiner Lieblingsfächer mit der Einschränkung, dass das Fach sehr lehrerabhängig und die Benotung für ihn seit der Oberstufe nicht immer nachvollziehbar sei. Als Interessen und Hobbies nennt der Schüler das Schauen von Serien, wobei er Game of Thrones, HoC und Haus des Geldes als seine „Top 3“ (IV) angibt. Hinsichtlich seines Medienkonsumverhaltens betont Stefan, dass er Serien immer auf Englisch - deutsche Synchronstimmen empfindet er nämlich als „nervig“ (IV) - und darüber hinaus ohne Untertitel rezipiert. Untertitel würden ihn vom Bild ablenken, auf das er sich konzentrieren möchte, um alle Details wahrnehmen zu können. Besonders gern schaut Stefan Serien mit seinem Netflix-Account, womit er täglich ein bis zwei Stunden verbringt (vgl. FB). Die Serie HoC stellt für den Jugendlichen den entscheidenden Beweggrund für die Wahl des W-Seminars dar. Während Stefan in den Viewing Journals sehr ausführliche Einträge verfasst und die Möglichkeit der Anschlusskommunika‐ tion schätzt (vgl. IV), hält er sich im Unterricht meist zurück und beteiligt sich selten an Diskussionen. 6.4.2 Politische Positionen und Dimensionen politischen Lernens: „politisches Wissen wurde von der Serie GUT rübergebracht“ Im Fragebogen gibt Stefan US-Politik als den Themenbereich an, der ihn am W-Seminar am meisten interessiert. Er begründet dies damit, dass die Behandlung von Politik im Seminar mit Hilfe der Serie ihm einleuchte, da er beim Schauen der ersten Staffel bereits „die Intrigen zu spüren bekommen“ (FB) und diese als realistisch empfunden habe. Stefan assoziiert Politik demnach mit Intrigen, was eine eher skeptische Grundhaltung gegenüber Politikern vermuten lässt. Insgesamt sieht Stefan Politik „definitiv als wichtigstes Thema“ (IV) der Serie und gemäß seiner Selbsteinschätzung handelt es sich auch um den Bereich, in dem er am meisten dazu gelernt habe. Der Jugendliche gibt zu, sich vor dem Seminar kaum mit Politik beschäftigt zu haben. Seit Beginn des W-Seminars interessiere er sich jedoch mehr dafür, sei diesbezüglich „aufgeklärter“ (IV) und habe insgesamt ein besseres Verständnis für US-Politik entwickelt. Inwieweit sich diese Einschätzung des Schülers im Datenmaterial widerspiegelt, soll im Folgenden untersucht werden. 226 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="227"?> 79 Für Politikerinnen in den USA sieht Stefan die Notwendigkeit, eine möglichst vorzeig‐ bare Familie vorweisen zu können. So hält der Schüler beispielsweise zur Politikerin Jackie Sharp fest: „[…] she will need to get married in order to get the people’s support, because a happy family (even if it’s only fake) is one of the best things a female candidate has as a ‘weapon’ […]” (VJ 3). Im Viewing Journal zu Staffel 3 wird deutlich, dass der Schüler mit amerika‐ nischer Politik eine Scheinwelt assoziiert, in der „[a politician] would never show his true face to anyone“ (VJ 3). Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein im politischen Kontext stellt Stefan in seiner Auseinandersetzung mit der Serie immer wieder fest. So beobachtet der Schüler beispielsweise, dass Frank für Gott Verachtung empfindet (vgl. VJ 3), aber dass er dies als Präsident der Vereinigten Staaten nicht zeigen darf: „In the political struggle for power it doesn’t matter if you believe in god or not, you just have to act like you do […]“ (VJ 3). Stefan sieht Politiker demnach als Schauspieler, die gezwungen sind, ihre tatsächlichen Gefühle und Gedanken zu verstecken, um ihr Ansehen in der Öffentlichkeit zu wahren und eine Chance „in the struggle of power“ (VJ 3) zu haben. 79 In der wiederholt vom Jugendlichen verwendeten Äußerung „the political struggle for power“ (VJ 3) spiegelt sich eine weitere Auffassung des Politischen wider: Stefan setzt US-Politik mit einem Machtkampf gleich, in dem der Politiker die besten Karten hat, der das Spiel mit Sein und Schein perfekt beherrscht (vgl. IV) - und ebendieses Spiel fasziniert den Jugendlichen. Deutsche Politik hingegen „interessiert mich halt gar nicht“ (IV) - dies betont der Schüler wiederholt. Im Viewing Journal zu Staffel 2 äußert sich Stefan an einer Stelle zu politischen Unterschieden, die es seiner Meinung nach zwischen Deutschland und den USA gibt. Die Szene, auf die der Schüler sich bezieht, zeigt den aufkeimenden Skandal, nachdem die Presse von Claires Affäre mit dem Fotografen Adam erfahren hat. Die Underwoods setzen alles daran, die Affäre durch „fake news“ (VJ 2) zu vertuschen, was Stefan treffenderweise als „three phases in their plan to save their image“ (VJ 2) beschreibt. Der Schüler geht davon aus, dass man einen solchen Aufwand im Kontext der deutschen Politik nicht betreiben würde: In my opinion such a huge “circus“ wouldn’t have happened in Germany […]. This is because, at least in my Generation and the people, that I know, doesn’t seem to care that much about the private lives of politicians, they care more about what decisions are made for the country (VJ 2). Stefan ist also der Überzeugung, dass in Deutschland kein großes Interesse am Privatleben von Politikern bestehe; stattdessen seien hier die Entscheidungen von Politikern für ihr Land von zentraler Bedeutung. Damit spricht der Schüler - trotz seines Desinteresses - der deutschen Politik mehr Seriosität zu als der 227 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="228"?> 80 Letztlich kommt der Schüler zu folgendem Schluss: „even though the series is at some points very close to reality, it is still a fictional series“ (SA) und „House of Cards [is] a TV series with a high level of realism“ (SA). US-Politik. Allerdings geht mit dieser Seriosität in Stefans Augen auch ein gewisser „Langweilfaktor“ (IV) einher, den er in Zusammenhang mit amerika‐ nischer Politik nach der Rezeption von HoC nicht mehr sieht (vgl. IV). Die Politdramaserie bewirkt bei Stefan nämlich, „dass Politik dadurch interessanter wurde“, weil „politisches Wissen von der Serie GUT rübergebracht wurde“ (IV). Mit „GUT rübergebracht“ meint Stefan, dass es nicht zu trocken sei, sondern durch Einblicke in zwischenmenschliche Beziehungen und schockierende Mo‐ mente spannender und damit sehenswert werde (vgl. IV). Stefan kann als einer der wenigen Schüler im Interview konkretisieren, was er politisch - neben einigen Fachtermini - durch HoC gelernt habe: Ich versteh zum Beispiel so politische Prozesse und so … Strukturen viel besser […]. Und was mir vorher nie so klar war, war des mit der separation of power, das klang so … naja, abstrakt … und bei House of Cards hab ich dann in Staffel 2 halt echt gesehen, wie Frank von der Judikative befragt wurde … so als Dunbar die ganzen Politiker befragt … und da hatte Frank halt erstmal keinen Einfluss drauf, da war die Judikative isoliert vom Congress […]. Ich würd sagen, die Serie hilft halt, sich in Politik … so’n Stück weit reinzudenken (IV). Dass sich Stefan in die US-Politik tatsächlich „reingedacht“ hat, beweist seine Seminararbeit zum Thema Frank Underwood’s Path to the Vice-Presidency. Der Schüler eröffnet seine Arbeit mit folgendem Zitat von Bill Clinton: „Kevin, 99 % of what you do on that show is real. The 1 % you get wrong is you could never get an education bill passed that fast“ (SA). Von diesem Zitat ausgehend, untersucht Stefan, wie realitätsnah die erste Staffel von HoC hinsichtlich ihrer Darstellung von Politik tatsächlich ist. 80 Dafür legt der Schüler das politische System der USA zunächst theoretisch fundiert dar; anschließend konzentriert er sich auf drei politische Handlungsbögen von HoC (Stefan nennt diese „story arcs“), die als wichtige Eckpfeiler auf Frank’s path to the Vice-Presidency fungieren: „removing the Speaker of the House, Bob Birch from office“ (SA), „the process of Frank’s education bill passing“ (SA) und schließlich Franks Errungenschaft des Vizepräsidentenamtes. Hinsichtlich der ersten beiden Handlungsbögen kommt Stefan zu dem Schluss, dass diese realpolitisch zwar unwahrscheinlich, aber durchaus möglich wären. Der vom Jugendlichen gewählte dritte „story arc“ hingegen, der die „vice-presidential inauguration“ (SA) umfasst, ist laut Recherche des Schülers realpolitisch so nicht denkbar; hierbei bezieht sich Stefan vor allem auf das von Frank geäußerte Aside: „One heartbeat away 228 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="229"?> form the presidency and not a single vote cast in my name. Democracy is so overrated“ (Chapter 15: S02E02, 46’53’’). Der Schüler stellt fest: „both, the House of Representatives and the Senate, do have to vote in order to approve the next Vice-President” (SA). Stefan versucht, für diesen von der politischen Realität abweichenden Handlungsstrang eine Erklärung zu finden: But why is this last step, even though seemingly wrong, shown nevertheless? In my opinion this last act was, although deviating from reality, shown in order to create an almost flawless path to power. This in turn supports the image of Frank being a mastermind, who does not need the help of others and instead controls them just like a chess player his chessmen (SA). Diese Erklärung des Schülers unterstreicht seine Faszination für Frank und dessen Zielstrebigkeit, was im Folgenden genauer analysiert werden soll. 6.4.3 Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie 6.4.3.1 Diabolische Faszinationskraft: „shocking but still fascinating“ Am meisten schätzt Stefan an HoC die Charaktere, deren zwischenmenschliche Beziehungen und deren Intrigen auf dem Weg nach oben. Die Begeisterung des Jugendlichen für die Serie zeichnet sich bereits in seinem ersten Eintrag im Viewing Journal zu Staffel 1 ab: „In my opinion the first scene of ‘House of Cards‘ is brilliant. They are able to show Frank Underwood’s cold-hearted and cool-headed personality in just a few shocking but still fascinating minutes“. Der Jugendliche erkennt die Funktion der Opening Scene als spannenden Auftakt des Politdramas, da der Protagonist den Zuschauenden erstmals auf einprägsame Weise präsentiert wird. Aus der Anfangsszene schließt Stefan, dass Frank eine „very smart person“ (VJ 1) ist. Trotz vereinzelter Momente der Distanzierung von Frank entwickelt Stefan in der Auseinandersetzung mit den Staffeln 1 und 2 eine zunehmend bedingungslose Faszination für den Protagonisten. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie der Schüler auf die Ermordung Peter Russos im Viewing Journal reagiert: After Peter tried to get himself in jail Frank picked him up and drove him home. He waited till Peter fell asleep in his car and locked him in his garage while the engine was still turned on, so that it seemed like Peter suicided. I didn’t expect that to happen (VJ 1). Stefans Reaktion auf die Mordszene kann als gelassen und neutral bezeichnet werden - vor allem, wenn man sie mit dem explizit geäußerten Schock des Schülers vergleicht, nachdem Frank seine Frau mit Zoe betrogen hat (vgl. 229 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="230"?> VJ 1). Stefan benutzt Wörter wie murder oder kill an keiner Stelle und macht stattdessen Peter zum Aktanten: „Peter suicided“. Die im Aktiv gebrauchten Verben, welche der Schüler in Zusammenhang mit Frank wählt, sind: „Frank picked him up and drove him home. He waited […] and locked him“. Das eigentliche Verbrechen Franks, das Wiederanschalten des Motors in der Tief‐ garage, formuliert Stefan interessanterweise als Passivkonstruktion (Partizip Perfekt Passiv): „the engine was still turned on“. Franks Aktionen, die von Stefan als picking him up, driving him home und waiting till he falls asleep beschrieben werden, implizieren fürsorgliche Absichten des Mannes, der in dieser Szene zum Mörder wird. Dies lässt den Rückschluss zu, dass der Schüler sich Franks Handeln in der Szene schönredet. Dieser Eindruck verstärkt sich, als Stefan die letzte Szene von Chapter 11 (S01E11), in dem die Ermordung stattfindet, völlig missversteht - zugunsten Franks. In der Szene treten Frank und Claire vor die Presse und halten eine scheinheilige Ansprache darüber, wie sehr sie Peter vermissen werden und was für ein guter Freund er ihnen gewesen sei. Filmisch wird diese Rede umgesetzt, indem nach wenigen Minuten eine Abblende zum black screen vorgenommen wird, so dass Franks und Claires Worte zwar weiterhin vernehmbar, aber die beiden für die Zuschauenden nicht mehr sichtbar sind. Stattdessen setzt auf dem schwarzen Bildschirm bald der Abspann ein, akustisch immer noch begleitet von der Rede im Hintergrund. Auf die dazu gehörende Frage im Viewing Journal („How do you interpret the black screen when Frank and Claire start telling the press about Peter? ”) antwortet Stefan: I would say that the black screen was made so that we won’t be distracted by anything and will just focus [on] the words Claire and Frank said. That shows us how both of them really felt about Peter’s death and that it isn’t easy for either of them (VJ 1). Stefans Eintrag macht deutlich, dass der Schüler Frank und Claire ihre ge‐ heuchelten Worte nicht nur abkauft, sondern mit ihnen sogar Mitgefühl hat (vgl. „it isn’t easy for […] them“). Aus diesem Grund kann hier von einer blinden Faszination Stefans für Frank Underwood gesprochen werden. Damit einhergehend entwickelt der Schüler eine Art Beschützerinstinkt für Frank. Auf die Frage, was er an HoC kritisieren würde, antwortet der Jugendliche: „[…] I am not quite sure what I would criticize, because the only thing that bothers me are the threats like Janine, Zoe and so on, but that isn’t something you can criticize” (VJ 1). Stefan empfindet also die Journalisten ( Janine, Zoe, Lucas und Tom), die Frank nach Peters Ermordung verdächtigen und Beweismaterial sammeln, als Bedrohung. Dies erscheint paradox, da die Reporter die Wahrheit publik machen wollen und gegen die Gefahr arbeiten, die in der Serie von Frank 230 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="231"?> ausgeht. Stefans Wahrnehmung ist jedoch eine andere, was sich auch in der Antwort auf die Frage nach seinen Lieblingscharakteren widerspiegelt: My favourite character is of course Frank Underwood, whom I simply love because of his ruthlessness and the boldness he shows when there are all or nothing situations, his way of dealing with threats, especially the shocking, but still fascinating scene of Peter’s death (VJ 1). Die starke affektive Zuneigung, die Stefan für die fiktive Figur Frank Under‐ wood empfindet, zeigt sich auch in seiner Verwendung des Verbs „love“, das zudem durch das attributiv gebrauchte Adverb „simply“ verstärkt wird. Diese Wortwahl überrascht bei dem ansonsten eher sachlich anmutenden Schreibstil des Schülers. Darüber hinaus benutzt Stefan erneut das Wort „threat“ und abermals richtet sich die Bedrohung in der Wahrnehmung des Schülers gegen Frank. Selbst der Tod von Peter scheint für Stefan die logische Konsequenz der Gefahrenbeseitigung durch Frank gewesen zu sein. Der Schüler gebraucht das Wort „threat“ noch zahlreiche weitere Male auf ähnliche Weise, auch noch neun Kapitel später, im Viewing Journal zu Staffel 2: […] I always felt the threat of “the journalists“ and it was very interesting to see how they tried to find out what crimes Frank actually did and how they could prove it, but even through it was interesting to watch I still wanted Frank to win. This is firstly because of the fact, that I always liked Frank the most, so seeing his favourite character suffer, who would actually want such a thing? Stefan räumt in seinem Eintrag ein, dass er den Nervenkitzel, den die Journa‐ listen durch ihre Ermittlungen gegen Frank bewirken, als spannend empfunden habe („very interesting to see“). Dennoch will der Schüler, dass Frank die Überhand behält und gewinnt. Stefan gibt dafür zwei Gründe an: Zum einen verpackt er die Ansicht, dass niemand seine Lieblingsfigur leiden sehen möchte, als rhetorische Frage. Zum anderen stellt Stefan fest, dass die Konsequenz von Franks Inhaftierung für die Serie dramatische Folgen hätte: […] what would have happened from then on? Frank would have come to prison and […] we would have gotten a story about Zoe or if we talk about the post-Zoe journalist crew […] it would even be more boring. A story about Tom Hammerschmidt, Lucas Goodwin and Janine Skorsky stretching over 2 seasons, I couldn’t care less (VJ 2). Für Stefan sind die Journalisten also nur Beiwerk, das letztlich nichts zur Sache tut, da für ihn nur das Vorankommen und der Sieg Frank Underwoods zählen. Dementsprechend gibt der Schüler als seine Lieblingsfolge Chapter 26 (S02E13), das „imposing, last chapter“ (VJ 2) der zweiten Staffel, an, welches Franks Über‐ 231 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="232"?> queren der Ziellinie repräsentiert: „all of Frank’s schemes finally bring him to his destination […] as [the] most powerful man in the world“ (VJ 2). Der Jugendliche ist von Frank so fasziniert, dass er in seinen Viewing Journal-Einträgen mitunter auf Zitate des Protagonisten zurückgreift, um Fragen bestmöglich beantworten zu können. So lautet Stefans Antwort auf die Frage, „Do you think Garrett Walker is a good president? Why / why not? ”, folgendermaßen: In my opinion Garrett Walker is not a good president. The two things that have the most impact on my decision are firstly, that he is “like a lone tree in an empty field. He leans whichever way the wind is blowing (Frank Underwood Chapter 15), that means, that he is very easily influenced by others (VJ 2). Der Schüler gibt hier den exakten Wortlaut von Franks Aussage wieder, was die Wirkkraft der Asides unterstreicht, mit denen Frank Stefan zum Komplizen seiner Handlungen und willigen Empfänger seiner Botschaften macht. Stefan fühlt sich durch die Asides persönlich angesprochen und emotional stark in das Geschehen involviert. Der Schüler ist vor allem gefesselt durch „the eye contact he made with us“ (VJ 2), wobei die Wortwahl des Personalpronomens „us“ Stefans intensives Serienerlebnis unterstreicht. 6.4.3.2 Distanzierung und Emanzipation: „Glück und Freizeit sind halt schon wichtiger als […] viel Kohle machen“ Trotz seiner offensichtlichen Faszination für Frank während des Schauens von Staffel 1 und 2 distanziert sich Stefan im einige Monate später stattfindenden Interview von der Lebensweise Franks: Das war so das, was ich vielleicht am meisten aus der Serie mitgenommen habe … so: Was ist für mich denn wichtig im Leben? Geld oder Macht oder eben Freunde und Freizeit? Und dann ist mir aufgefallen … ok, das Leben ist echt verdammt kurz und man kann natürlich die ganze Zeit arbeiten und so … aber am Ende […] ist es doch wichtiger […], glücklich zu sein … Also ich find halt, es reicht auch ein kleines Auto oder so … Das ist eigentlich voll egal, es ist halt echt wichtiger, glücklich zu sein (IV). So sehr Stefan Franks steile Karriere bewundert, so sehr unterscheidet sich die Lebensphilosophie des Schülers letztlich von der des Politikers. Stefan geht es weder um Macht noch um Geld, sondern um nicht-materielle Werte wie Freundschaft und privates Glück. Der Grund für Stefans Distanzierung hängt mit der Trennung der Underwoods in Staffel 3 zusammen. Dazu hält der Jugendliche Folgendes fest: „[…] the characters I learned to love changed over the course of season 3. This especially concerns Claire and Frank Underwood; the once almost perfect couple does now seem like two strangers bond together 232 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="233"?> 81 Dieser Punkt hätte sich auch als Unterpunkt zu 6.4.3.1 angeboten, da sich die Doppelmoral des Schülers aus der Faszination für Frank ergibt. Die Einordnung unter 6.4.4 erschien mir aber sinnvoller, da ich mit dieser Arbeit das Ziel verfolge, kognitiv-affektive Prozesse aufzuzeigen und Punkt 6.4.4.1 in engem Zusammenhang mit 6.4.4.2 zu sehen ist. Mit der hier gewählten Anordnung kann die Prozessstruktur innerhalb der Auseinandersetzung des Schülers mit der Serie besser sichtbar gemacht werden. just by name” (VJ 3). Für Stefan ist das in Staffel 3 durch Claires Worte, „I am leaving you Francis“, besiegelte Scheitern der Ehe der Underwoods ein Grund, seine Prioritäten und Wertvorstellungen zu überdenken. Die Tatsache, dass das fast perfekte Paar Franks Machtspielen und seinem Karrierestreben nicht stand‐ halten kann, lässt Stefan erkennen, dass ein anderer Weg besser sein könnte. Dies zeigt zugleich die wertkonservative Grundhaltung des Schülers, der eine glückliche sowie erfüllte Partnerschaft höherstellt als beruflichen Erfolg und Selbstverwirklichung um jeden Preis. In der intensiven Beschäftigung mit der Serie setzt Stefan demnach eigene Prioritäten bezüglich seiner Zukunft, was für seine Emanzipation und eine damit einhergehende Loslösung vom überhöhten Ideal Frank Underwoods spricht. 6.4.4 Moralvorstellungen 6.4.4.1 Doppelmoral: Unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe für Frank und Claire 81 Stefan ist mit Frank nur hinsichtlich des Ehebruchs in moralischer Hinsicht streng, was sich in seiner strikten Verurteilung der Affäre zwischen Frank und Zoe widerspiegelt. Ansonsten zeigt sich in Stefans kognitiv-affektiver Ausein‐ andersetzung mit der Serie eine gewisse Doppelmoral, da der Jugendliche eine geschlechtsspezifische Beurteilung bestimmter Handlungsweisen vornimmt. So lobt der Schüler in Staffel 1 und 2 Franks Intrigen und „his way of dealing with threats“ (VJ 1), wobei dessen Umgang mit vermeintlichen Bedrohungen meist Manipulation sowie Betrug und manchmal sogar Mord beinhaltet - all dies missfällt dem Jugendlichen nicht. Als Claire sich hingegen bei einem Interview von der Reporterin stark in die Enge getrieben fühlt und eine Abtreibung mit einer Vergewaltigung rechtfertigt, obwohl diese in keinem Zusammenhang zueinanderstehen, kritisiert Stefan Claire: „I don’t like that she used a manipulative way to [get what she wanted]“ (VJ 2). Diese Ablehnung bekräftigt der Schüler auch nochmal am Ende der Staffel, indem er Claire als „too manipulative“ (VJ 2) aufgrund ihrer Lügen und ihrer Herzlosigkeit bezeichnet. Stefans Kritik zeigt, dass der Schüler für 233 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="234"?> die Protagonisten der Serie, Frank und Claire, unterschiedliche moralische Bewertungsmaßstäbe ansetzt, wenn es um ihr Verhalten im beruflichen Kontext geht. Bei Frank bewundert Stefan sein Manipulationsgeschick, während er Claire für ihres kritisiert. Auch auf Claires Abfuhr, die sie ihrem ehemaligen Geliebten Adam erteilt, reagiert Stefan schockiert wegen ihrer emotionalen Kälte: „I was quite shocked that Claire could be so cold and ruthless to a man she once loved“ (VJ 2). Diese Äußerung steht in deutlichem Kontrast zu Stefans Reaktionen auf die bisherigen Untaten Franks. Als Grund für das Ausbleiben einer moralischen Verurteilung von Franks rücksichtslosen und manipulativen Manövern nennt der Jugendliche im Interview Franks Asides, mit denen der Protagonist sein Verhalten kommentiert und bisweilen auch rechtfertigt. Auch wenn Franks Asides zweifellos eine wichtige Rolle bei der Zuschau‐ erlenkung spielen, ist es dennoch auffällig, dass Stefan (ebenso wie seine Mitschüler Sven und Philip) für Frauen einen sozialeren Verhaltenskodex als angemessen - oder sogar als verbindlich - zu erachten scheint als für Männer: Wenn Claire herzlos, kalt oder egoistisch agiert, erheben die männlichen Jugendlichen den moralischen Zeigefinger, während sie ein ähnliches Vorgehen bei Frank als Zielstrebigkeit, Stärke und Effizienz auslegen. Diese sich im Datenmaterial deutlich herauskristallisierende Tendenz möchte ich in Kapitel 7.5.2.2 noch genauer beleuchten. 6.4.4.2 Herz über Kopf - Moral über Politik - Claire über Frank Stefan durchläuft hinsichtlich seiner Beurteilung von Claire Underwood eine erstaunliche Entwicklung, da sich seine Einschätzung ihres Charakters in Staffel 3 grundlegend verändert. Ausschlaggebend dafür ist Chapter 32 (S03E06), in dem Claire auf den LGBT-Aktivisten Michael Corrigan trifft, der sich in russischer Gefangenschaft befindet. Von dieser Begegnung zeigt sich Stefan emotional berührt, vor allem als Claire sich nach Corrigans Selbstmord für ihn einsetzt, indem sie seinem letzten Willen entsprechend handelt. Diesbezüglich verfasst der Schüler folgenden Eintrag in seinem Viewing Journal: When I heard her speaking those lines, speaking about how she talked to Corrigan, about what he really wanted, not lying and faking his gratitude, I was very happy and proud of Claire, because she did not make this statement as a politician, faking and covering up Corrigan’s true reason for his suicide, instead she made it as a compassionate human, who respected everything that this now dead person stood for and honoured him by telling the truth (VJ 3). Eine solch positive Äußerung von Stefan zu Claires Charakter findet sich an keiner Stelle in der Auseinandersetzung mit den Staffeln 1 und 2. In Staffel 3 234 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="235"?> 82 Bereits hinsichtlich der Wortwahl „Frank is just a person“ lässt der Abtönungspartikel „just“ auf ein Absinken Franks in Stefans Achtung schließen. bringt die emotionale Intensität der Corrigan-Szenen den Schüler dazu, seine Meinung zu ändern und umzudenken: In this chapter my opinion on Claire drastically changed, because of her courage to stand up to a man, whose believes touched her heart, even though she just knew him for less than a single day. I really love how she, in the world of all this coldness and ruthlessness, made a warm-hearted decision to respect and honour a “simple” man’s legacy, even though she could get the hatred of the two most powerful men [= Frank and Viktor] in the world (VJ 3). In Stefans Antwort spiegelt sich eine für ihn ansonsten eher untypische „Herz über Kopf ”-Tendenz wider, die ihm Claire menschlich und moralisch näher‐ bringt. Für den Jugendlichen stellen Moral und Politik zwei nicht vereinbare Gegenpole dar, wobei Claire die moralische und Frank die politische Seite verkörpert. Während Stefan in Staffel 1 und 2 von nahezu bedingungsloser Faszination für Frank vereinnahmt wird, überzeugt ihn in Chapter 32 (S03E06) Claires „warm-hearted decision“ (VJ 3). 6.4.4.3 Ablehnung von Frank als Villain in der Kirchenszene Die Kirchenszenen der Serie, v. a. Chapter 30 (S03E04, 39‘05‘‘ bis Ende des Kapitels), erweisen sich im Auswertungsprozess als besonders aufschlussreich für die Untersuchung der Moralvorstellungen Jugendlicher. Im Fall Stefan zeigt sich eine deutliche Ablehnung Franks, als dieser ein Kruzifix anspuckt. Der Schüler schreibt dazu: I am still uncertain about how to actually feel about this scene […] Frank sees himself as some kind of powerful being on the same stage as Jesus or even God himself. He doesn’t understand why God wants us to love each other, why he wants us to love even those, that hate us, want to hurt us, maybe even want to kill us. Frank is just a person struggling for power for his selfish reasons and in this scene, I truly feel pity for him which I have never felt before, because it was shown quite clearly, that he is not able to understand how to use his power to help others, not even why he should help them. I didn’t feel the connection with Frank like I normally do (VJ 3). Der Jugendliche bringt seine Enttäuschung und die damit einhergehende Dis‐ tanzierung von Frank in dieser Szene ungewohnt vehement zum Ausdruck; vor allem die zweite Hälfte des Eintrags, eingeleitet mit „Frank is just a person […]“ 82 , lässt keinen Zweifel daran. Religiöse Gründe hierfür können ausgeschlossen 235 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="236"?> 83 Frank bringt politisch gesehen Gesetze auf den Weg, die der Bevölkerung nutzen. In diesem Kontext muss vor allem sein AmWorks-Jobbeschaffungsprogramm erwähnt werden, mit dem Underwood die Arbeitslosigkeit drastisch reduziert. 84 Erst nachdem das Kruzifix auf dem Boden zerbrochen ist und Frank im Begriff ist, die Kirche zu verlassen, richtet er sich mit einem kurzen sarkastischen Kommentar an die Zuschauenden. werden, da Stefan sich im Interview als „nur so zum Teil religiös“ (IV) und diesbezüglich „unempfindlich“ (IV) beschreibt. Tatsächlich stört den Schüler Franks Respektlosigkeit gegenüber Gott weniger als seine Missachtung von Regeln des sozialen Miteinanders wie „help[ing] others“. Dies bewirkt bei Stefan letztlich Mitleid mit Frank - ein Gefühl, das für den Schüler in Zusammenhang mit dem Protagonisten neu und ungewohnt ist. Die Erwähnung seines Mitleids impliziert, dass der Jugendliche sich Frank bei der Rezeption der Kirchenszene menschlich und moralisch überlegen fühlt. Der Eindruck der Unmenschlichkeit Franks in dieser Szene wird dadurch verstärkt, dass er hier nicht als Antiheld mit einem für die Rezipienten nachvoll‐ ziehbaren Ziel agiert. Stattdessen verhält sich Frank während der Kirchenszene wie eine klassische villain-Figur, die Böses um des Bösen Willen tut, so dass es für sein Handeln keine Rechtfertigung gibt. Ein Großteil der SuS, darunter auch Stefan, schätzt an Frank als Politiker vor allem seine Effizienz, womit er „jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (Goethe, Faust), gleicht. 83 Die Kirchenszene zeigt jedoch einen egozentrischen Frank, der ohne Rücksicht auf andere seine Macht ausleben will und für sinnlose Destruktion (Anspucken des Kruzifixes) sorgt. Darüber hinaus kann das Nichteintreten der (von Stefan als „connection with Frank“ bezeichneten) diabolischen Faszinationskraft mit dem Ausbleiben eines Asides  84 in der sich zuspitzenden Kirchenszene begründet werden. Der Protagonist bezieht die Rezipienten nämlich nicht wie sonst in das Geschehen mit ein, was in der Regel durch eine Naheinstellung seines Gesichts filmisch umgesetzt wird. Stattdessen schaut Frank während der Szene ausschließlich in das Gesicht der Jesusfigur; Underwoods Worte richten sich also ganz offensichtlich an Jesus und nicht an die Rezipienten. Die ausbleibende Kontaktaufnahme mit dem Publikum trägt zweifellos zu Stefans ablehnender Reaktion auf die Szene bei. Insgesamt ist Stefan nichtsdestotrotz froh, dass es „die Skandale und Scho‐ cker“ (IV) in HoC gibt, da die Serie in seinen Augen sonst langweilig gewesen wäre. Im Interview beweist der Schüler, dass die Tabubrüche für ihn mehr sind als nur Unterhaltungselemente; Stefan wird dadurch nämlich zu einer weiterführenden gedanklichen Auseinandersetzung angeregt: 236 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="237"?> Ich hab das halt dann auch oft auf die heutige Gesellschaft bezogen, diese Szenen … wie so … Wertewandel wird da gezeigt … klar, es kommen dann auch wieder neue Werte in unsere Zeit … aber diesen Wertewandel und so, das zeigt House of Cards. Sonst wär so ein Mann wie Frank auch nicht so … ja, beliebt in unserer Zeit. Sonst würde man das nicht so schauen, oder? Also die Frage ist halt: Wie wirkt das, also das mit diesen Szenen in unserer Zeit? (IV). Stefan stellt in seiner Reflexion zu den kontroversen Szenen in HoC wichtige und interessante Aussagen in den Raum. Der Schüler sieht in den Tabubrüchen der Serie den Wertewandel der heutigen Zeit repräsentiert, womit er Filme und Serien als Dokumente und gewissermaßen Spiegel ihres gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes begreift. Zudem erkennt Stefan, dass Frank Underwood eine zeitgemäße Antiheldenfigur darstellt, die in ihren Asides und Handlungen oft das ausdrückt, was der/ die kritisch denkende Rezipient/ in - wenn auch nur unterbewusst - hören und sehen möchte. 6.4.5 Entwicklung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen: Verbesserung der Hörsehverstehens- und der Schreib-Kompetenz Stefan sieht einen deutlichen Lernzuwachs hinsichtlich seiner Filmkompetenz, wobei er dies vor allem im Bereich der Fertigkeiten des Hörsehverstehens und der Filmanalyse feststellt. Dies habe dazu geführt, dass er Serien jetzt kritischer und aufmerksamer schaue und besser beurteilen könne, was eine gut gemachte Serie ausmacht. Der Schüler lobt am W-Seminar besonders die Tatsache, that we analyse the series and learn to watch it in another perspective, so that we don’t watch series like some brainless people […], who are just seeing the surface of the ingenuity of some masterpieces, instead we go deeper into the matter and really see what is great about a scene or even bad (VJ 2). Stefan erwähnt im Interview, dass er dieses vertiefte filmanalytische Wissen in seinem Alltag am besten nutzen könne und oft darauf zurückgreife, weil es bei seinem Serienritual täglich Anwendung finde: „[…] ich hätte nicht gedacht, dass ich das dann halt so gebrauchen kann, dieses Wissen … also dass mir das beim Schauen dann auch so einfällt“ (IV). Auch in Stefans Fall zeigt sich die Interdependenz von filmästhetischer Kompetenz und Schreib-Kompetenz. Der Jugendliche betont diesbezüglich, dass er seine Schreib-Kompetenz verbessert habe, vor allem hinsichtlich der Formulierung von Filmanalysen im Rahmen seiner Viewing Journal-Einträge: „Das konnt ich vorher nicht und ja … mocht ich auch nicht wirklich. Aber so das Analysieren von Screenshots aus der Serie und ämm … das genaue Hinschauen auf so Details und so, das kann ich jetzt besser“ (IV). Um dies exemplarisch zu 237 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="238"?> illustrieren, soll eine von Stefans ersten Analysen mit einer späteren kontrastiert werden. Stefan schreibt zu einem Screenshot aus Chapter 10 (S01E10), auf dem Zoe und Claire abgebildet sind, Folgendes: In the picture you can see Claire and Zoe. Zoe, who is left of Claire is leaning against a wall and has a very fearful body language, while on the otherside Claire, who is taller than Zoe is looking down on her, which shows that she is in the dominant position. This scene shows how Claire wants to show Zoe how it feels if someone intrudes ones personal life (VJ 1). Auch wenn sich Stefan bei seiner Screenshot-Analyse sichtlich bemüht und das Machtgefälle zwischen den beiden Frauen sowie deren Körpersprache richtig interpretiert, fehlen Ausführungen zu Aspekten wie Kameraperspektive, Ein‐ stellungsgröße, Licht, der (im Kontext dieser Szene aufschlussreichen) Kleidung der Protagonistinnen und dem Setting. Bei Analysen in den späteren Viewing Journals (v. a. in VJ 3) geht Stefan detaillierter sowie sprachlich differenzierter vor, was sich z. B. bei seinen Beobachtungen zur Stair Case Scene in Chapter 29 (S03E03) zeigt. In dieser Szene treffen sich der russische Präsident Petrov und der US-Präsident Underwood fernab der Öffentlichkeit in einem dunklen Treppenhaus und haben dort eine Auseinandersetzung. Stefan notiert zur Frage „What happens in the scene and how does cinematography support the result of the scene? “ folgende Antwort: It is very noticeable that while Frank is trying to establish a closer relationship with Viktor, he [= Frank] is positioned on a higher level than him [= Viktor], but when Viktor mentions that he knows exactly what he [= Frank] is trying to do, the camera starts to show them on an equal level by means of the eye-level-angle. This indicates that Viktor is not to be underestimated, instead both of them are on the same level. However, this changes once again, because over the course of the scene the camera angle is getting more and more dramatic. While Viktor is shown from a worm’s eye view, to make him more intimidating, Frank is shown from an higher angle to maybe show the pressure he is facing while speaking to Petrov. This is something we almost never see in the series. Usually Frank is the dominant person. The lighting is also very important in the scene because although it is mostly dark, we get strong dark and light contrasts. Actually the scene is all about contrasts as we see in the fight between the two politicians. The whole scene was intense, because I felt like standing next to the presidents when they had their argument. This is because of the close-ups, that we get (VJ 3; meine Hervorhebung). Im Vergleich zur oben aufgeführten Analyse des Schülers fällt diese wesent‐ lich detaillierter aus und zeigt eine deutliche Verbesserung hinsichtlich der 238 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="239"?> Verwendung von filmsprachlichen Fachausdrücken. Zudem geht Stefan sehr gelungen auf Wirkweise und Funktion der von ihm genannten filmischen Gestaltungsmittel ein und erwähnt die Besonderheiten der Szene: zum Beispiel, dass Frank nicht wie sonst die Überhand hat, was filmisch entsprechend inszeniert wird. Bemerkenswert ist auch, dass der Jugendliche die durch die Lichtverhältnisse begünstigten Hell-Dunkel-Kontraste zur Handlung der Szene, der Auseinandersetzung zwischen den Präsidenten, in Beziehung setzt. Stefans Interesse an Filmästhetik und sein Lernzuwachs diesbezüglich wirken sich also positiv auf die Qualität der Schreibprodukte des Schülers aus. Hinsichtlich der Viewing Journals erwähnt Stefan darüber hinaus, dass er die Aufgaben favorisiert habe, bei denen wir so unsere Ideen frei aufschreiben durften, das war so mein Ding. Da konnte ich halt ehrlich meine Meinung sagen und so meinen Gedanken … ja, freien Lauf lassen. Das hat dann schon auch Spaß gemacht, muss ich sagen … Es war jetzt nicht so, wie bei ner Hausaufgabe, wo man keine Lust hat und dann immer so krampfhaft zählen muss: So okay, hab ich schon genügend Wörter? Und dann sofort … Stift weg (IV). Im Gegensatz zu Hausaufgaben, die eine Textproduktion mit einer vorgeschrie‐ benen Wörterzahl erfordern, bereitet es dem Jugendlichen Freude, wenn er seinen Gedanken zu HoC freien Lauf lassen darf. Tatsächlich entfaltet Stefan seine Meinung immer wieder auf souveräne Weise. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktion des Schülers auf Franks entscheidenden Schachzug in Richtung impeachment des amtierenden Präsidenten Garrett Walker. Frank schreibt Garrett einen Brief, in dem er ihn geschickt von seiner Loyalität überzeugt. Auf die Frage „Would you be convinced by Frank’s letter if you were the President? ” antwortet Stefan: If I were Garrett I would have been convinced and that is because of two reasons. The first one is, that Frank used the story with his father, giving the reader a feeling of closeness. The second reason, why I would be convinced is the extra letter with all the “false crimes” Frank signed, which would have signalised a feeling of trust from the writer/ Frank Underwood, to me, the reader/ the president (VJ 2). Der Schüler hätte auch eine prägnante Antwort (z. B. If I were Garrett, I would believe Frank’s words because he sounds very convincing and appeals to the good heart of the President) geben können, aber Stefans Antwort zeigt sein sorgfältiges Abwägen. Man erkennt an der Wortwahl des Schülers (beispielsweise am Personalpronomen „me“), dass Stefan sich auf das Gedankenspiel einlässt und 239 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="240"?> einen Perspektivwechsel vollzieht, indem er sich in die Lage des Präsidenten hineinversetzt. Zudem denkt sich der Jugendliche in die Sichtweise der Produzenten ein, als die SuS Vermutungen anstellen sollen, warum HoC für jede Staffel eine schockierende Opening Scene in der ersten Folge bereithält. Stefan schreibt dazu: In my opinion the producers present us such shocking scenes, because they want to get the people’s attention and make them interested in the following season. This is an intelligent move, because there are two large groups, that watch series with more than one season. The first one is watching the season directly after the release, which makes those people having to wait for a long time before they are able to watch another episode. After waiting for such a long time many of those don’t know why they actually watched this series and with such a shocking opening scene, many of those who have lost interest start watching again. The second group is the one watching the series after all seasons have been released, for them those shocking opening scenes are more like some kind of catalyst, catching their interest again and making them watch the next season (VJ 3). Zunächst ist an Stefans Eintrag sowohl die Sprache als auch die Ausführlichkeit der Gedankengänge, welche eine sorgfältige Reflexion voraussetzen, beacht‐ lich. Insgesamt ist auffällig, dass der Jugendliche für das Viewing Journal zu Staffel 3 die detailliertesten Antworten formuliert. Der Schüler verliert also offensichtlich - auch nach drei Staffeln der Serie mit jeweils einem begleitenden Filmtagebuch - nicht die Lust am Schreiben. Dies bestätigt Stefan im Interview: Ich hab mich dann auch so’n Stück weit an das Schreiben parallel zum Schauen gewöhnt und ab so nem gewissen Punkt da … ja, da hatte ich dann immer mehr Spaß dran, mich da reinzudenken und meine Gedanken immer gleich aufzuschreiben. Und ich wollt‘s halt auch gut formulieren … (IV). Der Jugendliche entwickelt also einen gewissen Ehrgeiz beim Verfassen seiner Antworten für die Viewing Journals, was sicherlich auch mit der extrinsischen Motivation (welche die Benotung der Journals mit sich brachte) zusammen‐ hängt. Darüber hinaus erwähnt Stefan explizit den intrinsischen Motivations‐ faktor („immer mehr Spaß“, s. o.). Hinsichtlich der Schreib-Kompetenz des Schü‐ lers kommt es also zu einem Zuwachs bezüglich der affektiven Komponente, was u. a. zu sprachlich differenzierteren Antworten und größerer Bearbeitungstiefe führt. In den Viewing Journals zeigt sich, dass Stefan beim Schauen der Serie keine sprachlichen Probleme hat: Der Schüler ist in der Lage, auch komplexe Szenen zu entschlüsseln und die entsprechenden Fragen im Journal überzeugend zu 240 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="241"?> beantworten (von wenigen Ausnahmen abgesehen). Besonders beeindruckend ist dabei, wie es dem Jugendlichen gelingt, Verknüpfungen zwischen auf den ersten Blick nicht miteinander in Verbindung stehenden Szenen herzustellen. Das beweist, dass Stefan nicht nur zum rezeptiven Verständnis in der Lage ist, sondern auch im Sinne der produktiven Bedeutungsaushandlung Szenen in einen größeren Zusammenhang sinnvoll einordnen kann. Dies offenbart sich beispielsweise in seiner Auseinandersetzung mit Chapter 2 (S01E02): Claire Underwood beschließt, im Zuge einer Expansion ihrer Wohltätigkeitsorganisa‐ tion Clean Water Initiative personelle Änderungen vorzunehmen und fordert daher ihre langjährige Mitarbeiterin Evelyn Baxter auf, 18 Angestellten in ihrem Namen zu kündigen. Nachdem Evelyn dieser unangenehmen Aufgabe gezwungenermaßen nachgekommen ist, entlässt Claire Evelyn, die daraufhin völlig verzweifelt feststellt: „I am 59 years old. Nobody hires anybody my age“. Später in Chapter 2 bestellt Claire ein Getränk zum Mitnehmen in einer Kaffee‐ hauskette. Die ältere Frau, die Claire bedient, ist mit der neumodischen Kasse überfordert und auf die Hilfe einer jüngeren Mitarbeiterin angewiesen. Stefan schreibt zu dieser Szene im Viewing Journal: „The older cashier symbolizes Evelyn’s intentions of keeping the old staff, while her younger colleague stands for Claire’s intentions of replacing the old staff with new, more professional ones“. Neben dem Claire-Evelyn-Handlungsstrang haben Frank und Claire in Chapter 2 eine Auseinandersetzung, weil Claire ihrem Mann ein Fitnessgerät schenkt und ihm eindringlich zu dessen Nutzung rät, was Frank als Bevormun‐ dung empfindet. Am Ende des Kapitels sieht Claire, dass Frank trotz seiner anfänglichen Ablehnung mit dem Gerät trainiert. Stefan interpretiert auch diese Szene unter Rückbezug auf bereits Gesehenes: „I think Claire was probably worried that Frank was getting older just like Evelyn or the older cashier, but when she saw Frank using the rowing machine she was pleased to see that her worries were unjustified“ (VJ 1). Stefan gelingt es, die drei Szenen, die über Chapter 2 verteilt sind, sinnvoll und überzeugend miteinander zu verknüpfen und erkennt als übergeordnetes Thema die Angst vor dem Alt- und Älterwerden. Aber nicht nur „das genaue Hinschauen“ (IV) und Achten auf Details ver‐ bessert Stefan im Rahmen der Viewing Journals, sondern der Schüler sieht zudem eine Optimierung bezüglich der auditiven Komponente des Hörsehverstehens: „Und ich find halt auch, dass das viele Hören von so … also ich sag mal echtem Englisch hilft beim Verstehen. Also grad, wenn die leise und schnell reden, das hab ich früher nicht so gut verstanden … aber das geht jetzt besser“ (IV). 241 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="242"?> 6.4.6 Zusammenfassung Die kognitiv-affektiven Prozesse Stefans lassen auf eine vertiefte sowie enga‐ gierte Auseinandersetzung mit HoC schließen. Hinsichtlich der politischen Positionierung zeigt sich zunächst die skeptische Grundhaltung des Schülers, der mit Politik Intrigen und eine Scheinwelt assoziiert, in der Politiker ihr wahres Gesicht verstecken und als Schauspieler agieren. Während Stefan von deutscher Politik gelangweilt ist, entwickelt er in seinem intensiven Beschäf‐ tigungsprozess mit dem Politdrama zunehmend Interesse für die US-Politik. Dabei ist für den Schüler das Gefühl entscheidend, sein politisches Wissen beim Schauen von HoC zu vergrößern und dazuzulernen, ohne die Freude an der Serie zu verlieren. Affektiv ist Stefan also gefesselt und fasziniert von den Ereignissen der Serie, was kognitiv zugleich ein besseres Verstehen von US-Politik bewirkt. Verstehen und untersuchen will Stefan vor allem, wie realistisch die Serie ist und wo sie wie und warum von der politischen Realität abweicht. Aus diesem Grund widmet sich der Schüler diesem Thema vertieft in seiner Seminararbeit. In der Auseinandersetzung des Jugendlichen mit HoC zeichnet sich vor allem bei der Rezeption der Staffeln 1 und 2 die diabolische Faszinationskraft ab, die Frank Underwood auf Stefan ausübt. Diese entwickelt sich stellenweise zur blinden Faszination - auch nachdem Frank Underwood zum Mörder wird. Franks Asides spielen hinsichtlich der Faszinationskraft des Protagonisten eine entscheidende Rolle, da sich der Schüler von ihnen lenken und manipulieren lässt. Starke Faszination übt auch die Ehe der Underwoods auf Stefan aus. Der Schüler konstruiert aus dem Scheitern ihrer Ehe Rückschlüsse und Prioritäten für seine Zukunft. Letztlich bringt Stefan eine eigene Lebensphilosophie zum Ausdruck, die einen Gegenentwurf zu Franks Karrierestreben darstellt. Bei der Beschäftigung mit den Staffeln 1 und 2 zeigt sich Stefans geschlechts‐ spezifische Doppelmoral, da er für Frank und Claire unterschiedliche Bewer‐ tungsmaßstäbe ansetzt. Während er von Franks intrigantem und manipulativem Wesen fasziniert ist, kritisiert er Claire für ebendiese Wesenszüge. Stefans Positionen in der Auseinandersetzung mit drei Staffeln HoC bewegen sich im Spannungsfeld zwischen blinder Faszination, Bewunderung sowie Identifika‐ tion, Distanzierung und stellenweise sogar Ablehnung. Dies lässt auf ein äußerst intensives Serienerlebnis des Schülers schließen. Währenddessen baut Stefan insbesondere seine Filmkompetenz aus. Die Kenntnisse zu filmischen Gestaltungsmitteln, die der Schüler im W-Seminar erwirbt, bewirken bei Stefan eine Erkenntnis hinsichtlich der sorgfältigen Verschränkung von Bild- und Tonebene audiovisueller Medien. Zudem kann der Schüler in der Beschäftigung mit der Serie HoC seine Schreib-Kompetenz 242 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="243"?> ausbauen, wobei er vor allem bezüglich der affektiven Komponente, der Freude am Schreiben, eine Steigerung feststellt. 6.5 Fallbeispiel Florian 6.5.1 Hintergrundinformationen Zum Zeitpunkt des Interviews ist Florian 17 Jahre alt. Seine Eltern stammen aus Polen, weshalb Florian zweisprachig aufwächst und zuhause Deutsch und Polnisch spricht. Als Hobbies nennt Florian neben sportlichen Aktivitäten (wie Tischtennis, Tennis und Tanzen) Serien. Mit der Rezeption von Serien verbringt der Schüler täglich zwei bis vier Stunden, wobei er dieser Freizeitbeschäftigung entweder allein nachkommt oder Netflix-Abende mit Freunden veranstaltet. In den Schulferien trifft sich Florian beispielsweise täglich mit Freunden, um gemeinsam Serien auf Englisch zu schauen. Das Free-TV nutzt Florian nicht mehr, da er gezielt Serien und diese grundsätzlich auf Englisch rezipiert. Nor‐ malerweise braucht der Schüler dafür keine Untertitel, aber, „wenn in einer Serie viel genuschelt wird bzw. viele schwere Wörter […] vorkommen“ (FB), schaltet er englische Untertitel als Verständnishilfe hinzu. Florian favorisiert Serien gegenüber Filmen, da er es mag, die Charaktere bei ihrer Entwicklung über einen längeren Zeitraum begleiten zu dürfen (vgl. FB). Seine Lieblingsserien sind The Secret Circle, Scandal und HoC; bei den beiden zuletzt genannten US-Serien handelt es sich um Politdramen. Als Lieblingsfach gibt der Schüler Englisch an und kann sich dementspre‐ chend auch vorstellen, „etwas mit Englisch zu studieren“ (IV). Florian betont sowohl im Interview als auch im Fragebogen, dass er „praktisch nur durch Serien Englisch gelernt habe“ (FB) und formuliert folgenden Appell: Ich glaube es würde vielen Kindern helfen mit Serien Englisch zu lernen. Ich hatte bis zur 7. Klasse eine 4 in Englisch und als ich so gegen 7. Klasse anfing, Serien auf Englisch zu schauen, hatte ich in den letzten 3 Jahren immer eine 2 im Zeugnis (FB). Florian begründet seine ehemals schlechten Schulnoten in Englisch damit, dass er bereits in der fünften Klasse sprachliche Defizite im Vergleich zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern festgestellt habe, deren EU in der Grundschule wesentlich intensiver ausgefallen sei. Der Jugendliche beschreibt seine ersten Jahre im gymnasialen EU folgendermaßen: […] als ich dann in die fünfte Klasse gekommen bin, war’s halt nicht nur noch so Easter Bunny und so zwei, drei Vokabeln die Woche, sondern dann hat’s schon ziemlich krass angefangen […] und dann hat halt meine Englischlehrerin mit den anderen Schülern 243 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="244"?> gleich reden können und hat total viel Unterricht gemacht und alles war auf Englisch und ich konnte dann halt gar nichts … und das hat sich durchgezogen bis zur siebten Klasse so circa (IV). Florian war also bis zur siebten Klasse im EU überfordert. Das Blatt wendete sich für den Schüler, als er begann, die Serie Pretty Little Liars - zunächst auf Deutsch und bald, um die Wartezeit bis zur nächsten Staffel zu verkürzen, - auf Englisch zu schauen. Florian erklärt, dass er ungefähr ein Jahr lang deutsche Untertitel gebraucht habe, bevor er dazu übergegangen sei, die Serie in der Fremdsprache ohne Untertitel zu rezipieren: „[U]nd irgendwann, dann hab ich auch alles ohne die Untertitel verstanden … so Ende siebte Klasse“ (IV). Auch die regelmäßigen Netflix-Abende mit seinen Freunden, bei denen Serien auf Englisch gemeinsam geschaut werden, tragen in Florians Augen zur konstanten Verbesserung seiner Englischnoten („Zweier und Einser statt Vierer“, IV) bei. Der Jugendliche erwähnt, dass sich das Serienschauen als Erfolgsrezept für gute Englischnoten mittlerweile in seiner Jahrgangsstufe herumgesprochen habe: „Also meine Freunde, die haben mir das dann auch empfohlen … denen ging das genauso … in der Schule haben sie nichts gelernt und durch die Serien ging’s dann vorwärts“ (IV). 6.5.2 Politdramaserien als Anstoß für eine vertiefte Auseinandersetzung mit politischen Themen In der ersten Seminarsitzung erklärt Florian, dass er sich hinsichtlich der Schwerpunkte des Seminars am meisten auf den Themenbereich US-Politik freue, da er diese als Ursprung der Demokratie sieht und gerne mehr darüber lernen möchte. Bislang hat Florian nämlich nur dann Berührungspunkte mit politischen Themen, wenn er amerikanische Politdramaserien in seiner Freizeit rezipiert, wobei ihn neben HoC Designated Survivor und Scandal besonders faszinieren. Florian hält im Seminar eine Kurzpräsentation zur Serie Scandal und vergleicht die darin behandelten Themen mit denen von HoC. Im Interview stellt Florian fest, dass er „politisch viel dazu gelernt habe“, was ihm beispielsweise beim Schauen der Politdramaserien auffalle: Da saß ich halt früher teilweise schon so’n bisschen ahnungslos davor … also ich hab die Handlung so insgesamt schon kapiert, aber halt keine politischen Details. Und nachdem wir bei House of Cards mit dem Viewing Journal quasi „gezwungen“ [macht Anführungszeichen in die Luft] waren, so politisches Zeugs zu googeln und in eigenen Worten zu erklären, hab ich da schon viel mitgenommen. Das kann ich jetzt halt auch mit anderen Serien verbinden (IV). 244 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="245"?> Der Schüler kann also sein in der Auseinandersetzung mit HoC erworbenes politisches Wissen auf andere Politdramaserien übertragen und versteht diese dadurch besser. Zudem fühlt sich Florian durch dieses Wissen in der Lage, Politserien hinsichtlich ihrer Realitätsnähe kritisch zu beurteilen. HoC hält der Schüler beispielsweise für wirklichkeitsgetreu, auch wenn manche Figuren „eher unrealistisch handeln“ (FB), so dass die Handlung der Serie spannender werde. Dies stört Florian jedoch nicht, was er im Interview beteuert: „Also ich find, es hat die amerikanische Politik so als cool dargestellt und man hat was gelernt, aber es wurde einem so cool und wirklich interessant beigebracht, find ich“ (IV). In seiner Seminararbeit widmet sich Florian dem Thema Frank’s Path to Power und reflektiert seine Auseinandersetzung damit folgendermaßen: I personally chose this topic because I wanted to explore everything in detail about how Frank became president. Writing this paper helped me understand more about US politics and see the series under a different light. Reviewing every episode over and over again and trying to find proof in the constitution for his actions, you can see the accuracy behind everything conducted in the series. […] Everything Frank does is for his goals […]. As the title of the series suggests Frank had to build his own house of cards. If you build one, the most important thing is the foundation. It was interesting to see how Frank laid all the groundwork […] with the help of his wife. […] Disregarding the murders, everything they did was very deliberate and not infrequently shy of treason […], but always still in the bounds of the law (SA). Florians Faszination für Franks sukzessive Errichtung des Kartenhauses bewirkt beim Schüler zunächst den intrinsischen Drang, die dafür nötigen politischen Manöver und Schritte untersuchen zu wollen (vgl. „I wanted to explore“) und führt schließlich zu einem besseren Verständnis von US-Politik. In diesem Kontext erlebt Florian auch den Besuch im Amerikahaus in München als aufschlussreich, der mit den W-Seminarteilnehmenden unternommen wird, um dort einen Vortrag mit dem Titel USA Update 2018: American Politics in the Age of Trump besuchen zu können. Der Vortrag bleibt Florian in Erinnerung und der Schüler betont, wie wichtig er es finde, dass man gerade bei aktuellen politischen Themen „auch mal raus aus der Schule“ (IV) komme. 6.5.3 Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie 6.5.3.1 Faszination in der Auseinandersetzung mit Frank Underwood Die Faszination, die Frank auf Florian ausübt, zeigt sich vor allem in folgenden Punkten: 245 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="246"?> (1) Franks Aufstieg zum mächtigsten Mann der Welt Auf die Frage, was Florians Meinung nach das wichtigste Thema von HoC ist, erklärt dieser: Frank’s path to power, also wie er an die Macht kommt. Deswegen hab ich es auch als Seminararbeitsthema genommen, weil’s für mich einfach total interessant war und ich find es war auch der spannendste Teil, den man in der ganzen Serie verfolgen kann, dass er durch geschickte Intrigen an die Macht kommt und er war eigentlich nicht so mächtig … Er war nur House Majority Whip und wie er die Menschen dann so beeinflusst und manipuliert … das ist zum Beispiel auch eine sehr gute und positive Eigenschaft […]. Deswegen hab ich mir überlegt, darüber zu schreiben, weil es hat mich einfach fasziniert, wie er zum mächtigsten Mann der Welt wird (IV). In dieser Antwort spiegelt sich die diabolische Faszinationskraft wider, die Frank auf Florian ausübt. Der Schüler wählt für die Beschreibung von Franks path to power ausschließlich positive Adjektive: So spricht er beispielsweise von Franks „geschickte[n] Intrigen“ und von dessen Manipulationstalent als „eine sehr gute und positive Eigenschaft“; diese Aspekte der Handlung habe er als spannend und „total interessant“ erlebt. Am Ende des Interviews gesteht Florian, dass Frank für ihn zum Vorbild geworden sei: Also ich persönlich muss sagen, Frank war für mich schon wie ein Vorbild bisschen, weil er so zielstrebig ist und alles dafür tut, sein Ziel zu machen … und immer wenn ich eine Folge mit ihm seh, dann bin ich auch so bisschen entschlossener, meine eigenen Ziele zu erreichen (IV). Der Schüler sieht also in Franks Zielstrebigkeit und Entschlossenheit nachah‐ menswerte Eigenschaften, die ihn in seinem eigenen Handeln motivieren und anspornen. (2) Frank als überzeugender Redner Als Florian Frank zum ersten Mal als Redner erlebt, schreibt er dazu Folgendes: [His speech] is convincing because everyone seems to listen to him and what he has to say. And if I was in the audience, I would be torn away by him. He has a certain power in his voice and the way he talks gave me goose bumps. He is a very talented speaker and the way he talks is mesmerizing (IV). Der Eintrag des Schülers unterstreicht, dass er von Franks rhetorischem Talent beeindruckt ist. Die Wirkkraft, die Franks Rede auf Florian hat, überrascht, da die HoC-Rezipienten durch ein Aside des Protagonisten darüber informiert werden, dass seine Worte nur geheuchelt sind. Nichtsdestotrotz ist Florian von 246 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="247"?> Franks Rede gefesselt und emotional bewegt. Einen ähnlichen Effekt hat Franks Ansprache an die US-Bevölkerung in Chapter 28 (S03E02, 40’33‘‘ - 44‘12‘‘) auf den Schüler, was er folgendermaßen beschreibt: Well we all know that Frank is the one to get you in his ban and if I would be a US-citizen I would worship him as a president. The way he talks and presents the problems and his solutions makes everything that he proposes meaningful and sound like the best decision […] (VJ 3). Florians Viewing Journal-Einträge lassen folglich keinen Zweifel daran, dass Frank den Schüler aufgrund seiner rhetorischen Überzeugungskraft in seinen Bann zieht. (3) Faszinationskraft von Franks Asides Beim Schauen von HoC beeindrucken Florian vor allem Franks Asides (vgl. FB). Nachdem Frank Zoe in Chapter 14 (S02E01) vor einen Zug gestoßen hat, richtet Frank sein erstes und einziges Aside in dieser Episode an die Zuschauenden, dessen Wirkung Florian folgendermaßen beschreibt: „It was like a wake up call! I completely forgot his asides until he did it again. It made me seem a part of the series again. Through his aside you could see that he doesn’t have any regret” (VJ 2). Franks Asides geben dem Schüler also das Gefühl, ein Teil der Serie zu sein und somit tief in die Geschehnisse eintauchen zu können. Zudem haben die Asides für Florian folgende Funktion: „Ich hatte halt dadurch so nen besonderen Draht zu Frank … Ich musst oft über seine Aussagen grinsen. Das hat mich schon sehr angesprochen, wenn er plötzlich mit mir redet“ (IV). Auf diese Weise entsteht beim Jugendlichen der Eindruck einer Unterhaltung mit dem Protagonisten, was seine Verbindung zu Frank intensiviert. 6.5.3.2 Bewunderung und Empathie für Claire als Kontrastfigur zu Frank Als einziger männlicher Seminarteilnehmer ist Florian von Beginn der Serie an von Claire mindestens so begeistert wie von Frank. Im Gegensatz zur diabolischen Faszinationskraft, die von Frank auf Florian ausgeht, bewundert der Schüler an Claire ihre Menschlichkeit und ihre sensible Seite. So interpretiert Florian Claires Beschäftigung mit der Origamifaltkunst nach ihrer Begegnung mit dem Bettler beispielsweise folgendermaßen: „She remembers the beggar and feels sorry for him. She might be trying to see things from a different perspective. I think she is in fact a caring woman with a big heart” (VJ 1). Florian schätzt diese weiche und empathische Seite Claires, während er Frank lieber als zielstrebig-rational agierenden Politiker in Aktion sieht. Wie in der Yin-und-Yang-Symbolik scheint der Schüler die Gegensätzlichkeit der Ehe‐ 247 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="248"?> partner als zwei Teile eines untrennbaren Teams aufzufassen, wobei er Frank aufgrund seiner „shady moves“ (VJ 1) in der dunklen und Claire in der hellen Kreishälfte verortet. Wenn Frank nicht an Claires Seite ist, hat Florian das Gefühl, dass sie „very nervous and unsure“ (VJ 2) wirkt, was seine Theorie der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Ergänzung der beiden unterstreicht. Im Interview beschreibt Florian seine Haltung zu der komplexen Protago‐ nistin folgendermaßen: Sie ist schon so eine meiner Lieblingsfiguren, also neben Frank natürlich. Und ich muss auch sagen, dass ich sie so’n bisschen beim Schauen ja so … bewundert hab und … ich hab auch an manchen Stellen so mitfühlen können mit ihr … und dann will man die Person halt auch verstehen, wie sie tickt und so (IV). Aufgrund seiner Bewunderung für Claire ist der Schüler also bereit, sich in sie einzufühlen und ihre Perspektive einzunehmen, was im nächsten Schritt zu einer vertieften Auseinandersetzung mit ihrem Charakter führt. Dies spiegelt sich beispielsweise in Florians Interpretation von Claires rätselhafter Abschieds‐ botschaft für Adam wider: I think that this message means that she is thinking about everything. She turned the middle part into a origami figure. It’s like a hole in the picture and since Adam says the girl in the picture is her, she might be searching for herself. Also the rest of the picture is out of order what might represent her thoughts (VJ 1). Florian formuliert hier seinen gelungenen Versuch, sich in Claire hineinzu‐ denken und er erkennt, dass sie auf der Suche nach sich selbst ist und ihre kom‐ plexen Gefühle für Adam mit ihrer Botschaft zum Ausdruck bringen möchte. Die Empathie des Schülers für Claire zeigt sich in seiner Auseinandersetzung mit ihrem Seitensprung: Während Florian Frank für die Affäre mit Zoe stark kritisiert, kann er nachvollziehen, warum Claire Frank in Chapter 10 (S01E10) kurzzeitig verlässt und zu Adam geht: „I can understand that she left to get some space“ (VJ 1). Für den Schüler steht fest, dass Frank derjenige ist, der in der Beziehung Schaden angerichtet hat: „In fact he has done a lot of damage to their relationship“ (VJ 1). Den Schaden fasst Florian anschließend in einem Wort zusammen: „Zoe“. Somit entwickelt sich Zoe für den Schüler zunehmend zur „least favourite person“ (VJ 1) in HoC. Nach einer spannungsgeladenen Begegnung zwischen Zoe und Claire in Chapter 10 erklärt Florian: „I personally prefer Claire. She seems like a strong woman and what I like about her the most is that she has class. She always behaves perfect and knows what to say, to me she is a role model” (VJ 1). Auch am Ende von Staffel 1 antwortet Florian auf die Frage, wer seine Lieblingsfigur ist: 248 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="249"?> My most favourite character is Claire Underwood. I like her character, the way she responds to every challenge and just how classy she is. She never shows weakness and that’s what I love about her the most. She’s a role model (VJ 1). Florian weist also wiederholt darauf hin, dass Claire als „strong and independent woman“ (VJ 2) für ihn eine Vorbildfunktion hat und dass er zu ihr aufsieht. In seiner Auseinandersetzung mit HoC fällt dem Jugendlichen auf, dass Claire mit zunehmender Macht und Stärke Franks immer unzufriedener wirkt. Als Frank im letzten Kapitel von Staffel 2 (S02E26) feierlich ins Oval Office einzieht, beschleicht Florian erstmals ein ungutes Gefühl: To me it seemed like Frank married the Oval Office, when he put on the ring and started touching the desk as if it was something more beautiful than just a desk. He seems obsessed with his new job and the way he felt the power that he longed for this whole time makes it a bit scary (VJ 2). Florian empfindet offensichtlich keine Genugtuung hinsichtlich Franks Erfolg (wie die meisten seiner Mitschüler), sondern er befürchtet, dass die Ehe der Underwoods unter Franks neuem Amt leiden könnte. Diese Angst bewahrheitet sich in Staffel 3, in der Claire gezwungen wird, ihre eigenen beruflichen Ziele zurückzustellen (vgl. Florian, VJ 3). Erneut gelingt es dem Schüler, sich in die Protagonistin einzufühlen: She seems emotionless and eager to feel something even if it is only pain, she wants to feel. She seems lost in her own mind during the whole chapter […]. Seeing the mosaic again I think her façade cracked for the first time and you could see the grief and regret in her eyes. That’s when she decided to leave Frank (VJ 3). Die Beobachtungen Florians zu Claire in Chapter 39 (S03E13) und seine Rück‐ schlüsse auf ihre psychische Konstitution fassen ihren Gemütszustand treffend zusammen und unterstreichen den empathischen Zugang des Schülers zur Prot‐ agonistin. In seiner Beschäftigung mit der finalen Streitszene der Underwoods, in der Frank sogar handgreiflich wird, positioniert sich Florian als einziger männlicher Schüler auf Claires Seite: Frank is always the one being supported while Claire has to sacrifice over and over for him. […] He threatens her […] while grabbing her face violently. […] I never thought that Frank would be so rough towards Claire and also I am very disappointed in him. Claire is the only person that always stood by him but he doesn’t appreciate it. He takes her and her support for granted (VJ 3). Der Schüler gibt Frank die Schuld am Ehe-Aus und äußert seine Enttäuschung über den Protagonisten. Als Claire Frank schließlich verlässt, reagiert Florian 249 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="250"?> bestürzt: „It is a shocker for every HoC fan, the unbreakable power couple is broken“ (VJ 3). Diese Formulierung verdeutlicht die große Faszinationskraft, die von der Beziehung der Underwoods auf den Jugendlichen ausgeht. Florian ist überzeugt, dass sich Frank ohne Claire an seiner Seite zum Negativen verändern wird: „Without her he would just be a cruel old power hungry man“ (VJ 3). Im Subtext dieser Einschätzung schwingt die Yin-und-Yang-Symbolik für die Ehe der Underwoods mit: Ohne Claire wäre nur noch die dunkle Hälfte Franks übrig. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Florian die Underwoods als Team sehen möchte und beide auf ihre Weise und vor allem in ihrer gegenseitigen Ergänzung, ihrer „symbiosis“ (VJ 3), schätzt und bewundert. 6.5.3.3 Herausforderungen und Verständnisschwierigkeiten Florian erwähnt im Interview, dass ihm einige Szenen in HoC Probleme bereitet hätten: An manchen Stellen sei er sprachlich überfordert und an anderen Stellen sei der Inhalt schwer nachvollziehbar gewesen. Obwohl der Schüler das Schauen von amerikanischen Serien in Originalsprache bereits vor dem Seminar praktizierte und somit an authentisches Englisch gewöhnt ist, versteht er vereinzelte Szenen nicht auf Anhieb. Florian sieht die Komplexität der Politdramaserie als möglichen Grund hierfür: „Also House of Cards war definitiv schwerer zu verstehen als andre Serien, die ich schau … Die politischen Vokabeln und auch so insgesamt“ (IV). Zur Verständniserleichterung schaltet der Schüler bisweilen Untertitel hinzu, wobei Florian drei Szenarien nennt, die Untertitel für ihn erforderlich machen: ● englische Untertitel, um „coole Zitate“ (IV) und Asides von Frank mit exaktem Wortlaut mitschreiben zu können; hierbei stehen rezeptive Ver‐ ständnisprobleme weniger im Vordergrund - stattdessen geht es dem Schüler darum, die Zitate orthographisch korrekt festhalten zu können; ● englische Untertitel, wenn zu schnell, undeutlich und/ oder politisch gespro‐ chen wird; ● deutsche Untertitel, wenngleich nur stellenweise in Staffel 2 bei den Szenen mit Raymond Tusk, welche oft rasante Schlagabtäusche zwischen Under‐ wood und Tusk zu wirtschaftlichen oder politischen Themen zeigen. In inhaltlicher Hinsicht hat Florian Schwierigkeiten, komplexe politische Pro‐ zesse nachzuvollziehen, wie beispielsweise in Staffel 3 „the whole FEMA process and how Frank got the money“ (VJ 3). Eine weitere Herausforderung stellen für den Jugendlichen solche Szenen dar, welche Gender Issues thematisieren. Nach Claires Ernennung zur UN-Botschafterin in Staffel 3 wird sie z. B. regelmäßig mit sexistischen Kommentaren konfrontiert, die vor allem damit zusammenhängen, 250 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="251"?> 85 Da einige SuS diese Szene ähnlich wie Florian missverstehen, wird sie im Rahmen einer Unterrichtseinheit zur Förderung von Gender Awareness behandelt. dass sie als First Lady zugleich Ambassador ist. Einige männliche Politiker finden, dass Claire lediglich den primär repräsentativen Verpflichtungen einer First Lady nachkommen sollte, so dass sich die Staatsmänner um die wichtigen Dinge kümmern können. In diesen Kontext ist das Zusammentreffen von Claire und dem russischen Präsidenten Petrov bei dessen Staatsbesuch in Wa‐ shington einzuordnen (Chapter 29: S03E03), bei welchem es zwischen den beiden jede Menge Spannungen gibt: Petrov erkennt schnell, dass Claire von Frank geschickt wurde, um ihn mit ihrem Charme zu manipulieren; doch auf dieses Spiel lässt sich der russische Präsident nicht ein und provoziert Claire (z. B. durch Kommentare wie „You make a much better First Lady than Ambassador, from what my people tell me“). Claire reagiert schlagfertig, woraufhin Petrov ihr mit einem Kuss vor den Augen aller seine Macht demonstriert. Florian missversteht die Szenen zwischen Petrov und Claire grundlegend, was sich in folgendem Eintrag widerspiegelt: „I think Claire finds him charming and interesting. Claire is a woman who is drawn towards power. The way she interacts with him I think that she is imagining herself something with him, something more romantic“ (VJ 3). Der Schüler verkennt folglich die brisanten Aspekte von Chapter 29 (interkulturelle Spannungen, Sexismus usw.) und lässt auch die Bevormundung Claires durch den öffentlichen Kuss, durch den sie zu Petrovs Objekt degradiert wird, unkommentiert. 85 6.5.4 Moralvorstellungen 6.5.4.1 Unvereinbarkeit von Moral und Politik Florian kommt im Interview - und damit ca. drei Monate nach der Rezeption der ersten drei Staffeln von HoC - zu dem Schluss, dass Frank Underwood „böse“ (IV) und „nicht so ein netter Mensch“ (IV) ist. Nichtsdestotrotz äußert der Schüler folgende Einschätzung: […] als Politiker und auch als Patriot ist er wirklich ein guter Mann für’s Land und ich find so einer sollte eben auch Präsident sein. Also klar […] er zieht sein Ding durch, aber letztlich setzt er Amerika ja first (IV). Die Feststellung des Schülers, „so einer sollte eben auch Präsident sein“, erstaunt, wenn man bedenkt, dass Florian Frank für böse und unmenschlich hält. Auch an einer späteren Stelle im Interview erwähnt der Jugendliche, dass er Franks Intriganz als eine „nicht grad nette Eigenschaft“ (IV) sieht; andererseits ist 251 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="252"?> er aber davon überzeugt, dass „ein guter Politiker“ (IV) diese „sehr gute und positive Eigenschaft“ (IV) braucht. Dementsprechend resümiert Florian: „Frank is a really good politician“ (VJ 3). Hier zeigt sich eine gewisse Ambivalenz in Florians Denken: Für einen Nicht-Politiker sind Attribute wie „cunning“ (VJ 1), „scheming“ (VJ 2) und „manipulative“ (VJ 2) negativ konnotiert, während sie einem mächtigen Politiker als „positive“ (IV) Eigenschaften nicht fehlen dürfen. Florian setzt also für die Bewertung von Politikern und Nicht-Politikern unterschiedliche Maßstäbe an. So antwortet er auf die Frage im Viewing Journal zu Staffel 1, wer sein „least favourite character“ ist: „[…] Another person I don’t like is the President [Walker]. He may be nice but he doesn’t seem to have power like Frank. He doesn’t seem to get how Frank plays him and that makes him a bad politician” (VJ 1). Der Schüler erkennt zwar, dass Garrett Walker der nettere Mensch - und, wie er an späterer Stelle festhält, der moralisch Überlegene (vgl. VJ 2) - von beiden ist, aber im Gegensatz zu Frank beherrscht er dessen Machtspiele nicht. Florian geht so weit, dass er Präsident Walker als schlechten und machtlosen Politiker bezeichnet, weil er Frank und seine Intrigen nicht durchschaut und stattdessen naiv an das Gute im Menschen glaubt. Florian scheint in seiner Überzeugung hinsichtlich der Unvereinbarkeit von Moral und Politik noch bestärkt zu werden, als die politische Rivalin Franks, Heather Dunbar, die bislang als moralische Instanz in HoC agierte, kurzfristig auf die Seite der Unmoral wechselt. Dazu verfasst der Schüler folgenden Eintrag: I agree with Frank’s statement “You’re finally one of us“ because Dunbar was always like one of the good guys having her morals and not handling things behind closed doors but when she is sneaking into the white house to threaten him […] she is no longer better than any other politician (VJ 3). Interessanterweise verzeiht Florian Dunbar diesen Fehltritt („sneaking […] to threaten him“) nicht, während er seinem Lieblingspolitiker Frank wesentlich schlimmere Untaten nachsieht. Keinerlei Verständnis hat Florian lediglich für Franks Affäre mit Zoe. 6.5.4.2 Wertkonservative Grundhaltung bezüglich Sexualität Als Florian zu den Tabubrüchen in HoC im Interview laut denken soll, erwähnt er unverzüglich die Affäre zwischen Zoe und Frank: Also ich weiß noch Zoe Barnes … also als meine Freundin und ich das zusammen angeschaut haben, für uns war das so … ab der sexuellen Beziehung zwischen den beiden, da war das so OH GOTT, warum? ? , des müsste doch jetzt nicht sein … und ich finde auch, man hätte das glaub ich nicht so ausbauen müssen … des fand ich bisschen 252 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="253"?> unnötig, um ehrlich zu sein. Und auch den Mord … also ich weiß nicht, ob es so weit gekommen wär, hätten die keinen sexual intercourse gehabt … (IV). Florians Ausführungen zu den Sexszenen zwischen Zoe und Frank machen deutlich, dass er diese als überflüssig empfindet. Sein fast schon angewidert erscheinender Ausruf, „OH GOTT, warum? ? “, verdeutlicht seine Ablehnung diesbezüglich. Die Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, warum Florian hier so stark und offensichtlich aufgebracht reagiert. Dies soll anhand von markanten Einträgen in den Viewing Journals untersucht werden. Als Reaktion auf Zoes und Franks ersten Seitensprung hält Florian fest: „I am rather shocked […] because Frank seems to be happy in his partnership with Claire“ (VJ 1). Der Jugendliche versteht folglich nicht, wie ein glücklich verheirateter Mann seine Ehe in Gefahr bringen kann. Deswegen positioniert Florian sich explizit auf der Seite der betrogenen Ehefrau Claire: „Frank puts himself before Claire every time in their partnership. […] She has to make sacrifices for him so he can rise in his position” (VJ 1). Florian stützt seine Theorie von Claire als aufopferungsvolle Frau an Franks Seite darauf, dass sie ihre Jugendliebe Adam zunächst zurückweist, während Frank sich mit Zoe vergnügt (vgl. VJ 1). Darüber hinaus ist der Schüler vom Altersunterschied zwischen Frank und Zoe - er zeigt im Viewing Journal auf, dass Zoe selbst in 20 Jahren noch jünger wäre als Frank zum Zeitpunkt der Affäre - „disgusted“ (VJ 1). Florians vehemente moralische Ablehnung von Fremdgehen spiegelt sich auch in seiner Positionierung zu Peter Russo wider, von dem er sich in Chapter 4 (S01E04) distanziert: „I don’t believe in him […]. He even cheated on his girlfriend […]“ (VJ 1; meine Hervorhebung). Der Schüler zählt einige Punkte auf, die ihn an Peter zweifeln lassen (vgl. VJ 1), wobei der Betrug an seiner festen Freundin ihn in seiner Kritik am meisten bestärkt. 6.5.4.3 Tabubrüche als Anreiz zum Binge-Watching Neben den „sexuellen Tabubrüchen“ (IV) erwähnt der Schüler beim lauten Denken „religious taboos“ (IV), wobei eine gewisse Ambivalenz in Florians Auseinandersetzung mit der Kirchenszene (Chapter 30: S03E04) deutlich wird: „[…] when he spits on Jesus, that was a bold move. I would never in a lifetime have the guts or stupidity to do that […]“ (VJ 3; meine Hervorhebung). Florians Wortwahl zeigt seinen inneren Zwiespalt bezüglich Franks Handeln in der Kirche: Während „bold“ und „guts“ eher positiv konnotiert sind (im Sinne von gewagt, mutig und couragiert), impliziert „stupidity“ Ablehnung und Kritik. Im später stattfindenden Interview hält Florian bezüglich der Kirchenszene Folgendes fest: 253 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="254"?> 86 Diskussion und Sprachlosigkeit schließen sich in diesem Fall offensichtlich nicht aus: Die Jugendlichen sind zwar zunächst sprachlos, wollen sich dann aber umso mehr austauschen, um den Grund ihrer Sprachlosigkeit begreifen zu können. Die fand ich sehr interessant […] und es ist schon allein krass, sich als Schauspieler so was [= ein Kruzifix bespucken] zu trauen … das fand ich schon echt hart - aber ich denk mir so … viele, viele Menschen teilen auch die Meinung, deswegen … ämm … die halten nichts von Gott oder Jesus und die feiern die Szene bestimmt. Und wo die Jesus-Statue dann runterfällt […], das hat halt auch irgendwie Effekt und es … es schockt einen total. Und der Schock, der macht halt dann, dass man weiterschauen will … erst recht weiterschauen […]. Ich find House of Cards hat immer durchgezogen, dass man’s weiterschauen will - und ich glaub nämlich schon eher durch die Tabubrüche … also ich hab da mit meiner Freundin beim Schauen auch oft drüber diskutiert, weil die Serie hat uns oft sprachlos gemacht 86 (IV). In Florians Antwort zeichnen sich mehrere reflexive Ebenen ab: Zum einen bezieht sich der Schüler auf die Realität und merkt an, dass es für den Schau‐ spieler Kevin Spacey „krass“ und „echt hart“ gewesen sein muss, Frank beim Anspucken des Kruzifixes zu spielen. Dem Jugendlichen ist zugleich bewusst, dass viele Zuschauende, die nicht an Gott glauben, sich von dieser Aktion angesprochen fühlen könnten. Zudem beschreibt Florian den Effekt, den die Szene auf ihn hat: Dabei spielt die Wirkkraft des Schockmoments, der ihn zum Weiterschauen animiert und somit eine Binge-Watching-Dynamik in Gang setzt, eine entscheidende Rolle. Dies gilt nicht nur für die Kirchenszene, sondern auch für die anderen Tabubrüche in HoC. Der Kreislauf, der dadurch initiiert wird, kann folgendermaßen illustriert werden: 254 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="255"?> Abb. 25: Kognitiv-affektive Auseinandersetzung mit Tabubrüchen am Beispiel Florians (eig. Darst.) Die erste Reaktion auf einen Tabubruch in HoC ist bei Florian affektiver Art in Form von Schock und kurzzeitiger Sprachlosigkeit, wobei letztere rasch in ein stark ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis umschlägt. Bei der Anschlusskommu‐ nikation (durch einen Eintrag im Viewing Journal oder durch ein Gespräch mit den Mitschüler/ innen im Seminar bzw. mit Freunden zu Hause auf der Couch) werden in der Regel zuerst Gefühle artikuliert, um diese „rauslassen“ (IV) zu können. Bei Florian wird diese primär von Emotionen bestimmte Phase von einer tieferen Sinnsuche durch kognitive Bedeutungsaushandlung ergänzt. Der Schüler beschreibt dies im Interview folgendermaßen: Zuerst ist man halt echt krass geschockt und ja … dann braucht man so ne Art … ich sag mal „Ventil“, um‘s rauslassen zu können … Also ich hab dann halt mit meiner Freundin drüber geredet. Und dann … ja dann fängt man an, drüber nachzudenken … also was die message davon sein könnt, weil die ham sich ja was bei der Szene gedacht (IV). Die Intensität kognitiv-affektiver Prozesse am Beispiel Florians soll an einem weiteren konkreten Tabubruch, nämlich der Ermordung Peter Russos, illustriert werden. Dazu schreibt Florian Folgendes: „He is not only involved, I’d go as far as saying that he murdered him! I wasn’t expecting anything like that and to me it’s just a whole plot twist in Frank’s character” (VJ 1). Zunächst benennt der Schüler den Mord als solchen und drückt anschließend Entsetzen und Enttäuschung über diese für ihn nicht absehbare Wendung aus. Doch in Florians Auseinandersetzung mit der Szene bleibt es nicht bei dieser Reaktion: Im 255 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="256"?> 87 Frank richtet folgende Worte an Peter, bevor er ihn in der Garage bei laufendem Motor zurücklässt: „[…] I see you, and I think, well, there’s a brave man, far braver than me. […] You should close your eyes. Let it all go. We have all the time in the world. Peter? Peter.“ 88 Freilich bringt Frank Peter nicht um, um ihn von seinem Leid zu erlösen, sondern um seine unberechenbar gewordene Marionette zu beseitigen, bevor sie ihm gefährlich werden kann. Nichtsdestotrotz gibt es einige Parallelen zwischen der Hunde- und der Russo-Szene, weshalb Florians Vergleich passend gewählt ist. Interview erklärt der Schüler, dass er nach der Russo-Szene „erstmal schockiert war“ (IV) und dann habe er „nochmal drüber nachgedacht … Es musst ja ne Erklärung geben“ (IV). Der Jugendliche ist folglich nicht bereit, Frank - ohne nochmal in sich zu gehen - als eiskalten Mörder abzustempeln. Aus diesem Grund setzt bei Florian eine Phase der Reflexion ein, in der er nach einer Rechtfertigung sucht. Das Ergebnis dieser Überlegungen ergänzt Florian im Viewing Journal als eine mit Sternchen versehene Fußnote: „*But you could also refer it [= the scene of Russo’s death] back to the first scene where he kills the dying dog. He might have thought that Peter’s life was already over and only tried to ease his pain“ (VJ 1). Was Florian mit dieser Fußnote gelingt, ist eine bemerkenswerte Erklärung für Franks Handeln. Der Schüler erkennt den Staffelauftakt, in dem Frank den leidenden Hund erlöst bzw. umbringt, als passende Analogie zur Russo-Szene. In der Tat ist Peter Russo in der Mordnacht am Boden zerstört, weil er nach einem schweren Rückfall in die Alkohol- und Drogensucht alles verloren zu haben scheint: seine politische Karriere, den Respekt seiner Kinder und die Liebe seiner Freundin. Frank fährt Peter nach Hause, parkt sein Auto in dessen Tiefgarage und spricht ihm beruhigende Worte zu 87 - ähnlich wie er sich einst zum Nachbarshund herabbeugte, um am Ende zu verkünden: „There. No more pain“ (Chapter 1: S01E01). Florian ist der einzige Schüler, der die Rahmung der ersten Staffel durch zwei Morde (einer am Anfang in Chapter 1 und einer gegen Ende in Chapter 11), welche beide eine Erlösung von Leid mit sich bringen, erkennt. 88 Mit dieser moralischen Rechtfertigung für die Ermordung Peter Russos beruhigt Florian sein Gewissen, so dass er seinen Serienmarathon fortsetzen kann (vgl. dazu der oben dargestellte Kreislauf). 6.5.5 Ausbildung von Filmkompetenz: Entwicklung zum aktiven und aufmerksamen Rezipienten Leicht unbeholfen formuliert Florian zu Beginn des W-Seminars, was ihm an der ersten Staffel von HoC besonders gefallen habe. Neben Franks Asides stellt der Schüler fest, „[d]ass die Serie gemacht wurde wie ein Film, also so kommt es bei mir rüber durch die Blickwinkel und Auflösung“ (FB). Damit will Florian ausdrücken, dass HoC keine „nullachtfünfzehn Serie“ (IV) ist, 256 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="257"?> sondern filmästhetisch auf ganzer Linie überzeugt. Dem Schüler fehlen zu Beginn der elften Klasse jedoch offensichtlich filmsprachliche Kompetenzen, um seinen eher vage formulierten Eindruck, dass „die Serie gemacht wurde wie ein Film“, zu konkretisieren. Am Ende des W-Seminars verfügt Florian über das nötige Fachvokabular, um sich bezüglich filmspezifischer Gestaltungsmittel präzise artikulieren zu können, was seinen Lernzuwachs in diesem Bereich unterstreicht. Im Interview äußert sich Florian dazu folgendermaßen: Wir haben viel über Filmsprache, Filmmotive, Filmperspektiven und so was alles gelernt […]. Also ich überleg jetzt auch zum Beispiel, wenn ich jetzt so einen Film oder eine Serie anschaue […], dann überleg ich halt auch, warum grad aus diesem Winkel … oder warum diese Einstellung und was hat das Licht für ne Funktion und so weiter … Und an manchen Stellen zeigt die Perspektive […], wer zum Beispiel die Oberhand hat […], was man wohl eher so im Unterbewusstsein merken würde. Und jetzt merk ich das halt direkt und kann’s dann auch erklären. Also als ich HoC zum ersten Mal mit meiner Freundin geschaut hab, da waren wir schon auch fasziniert davon, aber wir konnten’s nicht so richtig begründen. Und nachdem ich jetzt gelernt hab, wie Filme funktionieren, kann ich des halt besser erklären (IV). Auf die Rückfrage, was genau Florian besser erklären könne, antwortet dieser: „Man hat sich bei HoC viel Mühe gegeben und es ist alles so genau und perfekt gemacht. Jeder frame ist da so symmetrisch aufgebaut und auch so Kleinigkeiten bedeuten was … Nichts ist da einfach so zufällig“ (IV). Durch das W-Seminar eignet sich Florian also einen geschärften Blick auf audiovisuelle Medien an, was mit seiner Entwicklung vom passiven Konsumenten zum aktiven Rezipienten zusammenhängt. Florian stellt im Interview fest, dass er diese Art der konzentrierten Rezeption durch die Viewing Journals verinnerlicht habe, indem er gelernt [habe], so eine Serie genauer zu untersuchen. […] Es hat einfach bisschen die Augen geöffnet, dass man eine Serie nicht nur über sich ergehen lässt, sondern zum Beispiel bei House of Cards … das ist ja eine eher anspruchsvollere Serie, da muss man auch wirklich aufpassen (IV). Florian erkennt folglich in der Beschäftigung mit der komplexen Serie HoC, dass er aktiv mitdenken muss, um die Handlung verstehen zu können. Der Schüler gesteht, dass er die erste Staffel von HoC bei einem erstmaligen Rezept‐ ionsversuch im Binge-Watching-Modus kurz nach der Veröffentlichung der Serie nicht vollständig verstanden habe, weil ihm „so’n paar Sachen anscheinend wirklich entgangen“ (IV) seien; „erst durch dieses Analysieren und nochmal konzentriert Anschauen kam’s dann halt […], worum’s halt wirklich ging“ (IV). 257 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="258"?> Das aufmerksame Schauen empfindet Florian zwar mitunter als „anstrengend“ (IV), aber zugleich erkennt er, dass die Vorteile überwiegen: Ich schau jetzt halt wirklich anders, mehr so genaues HIN-schauen … und ich konzentrier mich viel mehr - auch so auf Kleinigkeiten und so. So hat man halt auch mehr vom Serienschauen, find ich … und man merkt, ob die Serie was kann oder halt eben nicht (IV). Florian sieht sich folglich zur kritischen Beurteilung der Qualität einer Serie in der Lage und stellt hinsichtlich seiner Analysefähigkeiten einen deutlichen Lernzuwachs fest: „Definitiv hab ich filmanalytisch viel dazugelernt … dass man Szenen auch öfter anschauen musste, so dass einem wirklich alles auffällt“ (IV). Florians genaues Hinschauen zeigt sich beispielsweise in folgender Beob‐ achtung: When Claire saw the news of Zoe’s death in chapter 14, she had a glimpse of sadness and anger in her face but fast turned to her make up table and put on make up. It seemed like a mask she put on because of the terrible things her husband did. Although it wasn’t said that she knows what happened I am sure that she has a feeling about it and that’s why she put on a mask (VJ 2). Als einzigem Schüler fällt Florian auf, wie der Mord an Zoe mit der Schmink‐ szene Claires durch eine aufschlussreiche Montage verknüpft wird. Der Jugend‐ liche spielt zudem auf das für die Serie zentrale Sein-Schein-Leitmotiv an: „she knows what happened“ vs. „she put on a mask“. Florians Eintrag zeigt, dass der Schüler in der Lage ist, scheinbar nicht zusammenhängende Szenen durch eine Interpretation der Bildsprache und deren Symbolik in einem größeren Kontext zu deuten. Der Jugendliche stellt nicht nur Verbindungen zwischen Szenen her, sondern er konzentriert sich auch auf einzelne Bilder, indem er diese aufmerksam analysiert. So erkennt er beispielsweise, dass der Blumenstrauß, der am Kran‐ kenhausbett von Franks Chief of Staff Doug Stamper steht, verwelkt ist, was einen deutlichen Kontrast zur Botschaft der daran angebrachten Gute-Besse‐ rungs-Karte darstellt. Florian schreibt dazu in seinem Viewing Journal: You can see withered flowers that must have been very beautiful some time. On the flowers is a note saying: ‘Thinking of you’ with the signature of Claire and Frank. It just seems funny that it says that they think about him although they let the flowers wither and don’t send new ones. It just shows that they aren’t really thinking of him, it was just a gesture (VJ 3). 258 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="259"?> Florian weist also auf den Widerspruch zwischen dem verwelkten Strauß und den Worten „Thinking of you“ hin, womit er implizit die heuchlerische Botschaft entlarvt. 6.5.6 Entwicklung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen Insgesamt ist Florian am Ende des W-Seminars der festen Überzeugung, dass sich mein Englisch verbessert hat dadurch … Es war halt extra viel Englisch: Extra Englischstunden und dann auch noch das Schauen von House of Cards mit dem Viewing Journal in den Ferien. Also … im Vergleich zu den Leuten, die kein englisches Seminar hatten, hab ich mich schon deutlich mehr mit der Sprache befasst als andre und das hat meine Noten [in Englisch] dann auch nochmal mehr angehoben (IV). Der Schüler ist also der Meinung, dass sich sein Englisch durch die intensive rezeptive sowie produktive Beschäftigung mit der Sprache verbessert habe, was im Folgenden genauer untersucht werden soll. 6.5.6.1 Mitteilungsbedürfnis im Anschluss an House of Cards: Verbesserung der Schreib-Kompetenz Im Fragebogen gibt Florian als zentrale Erwartung an das W-Seminar an, mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern über die Serie sprechen und diskutieren zu dürfen, da dies im Unterricht meist zu kurz komme. Darüber hinaus erhofft er sich, dass Szenen gemeinsam geschaut und im anschließenden Gespräch analysiert werden. Diesbezüglich wird das Seminar Florians Erwar‐ tungen gerecht, was er im Interview betont: Das W-Seminar war für mich persönlich mein Lieblingsfach, auch mehr als normaler Englischunter‐ richt, weil wir da halt nur so Texte lesen und ich find, in unserem Seminar war es mehr Anwendung und man konnte viel freier miteinander reden […]. Die Art, wie Sie unterrichtet haben, hat mir sehr gefallen … also jedes Mal so ne PowerPoint … das war alles so strukturiert, gut beigebracht und wir durften halt auch unsere Meinung im Unterricht sagen. So stell ich mir das auch an der Universität vor, dass man was lernt … aber halt auch dadurch, dass man diskutieren darf … Ich hab halt auch überlegt, Englisch zu studieren […] also es wär für mich echt toll, wenn’s genauso an der Uni wär (IV). Florian lobt die Verbindung aus strukturierten PowerPoint-Präsentationen und den vielseitigen Gelegenheiten zur Anschlusskommunikation. Parallel zur Hoff‐ nung des Jugendlichen, dass Seminare an der Universität ähnlich ablaufen, wird seine Unzufriedenheit mit dem schulischen EU deutlich, den er als „langweilig und unkommunikativ“ (IV) empfindet. Dementsprechend ist Florian dankbar 259 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="260"?> für die Gespräche und Diskussionen über HoC, die ihm durch das W-Seminar ermöglicht werden. Der Mitteilungsdrang des Schülers zeigt sich besonders in den Viewing Journals, die Florian hinsichtlich des W-Seminars am meisten in Erinnerung bleiben. Er mag vor allem die Aufgaben, zu denen er seine eigene Meinung festhalten darf. Diese Art der unmittelbaren Anschlusskommunikation ist für ihn wichtig, um seine Gedanken und Gefühle „rauslassen zu können“ (IV). Der Schüler betont im Interview an mehreren Stellen, dass ihm das Schreiben über die Serie „Spaß gemacht“ und er „gern damit [= mit Viewing Journals] gearbeitet“ habe (IV). Dies spiegelt sich auch in folgenden Überlegungen Florians wider: Früher mochte ich das [Schreiben] nicht so, um ehrlich zu sein. Ich war nie so der große Schreiber [lacht]. Aber mit den Journals hat das halt eher so, ja, Spaß gemacht und es hat sich halt eher so … also für mich hat es sich normal angefühlt, da meine Meinung reinzuschreiben. Ich hab mich da echt dran gewöhnt, muss ich sagen … und ich hab auch’n bisschen gemerkt, dass ich das dann immer besser konnte, wobei … Ich denk halt auch, dass des an der Übung liegen muss … ich hab ja doch viel geschrieben und es hat mich aber dann nicht gestresst oder so. Ich wollt es ja dann so hinschreiben (IV). Der Schüler entwickelt in der Auseinandersetzung mit HoC folglich nicht nur Freude am Schreiben, sondern auch eine gewisse Schreibroutine und darüber hinaus mehr Selbstbewusstsein diesbezüglich. Die Interpretationsideen Florians zeigen immer wieder, dass er seine Viewing Journals als Ventil für seine Gefühle und Gedanken nutzt und hier unbefangen sowie kreativ denkt und schreibt. 6.5.6.2 Lexikalischer Lernzuwachs Im Interview erwähnt Florian, dass „sich die Vokabeln von der Serie einge‐ brannt“ (IV) hätten, „weil man schaut des halt öfter an und hört die Sprache und dann musste man die Wörter ja auch benutzen“ (IV) - zum Beispiel beim Verfassen der Viewing Journal-Einträge. Der Schüler begründet das „sich Ein‐ brennen“ neuer Wörter also durch die Kombination aus wiederholter rezeptiver Wahrnehmung (= Hör-Verstehen bzw. Hör-Seh-(Lese-)Verstehen im Fall von Untertiteln) und anschließender produktiver Anwendung dieser im Viewing Journal. Auf meine Nachfrage, welche Vokabeln sich der Schüler gemerkt habe, rekapituliert Florian: Also zum Beispiel amendment aus der zweiten Staffel, das werd ich nie vergessen … also vor allem so politische Wörter prägen sich ein, so dass ich jetzt halt ungefähr weiß, was damit gemeint ist. Wir haben halt in der Schule über impeachment gesprochen und dann kannte ich das schon durch die Serie … oder filibuster, das hab ich gelernt nur durch’s Viewing Journal - also ich wusst nicht, was es bedeutet in der Serie - das 260 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="261"?> hab ich erst gelernt, nachdem wir das googlen mussten. Insofern war das Journal sehr gut für die politischen Wörter, die man so nicht kannte (IV). Zudem eignet sich Florian in der Auseinandersetzung mit HoC etliche Kolloka‐ tionen an: Der Schüler schnappt beispielsweise to be left out of the loop, to turn one’s back on someone, to put one’s life at risk und to be on someone’s ticket auf und benutzt die Wendungen aktiv in seinen Viewing Journals. Ein weiteres Wort, das Florian durch HoC lernt, ist hypocrisy, welches er häufig in Zusammenhang mit Politik verwendet, um auf das Sein-Schein-Leitmotiv zu verweisen. Vokabeln, die Florian für seine Einträge in den Viewing Journals in Eigenregie nachschlägt und sich merken möchte, sind beispielsweise: gullible als Synonym für naïve, to jeopardise anstelle von to risk und mesmerizing „als besseres Wort anstatt fascinating“ (IV). 6.5.7 Zusammenfassung Die obige Darstellung zeigt, welche kognitiv-affektiven Prozesse die Auseinan‐ dersetzung Florians mit der Serie prägen. Der Schüler erachtet HoC als für sich relevant und fühlt sich zugleich ganzheitlich in die Rezeption involviert. Dabei spielen die Protagonisten der Serie, Frank und Claire Underwood, eine entscheidende Rolle, da der Jugendliche beide als Vorbilder für sich sieht. Der Politiker Frank spricht Florian vor allem kognitiv an, da er seinen beruflichen Werdegang - der vom Schüler bewundernd als Frank’s Path to Power bezeichnet wird - nachvollziehen und in gewissen Bereichen (z. B. hinsichtlich seiner Entschlossenheit und seines Ehrgeizes) nachahmen möchte. Claire Underwoods Vorbildfunktion für den Schüler ist hingegen primär affektiver Art, was sich darin widerspiegelt, dass Florian einen intensiv ausgeprägten empathischen Zugang zu ihr entwickelt. Der Jugendliche versetzt sich in ihre Gefühlswelt, nimmt ihre Perspektive als Ehefrau neben dem mächtigsten Mann der Welt ein und verweist in der Beschäftigung mit ihr immer wieder auf Emotionen wie Mitgefühl (mit der betrogenen Ehefrau) und Bewunderung (aufgrund ihrer Klasse, Eleganz und Menschlichkeit). Eine weitere Tendenz, die für Florians kognitiv-affektive Prozesse eine zen‐ trale Rolle spielt, ist das starke Mitteilungsbedürfnis, das den Schüler in seiner Beschäftigung mit HoC zu ausführlichen Einträgen in seinen Viewing Journals anspornt. Dies trifft besonders auf die Tabubrüche der Serie zu. Dabei konstru‐ iert Florian Verbindungen zwischen Szenen (z. B. zwischen dem Staffelauftakt mit dem Hund und der Ermordung Peter Russos) und formuliert selbstständig Hypothesen. Dies führt zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Text, wobei das Bedürfnis, weiterschauen zu wollen, und der Wunsch, das Gesehene vollständig zu verstehen, prägende Anreize sind. Auf diese Weise entwickelt sich 261 6 Ergebnisse der Einzelfallauswertung <?page no="262"?> Florian zunehmend zum aktiv hinschauenden Rezipienten, der den Mehrwert des aufmerksamen Schauens gegenüber passivem Konsum erkennt. 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich In den Einzelfallanalysen wurden wichtige Erkenntnisse der Studie bereits de‐ tailliert herausgearbeitet und Prozesse am Einzelfall sichtbar gemacht. Gemäß der von Flick (2007: 408, 473 f) empfohlenen Vorgehensweise werde ich nun die Ergebnisse der Studie im Rahmen einer vergleichenden Fallanalyse erläutern, bei der alle 15 Fälle einbezogen werden. Hierfür erfolgt eine Gesamtauswertung in zwei Schritten: Zunächst werde ich kognitiv-affektive Prozesse sowie Tendenzen und Positionen der Seminarteilnehmenden am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC vergleichend darlegen, wobei ich hier auch theoretische Befunde und aktuelle empirische Studien einbeziehe. Davon ausgehend möchte ich den Blick auf Rückschlüsse ausweiten, welche die in meiner Studie aufgezeigten Erkennt‐ nisse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart zulassen. 7.1 Politische Positionen und Dimensionen gesellschaftspolitischen Lernens am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards 7.1.1 Vorbemerkungen zu politischem Interesse, Engagement und geschlechtsspezifischen Unterschieden Eines der Anliegen meiner Studie ist es, herauszufinden, wie Jugendliche generell gegenüber Politik und Politikern eingestellt sind und inwieweit eine Politdramaserie wie HoC politische (Um-)Denk- und Lernprozesse beeinflussen kann. Ein Großteil der SuS bringt zu Beginn des Seminars politisches Grundin‐ teresse mit (vgl. Angaben der SuS in den FB). Dies verwundert nicht, da die Ler‐ nenden das Seminar mit angekündigter politischer Schwerpunktsetzung (neben den thematischen Bereichen Medien und Shakespeare) andernfalls wohl nicht gewählt hätten. Nur zwei Schülerinnen (Sabrina und Nina) geben an, politisch überhaupt nicht interessiert zu sein. Insgesamt nennen fünf der Jugendlichen den Themenbereich US-Politik als Beweggrund und Anreiz für die Wahl des W-Seminars. Darüber hinaus äußert die Mehrheit (neun der SuS) explizit den Wunsch, sich politisch weiterzubilden, um Politik und politische Prozesse besser verstehen zu können. Hier zeigt sich eine gewisse Hilflosigkeit bei den Seminar‐ 262 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="263"?> teilnehmenden, die Politik als sperriges und damit schwer zugängliches Thema erleben. Besonders wenn es in den Nachrichten um Politik (politische Prozesse, Fachbegriffe, Institutionen) geht, stellen die SuS bei sich Wissenslücken fest, welche sie gerne füllen würden (vgl. Romina, Sven, Stefan, Laura, Emma, Carina, jeweils IV). Dies lässt auf ein gering ausgeprägtes subjektives politisches Kompetenzgefühl der SuS zu Beginn des Seminars schließen. Hinsichtlich des Wunsches, ihr politisches Wissen zu vergrößern, spielt der Fokus des Seminars auf US-Politik eine wichtige Rolle; diese erleben die Jugendlichen vor allem nach der Wahl Trumps zum Präsidenten als aufregend. Emma begründet ihr Interesse an amerikanischer Politik beispielsweise folgendermaßen: „Mit Trump als President gibt es momentan viele Ereignisse die mich interessieren und die ich besser verstehen will“ (FB). Trump, der polarisierende 45. US-Präsident, sorgte dafür, dass Politik und Entertainment immer wieder zu einem Politainment (der Begriff wurde beispielsweise von Dörner (2001) geprägt) verschmolzen, was eine gewisse politische Sensationslust begünstigte. Diese Sensationslust hin‐ sichtlich der US-Politik in Kombination mit einer aktuellen Politdramaserie auf Netflix stellte eine vielversprechende Ausgangslage für das W-Seminar dar, in dessen Rahmen eine tiefere Beschäftigung mit amerikanischer Politik erfolgen sollte. Sieben der SuS wählten eine Seminararbeit mit politischem Fokus, was in einer analytischen Beschäftigung mit folgenden Themen resultierte: Florian: Frank’s Path to Power Stefan: Frank’s Path to the Vice-Presidency Sven: Underwood & Sharp vs. Dunbar - The Greatest Fictional Debate in TV History Anastasia: Trump & Underwood - Reality & Fiction Compared Angelica: The Impact of Words & Body Language: Inaugural Speeches by Trump vs. Underwood Nina: The Presidential Election in the US, the Effect of Slogans & Campaigning & the Influence of the Media Sabrina: Patriotism in the USA. Is Frank Underwood a Patriot? Abb. 26: Seminararbeitsthemen mit politischem Fokus (eig. Darst.) 263 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="264"?> 89 Arenhövel (2018: 7) geht beispielsweise von einem weiten Politikbegriff aus, demzu‐ folge sich Politik nicht auf die zentralen politischen Institutionen beschränken lasse - „vielmehr findet sich Politik in sämtlichen Lebensbereichen“. Besonders großes Interesse zeigen die SuS am Vergleich zwischen politischer Fiktion in HoC und politischer Realität in Washington. Vor allem die männlichen Schüler sind fasziniert von der scheinbaren Realitätsnähe der Serie, was in erster Linie mit ihrer Bewunderung für Frank Underwood zusammenhängt. Während die Schüler Sven, Stefan und Florian in ihren Viewing Journals eine von Emotionen (z. B. Mitfiebern und Mitfühlen mit Frank) dominierte Rezeptions‐ haltung zeigen, wählen sie für ihre Seminararbeiten einen kognitiv-analytisch geprägten Zugang. Die Faszination, die Frank Underwood beim Serienerlebnis auf die Jugendlichen ausübt, regt diese also zu einer tieferen Beschäftigung mit US-Politik an, bei der folgende Fragen im Zentrum des Interesses stehen: Wie realistisch ist der Politiker Frank Underwood mit seinen Plänen und Aktionen? Welche Manöver und Tricks, derer Frank sich auf seinem Path to Power bedient, könnten auch in der Realität zum Einsatz kommen? Die Figur Frank Underwood löst bei den Jugendlichen also den Drang aus, den Realitätsgehalt der Serie untersuchen zu wollen, was eine sehr wünschenswerte Entwicklung darstellt. Auf diese Weise erkennen die SuS nämlich, dass es sich bei der Serie um eine Konstruktion handelt, die man dekonstruieren kann, indem man sie kritisch analysiert. Vor allem die männlichen Lernenden sind interessiert daran, sich dieser Dekonstruktionsarbeit zu widmen. An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass sich in meiner Studie geschlechts‐ spezifische Unterschiede hinsichtlich der politischen Positionen am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC herauskristallisieren. Die männlichen Schüler zeigen deutlich mehr Begeisterung für den Politiker Frank Underwood und auch mehr Interesse an der Analyse politischer Themen. Die weiblichen Jugendlichen hingegen finden an der Serie aufgrund „weicher“ Themen Gefallen: Für die Schülerinnen spielen also die zwischenmenschlichen Beziehungen der Figuren und damit Aspekte wie Liebe, Streitigkeiten und Versöhnung eine entscheidende Rolle für ein genussvolles Serienerlebnis. Eine weitere scheinbar geschlechts‐ abhängige Tendenz bezieht sich auf das politische Engagement der SuS. Im engeren Sinn engagiert sich keine/ r der Jugendlichen für Politik, aber fasst man den Politikbegriff weiter 89 , sind die SuS nicht politikfern. Dazu halten Calmbach et al. (2011: 74) fest: Versteht man unter „politisch sein“, Interesse an Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und Interesse an Gestaltung von Lebensräumen zu haben, Sprachrohre zu suchen, die die eigenen Probleme, Sehnsüchte und Interessen in „ihrer“ Sprache artikulieren, 264 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="265"?> Bereitschaft, sich für andere (z. B. Schwächere) einzusetzen, sich persönlich für konkrete soziale Probleme im eigenen Umfeld zu engagieren, dann finden sich sowohl bei bildungsaffinen als auch bei bildungsfernen Jugendlichen deutliche Spuren des Interesses und der Teilhabe an Politik im weiteren Sinne. Jugendliche selbst setzen jedoch einen engen Politikbegriff voraus und sind sich daher oft überhaupt nicht bewusst, dass sie sich politisch äußern. Ebendies zeigt sich bei den SuS des W-Seminars, die politisches Engagement im engen Sinn verstehen und deshalb zunächst angeben, nicht politisch engagiert zu sein. Bei genaueren Erkundigungen zeigt sich jedoch, dass die Jugendlichen sich für gesellschaftspolitische Belange einsetzen: Philip nimmt beispielsweise an den Fridays for Future-Demonstrationen teil und Leyla engagiert sich im Religionsverein Religions for Peace, in dem verschiedene Religionen (z. B. Islam, Judentum, Christentum) vertreten sind und Treffen zur Diskussion aktueller Themen einmal monatlich stattfinden. Die Schülerinnen Anastasia, Angelica und Carina betonen, dass sie sich über Social-Media-Kanäle engagieren würden, indem sie beispielsweise Posts gegen Rassismus oder Umweltverschmutzung auf ihren Accounts teilen. Marie leitet zudem eine Jugendgruppe in ihrer evangelischen Gemeinde. Die Schülerinnen, von denen drei weitere jüngeren Lernenden Nachhilfe geben, zeigen sich insgesamt sozialpolitisch deutlich engagierter als die männlichen Jugendlichen. Es offenbart sich also folgende Tendenz im Datenmaterial: Die Jungen denken verstärkt reflexiv-analytisch, wenn es um politische Themen geht; die Mädchen handeln hingegen eher sozialpolitisch. 7.1.2 Interesse an Politik - Lernen über Politik? Can Frank Underwood Make America Interesting Again? Befördert die Darstellung von Politikern als manipulativer und intriganter Men‐ schenschlag eine Stimmung der Politikverdrossenheit bei den Jugendlichen? Oder kann sich die Faszination für die Serie positiv auf die SuS und deren Beschäftigung mit politischen Themen auswirken - wie im oben erwähnten Beispiel des durch HoC angestoßenen Vergleichs zwischen Realität und Fiktion? Wie bereits dargelegt, gibt es hier unterschiedliche Stimmen: Breitweg et al. (2018: 265) halten fest, dass die Art und Weise, wie eine Serie Politik erzähle, auf die Bewertung der Zuschauenden hinsichtlich der realen politischen Akteure und deren Handlungen Einfluss ausübe. Bock (2014: 31) betont die negativen Effekte des HoC-Konsums auf das Politik- und Politikerbild der Zuschauenden. Morris und Evans (2014) bestätigen diesen Befund, indem sie zeigen, dass die HoC-Rezipienten im Vergleich mit der Kontrollgruppe Rücksichtslosigkeit und Manipulation verstärkt Politikern zuschreiben würden. Batroff et al. (2018: 279) 265 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="266"?> erkennen hingegen einen signifikanten Einfluss, den die Rezeption der Serie HoC auf die Einstellung gegenüber der US-Präsidentschaft mit sich bringe: „HoC-Zuschauer weisen ein höheres Involvement und Interesse an US-Politik auf, verbunden mit einem stärkeren aktiven Informationsverhalten zur US-Po‐ litik“. Auch Breit und Weißeno (2004) sowie Simon (2007) betonen die positive Wirkkraft des Einsatzes von Politserien im Unterricht, wobei Manzel (2018) insbesondere Franks Asides in HoC großes Potential für politisches Lernen aufseiten der Zuschauenden attestiert (vgl. dazu auch Kapitel 4.2.1 und 4.2.1.2 in der vorliegenden Arbeit). Calmbach et al. (2011: 76) halten hinsichtlich der Sichtweise von Jugendlichen auf Politiker folgende allgemeine Beobachtung fest: Diese werden indifferent als „ungreifbare Wesen“ wahrgenommen. Alles in allem wirken Politiker austauschbar, profillos, machtmotiviert und volksfern („alle sehen gleich aus“, „alle reden dasselbe“, „alle lügen“). Die Jugendlichen zeigen sich zwar insgesamt enttäuscht von den politischen Vertreterinnen und Vertretern, tragen dies jedoch relativ emotionslos vor. In der vorliegenden Studie spiegelt sich ein eindeutiger Trend wider: Die SuS betonen einstimmig, dass ihr politisches Interesse durch HoC gestiegen sei. Einige der Seminarteilnehmenden präzisieren ihre Aussage dahingehend, dass Politik für sie durch HoC und die in der Serie dargestellten Tabubrüche „sexy“ (Carina, IV), „scandalous und einfach spannender“ (Anastasia, IV) sowie „leichter zugänglich“ (Stefan, IV) geworden sei. Laut Romina, Florian und Sven hängt dies in erster Linie damit zusammen, dass Frank und Claire nicht dem konventionellen „Langweilerbild von Politikern“ entsprechen. Die Charaktere in Kombination mit den Moralverstößen und Tabubrüchen hätten „aus dem langweiligen Stoff […] was Interessantes gemacht“ (Sven, IV). Selbst Sabrina, die sich zu Beginn des Seminars als politisch völlig desinteressiert bezeichnet, betont, dass sie sich nach dem Schauen von HoC mehr für Politik interessiere. Vor allem der Vergleich zwischen Trump und Underwood sowie das gemein‐ same Schauen der politischen Debatte zwischen Underwood, Sharp und Dunbar hätten sie fasziniert, da beides für sie „überraschend cool“ (IV) gewesen sei. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit mit HoC der Spagat zwi‐ schen Entertainment und Education möglich ist und inwiefern in der Auseinan‐ dersetzung mit der Serie ein Dazulernen hinsichtlich der US-Politik stattfindet. Die SuS schätzen ihren politischen Lernzuwachs am Ende des W-Seminars sehr hoch ein, woran die ausführlichen Einzelinterviews keinen Zweifel lassen. Fol‐ gende Dimensionen politischen Lernens kristallisieren sich bei der Befragung der Jugendlichen heraus. 266 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="267"?> 7.1.2.1 Lernzuwachs hinsichtlich politischer Institutionen, Fachtermini und politischer Prozesse In den Interviews erwähnen alle SuS, dass sich ihr politisches Vokabular vergrößert habe, wobei folgende Begriffe am häufigsten genannt werden: Whip, impeachment, filibuster, separation of powers, Congress, Democrats, Republicans, Vice President, amendment, inauguration speech, bills in Abgrenzung zu laws und opposition. Einige der Jugendlichen stellen ihren Lernzuwachs bezüglich politi‐ schen Fachjargons vor allem während der Recherche zu ihren Seminararbeiten fest - beispielsweise beim Lesen von Artikeln über US-Politik, die sie ohne das Seminar und die Rechercheaufträge in den Viewing Journals laut eigener Angaben nicht verstanden hätten. Die entscheidende Rolle der Viewing Journals für die Memorierung politischer Termini wird von zwölf SuS betont, wobei der Prozess der Auseinandersetzung folgendermaßen visualisiert werden kann: Konfrontation mit politischen Vokabeln im Kontext der Serie VJ: Rechercheauftrag zu politischen Termini Recherche durch SuS Festhalten einer Erklärung/ Definition durch Lernende Anwendung des politischen Begriffs in VJ/ SA Abb. 27: Auseinandersetzung der SuS mit politischem Vokabular in HoC (eig. Darst.) Zunächst wird ein politischer Begriff im authentischen Kontext der Serie geäußert, was mit einem entsprechenden Rechercheauftrag im Viewing Journal verbunden ist. Im nächsten Schritt recherchieren die SuS die Bedeutung des Begriffs und halten eine passende Erklärung in ihrem Viewing Journal fest. Im Optimalfall verwenden die Jugendlichen den jeweiligen politischen Terminus zu einem späteren Zeitpunkt selbstständig (z. B. in einem Viewing Journal-Eintrag oder in ihrer Seminararbeit). Durch die Viewing Journals bleibt es folglich nicht bei einem Verharren auf der rezeptiven Ebene (Hören - und im Falle von Untertiteln Lesen - eines politischen Begriffs), sondern die Seminarteilnehm‐ enden werden auch produktiv tätig: selbstständige Recherche, Festhalten einer Definition, Anwendung in neuen kommunikativen Kontexten. Der von den SuS beobachtete Wissenszuwachs hinsichtlich „politischer Fachsprache“ (Philip, IV) initiiert eine entscheidende Entwicklung in Bezug auf das politische Lernen in der Auseinandersetzung mit HoC: Alle interviewten Seminarteilnehmenden schätzen ihre subjektive politische Kompetenz (nach Westle 2006: 221; vgl. dazu auch Vetter 2006: 241, 244; Detjen et al. 2012: 108 f) am Ende des Seminars weitaus besser und stärker ausgeprägt ein als es zu 267 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="268"?> Beginn der Studie der Fall war. Die SuS haben durch die aktive und konzentrierte Auseinandersetzung mit der Serie das Gefühl, dass Politik nicht mehr ein „Buch mit sieben Siegeln“ (Elif IV) sei. Dabei spielen auch Franks Asides eine wichtige Rolle, die den Jugendlichen den Eindruck vermitteln, einen exklusiven Einblick dahingehend bekommen zu haben, „wie die Politik halt so intern funktioniert“ (Philip IV). Die Tatsache, dass die SuS ihre subjektive politische Kompetenz am Ende des Seminars so positiv beurteilen, lässt unter Rückgriff auf das Poli‐ tikkompetenz-Modell nach Detjen et al. (2012: 15) folgende Schlussfolgerung zu: Die Jugendlichen bauen ihre Politikkompetenz in der Auseinandersetzung mit HoC aus, indem sie sich ein größeres Selbstbewusstsein und damit eine motivierte Grundeinstellung im Umgang mit politischen Themen aneignen. Dies möchte ich im folgenden Punkt vertiefen. 7.1.2.2 Skeptisch-kritisches Hinterfragen der „typische[n] Politikermaske“ und der medialen Berichterstattung Der eines der Leitmotive von HoC beschreibende Code „All about Image: Sein vs. Schein“ spielt in der Beschäftigung mit der Serie eine wichtige Rolle, was sich in der hohen Anzahl an Kodierungen widerspiegelt. Damit ist die oftmals in der Politik vorherrschende Scheinheiligkeit gemeint, wobei insbesondere für US-Politiker ein perfektes Image (Vorzeigefamilie, Kirchgänge, wohltätiges Engagement usw.) Karrierevoraussetzung zu sein scheint; dies suggeriert die Darstellung von Frank Underwood, der Meister darin ist, den Schein zu wahren. In der Auseinandersetzung mit der ersten Staffel von HoC fällt ein Großteil der SuS bis zur Ermordung Peter Russos auf dessen Schein herein. Der Mord stellt für Schülerinnen wie Marie, Sabrina, Carina, Emma, Laura und Leyla einen Wendepunkt dar und sie beginnen, hinter Franks Fassade zu schauen und seine Aktionen zunehmend kritisch zu hinterfragen. Laura fasst zusammen, „dass die Politiker schon sehr böse in HoC dargestellt werden“ (IV). Dies habe sie auch zum Nachdenken darüber gebracht, „inwieweit die Politiker halt wirklich unsere Interessen repräsentieren und nicht nur ihre eigenen Machtspiele […] spielen“ (IV). Im Durchschauen von Franks Spiel mit der Öffentlichkeit entwickelt Laura also eine generelle Skepsis gegenüber Politikern. Ähnlich ergeht es der Mehrheit der SuS, für die Politik und Amoral, Intrigen sowie Manipulation eine untrennbare Einheit darstellen - ein Eindruck, der durch die Serie HoC verstärkt wird. Interessanterweise erwähnen alle Seminarteilnehmenden im Interview auf die Frage, was sich nach dem Schauen von HoC bei ihnen verändert habe, dass sie in Hinblick auf Politik und Politiker kritischer geworden seien. Diese skeptisch-kritische Grundhaltung lässt sich anhand folgender Codes aus dem Datenmaterial konkretisieren: Der erste Code, der sich aus den 268 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="269"?> Schülerantworten ergibt, bezieht sich auf die „Politikermaske“, hinter die man kritisch schauen müsse, um nicht auf leere Versprechungen hereinzufallen. Exemplarisch kann hier Philips Äußerung im Interview aufgeführt werden (ähnlich positionieren sich Sven, Anastasia, Stefan und Angelica): Das ist mir in HoC so bewusst geworden … In der Politik, da sind halt schon viele echt richtig fake … die setzen dann jeden Tag so ihre Maske … diese typische Politikermaske eben auf, mit nem fake smile und … ja dann versprechen sie sonst was - des sieht man ja in der Serie. Und des sollt man halt nicht unbedingt alles glauben. Da bin ich nach HoC auch nochmal kritischer geworden und glaub da eben nicht alles (Philip, IV). Auch Anastasia gibt an, durch die fiktive Darstellung von Politik in HoC „kritischer und aufmerksamer als früher“ (IV) geworden zu sein: […] durch Frank hab ich ein bisschen angefangen zu hinterfragen […] bei Personen, die jetzt halt zum Beispiel in der Macht stehen […] er ist halt so manipulativ und das ist so exakt geplant, was er macht und wie die Leute reagieren […]. Und so was hinterfrag ich halt ein bisschen mehr und kritischer jetzt (Anastasia, IV). Der zweite Code hinsichtlich der kritischeren Grundhaltung der Jugendlichen beinhaltet ihren veränderten Blick auf die Medien und auf die Darstellung von Politik(ern) in den Medien, was Leyla folgendermaßen auf den Punkt bringt: Wenn ich jetzt einen Artikel lese oder … oder so einen Bericht über einen Politiker schau, also zum Beispiel in den Nachrichten, dann weiß ich jetzt, dass das nicht objektiv ist. Und es wird halt oft aus dem Kontext gerissen oder ja so … aufgebauscht, also viel Drama und so. Das ist mir in HoC aufgefallen, vor allem in der ersten Staffel. Und das stimmt halt auch in Echt. Immer viel Drama - und dahinter steckt halt ein Ziel von den Medien. Man muss sich halt vielseitig informieren, denk ich … und so Reden und so was auch mal ganz lesen … So kann man sich dann halt sein eigenes Bild machen. Da bin ich jetzt halt schon aufmerksamer und auch so … vorsichtiger, was ich den Medien glaub (Leyla, IV). Leyla erkennt demnach, dass ihre Wahrnehmung von Politikern immer durch deren Darstellung in den Medien beeinflusst werde, welche jedoch niemals objektiv sein könne. Indem Sachverhalte beispielsweise „aufgebauscht“ werden, würden sie dramatischer erscheinen als sie eigentlich sind. Um sich ein mög‐ lichst unverfälschtes Bild machen und sich bestmöglich informieren zu können, nutzt Leyla unterschiedliche Medien; auf diese Weise kann die Schülerin Dar‐ stellungen vergleichen und einseitige Information vermeiden. Darüber hinaus verlässt Leyla sich nicht auf kurze Ausschnitte aus politischen Reden in den Nachrichten, da ihr bewusst ist, dass hier nur aus dem Kontext gerissene 269 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="270"?> Fragmente präsentiert werden. Ähnlich wie Leyla äußern sich Marie, Carina und Laura im Interview, die ebenfalls auf mehrere Quellen zugreifen, um sich politisch „nicht zu einseitig“ (Marie, IV) zu informieren. Auch Emma nennt ihre Skepsis, wenn es um „Medienrummel und […] Aufruhr“ (IV) in der Öffentlichkeit geht: Wenn so was ist und alle durchdrehen … so ‚oh mein Gott, was hat der Politiker da schon wieder gemacht und wie schlimm ist das alles‘ … Ich schieb dann halt keine Panik, sondern les erst mal mehr drüber und versuch halt, dass ich das besser einschätzen kann. Das hat mich schon … ja bisschen … mmhh irritiert, was die Medien in HoC teilweise angestellt haben: Ein bisschen Übertreibung und Skandal … und dann zack, Ausnahmezustand im ganzen Land! Des bringt einen schon zum Nachdenken (Emma, IV). Letztlich distanziert sich Emma in ihrer Äußerung vom Sensationsjournalismus und dessen Folgen. Diese kritische Grundhaltung führt die Schülerin auf die Irritation zurück, die sie in der Darstellung der Wirkkraft der Medien durch HoC erfahren habe. Als Dimension politischen Lernens spiegelt sich im Datenmaterial ein durch HoC angestoßenes kritisches Hinterfragen der Fassade wider, welche Politiker gezielt inszenieren. Zudem zeigen sich die Jugendlichen skeptischer bezüglich der medialen Berichterstattung über Politiker und über politische Sachverhalte. Dies lässt auf eine Befähigung dahingehend schließen, dass sich die Lernenden mit politischen Sachverhalten selbstständig und kritisch auseinandersetzen können, was wiederum einem urteilsfähigen Umgang mit politischer Medien‐ berichterstattung entspricht (vgl. Boeser 2002: 124). Dies stellt eine wichtige Dimension politischer Bildung dar (vgl. Detjen et al. 2012: 15). Die oben erwähnten kritischen Befunde (vgl. Bock 2014; Morris und Evans 2014) zu einer Politdramaserie wie HoC leuchten zwar ein, aber mir erscheint ein gesundes Maß an Misstrauen und Skepsis nicht zwangsläufig als Symptom für Politikverdrossenheit, sondern vielmehr als wünschenswerte Haltung in einer Fake-News-Ära. Freilich kann mit einer Serie wie The West Wing aufgrund ihres idealistischen Politikerbildes eine positive Grundstimmung gegenüber Politik gefördert werden (vgl. Holbert et al. 2003). Dennoch halte ich eine solche Serie für nicht mehr zeitgemäß angesichts der derzeitigen politischen Weltlage. Ich würde die Effekte von HoC also nicht wie Bock (2014: 31) als „negativ“ bezeichnen, sondern als wichtig, um aufgeklärt, verantwortungsbewusst und kritisch demokratisch handeln zu können (vgl. Detjen et al. 2012: 15). Auch Manzel (2018: 385) bejaht „die Förderung der politischen Urteilsfähigkeit durch [Politdrama-]Serien“ und führt dies vor allem darauf zurück, dass man mit den 270 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="271"?> SuS somit über Politik ins Gespräch kommen könne, woraus sich wertvolle po‐ litische Diskussionen ergeben würden. Dies zeigt sich auch in der vorliegenden Studie: Oft blieben die SuS nach Beendigung des Nachmittagsunterrichts noch im Klassenzimmer, um ihre Ansichten mitzuteilen und Themen vertiefen zu können. 7.1.3 Entwicklung von Gender Awareness in der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen Zum Potential von HoC als Unterrichtsmedium und -gegenstand im EU der Se‐ kundarstufe II zählt neben politischen Themen im engeren Sinn zweifellos auch die dadurch mögliche Auseinandersetzung mit zeitgemäßen gesellschaftspoliti‐ schen Themen (z. B. Diskriminierung, Rassismus, Sexismus, Chancengleichheit usw.). HoC bietet damit jede Menge Anstöße und Chancen für inter- und transkulturelles Lernen, was am Beispiel der Kategorie Gender verdeutlicht werden kann. Die Relevanz der Förderung von Gender Awareness und Gender Sensitivity für inter- und transkulturelles Lernen steht laut König, Lewin und Surkamp (2016: 21) außer Frage: „The ability to change perspective, which is an important learning goal [in the interand transcultural framework] […] can also be applied to the cultural category of gender”. Dies betont auch Lütge (2012a: 33): „Insbesondere der gender-Aspekt scheint dazu angetan, inter- und transkulturelle Phänomene aus veränderter Perspektive zu betrachten“. Volkmann (2016: 121 f) sieht Gender-sensible Verfahren im EU als „one of the most pressing objectives of dealing with literature [and movies] in the EFL classroom”. Bei der Förderung von Gender Awareness im EU müsse eine Verbindung hergestellt werden „with other critical approaches exploring social class, race, ethnicity, nationality, sexuality, ability status, age […] and other important global issues such as poverty, unequal distribution of wealth, etc.”. Die Fremdsprachendidaktik habe sich „lange schwer getan mit Fragestel‐ lungen, die dem Gender-Diskurs nahe stehen“ (Blell und Lütge 2009: 244), weshalb die Bedeutung des Gender-Diskurses für den EU marginal geblieben sei. Mittlerweile seien die Gender Studies jedoch dabei, sich als vielschichtiger For‐ schungsbereich in der Fremdsprachendidaktik zu etablieren (vgl. Decke-Cornill 2017: 102). Dies hängt damit zusammen, dass the question how to deal with gender issues in the foreign language classroom seems to be a highly relevant one at a time in which the inclusion of learners from many races, socio-economic backgrounds and genders has become a key topic within educational theory, research and practice (Elsner und Lohe 2016: 9). 271 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="272"?> In den letzten Jahren seien insbesondere im Rahmen der Cultural Studies Sinnstiftungsprozesse wie identity, resistance, sexuality, power, queer and men’s issues als gesellschaftspolitische Themen relevant geworden. Dadurch sei die Forderung nach mehr „Querdenken“ (Blell und Lütge 2009: 244) im kultur-, film- und literaturdidaktischen FSU angestoßen worden. Die Serie HoC beinhaltet zahlreiche Szenen, die den Zuschauenden ein Querdenken abverlangen (z. B. die offene Ehe der Underwoods, die Begegnungen der UN-Botschafter Claire und Alexi, die Gesinnung von LGBT-Aktivist Michael Corrigan etc.). Ebensolche Szenen sollten nutzbar gemacht werden, um Gender Awareness zu fördern und Gender Blindness zu minimieren, was Volkmann (2007: 4 f) als wichtige Zielsetzung eines zeitgemäßen EU festhält. Insbesondere die Seminarteilnehmerinnen entwickeln in der Auseinander‐ setzung mit HoC Sensibilität, wenn es um gender-related topics geht. Dies hängt v. a. mit ihrer starken Identifikation mit Claire Underwood zusammen, mit der die Schülerinnen mitfühlen und mitfiebern. Geeignete Anknüpfungspunkte für das Thema Gender bietet die Serie HoC beispielsweise in Staffel 3, als Claire sich aus ihrer Rolle als First Lady an Franks Seite befreien möchte; Claire reicht es nicht, nur winkend neben Frank zu stehen und in hübschen Kleidern medienwirksame Events zu besuchen. Stattdessen baut sie sich sukzessive eine eigene politische Karriere auf, um sich selbst verwirklichen zu können. Fortan muss Claire den Spagat zwischen ihren repräsentativen Pflichten als First Lady und zugleich UN-Botschafterin meistern, was ihr durch eine von Männern dominierte politische Landschaft erschwert wird. So sieht sich Claire zunehmend konfrontiert mit Aussagen wie „You make a much better First Lady than Ambassador […]“ (Chapter 29: S03E03; Petrov bei seinem Staatsbesuch in Washington) oder „The truth is you have no business being Ambassador any more than I do being First Lady. That’s a very nice dress, by the way” (Chapter 31: S03E05; russischer Botschafter Alexi Moryakov). Die Kommentierung sol‐ cher Äußerungen stellt für die Schülerinnen in ihren Viewing Journals einen motivierenden Schreibanlass dar, wohingegen die männlichen Schüler sich schwertun, in der Auseinandersetzung mit den sexistischen Kommentaren zwi‐ schen den Zeilen zu lesen. Da diese Diskrepanz zwischen den männlichen und weiblichen Jugendlichen im Auswertungsprozess deutlich hervortritt, soll dies exemplarisch herausgearbeitet werden, indem Carinas Eintrag zur Bathroom Scene (Chapter 31: S03E05) mit Svens und Stefans Viewing Journal-Einträgen 272 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="273"?> 90 Sven und Stefan wurden für den Vergleich ausgewählt, da beide Schüler normalerweise sehr akkurate und ausführliche Viewing Journal-Einträge verfassen (siehe Einzelfalla‐ nalysen). Dies trifft jedoch nicht auf ihre Einträge zu den gender-related topics zu, welche ihr nicht vollständiges Verstehen widerspiegeln. Philips Einträge konnten nicht berücksichtigt werden, da sich der Schüler in seinem Viewing Journal nicht zu den Claire-Alexi-Szenen in Kapitel 31 äußert. 91 Die Szene kann als Claires Racheaktion nach Alexis Kommentar (s. oben) in Kapitel 31 gesehen werden. Claire zwingt den russischen Botschafter zu einem Gespräch in der Damentoilette, wo Claire zunächst ihr Makeup auffrischt und anschließend die Toilette benutzt. Alexi ist von diesem Verhalten so vor den Kopf gestoßen, dass er Claires Aufforderungen widerstandslos Folge leistet. Letztlich zwingt Claire Alexi dazu, sich auf ihrem Territorium wie ein Gentleman zu benehmen (so kommentiert sie sein Verhalten explizit), obwohl beiden bewusst ist, dass er aufgrund seiner zuvor geäußerten sexistischen Kommentare keineswegs als solcher bezeichnet werden kann. kontrastiert wird. 90 Dies soll im Folgenden am Beispiel der Bathroom Scene  91 verdeutlicht werden, da hier mit (Geschlechter-)Rollenerwartungen gespielt wird, indem diese ad absurdum geführt werden. Laut Blell und Lütge (2009: 250) sind solche Szenen besonders gut zur Thematisierung unterschiedlicher Gender-Perspektiven geeignet. Folgendes hält Carina zu Alexis Kommentar, „The truth is you have no business being Ambassador any more than I do being First Lady. That’s a very nice dress, by the way” (Chapter 31: S03E05), fest: He [= Alexi] totally objectifies her [= Claire] and her gender and simplifies her character, as if being a woman is all that matters about her. He doesn’t think she is right for the job as ambassador and that she only got it because of her husband. He doubts her a lot, because she is a woman, if she were just any woman, without a powerful husband, she would have never gotten where she is right now. He is acting like dresses and makeup is all that women care about. And he also probably thinks that it is all they should care about (Carina, VJ 3). Auch wenn Carina den Begriff Sexismus nicht nennt, erkennt die Schülerin die sexistische Implikation von Alexis Worten, was vor allem in ihrer Aussage „He doubts her […], because she is a woman“ deutlich wird: Alexi zweifelt Claires Kompetenz an, weil sie eine Frau ist und er ihr höchstens Mode- und Schminkexpertise zutraut. Zu Claires Reaktion in der Damentoilette schreibt Carina: She [= Claire] starts friendly-talking to him [= Alexi] while still doing her makeup in a public ladies-room, which is already not a place a male ambassador would ever go to, but she forces this on him, so he doesn’t have a choice. She asks for his opinion on her looks and is still sweettalking him to prepare him for what she has to say. 273 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="274"?> 92 Ähnlich gelungen sind die Darlegungen Rominas (siehe Einzelfallanalyse), Leylas und Emmas zu den Claire-Alexi-Szenen. Then she goes to the toilet and even leaves the stall open so he can see her. He reacts shocked and turns away, but he listens to what she has to say. She threatens the Russians with war if they sell weapons to Iran: “we will shoot the planes out of the sky, the trucks off the road, and the ships out of the water.” is her threat to Russia. The setting is very personal, a ladies-room. But that way she does accomplish quiet a lot: This is the powerplay of the higher league. She shows him so gracefully and so effectively who is boss. I mean, forcing inappropriate intimacy is very subtle way to show power. She catches him offguard and showcases her strength while he is too uncomfortable to show his own. It’s perfect. In my opinion this is the Claire way to show power and change perception. Claire always presents herself as graceful and polite and thoughtful and kind, she doesn’t talk back and is a real lady. For men who have only ever seen her that way, this is a real challenge to face. And that’s why it works so well. She makes him uncomfortable. For a guy who probably doesn’t even watch his own wife on the toilet, this must be way outside his comfort zone (Carina, VJ 3; meine Hervorhebung). Zunächst offenbart sich in der Ausführlichkeit von Carinas Eintrag, dass die Bathroom Scene für die Schülerin einen motivierenden Schreibanlass darstellt. Die Jugendliche erfasst die Dynamik von Claires Machtspiel und sie beschreibt die Intentionen der Protagonistin sowohl inhaltlich differenziert als auch sprachlich eloquent. Vor allem die hervorgehobenen Stellen zeigen die sehr guten fremdsprachlichen Kompetenzen der Schülerin, die sichtlich Freude daran hat, ihr Verständnis der Szene mit treffsicherer sowie souveräner Wortwahl unter Beweis zu stellen. 92 Svens Einträge zu den beiden Szenen ((1) Alexis sexistischer Kommentar und (2) Claires Reaktion darauf) fallen im Vergleich zu Carinas Ausführungen deutlich kürzer und oberflächlicher aus: (1) I think what he is trying to say is that Claire is clearly unfit for the position of the Ambassador of the United States. His comment on Claire’s outfit might be another message with a meaning like: “You only got this position because of your looks not because of your qualification” (VJ 3). (2) First of all Claire makes Alexi enter the women’s toilet which obviously is a place that shouldn’t normally be entered by a man. After entering the room Claire doesn’t just keep on doing her makeup without even looking at Alexi once, then she goes on the toilet in the middle of her sentence and starts dishonouring him by attacking him verbally and morally at the same time. A very 274 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="275"?> strange yet effective way for her to get revenge on Alexi with every means possible (VJ 3; meine Hervorhebung). In beiden Antworten gelingt Sven die Interpretation der gender-related scenes nicht vollständig, wobei vor allem der im zweiten Eintrag hervorgehobene Teil unzutreffend ist: Claire attackiert Alexi weder wörtlich noch moralisch, sondern der Reiz ihres Racheaktes besteht darin, dass sie ihn subtil und ironisch darauf aufmerksam macht, dass sie Sexismus nicht toleriert und er sie besser ernst nehmen sollte. Ähnliches trifft auf Stefans Ausführungen zu: (1) So, I actually have two ideas, what his remark could mean. The first one is, that the dress is referring to her not being suitable for the job as ambassador, so just like her dress she is just a nice façade. The second one is, that his remark should tell her, that she is not suited for this “lowly” job and that she as the first lady is predestined for something “higher”, so she should just leave the things to someone else, who knows what he does (VJ 3). (2) Claire had a meeting with Alexi in the women’s restroom, while doing her make-up she asked him about his opinion on it, he flattered her, which she commented with “Always nice to have a man’s opinion”, indicating that it might be nice to have his opinion, but totally unnecessary. Afterwards she went peeing and there she tells him that she got an executive order from her husband, promising the U.S. will send troops on the peacekeeping mission. If Russia tries to send weapons to Iran, she said, “we will shoot the planes out of the sky, the trucks off the road, and the ships out of the water.” Then both of them agreed on a meeting between both presidents and the release of Corrigan (VJ 3). Stefans erster Eintrag zeigt seine Unsicherheit zunächst dadurch, dass er zwei Ideen hinsichtlich der Bedeutung von Alexis Kommentar festhält. Die erste Idee ist sinnvoll, wohingegen der zweite Einfall des Jugendlichen auf ein defizitäres Verständnis des sexistischen Kommentars schließen lässt. Dies wird auch bei Stefans Ausführungen zur Bathroom Scene deutlich. Während seine Worte „it might be nice to have his opinion, but totally unnecessary“ Claires intendierte Ironie auf den Punkt bringen, beinhaltet der Rest der Antwort nur eine Nacherzählung der Szene, die schließlich in folgender unzutreffenden Äußerung mündet: „Then both of them agreed on a meeting […]“. Zu einem „agreement“ zwischen Claire und Alexi kommt es in der Szene keineswegs; Claire stellt ihren Kollegen lediglich vor vollendete Tatsachen, um ihm zu zeigen, welche Macht sie als Frau über ihn ausüben kann. Die Erkenntnis, dass die Seminarteilnehmerinnen intuitiv über mehr Sensibilität im Umgang mit Szenen verfügen, welche Sexismus thematisieren, bringt mich zu folgendem Plädoyer für die Förderung von Gender Awareness in der Sekundarstufe 275 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="276"?> II: Nicht nur die Schülerinnen, sondern auch die Schüler müssen befähigt werden, sensibel und kompetent mit dem Thema Gender umzugehen. Vor allem die Dekon‐ struktion von Sexismus stellt hierbei ein wichtiges Lernziel dar (vgl. Volkmann 2016: 121). Im Rahmen der Förderung von Gender Awareness sollten die SuS ● in erster Linie dazu befähigt werden, Gender als soziales Konstrukt zu erkennen, indem gesellschaftliche Einflüsse auf die Herausbildung der Geschlechterrollen verdeutlicht werden (vgl. D’Arcy und Landa 1996: 15; Blell und Lütge 2009: 241), ● die geschlechtsspezifische Bedingtheit von Konfliktsituationen er‐ kennen und geschlechtsspezifisches Kommunikationsverhalten reflek‐ tieren können (vgl. Kugler-Euerle 1998: 161), ● dazu ermutigt werden, hinsichtlich ihrer Gender-Wahl und ihres Gender-Be‐ wusstseins selbständig zu agieren, ohne von traditionellen Gender-Kon‐ zepten fremdbestimmt zu werden (vgl. König und Surkamp 2010: 176; Volkmann 2007: 9), ● zu einer Gender-sensiblen Wahrnehmung befähigt werden, so dass sie gendered views and sounds identifizieren können (vgl. Blell und Lütge 2009: 253 f), ● die Gelegenheit zur geschlechterübergreifenden Perspektivenübernahme bekommen, um dabei Empathie und Fremdverstehen ausbauen zu können, ● Geschlechtsrollenstereotypen erkennen, kritisch hinterfragen und dekon‐ struieren können (vgl. Elsner und Lohe 2016: 13), ● ihre Discourse Competence ausbauen. Der zuletzt genannte Punkt spielte bei der Erstellung der Viewing Journals und bei der Konzeption des W-Seminars eine Schlüsselrolle: [Writing or] speaking about gender in a meta-discourse enables the development of discourse competence: learners need a specific gender discourse ability to be able to talk about practices of ‚doing gender‘ and to be able to negotiate gender norms in conversations with others. Providing students with the means to engage in such interactions is part of the overall goal of current foreign language teaching, which is helping students to participate in a multitude of different cultural discourses (König, Lewin, und Surkamp 2016: 22). Im Kontext meiner Arbeit wurden Gender-sensible Szenen in HoC mit entspre‐ chenden Aufgaben zur Wahrnehmungsschulung und Bewusstseinsschärfung in den Viewing Journals verknüpft. Interessanterweise gelingt es den Schülerinnen in der Regel intuitiv, Stereotype zu hinterfragen und entsprechende Dekonst‐ ruktionen zu leisten. 276 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="277"?> 93 Für die steigende Wichtigkeit der Gender-Thematik können zahlreiche Beispiele mo‐ derner audiovisueller Medien genannt werden: Bombshell - Das Ende des Schweigens (2019) als sozialkritisches und auf Fakten beruhendes Drama über sexuellen Missbrauch bei Fox News; Game of Thrones (2011-2019), die Dramaserie, die zahlreiche Beispiele sexuellen Missbrauchs und sexueller Erniedrigung zeigt, wobei diese nicht selten von Emanzipation und female empowerment abgelöst werden; die Serie The Handmaid’s Tale (seit 2017) als Verfilmung des gleichnamigen Romans von Margaret Atwood, die von einer Gesellschaft handelt, in der Frauen versklavt und als „Gebärmaschinen“ miss‐ braucht werden; die auf wahren Begebenheiten beruhende Amazon-Serie Good Girls Revolt (2015-2016), welche die Klage von 46 Frauen gegen sexuelle Diskriminierung bei einem renommierten US-Nachrichtenmagazin darstellt. Als Beispiel für male em‐ powerment in der Medienlandschaft des 21. Jahrhundert kann die Literaturverfilmung The Perks of Being a Wallflower (2012) genannt werden, in der ein Teenager seine Geschichte des sexuellen Missbrauchs verarbeitet und mithilfe seiner Freunde lernt, sich selbst zu akzeptieren. Die vorliegende Studie verdeutlicht darüber hinaus, wie überaus motiviert weibliche Jugendliche sind, sich zu Gender Issues - vor allem wenn diese in provokativer Form präsentiert werden - zu positionieren. Bei den männ‐ lichen Schülern herrscht hingegen eine gewisse Hilflosigkeit vor, was den Handlungsbedarf für die Unterrichtspraxis unterstreicht. Die Förderung von Gender Awareness (z. B. im Rahmen der Filmdidaktik) ist für ein respektvolles und soziales Miteinander ebenso wichtig wie für ein vollständiges Verständnis authentischer audiovisueller Medien, in denen Gender Issues eine zunehmend wichtige Rolle spielen. 93 Aus diesem Grund möchte ich Gender Awareness als relevanten Subkompetenzbegriff in dem im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Filmkompetenz-Modell einordnen: HSV- Kompetenz Filmästhetische Kompetenz Filmkritische Kompetenz Film kontextualisieren Filmkompetenz Sprechen, Schreiben, Spielen im Anschluss an Filme Literarische Kompetenz Medien- Kompetenz Interkulturelle Kompetenz Gender Awareness Abb. 28: Einordnung von Gender Awareness im Filmkompetenz-Modell (eig. Darst.) 277 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="278"?> Jugendliche, die nicht über Gender Awareness verfügen, können die Serie HoC und zahllose weitere Filme sowie Serien nicht vollständig verstehen, da ihnen die dafür notwendige gesellschaftliche Kontextualisierungskompetenz fehlt. Als Reaktion auf die defizitäre Auseinandersetzung mit den gender-related scenes in HoC durch die männlichen Schüler konzipierte ich für das W-Seminar eine doppelstündige Einheit mit dem Ziel, die Gender Competence (vgl. Volkmann 2016: 119) der Jugendlichen in der Beschäftigung mit exemplarischen Szenen des Politdramas auszubauen. Daran erinnern sich neun der Jugendlichen im Interview, wobei die meisten SuS die Relevanz dieser Thematik für ihr außer‐ schulisches Leben hervorheben: „Das Thema ist SO wichtig! Dazu müsste man viel mehr machen in der Schule. Das begegnet einem so oft … und wenn’s nur so unterschwellig ist. Ich war happy, dass wir das im Seminar besprochen haben. Das hat uns allen echt was gebracht, find ich“ (Carina, IV). Carinas Einschätzung, dass das Thema Gender in der Schule nicht stark genug thematisiert werde, könnte mit der viel kritisierten Beschaffenheit der Lehrbücher zusammenhängen: Lehrwerke seien aufgrund der darin bisweilen noch immer vorherrschenden stereotypisierenden Darstellungen nämlich mit Vorsicht einzusetzen (vgl. Decke-Cornill 2017: 104; Elsner und Lohe 2016: 9). Benitt und Kurtz (2016: 171) halten diesbezüglich fest: „[T]here are hardly any gender-specific or gender-differentiating topics, tasks or activities available in textbooks and in accompanying materials and media today”. Hier gebe es nach wie vor „a lot of room for further improvement away from outdated conceptions of normality and normativity and stereotypical representations of masculinity and femininity” (ebd.: 187). Als fruchtbare Quellen der Auseinandersetzung mit der Gender-Thematik hätten sich dagegen Literatur und Film erwiesen: Im Gegensatz zu den „oft holzschnittartigen Lehrbuchtexten“ (Decke-Cornill 2017: 104) würden hier Geschlechterverhältnisse in ihrer Widersprüchlichkeit, diskursiven Komplexität und Undurchsichtigkeit dargestellt. Filme würden vor allem dann großes Potential für einen Gender-sensiblen Unterricht beinhalten, wenn sie einen Beitrag zur Kritik an der heteronormativen Geschlechterord‐ nung leisten und mitunter auch solche Gender-Angebote präsentieren, die jenseits konventioneller Rollenvorstellungen liegen (vgl. Luca und Decke-Cor‐ nill 2010: 24; König und Surkamp 2010: 178). Dies trifft beispielsweise auf Filme wie Billy Elliot (2000) und Boys Don’t Cry (1999) und auf Serien wie Sex Education (seit 2019) oder HoC zu. Volkmann (2007: 16) empfiehlt entsprechend „texts with conflicting viewpoints, thus eliciting lively discussions about gender stereotypes in class“. 278 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="279"?> 7.1.4 Fazit Entgegen der vorherrschenden Annahme, Jugendliche seien politisch desinter‐ essiert und fänden Politik langweilig (vgl. z. B. Shell-Studie 2019: 19), kristalli‐ siert sich in der Studie Folgendes heraus: Im Datenmaterial zeigt sich ein stark präsenter Wunsch der SuS dieser Lerngruppe, politisch besser informiert zu sein und Politik verstehen zu wollen. Das unterstreicht wiederum den schulischen Handlungsbedarf: Gerade in Zeiten von Politikverdrossenheit, antieuropäi‐ schen und rechtsextremistischen Tendenzen sollte politische Bildung eine wich‐ tige Rolle spielen, was mit „einmal in der Woche ne Stunde Sozialkunde“ (Carina IV) kaum abgedeckt werden kann. Humes (2012: 21) weist beispielsweise auf den „urgent need to promote ‘political literacy’ to counter the disenchantment with politics evident in the decline in the number of young people who voted at elections” hin. Im Rahmen der vorliegenden Studie konnte gezeigt werden, dass durch eine zeitgemäße Serie mit politischem Fokus eine Brücke zu zunächst abstrakt anmutenden politischen Themen (z. B. Wahlkampf, Gesetzgebung, Amtsenthebungsverfahren, Gewaltenteilung usw.) gebaut werden kann. Auch solche Jugendliche, die sich als politisch desinteressiert bezeichnen, können so angesprochen und motiviert werden (vgl. z. B. Sabrina). Die provokative und bisweilen verstörende (und dennoch nicht unrealistische) Darstellung von Politik, wie sie in HoC erfolgt, regt die Mehrzahl der Jugendlichen der Lerngruppe dazu an, politische Fiktion und Realität vergleichen zu wollen. Dies ist ein höchst wünschenswerter Trend, welcher von einem kritischen Bewusstsein hinsichtlich der in der Politik oft vorherrschenden Sein-Schein-Di‐ mension begleitet wird. Darüber hinaus können so auch gesellschaftspolitische Themen adressiert werden (wie beispielsweise die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung oder ethnischer Herkunft). Hier soll erneut Humes (2012: 21) zitiert werden: „Engaging with controversial issues in an open-minded way is an essential part of learning to appreciate the complex nature of current social and political events”. Eine Serie wie HoC kann dafür einen vielversprechenden Ausgangspunkt darstellen. 7.2 Tendenzen und Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards Bezüglich der medialen Vorlieben der Jugendlichen in ihrer Freizeit ist ein klarer Trend erkennbar, welcher hin zu Video-on-Demand und weg vom Free-TV geht. Nur drei der W-Seminarteilnehmenden nutzen noch das traditionelle Fernsehen, wohingegen der Großteil der SuS Filme, Serien und Clips über 279 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="280"?> Streaming-Dienste und Onlineportale schaut. Dabei zeigt sich auch eine klare Präferenz von Serien gegenüber Filmen: Zehn der SuS bevorzugen Serien, während nur drei der befragten Jugendlichen Filme favorisieren. Im Verlauf des W-Seminars legen sich alle 15 SuS einen Netflix-Account zu. Zu Beginn des Seminars geben noch zwei Schülerinnen (Anastasia und Angelica) an, die erste Staffel von HoC auf DVD geschaut zu haben, aber beide Schülerinnen entscheiden sich im Ausbildungsabschnitt 11/ 2 für einen Account bei Netflix. Acht der SuS schauen Serien ausschließlich in Originalsprache (und damit meist auf Englisch), weil die Charaktere andernfalls im Zuge der Synchronisation ver‐ fälscht würden und die deutschen Synchronstimmen „nervig“ (Emma, Stefan, Leyla, jeweils IV) seien. Zudem scheint es unter den Jugendlichen eine Art Ehrenkodex zu geben, aktuelle Netflix-Serien immer möglichst schnell und dazu auf Englisch schauen zu müssen - alles andere sei „uncool“ (Stefan und Sven, jeweils IV). Hinsichtlich der Untertitel haben die Jugendlichen unterschiedliche Präferenzen, wobei sich das Schauen ohne Untertitel als beliebteste Rezeptionsart erweist - dicht gefolgt von englischen Untertiteln, welche meist als gezielte Verständnishilfe (z. B. bei undeutlicher Aussprache) hinzugeschaltet werden. Deutsche Untertitel verwendet nur Marie konsequent, um sich unbekannte Vokabeln gleich notieren zu können: „Für mich helfen da deutsche Untertitel, weil dann seh ich gleich die Übersetzung für das neue englische Wort und kann‘s mitschreiben“ (Marie, IV). Maries Aussage macht deutlich, dass sie Filme und Serien gezielt nutzt, um sich Vokabeln anzueignen. Auch Sven, Stefan, Florian, Carina, Leyla und Romina notieren sich sämtliche unbekannte englische Wörter während des Serienschauens, recherchieren anschließend deren Bedeutung und vergrößern ihren Wortschatz so konstant. Der Lernzuwachs, den die SuS dadurch erreichen, ist immens und spiegelt sich in den differenzierten sprachlichen Leistungen der W-Seminarteilnehmenden wider (siehe detaillierte Einzelfallanalysen). Das außerschulische und freiwillig aufgebrachte Engagement der Jugendlichen kann mit ihrer starken intrinsischen Motivation, ihr Englisch perfektionieren zu wollen, begründet werden. Dieser Wunsch der SuS soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. 7.2.1 Kompensation eines an den Bedürfnissen der Schüler vorbeigehenden Englischunterrichts durch Serienschauen in der Fremdsprache Die für den EU besonders aufschlussreiche Position, die sich im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie herauskristallisiert, ist, dass die Seminarteilnehmenden den Streaming-Dienst bewusst nutzen, um ihr Englisch zu verbessern. Die 280 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="281"?> Mehrheit der Jugendlichen gibt in diesem Zusammenhang an, dass der EU an ihren Bedürfnissen vorbeigehe und dass sie mithilfe der modernen Medien mehr und effektiver dazulernen würden als im Unterricht (z. B. Romina, Florian, Philip, Anastasia, Leyla, jeweils IV; Sven, IV & FB). Die Seminarteilnehmenden assoziieren den EU in erster Linie mit sturem Grammatiklernen und langwie‐ riger Textarbeit mit einer zu einseitigen Ausrichtung auf „irgendwelche alte Literatur“ (Philip, IV) und „alte englische Wörter“ (Philip, IV). Hinzu komme ein zu enger Fokus auf British English im Schulunterricht, was insbesondere von den männlichen Schülern (Philip, Sven, Stefan) als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird, „weil die [ Jugendlichen] bringen ja meistens eher amerikanisches Englisch mit […]“ (Philip, IV) aufgrund ihres Film- und Serienkonsums. Auch Sven kritisiert im Interview die Versteifung auf „hochgestochenes Altbackenenglisch anstatt tatsächlich Umgangssprache“. Insgesamt tritt im Datenmaterial der Wunsch der Lernenden nach einem höheren Niveau im EU durch authentische Materialien statt eines zu stark ausgeprägten Grammatikfokus hervor. Anastasia und Elif erwähnen in diesem Zusammenhang, dass sie zwar keine Regeln für die verschiedenen tenses wüssten, aber dass sie dennoch in der Lage seien, diese intuitiv richtig anzuwenden: „Ich weiß das dann eher vom Serienschauen oder vom Lesen. Da krieg ich das mit und kann’s mir dann auch am besten merken“ (Elif, IV). Interessanterweise befürworten einige der SuS im Interview (z. B. Romina, Florian, Philip, Sven, Leyla, Carina) ein implizites Grammatiklernen durch eine regelmäßige Beschäftigung mit authentischem Textmaterial anstelle eines „doch eher abstrakt[en]“ (Leyla, IV) expliziten Grammatikunterrichts. Bei der Analyse des Datenmaterials überraschte es, wie häufig von den Lernenden Kritik an der Grammatikvermittlung im EU geäußert wird. Scheinbar nimmt diese in der Sekundarstufe II in den Augen der SuS noch immer zu viel Raum ein. Dass die Jugendlichen sich durch ihr außerschulisches Sprachbad idiomatische Wendungen und ein Gefühl für die englische Sprache aneignen, beweisen sowohl ihre Einträge in den Viewing Journals als auch ihre mündlichen Beiträge im Unterricht. Der Rückschluss, dass Grammatiklernen im EU damit überflüssig sein könnte, wäre jedoch zu voreilig. Auch wenn hinsichtlich des Grammatikunterrichts bei den Lernenden seit jeher tendenziell „übereinstim‐ mend ein Grammatik-Aversions-Syndrom“ (Thaler 2012: 236) vorzuherrschen scheint, ist es fraglich, ob z. B. die Teilnehmenden des W-Seminars ohne den Grammatikunterricht im Fach Englisch (vor allem in ihren ersten Lernjahren) die nötigen sprachlichen Mittel erworben hätten, um eine anspruchsvolle Serie wie HoC einerseits verstehen und sich andererseits auf angemessenem Niveau über das Gesehene austauschen zu können. Schafft nicht erst ein FSU, der auch Grammatikwissen vermittelt und somit Aspekte wie Sprachreflexion sowie 281 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="282"?> Sprachbewusstsein fördert, die nötigen Grundlagen, um sich im Sinne der Immersion in der Fremdsprache ohne Kognitivierung der eigenen Grammatik‐ kenntnisse kompetent bewegen zu können? Zudem liegt die Vermutung nahe, dass die SuS ohne entsprechendes Grammatikwissen im Bereich der accuracy aufgrund fossilisierter Fehler Defizite aufweisen würden (vgl. Thaler 2012: 237). Nichtsdestotrotz sollte die Kritik der SuS ernst genommen werden, was mich zu folgender Schlussfolgerung führt: Im EU der Sekundarstufe II sollte verstärkt mit zeitgemäßem und authentischem Textmaterial gearbeitet werden, so dass auch Aspekten der alltäglichen Umgangssprache Rechnung getragen werden kann. Auf einen verengten Fokus auf grammatische Phänomene sollte zugunsten einer kommunikativen Ausrichtung des FSU verzichtet werden. Am meisten - diese Tendenz tritt aus dem Datenmaterial unmissverständlich hervor - kritisieren die W-Seminarteilnehmenden in den Interviews nämlich, dass das Sprechen und gemeinsame Diskutieren im EU zu kurz kommen würden. Dies überrascht angesichts der als etabliert geltenden kommunikativen Ausrichtung des modernen FSU. Marie stört beispielsweise, „dass man einfach alles frontal vorgegeben bekommt und weniger so in der Klasse diskutiert und Sachen zusammen erarbeitet“ (IV). Philips Kritik geht in eine ähnliche Richtung: Im Normalfall werde „nicht so viel Wert daraufgelegt, so wirklich … ämm zu sprechen, so alltagsmäßig zu sprechen im Englischunterricht“ (IV). Darüber hinaus empfindet Philip die Fragen, die bisweilen im EU gestellt werden, als so „offensichtlich“ (IV), dass sie den SuS gegenüber seiner Ansicht nach mitunter „respektlos“ (IV) seien. Die Jugendlichen sehnen sich Philip zufolge nach echten Fragen, die zum Nachdenken anregen und der Intelligenz der SuS gerecht werden. Zudem - dies sprechen mehrere Lernende im Interview an (z. B. Sabrina, Anastasia, Romina, Marie, Stefan) - ist es den Jugendlichen wichtig, dass die Lehrkraft an den Antworten und Überlegungen der SuS tatsächlich Interesse hat, anstatt die EINE perfekte Antwort bereits beim Stellen der Frage im Kopf zu haben und nur diese gelten zu lassen. Ein solches Ausbleiben einer Gesprächskultur im EU fällt den Jugendlichen vor allem bei der Textarbeit auf, was sich in Stefans Äußerung widerspiegelt: Da war das schon immer voll offensichtlich … Man hat nen Text und bei der Interpretation ruft der Lehrer eine Person auf, von der er denkt, dass sie das sagt, was er hören will … Aber andere Meinungen gelten da nichts … des kostet nur Zeit … und man muss ja mit dem Stoff durchkommen (Stefan, IV). Bei der Auswertung des Datenmaterials entsteht der Eindruck eines FSU, in dem ein Frontalunterricht mit einer starken Lehrerdominanz praktiziert wird, anstatt das selbstständige Handeln und Denken der SuS zu fördern. 282 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="283"?> Dieser Eindruck erwächst freilich nur aus den subjektiven Einschätzungen der Lernenden, die situativ eingefärbt sein könnten. Nichtsdestotrotz muss an dieser Stelle auf die Wichtigkeit motivierender Sprechanlässe im Rahmen einer respektvollen Kommunikationskultur hingewiesen werden: Gemäß den Grundannahmen der interaktionistischen Position der Spracherwerbsforschung hält Wolff (2004: 97) fest, dass das Erlernen einer Sprache nur möglich sei, wenn „Sprache in konkreten, authentischen Situationen gebraucht wird“, denn „language learning is language use“. Auch Thaler plädiert für ein „echte[s], partnerorientierte[s], offene[s] Unterrichtsgespräch“ (Thaler 2008a: 314), das eine lebendige Kommunikation ermöglichen müsse. Im Umgang mit authenti‐ schen Texten bietet sich das literarische Gespräch an, welches eine spezifische Form des Umgangs mit Literatur „und anderen ästhetischen Werken, z. B. Filmen“ (Spinner 2007: 28) darstellt. Spinner (ebd.: 24) betont die Wichtigkeit der „offene[n] Sinnbildung, die […] nicht auf ein endgültiges Resultat zielt“, worin die Abgrenzung vom fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch liegt, das die SuS zu einem vorgefassten Interpretationsergebnis führen will. Beim literarischen bzw. filmischen Gespräch sei es von entscheidender Bedeutung, die Eindrücke der Mitschüler als subjektive Äußerungen zu akzeptieren und diese zueinander in Beziehung zu setzen (vgl. ebd.: 25). Die Fähigkeit zu einem solchen Gesprächsverhalten müsse mit den Jugendlichen trainiert werden: „Insbesondere die Balance zwischen dem Einbringen der eigenen Subjektivität [und] dem Geltenlassen anderer Perspektiven“ (ebd.) falle SuS in der Regel nicht leicht. Dies erfordere die Bereitschaft, „sich der Welt des Imaginären, dem intuitiven Angesprochensein und der Irritation zu öffnen“ (ebd.), um Sinn und Bedeutung durch Kommunikation gemeinsam konstruieren zu können (vgl. Fäcke 2007: 115). Bei der Behandlung von HoC im Unterricht zeigt sich das große Mitteilungsbedürfnis der SuS, die die Möglichkeit zur Diskussion und zur kommunikativen Aushandlung des Dargebotenen engagiert nutzen. Anastasia äußert sich in diesem Zusammenhang positiv hinsichtlich der heterogenen Be‐ schaffenheit der Gruppe, durch welche unterschiedliche Meinungen zur Sprache gekommen seien. Auch Sven erwähnt „neue Perspektiven“ (IV), die er durch die Dialoge und Diskussionen mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern eröffnet bekommen habe. Es kann also festgehalten werden, dass Filmarbeit im EU nur dann zeitgemäß und im Sinne der Jugendlichen ist, wenn die SuS zu Wort kommen und die Lehrkraft bereit ist, ihnen Gehör zu schenken. Die von Sabrina im Interview beschriebene „Ja, red du nur, ich weiß es besser“-Lehrerhaltung geht an den Bedürfnissen der SuS vorbei. Den Lernenden muss das Gefühl gegeben werden, dass ihre Sichtweisen ernstgenommen werden und dass sich gerade in der Viel‐ 283 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="284"?> falt an Meinungen die Kraft einer guten Filmszene zeigen kann. Die Äußerung individueller und kreativer Gedanken durch die SuS ist daher als Bereicherung für die Anschlusskommunikation zu sehen. Diese Erkenntnis ist nicht innovativ und die oben genannten Aspekte und Forderungen sollten im Rahmen der als etabliert geltenden kommunikativen Ausrichtung des FSU eine Selbstverständlichkeit darstellen. Aus den Äuße‐ rungen der SuS der Lerngruppe geht jedoch hervor, dass hier nach wie vor Handlungsbedarf besteht. Dementsprechend drängt sich der Eindruck einer Kluft zwischen den theoretischen Implikationen des kommunikativen Ansatzes und deren praktischen Umsetzung auf. Neben dem Sprechen erweist sich auch das Schreiben im Anschluss an Filme in der Auseinandersetzung mit HoC als wichtig. Bei der Auswertung der Viewing Journals zeigt sich hinsichtlich der unterschiedlichen Aufgabentypen eine deutliche Präferenz solcher Tasks, in denen die Jugendlichen ihre eigene Meinung zum Gesehenen wiedergeben dürfen. Philip stellt diesbezüglich im Interview fest: Es gab halt keine unnötigen Fragen, die waren alle sinnvoll […] und […] ich fand’s halt voll cool, dass man immer die eigene Meinung miteinbringen konnte … Ich hatte halt bei den Fragen das Gefühl, dass Sie wirklich unsere Meinung hören wollen. Das ist echt die Ausnahme im Unterricht. Auch die übrigen W-Seminarteilnehmenden schätzen ihr Viewing Journal als „Ventil“ (Florian, IV), um ihren Gedanken und Emotionen in einer Art An‐ schlusskommunikation „freien Lauf lassen“ (Stefan, IV) zu dürfen. Dabei spielt ein Freiheitsgefühl im Sinne von „Ich wusste, ich darf ehrlich sein“ (Sabrina, IV) und „Ich durfte meine Emotionen und das, was ich mir gedacht hab, und auch meinen Ärger und alles genauso hinschreiben“ (Anastasia, IV), ohne durch Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“ eingeschränkt zu werden, eine wichtige Rolle. Die Lehrkraft, Frau Potter, teilt diese Ansicht und lobt an den Viewing Journals, dass den SuS die Botschaft vermittelt worden sei, „dass ihre Sichtweisen wertgeschätzt und ernst genommen“ (IV) werden. Dies sollte als unumstößlicher Grundsatz für eine respektvolle Gesprächskultur im Unterricht gelten. Zusammenfassend spiegeln sich folgende Positionen im Umgang mit dem Medium Netflix-Serie wider, welche sich auf den EU in seiner momentanen (und in den Augen der SuS nicht mehr zeitgemäßen) Ausrichtung beziehen: 284 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="285"?> ● Wunsch der SuS, ihr Englisch zu optimieren; folglich Schauen von Serien auf Englisch; ● Wunsch nach authentischen Gesprächsanlässen und echter Kommunika‐ tion (anstelle eines Lehrer-Schüler-Gesprächs mit Dominanz der allwis‐ senden Lehrkraft); ● Wunsch nach Sprechen und Schreiben im Anschluss an Serien und Filme. Eng verbunden mit dem letzten Punkt ist der generell vorherrschende Wunsch der Jugendlichen nach mehr Filmarbeit im EU, was im Folgenden genauer untersucht werden soll. 7.2.2 Wissensdurst in Bezug auf Filme und Serien Die Mehrheit der SuS (11 von 15 Seminarteilnehmenden) gibt an, dass sie im Unterricht gerne mehr über authentische audiovisuelle Medien, v. a. über deren Sprache und Machart, lernen würde. Die Jugendlichen äußern explizit den Wunsch nach einer Fokussierung von Serien im EU, da diese „einen großen Teil [ihrer] Freizeit ausmachen“ (Sven, FB). Florian schreibt in seinem Fragebogen beispielsweise, dass er daran interessiert sei, „wie man Serien macht“ und wie „sie einen so fesseln und mitnehmen, dass man sie auch über Jahre hinweg anschaut“. Einige der Lernenden (Marie, Carina und Leyla, jeweils FB) würden darüber hinaus gern einen Blick hinter die Kulissen werfen, um die Intentionen von Produktion und Regie sowie die Beschaffenheit bewegter Bilder nachvollziehen zu können. Die Seminarteilnehmenden empfinden Filme und Serien als prägenden und „große[n] Teil unserer Kultur“ (Elif, IV) und wünschen sich entsprechend, darüber Bescheid zu wissen. Diesbezüglich be‐ tonen die SuS auch, dass ihnen die Balance aus Lernen und Genuss wichtig sei (z. B. Laura und Nina, FB). Der Filmeinsatz, den die Lernenden bislang im Unterricht erlebten, kann größtenteils mit dem Attribut bonbondidaktisch beschrieben werden: „Disney-Filme zum Spaß“ (Romina, FB), „Filme […] einfach als Zeitvertreib […] wenn der Lehrplan schon durch ist“ (Carina, FB), Filme „just for fun“ (Carina, Angelica, Nina, Laura und Philip, FB) und Filme „vor den Sommerferien“ (Elif, FB). Darüber hinaus erwähnen die Lernenden noch das Schauen von Literaturverfilmungen „im Anschluss an die Lektüre“ (Romina, FB) gemäß folgendem Procedere: „Man liest das Buch und schaut dann den Film … und am Schluss müssen alle das Buch besser finden“ (Carina, IV). Die Äußerungen der Seminarteilnehmenden lassen auf eine Degradierung sowie Instrumentalisierung beim unterrichtlichen Einsatz von Filmen schließen. Wenn man bedenkt, dass Jugendliche äußerst interessiert daran sind, AV-Medien 285 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="286"?> verstehen und lesen zu können (vgl. dazu Kepsers Studie 2008), besteht hier weiterhin dringender Handlungsbedarf. 7.2.3 Motivation und emotionale Involviertheit 7.2.3.1 Faszination in der Auseinandersetzung mit den House of Cards-Protagonisten Die große Faszination, die die Protagonisten der Serie auf die SuS ausüben, spiegelt sich in eloquenten sowie differenzierten Viewing Journal-Einträgen zu Claire und Frank Underwood wider. Die sich in diesem Kontext offenbarenden „komplexen Gedankengänge und die hohe Sprachkompetenz“ (Frau Potter, IV) der SuS werden von der Lehrkraft besonders hervorgehoben. Eine interessante und eindeutig aus dem Datenmaterial hervorgehende Beobachtung zeigt, dass die Qualität und die Bearbeitungstiefe der Viewing Journal-Einträge vom Grad der emotionalen Involviertheit (z. B. durch Schock, Trauer, Bewunderung, Begeisterung, Verwirrung) der SuS abhängen: Je stärker die Szene, auf die sich die Frage bezieht, die Jugendlichen berührt oder bewegt, desto intensiver setzen sich die Lernenden damit auseinander. Fragen zu Frank und Claire sowie zur Filmsprache und Filmanalyse werden von den Seminarteilnehmenden besonders ausführlich und sorgfältig abwägend bearbeitet. Hier zeigt sich die Interdependenz von kognitiven und affektiven Prozessen in der Auseinanderset‐ zung mit HoC: Affektives Involviert-Sein sorgt für eine größere Bereitschaft der SuS, sich vertieft mit dem Filmmaterial auseinanderzusetzen. Diese Korrelation wurde in den Einzelfallanalysen bereits detailliert aufgezeigt (vgl. z. B. Claire Underwood als motivierender Schreibanlass für zahlreiche SuS). Hinsichtlich der Faszination für Frank und Claire spielen einige Aspekte eine Rolle, von denen die prominentesten entsprechend der Kodierungen im Datenmaterial hier kurz erwähnt werden sollen: ● In Bezug auf Frank sind die Asides, die er an die Zuschauenden richtet, besonders wichtig, da diese dem Publikum das Gefühl geben, „a part of the series” (Florian, VJ 2) zu sein. Die Schülerin Elif setzt sich in ihrer Seminararbeit intensiv mit Franks Asides auseinander, kategorisiert diese und geht deren Wirkkraft auf den Grund. ● Ein weiterer zentraler Grund für die Faszination, die Frank auf die SuS - insbesondere auf die männlichen Jugendlichen - ausübt, ist der Facetten‐ reichtum des komplexen Protagonisten. Frank agiert in der Serie unter anderem als Ehemann, als Liebhaber, als effizienter, skrupelloser und erfolg‐ reicher Politiker, als kluger und gewitzter Drahtzieher hinter den Kulissen, als Intrigen schmiedender Manipulator und als Mörder. Aus dem Datenma‐ 286 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="287"?> terial geht deutlich hervor, dass die Jugendlichen von der Vielschichtigkeit der Figur fasziniert sind, die stets authentisch und unberechenbar bleibt. ● Ebenso wichtig ist Claire als starke Frau an Franks Seite, die zunehmend als Gegenpol zu Frank inszeniert wird: Während er der kalte, über Leichen gehende Politiker ist, zeigt Claire öfter Menschlichkeit, Verletzlichkeit und ein moralisches Bewusstsein (z. B. in der Corrigan-Folge). Diese Lichtseiten gewichten die Schülerinnen (ich wähle hier bewusst die weibliche Form) stärker als Claires Schattenseiten, welche auch oft zum Vorschein kommen. Den weiblichen Jugendlichen fällt bei den Konfrontationen der Underwoods vor allem negativ auf, dass Frank versucht, seine Frau zu reduzieren „to his pretty and likable first lady, when in reality she’s capable of so much more than that“ (Romina, VJ 3). Dies löst bei einigen Schülerinnen weibliche Solidarität aus. Besonders Claire-affine Schülerinnen sehen Frank als „horrible influence“ (Emma, VJ 2) und feiern Claires Unabhängigkeit, als sie Frank verlässt. ● Während das Wort „role model“ von Sven, Stefan und Florian explizit mit Frank in Verbindung gebracht wird, spielt die Vorbildfunktion Claires als moderne, ambitionierte, elegante und starke Frau für die Schülerinnen Sabrina, Carina, Emma, Leyla, Marie und Anastasia eine entscheidende Rolle in ihrer Begeisterung für die Serie. Dies betonen die Seminarteilneh‐ merinnen bei zahlreichen Gelegenheiten (z. B. in den Interviews, in den Viewing Journals oder im Unterricht). Claire stellt für sie den nötigen Anreiz für das „Weiterschauen-Wollen“ der Serie dar. Als Claire Frank am Ende von Staffel 3 verlässt, hält Marie in ihrem Viewing Journal fest: „I couldn’t imagine House of Cards without Claire in it, she [is] still the most interesting and fascinating character in all the series. […] In my opinion Frank is nothing without Claire next to him” (Marie, VJ 3). Auch Carinas Worte zeigen die starke affektive Bindung an Claire: „I love her […] and I feel with her when she is happy and when she suffers. I honestly think she is like THE most important person on the show, without her it wouldn’t be as good […]“ (Carina, VJ 3). Sabrina, die sonst eher distanziert bezüglich der HoC-Figuren ist, sagt im Interview: „Da […] würde ich mir eigentlich wünschen, dass ich bisschen so wäre wie sie, weil ich wünschte mir, … ich wär so stark wie die und so krass und so cool“ (Sabrina, IV). Hier reagiert die Schülerin mit imaginativer Identifikation auf die weibliche Protagonistin, „weil sie dem eigenen Ich-Ideal entspricht und […] weil sie so ist, wie man gerne sein würde“ (Eder 2009: 235). Dies zeigt die starke Einflusskraft, die die Figuren einer Serie auf junge Erwachsene, insbesondere auf heranwachsende Frauen, haben können. 287 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="288"?> Die Eheleute Underwood schaffen insgesamt eine fesselnde Balance aus Befrie‐ digung und Frustrierung von Zuschauerwünschen: Immer wieder lernt der/ die HoC-Rezipient/ in ein Stückchen mehr über die Hauptpersonen - und dann folgt ein Plot-Twist, der wieder neue Fragen aufwirft. Elif muss HoC für die Fertigstellung ihrer Seminararbeit mehrere Male schauen und hält bezüglich ihres Serienerlebnisses Folgendes fest: […] ich hab die Serie jetzt ja echt paar Mal geschaut und es ist halt immer noch spannend. Es liegt halt glaub ich an den Charakteren … Du kannst es halt auch zehnmal anschauen und du würdest sie immer noch nicht verstehen, weil die halt sehr komplex sind und das mag ich (Elif, IV). Die Hauptcharaktere stellen scheinbar den Schlüssel zur Bereitschaft der Ju‐ gendlichen bezüglich ihrer vertieften Auseinandersetzung dar. Im Gegensatz zu Frank gibt Claire den Zuschauenden Rätsel auf (z. B. der Origami-Hand‐ lungsstrang in Staffel 1 oder die Ei-Symbolik in Staffel 3) und sorgt damit für interpretatorische Leerstellen. Diese Leerstellen stellen besonders für die Semi‐ narteilnehmerinnen motivierende Schreibanlässe dar, welche die Schülerinnen zur Bedeutungskonstruktion anregen. Die Tendenz, die sich hier zeigt, kann als „Verstehen-Wollen“ der komplexen weiblichen Hauptfigur kategorisiert werden. 7.2.3.2 Komplexe Serien verstehen wollen: Entwicklung von Consumers zu Prosumers Die im Datenmaterial deutlich spürbare Position des Verstehen-Wollens steht in interdependentem Zusammenhang mit der Motivation und Faszination, welche sich als vorherrschende Tendenzen in der Auseinandersetzung mit HoC herauskristallisieren: Weil die SuS fasziniert sind von dem, was sie sehen, wollen sie dies auch vollständig verstehen. Hier soll zunächst Stefan zitiert werden: Ich hab schon gemerkt: ok, das muss man aktiv schauen, sonst checkt man es nicht und man lernt dann halt auch nichts! Aber wenn man es aktiv oder halt konzentriert und so schaut, … dann kriegt man echt Einblicke … Also man lernt beim Schauen was! (Stefan, IV) Stefan ist folglich bewusst, dass aktives Schauen nötig ist und passiver Konsum keine Option darstellt, wenn man eine Serie wie HoC verstehen möchte. Ähnlich äußert sich Marie: „Also HoC ist jetzt nicht die Serie, die man sich todmüde vor dem Einschlafen reinziehen sollte … Man muss dafür schon einigermaßen wach und aufmerksam sein. Sonst macht es, um ehrlich zu sein, keinen Sinn“ (Marie, IV). Die Jugendlichen erkennen also, dass HoC keine typische Feierabendserie 288 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="289"?> darstellt, „bei der man abschalten und sich einfach mal entspannen kann“ (Carina, IV). Dies war mir bei der Planung und Konzeption des W-Seminars bewusst und die Viewing Journals waren u. a. dazu gedacht, die SuS zum Innehalten und Nachdenken anzuregen. Erfreulicherweise war die Bereitschaft der Seminarteilnehmenden dafür groß. Besonders hinsichtlich der von den SuS als „rätselhaft“ bezeichneten Szenen (z. B. Claire auf dem Friedhof, Claire und der Origami-Handlungsstrang usw.) zeigt sich bei den Jugendlichen die Tendenz, die bewegten Bilder entschlüsseln zu wollen. So bekundet Elif im Interview beispielsweise: Diese Frage, warum dieser eine Mann aus dem Geld Origami gebastelt hat, […] da hab ich dann wirklich mehr drüber nachgedacht … und hätte ich das einfach so ohne Journal angeschaut, dann hätte es mich gar nicht interessiert … ich hätte es dann einfach irgendwie so ausgeblendet und vergessen (Elif, IV). In der Auseinandersetzung mit HoC lernen die Seminarteilnehmenden also, auf Details in Ton und Bild zu achten, „die größere Bedeutung haben, als es auf den ersten Blick scheint“ (Marie, IV). Dieser Lernzuwachs spiegelt sich in den von Viewing Journal zu Viewing Journal immer ausführlicher werdenden Szenen-, Screenshot- und Charakteranalysen wider. Insgesamt kristallisiert sich bei der Auswertung der Viewing Journals eine deutliche Verbesserung der Filmkompe‐ tenz der SuS heraus, was sicher mit dem intensiven Input zu Cinematography zu Beginn des W-Seminars zusammenhängt. Die Fähigkeit der SuS, von ihrem neu erworbenen Wissen über Filmsprache und kinematographische Techniken Gebrauch zu machen, zeigt zugleich ihren Wissensdurst diesbezüglich: Die Seminarteilnehmenden wollen mit mehrfach kodierten Texten vertieft arbeiten und diese im Detail verstehen. Auffällig ist, dass die Lernenden nicht nur die in den Viewing Journals thematisierten Szenen aufgreifen und analysieren, sondern auch eigene Vorschläge bezüglich filmisch interessanter Szenen ein‐ bringen: Also es gab eine Szene, […] in der […] steckte so viel drin … die Szene, wo Frank mit dem Präsidenten im Weißen Haus vor den Gemälden gesprochen hat … Weil während sie an den anderen Bildern vorbeilaufen, passt immer das Bild genau zu dem, was sie sagen und da hab ich dann auch immer geschaut noch […]. Es war in der Szene einfach viel […], was mir aufgefallen ist (Philip, IV). Die SuS schätzen also solche Szenen in HoC besonders, die eine zum Nach‐ denken anregende Bildsprache aufweisen und Interpretationsspielraum lassen. Angelica beschreibt ihre Erfahrung mit der Origami-Szene, in der Claire Adam verlässt, folgendermaßen: „Ich fand die Szene richtig spannend, weil ich musste 289 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="290"?> 94 Schuster (2018) führt den Begriff prosumer auf den US-Futurologen Toffler (Autor des 1980 erschienen Buches The Third Wave) zurück. 95 Die Diskrepanz zwischen consumer und prosumer zeigt sich auch am Beispiel von Animationsfilmen, welche von Kindern begeistert konsumiert werden, während Er‐ wachsene als prosumers die sozialkritischen Andeutungen erkennen dürften, mit denen solche Filme verschiedenen Altersgruppen schmackhaft gemacht werden (z. B. spricht Finding Nemo (2003) Kinder als spannender Abenteuerfilm an, wohingegen Erwachsenen gesellschaftliche Anspielungen auffallen dürften: Helikoptereltern, Zier‐ fischhaltung, Verschmutzung der Weltmeere usw.). mir ziemlich viele Gedanken machen und ziemlich lange überlegen, aber […] immer wenn ich überlegt habe, hab ich was Neues gefunden“ (Angelica, IV). Auch Romina spricht davon, dass man beim Serienerlebnis „immer was Neues sehen“ und finden könne und lobt an HoC, dass „einfach mehr dahinter [steckt], manchmal wie Rätsel, die man lösen darf als Zuschauer“ (Romina, IV). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Netflix-Serie HoC eine neue Art des Konsums erfordert: Der sich beim Serienschauen passiv zurücklehnende consumer muss durch einen aufmerksamen, konzentrierten und kritischen prosumer ersetzt werden. Der Begriff prosumer bzw. Prosument ist laut Schuster (2018) „ein […] zusammengesetzter Begriff aus den Worten Producer (Hersteller) und Consumer (Verbraucher). Er drückt aus, dass ein Konsument in bestimmten Bereichen auch gleichzeitig ein Produzent sein kann“ 94 - oder sogar sein muss. Am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC zeigt sich, dass die Jugendlichen für ein vollständiges Verständnis der Serie zu prosumers werden müssen, die ● die interpretatorischen Leerstellen der Serie aktiv mit Bedeutung füllen, ● die Bereitschaft mitbringen, die komplexe Bildsprache wahrzunehmen und zu entschlüsseln, ● die zahlreichen intertextuellen Bezüge der Serie durchschauen, ● mitunter zwischen den Zeilen lesen können und wollen. Die Tendenz, die sich also in der Studie abzeichnet, ist, dass die Seminar‐ teilnehmenden sich in der Auseinandersetzung mit HoC von consumers zu prosumers entwickeln: Die Jugendlichen gestalten die Serie durch eigene Inter‐ pretationen und weiterführende Gedanken aktiv mit. Dies stellt eine höchst wünschenswerte Entwicklung im Sinne eines kon‐ struktiv-emanzipierten und zugleich kreativen Umgangs mit Qualitätsserien und modernen Medien insgesamt dar. 95 290 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="291"?> 7.3 Moralvorstellungen von Jugendlichen am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards In den Viewing Journals erweisen sich die Einträge zu den Denkanstößen, die auf das ethisch-moralische Urteil der Jugendlichen abzielen, als „(b)esonders inter‐ essant“ (Frau Potter, IV). Die Moralvorstellungen der SuS kristallisieren sich vor allem an solchen Szenen der Serie heraus, die provokativer Natur sind und/ oder Tabubrüche zeigen. Die ausführlichen Antworten der Seminarteilnehmenden zu ebendiesen Szenen bewahrheiten das, was Frau Potter zum Potential von HoC für den FSU festhält: Die Serie schreit förmlich danach, im Unterricht behandelt zu werden; andernfalls werden die Jugendlichen mit ihrem Serienkonsum in der Freizeit allein gelassen, das hohe Diskussionspotenzial der Serie in den verschiedensten Bereichen (Politik, Faszination des Bösen, Tabus, Geschlechterrollen etc.) würde dann ungenutzt bleiben (Frau Potter, IV). Im Datenmaterial zeigt sich hinsichtlich des Diskussionspotentials der Serie folgende Tendenz: Je intensiver die Emotionen der SuS beim Schauen ausfallen, desto mehr haben die Jugendlichen das Bedürfnis, ihre Gefühle und Gedanken mitzuteilen und sich moralisch zu positionieren. Die Wichtigkeit des Moralisie‐ rens als Element der Textaneignung neben Kognition und Emotion (vgl. dazu Kapitel 3.3.2) tritt aus dem Datenmaterial deutlich hervor: Die SuS evaluieren die Figuren und deren Handlungen intuitiv moralisch und nützen ihre Viewing Journals, um ihre die Rezeption permanent begleitenden Gedankengänge ver‐ schriftlichen zu können. Eine weitere Beobachtung bei der Analyse der Viewing Journals bezieht sich darauf, welche Szenen und Themen der Serie HoC von den Seminarteilnehm‐ enden als am schockierendsten erlebt werden. Folgendes Ranking der in den Augen der SuS „krassesten Tabubrüche“ (Anastasia, IV) ergibt sich aus der Auswertung: (1) Betrug durch Ehebruch (2) Morde (3) Verstöße gegen religiöse Konventionen (4) Verstöße gegen Anstand, Respekt und soziales Miteinander (5) Vergewaltigung, Abtreibung. Am Beispiel von (1) und (3) sollen Tendenzen hinsichtlich der Moralvorstel‐ lungen der Seminarteilnehmenden exemplarisch herausgearbeitet und gegen‐ übergestellt werden. 291 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="292"?> Zu (1) Ehebruch: „diese Affäre zwischen Zoe und Frank … nicht mein Ding …“ (Emma, IV) Interessanterweise reagieren die SuS auf die Mordszenen weitaus weniger schockiert und ablehnend als auf die Affäre zwischen Frank und Zoe. Die Annahme der Lehrkraft, dass dies mit der Häufigkeit von Morden in der Medi‐ enlandschaft zusammenhängen könnte, wird von den Jugendlichen bestätigt. Leyla erklärt beispielsweise, dass sie Morde in Serien mittlerweile „total normal“ (IV) finde. Sie reflektiert ihre Aussage kritisch, indem sie eingesteht, dass ihre Abgeklärtheit bei Morden auf der Bildfläche „eigentlich […] nichts Gutes“ sei, „aber es kommt halt wirklich in jeder zweiten Serie […] vor“ (IV). Auch wenn Affären, Betrug und sexuelle Eskapaden ebenso auf der Tagesordnung moderner Serien stehen wie Morde, äußern die Jugendlichen ihr Unbehagen sowie ihre moralischen Einwände diesbezüglich explizit. Im Interview werden alle SuS gebeten, zum Thema „Tabubrüche in HoC“ laut zu denken: Zwölf der Seminar‐ teilnehmenden nennen diesbezüglich zuerst den Ehebruch der Underwoods. Elif erklärt, dass sie HoC bereits 2014 (und damit unabhängig vom Seminar) geschaut, aber dann damit aufgehört habe wegen „Claires und Franks Affäre, weil ich bin bei so was - wie soll ich sagen? - sehr moralisch. Ich mag so was GAR NICHT … Auch wenn‘s nur inner Serie ist“ (IV). Hinsichtlich des Ehebruchs in HoC beschäftigt die SuS vor allem die Affäre zwischen Zoe und Frank nachhaltig und in keinem anderen Zusammenhang erheben die Jugendlichen so vehement ihren moralischen Zeigefinger. Es scheint fast so, als hätten die Seminarteilnehmenden aufgrund ihrer Bewunderung für die Underwoods so etwas wie einen Beschützerinstinkt für deren Ehe, die (zumindest in Staffel 1 und 2) auf den Prinzipien der gegenseitigen Unterstützung und Loyalität beruht (vgl. Carina, Leyla, Florian, IV). Aus diesem Grund entwickelt sich Zoe, die von den Jugendlichen für Franks Untreue verantwortlich gemacht wird, zu einer der am wenigsten gemochten Figuren der Serie. Nina macht Zoe beispielsweise folgenden Vorwurf: „she […] kind of almost steals Claire’s man“ (VJ 1). Das daraus resultierende Ausmaß der Abneigung gegenüber Zoe überrascht bei der Datenauswertung: Trotz der Altersnähe der SuS zu Zoe, die sich als selbstbewusste junge Frau gegen Autoritätsdenken auflehnt und beruflich neue Wege in Sachen Online-Journalismus geht, wird sie keineswegs zu einer Sympathieträgerin oder Identifikationsfigur. Leyla kritisiert an ihr: „I really dislike the way she uses her body to get what she wants“ (VJ 1). Darüber hinaus kreiden die SuS Zoe an, dass ihr beruflicher Erfolg nur durch „sleeping with a congressman to get informations“ (Leyla, VJ 1) möglich gewesen sei. Die am häufigsten kodierten Adjektive, die im Zusammenhang mit Zoe von den Ler‐ nenden genannt werden, sind „ungrateful“, „unprofessional“, „very ambitious“, 292 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="293"?> „smart“, „annoying“, „arrogant“, „cheap“, „calculating“ und „manipulative“. Es zeigt sich also eine deutliche Dominanz der negativ konnotierten Adjektive. Aus den Viewing Journal-Einträgen der Jugendlichen geht klar hervor, dass sich ihre strikte moralisch-ethische Verurteilung in dem Moment manifestiert, in dem Zoe Frank verführt und sich „zu seiner Hure“ (Angelica, IV) degradieren lässt, um beruflich weiterzukommen. Tatsächlich gibt es keinen Schüler/ keine Schülerin, der/ die Zoes Charakter gutheißt oder auch nur Verständnis für ihre Lage aufbringt. Auch Frank erntet Kritik dafür, dass er sich mit Zoe einlässt - wenngleich die Kritik an ihm an keiner Stelle die Ausmaße eines „slut shaming“ (Angelica über Zoe, IV) oder vergleichbarem erreicht. Interessanterweise kritisieren die Semi‐ narteilnehmenden den Politiker für seine Affäre mit Zoe jedoch deutlich mehr als für andere moralische Verstöße wie beispielsweise Mord. Dabei spielt die Sympathie der Jugendlichen für Claire eine wichtige Rolle. Leyla beispielsweise ist „shocked and really disappointed in Frank because he did not think about Claire“ (VJ 1), womit die Schülerin sich auf der Seite der hintergangenen Ehefrau positioniert (ganz ähnlich äußern sich Romina, Carina, Emma, Anastasia und Nina). Auch Stefan und Sven, die in der Regel der Kategorie „blinde Faszination“ zuzuordnen sind (vgl. Einzelfallanalysen), wenn es um Frank Underwood geht, distanzieren sich von Franks Seitensprung: Für einen leicht verführbaren und untreuen Ehemann hätten Sven und Stefan ihren ansonsten unbeirrbaren Helden nicht gehalten. Die Wörter „shocked“ (Emma, Leyla, Sven, Stefan, Anastasia, jeweils VJ 1), „disappointed“ (Sven, Stefan, Philip, Florian, Carina, jeweils VJ 1) und „morally wrong“ (Laura, Romina, Nina, jeweils VJ 1) tauchen in den Viewing Journals am häufigsten in Zusammenhang mit der Affäre auf. Aus diesem Grund ist es nur konsequent, dass zahlreiche SuS an Staffel 2 von HoC besonders loben, dass es „no cheating on both sides“ (Anastasia, VJ 2) gegeben habe und dass der „strong bond“ (Anastasia, VJ 2) zwischen Frank und Claire wiederhergestellt sei. Ehebruch stellt für die Jugendlichen folglich ein klares „No Go“ (Carina, IV) dar - vor allem wenn eine Ehe so bewundert wird wie die der Underwoods. Dies lässt auf eine wertkonservative Grundhaltung der Jugendlichen diesbezüglich schließen, was die Lehrkraft Frau Potter folgendermaßen zusammenfasst: „Die Schüler scheinen eher konservativ, was Moralvorstellungen bezüglich Sex und Religion betreffen“ (Frau Potter, IV). Auf die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit religiösen Tabubrüchen wird im Folgenden eingegangen, indem eine vergleichende Analyse hinsichtlich der heterogenen Schülerreaktionen diesbezüglich vorgenommen wird. 293 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="294"?> Zu (3) Verstöße gegen religiöse Konventionen: Kognitiv-affektive Pro‐ zesse im Vergleich Zunächst muss festgehalten werden, dass es in HoC an Anstößigkeit und Provokation zunehmende Szenen gibt, welche Frank in der Kirche zeigen: Von heuchlerischen Reden (z. B. Chapter 3: S01E03, 28‘52‘‘) über ein als Unterredung mit abwechselnd Gott und dem Teufel getarntes Selbstgespräch nach der Er‐ mordung Peter Russos (Chapter 13: S01E13, 21‘39‘‘) bis hin zu der Kirchenszene in Staffel 3 (Chapter 30: S03E04, 39‘05‘‘). Diese Szene gipfelt darin, dass Frank der großen, über dem Altar angebrachten Jesusfigur höhnisch ins Gesicht spuckt. Als er beginnt, seine Spucke mit einem Taschentuch wegzuwischen, stürzt das Kruzifix zu Boden und zerbricht. Frank liest lediglich das abgefallene Ohr der Jesusfigur vom Kirchenboden auf und richtet ein letztes Aside an die Zuschauenden, bevor der Abspann einsetzt: „Well, I’ve got God’s ear now“. Die düstere Szene, die Franks gottverachtende Haltung unmissverständlich demonstriert, wird bewusst gemeinsam mit den SuS geschaut, ehe diese mit der außerschulischen Rezeption von Staffel 3 beauftragt werden. Obwohl die Kirchenszene den Seminarteilnehmenden also bereits bekannt ist, als sie sich mit ihren Viewing Journals der dritten Staffel widmen, lässt die Szene einen Großteil der SuS nicht unberührt. Zunächst ist Maries Fall interessant, die als christliche und in der evangeli‐ schen Kirche engagierte Schülerin sensibel auf die Kirchenszene reagiert: To be bluntly honest, I think this was one of the most uncomfortable scenes for me to watch. It is just so disrespectful and in the end he isn’t very religious, so why does he feel the need to do it at all? I know, it is for the sake of the series and the effect the scene has, has its purpose. I don’t really know what words could describe the effect this scene had on me but I couldn’t help but notice that I was really tense and flinching when he actually spit on Christ. Also, I find myself asking the question as to why it was Christ specifically he´s spitting at. Even though America is very religious, I think there hasn´t been as much rage by the viewership as there would have been if it hadn´t been a statue of Christ but a holy object of another religion like the Islam for example (Marie, VJ 3). Marie setzt sich vertieft mit der Szene auseinander, indem sie zunächst ihre Gefühle beschreibt, wobei ihr Unbehagen während des Schauens unmissver‐ ständlich deutlich wird. Auch ihr Ringen um die passenden Worte für die Beschreibung des Effekts der Szene und ihre körperliche Reaktion (u. a. „flin‐ ching“) zeigen, wie emotional aufgewühlt Marie ist. Darüber hinaus regt die Kirchenszene Marie zum Nachdenken an. Dabei beschäftigt die Jugendliche vor allem die Frage, wie respektlos man mit dem Christentum bzw. mit einem das 294 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="295"?> Christentum repräsentierenden Objekt in den Medien umgehen dürfe, während dies im Kontext anderer Religionen ein unvorstellbarer Tabubruch wäre. Im Interview knüpft die Schülerin nochmal an ihre Überlegung aus dem Viewing Journal an und führt diese genauer aus: […] ich glaub, manchmal geht man mit dem Christentum auch anders um wie mit anderen Religionen, weil des einfach die Mehrheit ist und ämm weil es so offen ist … Ja, ich finde, dass man als Christ manchmal mehr zurücksteckt, weil […] zum Beispiel [beim] Islam wäre des dann halt ein totales Tabu, wenn man so etwas machen würde, dann wär auch von Leuten, die die Serie gesehen hätten, ein Aufschrei oder ein Aufstand … so nach dem Motto: Es ist heilig und des darf man nicht und … als Christ denkt man sich … ist jetzt nicht soooo die Szene, aber nimmt des halt so hin und des find ich manchmal schade, ja (Marie, IV). In Maries Antwort zeichnet sich der Wunsch der Schülerin ab, dass mit dem Christentum respektvoller umgegangen werden sollte. Zudem wird die klare Position der Jugendlichen deutlich, die als Christin nicht immer nur einstecken und über Blasphemie in den Unterhaltungsmedien hinwegsehen möchte. Franks gotteslästerliches Verhalten in der Kirche bewirkt bei Marie eine Distanzierung von ihm: […] da war meine Restsympathie für ihn [Frank] dann so’n bisschen weg, weil ich konnt halt seine Beziehung, die er zum Christentum hatte, nie genau wirklich deuten und ich mag’s nicht, wenn jemand so respektlos und … ja feindselig schon fast handelt. Es gibt halt Menschen, denen das was bedeutet, was er da kaputt macht (Marie, IV). Auch Anastasia und Elif zeigen sich schockiert und aufgewühlt von Franks Verhalten. Während Leyla zunächst ebenfalls emotional reagiert („I was very shocked and intimidated“, VJ 3), erkennt sie im nächsten Schritt (ähnlich wie Romina, vgl. Einzelfallanalyse) die Funktion der Szene, die den Zuschauenden die „evil side of Frank Underwood“ (VJ 3) vor Augen führen soll. Für Leyla wird somit deutlich, „how bad of a person he actually is“ (VJ 3). Anschließend versucht die Schülerin auf einer Metaebene, die Intention der HoC-Macher zu erklären: The producers probably want the viewers to have chills going down their body because I actually got the chills while watching this scene. In a country like America religion is a huge topic. By inserting a scene like this they could also want to provoke the people and maybe even want […] to open their eyes on the politicians who run their government (Leyla, VJ 3). 295 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="296"?> Emma, Carina und Philip teilen Leylas Vermutung, dass die Produzenten mit einer solchen Szene die Intention verfolgen, die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf die Scheinheiligkeit von realen Politikern zu lenken. Mit dem Sein-Schein-Leitmotiv von HoC im Hinterkopf leuchtet die Darstellung von Politikern als Heuchler ein - vor allem wenn es um die Zurschaustellung ihres angeblichen Glaubens im religiösen Amerika geht. Carina geht in ihrem Viewing Journal noch einen Schritt weiter und formuliert ihre Kritik nicht nur an der Scheinheiligkeit von Politikern, sondern auch an der amerikanischen Gesellschaft generell: I don’t think America is actually that religious. There is a lot of faith in religion, yes, but much of it […] is just a facade. I think, Americans are very proud to say about themselves that they are people chosen by god, but there is so much more happening over there that they don’t show us. They live a very aggressive lifestyle (gun-laws and racism) and on the other hand they praise themselves for christian values. It is all Bullshit (Carina, VJ 3). In Carinas Antwort spiegelt sich eine starke Distanzierung („over there“, „they“ vs. „us“) und stellenweise sogar Ablehnung der US-Lebensweise wider, welche die Schülerin mit aggressiven Waffengesetzen, Rassismus und Heuchelei bezüg‐ lich christlicher Werte assoziiert. Mit Blick auf Carinas Moralvorstellungen wird deutlich, dass die Schülerin diese Scheinheiligkeit verurteilt. Als einzige Jugendliche verliert Carina in ihrem Viewing Journal kein Wort über Franks respektloses Verhalten oder über ihre Gefühle beim Schauen der Kirchenszene. Stattdessen setzt sie die Szene in einen größeren interkulturellen Zusammenhang. Im Interview wird deutlich, dass Carina die Auseinanderset‐ zung mit der Kirchenszene Freude bereitet: Ich find’s cool, ich find’s ämm … ich mag des, also ich find das … wie sagt man da … controversial … Also ich mag das, weil das regt zu Diskussionen an und das gefällt mir und ich diskutiere gerne … ich denke gerne nach … ämm … mir persönlich macht des nichts, weil ich bin weder gläubig noch also, keine Ahnung, ich bin jetzt nicht so christlich erzogen […]. Also ich hab keinen Hass gegenüber Gott, aber ich hab auch keine absolute Liebe und deswegen kann ich mich halt auch von allen Seiten mit Leuten […] unterhalten […] und des find ich voll spannend … also ich find [die Szene] SUPER interessant und ich find’s toll, dass die Macher [von HoC] des wagen, weil da gibt’s bestimmt Ärger, ich bin mir sicher, […] weil man da sicher von allen Seiten beef bekommt … aber ich find‘s gut. Ich find‘s wirklich gut (Carina, IV). 296 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="297"?> 96 Hinsichtlich dieses von Emma verfassten Viewing Journal-Eintrags muss das hohe sprachliche Niveau betont werden, das für die Ausdrucksfertigkeit der Schülerin charakteristisch ist. Sowohl die idiomatische Wortwahl bei „soft spot“ als auch Vokabeln wie „taunting“ oder „fazed by“ zeigen ihre sprachliche Kompetenz. Am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Kirchenszene wird deutlich, dass die SuS ungehemmt über ihre religiösen Einstellungen sprechen bzw. schreiben, was auch Emmas Eintrag zeigt: I’m an atheist so the church scene doesn’t personally affect me but I can definitely see why it would shock/ offend people whose religious beliefs are being disrespected (especially in America where most of the population is Christian). Frank puts himself over an extraterrestrial being people worship and pray to, spitting on it and destroying the statue (Emma, VJ 3). Emma zeigt hier trotz ihrer atheistischen Grundhaltung Empathie für religiöse Menschen, auf die die Szene verstörend wirken könnte. Ebenso wie Carina erkennt auch Emma die kulturelle Brisanz der Szene und vermutet folgende Intention der HoC-Macher: You see murder and manipulative villains in any other show these days so it’s nothing extraordinary or shocking anymore […]. Religion is a soft spot for most Americans so disrespecting and taunting something so sacred to them, will reach even those who aren’t even fazed by murder anymore (Emma, VJ 3). 96 Bezüglich der Kirchenszene kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die SuS über deren Inhalt, Bedeutung und Hintergründe nachdenken wollen. Die Church Scene mit ihrer provokativen Beschaffenheit entpuppt sich damit als authentischer sowie motivierender Sprech- und Schreibanlass. Abgesehen von Marie, Anastasia, Stefan und Elif reagieren die Seminarteilnehmenden auf die Kirchenszene fasziniert. In der Auseinandersetzung mit HoC spielt speziell die diabolische Faszinationskraft eine wichtige Rolle, was im Folgenden mit Blick auf die Moralvorstellungen der Jugendlichen genauer analysiert werden soll. 7.3.1 Diabolische Faszinationskraft vs. kritische Distanzierung vom Bösen Diabolische Faszination geht in der Serie in erster Linie von Frank Underwood aus, was hauptsächlich mit seinen Asides begründet werden kann, mit denen er die Zuschauenden zu seinen Komplizen macht. Elif beschreibt beispielsweise, wie sie durch Franks Beiseitesprechen nach der Ermordung Zoes auf seine Seite gezogen worden sei: „[…] through his little speech I started to think that him killing Zoe was justified“ (VJ 2; meine Hervorhebung). In seinem Aside liefert Frank der Schülerin also die Rechtfertigung, die sie braucht, um 297 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="298"?> 97 Was auf beide Gruppen (sowohl blind als auch guilty fascination) zutrifft, ist, dass sie die Funktion der Tabubrüche v. a. darin sehen, „Franks Persönlichkeit zu unterstreichen und den Zuschauern zu zeigen, wozu er in der Lage ist” (Leyla, IV). In Franks Handeln offenbart sich also sein Charakter und diesen wollen die faszinierten SuS näher kennenlernen und verstehen. weiterhin mit ihm mitfiebern zu können. Auch Angelica hat aufgrund des Asides am Ende von Kapitel 14 (S02E01) das Gefühl, dass „this time I really felt like he was talking to me personally“ (VJ 2), was sie dazu bringt, Frank zu vertrauen und sein Handeln nicht in Frage zu stellen. Interessanterweise platziert Frank seine Asides oft in unmittelbarer Nähe zu seinen (Un-)Taten, um seine Verbindung mit den Zuschauenden aufrechterhalten zu können. Die Tatsache, dass Frank mehrfach zum Mörder wird, schockiert die meisten SuS zwar kurzfristig, aber sie werden dadurch nicht abgeschreckt, sondern vielmehr zum Weiterschauen animiert: Die Tabubrüche fungieren - dies geht eindeutig aus dem Datenmaterial hervor - als Anreiz zum Binge-Watching und werden somit zum Motor des Serienmarathons. Selbst die Jugendlichen, bei denen Franks Verhalten auf moralische Ablehnung und Kritik stößt, wollen die Serie weiterschauen - wenngleich sich ihre Intention dabei von den diabolisch faszi‐ nierten SuS unterscheidet: Insbesondere Sabrina und Anastasia möchten sehen, dass Frank für seine Untaten bestraft wird und hoffen auf Gerechtigkeit. Die übrigen (und damit die meisten) W-Seminarteilnehmenden fiebern mit Frank mit und wünschen sich, dass er seine Ziele erreicht. Diese große Gruppe der diabolisch faszinierten SuS lässt sich auf einer Skala von blind fascination ohne rational-kritisches Hinterfragen (z. B. Sven, Philip und trotz Einschränkungen auch Florian, Stefan sowie Elif) bis hin zu guilty fascination (z. B. Romina, Angelica, Leyla, stellenweise Marie und Carina) verorten. 97 Guilty fascination meint, dass die Jugendlichen fasziniert sind und sich zu einem gewissen Grad in den Bann des Gesehenen ziehen lassen, bis sich das Gewissen der SuS quasi als retardierendes Element innerhalb des Moralisierens, welches blinde Faszination verhindert, dazwischenschaltet. Dabei entsteht der Eindruck, dass die Jugendlichen der Gruppe guilty fascination affektiv von den Geschehnissen (insbesondere von Franks Effizienz, Ehrgeiz und Zielstrebigkeit) beeindruckt sind, während ein primär kognitiv gesteuertes Moralisieren in Form eines kritischen Hinterfragens stattfindet. Angelica beschreibt dies folgendermaßen: […] ich hab mich dann auch so‘n bisschen schuldig gefühlt. Weil ich konnte immer mitfühlen mit Frank und ich hab immer gehofft … immer gehofft, dass er gewinnt. Aber … aber im Endeffekt war er halt trotzdem ein Mörder … und gleichzeitig ist er schon auch der Held, mit dem man mitfiebert (Angelica, IV). 298 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="299"?> 98 Goodwin ist im Kontext der Serie HoC ein bezeichnender Nachname, da der investiga‐ tive Journalist mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel für Wahrheitsfindung und die Herstellung von Gerechtigkeit kämpft. Es zeigt sich folglich eine Ambivalenz zwischen Gefühlen des Beeindruckt- und emotionalen Involviert-Seins und dem Verstand, welcher sich in Form des Gewissens und des darin verankerten Wissens, was richtig und was falsch bzw. was gut und was böse ist, äußert. Dieser Zwiespalt offenbart sich auch in der Auseinandersetzung der Seminarteilnehmenden mit dem Handlungsstrang „Underwood vs. Goodwin & Co“. 7.3.2 Geteilte Meinungen zu den Journalisten: Wahrheit & Gerechtigkeit vs. Bedrohung Am Beispiel der Auseinandersetzung mit den Journalisten Lucas Goodwin 98 , Zoe Barnes, Janine Skorsky und Tom Hammerschmidt kann gezeigt werden, wie sich die Gruppe der Seminarteilnehmenden in verschiedene Lager spaltet. Einerseits gibt es die Jugendlichen, die die Reporter, welche Franks Mord an Peter Russo aufdecken wollen, als Garanten für Wahrheit und Gerechtigkeit empfinden. Auf der anderen Seite nehmen insbesondere die männlichen Schüler die Journalisten als Bedrohung für Frank wahr, die seinem Aufstieg mit ihren gründlichen Recherchen ein Ende bereiten könnten. Zunächst muss festgehalten werden, dass die zuerst genannte SuS-Gruppe, die pro-Journalisten-Gruppe, ganz knapp die Mehrheit bildet. Dabei ist die Erkenntnis maßgeblich, dass die Reporter die „good people“ (Carina, VJ 2) und damit „die moralisch Überlegenen“ (Carina, IV) in der Geschichte sind, indem diese ihr Leben riskieren, um die Wahrheit über Frank herauszufinden (vgl. Romina, VJ 2). Insbesondere Sabrina, Emma und Anastasia äußern explizit ihren Wunsch nach Gerechtigkeit und einer damit einhergehenden Bestrafung Franks für seine Untaten: „He should be charged for what he did and not get away with it” (Sabrina, VJ 2). Den Kern der zweiten Gruppe bilden die männlichen Schüler (Sven, Stefan, Philip und Florian), die auf keinen Fall wollen, dass Frank für die Morde und andere Vergehen bestraft wird. Für die Schüler steht außer Frage, dass ein „genialer Politiker wie Frank Underwood” (Sven, IV) an die Macht müsse, statt „nutzlos im Gefängnis zu sitzen“ (Sven, IV). Auch Florian teilt diese Ansicht: „[…] to be honest everyone would rather have Frank reach for the Oval than being put away to prison“ (VJ 2). Neben den Lagern „pro Journalisten: Wahrheit und Gerechtigkeit“ und „pro Frank: Journalisten als Bedrohung“ gibt es auch eine kleine Gruppe von Schülerinnen, bestehend aus Leyla, Marie und Angelica, auf die der von Vaage (2016: xvii, 35) geprägte Begriff des fictional relief zutrifft. Auch wenn den 299 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="300"?> Schülerinnen bewusst ist, dass Frank moralisch im Unrecht ist, spricht sie die Fiktionalität der Serie gewissermaßen frei, Handlung und Charaktere nach realen Standards beurteilen zu müssen. Die Schülerinnen nehmen also eine Differenzierung vor: Für die Serie wünschen sie sich, dass sie Frank noch länger bei seinem Machtspiel und Machtkampf zuschauen dürfen. „[I]m echten Leben“ (Angelica, IV) würden sie einen Sieg der Guten über das Böse aber definitiv bevorzugen. Dies verdeutlicht Leylas Eintrag im Viewing Journal: In reality I definitely would have wanted the journalists to win […]. It is the truth that needs to be heard! […] In the series it is a bit different because if the journalists had won Frank’s career would have been over and so would have been the series. There would be no exciting goal that the viewers could look forward to (Leyla, VJ 2). Besonders im letzten Satz schwingt mit, dass Leyla Spannung und Freude dabei empfindet, Frank bei seinem Siegeszug zu beobachten - trotz aller Unrechtmä‐ ßigkeit. Aufgrund des fictional relief fühlt sich Leyla deswegen jedoch nicht schuldig. Ähnlich beschreibt Angelica ihre Gefühle im Interview: […] man möchte halt, dass er ein bisschen gewinnt in jeder Situation […]. Aber wenn‘s im echten Leben so gewesen wär, natürlich hätt ich mir dann gewünscht, dass er sofort eine Strafe kriegt. Aber für den Film fand ich es ziemlich spannend, wie des dargestellt wurde […] (Angelica, IV). Neben dem fictional relief scheint es in der Auseinandersetzung mit HoC auch eine Art political relief bzw. relief due to the political context zu geben: Die Seminarteilnehmenden gehen nämlich größtenteils von einer Unvereinbarkeit von Moral und Politik aus, was im Folgenden beleuchtet wird. 7.3.3 Unvereinbarkeit von Moral und Politik: Warum Frank Underwood ein guter Politiker, aber ein schlechter Mensch ist Trotz des insgesamt vorhandenen politischen Interesses der SuS muss festge‐ halten werden, dass die Seminarteilnehmenden grundsätzlich „eher verlogene und manipulative Menschen“ (Stefan, IV) hinter Politikern vermuten. Für die Jugendlichen ist es daher weder erstaunlich noch verwerflich, dass Frank als manipulativer und intriganter House Majority Whip, Vice President und schließlich President dargestellt wird - „denn Frank Underwood ist ja Politiker und deswegen muss er so sein, um Erfolg zu haben. Es is nun mal so, dass viel gelogen wird und Politiker sind nun mal Schauspieler … Das ist Politik“ (Philip, IV). Insofern trauen selbst solche Schülerinnen, die Frank gegenüber kritisch eingestellt sind, ihm als Politiker jede Menge Kompetenzen zu. Er habe beispielsweise die Ausstrahlung und Macht, „positive Veränderungen“ (Carina, 300 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="301"?> IV) durchzusetzen. Dies macht Emma an seinem Jobbeschaffungsprogramm AmWorks fest, das in erster Linie dem Gemeinwohl dient: „[…] he’s not only helping himself but a great number of (especially unemployed) people. […] He actually wants to be a good president […]“ (VJ 3). Im Interview gesteht Emma, dass sie Franks menschliche Qualitäten zwar anzweifle, aber als Präsident würd ich ihn glaub sogar wählen, weil ich find dadurch, dass er eben so powersüchtig ist, hat er schon auch nen Plan, wie man‘s richtig macht. Auch diese speech zu AmericaWorks hat mich echt begeistert […]. Ich find, er wär ein guter Präsident, aber halt ein schlechter Mensch (Emma, IV). Die Seminarteilnehmenden sehen also keinen Widerspruch darin, einen schlechten Menschen als guten Politiker einzuschätzen, den sie sogar wählen würden; so würden beispielsweise Florian, Carina, Emma, Angelica, Romina und Leyla Frank ihre Stimme geben. Die Diskrepanz zwischen ethisch-moralisch korrektem Handeln und poli‐ tisch-strategisch zielführendem Vorgehen kristallisiert sich vielleicht am deut‐ lichsten in Chapter 32 (S03E06) heraus, als Claire Underwood sich stark be‐ rührt von ihrer Begegnung mit dem LGBT-Aktivisten Michael Corrigan zeigt. Nach dessen Selbstmord ergreift Claire öffentlich Partei für Corrigan und dessen Vermächtnis, was zur Folge hat, dass Franks Bemühungen bezüglich eines US-russischen Abkommens hinfällig sind. Dies führt zu einem heftigen Streit zwischen den Underwoods, welcher die SuS zu ausführlichen Viewing Journal-Einträgen inspiriert. Hinsichtlich ihrer moralischen Positionierung stimmen die Jugendlichen überein, dass Claire emotional nachvollziehbar und zugleich auch moralisch korrekt gehandelt habe, während Frank die Gegenseite der Vernunft sowie der politisch-strategischen Richtigkeit verkörpere. Die SuS positionieren sich dabei ausgewogen „pro Frank“ und „pro Claire“ (vgl. dazu ausführliche Einzelfallanalysen). 7.3.4 Fazit zu den Moralvorstellungen Jugendlicher Auf das in der Regel durch Frank personifizierte Böse in der Serie HoC reagieren die SuS unterschiedlich - von diabolischer Faszination über Distanzierung bis hin zu totaler Ablehnung und Verurteilung, welche mit dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Trotz der Spannweite an Reaktionen stellt das Böse bzw. das moralisch Verwerfliche in HoC einen höchst motivierenden Sprech- und Schreibanlass für sämtliche Jugendlichen dar, die entweder ihre Faszination kundtun oder ihre moralischen Einwände in kritischen Viewing Journal-Einträgen erheben. Selbst die Jugendlichen, die Frank und dessen Vergehen aufgrund ihres moralisch-ethischen Standpunkts verurteilen, stellen 301 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="302"?> fest, dass die Serie ohne Tabubrüche nicht sehenswert gewesen wäre: „Ich glaub, es wär schon langweilig gewesen, wenn diese Aspekte nicht dabei gewesen wären […]. Mich hat das dann voll zum Weiterschauen animiert …“ (Anastasisa, IV). Das findet auch Elif: „Ohne die Schockmomente wäre es halt schon ziemlich langweilig“ (IV). Es kann festgehalten werden, dass Jugendliche beim Serienkonsum emotional aufwühlende Momente brauchen, um die Serie als reizvoll und spannend zu erleben. Dies lässt auf ein gewisses Maß an Voyeurismus schließen: Während Ehebruch - vor allem in einer auf Vertrauen und Loyalität basierenden Beziehung wie der der Underwoods - von den Jugendlichen mehrheitlich verurteilt wird, steigern andere Tabubrüche den Entertainmentfaktor. Darüber hinaus setzen die Seminarteilnehmenden für die moralische Beur‐ teilung von Politikern andere Maßstäbe an als für „normale Menschen“ (Philip, IV). In den Augen der SuS liegt es nämlich in der Natur eines Politikers, andere Menschen manipulieren und täuschen zu müssen. Mit dieser Unvereinbarkeit von Politik und Moral im Hinterkopf nehmen insbesondere die männlichen Schüler Frank sein skrupelloses Agieren um der politischen Karriere Willen nicht übel, sondern bewundern ihn vielmehr dafür. An dieser Stelle möchte ich ein Plädoyer für die Thematisierung des Kon‐ troversen und Provokativen anhand authentischer audiovisueller Medien im EU der Sekundarstufe II aussprechen - selbstverständlich im Rahmen altersge‐ mäßer Szenen. Eine bewahrpädagogische Grundhaltung würde das kommuni‐ kative Potential solchen Materials verfehlen. HoC beinhaltet z. B. Tabubrüche, die Anregungen zum Nachdenken und Diskutieren über gesellschaftliche Ent‐ wicklungen geben und damit eine Bereicherung für den FSU darstellen können. Zusammenfassend lassen sich die Seminarteilnehmenden hinsichtlich ihrer Moralvorstellungen im Umgang mit dem Bösen folgendermaßen kategorisieren: 302 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="303"?> stark fasziniert vom Bösen Sven Philip Florian Stefan (Auffälligkeit: alle männlichen Schüler; s. Anmerkung unten) stark ausgeprägter Beschützerinstinkt für Frank; Empfindung seiner Gegner als Bedrohung; bedingungsloses Mitfiebern; Frank als Vorbild; moralische Urteilsbremse Zwischenposition Elif stark fasziniert von Frank (v. a. von der Wirkkraft der Asides), aber stellenweise Hinterfragen seiner Handlungen guilty fascination: moralische Ambiva‐ lenz Romina Leyla Angelica Marie: Distanzierung ab Kirchenszene, Staffel 3 Ambivalenz zwischen Bewunde‐ rung/ Faszination für Frank und Gewissensbissen wegen morali‐ scher Fragwürdigkeit seines Han‐ delns; Bewusstsein für gut/ böse, richtig/ falsch Zwischenposition Carina Emma Laura Bewunderung von Frank als Poli‐ tiker; Kritik an Frank als Mensch und v. a. Ehemann abgestoßen vom Bösen; Hoffnung auf Sieg der Guten Anastasia Sabrina Ablehnung und Verurteilung des Bösen; Mitfiebern mit den „Guten“ ( Jour‐ nalisten und Garrett Walker) Abb. 29: Positionen und Reaktionen der SuS auf das Böse in HoC (eig. Darst.) Auffällig ist, dass die Schülerinnen gegenüber Frank kritischer eingestellt sind. Dies hängt damit zusammen, dass die Seminarteilnehmerinnen Claire Under‐ wood als die moralisch Überlegene im Team Underwood sehen. Die Solidarität der Schülerinnen mit Claire zeigt sich insbesondere dann, wenn Frank einen barschen Ton im Umgang mit seiner Frau anschlägt oder ihren beruflichen Ambitionen im Weg steht. Dies missfällt den weiblichen Jugendlichen und sie positionieren sich bei den Konfrontationen der Underwoods mehrheitlich auf Claires Seite, was sich als deutlicher Trend mit insgesamt 60 Kodierungen „pro Claire“ und nur 20 Kodierungen „pro Frank“ im Datenmaterial widerspiegelt. Als Tendenz kann festgehalten werden: Je stärker die Schülerinnen von Claire fasziniert sind, desto kritischer beäugen sie Franks Verhalten. Nichtsdestotrotz muss eingeräumt werden, dass auch die weiblichen Schülerinnen sich immer wieder fasziniert von Frank zeigen (vgl. Einzelfallanalysen). Nur in Szenen der 303 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="304"?> direkten Konfrontation zwischen Frank und Claire ergreifen die weiblichen Jugendlichen explizit Partei für die Protagonistin. 7.4 Entwicklung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen am Beispiel der Auseinandersetzung mit House of Cards Zunächst muss festgehalten werden, dass alle Seminarteilnehmenden die Ver‐ besserung ihrer Englischkenntnisse durch das intensive Schauen der Serie HoC betonen. In den ausführlichen Leitfadeninterviews mit den SuS kristallisiert sich eine klare Tendenz hinsichtlich der Selbsteinschätzung ihres Lernzuwachses heraus: Durch die Viewing Journals sei ihnen vor allem eine Verbesserung der sprachlichen Kompetenzen gelungen (21 Kodierungen). Die SuS Stefan, Leyla, Philip und Anastasia erklären zudem, dass sie von der „klare[n] Hochsprache“ (Leyla, IV) und vom „Business English“ (Philip, IV), das die Politiker in HoC sprechen, profitiert hätten. Dieses sprachliche Lernen am Modell der Serie soll im Folgenden untersucht werden. 7.4.1 Lexikalische Kompetenz Wie bereits bei den Dimensionen politischen Lernens erläutert, sehen sich die SuS beim intensiven Schauen der Politdramaserie HoC mit ihnen bislang unbekanntem politischen Vokabular konfrontiert. Solche Begriffe wurden mit einem entsprechenden Rechercheauftrag im Viewing Journal versehen, um die aktive Auseinandersetzung mit der Serie zu unterstützen. Der Lernzuwachs hinsichtlich der lexikalischen Kompetenz beschränkt sich jedoch nicht nur auf politisches Vokabular, sondern die SuS „schnappen jede Menge Alltagswörter, aber auch so gehobenen Wortschatz auf “ (Carina, IV), den sie sich aneignen wollen. Da die Jugendlichen es sich angewöhnt haben, beim Schauen von Serien unbekannte Vokabeln nachzuschlagen, um dazulernen zu können, wenden die Seminarteilnehmenden in der Auseinandersetzung mit HoC altbewährte Strategien an. Angelica erwähnt zum Beispiel, dass sie sich neue Wörter auf ihrem Handy „in Notes“ (IV) digital vermerkt habe, wo sie auf diese jederzeit zurückgreifen könne: „Wenn ich zum Beispiel unterwegs bin oder so, dann schau ich da und überleg mir, was war nochmal dieses Wort … so bis ich‘s halt dann wieder im Kopf hab […] und des hilft echt“ (IV). Marie betont im Interview, dass sie HoC auf Englisch mit deutschen Untertiteln geschaut habe, „weil dann sehe ich gleich die Übersetzung für das neue englische Wort und kann’s mitschreiben“ (IV). Hierfür nützt Marie ein Vokabelheft, in dem sie Wörter notiert, die sie „beim alltäglichen Gebrauch von Filmen oder so was 304 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="305"?> … auch Büchern“ (IV) aufschnappt und behalten möchte. Leyla beschreibt ein ähnliches Vorgehen: Ich hatte immer ein Blatt vor mir und hab dann erst die englischen Wörter aufge‐ schrieben - also halt immer mit Übersetzung … und am Ende der Folge hab ich’s dann nochmal angeschaut. Also auf dem Schmierzettel hatte ich dann die neuen Wörter und konnt schauen, was ich mir gemerkt hab. […] Also es waren auf jeden Fall sehr viele politische Wörter […] und am Schluss, da dacht ich mir so, ok, das ist schon einiges, was ich da gelernt hab aus der Serie … vor allem von den Vokabeln her (Leyla, IV). Um solche Vokabeln allerdings nicht nur im passiven Wortschatz zu haben, sondern auch produktiv verwenden zu können, sollte man diesen möglichst häufig begegnen: Wenn ich so Vokabeln, die ich mir mal rausgeschrieben hab, dann nochmal hör oder les, dann klickt’s irgendwie … Ich erinner mich dann … so da war doch was … und dann schau ich nochmal nach und dann merk ich’s mir halt auch mehr … also je öfter man auf des Wort stößt, desto besser … So ist es bei mir auf jeden Fall (Leyla, IV). Die in HoC vernommenen und anschließend gegoogelten Vokabeln erkennen die SuS fortan auch in anderen Kontexten; diesbezüglich erwähnen Romina, Carina, Marie und Leyla beispielsweise das Lesen von Zeitungsartikeln oder das Schauen anderer Serien. Für die aktive Nutzung der vor der Rezeption von HoC unbekannten Vokabeln spielen auch die Viewing Journals eine wich‐ tige Rolle. Zahlreiche SuS greifen nämlich auf die in HoC „aufgeschnappten“ Wörter und Wendungen auch produktiv in ihren Einträgen zurück. An dieser Stelle sollen nur einige Beispiele genannt werden, bei denen Vokabeln und idiomatische Ausdrücke nach gehäuftem Vorkommen in HoC von den SuS aktiv verwendet werden: „hypocrisy“ (Florian, Romina, Leyla, Sven und Stefan, VJ 1), „vetted by“ (Stefan, Leyla, VJ 1), „waive his privilege“ (Carina, Leyla, VJ 2), „witness tampering“ (Leyla, VJ 2), „medication which might have impaired his judgement“ (Emma, Leyla, Carina, VJ 2), „money-laundering“ (Stefan, VJ 2), „leaving a legacy“ (Sven, Romina, VJ 3), „lift the veil“ (Angelica, Leyla, VJ 1), „she will be on his ticket“ (Florian, Sven, VJ 3), „there is a lot at stake“ (Leyla, VJ 1; Carina, Stefan, VJ 3), „litigation“ (Stefan, Philip, VJ 3), „accused of dodging“ (Emma, VJ 3), „throwing a tantrum“ (Anastasia, Emma, VJ 3). Es findet also ein Transfer von sprachlichen Wendungen statt, die zunächst in der Serie geäußert und anschließend von den SuS in ihren selbstständig formulierten Viewing Journal-Einträgen aufgegriffen werden. Dies zeigt, dass bei der aufmerksamen und zielgerichteten Rezeption „gute Wörter und Wen‐ 305 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="306"?> 99 Interessanterweise bevorzugt die Mehrheit der SuS (zehn der Jugendlichen) die analoge „Block und Stift“-Methode für das Notieren und Dokumentieren neuer Wörter; nur drei der Seminarteilnehmenden greifen dafür auf Apps zurück. dungen hängenbleiben“ (Emma, IV) können. Die Tatsache, dass die Mehrheit der Seminarteilnehmenden Serien mit Block und Stift, mit Smartphone und offener App oder mit einem Vokabelheft zur Hand schaut, 99 um neue Wörter festhalten zu können, zeigt die Motivation der Jugendlichen, ihren Wortschatz über das Schulenglisch hinaus stetig zu erweitern. Einige SuS nützen ihr Viewing Journal auch, um am Seitenende oder Seitenrand Vokabeln zu notieren, die ihnen beim Schauen der Serie auffallen. Leyla hält während der Rezeption von Chapter 1 zum Beispiel die Wendung „as tough as a 2 $ steak“ fest und in einer späteren Folge (Chapter 12) „savvy“, wozu sie sich als Synonym „know-how“ notiert. Ninas Viewing Journal zu Staffel 1 beinhaltet hinsichtlich der Vokabeln, die sie sich merken möchte, „hubris“, „livid“, „tantrum“, „retribution“ und „pledge“. Insgesamt erkennen die SuS ihren lexikalischen Kompetenzzuwachs durch HoC vor allem in folgenden Bereichen: politische Wörter, nützliche idiomatische Wendungen, Business English und gehobene Vokabeln. Besonders interessant ist dabei, dass die Jugendlichen neuen Wortschatz nicht nur beim Hörsehverstehen erwerben, sondern dass sie sich auch in der Bemühung um einen elaborierten Stil für ihre Viewing Journal-Einträge neue Vokabeln aneignen. Dabei handelt es sich laut Thaler (2012: 225) um lernergesteuerten Wortschatzerwerb. Wie bereits am konkreten Beispiel Rominas erläutert, lassen sich folgende Arten des Wort‐ schatzerwerbs am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC differenzieren: 1. Aufmerksam-Werden auf ein neues Wort oder eine bislang unbekannte Wendung in HoC, welche die SuS online nachschlagen und mit der deutschen Bedeutung festhalten (Block, Vokabelheft, digital in App); einige dieser Vokabeln und Wendungen werden dann auch produktiv von den Jugendlichen für ihre Viewing Journal-Einträge genutzt. 2. Nicht-Wissen eines oder des perfekt passenden Wortes auf Englisch und daraus resultierende Recherche a. Feststellen einer lexikalischen Wissenslücke beim Verfassen der Vie‐ wing Journal-Einträge; Googeln des jeweiligen Wortes und dann produktive Anwendung im Viewing Journal; b. Bemühung um gehobene Wortwahl und elaborierten Stil zur Vermei‐ dung von simpel anmutendem Englisch; Googeln von Synonymen, um keine kindlich klingenden Worte zu verwenden. 306 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="307"?> 100 Der Code „Bearbeitungstiefe, Ausführlichkeit“ weist 297 Kodierungen auf; „sprachli‐ ches Niveau“ kommt auf ebenfalls starke 112 Kodierungen. 3. Unsicherheit beim Verfassen der Viewing Journal-Einträge („Kann man das so sagen? “) und Vergewisserung durch Googeln der jeweiligen Wendung (v. a. in Zusammenhang mit Präpositionen). Eng verbunden mit dem lexikalischen Kompetenzzuwachs der Seminarteil‐ nehmenden ist die Verbesserung ihrer Schreib-Kompetenz, welche die SuS vor allem durch ihr Bestreben ausbauen, sich möglichst idiomatisch und differen‐ ziert in ihren Viewing Journals auszudrücken (vgl. oben Punkt 2b). 7.4.2 Schreib-Kompetenz Die Jugendlichen erkennen eine deutliche Verbesserung ihrer Schreib-Kompe‐ tenz in der Auseinandersetzung mit HoC, was sie hauptsächlich auf die Arbeit mit den Viewing Journals zurückführen. Dies stellte für mich eine der positivsten Überraschungen bei der Beschäftigung mit dem Datenmaterial dar, da die Förderung von Schreib-Kompetenz kein maßgeblicher Hintergedanke bei der Konzeption der Viewing Journals war; der Ausbau lexikalischer Kompetenz, politisches und filmästhetisches Lernen standen beispielsweise mehr im Vorder‐ grund. Erfreulicherweise antworten die Jugendlichen weitaus ausführlicher als erwartet und geben sich bei ihren Einträgen viel Mühe um sprachliche Korrekt‐ heit und abwechslungsreiche Wortwahl. Statt nur Stichpunkte zu formulieren, verfassen die Lernenden durchdachte und komplexe Sätze, was nicht nur mich, sondern auch die Lehrkraft Frau Potter erstaunt. Die Codes „Bearbeitungstiefe, Ausführlichkeit“ und „sprachliches Niveau“ erweisen sich bei der Kodierung der Viewing Journals mit MAXQDA als unverzichtbar 100 : Das heißt, dass 409 von den SuS verfasste Viewing Journal-Einträge mit ihren sprachlichen oder inhaltlichen Qualitäten so sehr überzeugen, dass sie speziell markiert werden. Bei einer Sichtung all dieser Einträge mit Frau Potter wird das sich darin abzeichnende sprachliche Niveau von uns auf mindestens C1+ geschätzt. Um exemplarisch zu illustrieren, warum der Code „Bearbeitungstiefe, Ausführlichkeit“ seinen Namen verdient, soll Carinas Viewing Journal-Eintrag zur entscheidenden Streitszene zwischen Frank und Claire (Chapter 39: S03E13, 47‘32‘‘) an dieser Stelle vollständig aufgeführt werden: Claire is sitting in her husband’s chair in the Oval office. He comes in and you can already sense that he is upset with her, but he is keeping it together. Claire lights up a cigarette, then starts explaining herself. She begins with this: “For all these years, I thought we were on this path together.” She doubts that in the marriage and in the 307 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="308"?> professional life that they share, they are two equal parts. Frank is convinced and tries to make her believe it too: “We earned this together. I said that to your face the first day I walked in here as president.” That doesn’t convince her, after all, it is his office and not hers. Not even the fact that Frank always tried to run major decisions past her to get her opinion on them, calmed her down. Her problem is, that they were always his decisions and never hers. She was always just the sidekick and never the main show and that is what has been upsetting her in the last while. She is too much of a character to be someone else’s puppy to be shown off and that is what she is trying to show him. She hates that she always has to ask for help from Frank when she wants things, she doesn’t have any real power without him and being powerless makes her feel like a stranger to herself. She says it makes her feel ill that she needs him for anything he wants. “What is wrong with asking for my help when you need it? ”, he asks. “The fact that I need it. I hate that feeling. It’s not me, I don’t recognize myself when I look in the mirror.” (We remember how Tom called her lost) Frank stays calm and tries to convince her reasonably. She brings up what happened in Iowa, he seems disgusted just thinking about it. “It was deranged. Begging me to take you like that.” “And you couldn’t even give that to me.” Now Frank gets upset because he says that Claire can’t have it both ways, it is either a husband who is constantly proving his manhood or an equal partner. Frank thinks it is always whatever suits her best and not what is actually reasonably right. A man who takes charge or an equal partner whenever it suits her best. He is lost in that, because between all he always goes through, he now also has to “divine when she wants which.” He calls her selfish because she is having problems with the relationship in the middle of the election. Claire responds with: ”We used to make each other stronger, or at least I thought so, but that was a lie. We were making you stronger. And now I’m just weak and small and I just can’t stand that feeling any longer.” The tension gets stronger and stronger during that moment. Frank asks her what she wants. Why nothing (The white house, being first lady etc.) is enough, she responds: ” No it’s you who is not enough.” After that… Silence and Frank is getting more and more furious while Claire is just looking extremely indifferent, but you can also see that this is a moment of power against Frank that he immediately opposes. What I think is interesting is that the first thing he says after the silence is this: “When we lose because of you.” He still sees the presidency as something that they both earned and own. Which it is not, in Claire’s opinion. But that also shows that he still doesn’t understand her. He becomes more and more aggressive from that moment on and it is just at least 90 seconds of him attacking her with the harshest words and it all just ends with one sentence. “Without me, you are nothing.” He gets up and proceeds talking. He continues with how Claire always should have known that that office only has one seat 308 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="309"?> 101 Die Einzelfallanalysen beinhalten hinsichtlich des sprachlichen Niveaus der SuS zahl‐ reiche aussagekräftige und detaillierte Beispiele, welche einen repräsentativen Einblick verschaffen. and that he was foolish to marry her in the first place. He says all that while walking around the table until he is standing right behind her. He keeps butchering her, saying that she has to do her job as the first lady because he does his as president whatever it takes, but she is just standing there staring out the window. Frank is angrier than ever he says: “You want me to take charge, fine I’ll take charge.” He takes her face and pulls it 90 degrees towards his, so that she has to look him in the eyes. “You will get on that plane tomorrow. You will come to New Hampshire. You will smile and shake hands and kiss babies. And you will stand with me on a stage and you will be the first lady.” In that moment you can see how she is trying to pull his hands away, his grip is too tight, and he is actually hurting her. Then he lets her go. That is how the scene ends…. (Carina, VJ 3). Dass die Auseinandersetzung zwischen Frank und Claire einen motivierenden Schreibanlass für Carina darstellt, zeigt sich nicht nur an der beachtlichen Ausführlichkeit ihres Eintrags, sondern auch daran, dass die Schülerin direkte Zitate der Protagonisten in ihre allesamt zutreffenden Betrachtungen gekonnt einflicht. Im Interview erklärt Carina, dass sie ihren Blick nicht von der Streit‐ szene habe abwenden können und von der Intensität der Auseinandersetzung gefesselt und geschockt zugleich gewesen sei. Diesen Schock habe sie in obigem ausführlichem Eintrag verarbeitet und dabei „ganz vergessen, wie viel [sie] schon geschrieben hatte“ (Carina, IV). Zudem muss das sprachliche Niveau des Eintrags betont werden: Die Schülerin formuliert anspruchsvolle Sätze mit ausdrucksstarken Modaladverbien (z. B. „tries to convince her reasonably“, „constantly proving“, „just looking extremely indifferent“) und idiomatisch überzeugender Wortwahl (z. B. „to run major decisions past her“, „just the side‐ kick“, „someone else’s puppy to be shown off “). Es hätte im Datenmaterial 296 weitere von den Teilnehmenden des W-Seminars verfasste Einträge gegeben, die eine ähnlich tiefe und ausführliche Auseinandersetzung mit Szenen der Serie HoC beinhalten; einige von ihnen wurden bei den Einzelfallanalysen bereits genauer beleuchtet. Auch für den Code „sprachliches Niveau“ gibt es im Datenmaterial zahlreiche Beispiele; hier möchte ich nur einige kurze Auszüge auflisten, um an dieser Stelle zumindest einen Eindruck hinsichtlich der idiomatischen und differenzierten Ausdrucksweise der SuS ermöglichen zu können: 101 „to […] put a final nail in his coffin” (Romina, VJ 1), „swept under the rug” (Philip, VJ 1), „end on bad terms” (Leyla, VJ 2), „searching for the needle in the haystack” (Carina, VJ 2), „they 309 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="310"?> ruled out the possibility of homicide” (Romina, VJ 2), „Claire planted a seed in the First Lady’s head” (Anastasia, VJ 2), „[s]he kind of pulls the strings behind the scenes” (Romina, VJ 3), „that’s when the tide gets turned” (Marie, VJ 3), „I get the hillbilly vibes” (Emma, VJ 3), „[…] all just in time for this bipartisan effort to be touted” (Leyla, VJ 2), „Frank’s megalomania” (Leyla, VJ 2), „she is a good human connoisseur” (Stefan, VJ 2), „some sort of epiphany” (Carina, VJ 3), „Frank had a very powerful and aggressive demeanour” (Sven, VJ 3), „he can be described with the words, intransigent, severe […] and certain of victory” (Marie, VJ 3), „she’s looking for a prevarication out of the agreement” (Marie, VJ 3), „adamant determination” (Marie, VJ 3), „[h]is misogynistic behavior is supposed to intimidate her” (Emma, VJ 3). Sicherlich mussten die Seminarteilnehmenden einige der oben genannten Wendungen nachschlagen, um diese dann für ihre Viewing Journal-Einträge nutzen zu können. Es zeugt vom großen Engagement der SuS, dass sie Zeit in die Recherche von anspruchsvollen Vokabeln investierten, um sich möglichst souverän ausdrücken zu können. Die Tatsache, dass in keinem Viewing Journal ein deutsches Wort von den Jugendlichen verwendet wird, ist bemerkenswert - vor allem in Anbetracht der Länge der Viewing Journals (z. B. ca. 30 Seiten für das Journal zu Staffel 1). Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, warum die Jugendlichen bereit sind, Einträge in solcher Qualität und Quantität zu verfassen. Dafür kristallisieren sich verschiedene Gründe aus den Gesprächen mit den SuS heraus, die einerseits ihrer extrinsischen und andererseits ihrer intrinsischen Motivation zuzuordnen sind. Die Mehrheit der SuS verfolgt das Ziel, möglichst perfekt bearbeitete Viewing Journals abzugeben. Dies hängt mit den Ambitionen der Seminarteilnehmenden zusammen, die die zielgerichtete außerschulische Beschäftigung mit Serien gewöhnt sind und das Viewing Journal als willkommenes Begleitinstrument zur sprachlichen Verbesserung sehen. Anastasia erläutert beispielsweise, dass sie und ihre Mitschüler bereits über sehr gut ausgeprägte Kompetenzen im mündlichen Sprachgebrauch (besonders in der Aussprache) verfügen würden; Umgangssprache und miteinander über „Alltagszeugs drauflosreden“ (Anas‐ tasia, IV) seien also nicht das Problem. Nachhol- und Förderbedarf bestehe hingegen bezüglich des schriftlichen Ausdruckvermögens, woran man nach der Mündlichkeit (das Primat der Sprech-Kompetenz betont Anastasia nachdrück‐ lich) im EU arbeiten müsse - vor allem aufgrund der Dominanz des Schriftlichen im Bereich der Leistungserhebungen. Die SuS erkennen den Wert des Viewing Journals als hilfreiches Lerninstrument in diesem Kontext, zumal es ihnen authentische Schreibanlässe liefert und von den Lehrkräften mit ausführlichem Feedback versehen wird. 310 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="311"?> Dieses Feedback und die Benotung der Viewing Journals spielen als extrinsi‐ sche Motivationsfaktoren bei der sorgfältigen Bearbeitung der Filmtagebücher eine wichtige Rolle, was ein Drittel der Seminarteilnehmenden im Interview betont. Trotz der Gewagtheit der Vorgehensweise (die Jugendlichen sollten ihr Viewing Journal zu Staffel 1, welches auch benotet wurde, während der Som‐ merferien bearbeiten) kommen die Lernenden der Aufgabe in beeindruckend engagierter Weise nach, was sich auch in vielen sehr guten und guten Noten widerspiegelt: Nur drei Mal gibt es die Note „befriedigend“ und dies ist zugleich auch die „schlechteste“ Note, die für ein Viewing Journal erteilt wird. Neben einer Note wird jedes Journal von der Lehrkraft und mir mit ausführlichem Feedback versehen, wobei nicht nur Fehler korrigiert werden, sondern auch sprachlich oder inhaltlich besonders gelungene Einträge (und diese überwiegen gegenüber den Fehlern) im Sinne einer Positivkorrektur hervorgehoben und gelobt werden. Dies erschien als bester Weg, eine angemessene Wertschätzung hinsichtlich der die Erwartungen übertreffenden Qualität der Viewing Journal-Einträge kund‐ zutun und die Arbeit der Jugendlichen entsprechend zu honorieren. So konnte ein zu starker Fehler-Fokus vermieden und stattdessen durch einen weitaus mehr angebrachten Fokus auf die Stärken der Schülerprodukte ergänzt werden. Dabei folgte ich den Empfehlungen von Reitbauer und Vaupetitsch (2004: 255), die als Voraussetzungen für erfolgreiches individualisiertes Feedback sowohl problemlösungsorientierte Rückmeldungen durch „konkrete Optimierungsvor‐ schläge“ als auch eine Hervorhebung von Gelungenem durch entsprechendes Lob nennen. Schratz und Westfall-Greiter (2010: 178) halten diesbezüglich fest: Bei der Entwicklung einer lernerfreundlichen und lernförderlichen Feedbackkultur geht es […] um die Schaffung einer allgemeinen Atmosphäre des Respekts, der Anerkennung und der Wertschätzung für Leistungsanstrengungen, Lernergebnisse und Fortschritte, eines Lernklimas also, in dem […] Rückmeldungen grundsätzlich der Ermutigung und Unterstützung dienen. Interessanterweise wirkt sich diese Feedbackstrategie, die ich der Bewertung der Filmtagebücher zugrunde lege, positiv auf die Schreibbereitschaft und damit letztlich auch auf die Schreibprodukte der Jugendlichen aus, die sich von Journal zu Journal zu immer besseren Leistungen steigern. Hier bewahrheitet sich der von Müller und Ditton (2014: 23) formulierte Grundsatz, dass intensives Feedback eine engere Verbindung mit der jeweiligen Aufgabe bewirke. Den Berichten der Seminarteilnehmenden zufolge ist im schulischen Kontext Feedback in Form von explizitem Lob die Ausnahme, da viele Lehrkräfte eine Rückmeldekultur praktizieren, die Carina und Sven im Interview unabhängig voneinander mit den Worten „nicht geschimpft ist genug gelobt“ beschreiben. 311 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="312"?> 102 Dies deckt sich mit den Berichten der Jugendlichen des W-Seminars. Da sich Lob und Anerkennung als wichtige Antriebskräfte bei der gewissen‐ haften Bearbeitung der Viewing Journals durch die SuS herausstellen, möchte ich einen kurzen Exkurs diesbezüglich vornehmen. Exkurs 1: Die Wichtigkeit von Lob und Anerkennung im Englischunterricht Dem FSU wurde - zumindest in der Theorie - ein kompetenzorientiertes Verständnis von Evaluation zugrunde gelegt und Schädlich (2017: 67) attestiert dem EU dementsprechend „eine generelle Abkehr von der Defizitorientierung […] und eine stärkere Betonung dessen, was bereits gekonnt ist und sprach‐ lich gelungen ausgedrückt wurde (Positivkorrektur)“. Harks et al. (2014: 164) kritisieren hingegen, dass in der Unterrichtspraxis Noten in der Regel die einzige Form der schriftlichen Rückmeldung an die SuS bezüglich ihres Leis‐ tungsstandes darstellen würden. 102 Wenn dieser Befund zutrifft, muss von einem erheblichen Missstand gesprochen werden - vor allem wenn man sich die wichtigen Funktionen vergegenwärtigt, die konstruktives Feedback für die Lernenden erfüllt: Im Idealfall könne es zu Qualitätssteigerung und Erkenntnis führen (vgl. Dainton 2018: 12, 16), womit Feedback der stärkste Einfluss zur Verbesserung der Lernleistung sei (vgl. Hattie 2015: 15; Harks et al. 2014: 163). Müller und Ditton (2014: 22) gehen neben der informierenden sowie regu‐ lierenden Funktion von Feedback auch auf Bestätigung und Verstärkung als Kernelemente einer fruchtbaren Rückmeldekultur ein. Feedback müsse nämlich immer auch eine motivationale Komponente erfüllen und positives Feedback ermutige und hebe dadurch die Motivation (vgl. Müller und Ditton 2014: 23; Kopp und Mandl 2014: 159). Dies bestätigt die Studie von Lipnevich und Smith (2009: 350): „[A] feedback message containing praise enhances motivation and leads to improvement of individuals’ performance”. Auch Hattie (2012: 120 f) weist auf die Wichtigkeit von Lob hin und begründet dies folgendermaßen: „[S]tudents see praise as important for their success in school and the presence of praise is related to learning outcomes“. Entscheidend für einen lernfördernden EU sei demnach eine Balance aus einer Hervorhebung der Stärken der SuS und konstruktiven Hinweisen für eine bestmögliche Gestaltung des weiteren Lern‐ prozesses (vgl. Schratz und Westfall-Greiter 2010: 178). Bauer (2014: 110) betont diesbezüglich, dass Lernprozesse stets als „ein Zusammenspiel aus kognitiven Aspekten der Inhaltsebene und emotionalen Aspekten der Beziehungsebene“ betrachtet werden müssen. Dabei erweise sich die Ebene der Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler oder Schülerin als besonders bedeutsam. Lehrenden sollte es - abstrakt formuliert - darum gehen, in dieser Bezie‐ 312 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="313"?> hung eine Balance zwischen den Polen der Autorität und der persönlichen Sensibilität zu schaffen. Es sei den Äußerungen der Lernenden zufolge wichtig, dass Lehrende nicht primär belehren und alles besser wissen sowie dazu da sind, Benotungen vorzunehmen. Sie sollten den Lernenden gegenüber vielmehr mit Offenheit und Vorurteilsfreiheit auftreten. Konkret gehöre dazu ein sensibler und interessierter Umgang mit Fragen von Seiten der Lernenden, anerkennendes Loben und auf die Interlanguage der Lernenden bezogene Fehlerfreundlichkeit (Bauer 2014: 109 f). Im Umgang mit jungen Erwachsenen müsse das Verständnis der Lehre also von der Idee der Gleichberechtigung geleitet sein (vgl. Hattie 2015: 53). Feedback müsse dementsprechend auf Augenhöhe erfolgen (ebd.: 58). Insbesondere der Einsatz von Diary-Formaten wie Lesetagebuch oder Viewing Journal, bei denen introspektive Elemente eine größere Rolle spielen, erfordert ein Umdenken, wenn es um Feedback geht. Ein zentraler Gedanke im konkreten Fall der Auseinandersetzung mit HoC ist es, den SuS, die erstaunlich offen und bereit sind, ihre ganz persönlichen Gedanken und Gefühle zur Serie mitzuteilen, zu zeigen, dass ihre Ansichten wertgeschätzt und ernstgenommen werden. Die Intensität der Art und Weise, in der die Jugendlichen die Möglichkeit der Anschlusskommunikation nutzen, indem sie eigene Fragen an den Text stellen, Auffälligkeiten formulieren und häufig weit über das vorgesehene Zeilenangebot hinaus schreiben, darf nicht ungesehen bleiben und verdient Anerkennung. Dies erfolgt nicht nur durch eine abstrakte Note, sondern auch durch intensives Feedback inklusive einer Positivkorrektur. Dies wissen die Se‐ minarteilnehmenden zu schätzen. Sabrina erwähnt in diesem Zusammenhang, dass sich ihr Selbstbewusstsein in Bezug auf ihre Schreib-Kompetenz dadurch verbessert habe und dass sich ihre Hemmungen und Blockaden beim Schreiben auf Englisch - insbesondere bei der Formulierung von Interpretationen - verringert hätten: „Es war für mich erstmal so total ne Überwindung, dass ich da überhaupt was hinschreib“ (Sabrina, IV). Nach einigen zaghaften, aber dennoch gelungenen Analysen und Interpretationen der Schülerin, die bei der Korrektur ihres Viewing Journals entsprechend gewürdigt werden, reduzieren sich Sabrinas Selbstzweifel und sie kommt zu der Erkenntnis, „dass ich genau das, was ich denk und fühl, auch so aufschreiben darf … Ich hatte dann nicht mehr so Angst, was Falsches zu schreiben“ (Sabrina, IV). Auch Philip profitiert vom ausführlichen Feedback: Für mein Englisch fand ich bei den Viewing Journals ganz wertvoll, dass Sie die immer korrigiert haben. Sie haben da auch ein paar Sätze von mir umformuliert und dann nochmal hingeschrieben, das fand ich sehr hilfreich, dass man sehen konnte, ja ok, des ist halt von der Satzstellung nicht richtig […] und des hat mir dann sehr 313 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="314"?> weitergeholfen, weil das Problem hab ich auch öfter mal beim Reden, so Satzstellung … Ich will dann manchmal zwei Sätze gleichzeitig sagen. Aber ich hab auch gesehen, was ich gut mach und das hat … das hat schon gut getan … Sie haben zum Beispiel meine Analysen ziemlich gelobt, was mich dann schon so’n bisschen stolz gemacht hat (Philip, IV). Hier bewahrheitet sich der von Reitbauer und Vaupetitsch (2004: 251) formu‐ lierte Gedanke, dass Kritik von den SuS akzeptiert und respektiert werde, wenn die Lehrkraft auch deren Stärken sichtbar macht. Dadurch wachse bei den Lernenden die Bereitschaft, an Schwächen konstruktiv zu arbeiten (vgl. Kopp und Mandl 2014: 154). Im Fall der Viewing Journals bemühen sich die SuS oft um „schönere Formulierungen“ (Romina, IV) jenseits eines Schulenglisch-Niveaus, welches Frau Potter als „typisches can-/ do-/ make-Englisch“ bezeichnet. Der Empfehlung von Schädlich (2017: 67) Folge leistend, werden bei der Korrektur der Filmtagebücher auch „besonders mutige Formulierungen […] mit einem positiven Feedback bedacht […], um die Tendenz zur Fehlervermeidung durch den Gebrauch allzu einfacher Strukturen zu durchbrechen“. Ein weiterer Gedanke, der bezüglich des Feedbackgebens bei der Arbeit mit Diaries oder Journals im Unterricht eine in meinen Augen entscheidende Rolle spielt, wird von Edge (1989: 60) formuliert: If students are writing about something they are interested in, they will care about what they write. If the teacher’s response is only in terms of linguistic correction, the students will quickly learn that even if the writing task appears interesting, the teacher really doesn’t care what the students think about the topic. […] So, we need to show learners that we are interested in what they say by reacting to their ideas. Edges Überlegungen können auf meine Studie übertragen werden: Die Seminar‐ teilnehmenden halten in ihren Viewing Journals persönliche und mitunter sogar intime Gedanken und Gefühle fest und es besteht kein Zweifel daran, dass ihnen diese Inhalte etwas bedeuten. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die SuS ihre handschriftlich bearbeiteten Viewing Journals, nachdem ich diese für die Auswertung abgetippt habe, wieder zurückhaben möchten. Florian begründet dies mit den Worten: „So was will ich schon behalten und aufheben … Da hab ich so lang dran gesessen … Da sind so viele Gedanken und … so viel Mühe ist da drinnen … und ja … das will ich dann halt auch für mich aufheben“ (Florian, IV). Aus diesem Grund ist es wichtig, den Jugendlichen zu zeigen, dass man als Lehrkraft tatsächlich Interesse an den von ihnen formulierten Einträgen hat. In diesem Fall zählen die Inhalte mehr als ein Rechtschreib- oder Kommafehler: „Reacting to content improves writing linguistically and gives encouragement. In this way, it is an important part of teaching” (Edge 1989: 61). Im Kontext 314 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="315"?> 103 Bei den Seminarteilnehmenden Romina, Sven, Anastasia, Leyla und Florian war eine intensivere und „bessere“ Bearbeitung der auf das Viewing Journal zu Staffel 1 folgenden Journals kaum möglich und die Jugendlichen erhielten ihr Niveau auf beeindruckende Weise aufrecht. Eine leichte Steigerung hinsichtlich Qualität und Quantität bei der Be‐ arbeitung der Viewing Journals zu Staffel 2 und 3 zeigte sich bei Stefan, Carina, Angelica, Elif und Emma. Ähnlich wie Marie änderte auch Philip seine Arbeitsweise grundlegend und verbesserte sich von 7 auf 15 Punkte. Kein/ e Schüler/ in verschlechterte sich, was den Positivtrend unterstreicht. meiner Studie erwies es sich zudem als großer Vorteil, dass die SuS wussten, dass ich als Forscherin sehr interessiert an ihren Überlegungen und Gedankengängen war und dass diese im Rahmen einer Doktorarbeit publiziert werden sollten. Dies wirkte zweifellos motivierend auf die Seminarteilnehmenden. Die positive Kraft der extrinsischen Motivation zeigt sich auch am Beispiel Maries: Bei ihrer Bearbeitung des Viewing Journals zu Staffel 1 bemüht sich die Schülerin kaum und gibt ihr Journal auch nicht für die Auswertung ab. Umso mehr strengt sich Marie bei den Viewing Journals zu Staffel 2 und 3 an und reicht inhaltlich sowie sprachlich eindrucksvolle Filmtagebücher ein. Als Grund hierfür gibt Marie an, dass sie nach der Rückgabe der benoteten Journals zu Staffel 1 bei ihren Mitschülern gesehen habe, dass das Engagement nicht umsonst sei und entsprechend honoriert werde: Beim Viewing Journal zu Staffel 1 hatte ich nicht so Lust … und ich war dann abends auch oft einfach müde. Ich hab das eher so schnell geschaut und halt dann nur ganz kurze Antworten reingeschrieben. Und beim zweiten hat‘s mich dann auch das erste Mal so richtig interessiert […]. Ich hab’s einfach anders geschaut, ich wollte alles verstehen […]. Und ich wollte natürlich die 15 Punkte … um ehrlich zu sein. Es klingt blöd, das so zu sagen, aber ich wusste halt, dass ich’s kann und dann wollt ich das auch zeigen. Ich muss auch nochmal sagen, mir hat Ihr Lob da auch viel bedeutet. Da strengt man sich dann auch gern an, wenn es eben auch gesehen wird (Marie, IV). Das Verstehen-Wollen der Serie, der Erhalt einer sehr guten Note und auch das Gesehenbzw. Gelobt-Werden-Wollen durch die Lehrkräfte sind für Marie entscheidende Faktoren, um sich anzustrengen und sich vertieft mit HoC zu beschäftigen. Die Tendenz, die sich an Maries Beispiel zeigt, trifft insofern auf die Mehrzahl der Seminarteilnehmenden zu, als sie von Journal zu Journal immer ausführlichere und sprachlich anspruchsvollere Einträge verfassen. 103 Es kann also festgehalten werden, dass Aspekte wie ein ausführliches Feedback, Wert‐ schätzung und die Aussicht auf eine Belohnung in Form einer guten Note für entsprechende Anstrengungen eine wichtige Rolle spielen und die Jugendlichen zu Höchstleistungen anspornen können. Auch die Lehrkraft befürwortet die Benotung der Viewing Journals: 315 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="316"?> Dies vermittelt die eventuell anfangs notwendige extrinsische Motivation zur Anfer‐ tigung des Journals, welche dann aber meiner Überzeugung nach schnell in eine intrinsische Motivation übergeht, da die Schüler erkennen, dass das Journal eine große Hilfestellung ist [um die Serie vollständig zu verstehen] (Frau Potter, IV). Auf den intrinsischen Motivationsfaktor, welcher den zweiten wichtigen Grund für das außerschulische Engagement der Jugendlichen darstellt und sich in der sprachlich-inhaltlichen Qualität der Viewing Journal-Einträge offenbart, möchte ich nun eingehen. Mehr als die Hälfte der SuS betont im Interview, dass sie die in den Viewing Journals formulierten Aufgaben und Denkanstöße als motivierende Schreibanlässe empfunden hätten, was wiederum eine hohe Schreibbereitschaft bewirkt habe. Als mit Abstand am populärsten erweist sich der Fragentyp im Viewing Journal, bei dem die SuS ihre persönliche Meinung (beispielsweise in Form ethisch-moralischer Urteile) äußern dürfen. Dementsprechend schreiben die Jugendlichen bei solchen offenen Fragen, bei denen sie ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf lassen können, am meisten. Folgende Tendenz kann fest‐ gehalten werden: Je motivierender der Schreibanlass von den SuS empfunden wird, desto ausführlicher und sorgfältiger widmen sich die Seminarteilnehm‐ enden diesem. Für die weiblichen Jugendlichen zeigt sich eine weitere deutliche Präferenz: Diese favorisieren nach den Fragen zu ihrer persönlichen Meinung solche Aufgaben im Viewing Journal, die Claire Underwoods Persönlichkeit und die Einschätzung ihres Charakters betreffen. Dies möchte ich an Emma verdeutlichen, die sich mit ihrem sehr authentischen amerikanischen Akzent im Unterricht hervortut. Auch in den Viewing Journals der Schülerin zeigt sich ihre fremdsprachliche Kompetenz, auch wenn sie nur dann ausführliche und sprachlich überdurchschnittlich gelungene Einträge formuliert, wenn sie sich vom Aufgabentyp entsprechend inspiriert und angesprochen fühlt. Bei Screenshot-Analysen fallen Emmas Einträge beispielsweise knapp aus, weil die Schülerin dies „nicht grad übermäßig gern“ (Emma, IV) macht. Dies soll anhand einer Screenshot-Analyse illustriert werden, zu der andere SuS eine ganze Seite tippen, während Emma lediglich festhält: „It's a low view shot. It's fitting because it positions Frank in a superior position which is also reflected in his aside where he calls democracy 'overrated'” (Emma, VJ 2). Auch inhaltliche Zusammenfassungen zu Sequenzen aus HoC empfindet die Schülerin als „eher langweilig und obvious“ (Emma, IV), weshalb sie sich kurzfasst. Zu dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Tusk, Underwood und Präsident Walker, dessen Brisanz die SuS im Viewing Journal zu Staffel 2 erklären sollen, notiert Emma beispielsweise nur: „Tusk is more involved with Beijing than we thought“ (Emma, VJ 2). In deutlichem Gegensatz dazu blüht Emma bei Fragen zu Claire Underwoods Persönlichkeit auf und formuliert sprachlich sehr ansprechende 316 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="317"?> 104 Die Begeisterung sowie Bewunderung für Claire demonstriert Emma auch in folgendem Eintrag, welcher sich auf Claires Verhalten in der Corrigan-Folge (Season 3, Chapter 32) bezieht: „I love Claire. What she did may not have been the best or most strategic thing from a political point of view but it was about time someone said it. They worship Petrov like a god and it's just so wrong. […] She's more human than I thought which makes me like her even more. Idk I just can't stress enough how much I like her character” (VJ 3). und sorgfältig durchdachte Antworten. Auf die Frage, „After Claire visited Megan, Claire calls Tricia who says: ‘You’re a good person, Claire’. Do you agree with Tricia? Why / why not? ” (VJ 2 zu Chapter 26), hält Emma Folgendes in ihrem Viewing Journal fest: Answering this question with either good or bad is impossible. As much as I like Claire (I really do), her intentions are not always good. Her heart's in the right spot but she's just way too convinced. She will do what it takes in order to achieve her or Frank's goals. She knows Frank has murdered people, but does not report nor yell at him in any way. She fired half of her (loyal) staff, leaving them unemployed and it does not end there. We still can't just ignore the good things she's done though. Yes, she did not go through with it but she did talk about her assault story, which was very hard for her, and probably helped a lot of people with that. Or even small things like making Frank exercise in order to keep him healthy because she cares about him. Claire is complicated. I will admit, the bad things do kind of outweigh the good, but that is not enough for me to label her. Frank is just a horrible influence and she deserves so much better (Emma, VJ 2). Emma bemüht sich bei der Beantwortung der Frage sichtlich, indem sie abwägt und zahlreiche Beispiele aufführt. Darüber hinaus wird ihre von positiven Gefühlen geprägte Einstellung zu Claire („As much as I like Claire (I really do)“, s. o.) deutlich. Emmas Sympathie für die Protagonistin ist der entschei‐ dende Grund für ihre ausführlichen Claire-bezogenen Einträge, wofür es im Datenmaterial zahlreiche Belege gibt. 104 An Emma zeigt sich also, wie positiv sich ein motivierender Schreibanlass auf die Qualität und Tiefe der Viewing Journal-Einträge auswirken kann. Hinsichtlich der Verbesserung der Schreib-Kompetenz der Seminarteilnehm‐ enden in der Auseinandersetzung mit HoC erfährt insbesondere die affektiv-mo‐ tivationale Komponente Aufwind: Die Jugendlichen entwickeln Freude am Schreiben über eine Serie, die bei ihnen ein echtes Mitteilungsbedürfnis auslöst. Darüber hinaus schätzen die SuS das Gefühl, dass ihre Schreibprodukte intensiv gelesen und honoriert werden, was ihren Ehrgeiz, sich möglichst gehoben, ab‐ wechslungsreich und idiomatisch auszudrücken, beflügelt. Zusammenfassend 317 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="318"?> lassen sich folgende (möglichst allgemein gehaltene) Erkenntnisse zur Förde‐ rung von Schreib-Kompetenz im EU der Sekundarstufe II festhalten: ● Ein guter Schreiber muss schreiben wollen: Kein gutes Schreibprodukt ohne guten Schreibanlass Ein motivierender Schreibanlass bzw. eine motivierende Schreibaufgabe ist elementar, um die Jugendlichen zum Schreiben-Wollen zu animieren. Aus der Befragung der Seminarteilnehmenden geht deutlich hervor, dass diese offene Schreibaufträge am meisten schätzen, bei denen sie ihre individuelle Meinung einbringen und ihre Gedanken frei entfalten dürfen. Die SuS äußern explizit den Wunsch nach echten Fragen im EU, bei denen die Lehrkraft sich tatsächlich für die Antworten der Lernenden interessiert. Eine Frage, auf die die fragende Person die perfekte Antwort bereits kennt oder zu kennen glaubt, kann damit keine echte Frage sein. Die Antwort auf eine echte Frage sollte von der Lehrkraft nämlich nicht leichtfertig mit „richtig“ oder „falsch“ bewertet werden können. Dies ist beispielsweise bei solchen Fragen der Fall, die auf das ethisch-moralische Urteilsvermögen der SuS abzielen. Bei Schreibaufträgen, die ein bloßes Nacherzählen oder Zusammenfassen von Szenen verlangen, fühlen sich die Seminarteilnehmenden hingegen unterfordert und unmotiviert. Folglich schreiben die SuS zu solchen „langweiligen Pseudo-Fragen“ (Carina, IV) deutlich weniger. ● Untrennbarkeit von Produktion und Rezeption: Kein guter Schreiber ohne aufmerksame Leser Es besteht kein Zweifel daran, dass man motivierter und engagierter schreibt, wenn man weiß, dass das Schreibprodukt auch aufmerksam gelesen und entsprechend honoriert wird. Meist wird der Lehrkraft im schulischen Schreib‐ prozess diese wichtige Rolle des interessierten Rezipienten zuteil, für den die SuS schreiben sollen. In dieser Rolle ist es wichtig, zwischen einer kommunikativen Funktion und einer Lern-Funktion des Schreibens zu differenzieren (vgl. Thaler 2012: 198). Gemäß den Erkenntnissen der Studie sollte die kommunikative Funktion des Schreibens in der Sekundarstufe II deutlich stärker gewichtet werden, um künstlich erscheinende Schreibaufgaben zu vermeiden. Gerade beim Schreiben im Anschluss an eine Serie wie HoC ist der kommunikative Aspekt elementar, um den SuS das Gefühl einer authentischen Anschlusskom‐ munikation zu geben. 318 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="319"?> 105 Die Verbesserung der Schreib-Kompetenz, welche die SuS betonen, ist aufgrund der Viewing Journals und der dadurch erforderlichen Auseinandersetzung mit der Serie in Form von schriftlichen Einträgen nachvollziehbar. ● Wer rot anstreicht, sollte auch Grün nutzen: Plädoyer für eine ausgewogene Feedbackkultur, die eine Balance aus Kritik und Lob realisiert Wenn SuS engagiert eigene Texte schreiben, dann sollte die Lehrkraft nicht nur mit dem traditionellen Rotstift Fehler markieren, sondern auch gelungene Stellen (idiomatische Ausdrucksweise, mutige Formulierungen, kreative Ideen, sorgfältiges Abwägen, schlüssige Argumentation) lobend hervorheben. Die Se‐ minarteilnehmenden werden vor allem durch Anerkennung und positive Rück‐ meldungen angespornt, ihr Bestes zu geben und über sich hinauszuwachsen. Die Ermöglichung von Erfolgserlebnissen im EU - insbesondere wenn die SuS persönliche Gedanken und Gefühle zu Papier bringen - stellt einen wichtigen Faktor dar, um die Schreibbereitschaft der Jugendlichen aufrechtzuerhalten und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Beide Aspekte (Schreibbereitschaft und Selbst‐ bewusstsein) sind wichtig, um die Entwicklung zum erfolgreichen Schreiber/ zur erfolgreichen Schreiberin in der Fremdsprache unterstützen zu können. 7.4.3 Sprech-Kompetenz Zunächst stellt sich die Frage, ob und inwieweit es gelingen kann, dass Jugend‐ liche durch die Rezeption von Serien auf Englisch produktive Kompetenzen wie Sprech-Kompetenz und phonologische Kompetenz auf sehr hohem Niveau entwickeln können? 105 Sind SuS in besonderer Weise empfänglich für die Aufnahme und Imitation der englischen Aussprache - insbesondere in Bezug auf prosodische Elemente (wie Intonation, Akzent und Flüssigkeit) - im Anschluss an Filme und Serien? Kann man hier von einer Gleichung im Sinne von „je mehr Input von native speakers, desto authentischer und muttersprachlich klingender der Output“ sprechen? Nach ausführlichen Gesprächen mit den Seminarteilnehmenden möchte ich folgende durch das Datenmaterial eindeutig gestützte These formulieren: Wenn SuS Serien bewusst in der Fremdsprache schauen, um ihr Englisch zu verbessern, dann scheint die Annahme „Je mehr fremdsprachlicher Input, desto besser der fremdsprachliche Output“ zuzutreffen. Mit „Serien bewusst in der Fremdsprache schauen“ ist gemeint, dass die Jugendlichen als prosumers aktiv werden, indem sie unbekannte Wörter online nachschlagen und neben der deutschen Bedeutung auch Besonderheiten hinsichtlich der Aussprache vermerken; dies praktizieren unter den Seminarteilnehmenden beispielsweise Romina, Sven, Marie und Emma. Die Serie ist damit nicht mehr nur ein Mittel für 319 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="320"?> Entertainment-Zwecke, sondern sie wird von den SuS auch gezielt als Lernme‐ dium genutzt, mit dem sie sichtbare Erfolge im EU erzielen. Im W-Seminar gibt es einige Jugendliche (Florian, Marie, Romina, Emma, Anastasia, Sven, jeweils FB & IV), die von sich behaupten, nur mit Serien Englisch gelernt zu haben. Die Lernenden heben als spezifische Vorteile des seriellen Formats folgende Aspekte hervor: Zum einen spiele der „Suchtfaktor“ (Marie, IV) von Serien eine große Rolle, da diese den Rezipienten die Option bieten, mehrere Folgen oder sogar Staffeln nacheinander schauen zu können. Die Quantität des Inputs ist somit wichtig. Darüber hinaus bescheinigen die Jugendlichen der Lerngruppe Serien mehr Komplexität und Tiefgang, da man als Zuschauer die Möglichkeit habe, die Charaktere in all ihren Facetten über einen längeren Zeitraum kennenzulernen. Die SuS schätzen es, unerwartete Entwicklungen, Höhepunkte, Tiefpunkte und Schlüsselmomente im Leben ihrer Lieblingsfiguren miterleben zu dürfen. Dies lässt den Rückschluss zu, dass die Jugendlichen durch Serien und deren spezifische Form der Langzeitnarration stark empathisch involviert sind: Die Lernenden fiebern über einen langen Zeitraum mit den Charakteren mit und sind neugierig, was die jeweils nächste Staffel an Überraschungen bereithält. Serien bieten den Jugendlichen also nicht nur extra viel, sondern auch emotional intensiven Input, der sie fesselt. Die SuS, die den Mehrwert von Serien für ihre sprachlichen Kompetenzen betonen, verfügen hinsichtlich ihrer phonologischen Kompetenz über einen nahezu muttersprachlich anmutenden Akzent und drücken sich zudem flüssig und wortgewandt aus (vgl. IV mit Lehrkraft, die insbesondere die auffallend gute Sprech-Kompetenz der W-Seminarteilnehmenden lobt - gerade im Vergleich zu ihren bisherigen W-Seminaren). Emma, die ihr fremdsprachliches Niveau (berechtigterweise) sehr hoch einschätzt, hat sogar die Fähigkeit, sich den jeweiligen englischen oder auch amerikanischen Dialekt der Serie, die sie gerade schaut, anzueignen. Somit ist Emma beispielsweise in der Lage, Franks Southern American English zu imitieren (vgl. IV). Außerhalb des EU verzeichnen jene Serien-affinen Jugendlichen Erfolge, weil das Schauen von Filmen und Serien in der Originalsprache für sie zur Norm wird und Untertitel zunehmend über‐ flüssig werden (oder ganz gezielt zum besseren Einprägen bestimmter Worte hinzugeschaltet werden); die SuS bringen ihre Hörsehverstehens-Kompetenz folglich auf ein hohes Niveau. Bei der Mehrheit der Jugendlichen bewirkt dies, dass sie das, was sie hören und verstehen, auch selbst sagen und möglichst au‐ thentisch aussprechen können wollen. Aus diesem Grund greifen die Lernenden auf unterschiedliche Strategien zurück, um ihre Aussprache zu optimieren: 320 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="321"?> 106 Die Schülerinnen heben sich vor allem dadurch ab, dass ihnen keine typischen Ausspra‐ chefehler deutscher Muttersprachler unterlaufen: Emma und Romina vermeiden die Auslautverhärtung und beherrschen die Unterscheidung zwischen / v/ und / w/ ebenso wie Feinheiten hinsichtlich Stimmhaftigkeit/ Stimmlosigkeit (z. B. / s/ vs. / z/ ). Dadurch entsteht immer wieder der Eindruck, die Schülerinnen seien mit Englisch als Mutter‐ sprache oder zweisprachig aufgewachsen, was jedoch nicht der Fall ist, wie sich in den Interviews herausstellt. ● Pausieren der jeweiligen Episode bei Wörtern, die unerwartet ausgespro‐ chen werden und dadurch sogar unverständlich werden können; gegebe‐ nenfalls Hinzuschalten von Untertiteln, um Schreibweise des Wortes mit Aussprache vergleichen zu können (vgl. Sven, Anastasia, Florian, IV); ● Pausieren der Episode und bewusstes Nachsprechen eines Wortes oder Satzes mit dem Ziel, sich die korrekte Aussprache und Intonation einzu‐ prägen (vgl. Emma und Marie, IV); ● Self-Monitoring durch die Erstellung von Videos oder Audiodateien, bei denen die Lernenden über Alltagsthemen „drauflosreden“ (Romina, IV) mit anschließender Selbstreflexion: Was klang gut? Was klang weniger überzeugend? Wo traten Schwierigkeiten in den Bereichen Wortschatz, Grammatik und Aussprache auf ? Entsprechende Recherche und erneute Aufzeichnung von Sprechübungen; Ermöglichung einer Langzeitdokumen‐ tation, um Fortschritte sichtbar zu machen (vgl. Romina und Emma, IV). Die zuletzt genannte, von Romina und Emma gewählte Strategie, die viel Selbst‐ disziplin und Engagement aufseiten der Schüler(innen) erfordert, stellt sicher den Königsweg dar, den Jugendliche gehen können, um ihre phonologische Kompetenz in Eigenregie auf höchst effiziente Weise zu verbessern. Dies wird deutlich, wenn sich Romina und Emma im W-Seminar zu Wort melden und ihre nahezu perfekte Aussprache demonstrieren. 106 Auch wenn die Zielvorstellung des intercultural speaker im Kontext des interkulturellen Lernens als etabliert gilt, scheinen einige Teilnehmende des Seminars konsequent auf ein native- oder zumindest near native-Niveau hinzuarbeiten. In den Interviews erklären zahlreiche SuS (z. B. Romina, Florian, Emma, Marie und Leyla), dass sie auf keinen Fall deutsch klingen möchten, wenn sie Englisch sprechen. Bezüglich ihrer Aussprache zeigen die Lernenden folglich großen Ehrgeiz. In den bisherigen Ausführungen zur Verbesserung der Sprech- und Aus‐ sprache-Kompetenz der SuS wurde deren außerschulische Beschäftigung mit Serien wie HoC beleuchtet: Die Jugendlichen schauen in ihrer Freizeit Se‐ rien und nutzen diese, um ihr Englisch zu verbessern - sowohl rezeptiv als auch produktiv. Nun möchte ich den Fokus darauf richten, wie die SuS innerhalb 321 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="322"?> des EU im Rahmen des W-Seminars ihre Sprech-Kompetenz ausbauen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Schaffung authentischer Kommunikations- und Diskussionsanlässe im Anschluss an ausgewählte Szenen aus HoC, wobei die Ermöglichung einer hohen student talking time von entscheidender Bedeutung ist. Gerade bei der Anschlusskommunikation in Form eines Filmgesprächs ist es wichtig, dass die Lehrkraft sich zurückhält, so dass die SuS ihre Standpunkte und individuellen Beobachtungen möglichst unbefangen austauschen können. Alle befragten Seminarteilnehmenden betonen, dass für die Verbesserung ihrer Sprech-Kompetenz im Rahmen des Seminars die gute und offene Gesprächsat‐ mosphäre elementar gewesen sei, in der jede/ r ausreden und seine/ ihre Meinung ehrlich habe äußern dürfen. Eine solche fruchtbare Gesprächsatmosphäre hängt nicht nur vom Umgang der SuS miteinander ab, sondern wird auch vom Verhalten der Lehrkraft maßgeblich geprägt: Die Jugendlichen, die sich zu Wort melden, erwarten nämlich auch von der Lehrkraft Aufmerksamkeit, Offenheit und Wertschätzung. Eng damit verbunden ist - wie schon beim Punkt Schreib-Kompetenz erläutert - die Qualität der Fragenkultur, was sich bei der Unterrichtsbeobachtung deutlich zeigt: Je „besser“ die Frage, desto größer ist das Bedürfnis der Jugendlichen, sich dazu äußern zu wollen. Eine gute Frage zeichnet sich dadurch aus, dass sie die SuS zum Nachdenken anregt und von ihnen je nach Begründung und Sichtweise individuell beantwortet werden kann. Ein authentisches Filmgespräch sollte sich auf Augenhöhe abspielen und die SuS auf einer persönlichen Ebene aktivieren. Anstatt die Jugendlichen also lediglich zum Inhalt bestimmter Szenen zu befragen, bieten sich Denkanstöße folgender Art an: How would you evaluate Frank’s reaction in the scene? Would you have reacted the same way? If not, what would you have done differently? Offene Fragen, die den Lernenden als kognitiv-affektiv involvierte Individuen gerecht werden, wirken sich auf das Sprechverhalten der Seminarteilnehmenden in‐ sofern positiv aus, als die Jugendlichen sichtlich engagiert mitarbeiten und sich rege am Filmgespräch beteiligen. Ein authentisches Filmgespräch kommt folglich nur zustande, wenn den SuS ausreichend Gelegenheit zum Einbringen ihrer Emotionen und Sichtweisen eingeräumt wird. Der Austausch über gemeinsam geschaute Szenen der Serie HoC etabliert sich als wichtiger Bestandteil der Seminarsitzungen, da auf diese Weise dem von den SuS vielfach geäußerten Wunsch nach mehr Sprechen und mündlicher Interaktion im EU Rechnung getragen werden kann. Der offensichtliche Mittei‐ lungsdrang der Seminarteilnehmenden wird von Frau Potter und mir bewusst nicht vorschnell gebremst, da ein von den Jugendlichen autark geführtes Filmgespräch - besonders auf dem sich im W-Seminar rasch einpendelnden Niveau - den ersten wichtigen Schritt einer Filmanalyse repräsentiert. Die SuS 322 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="323"?> tauschen sich nämlich nicht nur über spontane Ersteindrücke aus, sondern thematisieren auch zentrale filmanalytische Aspekte selbstständig im Dialog miteinander, wobei sie über die entsprechende Fachterminologie aufgrund des zu Beginn des W-Seminars erfolgten Inputs zu cinematography Bescheid wissen. Die Möglichkeit zum intensiven Sprechen miteinander wird von den SuS in den Einzelinterviews mit Nachdruck positiv hervorgehoben und als wichtiger Grund für die Verbesserung ihrer Sprech-Kompetenz genannt. So schätzt bei‐ spielsweise Philip seinen Lernzuwachs bezüglich des Sprechens auf Englisch am höchsten ein, wobei er „das offene Sprechen mit anderen Personen“ (Philip, IV) gelernt habe, was durch die gute Kursatmosphäre und die kommunikative Ausrichtung des Unterrichts befördert worden sei. Philip genießt dabei das mündliche […] Analysieren von Szenen mit den andern … Des fand ich ganz cool, wenn wir dann was dazu sagen konnten und so … War auch interessant, was die andern so denken … Es gab ja eigentlich immer so … verschiedene Sichtweisen und das fand ich spannend, das so auszutauschen (Philip, IV). Für Marie stellt die Möglichkeit, im Unterricht auf Englisch diskutieren zu dürfen, eine Besonderheit dar: „[…] Das fand ich toll, weil manchmal fällt das mehr so flach im Unterricht … dass man einfach alles frontal vorgegeben bekommt und weniger so in der Klasse diskutiert“ (Marie, IV). Hier wird erneut deutlich, dass der EU in der Sekundarstufe II den Bedürfnissen der SuS in vielen Punkten nicht gerecht wird. Die Tatsache, dass Sabrina lobend hervorhebt, „dass jeder ausreden durfte und dass Sie auch interessiert daran waren, was wir zu sagen haben. Das fand ich schön! Und das ist halt oft nicht so im Unterricht“ (Sabrina, IV), gibt zu denken: Ein Unterricht, in dem Jugendliche nicht ausreden dürfen und die Lehrkraft kein Interesse an den Beiträgen der SuS hat, verfehlt nämlich nicht nur die Grundsätze eines respektvollen Miteinanders, sondern auch die des kommunikativen und zeitgemäßen Lehrens sowie Lernens (vgl. dazu auch Bauer 2014: 109; Kerst 2011: 58). Letztlich ist es erschreckend, dass eine solche Feststellung, in welcher eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht wird, scheinbar noch immer betont werden muss. Als Hauptziel des FSU gilt die „Befähigung [der SuS] zum fremdsprachlichen Handeln“ (vgl. König und Surkamp 2010: 174), wobei der Literatur- und Filmdi‐ daktik die wichtige Aufgabe zuteilwird, die SuS „zum Artikulieren der von dem Text ausgelösten Wirkungen anzuregen“ (Bredella 2005: 54). Gerade von einer Serie mit kontroversen Szenen wie HoC geht eine starke Wirkkraft aus, indem sie die Rezipienten zur moralisch-ethischen Positionierung animiert. Die da‐ durch entstehende Sprechbereitschaft der SuS kann für einen kommunikativen EU nutzbar gemacht werden. Romina betont in diesem Zusammenhang, dass 323 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="324"?> 107 Drei Schülerinnen (Leyla, Carina, Anastasia) erwähnen auch, dass sie vom „Spielen“ im Anschluss an die Serie profitiert hätten: Leyla und Anastasia heben besonders den Mehrwert von Rollenspielen hervor, durch die es ihnen leichter gefallen sei, sich in die Protagonisten der Serie einzufühlen und deren Perspektiven einzunehmen. Damit wird einem wichtigen affektiven Lernziel Rechnung getragen. sich der Gebrauch der englischen Sprache im Seminar nie künstlich angefühlt habe: „Ich hab mich wirklich immer drauf gefreut, man konnte so auf Englisch reden, als wäre es so voll normal, dass es einfach auf Englisch ist“ (Romina, IV). Natürlich und normal sollte sich der Gebrauch der englischen Sprache im EU für die Lernenden grundsätzlich anfühlen, um eine optimale Gesprächsatmosphäre sicherzustellen. Dies kann mit einem geeigneten Inhalt, der für entsprechende Kommunikationsanlässe sorgt, reibungslos gelingen. Die sprachlich-kommunikativen Kompetenzen (lexikalische Kompetenz, Schreib- und Sprechkompetenz) können auch als Teilkompetenzen der im Rahmen der Auseinandersetzung mit HoC verbesserten Filmkompetenz ge‐ sehen werden: © Allianz Internal HSV- Kompetenz Filmästhetische Kompetenz Filmkritische Kompetenz Film kontextualisieren Filmkompetenz Sprechen, Schreiben, Spielen im Anschluss an Filme Literarische Kompetenz Medien- Kompetenz Interkulturelle Kompetenz Abb. 30: Sprachlich-kommunikative Kompetenzen & deren zentrale Stellung im Filmkompetenz- Modell (eig. Darst.) Abb. 30: Sprachlich-kommunikative Kompetenzen & deren zentrale Stellung im Film‐ kompetenz-Modell (eig. Darst.) Grundlegend für die Entwicklung von Filmkompetenz ist die fremdsprachliche Handlungs- und Kommunikationskompetenz, welche hier mit den „3 S“ (Spre‐ chen, Schreiben, Spielen im Anschluss an Filme) beschrieben wird. In der Auseinandersetzung mit HoC bauen die Seminarteilnehmenden, wie oben im Detail ausgeführt, vor allem ihre Sprech- und Schreib-Kompetenz aus. 107 Die 324 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="325"?> ebenfalls in der Auseinandersetzung mit der Politdramaserie vergrößerte lexika‐ lische Kompetenz kann als erforderliche Teilkompetenz sowohl der Hörsehvers‐ tehens-Kompetenz als auch der Sprech- und Schreib-Kompetenz zugeordnet werden: Ein audiovisuelles Medium wird von den SuS nur dann verstanden, wenn diese in ausreichendem Maß über lexikalische Kompetenz verfügen. Das heißt nicht, dass die Jugendlichen jedes einzelne in der Serie geäußerte Wort kennen müssen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass bei einem komplexen Politdrama wie HoC ein gewisser politischer Grundwortschatz vonnöten ist, um den Dialogen folgen zu können. Über lexikalische Kompetenz müssen die SuS aber auch verfügen, um im Anschluss an die Serie differenziert sowie angemessen sprechen und schreiben zu können. Die Lernenden benötigen also den entsprechenden Wortschatz, um mit den Mitschülern mündlich interagieren zu können (z. B. in Diskussionen über die Serie) und um die schriftlichen Einträge in den Viewing Journals verfassen zu können. Dabei spielt die intrin‐ sische Motivation der Jugendlichen, sich möglichst idiomatisch ausdrücken zu wollen, eine wichtige Rolle. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mit einem geeigneten Inhalt (z. B. eine Netflix-Serie wie HoC) auch ein entsprechender Output (z. B. Sprech-, Schreib- und lexikalische Kompetenz) erreicht werden kann. Exkurs 2: Plädoyer für bildende Inhalte statt Bildungs-Aus durch Inhaltsleere An dieser Stelle möchte ich in einem kurzen Exkurs der Frage nachgehen, ob ein Umdenken hinsichtlich der den EU derzeit beherrschenden Output-Orien‐ tierung in Form möglichst messbarer Kompetenzen erforderlich bzw. sinnvoll sein könnte. Damit meine ich nicht, dass der Output außer Acht gelassen werden darf - im Gegenteil: Meine Überlegung ist, dass mit motivierenden und zeitgemäßen Inhalten auch der gewünschte Output erreicht werden kann. Input und Output stehen nämlich - das konnte mit der vorliegenden Studie gezeigt werden - in positiver Korrelation zueinander, was folgendermaßen verdeutlicht werden kann: Je motivierender der Inhalt, desto reichhaltiger der Output. Die Einführung der Bildungsstandards durch die Kultusministerkonferenz (KMK 2003) war eng mit der Diskussion um Qualitätssicherung und -ent‐ wicklung im Bildungswesen als Folge der internationalen Vergleichsstudien verknüpft (vgl. Zydatiß 2005: 272). Der PISA-Schock löste eine Neuorientierung aus, wobei Schlagworte wie Ergebnisbzw. Standardorientierung, Lernstand‐ serhebungen, Outputorientierung und Messbarkeit in den Vordergrund traten (vgl. Bausch et al. 2005: 7). Auch wenn die Bildungsstandards zweifellos wichtige 325 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="326"?> 108 Sie sorgen z. B. für eine einheitlichere Struktur im deutschen Bildungswesen, für Durchlässigkeit und für Vergleichbarkeit über die Ländergrenzen hinweg (vgl. Bur‐ witz-Melzer 2005: 57; Bausch 2005: 27 f). Zudem bieten sie Lehrkräften Orientierung hinsichtlich der Erreichbarkeit der Kompetenzstufen (vgl. Ahrens 2005: 10). Eng damit verbunden ist auch der Gerechtigkeits- und Fairness-Grundsatz von Prüfungen. Funktionen 108 erfüllen, gilt der Paradigmenwechsel als umstritten. Ein Grund hierfür ist, dass die Bildungsstandards „ohne gesicherte Forschungsgrundlage“ (Burwitz-Melzer 2005: 57) bestimmt wurden. Burwitz-Melzer weist mit Nach‐ druck darauf hin, dass die Wende zur Ergebnisorientierung sehr überstürzt und unter starkem politischem Druck durchgeführt wurde, ohne dass sie durch empirische Unterrichtsforschung vorbe‐ reitet wurde oder auch nur die tradierten Inhalte auf eine mögliche Kompatibilität mit den neuen Standardkonzepten überprüft worden sind (Burwitz-Melzer 2009: 37). Bausch et al. (2009: 7) sprechen im Vorwort von einer „inhaltsleere[n] Sackgasse“ im Zuge der einseitigen Fokussierung auf Kompetenzerwartungen und deren Überprüfbarkeit. Sprache könne nämlich ohne Inhalte weder gelehrt noch ge‐ lernt werden (vgl. Bredella 2009: 25; Hallet 2011: 96; Voss 2001: 256; Gnutzmann 2009: 64). Dies verdeutliche die Absurdität der sogenannten „Bildungs“-Stan‐ dards, die den Bereich der Bildung aussparen würden. Burwitz-Melzer (2009: 40) zeigt, dass die Fachdidaktiker des Fremdsprachenunterrichts das Spannungsverhältnis zwischen Inhalten des Fremdsprachenunterrichts und der stärkeren Ergebnisorientierung noch nicht in den Griff bekommen haben. Vielmehr scheinen im Moment jene Kräfte an Boden zu gewinnen, denen es darum geht, Leistungsmessung VOR Inhaltsorientie‐ rung und Persönlichkeitsentwicklung sowie Bildungsauftrag zu stellen, was zu einem sinnentleerten Unterricht führen würde. Folgende kritische Überlegungen bezüglich der Bildungsstandards kristalli‐ sieren sich aus dem Forschungsdiskurs heraus: ● Bildung werde auf Ausbildung reduziert, was zur Folge habe, dass „um‐ fassendere Kompetenzen wie Demokratiefähigkeit, Dialogfähigkeit, Empa‐ thiefähigkeit, ästhetische Sensibilität und Kreativität, um nur einige zu nennen - Fähigkeiten also, die zu den Kernbereichen des Begriffes ‚Sozia‐ lisation‘ zählen - als Erziehungsziele aus dem Blick“ (Barkowski 2005: 20) geraten. Dies würde in einer „extrem pragmatisch-utilitarische[n] Ori‐ entierung des Fremdsprachenunterrichts“ (Zydatiß 2005: 279) resultieren. Im Zuge dieser Verengung des Bildungsbegriffs werde die Persönlichkeits‐ 326 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="327"?> bildung vernachlässigt. Meißner (2005: 192) weist beispielsweise darauf hin, dass ästhetisch-literarische Bildung und attitudinale Lernziele nicht messbar seien (vgl. dazu auch Frederking 2008). ● Mit der Festlegung von standardisierten Kompetenzniveaus in Form von Regelstandards werde das Prinzip der individuellen Förderung ausgehebelt und Selektion betrieben, womit der „Gesellschaft-als-Solidargemeinschaft auch im Bildungsbereich“ (Barkowski 2005: 22) ein Riegel vorgeschoben worden sei. ● In den Aufgabenbeispielen der Standards sei „eine geradezu erschütternde Trivialität der Themen und Inhalte zu verzeichnen“ (Zydatiß 2005: 278). Die Inhalte seien degradiert worden zum bloßen „Übungsmaterial, dem selbst keine Bedeutung zukommt“ (Bredella 2009: 25). ● Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist besonders problematisch, dass in den Bildungsstandards bildungsrelevante Inhalte ausgeblendet werden - so spielt beispielswiese die „Textarbeit mit […] literarischen Texten, ein Kern‐ gebiet des Fremdsprachenunterrichts, das mit vielen anderen Kernbereichen eng verknüpft ist, […] in der Auflistung der fachlichen Kompetenzen keine Rolle. Bei der Beschreibung der ‚funktionalen kommunikativen Kompetenz‘ wird sogar ausschließlich von Sachtexten gesprochen, wenn es um die Vermittlung von Sprech- und Lesefertigkeit geht“ (Burwitz-Melzer 2005: 61). Damit sparen die Bildungsstandards ausgerechnet die Lernbereiche aus, die Bildung, kulturelle Werte und Persönlichkeitsbildung repräsentieren. Die Film- und Literaturdidaktik kann Bredella (2009: 32) zufolge als „Korrektur der Outputorientierung“ gesehen werden, da sie komplexe und bildungsrele‐ vante Inhalte in den Mittelpunkt stellt. Inhalte können dann als bildungsrelevant bezeichnet werden, wenn ● die SuS mit ihnen Erfahrungen machen können, durch die sie die Welt künftig anders sehen (vgl. Bredella 2009: 32). Für fruchtbare Lehr-Lern-Pro‐ zesse werden demnach Inhalte gebraucht, „die nicht vom messbaren Output her bestimmt werden, sondern von ihrem Potenzial für kreative Auseinan‐ dersetzungen“ (ebd.); ● sie - wie beispielsweise Spielfilme - „zu kontroversen Stellungnahmen herausfordern“ (Küster 2009: 116); ● sie existentielle Erfahrungen behandeln, wodurch Jugendliche bei ihrer Identitätssuche unterstützt werden können; ● sie eine Auseinandersetzung mit ethischen Fragen anstoßen, indem bei‐ spielsweise Charaktere in moralischen Konfliktsituationen gezeigt werden (vgl. Bredella 2005: 53). 327 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="328"?> HoC erfüllt diese Kriterien und kann damit als bildungsrelevanter Inhalt be‐ zeichnet werden. Am Beispiel der vorliegenden Studie zeigt sich, wie stark Jugendliche von einem solchen Inhalt profitieren können. Aus diesem Grund erscheint mir eine stärkere Gewichtung von Inhalten im EU sinnvoll und wichtig. Um das Spannungsfeld Input vs. Output entspannen zu können, möchte ich die Bedeutung guter - und damit meine ich motivierender, aktivierender und zielführender - Aufgaben betonen. Solche Tasks fungieren als Brücke zwischen dem jeweiligen Inhalt und der Kompetenz, die gefördert werden soll. Ebenso wie eine Kompetenz im EU niemals inhaltsleer bzw. ohne geeignete Inhalte vermittelt werden sollte, sollte ein Inhalt niemals ziellos eingesetzt werden; entsprechende Tasks können zur Erreichung der jeweiligen Ziele beitragen. Eine so beschaffene Aufgabenkultur, deren Grundsätze bereits erläutert wurden, soll also sicherstellen, dass die SuS sich zielgerichtet mit dem jeweiligen Inhalt beschäftigen. In der Auseinandersetzung mit HoC erweisen sich beispielsweise die Denkanstöße in den Viewing Journals als unverzichtbar, um die Jugendlichen beim Kompetenzerwerb zu unterstützen. Abb. 31: Interdependenz: Inhalt - Aufgabe - Kompetenz (eig. Darst.) 7.5 Filmkompetenz Ganz deutlich kristallisiert sich bei der Selbsteinschätzung der SuS hinsichtlich ihres Lernzuwachses durch das W-Seminar ihr Dazulernen im Bereich der Filmkompetenz heraus. Diese subjektive Einschätzung deckt sich mit dem Befund der Lehrkraft: Am meisten haben die Schüler […] bei der Filmsprache gelernt, also die Stil- und Gestaltungsmittel, die für Filme bzw. audiovisuelle Texte üblich sind und unsere Wahrnehmung als Zuschauer beeinflussen (Frau Potter, IV). Frau Potter attestiert den Jugendlichen also in erster Linie eine Verbesserung ihrer filmästhetischen und filmkritischen Kompetenz. Im W-Seminar wird diesen Aspekten in Ausbildungsabschnitt 11/ 1 in insgesamt drei Doppelstunden Rechnung getragen, wobei ein ganzheitliches Lehr-Lern-Konzept realisiert 328 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="329"?> wird. Die Jugendlichen reagieren auf die Inhalte sehr interessiert und wissbe‐ gierig und beteiligen sich rege an den exemplarisch durchgeführten Filmanal‐ ysen. Durch die Verknüpfung aus Theorie (Förderung kinematographischen Wissens, Sensibilisierung für filmästhetische Aspekte) und Anwendungsorien‐ tierung (arbeitsteilige filmanalytische Aufgaben) wird eine zu eindimensionale Ausrichtung auf die Wissensdomäne vermieden und die SuS werden aktiv ein‐ gebunden. Darüber hinaus werden markante filmsprachliche Gestaltungsmittel anhand konkreter Beispiele aus HoC illustriert, um eine geeignete Kontextua‐ lisierung sicherzustellen. Dies lobt die Mehrzahl der Lernenden im Interview, wobei insbesondere die Anschaulichkeit des Unterrichts betont wird, „[…] weil des lernt man ja sonst so nicht in der Schule … also mit so coolen Beispielen“ (Emma, IV). Auch die gemeinsame Analyse von Szenen wird als Bereicherung empfunden, wozu sich beispielsweise Angelica äußert: […] davor hab ich mir die Anfangsszene [von HoC] halt allein angeschaut und dachte halt: Ja, ok, des ist halt eine Szene und so … aber als wir das halt zusammen geschaut […] und diskutiert haben, da hab ich dann gemerkt, es hat viel, viel mehr Bedeutung und es hat irgendwie was geweckt in mir … dass ich dann viel mehr interessiert war […]. Das war sozusagen der Anstoß für mich, Filme und Serien genauer zu schauen und mich mehr drauf einzulassen […](Angelica, IV). Insgesamt zwölf der befragten SuS erwähnen im Interview, dass sich ihre Sicht auf audiovisuelle Medien verändert habe und dass sie Filme seit dem W-Seminar „mit anderen Augen schauen“ (Sabrina, Angelica, Leyla, IV) würden. Leyla bringt dies auf den Punkt, indem sie sich im Interview folgendermaßen positioniert: Also, wir haben ja sehr viel über die Filmsprache und Filmanalyse generell gemacht und des fand ich echt cool, weil ich hab davor nie so wirklich drüber nachgedacht, als ich einen Film angeschaut hab oder ne Serie … und jetzt ist es mir halt danach aufgefallen und des hat dann halt schon so nen impact gehabt und dann konnt ich mir viel mehr drunter vorstellen und des fand ich echt cool, weil des mir halt privat auch mehr gebracht hat bei den Filmen und Serien […] Vor allem das mit den Filmbearbeitungsmitteln … da bin ich jetzt viel aufmerksamer. […] Ich achte auch viel mehr auf den Schnitt oder auf die Belichtung und die Einstellung und so was - also des fällt einem auch viel mehr auf jetzt. Und man merkt halt schon, wie man gelenkt wird teilweise … grad so durch Musik oder die Perspektive. Das macht so viel aus und des war mir nicht bewusst davor (Leyla, IV). Leyla ist also davon überzeugt, dass ihr erworbenes Wissen zu Filmsprache und Filmanalyse ihr dabei hilft, Filme und Serien aufmerksamer zu schauen 329 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="330"?> und hinsichtlich ihrer manipulativen Wirkweise („man merkt halt schon, wie man gelenkt wird“) kritischer zu bewerten. Ebenso wie ihre Mitschüler (vgl. dazu Einzelfallanalysen) empfindet sie dies als wertvoll und nützlich für den Medienkonsum in ihrer Freizeit. Auch Marie stellt im Rahmen ihrer Arbeit mit den Viewing Journals fest, dass sie jetzt „bei Serien und Filmen genauer hinschauen möchte“ (IV), nachdem sie „dazugelernt“ (IV) habe, „mehr auf kleine Szenen zu achten, die größere Bedeutung haben, als es auf den ersten Blick scheint“ (IV). Das W-Seminar begleitet und unterstützt die SuS folglich bei ihrer Entwicklung zu kompetenten Lesern bewegter Bilder, wobei sie lernen, die „Stilmittel des Films“ (Sven, IV) zu entschlüsseln. Dies möchte ich im Folgenden konkretisieren. Zunächst ist die Erkenntnis wichtig, dass die SuS sich das Wissen über Filmästhetik, das ihnen im Seminar vermittelt wird, nicht nur aneignen, sondern dass sie dieses auch anwenden. Als geeignetes Medium für diese Anwendung kristallisiert sich das Viewing Journal heraus, welchem sich die Jugendlichen mit zunehmendem Engagement widmen: Denn je mehr Wissen sie über audio‐ visuelle Medien haben, desto mehr wollen sie auch zur Serie HoC schreiben. Es besteht also ein positiv-interdependenter Zusammenhang zwischen kognitivem Lernzuwachs (mehr filmästhetisches Wissen), einstellungsbezogenen Verände‐ rungen (aktives Hinschauen-Wollen und Anwenden-Wollen des erworbenen Wissens) und sprachproduktiven Kompetenzen (großes Mitteilungsbedürfnis: Sprechen und Schreiben im Anschluss an Filme auf hohem Niveau). Dies wird deutlich, wenn man die an inhaltlicher und sprachlicher Qualität zunehmenden Einträge in den Viewing Journals analysiert. Bei der Bearbeitung des Viewing Journals zu Staffel 1 hat ein Großteil der SuS noch keinerlei filmanalytische Kenntnisse, was sich in vergleichsweise weniger ausführlichen Antworten widerspiegelt. Bei der Bearbeitung der Viewing Journals zu Staffel 2 und 3 ist die intensive Beschäftigung mit cinematography im Rahmen des W-Seminars abgeschlossen und entsprechend fallen die von den Jugendlichen verfassten Ein‐ träge zu filmanalytischen Fragen detaillierter aus: Es zeichnet sich ein sicherer und sachgerechter Gebrauch von filmsprachlichen Fachausdrücken ab und die Antworten beinhalten eine tiefere Auseinandersetzung mit Funktion und Wirkweise der filmgestalterischen Mittel. Dies soll am Beispiel Leylas aufgezeigt werden, wobei für die bessere Vergleichbarkeit jeweils eine Screenshot-Analyse als Aufgabentyp ausgewählt wird. Im Viewing Journal zu Chapter 4 (S01E04) findet sich beispielsweise folgendes Standbild, welches von den SuS analysiert und interpretiert werden soll. 330 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="331"?> Abb. 32: Konfrontation Russo vs. Underwood (Chapter 4: S01E04) Die Szene zeigt, wie der junge Politiker Peter Russo von Frank erpresst und für seine zwielichtigen Zwecke instrumentalisiert wird. Leyla hält in ihrem Viewing Journal folgende Interpretation fest: Above you can see Peter standing face to face with Frank. With Peter standing on the bright side and Frank on the dark side you could say that Frank is shown as evil and Peter as good. Frank’s posture also shows his confidence whereas Peter looks intimidated (Leyla, VJ 1). Auch wenn Leylas Ausführungen allesamt zutreffend sind, bleiben doch einige Aspekte unberücksichtigt, wie beispielsweise die Funktion der Einstellungs‐ größe, der Beleuchtung und Auffälligkeiten bezüglich der mise-en-scène (hier wären u. a. die genaue Raumaufteilung sowie die unterschiedliche Kleidung der Politiker nennenswert). Im Viewing Journal zu Staffel 2 werden die SuS gebeten, zum unten abgebil‐ deten Screenshot eine Analyse zu verfassen. Darauf sieht man Frank zu Beginn der zweiten Staffel bei der offiziellen Ernennung zum Vice President. Als Frank einen Eid auf die Bibel schwört, richtet er folgendes sarkastische Aside an die Zuschauenden: „One heartbeat away from the presidency, and not a single vote cast in my name. Democracy is so overrated.“ 331 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="332"?> Abb. 33: Franks Amtseinführung als Vice President (Chapter 15: S02E02) Zu diesem Screenshot notiert Leyla: In the screenshot you can see Frank Underwood while speaking his vow to become the VP. He is holding his right hand up while the left one is lying on a bible. His expression is very serious and concentrated. The camera is positioned in a head and shoulder close-up. Frank is the only one that is in focus and his background is completely blurred. You can only see him from the worm’s eye view. Its effect is to make the viewers feel intimidated and inferior while Frank is the superior one. Now if we look at the aside, he says “Democracy is so overrated”. This shows that he does not really care about democracy and that power is the only thing that matters just like he once said when he talked to Remy. He succeeded in becoming the VP without anyone voting for him this is of course a huge achievement for him. This will probably even give him more inducement to become the President (Leyla, VJ 2; meine Hervorhebung). Neben der Bearbeitungstiefe der Antwort Leylas ist eine Verbesserung hinsicht‐ lich ihrer Verwendung von filmsprachlichen Fachtermini erkennbar (diese sind im Zitat hervorgehoben). Entscheidend ist, dass Leyla diese nicht nur benennt, sondern auch auf deren Effekt eingeht, indem sie die Wirkung auf die Zuschau‐ enden beschreibt. Im Vergleich zur Analyse des Russo-Underwood-Standbildes zeigt sich also Folgendes: Die Schülerin widmet sich dem Screenshot aus Staffel 2 ausführlicher (der Eintrag ist exakt drei Mal so lang) und mit einer sachkundi‐ geren Ausdrucksweise. In Leylas Viewing Journals zu den Staffeln 2 und 3 hätte es zahlreiche Beispiele gegeben, um dies zu verdeutlichen. Als ich die Schülerin im Interview darauf anspreche, erklärt sie: Also es hatte mehrere Gründe, dass ich dann noch mehr geschrieben hab als bei Staffel 1 … Mmh also zum einen war’s so, dass ich einfach mehr Wissen hatte … also Wissen zu diesen ganzen ämm Ausdrücken, Fachausdrücken aus der Filmwelt und so … Und 332 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="333"?> dementsprechend ist mir halt auch viel mehr ins Auge gestochen … und des wollt ich dann auch irgendwie … ja, aufschreiben und halt loswerden [lacht]. Und in den Journals zu Staffel 2 und 3 hatten wir halt auch mehr Platz zum Schreiben, das war ehrlich gesagt besser für mich. Ich konnt halt dann einfach mehr hinschreiben. Das ging den andern ja auch so (Leyla, IV). In Leylas Antwort spiegelt sich die oben erwähnte positive Interdependenz aus „mehr Wissen“ über Filme und dem damit einhergehenden Anwendungs- und Mitteilungsbedürfnis wider. Die Politdramaserie verlangt den SuS insgesamt eine stark ausgeprägte Lese-Kompetenz ab, wobei der Begriff des Lesens hier bewusst auf HoC bezogen wird, da die Rezeption der Serie mit der aufmerksamen Lektüre eines anspruchsvollen Buches vergleichbar ist: Die Jugendlichen müssen für ein vollständiges Verständnis sowohl der komplexen Bildsprache als auch der Symbolik sowie den real-politischen Anspielungen Aufmerksamkeit schenken. Darüber hinaus zeichnet sich HoC durch rätselhafte und mysteriöse Szenen mit sogenannten interpretatorischen Leerstellen aus. Wie bereits dargestellt, reagieren die Jugendlichen auf diese Szenen mehrheitlich mit Offenheit, Neu‐ gierde und Faszination. Ein Großteil der SuS (Florian, Leyla, Romina, Carina, Stefan, Sven, Elif, Angelica) gibt beispielsweise Chapter 33 als Lieblingskapitel an, das neben mystisch anmutenden Szenen und einer anspruchsvollen Montage auch eine symbolträchtige Bildsprache für die Rezipienten bereithält. Kapitel dieser Art erfordern interpretatorische Kreativität und Ambiguitätstoleranz. Interessanterweise bauen die Seminarteilnehmenden in der kognitiv-affektiven Auseinandersetzung mit der Serie ihre Bereitschaft aus, sich auf den Dialog mit HoC in Form von beeindruckenden Einträgen in den Viewing Journals einzulassen, was in den Einzelfallanalysen im Detail beleuchtet wurde. 7.5.1 Kontextualisierungskompetenz: Entwicklung von literarischer Kompetenz im Rahmen des intertextuellen Vergleichs zwischen Macbeth und House of Cards Bei der vergleichenden Fallauswertung zeigt sich diesbezüglich eine eindeutige Tendenz: Die Seminarteilnehmerinnen empfinden den intertextuellen Vergleich zwischen Schlüsselszenen von Shakespeares Macbeth und HoC mehrheitlich als „total spannend“ (Carina, IV), „wirklich interessant“ (Sabrina, Emma, Leyla, IV) und „aufschlussreich“ (Romina, IV) durch „neue Perspektiven auf die Serie“ (Anastasia, IV). Marie, die sich in ihrer Seminararbeit dem Vergleich zwischen Lady Macbeth und Claire Underwood widmet, ist von den Seminarsitzungen zu dieser Thematik besonders begeistert. Dies äußert die Schülerin im Interview: 333 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="334"?> 109 Ich ermutige die SuS zum Fertigschauen von Macbeth, nachdem im Unterricht einige Schlüsselszenen aus der Verfilmung von Kurzel (2015) besprochen wurden. Dement‐ sprechend stelle ich den Jugendlichen meine DVD mit Kurzels Macbeth-Adaption zur Verfügung. Dieses Angebot wird von den Schülerinnen dankbar genutzt. Ich muss sagen, dass ich mich auf den Shakespeare-Teil im Seminar echt gefreut hab. Das war so das, was mich schon immer interessiert hat … also … Man spricht, ämm, beziehungsweise man kennt Shakespeare ja immer noch heute … Ich denk mal, jeder kennt seinen Namen und weiß bisschen was von seinen Werken und so … Deshalb wollt ich wissen … also mich hat’s halt interessiert, woran des liegt, dass er so nen Erfolg hat. […] Und die Stunden im Unterricht dazu waren echt toll, muss ich sagen. Ich mocht das total, den Text mit dieser … ja, ich würd sagen besonderen Sprache halt … mit so ner modernen Serie zu vergleichen. Das hat mir echt viel gebracht. Es gibt soo viele Ähnlichkeiten und ämm das ist schon … das ist was Besonderes, wenn eine moderne Serie so mit nem Drama … also … so kombiniert wird eben. Das hätt ich mir davor nicht so vorstellen können, dass des so geht (Marie, IV). Maries Antwort zeigt nicht nur ihre Vorfreude auf den Shakespeare-Teil des Seminars, sondern auch ihren Wissensdurst diesbezüglich: Der Schülerin ist bewusst, dass Shakespeare Weltliteratur schuf und das weckt ihr Interesse. Im Gegensatz zu ihren männlichen Mitschülern empfindet Marie die Sprache in Macbeth nicht als befremdlich, „alt“ (Philip, IV) oder gar „wirr“ (Stefan, IV), sondern als faszinierend. Vor allem in Kombination mit HoC wirkt Mac‐ beth ansprechend und motivierend auf Marie, so dass sie sich damit vertieft beschäftigen möchte. Ganz ähnlich geht es Carina, Leyla, Emma, Anastasia und Sabrina, die Macbeth zuhause (nach der Besprechung ausgewählter Szenen im Unterricht) entweder zu Ende lesen oder zu Ende schauen. 109 Darüber hinaus erkundigen sich die Schülerinnen Carina, Leyla, Marie und Anastasia nach weiteren geeigneten Shakespeare-Verfilmungen sowie gelungenen modernen Adaptionen. Dies zeigt, dass die Schülerinnen durch die Behandlung von Macbeth im Sandwich Approach (vgl. Thaler 2012: 265) zum Lesen weiterer Werke Shakespeares animiert werden können. Dementsprechend bauen die Seminarteilnehmerinnen ihr Interesse für Klassiker der Literatur mehrheitlich aus, indem sie den Reiz von Shakespeares Sprache und von den zeitlosen Themen seiner Werke in Kombination mit HoC entdecken. In deutlichem Kontrast zur Shakespeare-Euphorie der Schülerinnen stehen die Skepsis und der Unmut der männlichen Jugendlichen, wenn es um Shake‐ speare im Allgemeinen und Macbeth im Besonderen geht. Dies mag mit den negativen Vorerwartungen zusammenhängen, die die Schüler in Bezug auf die Shakespeare-Einheit bereits im Fragebogen äußern: Auf diese haben sie keine 334 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="335"?> 110 Diesbezüglich halten Logan und Medford (2011: 86) Folgendes fest: „increased moti‐ vation may lead to greater engagement within school, which may in turn affect attainment levels”. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Motivation der SuS zu erhöhen, z. B. durch eine Steigerung der extrinsischen Motivation „through rewards Lust (vgl. Stefan und Philip, FB), da sie hier „diesen typischen Literaturunter‐ richt, der halt nicht so spannend ist“ (Philip, IV), befürchten. Trotz aller Bemü‐ hungen durch die Lehrkraft und mich gelingt es nicht vollständig, das Interesse der Schüler in den Shakespeare-Sitzungen zu wecken. Am Ende des W-Seminars erwähnt Stefan als (einzigen) Verbesserungsvorschlag „Shakespeare weglassen … Das war einfach nicht meins“ (IV). An dieser Stelle muss kritisch angemerkt werden, dass der intensive Fokus auf Lady Macbeth und Claire Underwood die männlichen Jugendlichen zusätzlich demotiviert oder sogar abgeschreckt haben könnte. Die mit dieser Vermutung zusammenhängende Tendenz im Da‐ tenmaterial wurde bereits verdeutlicht: Während die Mehrheit der Schülerinnen Claire bewundert, steht für die Jungen Frank im Zentrum ihrer Faszination für HoC. Die Seminarteilnehmerinnen gehen also bereits mit Neugierde und einer positiven Grundhaltung an die Shakespeare-Stunden heran, die durch die Beschäftigung mit Claire noch zusätzlich gesteigert wird; die männlichen Seminarteilnehmer hingegen, die ohnehin nichts Interessantes im Kontext von Shakespeare erwarten, werden noch mehr enttäuscht, als sie feststellen, dass der Schwerpunkt auf Claire und nicht auf Frank liegt. An keiner anderen Stelle des Datenmaterials treten geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen den SuS so deutlich hervor wie im Kontext der Shake‐ speare-Einheit. Die Schülerinnen bauen ihre Fähigkeiten hinsichtlich des Ver‐ stehens und Analysierens eines Dramas wie Macbeth aus und entwickeln zudem Freude an der Lektüre des anspruchsvollen Textes. Der Lernzuwachs der Schüler hingegen dürfte aufgrund ihrer insgesamt negativen Grundeinstellung in Bezug auf den literaturbasierten EU sehr gering ausgefallen oder nur von kurzer Dauer gewesen sein. Dies kann mit Krashens Affective Filter Hypothetis (1982) begründet werden, die besagt, dass geringe Motivation oder anderweitige Hemmungen den Filter begünstigen, der als Blockade fungiert und jegliche Aneignung von Wissen dadurch verhindert. Auch wenn Krashens Hypothese im Kontext der Second Language Acquisition zu verorten ist, erscheint sie auch in Bezug auf den Erwerb literarischer Kompetenz sinnvoll: Der affektive Filter, ausgelöst durch ein Motivationsdefizit, mangelndes Interesse und Berührungs‐ ängste mit dem fremd anmutenden Frühneuenglisch, wirkt blockierend, so dass die männlichen Seminarteilnehmer nicht oder kaum von der Behandlung der Tragödie Macbeth profitieren. 110 335 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="336"?> or recognition” (ebd.) oder der intrinsischen Motivation „through providing interesting or stimulating […] material” (ebd.). Insgesamt muss klargestellt werden, dass es sich bei meiner Arbeit nicht im engeren Sinn um eine Studie zur geschlechtsspezifischen Rezeption von HoC handelt. Da sich diesbezüglich jedoch interessante Tendenzen im Daten‐ material abzeichnen, möchte ich zumindest kurz auf zentrale Aspekte eingehen. Dies erscheint mir vor allem wichtig, weil bislang kaum Untersuchungen zur geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Rezeption fremdsprachlicher Literatur vorliegen (vgl. Schmidt 2004: 95). Da die Serie HoC als mehrfach kodierter literarischer Text bezeichnet werden kann, möchte ich mit einer überblick‐ sartigen Darstellung zur geschlechtsspezifischen Rezeption diesem Missstand entgegenwirken. 7.5.2 Gender Gap: Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Literaturaffinität und in der Rezeption literarischer Texte 7.5.2.1 Theoretische Vorbemerkungen Die immer wieder festgestellten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der Schulleistungen initiierten einen Besorgnisdiskurs. Volkmann (2016: 124) bezeichnet die männlichen Jugendlichen als „neglected learner group“ und „clear underachievers in the fields of foreign language learning and reading”. Ganz allgemein kann bezüglich des schulischen Erfolgs festgehalten werden, dass Jungen in fast jedem hochentwickelten Land (mit Ausnahme von Japan) durchschnittlich schlechter abschneiden als Mädchen (vgl. Müller-Walde 2010: 92). Mädchen würden sich tendenziell mehr für Schule interessieren, was wiederum eine „leistungsfördernde Wirkung“ (Schmidt 2004: 91 und vgl. dazu auch Müller-Walde 2010: 85) bedeute. Diese weibliche „Bildungsbeflissenheit“ (Schmidt 2004: 182) wird häufig mit der geschlechtsstereotypen Vorstellung der braven, strebsamen und angepassten Schülerin in Verbindung gebracht. Be‐ sonders deutlich zeichnen sich geschlechtsspezifische Unterschiede in Leistung und Motivation ab, wenn es um das schulische Leseverhalten der Lernenden geht: Diesbezüglich wird Besorgnis laut „about boys’ low levels of motivation and disengagement in reading” (Logan und Medford 2011: 86; vgl. dazu auch Scholes 2019: 485; Logan und Johnston 2009). Die Ergebnisse der PISA-Studie offenbaren zudem: „Mädchen lesen nicht nur anders als Jungen. Sie lesen auch besser. […] Der Vorsprung der Mädchen beim Lesen fiel durchschnittlich dreimal so groß aus wie der Vorteil der Jungen im Fach Mathematik“ (Müller-Walde 2010: 64). Dies führt Volkmann (2016: 124) zu folgender Forderung, die er mit 336 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="337"?> 111 Hier kann leicht der Eindruck von Pauschalisierungen hinsichtlich eines typisch männ‐ lichen vs. typisch weiblichen Rezeptionsverhaltens im Umgang mit Literatur entstehen (vgl. Schmidt 2004: 255; Scholes 2019: 485). Die aufgelisteten Aspekte spiegeln jedoch lediglich Tendenzen wider, welche sich in einzelnen Studien herauskristallisieren. dem Schlagwort male empowerment zusammenfasst: „More attention should be payed to male readers, to boys or male adolescents as language learners and readers”. Die Leseförderung bei Jungen steht im Zentrum zahlreicher pädagogischer Ratgeber, wobei von einem Zusammenhang zwischen Vorlesen in der Kindheit, Leseförderung im Grundschulalter und Leselust in Jugendjahren ausgegangen wird (vgl. Rank und Rosebrock 1997; Garbe 2003; Plath und Richter 2004, 2010; Richter und Plath 2007). Folgende Studien zum Leseverhalten Jugendlicher liefern wichtige Erkenntnisse für den EU: Kugler-Euerle (1993) führte eine Fall‐ studie zur geschlechtsspezifischen Rezeption von Doris Lessing durch, auf die noch genauer eingegangen wird. Küppers (1999) findet in ihrer Arbeit heraus, dass Oberstufenschüler dem Literaturunterricht eher negativ gegenüberstehen. Die Studie von Schmidt (2004), die sich schwerpunktmäßig mit der Rezeption von Shakespeare im modernen EU beschäftigt, zeigt, dass die Gruppe der Schülerinnen den Literaturunterricht sowohl im Fach Deutsch als auch im Fach Englisch signifikant positiver beurteilt als die Gruppe der Schüler. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist vor allem Schmidts Feststellung interessant, „dass Mädchen bzw. Frauen ‚höherer‘ Literatur mehr Interesse entgegenbringen und mit größerer emotionaler Anteilnahme lesen“ (Schmidt 2004: 217). Auch die Studie von Logan und Medford (2011) muss erwähnt werden, die folgende Erkenntnis zutage befördert: „[T]he boys’ competency beliefs in reading and intrinsic motivation for reading and schoolwork were significantly more closely associated with their level of reading skill, in comparison with the girls” (Logan und Medford 2011: 85). In anderen Worten heißt das, dass „[boys] need to be successful at something in order to enjoy it” (ebd.: 87) und „boys’ attitudes, enjoyment or interest in a subject […] has a greater effect on their level of performance” (ebd.: 91). Eine solche Korrelation kann für Mädchen nicht nach‐ gewiesen werden. Logan und Medford (ebd.: 87) kommen zu dem Schluss, dass nicht ein Defizit im Bereich der Fertigkeiten, sondern die geringe Motivation der männlichen Jugendlichen für die genderspezifischen Unterschiede im Bereich der Lesekompetenz verantwortlich sei. Als Lehrkraft sollte man folglich darauf achten, effektive Wege zu finden, „to boost boys’ motivation“ (ebd.: 93), was zu besseren Leistungen aufseiten der Jungen beitragen könne. Folgende Auffälligkeiten und Tendenzen bezüglich des genderspezifischen Leseverhaltens Jugendlicher lassen sich aus der Forschung ableiten: 111 Auf‐ 337 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="338"?> enanger (1995: 1) resümiert die Ergebnisse verschiedener Studien und hält fest, dass Mädchen Figuren mit prosozialen Verhaltensweisen bevorzugen, während Jungen tendenziell kämpferisch eingestellte Charaktere bewundern würden. Bei beiden Geschlechtern herrsche grundsätzlich die Tendenz vor, die jeweils gleichgeschlechtliche Perspektive bei der Rezeption einzunehmen (vgl. Kugler-Euerle 1998: 120; Cornelißen 1993: 171 f), wobei Pronold-Günthner (2010: 77) herausfindet, dass es den weiblichen Jugendlichen weniger auf das Geschlecht und mehr auf die Qualität der Figuren ankomme. Dies hänge damit zusammen, dass Frauen fiktionale Charaktere und deren Handeln stärker mora‐ lisch bewerten würden als Männer. Kugler-Euerle (1998: 121) hält diesbezüglich Folgendes fest: „Für Schülerinnen sind die emotional-sozialen Eigenschaften einer Figur das Bewertungskriterium, Schüler hingegen beurteilen eine Figur eher danach, wie zielorientiert und effizient sie handelt“. Weibliche Jugendliche würden beim Lesen darüber hinaus eher die Opferperspektive einnehmen, wohingegen männliche Jugendliche das Geschehen aus einer überlegenen oder neutralen Position rezipieren und sich eher mit dem Täter identifizieren würden (vgl. ebd.: 120). Garbe (1996) zufolge praktizieren Mädchen bei der Rezeption von fiktionalen Texten meist ein einfühlendes Lesen, bei dem sie emotional in die erzählte Welt eintauchen. Jungen seien hingegen sowohl kritischer als auch sachlicher und würden beim Lesen mehr rationale Distanz wahren (vgl. Schmidt 2004: 94; Kugler-Euerle 1998: 120). Insgesamt sei bei jungen Frauen der „Wunsch nach Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und den Schwierigkeiten“ (Pronold-Günthner 2010: 76) des Erwachsenwerdens stärker präsent als dies bei jungen Männern der Fall sei (vgl. ebd.: 77). Diese geschlechtsspezifischen Auffälligkeiten bei der Literaturrezeption lassen sich größtenteils auch in der vorliegenden Studie beobachten. Derzeit spielen solche geschlechtsspezifischen Aspekte in der Literaturdi‐ daktik eine eher marginale Rolle (vgl. Schmidt 2004: 95). Nur wenn diese jedoch in Betracht gezogen werden, können entsprechende literaturdidaktische Konsequenzen im Unterricht berücksichtigt werden, von denen ich auf einige eingehen möchte: Plath und Richter (2010: 27) weisen beispielsweise auf das zentrale Problem der Textauswahl im Literaturunterricht hin. Der schulische Kanon sei nämlich „vornehmlich an weiblichen Interessen und Bedürfnissen orientiert […] und [rücke] nach wie vor die Hochliteratur ins Zentrum […], obwohl bekannt ist, dass diese an den Leseinteressen der [v. a. männlichen] Heranwachsenden vorbeigeht“. Meist werde im Literaturunterricht also eine sogenannte „weibliche Linie“ (Schmidt 2004: 248; vgl. Garbe 1996: 96) begünstigt. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn Texte ausgewählt werden, die eine stark empathisch geprägte Rezeptionshaltung voraussetzen. Die Forcierung der 338 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="339"?> 112 Dies konnte im Seminar aufgrund des Zeitmangels am Ende von 11/ 2 nur kurz thematisiert werden. weiblichen Linie im Literaturunterricht hänge auch damit zusammen, „dass der fremdsprachliche Unterricht immer häufiger von weiblichen Lehrkräften erteilt wird, deren Lektürevorlieben und Herangehensweisen an den Text eher mit den Präferenzen der Schülerinnen als mit denen der Schüler übereinstimmen“ (Schmidt 2004: 97). Diesbezüglich besteht Handlungsbedarf: Die männliche Linie müsse verstärkt einbezogen werden (vgl. ebd.: 98). Konkret nennt Schmidt als Auswahlkriterium für die Textwahl im Literaturunterricht emotionales Engagement, womit sie Folgendes meint: „Die Hauptpersonen […] sollten es den Schülern ermöglichen, sich emotional zu engagieren, sei es in Form von Sympathie, Empathie oder aber auch von Antipathie“ (ebd.: 61). 7.5.2.2 Geschlechtsspezifische Auffälligkeiten in der Auseinandersetzung mit House of Cards Im Kontext der vorliegenden Studie ist zunächst auffällig, dass sich nur die Schülerinnen aktiv am literarischen Gespräch zu Macbeth beteiligen: Die weib‐ lichen Jugendlichen sind offensichtlich interessiert an der Entschlüsselung des Textes und melden sich emsig, während die Jungen schweigsam oder sogar verschlossen sind. In dem Moment, in dem mit der Besprechung des Shakespeare-Textes begonnen wird, scheint bei den männlichen Jugendlichen eine Art Blockade einzusetzen. Vor allem die „alte Sprache“ (Stefan, Philip, IV) „mit den komischen Vergleichen“ (Stefan, IV) macht Shakespeare für sie zu einem „Buch mit sieben Siegeln“ (Philip, IV). Die Schüler klinken sich dementsprechend aus dem Unterrichtsgespräch aus, was Sven folgendermaßen begründet: „Wenn die Mädchen den Literaturunterricht dann eh schmeißen und sich ständig melden und so …, dann brauch ich mich ja da auch nicht reinzubringen“ (Sven, IV). Ein solches Sich-nicht-Einbringen in den EU hat allerdings oft zur Folge, dass die Schüler sich langweilen. Meiner Einschätzung nach könnte es hilfreich sein, die Jungen im Literaturunterricht häufiger aufzurufen und sie aktiv miteinzubeziehen, um ihnen das Gefühl zu geben, dass ihre literarische Sicht auf Texte ebenso erwünscht ist und geschätzt wird wie die der Mädchen. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass sich die Schüler durch eine stärkere Berücksichtigung der männlichen Linie angesprochen fühlen - ohne dabei jedoch die Bedürfnisse der Mädchen aus den Augen zu verlieren. Bei den Shakespeare-Sitzungen im Rahmen des HoC-Seminars hätte man den Fokus beispielsweise auch stärker auf die Parallelen zwischen Iago, Richard III und Frank Underwood richten können. 112 Hier wäre im Nachhinein ein 339 7 Ergebnisse der Studie: Kognitiv-affektive Prozesse im Vergleich <?page no="340"?> 113 Bei der Didaktisierung könnte die Lehrkraft differenzieren, indem die Shakespeare-Aus‐ züge entsprechend des Didaktisierungsgrades und des damit einhergehenden Schwie‐ rigkeitslevels gekennzeichnet werden und die SuS gemäß ihrer subjektiven Selbstein‐ schätzung wählen dürfen. 114 Dies gilt beispielsweise nicht für Emma und Carina; beide Schülerinnen lassen sich hier der männlichen und damit tendenziell pragmatischen Linie zuordnen. Topic Approach (vgl. Thaler 2012: 265) schülergerechter gewesen: Dies hätte bedeutet, dass den SuS verschiedene und sinnvoll didaktisierte Auszüge 113 aus unterschiedlichen Shakespeare-Dramen (z. B. Macbeth, Othello, Richard III) zur Verfügung gestellt werden und die Jugendlichen selbst ein excerpt auswählen dürfen. In der Bearbeitung der Viewing Journals zu HoC zeichnet sich eine weitere geschlechtsspezifische Tendenz hinsichtlich der Ausführlichkeit der Einträge ab: Die männlichen Jugendlichen schreiben zwar nicht zwangsläufig weniger ausführliche Antworten als die Schülerinnen, aber die Länge der Einträge spiegelt deutlich wider, welche Fragen die Schüler beantworten WOLLEN (mehr Text) und welche Fragen sie als Pflicht empfinden (weniger Text). Während die meisten Schülerinnen grundsätzlich sehr detaillierte und lange Einträge verfassen 114 , haben die Schüler eine deutlich pragmatischere Einstellung, die Philip folgendermaßen verdeutlicht: Man sieht des ja an meinen Antworten auch … Also wo ich viel sagen wollte, da sieht man es … Da hat mir der Platz zum Schreiben dann auch manchmal nicht so ganz gereicht … Aber es gab halt auch so Sachen, da wollt ich jetzt nicht unbedingt so viel dazu sagen … Dann hab ich’s halt einfach ganz knappgehalten und nur so kurz … ja kurz auf ’n Punkt gebracht und dann weiter zur nächsten Frage (Philip, IV). Während die Schüler also je nach Motivation und Neigung entscheiden, wie ausführlich sie ihre Pflicht erfüllen, scheint das Pflichtbewusstsein der Schüle‐ rinnen meist die Überhand zu haben. Weitere geschlechtsspezifische Tendenzen in der Rezeption von HoC sollen im Folgenden tabellarisch gegenübergestellt werden: 340 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="341"?> Geschlechtsspezifische Rezeption der Jungen Geschlechtsspezifische Rezeption der Mädchen Identifikation mit Frank (bis auf Florian) Faszination für das Böse Identifikation mit Claire moralische Skrupel und Gewissensbisse höheres Interesse an Karriere, Macht‐ kampf, Intrigen und am Vorankommen Franks höheres Interesse an Zwischenmenschli‐ chem und an der Figurenentwicklung kaum Freude am Out of the Box-Denken Freude am Lesen zwischen den Zeilen und am kreativen Umgang mit dem Text eher rationale, kritisch abwägende Grundhaltung; Bevorzugung des Sachbe‐ zugs eher empathische und emotionale Grund‐ haltung Abb. 34 Geschlechtsspezifische Tendenzen in der Rezeption von HoC (eig. Darst.) In den bisherigen Ausführungen sind Konsequenzen für didaktisches Handeln im film- und serienbasierten EU bereits immer wieder angeklungen. Im Fol‐ genden möchte ich dies präzisieren, indem ich weitere Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart darlege, welche sich aus den sichtbar gemachten kognitiv-affektiven Prozessen ableiten lassen. 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart Zunächst möchte ich als grundlegende Erkenntnis dieser Arbeit festhalten, dass das Konzept des filmbasierten EU eine Erweiterung in Form einer speziell auf Serien ausgerichteten Didaktik erfahren sollte. Serien bringen wegen ihrer besonderen Art der Langzeitnarration andere didaktische Erfordernisse mit sich, vor allem wenn sie als vollständiger Text (zum Beispiel in Form einer oder mehrerer Staffeln) im EU behandelt werden. Aus Zeitgründen können im regulären EU keine ganzen Staffeln geschaut werden - allein für die erste Staffel von HoC wären mehr als 13 Unterrichtsstunden erforderlich. Wenn der Serienkonsum jedoch in Form eines Langzeitprojekts aus dem Unterricht in die Freizeit der Jugendlichen verlagert wird und lediglich Schlüsselszenen gemeinsam im Unterricht geschaut und besprochen werden, würde dies ein intensives außerschulisches Sprachbad für die SuS bedeuten, welches sich positiv auf die sprachlich-kommunikativen Kompetenzen der Jugendlichen auswirken kann (vgl. dazu die bereits dargestellten Ergebnisse dieser Arbeit). Die Überlegung hinsichtlich eines das FBLL (Film-Based Language Learning) 341 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="342"?> ergänzenden und zugleich komplettierenden SBLL (Series-Based Language Le‐ arning) ist besonders relevant, wenn man die wachsende Beliebtheit von Serien bedenkt. Im serienbasierten EU, welcher als längerfristiges Projekt angelegt ist, kann beispielsweise mit Viewing Journals gearbeitet werden, um die SuS beim Schauen der Serie zu unterstützen. Die Chancen und Grenzen des Einsatzes von Viewing Journals möchte ich im Folgenden auf der Basis der im Rahmen dieser empirischen Studie gemachten Erfahrungen detailliert untersuchen. 8.1 Eignung von Viewing Journals als Begleitinstrumente des Hörsehverstehens-Prozesses Jugendlicher beim intensiven, außerschulischen Serienkonsum Leitgedanke bei der Konzeption der Viewing Journals war die Stärkung der „Zuschauer-Text-Interaktion, in der der Zuschauer, stimuliert durch den Film, seinen persönlichen Sinn erzeugt“ (Blell und Lütge 2004: 402). Mithilfe der Viewing Journals sollten die Jugendlichen folglich zu einer zielgerichteten sowie sinnstiftenden „Kommunikation mit dem Film“ (ebd.: 403) befähigt werden, um eine passive Ein-Weg-Berieselung zu vermeiden. Die zweifellos hohe Komple‐ xität von HoC stellte einen weiteren Grund für die Erstellung von Viewing Journals dar, welche auch als Hilfsinstrument gedacht waren - beispielsweise, um die Aufmerksamkeit der SuS auf verborgene, aber für den Handlungsfort‐ gang dennoch wichtige Details lenken zu können. Darüber hinaus konnte durch die Viewing Journals sichergestellt werden, dass die Jugendlichen die Serie auf Englisch schauten; aufgrund der anspruchsvollen Fragen, die in der Fremd‐ sprache beantwortet werden mussten, war dies unausweichlich. Diesbezüglich zeigt sich bei den Befragungen der Seminarteilnehmenden, dass es für die SuS ohnehin selbstverständlich ist, eine US-Serie im O-Ton zu rezipieren, da diese andernfalls verfälscht werde. Im Folgenden sollen die Grenzen und Herausforderungen des Einsatzes von Viewing Journals am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC aufgezeigt werden. 8.1.1 Grenzen 8.1.1.1 Hoher Arbeitsaufwand (1) Aufwand für die Lehrkraft Zunächst muss erwähnt werden, dass die Erstellung von detaillierten Viewing Journals, wie sie von mir für die ersten drei Staffeln von HoC konzipiert wurden, 342 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="343"?> 115 Eine Aufgabe wie How do you like Zoe’s reaction in the scene? wäre beispielsweise ohne exakte Zeitangaben nicht eindeutig zu beantworten, da es in Staffel 1 in jedem Kapitel mehrere Szenen mit Zoe gibt und die SuS nicht wissen können, auf welche Szene die Frage abzielt. 116 Eine mögliche Abfolge von Fragen wäre zunächst eine verhältnismäßig leichte Eisbre‐ cherfrage als Einstieg: z. B. Who is the woman in the picture and what is her political agenda? Als Zusatz, um den SuS Raum für ihre persönliche Meinung zu geben, könnte ergänzt werden: What do you think about the politician’s aims? Would you consider voting for her? Why/ why not? Dann könnte ein Rechercheauftrag zu einem politischen Begriff oder landeskundlichen Konzept gestellt werden, falls ein Aspekt dieser Art in der jeweiligen Folge eine Rolle spielt. Anschließend wäre eine auf das Empathievermögen der SuS abzielende Frage wie How would you feel if you were Claire and how would you react in a similar situation? sinnvoll. Schließlich könnte ein Screenshot eingefügt werden, der von den Lernenden hinsichtlich seiner Wirkkraft interpretiert werden soll. 117 Die Zusammenfassung von Filmen scheint die Art von Anschlussaufgabe zu sein, die die SuS bislang aus dem filmbasierten EU gewohnt sind. Stefan hebt beispielsweise lobend hervor, dass er in den Viewing Journals „endlich mal nicht den Inhalt stur auf 2-3 Seiten zusammenfassen musste“ (FB). Auch Leyla, Carina, Philip, Florian, Elif und sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Jede Episode muss dafür mindestens zwei Mal aufmerksam geschaut werden, wobei man als Lehrkraft das Lehr-Lern-Po‐ tential des Gesehenen ständig reflektieren und bestmöglich für die SuS nutzbar machen muss. Bei der erstmaligen Rezeption können beispielsweise Notizen zu anspruchsvollen bzw. möglicherweise unbekannten Vokabeln und landeskund‐ lichen Begriffen gemacht werden, über welche die SuS für das Verständnis der Serie Bescheid wissen sollten. Darüber hinaus ist das Festhalten erster Ideen für motivierende Fragen (z. B. bezüglich Schlüsselszenen, Leitmotiven oder Auffälligkeiten in der Symbolik) für das weitere Procedere hilfreich. Anschließend ist die Formulierung konkreter Tasks sinnvoll, so dass im nächsten Schritt, wenn die Episode erneut geschaut wird, genaue Zeitangaben zu den jeweiligen Fragen ergänzt werden können. Solche exakten Zeitstempel sind unerlässlich, da die SuS nur so sicher sein können, auf welche Szene sich welche Frage bezieht. 115 Darüber hinaus sollten Screenshots gemacht werden, um das Viewing Journal ansprechend zu gestalten und um den SuS eine visuelle Orientierungshilfe an die Hand zu geben. Bei der Formulierung und Anordnung der Fragen muss zudem auf ein ausgewogenes Aufgabenrepertoire geachtet werden, um Monotonie und Langeweile bei der Bearbeitung durch die Jugendlichen zu vermeiden. 116 Arbeitsaufträge mit Nacherzählungscharakter (z.B.: Give a summary of the chapter) sollten möglichst selten erteilt werden - diesbezüglich zeigen sich eindeutige Tendenzen im Datenmaterial: Die bloße inhaltliche Zusammenfassung von Szenen oder Sequenzen erweist sich bei der Befragung der Seminarteilnehmenden nämlich als der mit Abstand am wenigsten beliebte und als „am unnötigsten“ (Philip, IV) erlebte Aufgabentyp. 117 343 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="344"?> Romina sind von summary tasks gelangweilt, da sie diese als „zu offensichtlich“ und „stumpf “ empfinden. Die SuS wollen sich folglich tiefer und auch kreativer mit Filmen beschäftigen. Dies muss die Lehrkraft bei der Erstellung der Aufgaben für die Viewing Journals berücksichtigen. Stattdessen ist die Formulierung von Denkanstößen elementar, die von den SuS als spannend und motivierend empfunden werden. Dies erfordert vonseiten der Lehrkraft ein Gespür für anregende Schreibaufträge, die dem Genuss der Serie nicht im Weg stehen, sondern diesen vertiefen und fördern, indem sie den Jugendlichen das Gefühl einer möglichst natürlich wirkenden Anschluss‐ kommunikation vermitteln. Zusammenfassend lässt sich Folgendes hinsichtlich der Vorlieben der SuS in Bezug auf die Aufgabentypen festhalten: Je mehr die Jugendlichen ihre eigene Meinung zum Gesehenen frei äußern, verschiedene Standpunkte abwägen oder diskutieren dürfen, desto besser. Die SuS wollen das Gesehene nämlich produktiv verarbeiten, indem sie ihre Ansichten mitteilen und Vermutungen über den Weitergang der Handlung anstellen dürfen. Schließlich möchte ich noch anmerken, dass ein zusätzlicher Aufwand für die Lehrkraft dadurch entstehen könnte, dass eine SuS-Gruppe in den meisten Fällen nicht so homogen sein dürfte wie im Fall der W-Seminarteilnehmenden, die mehrheitlich bereits an das Schauen von Serien auf Englisch gewöhnt waren. Dann müsste hinsichtlich der Tasks in den Viewing Journals stärker differenziert werden. Für lernschwache SuS wäre eine Simplified Version of the Viewing Journal sinnvoll, um die Jugendlichen beim Serienkonsum zusätzlich zu unterstützen (z. B. durch annotations bzw. durch entsprechenden language support an schwierigen Stellen). Doch neben dem hohen Arbeitsaufwand für die Lehrkraft muss auch die SuS-Seite in Betracht gezogen werden, da diesen ebenfalls jede Menge Zeit und außerschulisches Engagement abverlangt wird. (2) Aufwand für die SuS Auf diesen Aspekt bezieht sich der von den SuS am meisten geäußerte Kritik‐ punkt hinsichtlich des Einsatzes von Viewing Journals. Fast alle Seminarteil‐ nehmenden erwähnen den großen Zeit- und Arbeitsaufwand, welcher für ein gewissenhaftes Bearbeiten der Aufgaben vonnöten gewesen sei. Aus diesem Grund entschieden die Lehrkraft und ich uns dafür, im W-Seminar auf Klausuren zu verzichten und stattdessen jedes Viewing Journal wie eine Klausur zu gewichten. Nur so konnte der Workload der Jugendlichen in angemessener Form honoriert werden. Nichtsdestotrotz muss der außerschulische Anstrengungs- und Zeitfaktor kritisch gesehen werden - vor allem wenn man sich vergegen‐ wärtigt, dass die Sekundarstufe II eine ohnehin sehr lernintensive Phase für die 344 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="345"?> angehenden Abiturientinnen und Abiturienten darstellt. Sabrina beispielsweise assoziiert mit der Oberstufe in erster Linie „viel Druck […] von innen und von außen“ (IV) und gesteht, dass sie insbesondere die Q11 als „sehr stressig und belastend“ empfunden habe. Wenn man dies bedenkt, wird nachvollziehbar, dass einige SuS die Viewing Journals als zusätzliche Arbeitsbelastung empfinden - zumal sie sich den Aufgaben hingebungsvoll widmen, indem sie Szenen wiederholt schauen, um wirklich alle Details festhalten zu können (z. B. Florian, Anastasia, Angelica, Romina). Mit einer derart perfektionistischen Herange‐ hensweise der Lernenden hatte ich nicht gerechnet. An dieser Stelle muss betont werden, dass die Kritik am durch die Viewing Journals entstandenen zeitlichen Aufwand bei fast allen Lernenden (mit Aus‐ nahme von Sabrina und Laura) mit dem Hinweis einhergeht, dass sie von dieser zeit-, denk- und arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit der Serie profitiert hätten und dadurch zu einem tieferen Verständnis sowie größerer Wertschätzung gelangt seien. 8.1.1.2 Verhinderung eines natürlichen Schauens Ungefähr ein Drittel der SuS erwähnt, dass durch die Viewing Journals ein natürliches, entspanntes Schauen der Serie nur noch begrenzt möglich gewesen sei. Dies kritisiert beispielsweise Sabrina: „Ich habe mich teilweise genervt vor den Fernseher gesetzt, da ich zwar die Serie schauen wollte, jedoch ohne das Schreiben“ (FB). Obwohl sie die Viewing Journals prinzipiell „nicht verkehrt“ (IV) findet, sei ihr persönlich dadurch die Freude am Schauen von HoC genommen worden: „Wenn ich ne Serie unter Druck anschauen muss, dann ist es halt so … Ich hab dann halt keinen Bock mehr, um ehrlich zu sein“ (IV). Ähnlich geht es Laura: Also ich muss sagen, ich mag HoC wirklich, die Serie ist klasse, aber das mit dem Tagebuch hat schon ein bisschen die Lust genommen sozusagen, weil man einfach so nach dieser Antwort suchen musste und man sich dann gar nicht mehr so auf die Folge selber konzentrieren konnte (Laura, IV). Sabrina und Laura sind die einzigen Schülerinnen, für die die Nachteile der Vie‐ wing Journals überwiegen. Beide Schülerinnen möchten HoC nach dem Abitur noch einmal schauen, um die Serie dann ohne Druck und ohne Pflichtprogramm genießen zu können. Auch wenn sich Emma, Elif und Marie hinsichtlich des Einsatzes von Viewing Journals ebenfalls kritisch positionieren, erkennen sie dennoch deren Mehrwert und gewichten diesen letztlich stärker. Während Emma und Elif den Anstren‐ gungsfaktor ansprechen, stört Marie an den Viewing Journals am meisten, dass 345 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="346"?> 118 Solche Ergänzungen nahmen etliche SuS (z. B. Romina, Philip, Anastasia, Stefan, Sven, Leyla, Carina) auch ohne eine explizit genannte Rubrik dieser Art vor, indem sie in den Viewing Journals Randnotizen machten oder mit Post-its arbeiteten. „man oft mehr die Fragestellung im Kopf hatte und auf die passende Szene dazu gewartet hat … Andere Szenen hab ich dann eher ausgeblendet, weil es zu denen halt keine Fragen gab“ (IV). Maries Kritik impliziert, dass das Filmtagebuch den Fokus durch entsprechende Aufgaben auf bestimmte Szenen gelenkt habe, welche dann gezwungenermaßen aufmerksam geschaut wurden. Im Viewing Journal nicht thematisierte Aspekte seien hingegen eher übergangen worden, da zu diesen kein Eintrag vorgenommen werden musste. Dies könnte stellenweise verhindert haben, dass die Jugendlichen eigene Schwerpunkte setzten, da sie stattdessen die Priorisierung anhand der Fragestellungen in den Viewing Journals übernahmen. Um dies zu vermeiden und die SuS noch stärker zu involvieren und zu aktivieren, könnte die Lehrkraft bei der Erstellung der Viewing Journals am Ende jedes Kapitels eine Frage folgender Art einfügen: Was there something you personally found striking that has not been mentioned so far? Auch eine Rubrik room for personal notes wäre denkbar. 118 Auch wenn Sven grundsätzlich ein Befürworter der Viewing Journals ist, sieht er sich in seinem natürlichen Konsum der Serie HoC durch diese insofern eingeschränkt, als diese einen Binge-Watching-Marathon unmöglich machen würden: Ganz selten mal hab ich zwei [Folgen] am Stück geschaut […]. Wobei man dann aber halt echt schon beim Ausfüllen von dem Viewing Journal gemerkt hat, dass so die Grenzen zwischen den Folgen verschwommen sind. So … Was war jetzt Folge 1 und was war jetzt Folge 2? Was wüsste ich eigentlich erst, wenn ich die nächste Folge kenn? Normal hätt ich da deutlich mehr am Stück durchsuchten wollen (Sven, IV). Sven hätte folglich gerne mehrere Kapitel von HoC am Stück geschaut, aber dies hätte beim Beantworten der Fragen zu sehr für Verwirrung gesorgt. Die im Rahmen der Viewing Journals gestellten Aufgaben zögerten folglich die Rezeption der jeweils nächsten Folge heraus, was vor allem für die Schüler Sven und Philip eine Änderung ihrer Serienkonsumroutine bedeutete. Auch wenn der Vorwurf bezüglich der Verhinderung eines natürlichen Serienkonsums durch die Viewing Journals nicht von der Hand zu weisen ist, möchte ich betonen, dass ein entspanntes Schauen durchaus möglich gewesen wäre und auch von einem Drittel der Lernenden praktiziert wurde (z. B. von Angelica, Anastasia, Florian, Romina, Stefan): Diese hätten, so erklären sie in den Interviews, die jeweilige Staffel zunächst einmal am Stück geschaut, ohne dem Viewing Journal und den darin abgedruckten Aufgaben Beachtung zu 346 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="347"?> 119 Aus diesem Grund räumte ich den W-Seminarteilnehmenden zum Schuljahresbeginn noch zwei weitere Wochen ein, um ihre Viewing Journals fertigstellen zu können. Von dieser Möglichkeit machten jedoch nur zwei Schülerinnen Gebrauch. Alle anderen SuS konnten die Arbeit an ihren Viewing Journals über die Sommerferien „stressfrei“ (Leyla, IV) beenden. schenken. Bei dieser ersten straight-through-Rezeption wollten die Jugendlichen ihr Bedürfnis nach uneingeschränktem Entertainment stillen. Stefan erklärt beispielsweise, dass ihm HoC schon da Spaß gemacht und ihn gefesselt habe, aber dass er erst beim zweiten Durchgang mit Viewing Journal den tieferen Sinn bestimmter Szenen erfasst habe: Ohne Journal hätte ich so bestimmte Sachen gar nicht weiter hinterfragt, weil die Serie ja trotzdem schon an sich spannend und alles ist … Man merkt gar nicht, dass viel mehr dahintersteckt, wenn man’s einfach so am Stück durchschaut. […] Erst mit den Journals ist mir dann so viel mehr ins Auge gestochen … Man musste ja immer wieder pausieren und dann …, ja dann achtet man schon mehr auf so … Details und Symbole. Das macht halt dann eigentlich erst so das … ja … Besondere aus (Stefan, IV). Diesen zugegebenermaßen zeitaufwändigen Hörsehverstehens-Prozess, wel‐ cher aus zwei Durchgängen besteht (zunächst watching for pleasure; anschlie‐ ßend watching for detailed understanding, um zu einem tiefen Verständnis zu gelangen), wählen einige SuS intuitiv, was im Punkt „Förderung von Selbststän‐ digkeit und Selbstorganisation“ vertieft werden soll. 8.1.1.3 Problematik des Benotungsaspektes Die Benotung der Viewing Journals muss ebenfalls kritisch reflektiert werden, wobei vor allem zwei Aspekte bei einer solchen Reflexion in Betracht gezogen werden sollten: (1) Viewing Journals als benotete Hausaufgabe Eine benotete Hausaufgabe - besonders über die Sommerferien - stellt sowohl mit Blick auf den Anspruch der SuS auf Erholung als auch aus schulrechtlicher Sicht eine heikle Angelegenheit dar. Besonders solche Jugendliche, die mit ihren Familien oder Freunden über die Sommerferien verreisen, könnten die Viewing Journals und das damit erforderliche konzentrierte Schauen einer komplexen Serie als starke Einschränkung oder sogar Zumutung empfinden. 119 Auch aus Sicht der Eltern könnte eine solch zeitintensive Hausaufgabe als schulische Grenzüberschreitung gesehen werden, welche die SuS ihrer ohnehin knapp bemessenen Freizeit beraubt. 347 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="348"?> Lösungsansatz für (1): Um die oben genannten Punkte zu entschärfen, muss den Jugendlichen (und gegebenenfalls auch den Eltern) bewusst gemacht werden, dass die Bearbeitung der Viewing Journals in den Ferien als Entlastung der lernintensiven Schulzeit gedacht ist. Auf diese Weise können sich die SuS mit dem Schauen der Serie so viel Zeit wie nötig lassen. Der Schlüssel für die Lösung des ersten Konflikts in Sachen Benotung liegt also im Schaffen von Transparenz für die SuS und deren Eltern. (2) Fragwürdigkeit der Benotung von Einträgen zur persönlichen Meinung und Gefühlen der SuS Der zweite Aspekt, der eine kritische Bewusstmachung erfordert, bezieht sich auf die Beschaffenheit der Viewing Journals als Diary (neben ihrer Beschaffen‐ heit als Workbook). Aufgaben und Denkanstöße mit Tagebuchcharakter sollen den SuS das Gefühl vermitteln, ein Ventil für ihre intimen Gedanken und Emotionen während des Schauens nützen zu können. Es steht außer Frage, dass eine Benotung solcher Einträge prüfungsethischen Grundsätzen widersprechen würde, was folgende Aussage Frau Potters unterstreicht: „Als Lehrkraft steht es mir nicht zu, die Reaktionen (Meinungen, Gefühle und Gedanken) der Schüler zu bewerten oder zu beurteilen“ (IV). Lösungsansatz für (2): Bei der Benotung der Viewing Journals muss in erster Linie darauf geachtet werden, dass man als Lehrkraft nicht die eigenen An‐ sichten als Bewertungsmaßstab hernimmt, sondern den SuS-Antworten mit Interesse und Offenheit begegnet. Zudem sollte bei der Sichtung der Einträge zu Fragen, welche auf die Emotionen und ethisch-moralischen Urteile der SuS abzielen, das Augenmerk auf folgende konkrete Kriterien gelegt werden: sprach‐ liches Niveau; Engagement, welches oftmals in der Tiefe der Auseinanderset‐ zung deutlich wird (z. B. durch sorgfältiges Abwägen); Nachvollziehbarkeit des Inhalts (z. B. durch stimmige Argumente). Bei einer Aufgabe wie What effect did the angles and the lighting in the church scene have on you? kommt es nämlich auf die Begründung der individuellen und letztlich subjektiven Sichtweisen durch die SuS an. Hier geht es nicht um das Abprüfen von Faktenwissen, sondern den Lernenden soll die Möglichkeit gegeben werden, sich bezüglich ihrer Reaktionen und Gefühle Klarheit zu verschaffen. Zudem kann die Benotung einen Anreiz für eine vertiefte kognitiv-affektive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text sicherstellen - was im Falle der vorliegenden Studie gelingt. Interessanterweise gibt es von Seiten der Seminarteilnehmenden keinerlei Einwände bezüglich der Benotung der Viewing Journals. Stattdessen reagieren die Jugendlichen sehr positiv auf das ausführliche Feedback und empfinden ihre Noten als fair. Die Lernenden, die auf das Viewing Journal zu Staffel 348 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="349"?> 1 keine gute oder sehr gute Note erhalten, strengen sich in der zweiten Journal-Runde deutlich mehr an (vgl. Marie und Philip), was die Wirkkraft der extrinsischen Motivation unterstreicht. Nachdem die Seminarteilnehmenden die zweite Staffel von HoC mit dem dazugehörigen Filmtagebuch geschaut und abgeschlossen haben, äußern die SuS den einstimmigen Wunsch nach einem Viewing Journal zur dritten Staffel von HoC (anstelle einer Klausur). Dies zeigt, dass die Vorzüge der außerschulischen Arbeit mit Viewing Journals in den Augen der Lernenden überwiegen, worauf ich im Folgenden genauer eingehen möchte. 8.1.2 Chancen Die Darlegung der Vorteile und Chancen von Viewing Journals im serienba‐ sierten EU möchte ich mit einem Zitat der Lehrkraft einleiten, welche sich diesbezüglich folgendermaßen äußert: Die Viewing Journals eignen sich hervorragend als Begleitinstrument für den Serien‐ konsum […]. Durch die Journals bleibt es auch im heimischen […] Wohnzimmer nicht bei einer Ein-Weg-Kommunikation, bei der der Schüler berieselt wird und die Serie kommentarlos konsumiert, sondern der Schüler bekommt hier […] eine […] Chance, seine Eindrücke unmittelbar zu versprachlichen und mitzuteilen. So wie im Literaturunterricht das Lesen mit dem Bleistift vermittelt wird, werden die Schüler hier bei der Beschäftigung mit der Serie als audiovisuellem Text dazu angehalten, ebenfalls mit dem Stift zu lesen und durch die Betätigung der Pause-Taste zum Innehalten angeregt. Der Erkenntnisgewinn hat sich als enorm herausgestellt, bei schwierigen Szenen bzw. Zusammenhängen hat das Journal das Augenmerk des Zuschauers helfend begleitet und gelenkt und so auch ein Erfolgsgefühl bei den Schülern vermittelt (Frau Potter, IV). Frau Potter, die das erste Mal mit derart beschaffenen Viewing Journals arbeitet, zeigt sich von diesen sehr angetan. Auch von Seiten der SuS gibt es viel positives Feedback, was im Folgenden genauer untersucht wird. 8.1.2.1 Förderung von Selbstständigkeit und Selbstorganisation Ein positiver Nebeneffekt von Viewing Journals ist, dass die SuS eigenverant‐ wortlich vorgehen und Aspekte wie Zeitmanagement, Arbeitseinteilung und Organisation einüben können. Die Wichtigkeit dieser Selbstständigkeit im Umgang mit Filmmaterial wird beispielsweise von Sherman (2003: 37) betont, die ein „independent viewing“ empfiehlt. Bei der Aushändigung der Viewing Journals zu Staffel 1 am Ende der zehnten Klasse verzichte ich bewusst auf strategische oder methodische Tipps, um den Jugendlichen die Chance zu geben, eigene Erfahrungen zu machen und die für sie effektivste Arbeitsweise heraus‐ 349 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="350"?> zufinden. Die Lernenden werden lediglich auf die verschiedenen Möglichkeiten hinsichtlich der Verfügbarkeit der Serie hingewiesen: DVDs (z. B. über die Ausleihe der lokalen Stadtbücherei), Netflix und Sky. Die SuS bekommen für jede Staffel und für die Bearbeitung des dazugehörigen Viewing Journal im Schnitt sieben Wochen Zeit. Wie die Jugendlichen sich die jeweils 13 Kapitel pro Staffel und die Fragen einteilen, bleibt ihnen überlassen. Zunächst möchte ich die drei am häufigsten genannten Strategien im Umgang mit den Viewing Journals vorstellen: (1) Global-to-Detail-Approach Diese Vorgehensweise wählen beispielsweise Stefan, Romina, Anastasia und Angelica. Der Fokus liegt hier im ersten Durchgang auf dem Genuss der jeweiligen Staffel, die zunächst „am Stück durchgeschaut wird … mit möglichst wenigen Unterbrechungen“ (Stefan, IV). Anschließend greifen die SuS für das Detailverständnis zu ihren Viewing Journals und widmen sich dann Folge für Folge den dazugehörigen Aufgaben. Meist wird die jeweilige Episode nochmal ganz angeschaut, wobei an den entscheidenden Stellen innegehalten wird, um entsprechende Antworten in den Viewing Journals notieren zu können. Romina genügt es hingegen, nur die Szenen, auf die sich die Fragen beziehen, nochmal gezielt zu schauen: Zuerst hab ich einfach nur die Staffeln durchgeschaut … ohne ein Journal oder so … so konnte ich am besten in die Story reinfinden. Und dann hab ich mir die Fragen zu einer Folge durchgelesen und dann hab ich immer […] durchgeskippt zu den wichtigen Szenen dazu … und die dann beantwortet und dann die nächste Frage genauso […]. Ich bin wirklich nur von Szene zu Szene und musste die Serie [beim zweiten Durchgang] nicht mehr komplett schauen (Romina, IV). Angelica verzettelt sich beim Global-to-Detail-Approach zunächst und versucht bereits beim ersten Hörseh-Durchgang, möglichst alle Details zu verstehen. Zudem beantwortet die Schülerin die Anfangsfragen so ausführlich, dass für die Bearbeitung der späteren Aufgaben wenig Zeit bleibt. In der Auseinander‐ setzung mit Staffel 2 und 3 erkennt Angelica zunehmend, dass sie „nicht zu perfektionistisch“ (IV) vorgehen dürfe und überdenkt ihre Arbeitsweise dahingehend. Am Ende des W-Seminars beschreibt die Schülerin ihren metho‐ disch-strategischen Lernzuwachs folgendermaßen: Ich kann sagen, dass […] meine Arbeitsweise auch bisschen verbessert wurde, weil ich … versucht hab, bisschen organisierter zu arbeiten, was ich eigentlich nicht wirklich kann, aber daran musst ich arbeiten … vor allem was so Zeitmanagement und so was 350 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="351"?> angeht. Ich darf am Anfang einfach nicht so … nicht so genau sein und ja … trödeln (Angelica, IV). Einige SuS wenden den Global-to-Detail-Approach in einer kleinschrittigeren Rezeptionsweise innerhalb eines Chapter-by-Chapter-Approach an, worauf ich im Folgenden eingehen möchte. (2) Chapter-by-Chapter-Approach Auch Florian, Sven, Sabrina und Emma wollen den Genussfaktor von HoC zunächst ungestört auskosten, bevor sie sich der Bearbeitung der Tasks im Viewing Journal zuwenden. Dafür wählen sie den Chapter-by-Chapter-Approach, bei dem sie „erstmal nur eine Folge am Stück […] und danach nochmal die Folge, aber diesmal mit dem Journal und den Fragen“ (Florian, IV) rezipieren. Sven erklärt dazu: Wenn ich mit einer Folge durch war, dann hab ich kurz die Fragen dazu überflogen … Also ich bin die Fragen durchgegangen und hab gleich mal so‘n paar Notizen gemacht, was ich noch wusste dazu … Manche Szenen musst ich aber dann nochmal schauen … vor allem für Details und so was (Sven, IV). Sabrina genießt zwar die Kapitel an sich, aber wenn sie danach zur Beantwor‐ tung der Fragen im Viewing Journal übergeht, ist sie meist genervt, „weil sich dann alles irgendwie so hingezogen hat und ich einfach weiterschauen wollte“ (Sabrina, IV). Eventuell wäre für Sabrina der Question-Based-Approach sinnvoller gewesen. (3) Question-Based-Approach Während bei den bisher genannten Approaches der uneingeschränkte Genuss der Serie an erster Stelle steht, bedienen sich die Schülerinnen Leyla, Carina, Elif und Marie einer zeitsparenden Methode, bei der sie sich die Denkanstöße in den Viewing Journals zunutze machen. Die Fragen im Journal markieren nämlich jeweils die Stellen, an denen die Jugendlichen innehalten, nachdenken und schreiben, um dann bis zur nächsten Aufgabe und der damit verbundenen Szene weiterzuschauen. Leyla erklärt den Question-Based-Approach folgendermaßen im Interview: Ich hab mir zuerst von jeder Folge die Fragen durchgelesen, damit ich weiß, wo ich ungefähr mehr drauf achten muss und dann hab ich mir die […] Folge angeschaut und während ich sie angeschaut hab, hab ich halt mitgeschrieben bei den Punkten, wo’s halt dann soweit war und hab halt währenddessen kurz gestoppt … also damit ich in Ruhe schreiben kann … Sonst verpasst man sehr viel, wenn man eine Minute 351 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="352"?> mal nicht aufpasst, dann kommt man halt auch voll raus und deswegen hab ich immer kurz gestoppt, hab dann die Frage beantwortet und hab dann weitergeschaut (Leyla, IV). Leyla, Carina und Elif empfinden dies nicht als Einschränkung beim Schauen, was Carina verdeutlicht: Nee, also das Pausieren bei den Fragen hat mich nicht gestört … Ich fand das sogar eigentlich ganz gut so, weil man dann Zeit hatte … also Zeit, sich so seine Gedanken zu machen … und wenn der Kopf dann wieder frei war so gefühlt, dann konnt man wieder ganz easy weiterschauen (Carina, IV). Auch Elif mag es, dass sie ihre „Reaktionen halt dann immer gleich spontan hinschreiben“ (IV) konnte. Nur Marie fühlt sich durch das „stop and go“ (IV) in ihrem natürlichen Schauen eingeschränkt. Darüber hinaus greifen vereinzelte Jugendliche auf effiziente Strategien in der selbstständigen Auseinandersetzung mit HoC zurück. Carina erzählt bei‐ spielsweise von einem „Tool“ (IV), welches sie auf ihr Laptop geladen habe, um Netflix-Inhalte schneller abspielen zu können. Folglich habe sich die Dauer einer 50-Minuten-Folge auf ca. 35 Minuten reduziert. Mit den Worten, „Andernfalls hätte ich die Abgabetermine nicht einhalten können … Ich hab mit den Journals meistens einfach zu spät angefangen … und dann musste ich am Schluss echt richtig Gas geben“ (IV), erklärt die Schülerin ihre Strategie. Die Serie habe ihr trotz des Schnelldurchgangs Spaß gemacht und darüber hinaus sei dies für sie eine gute Übung hinsichtlich des Verständnisses von sehr schnell gesprochenem Englisch gewesen. Carinas Einträge lassen keinen Zweifel daran, dass die Schülerin HoC auch mit höherem Abspieltempo versteht. Während Carina also einen Serienmarathon in Höchstgeschwindigkeit praktiziert, bevorzugt die eher lernschwächere Angelica ein langsames Tempo. Die Freiheit der SuS, die Abspielgeschwindigkeit individuell bestimmen zu können, ist ein wichtiger Vorteil der Integration von Viewing Journals in den serienbasierten EU. Dies erklärt Angelica im Interview: Ehrlich gesagt, find ich Viewing Journals echt cool, weil so kann sich jeder konzen‐ trieren und äm … halt zu seinem eigenen Tempo arbeiten … und ich find des halt schon hilfreicher als irgendwie alle mitzuziehen, weil vielleicht kommt nicht jeder mit, wenn wir eine Serie im Unterricht angucken und dann sofort diskutieren und Fragen beantworten müssen. Also ich fand es mit so Journals viel besser, weil man Zeit hat, drüber nachzudenken und schwierige Sachen […] oder halt auch Wörter nachschauen kann. Und man hat ja im Unterricht trotzdem noch mit den andren drüber gesprochen (Angelica, IV). 352 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="353"?> Angelica lobt an den Viewing Journals also den Aspekt der Individualisierung, wodurch jede/ r Schüler/ in die Chance habe, mitzukommen und die Inhalte zu verstehen. Die Fähigkeit der SuS zum effizienten Umgang mit einer authentischen Serie zeigt sich auch in ihrer intuitiven Reaktion auf unbekannte Wörter, mit denen sie beim Schauen von HoC konfrontiert werden. 8.1.2.2 Sprachlicher Mehrwert: Förderung produktiver und rezeptiver Kompetenzen Durch ein begleitendes Viewing Journal, das von den SuS parallel zum Schauen von Serien oder auch Filmen bearbeitet wird, können sowohl deren rezeptive als auch deren produktive Kompetenzen gefördert werden. In Bezug auf letztere merkt Frau Potter an, dass „ein Viewing Journal ein hohes Potential zur Schulung bzw. zum Ausdruck der schriftlichen Fertigkeiten“ biete. Frau Potter führt dies auf das „persönliche, intime Format zur Dokumentation des persönlichen Verstehensprozesses“ zurück, welches für die SuS „sehr motivierend“ sei, „da sie Gelegenheit bekommen, ihre individuelle Wahrnehmung zu dokumentieren“ (IV). Dabei spielen volitionale Faktoren, wie das Bedürfnis, über den Text schreiben zu wollen, eine entscheidende Rolle. Aus dem Datenmaterial geht zudem hervor, dass die SuS bezüglich des Verfassens verschiedener Textsorten einen Lernzuwachs erfahren, was diese auf die unterschiedlichen Aufgaben‐ typen in den Viewing Journals zurückführen. Am häufigsten wird von den Se‐ minarteilnehmenden eine Vergrößerung ihrer Schreib-Kompetenz in folgenden Domänen festgestellt: (1) Verfassen von Interpretationen im Allgemeinen: Acht der SuS erklären im Interview, dass sie durch die Viewing Journals gelernt hätten, „wie man überzeugend interpretiert“ (Philip, IV). Dabei spielt die im Datenmaterial omnipräsente Tendenz des Verstehen-Wollens eine ent‐ scheidende Rolle: Die Seminarteilnehmenden erkennen, dass sie in Form von Interpretationen aktiv Bedeutung konstruieren müssen, um beispielsweise den Origami-Handlungsstrang in Staffel 1 entschlüsseln zu können. Leyla bringt dies auf den Punkt, indem sie festhält: Man versteht HoC halt nur, wenn man interpretiert … Man muss echt ständig mitdenken. Und die Viewing Journals haben mir da echt geholfen … die ham gezeigt, wo man so besonders aufmerksam sein muss und wo man am besten mal kurz Pause macht, anstatt einfach weiterzuschauen (Leyla, IV). 353 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="354"?> Die SuS wollen die Serie verstehen und entwickeln deshalb die Bereitschaft, Interpretationen zu verfassen, in denen sie sich trauen, das Gesehene individuell zu deuten. Aufgrund der Wertschätzung im Rahmen der positiven Feedback‐ kultur, die die Jugendlichen für engagierte Interpretationen erfahren, erkennen sie, dass sie mutig und kreativ sein dürfen. (2) Verfassen von Screenshot-Analysen: Die Viewing Journals zeichnen sich auch durch die darin abgebildeten Screen‐ shots aus, welche die SuS analysieren und interpretieren sollen. Im Viewing Journal zu Staffel 1 - dies kristallisiert sich bei der Datenauswertung deutlich heraus - verharren einige Seminarteilnehmende auf der ihnen sicher erschei‐ nenden deskriptiven Ebene und wagen sich nicht an die Interpretation heran. Aus diesem Grund werden Analyse und Interpretation von Standbildern mit den Jugendlichen gezielt im Unterricht praktiziert. Auch wenn die SuS die Auseinandersetzung mit Screenshots in den Viewing Journals als am denksowie zeitintensivsten erleben (vgl. Marie, Romina, Stefan, Sven, Leyla), entwickeln sie immer mehr Freude daran. Dies zeigt sich in der zunehmenden Quantität sowie Qualität der Einträge zu Standbildern in den Viewing Journals zu Staffel 2 und 3. „Nur wenn man sich bestimmte Screenshots genau anschaut … nur dann versteht man halt auch die Bedeutung davon. Also man muss halt als Zuschauer die Bilder interpretieren, sonst bringt es einem halt eigentlich nichts, die Serie zu schauen“, erklärt Leyla im Interview. Die Jugendliche sieht also - ähnlich wie ihre Mitschüler - in der Auseinandersetzung mit der kunstvoll inszenierten Bildsprache der Serie eine Bereicherung. Auch Pauleit (2010: 43) ist vom kreativen und produktiven Potential von Filmstandbildern im Unterricht überzeugt und beschreibt diese „als Initial für eine Ermächtigung der Zuschauer. Sie erlauben es den Zuschauern, in den Film einzugreifen bzw. am Handlungs- und Diskursfeld Film aktiv mitzuwirken […]. Diese Intervention der Zuschauer ist selbst ein ästhetisches Spiel“. (3) Verfassen von Argumenten zur überzeugenden Darlegung der eigenen Meinung: Mit sehr deutlichem Vorsprung bevorzugen die Jugendlichen solche Aufgaben, zu denen sie ihre persönliche Meinung äußern dürfen. Schreibaufträge dieser Art vermitteln den Lernenden nämlich am meisten das Gefühl einer authenti‐ schen Anschlusskommunikation an das Filmerlebnis. Philip erkennt: „Man kann die eigene Meinung immer hinschreiben, solang man sie gut begründen kann“ (IV). Dieses „gut [B]egründen“ der eigenen Meinung durch das Finden überzeu‐ gender Argumente können die SuS in ihren Viewing Journals an zahlreichen 354 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="355"?> Stellen trainieren. Dies bereitet den Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit den kontroversen Szenen der Serie HoC, die als authentische Schreibanlässe fungieren, Freude, was sich in ihren sehr ausführlichen Viewing Journal-Ein‐ trägen diesbezüglich widerspiegelt. Im Gegensatz zu den personal comments und argumentative essays, welche in der Sekundarstufe II laut Einschätzung der Seminarteilnehmenden geradezu exzessiv geübt werden, bringen die Viewing Journal Tasks entscheidende Vorteile mit sich: Die SuS sind bei der Bearbeitung nicht an eine feste Struktur gebunden; so müssen die Jugendlichen beispiels‐ weise nicht zwingend „drei Argumente dafür und zwei dagegen finden, wie des halt bei so comments immer ist. Manchmal muss man sich dann die Gründe fast schon … ja … fast so’n bisschen aus der Nase ziehen, um ehrlich zu sein, nur um auf diese Zahl zu kommen“ (Florian, IV). Stattdessen sind die Seminarteilnehmenden in den Viewing Journals diesbezüglich frei und dürfen so viele Argumente festhalten, wie es ihnen sinnvoll erscheint. Auch ein starkes und gut begründetes Argument kann ausreichen, um zu überzeugen. Die SuS wissen, dass ihre Rezipienten (in diesem Fall Frau Potter und ich) sehr interessiert daran sind, was sie denken und fühlen. Das Wissen darüber, dass ihre Meinung ernst genommen und geschätzt wird, wirkt sich positiv auf die Qualität der Schreibprodukte aus. Dementsprechend entsteht bei den Lernenden ein echtes Mitteilungsbe‐ dürfnis, wobei einige SuS (darunter Carina, Leyla, Emma und Anastasia) von Flow-Erlebnissen bei der Bearbeitung ihrer Viewing Journals berichten. Da der Begriff „Flow“ bei der Auswertung der Daten häufig auftaucht, möchte ich kurz darauf eingehen. Hänze (1998: 84 f) erhebt Flow-Erlebnisse „zum Charakteristikum der intrinsischen Motivation“ und definiert Flow als ein freudevolles Aktivitätsgefühl, bei dem man völlig in der Sache, mit der man sich beschäftigt, aufgeht; eine Aufmerksamkeit, die ganz von der Aufgabe absorbiert wird und die eigene Person vergessen läßt. Beim Flow ist man so in die Tätigkeit vertieft, daß sie spontan wird und fast automatisch abläuft (Hänze 1998: 85). Aufgrund dieses „völligen Aufgehens in einer Tätigkeit“ (ebd.: 133) finde ein Kompetenzzuwachs nahezu nebenbei statt. Flow könne somit als „das Äußerste“ (ebd.: 86) gesehen werden, „wenn es darum geht, die Emotionen in den Dienst der Leistung und des Lernens zu stellen“ (ebd.: 86). Ebendies geschieht in der Auseinandersetzung mit HoC: Die Emotionen der SuS sind ihrer Leistung und ihrem Lernen zuträglich, womit HoC stark „[f]lowoptimierend“ (ebd.: 87) wirkt. Dies trifft auf die Serie auch insofern zu, als durch jeden Satz [bzw. jede Szene und jeden Dialog] ein Informationsbedürfnis erzeugt [wird], das im nächsten Satz wieder befriedigt wird. Der schnelle Wechsel 355 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="356"?> von Provozieren und Sättigen von Neugier und Wissensdurst beim Lerner ist wohl das, was uns […] in einen Lernprozeß hineinzieht und fesselt (ebd.). Dadurch, dass die SuS bei der Rezeption von HoC in den Bann der Serie gezogen werden und emotional stark involviert sind, entsteht bei ihnen ein Mitteilungsdrang, welcher ebenfalls in Flow-Erlebnissen beim Schreiben über das Gesehene resultieren kann. Hier findet ein ganzheitlicher Prozess in der Auseinandersetzung mit der Serie statt, da die SuS durch die Viewing Journals hinsichtlich ihres Denkens, Fühlens und Handelns aktiviert werden. Börner und Vogel (2004: IX) betonen die Wichtigkeit solcher Lernprozesse, wobei „der Entwicklung und Versprachlichung der Gefühle […] ein wesentlicher Platz eingeräumt werden“ müsse. Die Flow-Erlebnisse beim Schreiben über HoC re‐ sultieren folglich aus einem Flow-Gefühl beim Schauen der Serie. Die SuS bauen dabei nicht nur ihre produktiven, sondern auch ihre rezeptiven Kompetenzen aus, da sie genau hinschauen und hinhören wollen, um nichts zu verpassen. Die Mehrheit der Jugendlichen betont, dass sie durch die Viewing Journals für filmische Details und das komplexe Zusammenspiel kinematographischer Elemente sensibilisiert worden sei. Dies zeigt sich beispielsweise an Emma, die das Viewing Journal zu Staffel 1 noch als anstrengend und eher langwierig empfindet, aber ihre Meinung im Laufe des W-Seminars ändert, da sie den Mehrwert der Viewing Journals erkennt: Ich hab wirklich gemerkt, dass, wenn ich was besser und tiefer gemacht hab im Viewing Journal, weiß ich genau, dass ich’s viel besser im Gedächtnis hab … Jetzt zum Beispiel von den Folgen, die ich […] nicht so intensiv geguckt hab, weiß ich halt auch viel weniger als von denen, wo ich mehr hingeschrieben hab und mir mehr Gedanken gemacht hab. […] Ich kann’s mir besser merken, wenn ich’s aufschreiben muss, weil dann … dann bleibt’s einfach besser im Kopf. Dann merk ich mir auch Wörter und so Satzkonstruktionen besser … grad wenn ich so Szenen öfter anschauen musste (Emma, IV). Emma kommt also zu dem Schluss, dass die intensive Arbeit mit den Viewing Journals ihr zu einer langfristigen Memorierung von Sprache und Inhalt ver‐ holfen habe. Eine ähnliche Tendenz stellen zahlreiche SuS (z. B. Leyla, Stefan, Sven, Romina, Anastasia, Philip und Florian) bei sich fest. Auch Frau Potter ist sich sicher, dass durch die Viewing Journals ein „Nachdenken über spezielle Wirkungsweisen des AV-Mediums“ angestoßen worden sei, wobei folgende Fragen im Zentrum stehen würden: „Was sehen wir wie warum? Warum fühlen wir wie? “ (Frau Potter, IV). Das aufmerksame Lesen der Serie und die damit einhergehende Reflexion seien besonders bei den rätselhaften und mysteriösen Szenen von HoC unerlässlich: „Vor allem bei interpretatorischen Leerstellen 356 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="357"?> haben die Journals Spielraum geboten für die Meinungen der Schüler und ihnen durch dieses Angebot auch vermittelt, dass ihre Sichtweise wertgeschätzt und ernst genommen wird“ (Frau Potter, IV). 8.1.2.3 Ermöglichung einer bedarfs- und schülergerechten Ausrichtung des Unterrichts Ein weiterer wichtiger Vorteil des Einsatzes von Viewing Journals ist, dass die Lehrkraft bei der aufmerksamen Sichtung der Viewing Journal-Einträge aufschlussreiche Einblicke in die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit der Serie erhält. Auf diese Weise kann die Lehrkraft nachvollziehen, welche Szenen für die Lernenden besonders schwierig, verwirrend oder komplex waren. Dies lässt wiederum wertvolle Rückschlüsse für die Planung der nächsten Unterrichtsstunden zu, wobei folgende Fragen bei der Rezeption der Viewing Journal-Einträge eine wichtige Rolle spielen sollten: ● An welchen Stellen kommt es beim Schauen der Serie mehrheitlich zu Missverständnissen oder Verständnisschwierigkeiten auf Schülerseite? ● Welche Fragen bleiben in den Viewing Journals unbeantwortet? Woran könnte dies liegen (inhaltliche, sprachliche, interkulturelle oder andere Gründe)? ● Wie reagieren die SuS auf Tabubrüche, welche in der Serie gezeigt werden? Könnten die SuS davon profitieren, diese nochmal im Plenum zu themati‐ sieren? ● Welche sprachlichen Fehler treten in den Viewing Journals gehäuft auf ? Handelt es sich dabei um slips oder errors? Könnte es den SuS helfen, diese im Unterricht anzusprechen? Beim Einsatz von Viewing Journals darf es folglich nicht bei der Konzeption durch die Lehrkraft und einer anschließenden Bearbeitung durch die SuS bleiben. Die Lehrkraft muss die von den Jugendlichen im Idealfall sorgfältig ausgefüllten Viewing Journals mit konstruktivem Feedback versehen und aus‐ werten (z. B. anhand der aufgelisteten Fragen), um daraus Rückschlüsse für die im nächsten Schritt anstehende Unterrichtsplanung ableiten zu können. In den Folgestunden sollten nämlich solche Szenen im Unterricht aufgegriffen und mit den SuS besprochen werden, welche - in welcher Form auch immer - die Jugendlichen vor Herausforderungen stellten. Nur so kann sichergestellt werden, dass der filmbzw. serienbasierte EU bestmöglich auf die individuellen Bedürfnisse der SuS zugeschnitten ist. Auf diese Weise wird ein für die Jugend‐ lichen lernförderlicher Kreislauf in Gang gesetzt, von welchem sie bei der Bearbeitung des nächsten Viewing Journals profitieren können. 357 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="358"?> Abb. 35: Potential von Viewing Journals im serienbasierten EU (eig. Darst.) Ein Kreislauf entsteht, da nicht nur die Lernenden, sondern auch die lehrende Person von einer gemeinsamen Besprechung komplexer Szenen im EU profi‐ tiert. Entsprechend der Reaktionen und Rückmeldungen der SuS kann man als Lehrkraft beispielsweise folgende Fragen besser einschätzen: Wo brauchen die SuS Hilfestellungen und welche Art der Hilfe ist sinnvoll? Welche Denkanstöße empfinden die Jugendlichen als motivierend? 8.1.2.4 Potential für interkulturelles Lernen Mit einer realitätsnahen Politdramaserie wie HoC geht ein großes interkultu‐ relles und insbesondere (gesellschafts-)politisches Lehr-/ Lernpotential für den EU einher, was bereits aufgezeigt wurde. Bei der Konzeption der Viewing Journals konnten politische Anspielungen, Begriffe und Institutionen, die in der Serie meist eher beiläufig erwähnt werden, aufgegriffen und mit einem entsprechenden Rechercheauftrag verbunden werden. Auf diese Weise sollten die SuS zur weiterführenden Auseinandersetzung mit politischen Themen und Termini ermutigt werden. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich einige Beispiele für politische und landeskundliche Rechercheaufträge im Anschluss an verschiedene HoC-Szenen darlegen: (1) Kurz nachdem Frank Underwood zum Vice President ernannt wurde, skizziert er während einer Sitzung einen Stier und richtet dabei folgendes Aside an die Zuschauenden: „There are two types of Vice Presidents: doormats and matadors. Which do you think I intend to be? “ (Beginn von Chapter 16: S02E03). 358 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="359"?> 120 Eine sehr gewitzte Antwort auf die Frage gibt Philip in seinem Viewing Journal: „Frank is clearly a matador. A matador is also used to describe someone who fights with bulls and Frank clearly does this with Raymond Tusk. Raymond Tusk is a ‘bull’ which he is fighting against. Also, this is a very clever word play, near Anagrams. Door mats. Mats of doors. Mat a door. Matador. So close and yet so far. J […]“. Philip zeigt hier auf gekonnte Weise den Wortwitz des Beinah-Anagramms auf. Abb. 36: Matador-Aside (Chapter 16: S02E03) An diese Szene schließen sich im Viewing Journal zwei Fragen an, von denen die erste auf den sprachlichen Witz des Asides abzielt („What two stylistic devices does Frank employ in his aside? Can you explain their function? “ 120 ), während mit der zweiten Frage das politische Lernen der SuS unterstützt werden soll: „Doormat or matador? What are the jobs and functions of the Vice President? Do some research”. Leyla hält dazu Folgendes in ihrem Viewing Journal fest: The Vice President only has one official duty. That is to preside over the Senate and to cast a vote in the Senate if there is a tie. However, recently the duties have been seen to include being a member of the President’s Cabinet, or a top advisor to the President. Also, the 25 th Amendment says that the Vice President can act as President if the President is incapacitated (Leyla, VJ 2). Leyla erwähnt wichtige politische Instanzen (z. B. the Senate, the President’s Cabinet) und Termini (wie tie und Amendment). Darüber hinaus überzeugt ihre Wortwahl, da sie idiomatische Kollokationen gebraucht (z. B. to preside over oder to cast a vote). (2) Ein weiterer Arbeitsauftrag zu Chapter 16 (S02E03) lautet: „Curtis Haas, a Republican Senator, threatens to filibuster the main bill. Please find out 359 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="360"?> what a filibuster is”. Erneut zeigt Leylas Antwort, wie engagiert sich die Schülerin mit politischen Sachverhalten in Eigenregie auseinandersetzt: A filibuster is a delaying tactic used in the United States Senate to block a bill, amendment, resolution or other measure by preventing it from coming to a final vote on passage. Filibusters can happen only in the Senate since the chamber’s rules of debate place very few limits on Senators’ rights and opportunities in the legislative progress (Leyla, VJ 2). (3) In eine ähnliche Richtung gehen folgende Rechercheaufträge: „In Chapter 25, the word ‘impeachment‘ is used several times. Please do some research on the internet and write down a definition for the political term. Can you find any examples of impeachment in US history? ” Neben einer weiteren Begriffsrecherche sollen die SuS sich hier auf die Spuren der politischen Geschichte der USA begeben; hier wurden von den Seminarteilnehmenden in den Viewing Journals beispielsweise der Watergate Scandal und die Clinton-Levinsky Affäre genannt. (4) Im Anschluss an Chapter 17 (S02E04) bekommen die Jugendlichen folgende Aufgabe zum Thema abortion in the USA: „Why does Claire feel the need to lie? Please do some research and make notes: Is abortion legal in the USA? ” Auf diese Weise soll eine Sensibilisierung für das in den USA kontrovers diskutierte Thema Abtreibung initiiert werden. Die Darstellung der Poli‐ tikergattin Claire Underwood, deren Leben sich ändert, nachdem sie ihre Abtreibung in einem Live-Interview zugegeben hat, ist in diesem Kontext spannend und aufschlussreich. (5) Am Ende der zweiten Staffel wiederholt der Anwalt von Raymond Tusk, ein politischer Gegenspieler Franks, immer wieder die Aussage „My client exercises his right to plead the 5th Amendment“. Davon ausgehend sollen die SuS die Bedeutung dieses juristischen Statements recherchieren. Vergleichbare Anschlussaufgaben gibt es im Viewing Journal zu Staffel 3 für folgende Abkürzungen und Begriffe: FEMA, NRA, Stafford Act. (6) Beliebt sind bei den SuS auch solche Rechercheaufträge, die ihnen die Realitätsnähe von HoC vor Augen führen, was beispielsweise bei folgender Fragestellung zu Chapter 29 (S03E03) der Fall ist: „The fictional Russian President Viktor Petrov is clearly based on the real Russian President Vladimir Putin. Why did the producers of House of Cards choose to establish this connection between fiction and reality? ” Leyla schreibt dazu im Viewing Journal zu Staffel 3: Since there have been and still are many moments in HoC that are relatable and reality orientated this is one more of them. I think the producers’ intention is 360 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="361"?> to make the series as authentical as possible […] and maybe even to fascinate them because I was honestly very impressed when I saw the resemblance (Leyla, VJ 3). Das Viewing Journal-Konzept kann selbstverständlich für verschiedene Filme und Serien adaptiert werden: Es bietet sich unter anderem an, um den SuS bei der außerschulischen Rezeption interkulturelle sowie landeskundliche Be‐ sonderheiten durch entsprechende Rechercheaufträge bewusst zu machen. Als Lehrkraft muss man durch aufmerksames Schauen Vorarbeit leisten, indem man zu (inter-)kulturell relevanten Aspekten sowie Begriffen entsprechende Aufgaben formuliert. Am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC konnte gezeigt werden, dass die SuS durch solche Viewing Journal Tasks den nötigen Anstoß zur selbstständigen Recherche erhalten, was zu einem nachhaltigen politischen Lernzuwachs führt. Emma bestätigt dies im Interview: […] Recherchieren fand ich zum Beispiel […] ganz gut … Dieses filibuster oder impeachment und so was, weil des hab ich jetzt auch öfters gemerkt, wenn ich was anguck, das kommt öfter vor … auch in Büchern, die ich jetzt grad für’s Seminar lese … Beim Recherchieren hat man dann halt für sich selber so nen Freiraum und konnt dann drüber lesen und sich selber informieren (Emma, IV). Abschließend bleibt festzuhalten, dass die mit dem Einsatz von Viewing Journals verbundenen Chancen gegenüber den Grenzen überwiegen, was aus dem Datenmaterial deutlich hervorgeht: Es gibt mehr als doppelt so viele positive Rückmeldungen wie kritische Einwände von Seiten der SuS (81 zu 38 Kodie‐ rungen). Frau Potter äußert sich ausschließlich lobend hinsichtlich der Arbeit mit Viewing Journals, da diese in ihren Augen als entscheidende Hilfestellung beim Schauen der Serie fungieren. Dies gilt besonders für die Aufgaben zu Politik und Landeskunde, welche Frau Potter als „sehr hilfreich“ einschätzt, „da hier durch die geforderte eigenständige Rechercheleistung sowohl ein Wissenszuwachs allgemein als auch ein Verständniszuwachs in Bezug auf die Serie gewährleistet wurde“ (IV). Folgende Punkte, welche ich aus den empirischen Daten meiner Studie ab‐ leite, sollten für einen erfolgreichen Einsatz von Viewing Journals berücksichtigt werden: (1) Zunächst sollte in Erfahrung gebracht werden, ob die SuS-Gruppe bereit ist, sich außerhalb des Unterrichts vertieft mit einer Serie zu beschäftigen. Wenn diese Grundvoraussetzung nicht erfüllt ist, machen alle weiteren Überlegungen keinen Sinn. In den Interviews betonen zahlreiche Jugendliche, dass sie den Einsatz von Viewing Journals für die Arbeit mit Serien auf jeden 361 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="362"?> 121 Tatsächlich hat das Viewing Journal zu Staffel 1 eine Länge von 29 Seiten, wobei zahlreiche Screenshots und vorgefertigte Zeilen zum Schreiben eingefügt wurden. Im Schnitt wurden pro Kapitel sieben bis zehn Fragen gestellt. Einige SuS (Laura, Emma, Marie) empfinden dies als zu lang, während andere Jugendliche keinerlei Probleme mit der Länge haben (Leyla, Florian, Carina, Stefan, Anastasia, Romina). Die Viewing Journals zu Staffel 2 und 3 kürzte ich erheblich, da diese unter der Schulzeit zum Einsatz kamen. Fall weiterempfehlen würden - aber nur unter folgender Bedingung: „Das Serienschauen muss einem grundsätzlich schon Spaß machen“ (Carina, IV). (2) Den SuS muss ausreichend Zeit eingeräumt werden, um die Serie in Ruhe schauen und sich an die Arbeit mit einem Viewing Journal gewöhnen zu können. Wie bereits erwähnt, erhielten die Seminarteilnehmenden das Viewing Journal zu Staffel 1 als „Hausaufgabe“ zur Erledigung in den Sommerferien. Diesbezüglich kamen keinerlei Einwände von Seiten der SuS - im Gegenteil: Ein Großteil der Lernenden war dankbar, dass sie genügend Zeit zur Verfügung hatten. Stefan hält diesbezüglich folgenden Wunsch in der ersten Seminarsitzung fest: „Ich wünsche mir, dass Film‐ tagebücher nicht unter der Schulzeit in einer derart großen Länge (30 Seiten) 121 aufgegeben werden, da dies leichter in den Ferien zu erledigen ist (wegen der freien Zeit)“ (FB). Ähnlich sehen das auch andere SuS wie beispielsweise Leyla: „Ich fand’s sogar sehr gut, dass wir unser erstes Journal ja auch in den Sommerferien bekommen haben … das heißt, wir konnten uns so ein bisschen an dieses Niveau [der Serie und der Aufgaben in den Viewing Journals] gewöhnen“ (IV). (3) Ein weiterer Punkt, welcher bei der Arbeit mit Viewing Journals unbedingt berücksichtigt werden sollte, ist, dass den Jugendlichen eine Benotung ihrer Leistung in Aussicht gestellt wird. Dies ist nicht als Angst- oder Druckinstrument gedacht, sondern soll den extrinsischen Motivations‐ faktor - z. B. als Chance, eine gute Note zu bekommen, - erhöhen. (4) Schließlich geht aus der Studie eindeutig hervor, dass die SuS Viewing Journals in digitaler Form (den handschriftlich zu bearbeitenden Journals) vorziehen. Bei den digitalen Viewing Journals verzichtete ich bewusst auf Zeilenangaben, um den Jugendlichen die Freiheit einzuräumen, so viel schreiben zu können, wie sie möchten. Interessanterweise nutzen die Seminarteilnehmenden diese Möglichkeit für noch ausführlichere Antworten. (5) Man sollte den SuS so viel kreativen Freiraum zugestehen wie möglich (z. B. durch möglichst offene Fragen, zu denen die Lernenden ihre Meinung und Gedanken äußern dürfen). Dies wirkt sich positiv auf ihr Schreibverhalten aus. 362 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="363"?> 8.2 Anforderungen an die Planung, Konzeption und Durchführung eines kompetenzorientierten Englischunterrichts mit einer authentischen Politdramaserie wie House of Cards An dieser Stelle möchte ich auf die theoretischen Vorüberlegungen verweisen, welche ich in Kapitel 3.4 zu den neuen Anforderungen an filmbasierten EU in einer sich wandelnden Medien(nutzer)landschaft skizziere. Im Folgenden soll die Theorie durch aus der Empirie gewonnene Einblicke ergänzt, konkretisiert und erweitert werden. 8.2.1 Zwei Lager im Englischunterricht: „Generation Netflix“ vs. „Generation Notflix“ Eine zentrale Erkenntnis, welche im Rahmen der vorliegenden Studie gewonnen werden konnte, bezieht sich auf zwei unterschiedliche Schülerlager, die den EU künftig mit großer Wahrscheinlichkeit vor wachsende Herausforderungen stellen werden. Einerseits gibt es die SuS, die nur (oder fast nur) im EU mit der Fremdsprache in Berührung kommen. Diese Jugendlichen möchte ich im Folgenden als „Generation Notflix“ kategorisieren, wobei die Wortbestandteile not und flix bzw. flicks übersetzt bereits für sich sprechen: keine Filme. Es handelt sich bei der „Generation Notflix“ also um solche SuS, die ihre Freizeit ohne Netflix und damit ohne das tägliche Schauen von Filmen und Serien auf Englisch verbringen. Die „Generation Notflix“ stellt derzeit das zahlenmäßig dominierende Lager der Schülerschaft im EU dar. Im Rahmen der Studie kristallisiert sich jedoch eine zweite Gruppe von Jugendlichen heraus, an deren Bedürfnissen der aktuelle EU vorbeigeht; diese Gruppierung soll als „Generation Netflix“ bezeichnet werden. Die „Generation Netflix“ möchte ihr Englisch verbessern und perfektionieren, indem sie dem Schauen von Filmen und Serien in Originalsprache bewusst Zeit widmet. Das heißt nicht, dass diese Jugendlichen ausschließlich den Streamingdienst Netflix nützen - Netflix dient hier als Überbegriff für sämtliche VoD-Portale und impliziert auch Anbieter bzw. Plattformen wie Amazon Prime, Sky, YouTube usw. Da sämtliche Seminarteilneh‐ mende zum Zeitpunkt des Interviews ein Netflix-Account besitzen und dieses auch extensiv nutzen, erscheint im Kontext der Studie der Begriff „Generation Netflix“ (besonders in Gegenüberstellung mit der „Generation Notflix“) sinnvoll und zugleich einprägsam. Hinsichtlich der Spaltung in die beiden Lager „Netflix vs. Notflix“ zeichnet sich die zehnte Klasse als Indikator für den EU ab: Während die „Generation Notflix“ keine nennenswerten Erfolge erzielt, spricht die „Ge‐ neration Netflix“ auffallend gutes Englisch und hat im Umgang mit zeitgemäßen authentischen Texten keinerlei Probleme. Die „Generation Netflix“ verbessert ihre fremdsprachlichen kommunikativen Kompetenzen durch ihr tägliches 363 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="364"?> intensives Sprachbad also zunehmend, wohingegen die anderen SuS, die sich außerschulisch nicht mit Englisch beschäftigen, automatisch zurückfallen. Die Diskrepanz zwischen übermäßig leistungsstarken und in der Fremdsprache sou‐ verän agierenden SuS und solchen, die auf gleichbleibend durchschnittlichem Niveau verharren (oder darunter abrutschen), wird damit immer größer. Dies stellt Englischlehrkräfte vor neue Herausforderungen, da sie Lernende weder überfordern noch unterfordern wollen. Leyla ist dieses Dilemma im EU bewusst und sie erklärt, dass „halt viele Leute […] nicht mitkommen im Unterricht und dann ist es halt für diejenigen, die es halt verstehen, schon n bisschen langweilig. Man lernt halt nichts Neues und macht irgendwie immer dasselbe“ (IV). Die zentralen Unterschiede zwischen der „Generation Netflix“ und der „Generation Notflix“ können folgendermaßen gegenübergestellt werden: SuS, die ihr Englisch optimieren möchten ⇒ außerschulische Beschäftigung mit der Fremdsprache durch tägliches Schauen von Serien auf Englisch (vorzugsweise über VoD-Anbieter wie Netflix) ⇒ bewusstes Nutzen der Serien als Lernmedium und Sprachmodell bezüglich Vokabeln, Aussprache und idiomatischen Ausdrucks ⇒ konstante Verbesserung ihrer Englischkenntnisse SuS, für die Englisch nur ein Schulfach ist ⇒ keine außerschulische Beschäf‐ tigung mit der Fremdsprache; Film- und Serienkonsum in der Muttersprache ⇒ keine Eigeninitiative hinsicht‐ lich des Ausbaus von Wortschatz oder Aussprache ⇒ stagnierende Englischkennt‐ nisse ⇒ Zurückfallen hinter der „Genera‐ tion Netflix“ SuS empfinden den regulären EU zu‐ nehmend als langweilig und ihre Be‐ dürfnisse verfehlend. SuS empfinden vor allem den Umgang mit authentischen Texten als große Herausforderung. Abb. 37: „Generation Netflix“ vs. „Generation Notflix“ (eig. Darst.) 364 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="365"?> 122 Mit „typisches Schulenglisch“ meine ich ein maximal durchschnittliches fremdsprach‐ liches Niveau, auf dem jene SuS verharren, für die Englisch eine Fremdsprache bleibt, mit der sie lediglich im Rahmen des EU und bei der Erledigung von Hausaufgaben in Berührung kommen. Dementsprechend drücken sich die SuS der „Generation Notflix“ weniger differenziert aus und sind im Umgang mit authentischen Texten oftmals überfordert. Diese Lernenden sind stärker auf Didaktisierungen angewiesen und tun sich insbesondere mit Varietäten des Englischen jenseits der Standardsprache schwer. Die tabellarische Gegenüberstellung soll jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass die „Generation Notflix“ nur die Lernenden mit schlechten Noten im Fach Englisch einschließt. Bei den Jugendlichen der „Generation Notflix“ han‐ delt es sich zwar auch um die (eher) schwachen Fremdsprachenlerner/ innen, aber in erster Linie sind damit jene durchschnittlichen SuS gemeint, die ein typisches Schulenglisch 122 sprechen und bis dato in der Regel den Großteil der Schülerschaft im EU ausmachen. Die „Generation Netflix“ hingegen hebt sich in ihrem fremdsprachlichen Niveau deutlich von der „Generation Notflix“ ab. Dies bestätigt die erfahrene Lehrkraft Frau Potter, die im Vergleich zu ihren bisherigen Elft- und Zwölftklässlern „eine extreme Verbesserung der Hör- und auch Sprechkompetenz durch verstärkten Kontakt mit authentischem Sprachmaterial“ (IV) im HoC-Seminar feststellt. Die muttersprachlich anmu‐ tende Aussprache einiger Schülerinnen (hier stechen besonders Emma, Marie, Anastasia und Romina hervor) beeindruckt die Lehrkraft und mich in den Seminarsitzungen. Emma sieht einen klaren Zusammenhang zwischen den Serien, die sie in ihrer Freizeit stets auf Englisch schaut, und ihrem near-native Akzent: Also ich merk das auch, wenn ich jetzt dann zum Beispiel […] was Britisches anschau, danach hab ich‘s im Kopf, weil … ich denk teilweise sogar Englisch … und dann hab ich‘s auf einmal mit nem britischen Akzent, des ist ganz komisch … Ich glaub, ich bin da ziemlich von dem beeinflusst, was ich grad schau … Ich nehm des auf und kann das dann imitieren (Emma, IV). Meist schaut Emma - wie auch ein Großteil der übrigen Seminarteilnehmenden - amerikanische Serien auf Netflix, womit sich ihr äußerst überzeugender ame‐ rikanischer Akzent erklären lässt. Doch nicht nur im mündlichen, sondern auch im schriftlichen Ausdruck entfalten die Jugendlichen der „Generation Netflix“ differenzierte sprachliche Fähigkeiten, die die Erwartungen an angehende Hochschulabsolventen bei weitem übertreffen (vgl. Frau Potter, IV). Von den 15 Seminarteilnehmenden können elf Jugendliche eindeutig der „Generation Netflix“ zugeordnet werden. Laura spricht unabhängig von Streaming-Diensten hervorragend Englisch, weil sie im Rahmen eines Schüleraustausches ein Jahr 365 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="366"?> bei einer Gastfamilie in den USA verbrachte. Sabrina steht zwischen „Generation Netflix“ und „Generation Notflix“, da sie Netflix zwar immer wieder nutzt und Serien dann auch meist auf Englisch schaut - jedoch steht der Ausbau ihrer fremdsprachlichen Kompetenz dabei weniger im Fokus als bei den Jugendli‐ chen der „Generation Netflix“. Angelica und Nina schauen selten Serien in Originalsprache, nützten Netflix vor dem W-Seminar nicht, verfügen „nur“ über durchschnittliche Schulenglischkenntnisse und gehören deshalb der „Genera‐ tion Notflix“ an. Folgendermaßen unterscheiden sich Viewing Journal-Einträge der „Generation Netflix“ von Einträgen der „Generation Notflix“: Aufgabenbeispiel im Viewing Journal am Beispiel von Marie am Beispiel von Nina Season 2, Chapter 15 Please analyse the screen‐ shot and interpret Frank’s aside. Vgl. Auch hier mit In this picture one can see Frank from the worm ´s eye view. He´s wearing a suit and underneath a white shirt and a blue tie around his neck. On the left side of the picture you can see his wrist and his hand. On his ring finger there is a thick silver ring. In the lower right corner is a book with Frank´s left hand laid down onto it. This specific part of the picture is blurred. The main focus is on his face. Another thing is that around his head the light is brighter and the four corners are darker, so it could even slightly look as though there was some sort of a small halo around his head. He seems pretty content with himself in this photograph. As he says he´s now only “one heartbeat away” from where he wants himself to be I can only imagine that he could jump for joy. I assume that Frank ´s aside means that he doesn´t really think democracy is that big of a deal, I guess he thinks it is weak and so easily manipulated, which it is by him of course. But democracy wouldn´t be overrated if people like him wouldn´t keep pulling the strings behind people ´s back but rather play with open cards. He has become the vice president without people voting for him even though his presidency takes place in a democratic society. He tells us that there are a lot of things especially bigger things that we have no impact on at all, but we still think that everything that happens in a democracy is on us. It is not even a democracy as it is supposed to be and we are just little insignificant figures who are ruled by powerful people who are above us which this theory is supported by the angle because we are looking up to Frank. 366 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="367"?> Maries Eintrag ist mehr als doppelt so lang wie Ninas und auch inhaltlich sowie sprachlich zeigen sich Unterschiede. Vor allem Ninas Screenshot-Analyse fällt defizitär aus, da sie lediglich die Perspektive kurz erwähnt. Marie hingegen verknüpft ihre ausführ‐ liche Analyse mit einer schlüssigen Interpretation. Die Wortwahl Maries ist dabei präzise und eloquent, während Ninas Darlegung von Wortwiederholungen geschwächt wird (z. B. „things“ und „democracy“) und ihre Interpretation wenig aussagekräftig ist. Aufgabenbeispiel im Viewing Journal am Beispiel von Marie am Beispiel von Sabrina Season 2, Chapter 17 Positionierung zu Claires Interview-Szene (Themen des Interviews: Abtreibung, Vergewaltigung, Sein-Schein-Illusion) I think her performance was ama‐ zing! ! It must be rather complex, difficult and taxing to answer an interviewer´s questions live to a nation as big as the United States and sounding so sophisti‐ cated and composed on camera. In particular regarding the bits when you could tell every other person would get uncomfortable being asked on camera. She ma‐ nages everything so well in this interview. Huge respect for her in this interview. (apart from the lie she told about the abortion). She´s a very headstrong, indepen‐ dent woman. She´s also very put together in front of others and I guess also sometimes in front of herself. Feelings don´t control her, but she controls them. Which doesn ´t mean they don’t get to her but she´s the one to “pause” her feelings or whatever she´s going through and continue whatever she has to do with an absolute brilliance at this metier. She seems so natural and honest like she isn’t always the tough woman. “I started to cry and my daddy picked me up and he wrapped his arms around me…” I saw a different side from her and that makes me like her more than before. She’s honest, tough but has somehow a warm space in her heart that makes her such a beautiful character. She’s also very independent. Maries Eintrag zeichnet sich durch die gehobene (z. B. „taxing“, „so‐ phisticated and composed“, „headstrong“, „metier“) und abwechslungs‐ reiche Wortwahl aus. Sabrina hingegen wiederholt sich in ihrer Adjek‐ tivwahl („honest“ und „tough“), wodurch ihr Text leicht repetitiv und weniger elegant klingt. Die Unterschiede in Stil und Bearbeitungstiefe treten im Vergleich der Einträge deutlich hervor. Abb. 38: Konkretisierung der Gegenüberstellung „Generation Netflix“ vs. „Generation Notflix“ (eig. Darst.) 367 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="368"?> Der Vergleich der Viewing Journal-Einträge der „Generation Netflix“ mit denen der „Generation Notflix“ zeigt zudem, dass die Notflix-Schülerinnen weitaus mehr Fragen unbeantwortet lassen oder anstelle einer Antwort Äußerungen wie „I actually honestly don’t even understand his plan L“ (Nina, VJ 1) oder „I really don’t know“ (Sabrina an einigen Stellen in ihren Viewing Journals) notieren, die ihre Verständnisschwierigkeiten bei der Rezeption der Serie wi‐ derspiegeln. Auch weist das Datenmaterial der Notflix-Schülerinnen deutlich mehr Rechtschreibfehler (z. B. „powerfull“, „charakter“, Nina VJ 1; „definetly“ statt definitely, Sabrina VJ 1 & 2) und Grammatikfehler (z. B. „I don’t knew why did that“, Nina VJ 1; „They attack each other verbal“, Sabrina VJ 1) auf als die Einträge der „Generation Netflix“. Die jedoch auffälligste Beobachtung bei der kontrastiven Analyse ist, dass die SuS der „Generation Netflix“ sich weitaus intensiver, tiefgehender und mit mehr Varianz sowie Souveränität im sprachlichen Ausdruck mit HoC auseinandersetzen. Zweifellos ist das im W-Seminar vorherrschende Verhältnis, elf SuS der „Generation Netflix“ und nur vier Jugendliche der „Generation Notflix“, eher nicht bzw. nicht zwingend repräsentativ für den regulären EU. Das Verhältnis kann damit erklärt werden, dass sich hauptsächlich solche Jugendliche für das Seminar entschieden, die das Schauen von Netflix-Serien auf Englisch schon länger in ihrer Freizeit praktizierten. Aus diesem Grund kann man von einer mit der Thematik des Seminars einhergehenden Präselektion bezüglich der Untersuchungsteilnehmenden sprechen. Hinsichtlich des Verhältnisses der „Generation Netflix“ zur „Generation Notflix“ im regulären EU können an dieser Stelle nur Vermutungen angestellt werden: Wahrscheinlich dürfte das Verhältnis hier nicht 11: 4, sondern eher 4: 11 sein. Diesbezüglich sind künftig weiterführende und größer angelegte empirische Studien nötig, die die Entwick‐ lung der „Generation Netflix“ im Auge behalten. Im Kontext meiner Studie wird deutlich, wie stark intrinsisch motiviert die Lernenden sind, ein möglichst perfektes Englisch zu sprechen. Dies zeigt z. B. folgende Aussage Philips: Englisch ist halt das Fach, das eigentlich … mmh, also wenn man‘s genau nimmt, dann ist es eigentlich echt das wichtigste Fach! Weil Englisch wird man IMMER brauchen. Mit Englisch kommt man halt überall zurecht … und man braucht‘s auch für viele Studiengänge … und für die Medien natürlich [lacht] (Philip, IV). Unabhängig vom genauen Prozentsatz der „Generation Netflix“-SuS im derzei‐ tigen EU steht fest, dass den Bedürfnissen dieser Gruppe Rechnung getragen werden muss: Ebenso wie leistungsschwache Lernende die nötige Unterstüt‐ zung erfahren müssen, haben auch leistungsstarke Jugendliche ein Anrecht auf die bestmögliche Förderung ihrer fremdsprachlichen Kompetenzen (vgl. 368 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="369"?> 123 Zugleich sollte auch die „Generation Notflix“ gefördert werden: Zweifellos konsu‐ mieren zahlreiche Notflix-Jugendliche ebenfalls Serien; im Unterschied zur „Generation Netflix“ findet dieser Konsum jedoch in deutscher Sprache statt. Populäre US-Serien werden von der „Generation Notflix“ also nicht in der Originalversion, sondern mit deutscher Synchronisation rezipiert. Bei den Notflix-Jugendlichen muss ein Um‐ denken initiiert werden, dass die Originalversion in vielerlei Hinsicht „besser“ und sinnvoller ist: Auf diese Weise können die SuS nicht nur die Original-Stimmen der Schauspieler/ innen unverfälscht genießen, sondern sie kommen auch vermehrt mit der Fremdsprache in Berührung. Im besten Fall wird das Konstrukt der Fremdsprache dadurch entfremdet und die Notflix-Jugendlichen optimieren ihre Englischkenntnisse durch das Serienschauen, wodurch die Kluft zwischen „Generation Netflix“ und „Ge‐ neration Notflix“ überbrückt werden könnte. Für solche SuS, die sich nicht für Serien begeistern lassen, sind auch andere Wege zur Verbesserung ihrer fremdsprachlichen Kompetenzen denkbar: So könnten diese Jugendlichen beispielsweise zur Rezeption von englischsprachigen Büchern, Zeitungen, Zeitschriften oder Liedern motiviert werden. dazu Trautmann 2016: 22; Idel und Rabenstein 2016: 15). Die in den letzten Jahren stark präsente Fokussierung auf SuS mit Lernschwächen (vgl. Lauth 2004; Lorenz 2004; Füssenich 2008; Klicpera, Schabmann, und Gasteiger-Klicpera 2010; Wittmann 2011; Gerlach 2012) ist zweifellos sinnvoll, aber dies darf nicht heißen, dass die Bedürfnisse der hochmotivierten und überdurchschnittlich sprachbegabten Jugendlichen im EU vernachlässigt werden. Ein W-Seminar zu einer aktuellen Serie stellt eine effiziente Möglichkeit dar, die heterogene Ausgangslage zu überbrücken und den Bedürfnissen der „Generation Netflix“ gerecht zu werden. 123 An dieser Stelle ist eine grundsätzliche Überlegung dahingehend nötig, ob leistungshomogene oder leistungsheterogene Gruppen lernförderlicher sind. Hier zeigen sich Vorteile für leistungsschwächere Lernende in leistungsge‐ mischten Gruppen, die jedoch nicht für leistungsstärkere SuS gelten (vgl. Ireson und Hallam 2001: 13; Scharenberg 2012: 257). Trautmann (2016: 25) bestätigt, dass „für schulleistungsschwache Lernende […] eher eine heterogene Lerngruppe vorteilhaft” sei, wohingegen leistungsstarke SuS von einer Leis‐ tungshomogenisierung profitieren würden. Auch in der vorliegenden Studie wirkt sich das weitgehend homogene Leistungslevel der W-Seminarteilnehm‐ enden sehr positiv auf das kommunikative Verhalten der Jugendlichen aus: Insbesondere die Gespräche und Diskussionen im Unterricht pendeln sich auf einem hohen sprachlichen Niveau ein. Darüber hinaus fühlt sich der Austausch im W-Seminar für die SuS natürlicher und weniger künstlich an als im regulären EU, da es für die Lernenden „selbstverständlich ist, dass im Seminar Englisch gesprochen wird“ (Anastasia, IV). Die Fremdsprache ist damit nicht mehr fremd für die SuS, sondern ihr Gebrauch wird als vertraut und richtig empfunden. 369 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="370"?> 124 Zu manchen Filmen/ Serien gibt es Begleitmaterialien (von den Schulbuchverlagen oder über spezielle Lehrerportale), aber je aktueller der Film/ die Serie, desto unwahrschein‐ licher ist dies. 125 Wie bereits erwähnt, sollte auf die Kontextualisierung des Lehr-/ Lerngangs zu Film‐ sprache geachtet werden: Es bietet sich an, Screenshots und Szenen des Films zu zeigen, welcher in der while-viewing-Phase behandelt wird. Andernfalls erscheint die Alphabetisierungsphase isoliert, was eine runde und stimmige Unterrichtseinheit verhindern würde. Diese Tendenz gilt es, in der kommunikativen Auseinandersetzung mit Serien im EU zu unterstützen. Doch was heißt das konkret für die Planung, Konzeption und Durchführung des serienbasierten FSU? 8.2.2 Erstellung geeigneter Materialien Es besteht kein Zweifel daran, dass die Konzeption eines film- und serienba‐ sierten FSU der Lehrkraft mehr Zeit und Initiative abverlangt als ein Unterricht, welcher sich auf ein Lehrbuch (mit bereits integriertem Grammatikteil, Voka‐ belteil, passgenauen Texten, Übungen usw.) stützt. Wenn mit aktuellen Filmen oder Serien unterrichtet wird, muss die Lehrkraft in der Regel eigene Unter‐ richtsmaterialien erstellen. 124 Folgende Überlegungen und Planungsschritte sind unerlässlich, um dabei die Filmkompetenz der SuS zielgerichtet fördern zu können: (1) Material zur Alphabetisierung im Bereich Filmsprache Aus der Studie geht als eindeutiges Ergebnis hervor, dass an erster Stelle eines kompetenzorientierten filmbasierten EU (und damit vor dem Schauen des Films/ der Serie) die Behandlung von filmspezifischen Gestaltungsmitteln stehen sollte. Auf diese Weise kann den Lernenden das Werkzeug zur Analyse mehrfach kodierter Texte mitgegeben werden, was für ein vollständiges Ver‐ ständnis dieser unerlässlich ist. Dafür bietet sich ein von der Lehrkraft sorgfältig konzipierter Lehr- und Lerngang zu cinematography an, welcher möglichst aussagekräftige Filmbeispiele beinhalten sollte, 125 um bei den SuS die Bereit‐ schaft zum aufmerksamen Schauen und zum Entschlüsseln bewegter Bilder sicherzustellen. Im Fall des W-Seminars zu HoC wurde eine PowerPoint-Prä‐ sentation mit exemplarischen Screenshots und einprägsamen Beispielszenen (zu den Kameraperspektiven, zu den Montagetechniken, zur mise-en-scène, zur Bedeutung der Tonspur, der Beleuchtung usw.) erstellt. Auf diese Weise wird die erforderliche Wissensgrundlage geschaffen, um in einem nächsten Schritt fundiert über Funktion und Wirkweise kinematographischer Techniken sprechen zu können. Die Lernenden reagieren überaus positiv und wissbegierig auf dieses Lernangebot und verinnerlichen wichtige Begriffe und Mechanismen 370 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="371"?> 126 Diese Tendenz kann natürlich nicht pauschal für alle SuS angenommen werden; insbesondere lernschwächere Jugendliche könnten für ihr Textverständnis auf unter‐ stützende while-viewing-tasks angewiesen sein. aus dem Bereich cinematography, was sich in den Viewing Journal-Einträgen und in den Seminararbeiten widerspiegelt. Frau Potter bestätigt die Wichtigkeit einer filmanalytischen Schulung: Ich habe im Unterricht stets sehr gute Erfahrungen mit AV-Medien gemacht, da die Motivation der Schüler automatisch sehr hoch ist, wenn man Filme schaut - aber sie dann auch bereit sind, damit zu arbeiten. Es stellt sich eigentlich fast immer ein „Aha-Effekt“ ein, der den Schülern zu einem bestimmten Bereich (z. B. Filmsprache, Filminhalt) einen Erkenntnisgewinn vermittelt und ihnen dadurch Freude bereitet. Vor allem die Analyse von filmgestalterischen Mitteln ist gewinnbringend, da die Schüler oft erstaunt und erfreut sind über Manipulation und Wirkungsweise von diesen (Frau Potter, IV). Im Kontext des Seminars schätzt Frau Potter den Lernzuwachs der SuS im Bereich der Filmsprache am größten ein, was die Lehrkraft auf die intensive Alphabetisierungsphase zu Beginn zurückführt. Geht man von einer Konzeption des filmbasierten EU gemäß des dafür geeigneten pre-/ while-/ post-Modells aus (vgl. Thaler 2012: 92), müsste die oben beschriebene Alphabetisierungsphase zu filmspezifischen Gestaltungsmitteln der pre-viewing-Phase zugeordnet werden. Diese Phase dient nämlich der Mo‐ tivation sowie Vorentlastung und soll die SuS bestmöglich auf das Filmerlebnis einstimmen. Für die while-viewing-Phase stellt im Falle eines langfristigen viewing-Projekts (beispielsweise bei der Behandlung einer oder mehrerer Staf‐ feln einer Serie) ein Viewing Journal mit aktivierenden while-viewing-tasks ein geeignetes Begleitinstrument dar (vgl. die Ausführungen in Punkt 7.2.1). Bei der Bearbeitung der Viewing Journal-Aufgaben durch die Seminarteilnehmenden zeigt sich, dass die SuS primär durch solche Tasks aktiviert werden, die ihnen weiterführende und kreative Denkanstöße liefern. Streng genommen müssten solche Aufgaben der post-viewing-Phase zugeordnet werden, da sie das Textver‐ ständnis im engeren Sinn transzendieren. Aus der Studie geht damit die Tendenz hervor, dass die Jugendlichen klassische while-viewing-tasks, die sich lediglich auf das Textverständnis beziehen, als langweilig empfinden. 126 In jedem Fall muss darauf geachtet werden, den Jugendlichen motivierende und authentische Kommunikationsanlässe im film- und serienbasierten EU einzuräumen, so dass sie ihre Gefühle und Gedanken äußern können. 371 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="372"?> 127 „Film kontextualisieren“ wurde bereits als eine wichtige Teilkompetenz der Filmkom‐ petenz definiert. Je nach Film/ Serie ergeben sich unterschiedliche Kontexte, die für das jeweilige audiovisuelle Medium prägend sind und somit als Kompetenzfelder in den EU integriert werden sollten. (2) Ermöglichung authentischer Kommunikationsanlässe Besonders von den SuS geschätzt werden Aufgaben zur ethisch-moralischen Positionierung. An dieser Stelle möchte ich auf den Theorieteil der vorliegenden Arbeit und speziell auf die Kapitel 3.3.1 und 3.3.2 verweisen; hier wird deutlich, dass die Film- und Serienrezeption von einem Dreiklang kognitiver, emotionaler und moralischer Tätigkeiten bestimmt wird. Diesem Dreiklang muss Rechnung getragen werden, indem alle Ebenen der Textaneignung berücksichtigt werden (vgl. dazu Wulff 2009: 386). Dies kann durch geeignete Aufgabenstellungen gelingen, von denen die SuS sich zum Denken, Fühlen, Moralisieren und dadurch wiederum zum Sprechen sowie Schreiben animiert fühlen. Nur so können die oben erwähnten Flow-Erlebnisse beim Kommunizieren im Anschluss an audiovisuelle Medien begünstigt werden. Die vorliegende Studie konnte zudem eindeutig zeigen, dass Jugendliche über das Gesehene sprechen wollen und den direkten Austausch mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern schätzen. Deshalb sollte darauf geachtet werden, eine maximale student talking time sicherzustellen. Wenn die SuS sich mit Fragen zu interpretatorischen Leerstellen oder ähnlichem an die Lehrkraft wenden, sollte diese keinen Experten-Status beanspruchen, sondern mit den Jugendlichen auf Augenhöhe Bedeutung aus‐ handeln. (3) Kontextualisierung des audiovisuellen Mediums Eine weitere Anforderung an die Konzeption und Durchführung eines zeitge‐ mäßen filmbasierten EU besteht darin, das jeweilige audiovisuelle Medium entsprechend der relevanten Kontexte für den Unterricht aufzubereiten. 127 Um beispielsweise die soziokulturellen und politischen Anspielungen einer aktuellen Serie möglichst effektiv für das interkulturelle Lernen aufseiten der SuS nutzbar machen zu können, ist es wichtig, als Lehrkraft gesellschaftspo‐ litisch auf dem neuesten Stand zu sein. Dafür ist es nötig, den Blick auch auf Social-Media-Kanäle zu richten: So können beispielsweise Tweets oder Memes zur jeweiligen Serie als authentische Sprechanlässe in den Unterricht integriert werden. Aufgrund des generell hohen Realitätsanspruchs aktueller Qualitätsserien kann eine Gegenüberstellung von Fiktion und Realität für die SuS aufschlussreich sein. Selbst wenn eine Serie auf den ersten Blick realitätsfern wirkt (wie beispielsweise im Fall der in The Handmaid’s Tale dargestellten Dystopie oder im Fall des Mittelalter-Settings von Game of Thrones), können 372 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="373"?> Bezüge zur Gegenwart - oftmals in ironischer oder gesellschaftskritischer Form - eine Rolle spielen (vgl. Steinhart 2019). Diese wiederum sollten mit den SuS herausgearbeitet werden, indem die jeweilige Serie im Kontext des Zeitgeists gelesen und analysiert wird. Dies gilt insbesondere für die Behandlung kontroverser Themen in zeitge‐ mäßen Qualitätsserien, welche oft in Form von Tabubrüchen inszeniert werden (vgl. dazu 2.4.1.1 und 3.4.1). Aufseiten der Lehrkraft ist ein kritisches Abwägen dahingehend erforderlich, ob diese Tabubrüche für die SuS altersgemäß sind und inwieweit die Lernenden von einer Thematisierung im EU profitieren können. Meist bringen Tabus aufgrund ihres Aufgeladen-Seins mit Emotionen großes Potential für einen kommunikativen EU mit sich (vgl. Schröder 2008: 55). Folgende Fragen können mit den Jugendlichen diskutiert werden: ● Wie wird der Tabubruch in der Serie inszeniert? ● Welchen Effekt übt diese Darstellung auf die Zuschauenden aus? ● Welche Intention könnten Regie und Produktion mit dem gezeigten Tabu‐ bruch verfolgen? Zudem bietet sich eine Kontextualisierung mit Blick auf die literarische Kom‐ petenz der SuS bei zahlreichen Serien an, da die Verfilmung von Literatur im Serienformat als der Medientrend der letzten Jahre bezeichnet werden kann: House of Cards, 13 Reasons Why, The Leftovers, Game of Thrones, The Handmaid’s Tale, The Outsider, Watchmen, Hannibal, Dracula, Mr. Mercedes und viele weitere; auch die Vorgeschichte von Herr der Ringe wurde als Amazon-Prime-Serie offiziell bestätigt. Dies sind nur einige Beispiele für populäre (oder im Fall von Herr der Ringe sehnsüchtig erwartete) Serien, die auf Grundlage eines Buches bzw. einer Buchreihe verfilmt wurden bzw. noch verfilmt werden. Gerade bei einer Serie wie The Handmaid’s Tale wäre es spannend, mit den SuS zu unter‐ suchen, wie Margaret Atwoods dystopischer Roman aus dem Jahr 1985 in eine moderne Serie transformiert wurde. Gegebenenfalls wäre eine Kombination aus Reading und Viewing Journal denkbar, um mit der literarischen Vorlage und der audiovisuellen Adaption vergleichend arbeiten zu können. Bei der Förderung literarischer Kompetenz in der Auseinandersetzung mit modernen Serien sollten auch Aspekte der Intertextualität berücksichtigt werden. 8.2.3 Weitere Anforderungsbereiche 8.2.3.1 Motivation der Lehrkraft In ihrer Studie erkennt Schmidt (2004), dass das Interesse der SuS an schulischen Inhalten in entscheidendem Maße von der Person der Lehrkraft abhängig sei. 373 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="374"?> 128 Die von Frau Potter beschriebene Problematik der mangelhaften technischen Ausstat‐ tung (insbesondere an staatlichen Schulen) wird auch in der filmdidaktischen Literatur thematisiert, zum Beispiel bei Thaler (2014: 28 f), der hierfür die Bezeichnung technology conflict verwendet. Schmidt bezieht ihre Aussagen auf die Behandlung von Shakespeare, aber diese gelten ebenso für den film- und serienbasierten EU: „Schülern Freude am Umgang mit dem Shakespeare-Text zu vermitteln und somit bei ihnen tieferes Interesse für Shakespeare zu wecken, das vermag wahrscheinlich nur der Lehrer wirklich erfolgreich, der selbst Interesse für Shakespeare mitbringt“ (ebd.: 311). Ähnlich positioniert sich Gibson (1998: 154): „[…] teachers who are enthusiastic about their subject, and who teach in interesting ways, motivate their students to share that enthusiasm“. Von zahlreichen Seminarteilnehmenden wird ebenfalls betont, wie wichtig die Motivation der Lehrkraft sei, da diese ansteckend wirken könne, was im Fall des W-Seminars gelungen sei (vgl. Emma, Anastasia, Leyla, Stefan, jeweils IV). Besonders bei einem längeren Film- oder Serien-Projekt be‐ nötigt die Lehrkraft ein gewisses Maß an Begeisterung für die Materie (vgl. dazu auch Bauer 2014: 109 f), um sich in der Planung intensiv mit dem Medium zu beschäftigen, um entsprechende Unterrichtsmaterialien vorbereiten zu können und um schließlich im EU dafür zu sorgen, dass „der Funke überspringt“ (Leyla, IV). Filmarbeit ist nämlich nicht nur Kopf-, sondern auch Herzarbeit und dies sollten die Jugendlichen im Unterricht spüren. 8.2.3.2 Überbrückung des Technik-Konflikts Interessanterweise sieht die Lehrkraft Frau Potter die technische Ausstattung an staatlichen Schulen als zentrale Herausforderung bei der Durchführung von filmbasiertem EU. Das VoD-Zeitalter sei zwar in den Wohnzimmern der SuS, aber noch lange nicht in den oft spärlich ausgestatteten Klassenzimmern ange‐ kommen. Der Zugriff auf Netflix & Co und das Abspielen von VoD-Inhalten habe sich ihrer Erfahrung nach als kompliziert, zeitaufwändig und im schlimmsten Falle als schlichtweg unmöglich erwiesen. 128 Im W-Seminar zu HoC musste auf die DVDs der Serie zurückgegriffen werden, die über einen portablen Beamer (das Klassenzimmer hatte kein fest installiertes Gerät) abgespielt wurden. Dies hatte jedoch den Nachteil, dass das Aufbauen sowie Hochfahren des Beamers, das Laden der jeweiligen DVD und die Navigation im Menü (Einstellen der Sprache und Suchen des richtigen Kapitels sowie der exakten Szene) jede Menge Zeit und Geduld kosteten. Im Laufe des W-Seminars gewöhnte ich mir deshalb an, die HoC-DVDs mit einem entsprechenden Programm zunächst in MP4-Dateien zu konvertieren und anschließend so zuzuschneiden, dass die jeweilige Szene mit einem Doppelklick direkt vom Laptop aus gestartet 374 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="375"?> werden konnte. Dies würde ich für die Konzeption und Durchführung eines filmbasierten EU, bei dem mit ausgewählten Szenen gearbeitet werden soll, dringend empfehlen, da der Filmeinsatz auf diese Weise unkompliziert und effizient gelingen kann. Auch wenn das Konvertieren und Zuschneiden von Filmen/ Serien in der Unterrichtsvorbereitungsphase Zeit kostet, lohnt es sich, weil mit solch perfekt zugeschnittenen Szenen im Unterricht wesentlich kom‐ fortabler gearbeitet werden kann. 8.2.4 Zusammenfassende Darstellung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Planung, Konzeption und Durchführung eines zeitgemäßen EU mit einer aktuellen Qualitätsserie wie HoC folgende Anforderungen an die Lehrkraft mit sich bringt: ● Offenheit der Lehrkraft bezüglich kontroverser Szenen in Qualitätsserien; Nutzbarmachung des damit einhergehenden kommunikativen Potentials für einen zeitgemäßen EU; ● intensives und mehrmaliges Schauen der Serie: Notieren von schwierigen Wörtern, interkulturellen Bezügen und filmanalytischen Besonderheiten; Finden von Schlüsselszenen und Leitmotiven; ● Konzeption aktivierender und motivierender Aufgaben; ● Erstellung eines Viewing Journals zur Unterstützung der SuS beim außer‐ schulischen Schauen der Serie (eventuell Notwendigkeit eines anspruchs‐ volleren Viewing Journals für die „Generation Netflix“ und eines stärker auf Verständniserleichterung angelegten Viewing Journals für die „Generation Notflix“); ● Alphabetisierung: Konzeption eines Lehr- und Lerngangs zu zentralen film‐ spezifischen Gestaltungsmitteln; Ziel: Sensibilisierung der SuS für Funktion und (manipulative) Wirkkraft bewegter Bilder (Konkretisierung durch Bei‐ spiele aus der Serie, wobei mit kurzen, einprägsamen Szenen und Screenshots gearbeitet werden kann); ● Bearbeitung der Viewing Journals durch die SuS; ● Auswertung der Viewing Journals durch die Lehrkraft; wertvolle Rück‐ schlüsse für die Unterrichtsplanung; bedarfsgerechte und schülerorientierte Konzeption der Folgestunden; Nachbesprechung schwieriger und kom‐ plexer Szenen; ● Schneiden der Serie in sofort abspielbare, digitale Clips, so dass technische Konflikte umgangen werden können; ● Einplanen von Filmgesprächen, um dem ausgeprägten Sprech-Bedürfnis der SuS gerecht zu werden; Ermöglichung von Denken, Fühlen und Mora‐ lisieren in der kommunikativen Auseinandersetzung; 375 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="376"?> ● Kontextualisierung der jeweiligen Serie, z. B. in interkultureller Hinsicht; ● Förderung der „Generation Netflix“ und der „Generation Notflix“. 8.3 Kriterien zur Auswahl von authentischen Serien für den Englischunterricht in der Sekundarstufe II Nachdem in Kapitel 2.4.1.1 in Anlehnung an entsprechende Fachliteratur ein Kriterienkatalog für Qualitätsserien dargelegt wurde, möchte ich diesen nun für den EU konkretisieren, indem ich aus den Erkenntnissen der empirischen Studie Anforderungen an Serien für die Sekundarstufe II ableite. Serien, die diesen Anforderungen genügen, möchte ich im Folgenden als TEFL-Serien bezeichnen. 8.3.1 Balance aus Entertainment und Education 8.3.1.1 Entertainment durch Drama, Skandale und Tabubrüche Zunächst ist folgende Erkenntnis, welche sich im Kontext der vorliegenden Studie deutlich herauskristallisiert, wichtig: Ein hohes Maß an Tabubrüchen und kontroversen Szenen in einer Serie führt dazu, dass die Serie von den SuS als reizvoller und spannender erlebt wird. Dementsprechend ist auch der intrinsische Drang der Jugendlichen größer, die Serie möglichst schnell weiter‐ schauen zu wollen. Dass Entertainment und Dramatik (v. a. durch Skandale sowie Tabubrüche) in den Augen der SuS eng miteinander verbunden sind, zeigt sich in folgender Feststellung Emmas zur zweiten Staffel von HoC: „It starts becoming more dramatic and scandalous which is really entertaining to watch” (Emma, VJ 2). Emmas Hauptanreiz in Bezug auf das Weiterschauen der Serie besteht darin, dass sie noch mehr Drama erwartet: „I’m waiting for more deaths, more drama“ (Emma, VJ 2). Alle Seminarteilnehmenden bestä‐ tigen, dass HoC ohne diese Aspekte (Mord, Drama, Intrigen, Tabubrüche) eher langweilig und damit nicht sehenswert gewesen wäre. An dieser Stelle muss betont werden, dass die Jugendlichen in einer zur Darstellung von Extremen neigenden medialen Welt aufwachsen (vgl. z. B. Däwes 2015; Johnson 2005; Hamburger 2018; Mayer 2019; Kunczik und Zipfel 2006). Damit geht laut Süwolto (2017: 15) folgender Trend einher: „Tabubrüche in Literatur, Medien und Kunst [besitzen] offenbar noch immer eine faszinierende Sogwirkung. […] Tabubrüche und kalkulierte Skandale sind Garanten für Einschaltquoten und Publikumsrekorde“. Dementsprechend sind Jugendliche meist an Tabubrüche gewohnt und erwarten in Serien und Filmen all das zu sehen, „was mit den gängigen Moralvorstellungen nicht konform geht“ (Wuketits 2000: 44). Wenn die SuS-Generation des 21. Jahrhunderts eine Serie folglich als zu wenig spek‐ 376 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="377"?> 129 IMDb (als deutsche Entsprechung kann die Online-Filmdatenbank, OFDb, gesehen werden) ist in erster Linie als Datenbank für Filme bekannt, wenngleich hier mittler‐ weile auch Serien mit Zuschauerbewertungen aufgeführt sind. Ein großer Vorteil von IMDb ist, dass hier sämtliche Preise und Auszeichnungen sofort eingesehen werden können, die ein Film/ eine Serie bekommen hat; darüber hinaus geben ein Meta- und ein Audience-Score einen guten Überblick, wie Filmkritiker einerseits und das Publikum andererseits den jeweiligen Film beurteilen. 130 Darüber hinaus können die SuS direkt gefragt werden, welche Serie(n) sie gerne im Rahmen des EU schauen und besprechen würden. Wenn jede/ r Jugendliche/ r zwei bis drei aktuelle Serien nennt, kann die Lehrkraft aus den SuS-Vorschlägen eine ihr sinn- und reizvoll erscheinende Serie auswählen. Um herauszufinden, was sich am besten (thematisch, sprachlich etc.) eignet, können wiederum die oben genannten Seiten konsultiert werden. takulär wahrnimmt, wird sie diese mit großer Wahrscheinlichkeit abbrechen und schlichtweg zur nächsten Serie übergehen. Vor ca. 35 Jahren wäre ein solches Medienverhalten noch nicht möglich gewesen, da man mit dem vorlieb‐ nehmen musste, was das analoge Fernsehen hergab, aber dies änderte sich mit dem durchschlagenden Erfolg der VoD-Anbieter grundlegend (vgl. Lampprecht 2015: 24). Die Lehrkraft sollte bei der Auswahl einer Serie für den EU also folgenden Aspekt berücksichtigen, welchen ich zugleich als Kriterium für eine TEFL-Serie klassifiziere: Die Serie muss so spannend und unterhaltsam sein, dass die SuS beim Schauen vergessen können, dass sie dies für unterrichtliche Zwecke tun. In Anlehnung an Baddock (1996: 4) möchte ich zudem die Faustregel, students switch off mentally as soon as they are bored by the series, festhalten. Aus diesem Grund sollte sich die Lehrkraft nicht daran orientieren, was sie als spannend und unterhaltsam empfindet, sondern entsprechende Erkundigungen und Recherchen anstellen, um dem Geschmack der Jugendlichen entgegenzukommen (diesbezüglich können Seiten wie imdb.com  129 , rottentomatoes.com, serienjunkies.de, filmstarts.de oder auch von Cineasten verfasste Experten-Blogs Aufschluss geben). 130 Freilich könnte man hier auch argumentieren, dass man den SuS im Rahmen des Unterrichts nicht das zeigen sollte, was sie womöglich ohnehin in ihrer Freizeit schauen: Stattdessen könnte es von Vorteil sein, den Lernenden durch Serien jenseits des Mainstreams Impulse sowie Anregungen zu geben und neue Perspektiven zu ermöglichen. Mir erscheint eine Kompromisslösung sinnvoll, bei der die Lehrkraft Vorarbeit leistet und einige interessante Serien heraussucht, die sich für den FSU eignen könnten. Diese werden den Jugendlichen vorgestellt und im Anschluss dürfen die SuS abstimmen, mit welcher Serie sie sich intensiv beschäftigen möchten. Auch folgender Punkt ist wichtig: Je provokativer, polarisierender und ge‐ wagter eine Serie, desto mehr Diskussionspotential hält diese für den Unterricht 377 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="378"?> 131 In der Sekundarstufe II wäre es durchaus denkbar, auch den Voyeurismus der Zuschauer bedienende Tabubrüche zu besprechen, um das kritische Bewusstsein der Jugendlichen diesbezüglich zu schärfen. Eine bewahrpädagogische Grundhaltung geht an den Be‐ dürfnissen der SuS meiner Einschätzung nach vorbei. bereit. Diese Erkenntnis kann für den Ausbau der funktional-kommunikativen Kompetenzen der Jugendlichen nutzbar gemacht werden. Jugendliche - dies konnte mit der vorliegenden Studie gezeigt werden -, die geschockt, beunruhigt, verwirrt, enttäuscht, aufgebracht oder in welcher Form auch immer emotional involviert sind, haben das Bedürfnis, ihre Gefühle mitzuteilen und zu versprach‐ lichen, um diese besser verarbeiten zu können: Auf ungefiltertes Gefühlschaos folgt meist ein Moralisieren und schließlich eine stärker rational ausgerichtete Auseinandersetzung mit dem Gesehenen, was zu aufschlussreichen sprachli‐ chen Produkten führen kann (vgl. dazu die im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgestellten Viewing Journal-Einträge) - aufschlussreich sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrkraft. Selbstverständlich müssen die Tabubrüche altersangemessen sein. Darüber hinaus sollte darauf geachtet werden, ob sie lediglich den Voyeurismus der Zuschauenden befriedigen sollen 131 oder ob ihr Einsatz einen tieferen Sinn hat: Tabubrüche können beispielsweise dem kulturellen Fortschritt dienen, indem gesellschaftliche Regulationsmechanismen bloßgestellt und die Rezipienten hinsichtlich eines Umdenkens in Richtung einer möglichen Enttabuisierung aufgerüttelt werden. Dies kann im EU nur herausgearbeitet werden, wenn die Anschlusskommunikation auf einer Metaebene geführt wird. Die vorliegende Studie macht deutlich, dass die Thematisierung von Tabubrüchen eine Chance für den EU darstellt, was mit deren Wirkkraft zusammenhängt, die sich in folgenden Punkten manifestiert: 1. Tabubrüche als entscheidende Antriebskraft beim Weiterschauen-Wollen; 2. Tabubrüche zur Ermöglichung motivierender Sprech- und Schreibanlässe; positive Interdependenz von affektiv-kognitiven Aushandlungsprozessen: Die Jugendlichen wollen ihre Gefühle verstehen und sich diesbezüglich beim Schreiben/ Sprechen Klarheit verschaffen; 3. Tabubrüche als Anstoß für kritisch-bewusste Medienrezeption: Welche Absicht könnte von Regie- und Produktionsseite hinter einem Tabubruch stehen? 4. Thematisierung von kulturell brisanten Tabubrüchen zur Förderung inter‐ kultureller Kompetenz. 378 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="379"?> 132 In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf die #MeToo-Bewegung hinweisen, welche ab Mitte Oktober 2017 - und damit zu Beginn des Seminars - im Zuge des Skandals um Harvey Weinstein immer weitere Kreise zog. Für das W-Seminar wurde #MeToo brisant, als sich Kevin Spacey mit massiven Vorwürfen der sexuellen Belästigung konfrontiert sah. Dies hatte für den Oscarpreisträger weitreichende Kon‐ sequenzen wie soziale Ächtung und ein plötzliches Ende seiner Schauspielkarriere, was u. a. durch den Rauswurf aus der Serie HoC besiegelt wurde. Angesichts der anfänglichen Bestürzung der Seminarteilnehmenden wurde die #MeToo-Debatte im Seminar thematisiert, wodurch ein Stück Zeitgeschichte aufgearbeitet werden konnte, 8.3.1.2 Lehr- und Lernpotential als wichtiges Auswahlkriterium 8.3.1.2.1 Interkulturelles Lehr-/ Lernpotential durch zeitgemäße Themen Im folgenden Zitat Emmas wird deutlich, dass die Schülerin an HoC das mit der Serie verbundene Lernpotential besonders schätzt: [HoC war für mich] interessant, weil’s halt wirklich so … man fühlt sich so, als würd‘ man was lernen, wenn man HoC anschaut, find ich. Weil’s halt jetzt nicht so was ist wie … was weiß ich … Friends, da lernt man jetzt nicht viel dazu … aber bei HoC kriegt man halt auch was mit, find ich. Also vor allem von Politikern […] und wie amerikanische Politik abläuft und all so was (Emma, IV). Insgesamt sollte man als Lehrkraft darauf achten, dass eine TEFL-Serie aktuelle und für die SuS relevante Themen behandelt, so dass davon ausgehend inter- und transkulturelle Lernprozesse unterstützt werden können. Dies kann zum Beispiel durch eine Konzentration auf soziokulturelle (eine mögliche Zielset‐ zung in diesem Zusammenhang wäre die Förderung von Gender Awareness) oder politische Schwerpunkte gelingen. Je aktueller die Thematik und je reali‐ tätsnäher die Darstellung in der Serie (z. B. durch ein tatsächlich existierendes Setting oder durch eine Story, welche auf wahren Begebenheiten basiert), desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei den Jugendlichen der von Emma beschriebene Eindruck, „man fühlt sich so, als würd‘ man was lernen“, entsteht. Nichtsdestotrotz muss den SuS bewusst gemacht werden, dass selbst eine noch so realistisch erscheinende Serie fiktiv ist. Ein kritisch-analytischer Blick auf das Gezeigte kann beispielsweise durch einen gezielten Vergleich zwischen Fiktion und Realität erreicht werden. Das Lehr- und Lernpotential einer TEFL-Serie entfaltet sich zweifellos auch durch eine entsprechende Aufbereitung im Unterricht. Hier empfiehlt es sich, auf die im Kontext der Serie entstandenen Texte und Bewegungen einzugehen: z. B. auf Rezensionen, Kommentare sowie Reaktionen in Social-Media-Kanälen, Artikel, Interviews und sich daraus ergebende Diskussionen. 132 Daran können 379 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="380"?> was sowohl von den SuS als auch von der Lehrkraft sehr positiv erlebt wurde. Dies spiegelt sich in folgender Aussage Frau Potters wider: „Meiner Meinung nach hat der Skandal und die anschließende Debatte das Seminar nur bereichert. Der Schock der Schüler unmittelbar danach war spürbar und Anlass für Gespräche, Meinungsäußerungen und -positionierungen, die sehr interessant waren. Die Beschäftigung mit der Serie als Kunstwerk rechtfertigt sich vor dem Hintergrund des Skandals erst recht mit Nachdruck.“ 133 Im August 2019 wurde bekannt, dass die dritte Staffel sich der Clinton-Lewinsky-Affäre widmen wird. sich wiederum aktivierende Gespräche mit den Jugendlichen anschließen. Ein so beschaffener kommunikativer und schülerorientierter Unterricht, in dessen Zentrum die kommunikative Aushandlung zeitgemäßer Themen steht, sollte - besonders in der Sekundarstufe II - nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellen. Aktuelle audiovisuelle Medien können hierbei als idealer Ausgangs‐ punkt fungieren. Allein auf Netflix sind zahlreiche Serien und Dokumentationen verfügbar, die zur Förderung inter- und auch transkultureller Kompetenz im EU geeignet sind. An dieser Stelle möchte ich einige Beispiele nennen: ● American Factory ist eine von Michelle und Barack Obama geförderte, viel gelobte und 2020 mit dem Oscar in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ ausgezeichnete Wirtschaftsdokumentation; ● bei Making a Murderer handelt es sich um eine von Netflix produzierte Do‐ kumentarserie, welche das US-Rechts- und Justizsystem kritisch analysiert; ● American Crime Story ist eine mehrfach preisgekrönte Netflix-Serie, wobei die erste Staffel aus dem Jahr 2016 den Strafprozess gegen O. J. Simpson aufarbeitet; das US-Justizsystem, Rassismus und Politik stehen im Zentrum der Handlung; 133 ● Black Mirror ist eine ursprünglich britische, aber mittlerweile von Netflix produzierte sozialkritische Science-Fiction-Serie, die die Auswirkungen mo‐ derner Technologien und Medien (insbesondere Social Media) auf die Ge‐ sellschaft thematisiert; bei Black Mirror handelt es sich zugleich um ein Paradebeispiel für eine Anthologie-Serie, bei der jede Episode ein in sich abgeschlossenes Kapitel darstellt (Besetzung, Figuren und Handlung ändern sich also mit jeder Episode); diese Beschaffenheit kann insofern einen Vorteil bzw. eine organisatorische Erleichterung für den EU bedeuten, als zielgerichtet mit einzelnen Kapiteln gearbeitet werden kann. 380 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="381"?> 134 Selbstverständlich können auch „nicht gut gemachte“ Ausschnitte aus Filmen oder Serien im EU gezeigt werden, um das medienkritische Bewusstsein der Jugendlichen zu fördern. Für ein Langzeitprojekt bieten sich jedoch filmästhetisch anspruchsvoll in‐ szenierte AV-Medien an, da diese mehr Möglichkeiten für eine intensive Beschäftigung mit der Filmsprache bereithalten. 135 „Challenge accepted! “ ist einer der running gags der Sitcom How I Met Your Mother; Barney Stinson tätigt diesen Ausruf immer dann, wenn er sich irrwitzigen Herausforderungen stellen möchte und dies seinen Freunden euphorisch ankündigt. 8.3.1.2.2 Filmästhetisches Lehr-/ Lernpotential Ein weiteres Kriterium, welches es bei der Auswahl von authentischen Serien (und Filmen) für den EU in der Sekundarstufe II zu berücksichtigen gilt, ist der ästhetische Anspruch des Gezeigten. Es sollte vor allem bei längerfristigen Pro‐ jekten darauf geachtet werden, dass das AV-Medium „gut gemacht“ ist, was an‐ hand folgender „Checkliste“ konkretisiert wird, die einige Anhaltspunkte liefert, aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 134 Ästhetisch anspruchsvolle sowie kunstvoll inszenierte Serien (und auch Filme) ● lösen bei den Rezipient/ innen starke emotionale Reaktionen (wie Schock, Entsetzen, Faszination, Freude) aus und sorgen dafür, dass die Zuschau‐ enden Effekt und Wirkkraft der filmgestalterischen Mittel nachvollziehen möchten; ● zeichnen sich durch Besonderheiten in der Montage aus, wobei beispiels‐ weise flashbacks oder flashforwards die Narration spannender machen können; ● lassen bei den Zuschauenden aufgrund der kunstvoll gestalteten mise-en-scène den Eindruck entstehen, dass every frame a painting ist und nichts dem Zufall überlassen wurde; ● lassen die komplexe Beschaffenheit mehrfach kodierter Texte, in denen Bild und Ton auf besondere Art interagieren, erlebbar werden; ● erfordern aktive Bedeutungskonstruktion durch die Zuschauenden, indem sie interpretatorische Leerstellen aufweisen, die von den Rezipient/ innen individuell mit Sinn zu füllen sind. 8.3.2 Qualität durch Anspruch, Niveau und Komplexität 8.3.2.1 „Challenge accepted! “ 135 : Aktivierung durch Herausforderung Was Frau Potter als „große Herausforderung der Serie“ HoC nennt, nämlich den „Überblick über die zahlreichen Handlungsstränge bzw. Intrigen, die der Hauptfigur zu ihrer politischen Karriere verhelfen“ (IV), zu behalten, sieht sie zugleich als Chance: In der Komplexität der Serie erkennt die Lehrkraft nämlich 381 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="382"?> die „Qualität des Kunstwerks HOUSE OF CARDS, da die einzelnen (fiktiven) Entwicklungen alle stimmig und nachvollziehbar sind, gleichzeitig aber real‐ politisch authentisch wären“ (IV). Auch wenn die Rezeption des Politdramas viele (narrative, filmsprachliche, intertextuelle) Herausforderungen mit sich bringt, empfindet keine/ r der Jugendlichen die Serie als zu anspruchsvoll. In der Auseinandersetzung mit HoC lassen die SuS keinen Zweifel daran, dass der Anspruch der Serie mitverantwortlich ist für den Reiz, den das Gesehene ausübt - zumal sich die Jugendlichen dadurch herausgefordert und ganzheit‐ lich aktiviert fühlen. Als Kriterium für die Auswahl authentischer Serien für den EU in der Sekundarstufe II kann folglich festgehalten werden, dass eine komplexe Handlung, intertextuelle Bezüge und ein hohes fremdsprachliches Niveau lernförderlich und damit vorteilhaft sind: Den Jugendlichen kann auf diese Weise das Gefühl vermittelt werden, dass sie in ihrer Intelligenz sowie in ihrem fremdsprachlichen Können ernstgenommen werden. Zudem werden sie somit zum aktiven und aufmerksamen Schauen animiert. Auch wenn Baddocks Feststellung aus dem Jahr 1996, „[s]tudents switch off mentally as soon as they realise they can’t follow the plot“, auf die „Generation Notflix“ zutreffen dürfte, erscheint für die „Generation Netflix“ folgende Umformulierung sinnvoll: Stu‐ dents switch off mentally as soon as they realise the plot is simple, predictable and boring. Mit großer Wahrscheinlichkeit hängt dies damit zusammen, dass die SuS mit derart beschaffenen audiovisuellen Texten bereits aufgrund ihres täglichen Medienkonsumverhaltens vertraut sind. Aus diesem Grund muss ein Umdenken stattfinden: Aktuelle und bei Jugendlichen beliebte Qualitätsserien (in der vorliegenden Studie erwähnen die Seminarteilnehmenden beispielsweise Game of Thrones, Big Little Lies und Scandal) zeichnen sich durch eine Vielzahl an Handlungssträngen, ein hohes Erzähltempo, gesellschaftskritische Anspie‐ lungen, unvorhersehbare Wendungen und komplexe Charaktere aus, die nicht geübte Zuschauende verwirren und überfordern könnten, während die „Gene‐ ration Netflix“ derart beschaffene Serien quasi „24/ 7“ (Carina, IV) prosumiert. Als Lehrkraft empfiehlt es sich deshalb vor einem Serienprojekt, eine kurze Befragung der SuS durchzuführen, um herauszufinden, ob diese regelmäßig Serien auf Englisch schauen und wenn ja, welche. Davon ausgehend kann dann ein geeignetes AV-Medium ausgewählt werden, das die Lernenden weder übernoch unterfordert. An dieser Stelle erscheint mir der Verweis auf Tamborini (2013: 97) sinnvoll, der festhält, dass eine Serie von den Zuschauenden nur dann wertgeschätzt werden könne, wenn sie als bedeutungsvoll und aussagekräftig wahrgenommen wird. Eine TEFL-Serie muss von den SuS dementsprechend als 382 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="383"?> 136 Hier sollen nur drei exemplarische Beispiele für Antihelden aus populären Serien genannt werden: Der kleinwüchsige Tyrion Lannister, der seine Körpergröße mit Geris‐ senheit, Schlagfertigkeit und Intelligenz wettmacht (Game of Thrones); der Selbstjustiz übende Dexter in der gleichnamigen Serie; und schließlich der an Krebs erkrankte Chemielehrer Walter White, der zum Drogenboss mutiert, um seine Familie nach seinem Tod versorgt zu wissen (Breaking Bad). gehaltvoll erlebt werden und den nötigen Tiefgang haben, um Jugendliche zum Nachdenken und zum Dialog mit der Serie anzuregen. 8.3.2.2 Antihelden: Komplexe und runde Charaktere Bei der kognitiv-affektiven Auseinandersetzung mit der Serie HoC zeigen sich die SuS besonders bewegt und begeistert von den Protagonisten Frank und Claire Underwood, wobei eine klare Tendenz dahingehend deutlich wird, dass die männlichen Jugendlichen in erster Linie mit Frank Underwood mitfiebern, während die weiblichen Jugendlichen Claire Underwood als Identifikationsfigur mit Vorbildfunktion sehen. Daraus möchte ich ein wichtiges Kriterium für die Auswahl von Serien im EU ableiten: Eine TEFL-Serie sollte sowohl einen charak‐ terstarken männlichen Protagonisten als auch eine charakterstarke weibliche Protagonistin mit einer Schlüsselstellung im Figureninventar beinhalten. TEFL-Serien sollten darüber hinaus nicht nur oberflächliche und eindimen‐ sionale Charaktere zur Schau stellen, sondern Figuren, die zum Nachdenken und zum Dialog mit der Serie anregen. Ebenfalls zu vermeiden ist ein Figu‐ renspektrum, das eine Zweiteilung der Welt in gut vs. böse vermuten lässt. Weitaus interessanter sind solche Charaktere, die Licht und Schatten in sich tragen, facettenreich sind und bisweilen undurchschaubar bleiben. So erweist sich die Figur des Antihelden mit ihrer oftmals gewitzten sowie kritisch-sarkas‐ tischen Reaktion auf die Welt als geeigneter Ausdruck des modernen Subjekts: Antihelden erfreuen sich insbesondere in den Qualitätsserien 136 seit der Jahr‐ tausendwende großer Beliebtheit und bieten für die Zuschauenden in der Regel mehr Anknüpfungspunkte als eine unerreichbare Superheldenfigur (vgl. dazu Kessler 2016; Arenhövel 2018; Metz und Seeßlen 2018; Ustorf 2019). Als Serien-Rezipient sympathisiert man tendenziell mit den Figuren, die bisweilen egoistisch und unmoralisch handeln müssen, da sie anders nicht weiterkommen oder überleben können. Auf diese Weise entsteht auf Seiten der Zuschauenden emotionales Engagement, was als Grundvoraussetzung für ein gelingendes Rezeptionserlebnis gilt (vgl. Eder 2009: 225). Emotionales Engage‐ ment hängt in erster Linie von figurenbezogenen Gefühlen ab, wobei es sich beispielsweise um Zuneigung, Mitgefühl, Empathie, Trauer, Zorn, Hoffnung und Schock handeln kann. Besonders im Angesicht der „bösen“ Charakterzüge 383 8 Rückschlüsse auf das Englischlernen und -lehren der Gegenwart <?page no="384"?> 137 Das Rachemotiv wird in Game of Thrones meist mit einst hilflosen Mädchen verknüpft, denen großes Leid widerfährt, aus welchem sie jedoch mit Stärke hervorgehen, um schließlich als Rächerinnen für Gerechtigkeit sorgen zu können (z. B. Arya und Sansa Stark). des Antihelden zeigen sich die Zuschauenden meist erschrocken, „können [sich] aber seiner Attraktionskraft offenbar nie ganz entziehen“ (Wuketits 2000: 206). Das Diskussionspotential, welches mit der Figur des Antihelden einhergeht, kann für den EU nutzbar gemacht werden, wobei die Motivation der SuS vor allem dann groß ist, wenn sie sich zu moralisch-ethischen Fragen positionieren dürfen. 8.3.2.3 Der „Zauber“ des audiovisuellen Kunstwerkes: Spielraum für Kreativität in der Auseinandersetzung mit interpretatorischen Leerstellen Wie bereits erwähnt, zeichnet sich die Serie HoC auch durch ihre mysteriösen Handlungsstränge bzw. Plot-Elemente aus, welche aufgrund ihrer verschlüs‐ selten Symbolik als interpretatorische Leerstellen fungieren. Solche Aspekte gewähren Jugendlichen den Interpretationsspielraum, den sie benötigen, um ihrer Kreativität in der kognitiv-affektiven Auseinandersetzung mit der Serie freien Lauf lassen zu können. Mehr oder weniger subtil eingesetzte Leitmotive (in Form eines Gegenstandes, eines Symbols, eines Ortes usw.) spielen beispiels‐ weise in folgenden Serien eine Schlüsselrolle: ● der sonnengelbe Regenschirm in How I Met Your Mother, der Ted bei seiner Suche nach der großen Liebe in New York City begleitet und ihm immer wieder Schutz spendet; ● das Strand- und Meermotiv in der renommierten Serie Big Little Lies, mit welchem die Gegensätzlichkeit zwischen Strandidylle und der Unberechen‐ barkeit der aufgewühlten See repräsentiert wird; zugleich wird damit auf die perfekte Kleinstadtidylle angespielt, deren Schein jedoch trügerisch ist; ● die leitmotivische Farbgebung in The Handmaid’s Tale, wobei die Farbe der Kleidung sich nach der gesellschaftlichen Stellung richtet; ● sowohl Kontraste wie Eis/ Feuer, Kälte/ Wärme, Norden/ Süden, Mann/ Frau als auch das Rachemotiv 137 in Game of Thrones; ● die kunstvoll-ästhetische Inszenierung von Speisen in Hannibal, welche den Kontrast zwischen dem kannibalistischen Serienmörder einerseits und dem kultivierten Gastgeber andererseits illustriert. Diese Leitmotive werden filmisch oft auf besondere Weise (z. B. durch eine unverkennbare Musik oder eine spezielle Kameraeinstellung) inszeniert, wofür 384 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="385"?> die SuS sensibilisiert werden müssen. Als Anhaltspunkt für den Einsatz von Serien in der Sekundarstufe II kann festgehalten werden, dass möglichst solche Shows ausgewählt werden sollten, die - wie ein gutes Buch - nicht gleich jedes Geheimnis offenbaren, sondern manchmal auch zwischen den Zeilen erzählen. Eine TEFL-Serie sollte die Lernenden also aufgrund ihrer polyvalenten Beschaffenheit sowie ihrer symbolträchtigen Bildsprache zur aktiven Bedeu‐ tungskonstruktion und damit zum Prosum anregen. Für die Lehrkraft heißt das, dass sie sich von Kategorien wie „falsch“ oder „richtig“ lösen sollte, da es auf die individuelle Lesart und auf die subjektive Interpretation durch die SuS an‐ kommt. Auch wenn dies bereits in den 1980er-Jahren von der Rezeptionsästhetik eingefordert wurde, legen die Rückmeldungen der SuS der Lerngruppe nahe, dass diesbezüglich weiterhin Handlungsbedarf besteht. Dies führt mich zu folgendem Hinweis: Dem Einräumen eines Interpreta‐ tionsspielraums muss in der Auseinandersetzung mit komplexen Serien ent‐ scheidende Bedeutung zuteilwerden; auf diese Weise können sich die Lernenden zu Gedankenspielen sowie zu kreativen Ideen inspiriert fühlen und sich mit Kopf, Herz und Hand auf das Serienerlebnis einlassen. 9 Forschungsdesign und Forschungsmethodologie in der Retrospektive Nachdem die Ergebnisse der vorliegenden Studie analysiert und detailliert erläutert wurden, sollen diese nun vor dem Hintergrund des Forschungsdesigns sowie der gewählten Methodologie im Nachhinein reflektiert werden. Bei den Ergebnissen im Rahmen der Auswertung der Einzelfälle sowie der verglei‐ chenden Fallanalyse ist zunächst zu berücksichtigen, dass kein repräsentativer oder verallgemeinernder Anspruch besteht, da es sich um eine rein qualitative Studie handelt. Dennoch war es mir wichtig, einen Zusammenhang zwischen den sichtbar gemachten kognitiv-affektiven Prozessen der SuS am Beispiel der Auseinandersetzung mit HoC und möglichst allgemeinen Rückschlüssen für das Englischlehren und -lernen der Gegenwart herzustellen (vgl. Kapitel 8). Auf diese Weise konnte über die Ebene der Einzelfallanalysen und der vergleichenden Fallanalyse hinaus eine weitere Ebene integriert werden, mit welcher eine gewisse Repräsentativität und größere Reichweite angestrebt wird. Auch wenn die drei klassischen Qualitätskriterien quantitativer Forschung (Reliabilität, Objektivität und Validität) für qualitative Forschungsparadigmen keine tragende Rolle spielen und die methodischen Vorgehensweisen in der Regel nur in geringem Ausmaß standardisierbar sind, verweist Steinke (2005: 385 9 Forschungsdesign und Forschungsmethodologie in der Retrospektive <?page no="386"?> 324-331) auf folgende Kernkriterien qualitativer Forschung: intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation des Forschungsprozesses, empirische Veranke‐ rung, Limitation, Kohärenz, Relevanz und reflektierte Subjektivität. Anhand dieser und weiterer Kriterien soll die vorliegende Studie mit ihrem Forschungs‐ procedere, den Methoden und Schwerpunktsetzungen in der Retrospektive untersucht und reflektiert werden. ● Intersubjektive Nachvollziehbarkeit: In meiner Studie geht es darum, kognitiv-affektive Prozesse Jugendlicher in der Auseinandersetzung mit einer Netflix-Serie aufzuzeigen, wobei der indivi‐ duellen Sichtweise der SuS entscheidende Bedeutung beigemessen wird. An dieser Stelle muss auf die im Titel der Arbeit erwähnte Kompetenzentwicklung hinsichtlich politischen, filmanalytischen, literarischen und sprachlich-kommu‐ nikativen Lernens im Rahmen des serienbasierten W-Seminars eingegangen werden: Um den Lernzuwachs der SuS beurteilen zu können, spielten insbeson‐ dere deren subjektive Kompetenzeinschätzungen eine wichtige Rolle. Die durch die Interviews erhobenen Daten basieren zu großen Teilen auf subjektiven Konstruktionen der Lernenden. An einer solchen durch die forschende Person vorgenommenen Rekonstruktion der Schülerkonstruktionen wird häufig Kritik geübt, da mit der Auswertung einer Interviewsituation stets eine subjektive Dimension und eine Filterung einhergehen (vgl. Küppers 1999: 125; Atteslander 2000: 74). Um nicht auf der Ebene der subjektiven Konstruktionen zu verharren, entschied ich mich dafür, eine Vielzahl an ausführlichen Einträgen aus den Viewing Journals der SuS in meine Arbeit zu integrieren, welche einen authen‐ tischen Einblick in die kognitiv-affektiven Prozesse der Jugendlichen bei der Auseinandersetzung mit HoC sicherstellen sollen. Fäcke (2006: 266) bezieht intersubjektive Nachvollziehbarkeit „sowohl auf das Verhältnis zwischen den Jugendlichen und mir als Forscherin als auch auf das Verhältnis zwischen mir als Autorin des vorliegenden Textes und meinen Leserinnen und Lesern“. Insgesamt muss also Transparenz in alle Richtungen vorherrschen: Die Beforschten sollen ebenso einen Einblick in das Forschungs‐ anliegen erhalten, wie die Forscherin die Gefühle und Denkprozesse der Be‐ forschten nachvollziehen können muss. Obwohl ich mich für größtmögliche Offenheit gegenüber den Jugendlichen entschied, war diesbezüglich insofern Vorsicht geboten, als die Unvoreingenommenheit der SuS gewahrt werden musste. Eine Anpassung der Aussagen der Beforschten an meine Erwartungs‐ haltung galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Um der Neugier der SuS dennoch Rechnung zu tragen, wurde den Seminarteilnehmenden am Ende des W-Seminars, nachdem alle Befragungen abgeschlossen waren, ein Überblick 386 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="387"?> über die bislang gewonnenen Erkenntnisse gewährt; von diesem zeigten sich die Jugendlichen sehr fasziniert. Insgesamt waren die SuS motiviert, an einem wissenschaftlichen Projekt teilnehmen zu dürfen, welches dazu beitragen sollte, den EU moderner zu gestalten. Die Sichtweisen der Jugendlichen wurden mit verschiedenen introspektiven Verfahren untersucht, wobei ich von einer Methodentriangulation Gebrauch machte. Insbesondere die Viewing Journals und die Interviews ermöglichten einen Einblick in die kognitiv-affektiven Prozesse der SuS in ihrer Ausein‐ andersetzung mit HoC, wobei sich eine erstaunlich hohe Bereitschaft der Jugendlichen zeigte, mir ihre persönlichen Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Es schien fast so, als wollten die Lernenden mit ihren individuellen Ansichten gehört werden und als seien sie durch ihre Erhebung zum dialogischen Partner beflügelt worden. Insbesondere die Aussicht, dass ihre Viewing Journals die Grundlage für eine wissenschaftliche Untersuchung bilden sollten, stieß bei den Seminarteilnehmenden auf Zustimmung. Ich erklärte den SuS, dass ihre Ein‐ träge mich wirklich interessieren und dass sie meine Studie auch mit kritischen Bemerkungen zur Serie nicht negativ beeinträchtigen würden - im Gegenteil. Es sollte also klargestellt werden, dass es nicht Sinn und Zweck der Filmtagebücher ist, mich als Forscherin mit angepassten Einträgen zufriedenstellen zu wollen. Auf diese Weise sollte dem in Zusammenhang mit Diary Studies oft erwähnten Problem der sozialen Erwünschtheit Vorschub geleistet werden. Das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit für die Leserschaft dieser Arbeit impliziert nicht zwangsläufig, dass die Rezipienten zu den gleichen Interpretationen wie ich gelangen müssen (vgl. Fäcke 2006: 267). Entscheidend ist vielmehr, dass die Leserinnen und Leser den Prozess meiner Forschung und die dabei gewonnenen Ergebnisse nachvollziehen können. Steinke (2005: 324) zufolge ist eine genaue Dokumentation des Forschungsprocederes hierfür erforderlich, was im Fall der vorliegenden Studie durch meine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Forschungsdiskurs (vgl. Kap. II.1-4), durch meine theoretischen und methodischen Vorüberlegungen (vgl. Kap.II.5) und durch ausführliche Auswertungen der Einzelfälle Romina, Sven, Anastasia, Stefan und Florian (vgl. Kap.III.6) realisiert wurde. Darüber hinaus erhöht meine konsequente Orientierung an Flicks Thema‐ tischem Kodieren während des Auswertungsprozesses die Transparenz der Code- und Kategorienbildung. Auch wenn nicht alle Interpretationsschritte und Schwerpunktsetzungen vollständig reflektiert werden konnten, ist mir folgende Zielsetzung wichtig: „Everyone who reads this study should be able to follow my investigation and argumentation” (Schaidt 2018: 434). Zugleich schließe ich mich Fäckes Überzeugung (2006: 278) an: 387 9 Forschungsdesign und Forschungsmethodologie in der Retrospektive <?page no="388"?> Eine akribisch dokumentierte Durchführung des Projekts sowie einzelner Phasen muss allerdings an Ausmaß und dadurch entstehender Redundanz in der Textgestal‐ tung scheitern, so dass an dieser Stelle Ausgewogenheit in der Darstellung und Auslassung […] nötig sind. Die Dokumentation des Forschungsprozesses befindet sich also im Spannungs‐ feld zwischen größtmöglicher Transparenz einerseits und dem Kriterium der Lesbarkeit durch Vermeidung von Redundanzen andererseits. Die vorliegende Arbeit weist also zwangsweise Lücken auf, da nicht jeder Schritt meines insgesamt fast vier Jahre dauernden Projektes dokumentiert werden konnte. Meine Vorgehensweise ist insgesamt stark interpretativ, was Kuckartz et al. (2007: 48) folgendermaßen beurteilen: „Aus unserer Sicht ist es zwingend nötig zu interpretieren, um bei der Auswertung nicht nur auf einer beschreibenden Ebene […] zu verweilen“ (Kuckartz et al. 2007: 48). Auch Grotjahn (1987: 66) vertritt die Auffassung der forschenden Person als interpretierende Instanz: „researcher […] as interpreter”. Mayring (2016: 25) hält diesbezüglich fest: Das Postulat der Interpretation bedeutet zunächst, dass vorurteilsfreie Forschung nie ganz möglich ist […]. Es bedeutet auch, dass Introspektion, das Zulassen eigener subjektiver Erfahrungen mit dem Forschungsgegenstand ein legitimes Erkenntnis‐ mittel ist. Forschung ist danach immer als Prozess der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, als Forscher-Gegenstands-Interaktion aufzufassen. In meiner Studie verzichtete ich bewusst auf eine Interpretation in Gruppen, welche Steinke (2005: 326) für qualitative Forschung empfiehlt. Ich erachte es als Vorteil, dass ich die Seminarteilnehmenden persönlich kennenlernte, was eine gewisse Vertrautheit zwischen den SuS und mir zur Folge hatte. Flick (1995: 149) hält fest, dass die forschende Person durch die Teilnahme am Datenerhebungsprozess ihre Forschung authentisieren könne. Statt eine unbeteiligte dritte Gruppe in den Forschungsprozess zu integrieren, arbeitete ich eng mit der Lehrkraft Frau Potter zusammen und tauschte mich mit ihr detailliert über Lernprozesse und Konstruktionen der SuS aus. Diese Gespräche erwiesen sich als sehr bereichernd. ● Indikation des Forschungsprozesses: Hinsichtlich der Gegenstandsangemessenheit des Forschungsprozesses (vgl. Steinke 2005: 326 ff) muss zunächst die Entscheidung für ein qualitatives Vorgehen hinterfragt und begründet werden. Aus dem Hauptanliegen meiner Studie, der Analyse kognitiv-affektiver Prozesse Jugendlicher, lässt sich die Entscheidung für ein qualitatives Paradigma rechtfertigen. Auf diese Weise konnten nämlich individuelle Prozesse in ihrer Komplexität und Ambivalenz 388 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="389"?> sichtbar gemacht werden. Da bislang noch keine empirischen Langzeitstudien zur intensiven, außerschulischen Rezeption von Netflix-Serien unternommen wurden, bot sich eine interpretative Vorgehensweise an. Auch die Entscheidung für das Thematische Kodieren beurteile ich im Nachhinein als sinnvoll und zielführend: Dadurch waren detaillierte Einblicke in die Einzelfälle und darüber hinaus die Gewinnung einiger allgemeiner Rückschlüsse für die Unterrichtspraxis im Anschluss an die vergleichende Fallanalyse möglich. Die Indikation des Forschungsprozesses erfordert zudem eine kritische Refle‐ xion der Forschungsinstrumente in der Retrospektive. Insgesamt ergänzten sich die von mir gewählten Forschungsinstrumente insofern sehr gut, als ein Einblick in multiple Perspektiven der Probanden möglich war. Durch die Triangulation der Datenerhebung war eine breite und tiefe Erfassung des Forschungsfeldes möglich: Um die kognitiv-affektiven Prozesse der Jugendlichen untersuchen zu können, entschied ich mich neben den Fragebögen hauptsächlich für intro‐ spektive Verfahren in Form von Diary Studies und Leitfadeninterviews. In den Leitfadeninterviews ließ ich die SuS zu bestimmten Impulsen (z. B. zu den Ta‐ bubrüchen in HoC oder zu den für die Jugendlichen wichtigen Themen der Serie) laut denken. Dies funktionierte mit einigen SuS sehr gut, andere Jugendliche zeigten sich eher gehemmt, wenn sie ihren Gedanken freien Lauf lassen sollten und bevorzugten konkrete Fragen. Für die Einzelfallanalysen wurden solche Lernende ausgewählt, die mit der Methode gut zurechtkamen. Insgesamt fokus‐ sierte ich mit den Leitfadeninterviews einen retrospektiven Zugang, während die Viewing Journals einen unmittelbaren Einblick in das Fühlen und Denken der Jugendlichen bei der Rezeption der Serie ermöglichten. Nachdem ich von Schwierigkeiten gelesen hatte, die SuS zum Verfassen von Tagebucheinträgen zu bewegen (vgl. Biebricher 2008), war ich positiv überrascht von der Ausführ‐ lichkeit und Tiefe der Bearbeitung, welche die Seminarteilnehmenden in der Auseinandersetzung mit HoC zeigten. Der zu Beginn der Studie eingesetzte Fragebogen diente mir primär als Orientierung, um die Mediengewohnheiten der Jugendlichen, ihre Sicht auf den EU und ihre Erwartungen hinsichtlich des W-Seminars erforschen zu können. Mir war es für die Erhebungssituation der Viewing Journals wichtig, den Jugendlichen einen größtmöglichen Freiraum zu gestatten, so dass diese ihre Denk- und Fühlprozesse authentisch entfalten konnten. Aus diesem Grund wurde von einer vorausgehenden Trainings- oder Vorbereitungsphase abge‐ sehen, um die Gefahr der Verzerrungen innerhalb des Datenmaterials zu minimieren. Darüber hinaus verzichtete ich in den Viewing Journals bewusst auf eine zu starke Ausrichtung auf Wortschatzerwerb und sprachliche Struk‐ 389 9 Forschungsdesign und Forschungsmethodologie in der Retrospektive <?page no="390"?> turen insgesamt. Auch wenn mir das oberste Ziel des EU, die Entwicklung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen, natürlich bewusst ist, ging es in der vorliegenden Arbeit primär darum, zu untersuchen, wie die SuS auf eine au‐ thentische Netflix-Serie kognitiv sowie affektiv reagieren und inwieweit sie die Serie aus eigenem Antrieb für Konstruktions-, Lern-, Fühl- und Denkprozesse nutzbar machen würden. Bei der Rezeption meiner Arbeit könnte der Eindruck entstanden sein, dass ich z. B. den Moralvorstellungen Jugendlicher und ihrer Auseinandersetzung mit den Protagonisten Frank und Claire zu viel Raum gewährte und damit einen zu stark psychologischen statt fremdsprachendidaktischen Fokus wählte. Aber nicht ich, sondern die SuS bestimmten diesen Fokus, was bei der Darstellung der Ergebnisse entsprechend berücksichtigt wurde. Dies lässt folgenden Rück‐ schluss zu: Ganz besonders in der ethisch-moralischen Auseinandersetzung mit provokativen Szenen der Serie entfalten die Jugendlichen beeindruckende sprachliche Fähigkeiten. Hier reflektieren die Lernenden offensichtlich im Detail innere Überzeugungen und treten in Auseinandersetzung mit sich selbst bzw. mit ihren Werturteilen. Die sprachlich-produktiven Kompetenzen der SuS, welche sich in meiner Studie hauptsächlich als Output in Form der Viewing Journal-Einträge offenbaren, sind also entscheidend an motivierende Inhalte gekoppelt. Motivierend scheinen für die SuS vor allem Inhalte zu sein, die ihr ethisch-moralisches Urteilsvermögen aktivieren. Bei der Auswertung der Arbeit zeigt sich deutlich, dass die Jugendlichen nur dann sprachliche Kompetenzen entwickeln bzw. bereit sind, diese zu entfalten, wenn der Kontext der inhaltli‐ chen Auseinandersetzung sie entsprechend intrinsisch motiviert. Besonders an Romina wird deutlich, welch große Anstrengungen die Schülerin unternimmt, um ihren Wortschatz in der Beschäftigung mit Claire Underwood zu vergrößern und ihre sprachlich-stilistischen Kompetenzen zu verbessern. Anstatt die SuS also mit einem Übermaß an Detailfragen zu Sprache und Politik zu konfrontieren, durften und sollten sie eigene Schwerpunkte setzen. Fäcke (2006: 268 f) befürwortet einen solchen geringen Grad der Fremdsteue‐ rung, da man als Forscher/ in somit authentischere und unverfälschte Daten erhalten könne. Zudem leistete ich in meiner Studie dem von Steinke (2005: 327) genannten Kriterium der empfohlenen Anwesenheit der forschenden Person im Feld Folge. Damit war ich als Forscherin stets „[c]lose to the data” (Nunan 1992: 4) und verfügte über eine „‘insider’ perspective” (ebd.), welche mir tiefe und reiche Daten ermöglichte (vgl. ebd.). Parallel zu meiner Lehrtätigkeit in Kooperation mit Frau Potter führte ich die Studie durch und war damit „integrally involved in the case” (Cohen, Manion, und Morrison 2007: 253). Auf diese Weise erhielt 390 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="391"?> ich Einblicke in das Forschungsfeld, die für mich von großer Relevanz bei der Auswertung waren. Besonders wenn HoC-Szenen im Unterricht gemeinsam mit den SuS geschaut wurden, war es ebenso spannend wie aufschlussreich zu erleben, wie die Erstreaktionen der Jugendlichen ausfielen. Meine Eindrücke bezüglich dieser unverfälschten Reaktionen notierte ich in ein Forschungstage‐ buch, worauf ich an späterer Stelle noch genauer eingehe. Hinsichtlich der Indikation der Transkriptionsregeln erwiesen sich pragmati‐ sche Kriterien für eine bestmögliche Lesbarkeit der Texte als zielführend, wobei eine genaue Transkription dennoch gewährleistet bleiben sollte. So verfolgte ich eine „So exakt wie nötig, so gut lesbar wie möglich“-Devise. Aufgrund meines Forschungsinteresses an den Gedanken und Gefühlen der Probanden war beispielsweise eine leserfreundliche Orientierung an der Standardorthographie (vgl. Küppers 1999: 131 ff; Fäcke 2006: 270) sinnvoll, bei der ich auf para- und außersprachliche Verweise weitgehend verzichtete. Insgesamt nahmen 15 Jugendliche am W-Seminar teil, von 13 Jugendlichen konnten Daten aus allen Verfahren gewonnen werden. Zwei Schülerinnen standen wegen längerer Krankheit oder anderen persönlichen Gründen nicht bis zum Ende der Untersuchung zur Verfügung. Von den 13 Lernenden wählte ich fünf für vertiefte Einzelfallanalysen aus. Die Entscheidung für diese fünf SuS erfolgte nach dem Kriterium der Tiefe (vgl. Kapitel 5.4.2.2). Romina, Sven, Anastasia, Stefan und Florian boten sich an, da sie sich ausführlich mit HoC beschäftigt hatten und ihre Gedanken und Gefühle in den Interviews gut verbalisieren sowie reflektieren konnten. Hier erwies sich also die Ergiebig‐ keit der Aussagen als zweckmäßig. Da ich keine Verallgemeinerbarkeit der Einzelfallanalysen anstrebe, erscheinen mir Kriterien wie Bereitschaft, Tiefe und Intensität der Auseinandersetzung mit HoC als relevant; somit konnten aussagekräftige Daten, welche zugleich als repräsentativ für meine Stichprobe zu erachten sind, vorgestellt werden. Zudem verfolge ich mit den fünf Einzel‐ fallanalysen das Ziel, möglichst vielfältige Reaktionen der SuS im Rahmen der Auseinandersetzung mit HoC darzustellen. Um Erkenntnisse zur gesamten Gruppe der Studienteilnehmenden formulieren zu können, wurde gemäß Flicks Thematischem Kodieren im Anschluss an die Einzelfallanalysen eine ausführ‐ liche vergleichende Analyse, welche alle Fälle einbezieht, ausgearbeitet; diese bildet zugleich das Herzstück der vorliegenden Dissertation. Daraus konnten Rückschlüsse für die Unterrichtspraxis mit Serien im Netflix-Zeitalter abgeleitet werden. 391 9 Forschungsdesign und Forschungsmethodologie in der Retrospektive <?page no="392"?> ● Empirische Verankerung: Bei der Bewertung der Forschungsmethodologie muss auch das Kriterium des direkten Bezugs zum Datenmaterial (vgl. Steinke 2005: 328) kritisch reflektiert werden. Diesem Aspekt wurde im Rahmen der vorliegenden Studie auf ganzer Linie Rechnung getragen: Die Aussagen der W-Seminarteilnehmenden (in Form von Viewing Journal-Einträgen und Äußerungen in Interviews sowie Fragebögen) und die sich darin widerspiegelnden kognitiv-affektiven Prozesse bildeten die Grundlage für das Kategorien- und Codesystem. Der direkte Bezug zum Datenmaterial erfolgte auch dadurch, dass die Daten von mir unmittelbar nach ihrer Erhebung transkribiert, digitalisiert und anschließend ausgewertet wurden. Für eine exakte Kodierung arbeitete ich jedes einzelne Dokument mehrmals durch, um mir hinsichtlich der Zuordnung sicher sein zu können. Auf diese Weise lernte ich die Daten sehr gut kennen und Strukturen kristallisierten sich in Form eines roten Fadens zunehmend heraus. Die Integration zahlreicher Schülerzitate und Auszüge aus den Viewing Journals in die Arbeit soll den zentralen Stellenwert des direkten Datenbezugs unmissverständlich deutlich machen. Nur so konnte ich meine Interpretationen anhand konkreter Aussagen der Seminarteilnehmenden illustrieren. Darüber hinaus spielte für die empirische Verankerung im Rahmen meiner Studie die kommunikative Validierung eine wichtige Rolle: Die Interviews mit den Seminarteilnehmenden waren in erster Linie dafür gedacht, sicherzustellen, dass ich die Einträge der SuS in ihren Viewing Journals richtig verstanden hatte und die daraus resultierenden Rückschlüsse auf ihre kognitiv-affektiven Prozesse zutreffend waren. Dafür hatte ich mir während der Auswertung der Viewing Journals entsprechende Notizen gemacht, wenn ich mir bei der Analyse und Interpretation unsicher war. Solche Unsicherheiten und offene Fragen konnten in den Interviews geklärt werden. Darüber hinaus kontaktierte ich zwei der Seminarteilnehmenden (Romina und Sven) bei der finalen Ausarbeitung der Einzelfallanalysen per E-Mail. Obwohl das Seminar bereits seit einem halben Jahr beendet war, zeigten sich die Jugendlichen engagiert sowie hilfsbereit und beantworteten meine Fragen detailliert in schriftlicher Form, so dass auch hier eine kommunikative Validierung zum Einsatz kam. So konnte beispielsweise Rominas Wortschatzerwerb in der Auseinandersetzung mit HoC im Detail und anhand konkreter Beispiele nachvollzogen werden. In den Gesprächen mit den SuS waren keinerlei Hierarchien zwischen mir als Forscherin und den Jugendlichen als Beforschte spürbar; von Anfang an herrschte im W-Seminar ein Gefühl der Verbundenheit im Sinne eines „wir als Fans der Serie HoC“ (Anastasia, IV) vor. Dies hing sicher auch damit zusammen, 392 III Auswertung der empirischen Untersuchung <?page no="393"?> dass den SuS zu Beginn des Seminars ein Expertenwissen zu Filmen und Serien vermittelt wurde, so dass künftige Filmgespräche auf Augenhöhe stattfinden konnten. Zudem wurde das Gebot der Offenheit und des Interpretationsspiel‐ raums bei der Auseinandersetzung mit komplexen Szenen der Serie HoC berücksichtigt und die SuS schätzten die gemeinsame Bedeutungsaushandlung. Fäcke (2006: 272) äußert in ihrer Arbeit die Forderung nach „einer weiteren Person im Forschungsprozess, die gleichsam eine dritte Perspektive zu den Perspektiven von Forscherin und Beforschten einnimmt“. Im Fall meiner Studie fungierte Frau Potter als diese dritte Instanz, die sich - wie bereits erwähnt - als Bereicherung für die empirische Phase erwies. Hinsichtlich der dialogi‐ schen Außenvalidierung durch andere Forscherinnen und Forscher (vgl. ebd.: 273) wurde mein Projekt regelmäßig bei Forschungsforen im Rahmen des Arbeitskreises der Englischdidaktik (AKED) bayerischer Universitäten sowie des Fremdsprachendidaktischen Forschungskolloquiums Augsburg - Salzburg präsentiert und damit für Rückmeldung und Feedback durch andere Forschende geöffnet. Diese Plattform des konstruktiven Austauschs erwies sich immer wieder als sehr anregend und brachte wichtige Impulse. ● Limitation: Die Limitation der vorliegenden Studie lässt sich zunächst damit begründen, dass aufgrund des qualitativen Forschungsdesigns kein repräsentativer An‐ spruch hinsichtlich der Ergebnisse im Rahmen der Einzelfallanalysen und der vergleichenden Fallanalyse erhoben werden kann. Um umfassende Schlussfol‐ gerungen zu einer „Generation Netflix“ und einer „Generation Notflix“ im EU der Sekundarstufe II festhalten zu können, wäre eine größere Stichprobe mit einer höheren Anzahl an Beforschten erforderlich. Hinzu kommt, dass sich für das W-Seminar zweifellos solche SuS anmeldeten, die Lust hatten, mit einer Serie vertieft zu arbeiten. Zudem setzte sich das Seminar vor allem aus Jugendlichen zusammen, die Netflix bereits kannten und schätzten. Aus diesem Grund kann von einer Präselektion hinsichtlich der Probanden gesprochen werden. Darüber hinaus ging mit meinem empirischen Projekt, das sich über mehr als ein Schuljahr erstreckte, eine solche Datenmenge einher, dass es mir nicht möglich war, alle Aspekte innerhalb der gewonnenen Daten in dieser Arbeit zu berücksichtigen. Insgesamt lassen sich hinsichtlich der Datenfülle folgende Zahlen festhalten: 15 Fragebögen mit je vier Seiten; jeweils ein Viewing Journal zu drei Staffeln von HoC, welche von je 13 SuS bearbeitet wurden (zwischen zwölf und 30 Seiten pro Journal); 14 erhobene Interviews (ca. sechs bis zehn Seiten pro transkribiertes Interview) und die Seminararbeiten von 15 Jugendli‐ chen, die im Schnitt eine Länge von zwölf Seiten aufweisen. Dies ergibt eine 393 9 Forschungsdesign und Forschungsmethodologie in der Retrospektive <?page no="394"?> Gesamtdatenmenge von über 900 Seiten, die ich mithilfe von MAXQDA, einer Software für qualitative Datenanalyse, aufbereitete. Obwohl ich beispielsweise alle Fälle entlang meines K