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Gedolmetschte Ärzt:innen-Patient:innen-Gespräche

Phänomene und Probleme aus gesprächsanalytischer und aus dolmetschwissenschaftlicher Perspektive

0227
2023
978-3-8233-9554-6
978-3-8233-8554-7
Gunter Narr Verlag 
Gertrud Hofer-Falk
10.24053/9783823395546

Wie verständigen sich Ärzt:innen und Pflegefachpersonen mit Patient:innen, wenn sie keine gemeinsame Sprache haben? Dieser Frage geht die vorliegende Studie nach. Die Basis für die Analysen sind 26 Ausschnitte aus authentischen gedolmetschten Ärzt:innen-Patient:innen-Gesprächen. Die theoretische Grundlage bilden die Interaktionale Linguistik, die Multimodalitätsforschung sowie die Dolmetschforschung. Die Videoaufzeichnungen beziehen die multimodalen Handlungen aller Beteiligten mit ein. Die Ergebnisse zeigen, dass zentrale Anliegen der Patient:innen von medizinischer Relevanz wie Schmerzen oder krankheitsbedingte Ängste oft ausgeblendet werden. Außerdem demonstriert die Studie erstmals in diesem umfassenden Ausmaß, wie eng die Redebeiträge sowie die Verdolmetschungen mit Blickkontakten, mit der Gestik und der Körperposition verknüpft sind.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8554-7 Wie verständigen sich Ärzt: innen und Pflegefachpersonen mit Patient: innen, wenn sie keine gemeinsame Sprache haben? Dieser Frage geht die vorliegende Studie nach. Die Basis für die Analysen sind 26 Ausschnitte aus authentischen gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen. Die theoretische Grundlage bilden die Interaktionale Linguistik, die Multimodalitätsforschung sowie die Dolmetschforschung. Die Videoaufzeichnungen beziehen die multimodalen Handlungen aller Beteiligten mit ein. Die Ergebnisse zeigen, dass zentrale Anliegen der Patient: innen von medizinischer Relevanz wie Schmerzen oder krankheitsbedingte Ängste oft ausgeblendet werden. Außerdem demonstriert die Studie erstmals in diesem umfassenden Ausmaß, wie eng die Redebeiträge sowie die Verdolmetschungen mit Blickkontakten, mit der Gestik und der Körperposition verknüpft sind. Gertrud Hofer-Falk Gedolmetschte Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräche Gedolmetschte Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräche Gertrud Hofer-Falk Phänomene und Probleme aus gesprächsanalytischer und aus dolmetschwissenschaftlicher Perspektive <?page no="1"?> Gedolmetschte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche <?page no="3"?> Gertrud Hofer-Falk Gedolmetschte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche Phänomene und Probleme aus gesprächsanalytischer und aus dolmetschwissenschaftlicher Perspektive <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395546 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8554-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9554-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0394-7 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2 Ziel und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Ein Forschungsprojekt als Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3.1 Konzeption des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3.2 Ergebnisse im Rahmen des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.4 Gliederung der vorliegenden Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1 Die Videoaufzeichnung von authentischen Gesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2 Aspekte der Räumlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.3 Multimodale Interaktion und Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3.1 Der multimodale Analyseansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3.2 Die Koordination von verschiedenen Ausdrucksebenen . . . . . . . . . . . . . 32 2.4 Merkmale der Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis . . . . . . . . . . . . 44 3.1 Gesprächsdolmetschen als disziplinübergreifendes Forschungsthema . . . . . . 44 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.2.1 Gesprächsdolmetschen als Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.2.2 Berufsbezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.2.3 Dolmetschen im Spital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.2.4 Organisation des Dolmetschwesens in Schweizer Spitälern . . . . . . . . . . 59 3.3 Kriterien für die Beurteilung der Qualität von Dolmetschleistungen . . . . . . . 61 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.4.1 Redewiedergabe und Adressierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.4.2 Beteiligungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.4.3 Rollenprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.4.4 Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.5.1 Die Videoaufzeichnungen von authentischen Daten in der Dolmetschforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.5.2 Aspekte der Räumlichkeit und der Sitzpositionen der Beteiligten . . . . 87 3.5.3 Multimodalität als Forschungsgegenstand in der Dolmetschwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 <?page no="6"?> 3.6 Merkmale der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation . . 94 3.6.1 Inhaltliche Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.6.2 Divergierende Wissensvoraussetzungen in der Expert: innen-Laien- Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.6.3 Heterogene Ansichten und Einschätzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4 Korpus und Datenaufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.1 Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.1.1 Auswahl der gedolmetschten Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.1.2 Auswahl der Dolmetscher: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.2 Transkription der Gesprächsdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.3 Datenselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.4 Vorgehen und Aufbau der Sequenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.5 Fallbeispiele und Datenbeispiele im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.6 Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5 Auswertung der Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.1.1 Sequenz 1: „ Wie geht ’ s? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 5.1.2 „ Sind das Schmerzen, die neu sind oder die Sie schon von vorher kennen? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5.1.3 „ Sind die Schmerzen abhängig von der Belastung oder auch in Ruhe oder in der Nacht? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.1.4 Sequenz 4: „ Wann hat sie die Schmerzen? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.2.1 Sequenz 1 „ [ … ] ich habe viel Schmerzen und Weh. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.2.2 Sequenz 2: „ [ … ] dann packt mich die Angst sofort [ … ] “ . . . . . . . . . . . . . 148 5.2.3 Sequenz 3: „ [ … ] die letschte zwei het sie sehr übertriebe. “ . . . . . . . . . . 153 5.2.4 Sequenz 4: „ Hat sie Fragen an mich? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5.3.1 Sequenz 1: „ Diese fragt weiter, warte, bis sie fertig ist. “ . . . . . . . . . . . . . 169 5.3.2 Sequenz 2: „ Ich würde gerne mit ihr einmal die Blutzuckerwerte anschauen. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.3.3 Sequenz 3: „ Sie will was über den Magen erzählen [ … ]. “ . . . . . . . . . . . . 177 5.3.4 Sequenz 4: „ [ … ] und ihre Frage ist jetzt, ob [ … ] das Insulin daran schuld ist? “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.3.5 Sequenz 5: „ Wenn wir Anfang Jahr etwas abmachen würden? “ . . . . . . 189 5.3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.4.1 Sequenz 1: „ [ … ] wir müssen die Mitte finden. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.4.2 Sequenz 2: „ Novorativ dings, sagt sie. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.4.3 Sequenz 3: „ Tschuldigung, heisst das nicht vor dem Essen essen? “ . . . 207 5.4.4 Sequenz 4: „ [ … ] also er isch do sehr gut begabt. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 6 Inhalt <?page no="7"?> 5.4.5 Sequenz 5: „ Er macht das nach dem Essen [ … ] “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 5.4.6 Sequenz 6: „ Ich habe das Gefühl, wir verstehen uns nicht ganz [ … ] “ . 218 5.4.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.5.1 Sequenz 1: „ Also er hat so ne kleine Probleme [ … ] “ . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 5.5.2 Sequenz 2: „ Ja, Sie haben ja em Probleme mit den Gefässen [ … ] “ . . . . 232 5.5.3 Sequenz 3: „ Beim Laufen macht es Schmerzen, als ob ich auf Sand laufe. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5.5.4 Sequenz 4: „ Meins ist schlimm, es brennt so, schmerzt, es zerstört mich. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 5.5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5.6.1 Sequenz 1: „ Dann Wort für Wort, also möglichst. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5.6.2 Sequenz 2: „ Okay, er hat so weit verstanden. “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 5.6.3 Sequenz 3: „ Also ihr Deutsch ist sehr gut, wahrscheinlich. “ . . . . . . . . . 249 5.6.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6.1 Organisatorische, strukturelle und thematische Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . 256 6.1.1 Ausblendung von Schmerzen und krankheitsbedingten Ängsten . . . . . 258 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.2.1 Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.2.2 Redewiedergabe und Adressierung in den Fallbeispielen . . . . . . . . . . . . 263 6.2.3 Wider statische Rollen im spontanen Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 6.3.1 Beteiligungsformen in den Fallbeispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 6.3.2 Der Sprecherwechsel in der gedolmetschten Interaktion . . . . . . . . . . . . 274 6.3.3 Die räumliche Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 6.3.4 Körperorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.3.5 Blickverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.3.6 Gestik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 6.3.7 Backchannel-Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 6.4 Gedolmetschte Expert: innen-Laien-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 6.4.1 Divergierende Wissensvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 6.4.2 Asymmetrie in der Gesprächsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 6.4.3 Ungleichheit der Vertrauensbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 6.5 Disziplinübergreifende Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6.6 Gedanken zur Aus- und Weiterbildung von Dolmetscher: innen und Expert: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 7 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Inhalt 7 <?page no="9"?> Danksagung Diese Dissertation ist mit der Unterstützung von einigen Menschen entstanden, bei denen ich mich bedanken möchte. Zunächst danke ich meiner Erstbetreuerin Ulla Kleinberger herzlich dafür, dass sie mich dazu ermunterte, die vorliegenden Gesprächsdaten für eine Dissertation zu nutzen. Sie stand mir mit ihrer Erfahrung zur Seite, lenkte meine Schreiblust in geordnete Bahnen und liess mir bei der Konzeption der Arbeit sowie bei der Wahl der Methodik viel Freiheit. Zu grossem Dank verpflichtet bin ich meinem Zweitbetreuer Heiko Hausendorf, der sich auf das Thema einliess und mir sein Doktorandenkolloquium öffnete, was mir einen vertieften Einblick in gesprächsanalytisches Arbeiten in einem kollegialen Umfeld ermöglichte. Dort lernte ich Kenan Hochuli kennen, dem ich für die Überprüfung der türkischen Redebeiträge und für anregende Gespräche über die linguistische Gesprächsanalyse danke. Die Dissertation hat sich aus einem Forschungsprojekt entwickelt, das ohne die intensive Zusammenarbeit mit der Abteilung Psychosomatik der Universität Basel nie zustande gekommen wäre. Mein Dank geht an Prof. Dr. W. Langewitz, Dr. M. Sleptsova sowie Dr. N. Morina, die mit der Problematik des Dolmetschens aus der medizinischen Praxis vertraut sind und mit ihrem Interesse am Thema die Videoaufzeichnungen überhaupt erst ermöglichten. N. Morina war auch nach Abschluss des Projekts bereit, sich mit kritischen Stellen in albanischen Äusserungen noch einmal auseinanderzusetzen. Mein Dank gilt auch den anonym bleibenden Ärzt: innen, den Pflegefachfrauen, den Dolmetscher: innen sowie den Patient: innen, die bei ihren Konsultationen ein Videogerät akzeptierten. Meiner damaligen Assistentin Stefanie Kaufmann bin ich für ihre stete Einsatzbereitschaft und die vielen Stunden intensiver Zusammenarbeit dankbar. Ein herzliches Dankeschön gilt meinen Kolleg: innen an der ZHAW für das Diskutieren und das gemeinsame Analysieren der Daten. Die Transkriptionen und die Übersetzungen verdanke ich Mitarbeiter: innen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften), verschiedenen Dolmetscher: innen, die im Gesundheitswesen tätig sind und sich auf theoretische Überlegungen und auf elektronische Tools einliessen, sowie ehemaligen Studierenden der ZHAW. Über das Projekt hinaus standen mir Katerina Badras und Marcel Eggler mit fachlichem Rat und stets ermutigenden Worten bei. Sie waren bereit, mich bei konzeptionellen Problemen zu unterstützen und grössere oder kleinere Textausschnitte kritisch zu kommentieren. Damit halfen sie mir über inhaltliche Schwierigkeiten und meine Zweifel hinweg. Katerina bedeutete mir eine grosse Stütze, intellektuell und mit ihrer Freundschaft. Schliesslich gehört mein Dank meinen Eltern, die mir meine Ausbildung ermöglichten, sowie meinen Kindern und Schwiegerkindern für ihre Informatikhilfe und ihre moralische Unterstützung. Vor allem danke ich meinem Mann, der mir immer zur Seite stand und mitdachte. Für das Zustandekommen des Buches möchte ich mich bei Herrn Tillmann Bub vom Gunter Narr Verlag herzlich für die kompetente und freundliche Unterstützung bedanken. <?page no="10"?> Vorwort Ärzt: innen und Pflegefachpersonen weisen verschiedentlich auf Kommunikationsprobleme mit Patient: innen hin. Die Kommunikation wird zusätzlich erschwert, wenn für die Verständigung Dolmetscher: innen benötigt werden. Um konkrete Phänomene und Probleme der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche besser zu verstehen, wurden in verschiedenen Studien Auftraggeber: innen und Dolmetscher: innen zu den Ansichten über die Aufgaben und über die Rolle der Dolmetscher: innen befragt. Die Ergebnisse weisen auf divergierende Ansichten der Befragten sowohl innerhalb als auch zwischen den verschiedenen Berufsgruppen hin. Wie sich die unterschiedlichen Ansichten auf reale Gesprächssituationen auswirken, bleibt jedoch offen. In der vorliegenden Untersuchung wird anhand von Videoaufzeichnungen detailliert untersucht, wie sich die primären Beteiligten mit Hilfe von Dolmetscher: innen verständigen. Die primären Beteiligten sind einerseits Ärzt: innen, Pflegefachpersonen und andererseits Patient: innen mit albanischer oder türkischer Erstsprache. Das Thema ist an der Schnittstelle zweier Fachdisziplinen angesiedelt - der linguistischen Gesprächsanalyse und der Dolmetschwissenschaft. Methodologisch ist die vorliegende Studie in der linguistischen Gesprächsanalyse verortet. In der linguistischen Gesprächsanalyse wird untersucht, wie Gespräche in Alltagssituationen verlaufen. Mit der Entwicklung der Videotechnik ist das Interesse an der Koordination des Sprechens mit anderen leiblichen Handlungen wie der Körperorientierung, den Körperbewegungen, der Augenkommunikation, und den Gesten in den Vordergrund gerückt. Im Zusammenspiel mit den sprachlichen Handlungen wenden sich Menschen einander zu, schauen sich an, schauen weg, gestikulieren oder nicken. Unter dem Einfluss der linguistischen Gesprächsanalyse gewinnt der Einbezug der körperlichen Ressourcen in das empirische dolmetschwissenschaftliche Arbeiten ebenfalls an Bedeutung. Die multimodale Analyse ist eine Erweiterung der rein sprachzentrierten Perspektive. Im Analyseteil wird die gesamte Interaktion als multimodal geprägter Prozess aufgefasst, das heisst, auch die zwischen den Redebeiträgen der primären Gesprächsparteien eingebetteten Verdolmetschungen sind Teil der gemeinsam und multimodal hergestellten Interaktion. Zwischen den Redebeiträgen der primären Gesprächsparteien in der Ausgangssprache und den Verdolmetschungen in die Zielsprachen besteht indessen ein entscheidender Unterschied. Die primären Gesprächsparteien äussern originale Redebeiträge. Die Aufgabe der Dolmetscher: innen ist die Wiedergabe dieser originalen Redebeiträge. Verdolmetschungen sind immer Veränderungen unterworfen. Welche Veränderungen die Verdolmetschungen durch die Prozesse der individuellen Wahrnehmung der Dolmetscher: innen, durch die unterschiedlichen Sprachkompetenzen, die Gedächtnisleistung beziehungsweise die Gedächtnislücken und die adäquate oder weniger adäquate Ausdrucksfähigkeit erfahren haben, lässt sich von den Beteiligten kaum abschätzen. Die durch die Veränderungen beim Dolmetschen bedingten allfälligen Störungen können für die Ärzt: innen, die Pflegefachfrauen sowie für die Patient: innen gravierende Folgen haben. Auf der Gesprächsebene wird eine Störung jedoch lediglich dann sichtbar, wenn eine/ r der drei <?page no="11"?> Beteiligten selbst ein Problem signalisiert, etwa durch Backchannel-Signale oder durch Nachfragen. In vielen anderen Fällen können inadäquate Verdolmetschungen und dadurch entstandene Missverständnisse erst anhand der Transkription offengelegt werden. Die Qualität der Verdolmetschung ist aus dolmetschwissenschaftlicher Sicht also von zentraler Bedeutung. Die Beurteilung der Qualität ist der entscheidende Unterschied zwischen der dolmetschwissenschaftlichen und der gesprächsanalytischen Perspektive, die Interaktionen aus der Beteiligtenperspektive beschreibt. Trotz der Unterschiede zwischen den beiden Disziplinen dokumentiert die vorliegende Untersuchung vor allem in drei Aspekten das Verbindende: In beiden Fachdisziplinen geht es zunächst um das Sichtbarmachen des sprachlich-interaktiven Handelns in Ärzt: innen- Patient: innen-Gesprächen, vor allem bei sensiblen Gesprächsthemen wie Krankheitssymptomen, Schmerzen und Ängsten. Weiter geht es bei der Beobachtung der authentischen Gespräche darum, Beteiligungsformen der Ärzt: innen oder Pflegefachfrauen, der Patient: innen und der Dolmetscher: innen aufzuzeigen und schliesslich ist die Beschreibung der Besonderheiten der sozialen Beziehungen im Expert: innen-Laien-Gefüge im Fokus. Für die detaillierte Analyse der 26 Gesprächsausschnitte aus sechs Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen, die in den drei Universitätsspitälern in der Deutschschweiz stattgefunden haben, wurden beide Methoden einbezogen. Als wesentliche Ergebnisse konnten fallübergreifende Muster und Dynamiken identifiziert werden. So wird aus den Analysen klar ersichtlich, dass die Verständigung in gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen- Gesprächen deutlich erschwert ist, dass Dolmetscher: innen sich mit Blickkontakten und Gesten an den Interaktionen beteiligen und durch selbst-initiierte Redebeiträge einen prägenden Einfluss auf die Gesprächsverläufe sowie auf die Beziehungen zwischen den Beteiligten haben. Ebenso deutlich wurde in den Analysen der Fallbeispiele, dass die Ärzt: innen oder die Pflegefachfrau den Dolmetscher: innen mehr Vertrauen entgegenbringen als den Patient: innen. Vorwort 11 <?page no="12"?> 1 Einleitung Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts leben vermehrt Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt in der Schweiz. 1 Sie kommen je nach ihren Lebensumständen möglicherweise ohne Kenntnisse in der jeweiligen Landessprache mit Vertreter: innen von Schulen, sozialen Institutionen, Behörden, Gerichten, Strafbehörden oder Spitälern in Kontakt. An solchen Gesprächen sind daher in vielen Fällen Dolmetscher: innen beteiligt. Verständigungsschwierigkeiten aufgrund von mangelnden Sprachkenntnissen können zu Benachteiligungen für diejenigen Patient: innen führen, deren Kompetenz in der Sprache der Expert: innen 2 gering ist (Menz, 2013a, p. 7). In solchen Gesprächssituationen können gravierende Missverständnisse entstehen, die sich auf die medizinische Behandlung auswirken. 3 Dazu das Beispiel einer kurzen Notiz unter dem Titel „ Am falschen Finger operiert “ im Tages-Anzeiger vom Dienstag, dem 24. Dezember 2013, in der folgende Verwechslung geschildert wird: Ein Arzt hat im Spital Langenthal eine Patientin aus Versehen am falschen Finger operiert. Als Ursache kommen möglicherweise sprachliche Probleme infrage. Die gebürtige Türkin liess sich inzwischen den richtigen Finger operieren. Der 58-Jährigen hätte vergangene Woche am Mittelfinger ein sogenannter Anker eingesetzt werden sollen. (SDA, 2013) Um folgenreiche Fehlbehandlungen wie Operationen am falschen Finger und schlimmere Ereignisse zu vermeiden, werden in verschiedenen Schweizer Spitälern seit Jahren Gesprächsdolmetscher: innen 4 hinzugezogen. Man hofft, dass damit alle Kommunikationsprobleme gelöst sind. Aber wenn man Expert: innen in informellen Gesprächen auf gedolmetschte Konsultationen anspricht, dann thematisieren sie ihre Zweifel an der Adäquatheit von Verdolmetschungen. Die Äusserungen in der jeweils anderen Sprache sind ihnen meist unzugänglich. Es entzieht sich ihrem Wissen, wie gedolmetschte Gespräche wirklich verlaufen, was die Dolmetscher: innen hören, wie sie das Gehörte verstehen, wie sie es verarbeiten und in der anderen Sprache wiedergeben. Meldungen über problematische Konsequenzen aufgrund von inadäquaten Verdolmetschungen sind ent- 1 Quelle: Bundesamt für Statistik: https: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ de/ home/ statistiken/ katalogedatenbanken/ grafiken.gnpdetail.2021-0180.html (Stand: 11. 12. 2021) 2 In dieser Studie werden die verschiedenen Vertreter: innen der Medizin mit dem Ausdruck „ Expert: innen “ bezeichnet. Dies deshalb, weil die Gespräche nicht nur mit Ärzt: innen, sondern auch mit einer Diabetes-Beraterin, mit einer Pflegefachfrau und mit verschiedenen Physiotherapeut: innen geführt worden sind. Der lexikalisch etablierte Terminus „ Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation “ wird hingegen beibehalten. 3 Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung von 2017 stellt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Folgendes fest: „ ( … ) Personen mit Migrationshintergrund [sind] häufiger gesundheitlich benachteiligt “ . Bereits 2004 und 2010 hatte das BAG auf diesen Missstand hingewiesen: www.bag. admin.ch/ bag/ de/ home/ strategie-und-politik/ nationale-gesundheitsstrategien/ gesundheitliche-chancengleichheit/ forschung-zu-gesundheitlicher-chancengleichheit/ gesundheitsmonitoring-der-migrationsbevoelkerung.html (Stand: 11. 12. 2021) 4 Gesprächsdolmetscher: innen werden meist aufgrund ihrer Zweisprachigkeit zu Gesprächen an Behörden, Gerichten, Schulen oder Spitälern hinzugezogen, obwohl sie häufig keine den Anforderungen entsprechende formale Ausbildung haben. <?page no="13"?> sprechend selten. Patient: innen, die seit einiger Zeit in der Schweiz leben, haben zwar eine gewisse Kompetenz im Deutschen. Diese Situation schildert Meyer (2009) auch für Deutschland. Ob sie aber die Redebeiträge der Expert: innen verstehen und sich der Veränderungen bewusst werden, wird lediglich in den Fällen deutlich, in denen sie direkt auf die deutschen Redebeiträge reagieren. Dolmetscher: innen im Bildungs-, Gesundheits-, Justiz- und Sozialwesen haben in der Regel keine dolmetschspezifische Ausbildung. Dolmetschen in institutionellen Settings wurde sowohl von der Lehre als auch von der Dolmetschforschung lange vernachlässigt. 5 Das gesprochene Wort war zwar schon vor den 1990er-Jahren Gegenstand der Dolmetschforschung, aber der Fokus der Dolmetschwissenschaft lag vorwiegend auf dem Konferenzdolmetschen (vgl. u. a. Gerver, 1975; Kalina, 2011). Die Bedeutung einer Qualifizierung für Dolmetscher: innen im Gesundheitswesen wurde in der Schweiz erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts erkannt (Hudelson et al., 2013, p. 2). Da es an Schweizer Hochschulen bisher keine Ausbildung mit Bachelor- oder Masterabschlüssen für Dolmetscher: innen, die zu Gesprächen in institutionellen Settings hinzugezogen werden, gibt, war und ist das Gesprächsdolmetschen am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) nicht Teil der Ausbildung der Konferenzdolmetscher: innen. Hingegen wurden im Rahmen der Weiterbildung des Instituts von einem aus Dolmetscher: innen und Linguist: innen bestehenden Team zwischen 2003 und 2013 Aus- und Weiterbildungsprogramme für Dolmetscher: innen durchgeführt, die für das Bildungs-, das Gesundheits-, das Justiz- und das Sozialwesen dolmetschen. Das Interesse von Auftraggeber: innen an solchen Kursen bestand zunächst bei den Polizeibehörden und Gerichten, wenig später suchten Spitäler den Kontakt zur ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Für den Aufbau von Grundkursen mussten zunächst die beruflichen und die theoretischen Hintergründe erarbeitet werden. Vor der Durchführung der ersten Grundkurse, die spezifisch für das Justizwesen konzipiert wurden, erhielt das Team einen detaillierten Einblick in die Komplexität der Dolmetschtätigkeit. Nur schon die Fremdheit der zahlreichen Sprachen, in die und aus denen bei Behörden und Gerichten seit Jahren gedolmetscht wird, war beeindruckend. Die verschiedenen Sprachen sind in der Schweiz ausserhalb der jeweiligen Gemeinschaften zum Teil so unbekannt, dass Polizeibeamte, Staatsanwält: innen oder Richter: innen nicht einmal ein „ Ja “ oder ein „ Nein “ verstehen. Sprachenübergreifend angebotene Weiterbildungsprogramme entsprechen deshalb einem dringenden Bedürfnis der Vertreter: innen des Justizwesens sowie der Dolmetscher: innen, wie das auch im internationalen Kontext beschrieben wird (vgl. v. a. Driesen, 2012). Der von den Jurist: innen gewünschte weitere Ausbau der Weiterbildung gab den Anstoss zu einem umfassenderen Aus- und Weiterbildungsprogramm im Anschluss an den Grundkurs. Die Weiterentwicklung der Grundkurse erforderte ein breiter abgestütztes Wissen über die beruflichen Anforderungen der Dolmetscher: innen und die Erwartungen der Jurist: innen an die Dolmetscher: innen (vgl. Hofer & General, 2012). Zu diesem Zweck fand die weitere Zusammenarbeit im Justizwesen in Form einer Befragung von Auftraggeber: innen (Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei) und von Dolmetscher: innen zur Dolmetschtätigkeit 5 Kalina (2017) beschreibt dieselbe Situation in Deutschland (Kalina, 2017, p. 174). 1 Einleitung 13 <?page no="14"?> und zum Rollenprofil statt. Die Dolmetscher: innen mit den verschiedensten Erstsprachen wie Albanisch, Chinesisch, Tigrinya oder Türkisch dolmetschten zum Teil seit Jahren im Auftrag der Justiz, verfügten aber in den meisten Fällen weder über juristisches Fachwissen noch über eine dolmetschspezifische Ausbildung. Über die Qualität der Dolmetschleistungen, die im Auftrag der Ermittlungsbehörden und der Gerichte des Kantons Zürich erbracht wurden, wusste man wenig. Die Auftraggeber: innen vermuteten jedoch, dass es häufig zu Kommunikationsproblemen kam. Die Ergebnisse der Befragung wiesen denn auch auf einige Problembereiche hin. So wurde zum Beispiel deutlich, wie weit die Vorstellungen bezüglich der Dolmetschtätigkeit und des Berufsprofils der Dolmetscher: innen auseinanderklafften, und zwar nicht nur zwischen den Dolmetscher: innen einerseits und den Auftraggeber: innen andererseits, sondern auch innerhalb der beiden Gruppen der Befragten. Über die tatsächliche Qualität der Verdolmetschungen sagte diese Befragung jedoch nichts aus (vgl. Hofer, 2010). Aufgrund der in dieser Befragung deutlich zutage getretenen Divergenzen interessierten sich auch Auftraggeber: innen im Gesundheitswesen für entsprechende Projekte. Ein erstes Projekt mit dem Zürcher Kinderspital, in dem die Bandbreite von Ansichten zum Dolmetschen aus der Perspektive der Dolmetscher: innen und der Auftraggeber: innen in analoger Weise erhoben wurde, ergab ähnlich divergente Resultate wie zuvor im Justizwesen (vgl. Hofer, 2009). Ausserdem wurden in diesem Projekt die Angehörigen 6 der Patient: innen zu ihrer Meinung über die Qualität von Dolmetschleistungen befragt. Die Angehörigen, die (etwas) Deutsch verstanden und bereits einiges über die Krankheit der Kinder wussten, schätzten die Leistungen der Dolmetscher: innen aufgrund des mangelhaften Verständnisses für medizinische Zusammenhänge sowie der inadäquaten Sprachkenntnisse teilweise negativ ein (Wietlisbach & Hofer, 2008, p. 26). 7 Die Qualität von Dolmetschleistungen ist schwer zu messen, da transparente Kriterien als Grundlage für eine Beurteilung fehlen (vgl. Kalina, 2011, p. 161). Aufgrund der Ergebnisse im Justizwesen, im Kinderspital-Projekt sowie aufgrund eigener Erfahrungen aus den Aus- und Weiterbildungsprogrammen ist man in der Weiterbildung am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) zur Überzeugung gelangt, dass ein präzises Wissen über die Phänomene der gedolmetschten Kommunikation in der Praxis lediglich anhand der Analyse von authentischen Gesprächsdaten zu erhalten ist. Diese Einschätzung teilten Vertreter: innen der Abteilung Psychosomatik des Universitätsspitals Basel, die schon seit längerem gravierende Kommunikationsprobleme in gedolmetschten Gesprächen vermuteten. 8 Die beunruhigenden Ergebnisse der Befragung im Kinderspital verstärkten ihre Zweifel. Die Diskussionen um die Leistungen der Dolmetscher: innen mündeten in eine Zusammenarbeit der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) mit der Abteilung Psychosomatik des Universitätsspitals Basel. 6 In der Regel waren das die Eltern oder ein Elternteil. 7 Ursprünglich war der vollständige Bericht im Internet zugänglich. Der inzwischen auf wenige zusammenhanglose Aussagen reduzierte Bericht ist im Internet abrufbar: http: / / asp.artegis.com/ urlhost/ artegis/ events/ 4899/ pres/ B1_Abs4_M.%20Wietlisbach.pdf, (Stand: 11.12.2021). 8 Die Problematik war offenbar identisch mit derjenigen im Justizwesen. 14 1 Einleitung <?page no="15"?> 1.1 Motivation Zur Faszination der Beschäftigung mit dem facettenreichen Thema „ Dolmetschen im Spital “ kam in der Folge der Erfahrungen in den Weiterbildungsprogrammen, der Ergebnisse der Befragungen und der Gespräche mit den Vertreter: innen der Abteilung Psychosomatik des Universitätsspitals Basel als Motivation die Überzeugung hinzu, dass sowohl die Patient: innen als auch die Expert: innen ein Anrecht auf die Loyalität 9 der Dolmetscher: innen gegenüber ihren Äusserungen haben und ein Gespräch zwischen den Gesprächsparteien 10 möglichst so verläuft, als könnten Expert: innen und Patient: innen direkt miteinander sprechen. Aus der Vermutung heraus, dass die Realität anders ist, ergaben sich Fragen nach den Besonderheiten der gedolmetschten Kommunikation, die das wechselseitige Verstehen erschweren, etwa nach den Ursachen für fehlende Reaktionen der Expert: innen auf die Anliegen der Patient: innen oder für auffallende Diskontinuitäten im Gesprächsverlauf. Das gemeinsame Forschungsinteresse der Mediziner: innen und der Linguist: innen mündete schliesslich in das KTI-Projekt Nr. 11424.1 PFES-ES mit der Laufzeit von zwei Jahren (2010 - 2012), das mit dem unveröffentlichten Bericht „ Anforderungs- und Rollenprofil für Dolmetschende im medizinischen Bereich “ (Sleptsova et al., 2012) abgeschlossen wurde. An dieser Untersuchung waren die Universitätsspitäler Basel 11 (Abteilung Psychosomatik), Zürich (Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer [afk]) und Bern (Inselspital) beteiligt. 12 Die Schwerpunkte der Analyse lagen auf der (In-)Adäquatheit der Verdolmetschungen sowie auf der Rolle der Dolmetscher: innen (Sleptsova et al., 2015; Sleptsova et al., 2017). Für dieses Projekt sind die Sprachen Albanisch und Türkisch ausgewählt worden. Diese beiden Sprachen sind bisher nicht Teil von regulären Ausbildungsprogrammen an Schweizer Hochschulen. 9 Der Ausdruck „ Loyalität “ wird in der Übersetzungstheorie verwendet: „ Der Translator ist [ … ] bilateral gebunden: an den Ausgangstext und an die Ziel(text)situation, und er trägt Verantwortung sowohl gegenüber dem AT-Sender [Ausgangstextsender, Anm. GH] [ … ] als auch gegenüber dem Zieltextempfänger. Diese Verantwortung bezeichne ich als ‚ Loyalität ‘ [ … ] “ (Nord, 2003, p. 32). 10 In der vorliegenden Arbeit wird aufgrund der Asymmetrie zwischen medizinischen Fachpersonen und Patient: innen grundsätzlich von Gesprächsparteien gesprochen, wie es der Usanz in der medizinischen Kommunikation entspricht (Mündliche Kommunikation des Internisten und Psychiaters Wolf Langewitz). 11 Die Abteilung Psychosomatik des Universitätsspitals Basel hatte die Projektleitung inne, die Pflegeabteilung des Universitätsspitals Basel und asim Begutachtung waren Wirtschaftspartner. Überdies beteiligten sich mehrere Abteilungen der Universitätsspitäler Basel, Zürich und Bern mit der Bereitstellung von Videoaufzeichnungen am KTI-Projekt. 12 An der Studie beteiligt waren Marina Sleptsova (Gesuchstellerin), Wolf Langewitz, Naser Morina, Paul Grossmann, Irina Weber, Matthis Schick (Universitätsspitäler Basel und Zürich) sowie Gertrud Hofer (Mitgesuchstellerin des Projekts), Marcel Eggler, Ulla Kleinberger, Michaela Albl-Mikasa, Christian Kriele (Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW). 1.1 Motivation 15 <?page no="16"?> 1.2 Ziel und Fragestellung In der vorliegenden Untersuchung geht es um die Analyse der Kommunikation zwischen Patient: innen und Expert: innen, die nicht die gleiche Sprache sprechen und sich ausschliesslich oder vorwiegend mit Hilfe von Dolmetscher: innen verständigen. Im Fokus der in dieser Untersuchung analysierten Gespräche sind Schmerzzustände und die emotionale Betroffenheit der Patient: innen. Da Schmerzen, schmerzbegleitende Ängste und krankheitsbedingte Sorgen in der Regel nicht beobachtet werden können, sind Expert: innen für die Diagnostik auf das Gespräch mit den Patient: innen angewiesen. Wie Dolmetscher: innen Schmerzen, schmerzbegleitende Ängste und krankheitsbedingte Sorgen von Patient: innen wiedergeben, wurde in der dolmetschwissenschaftlichen Literatur m. W. bisher erst anhand des vorliegenden Datenmaterials herausgearbeitet (Hofer, 2019; Hofer et al., 2017). Über den detaillierten Gesprächsablauf in gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen- Gesprächen, die im Spital durchgeführt werden, ist wenig bekannt. Mit der vorliegenden Studie sollte insbesondere auf drei Forschungsdesiderate reagiert werden: • auf die Seltenheit von empirischen Forschungen im Vergleich mit den Studien über isolierte Teilthemen wie die inadäquate Verdolmetschung einzelner Stellen und die Rolle der Dolmetscher: innen • auf den systematischen Einbezug der Redebeiträge der primären Gesprächsparteien statt der bisher meist üblichen Konzentration auf die Dolmetscher: innen • auf das Zusammenwirken der Verbalität mit den anderen multimodalen Handlungen Gegenstand der Untersuchung sind a. die thematisch-inhaltlichen Interaktionsverläufe in den ausgewählten Gesprächsausschnitten. In der Analyse steht die Verstehens- und Verständigungsarbeit im Vordergrund. Dabei interessiert die Frage, ob die aufeinanderfolgenden Redebeiträge der Beteiligten einen sinnvollen Zusammenhang ergeben oder ob inhaltliche Diskontinuitäten die Gedankenfolge entstellen und allenfalls zu Verständigungsproblemen führen. Im Falle von Divergenzen zwischen den originalen Äusserungen und den gedolmetschten Redebeiträgen interessieren die Auswirkungen auf den weiteren Gesprächsverlauf. Die zentrale Frage lautet: Wie stimmen die Beteiligten ihre Redebeiträge im interaktionalen Geschehen aufeinander ab? b. das multimodale Handeln aller Beteiligten. Durch die geringe physische Distanz zwischen den Beteiligten sind multimodale Handlungen (Körperorientierung, Kopfbewegungen, Blickkontakte, Gesten) gegenseitig grundsätzlich gut wahrnehmbar. Für die Analyse von Belang sind die Körperorientierung, die Blickrichtung sowie die Gestik aller Beteiligten. Die zentrale Frage lautet: Wie koordinieren die primären Gesprächsparteien und die Dolmetscher: innen ihre sprachlichen Handlungen mit anderen körperlichen Ressourcen und wie reagieren die Beteiligten mit ihren gesamten Ausdrucksweisen aufeinander? c. die Beteiligungsformen. Die Art der Beteiligungsformen der primären Gesprächsparteien und der Dolmetscher: innen ist infolge der Aufgabenverteilung eigentlich vorgegeben. 16 1 Einleitung <?page no="17"?> Die Expert: innen und die Patient: innen sprechen miteinander, während die Aufgabe der Dolmetscher: innen der sprachliche Transfer ist. Die Expert: innen können die Patient: innen in der gedolmetschten Kommunikation ebenso wie im monolingualen Gespräch direkt adressieren. Die Dolmetscher: innen können die direkte Anrede übernehmen und die Expert: innen sowie die Patient: innen in der Verdolmetschung in der 3. Person Plural adressieren. Bei der Wiedergabe verwenden sie generell die 1. Person Singular. 13 Soweit die theoretische Verteilung der Rollen. Nun haben einige Untersuchungen gezeigt, dass die Adressierungsformen wechseln und die Dolmetscher: innen bei der Wiedergabe nicht nur die direkte, sondern auch die indirekte Rede verwenden (u. a. Bot, 2005a, 2005b; Dubslaff & Martinsen, 2005). In den vorliegenden Daten wird deshalb untersucht, wie die Dolmetscher: innen die ausgangssprachlichen Äusserungen in der Zielsprache wiedergeben, wie sie sich an der Interaktion beteiligen und ausserdem wie sie von den Expert: innen und den Patient: innen beteiligt werden. 14 In die Untersuchung einbezogen werden auch die Adressierungsformen der Expert: innen und der Patient: innen. Die zentrale Frage lautet: Wie beteiligen sich die Dolmetscher: innen am Gespräch und wie werden sie von den primären Gesprächsparteien am Gespräch beteiligt? Übergreifendes Ziel ist es, durch eine Verbindung der methodischen Ansätze der Gesprächsanalyse und der Dolmetschwissenschaft zu einem Verständnis der gedolmetschten Interaktion als einem multimodalen interaktiven Geschehen zu gelangen und durch die Verbindung beider Forschungsdisziplinen im Hinblick auf die Frage, wie gedolmetschte Gespräche funktionieren, einen Beitrag zu leisten. Ein weiteres Ziel besteht darin, zusätzlich zu den Befunden in den einzelnen Gesprächen wiederkehrende Muster von sprachlichen und anderen körperlichen Handlungen in mehreren Gesprächen zu identifizieren und zu bündeln. Ausserdem wird auf disziplinübergreifende Muster hingewiesen. Ebenfalls zum Ziel gehört vor allem anhand der Gesprächsausschnitte im Analyseteil ein Aufzeigen von Möglichkeiten, wie die Resultate in der Lehre sowie in der Weiterbildung von Dolmetscher: innen und Expert: innen umgesetzt werden können. Und schliesslich ist die Studie mit der Hoffnung verbunden, dass abgesehen von Gesprächsforscher: innen, Dolmetschwissenschaftler: innen und Gesprächsdolmetscher: innen auch Fachleute aus der medizinischen Praxis vermehrt für die Phänomene des Dolmetschens sensibilisiert werden können, umso mehr als das Interesse von Mediziner: innen am Thema „ Dolmetschen “ durch verschiedene Studien belegt ist, die für die Analysen der Fallbeispiele mehrfach herangezogen werden. 13 Die Verwendung der 1. Person Singular entspricht dem üblichen Verhalten der Konferenzdolmetscher: innen: „ In particular, the ‚ true interpreter ‘ norm, or norm of the ‚ honest spokesperson ‘ hardly ever made explicit, establishes that interpreters reproduce the source speech accurately and completely, with no personal alterations. Furthermore, the interpreter speaks in the first person as if s/ he were the orator [ … ] “ (Garzone, 2015, p. 282). 14 Die verschiedenen Adressierungsformen der Dolmetscher: innen waren bereits im KTI-Projekt Gegenstand der Analyse. 1.2 Ziel und Fragestellung 17 <?page no="18"?> 1.3 Ein Forschungsprojekt als Wegbereiter Wegbereiter der vorliegenden Studie war das KTI-Forschungsprojekt (vgl. Kap. 1.1). Es wurde von der Abteilung für Psychosomatik des Universitätsspitals Basel und dem Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) initiiert und durchgeführt, nachdem Gespräche mit Vertreter: innen aus verschiedenen medizinischen Fachbereichen lediglich pauschale Äusserungen zu den Aufgaben und zur Funktion von Dolmetscher: innen zutage brachten. Ausschlaggebend für die Motivation, authentische Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche zu untersuchen, waren ausserdem Publikationen zu inadäquaten Dolmetschleistungen u. a. des Dolmetschwissenschaftlers Pöchhacker (2007), Klagen von Expert: innen, die in ihrem Alltag seit Jahren Dolmetscher: innen einsetzen (vgl. u. a. Butow et al., 2011b; Flores et al., 2003) sowie die eigene Erfahrung mit Dolmetschleistungen von Teilnehmer: innen an Weiterbildungskursen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Es zeigte sich im Rahmen des Aus- und Weiterbildungsprogramms, dass die bereits als Dolmetscher: innen tätigen Teilnehmer: innen mit den Dolmetschtechniken, der Problematik des Rollenverhaltens und dem spezifischen Fachwissen im Gesundheits-, im Justiz- und im Sozialwesen wenig vertraut waren (vgl. Hofer & General, 2012). Die Dolmetscher: innen, die zum Teil bereits seit Jahren in verschiedenen Bereichen zum Dolmetschen hinzugezogen wurden, haben aufgrund ihrer Erstsprachen (Albanisch, Arabisch, Chinesisch, Türkisch usw.) in der Schweiz auch kaum eine Möglichkeit zur Weiterbildung. Datengrundlage im KTI-Projekt sind gedolmetschte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche, die in den Jahren 2011 und 2012 mit Videokameras aufgezeichnet wurden. Das im Rahmen des KTI-Projekts erhobene Datenmaterial besteht aus 19 gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen (mehr dazu in Kap. 4.1). In der Schweiz war diese KTI- Studie die erste interdisziplinäre Untersuchung, in der anhand von authentischen Videoaufzeichnungen gedolmetschte Konsultationen aus verschiedenen medizinischen Bereichen von Expert: innen und Linguist: innen analysiert wurden. 1.3.1 Konzeption des Projekts Zunächst wurden im KTI-Projekt die Ansichten zu den Aufgaben der Dolmetscher: innen und zu ihrer Rolle sowie zur Adäquatheit der Dolmetschleistung aus der Perspektive der Expert: innen sowie der Dolmetscher: innen erfragt. Die Befragung wurde mit einem schriftlichen Fragebogen durchgeführt. Der Fragebogen ist eine Übersetzung des von Angelelli (2004) verwendeten Fragebogens Interpreter ’ s Interpersonal Role Inventory (IPRI). 15 Er umfasst u. a. Fragen zum Rollenbild, zur Kulturvermittlung, zur Interpretation von Gefühlen der Patient: innen durch die Dolmetscher: innen sowie zur Ansicht über die Parteilichkeit. Angelelli (2004) hatte Dolmetscher: innen aus den Bereichen des Konferenz- 15 Der Fragebogen wurde mit dem Einverständnis der Autorin verwendet. Der in englischer Sprache vorliegende Fragebogen wurde gemäss den Konzepten des funktionalen Übersetzens mit Hilfe der Übersetzerin Barbara Brändli übersetzt und im Anschluss daran aufgrund von Rückmeldungen von Proband: innen durch die Projektleiter: innen angepasst (vgl. Behr, 2009). An dieser Stelle möchte ich Barbara Brändli für ihre Unterstützung danken. 18 1 Einleitung <?page no="19"?> dolmetschens sowie des Gesprächsdolmetschens befragt. Im KTI-Projekt wurden zusätzlich zu den Dolmetscher: innen, die vorwiegend im Spital dolmetschen, auch Expert: innen befragt. Ziel dieser Fragebogenuntersuchung war es, Einblick in die subjektiven Ansichten der Expert: innen beziehungsweise der Dolmetscher: innen zur Tätigkeit des Dolmetschens zu gewinnen. Insgesamt wurden 374 Dolmetscher: innen und 391 Expert: innen (Ärzt: innen, Psycholog: innen, Pflegefachpersonen, Physiotherapeut: innen) befragt. Aufgrund der aus den persönlichen Daten der Befragung gewonnenen Angaben wurde deutlich, dass die befragten Dolmetscher: innen nur in Ausnahmefällen über eine Dolmetschausbildung an einer Hochschule verfügen (vgl. Sleptsova et al., 2015). Sie sind zum grossen Teil bei regionalen Vermittlungsstellen registriert (mehr dazu in Kap. 3.2.4). In allen im KTI-Projekt durchgeführten Gesprächen wurden die Dolmetscheinsätze von solchen Vermittlungsstellen organisiert. Es ist also davon auszugehen, dass die Aussagen zum Bildungshintergrund auch für die von den Vermittlungsstellen ausgewählten Dolmetscher: innen zutreffen, die für die Gespräche hinzugezogen wurden, aus denen die in der vorliegenden Arbeit analysierten Fallbeispiele stammen. Ziel des KTI-Projekts war es, die Ansichten zur Dolmetscherrolle zunächst anhand von einer Befragung von Expert: innen und Dolmetscher: innen zu erheben. Dabei ging es um die Frage, welche Rolle(n) die Dolmetscher: innen in der Kommunikation übernehmen und welche Rolle(n) ihnen von den Expert: innen zugeschrieben werden. Das Hauptanliegen war jedoch die Analyse der mit Videokameras aufgezeichneten Gespräche. Insbesondere sollte die Adäquatheit der Verdolmetschungen der ausgangssprachlichen Redebeiträge untersucht werden (vgl. Sleptsova et al., 2012). In der Hauptsache ging es darum, sprachliche Handlungsweisen der Dolmetscher: innen sowie inhaltliche Abweichungen zwischen den ausgangssprachlichen Redebeiträgen und den Verdolmetschungen anhand von Beispielen aus den authentischen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen zu identifizieren und zu dokumentieren. Im Falle von Divergenzen zwischen den beiden Versionen wurde anhand von Kriterien untersucht, in welcher Hinsicht sich die beiden Versionen sprachlich unterscheiden. Die Kriterien wurden zunächst in Anlehnung an bestehende Kriterienkataloge entwickelt. Bei der Erstellung des Kriterienrasters nahmen die vom Dolmetschwissenschaftler Pöchhacker (2007) und die von der Dolmetschwissenschaftlerin Kadri ć (2009) formulierten Kriterien im Vorfeld des KTI-Projekts eine prägende Rolle ein. Pöchhacker (2007) hat Kriterien für die Befragung in Wiener Spitälern erstellt, Kadri ć (2009) konzentrierte sich auf das Dolmetschen im Justizbereich. 16 Pöchhacker (2007) und Kadri ć (2009) liessen die Dolmetschtätigkeit anhand von Fragebögen von Expert: innen im Gesundheitsbereich beziehungsweise von Fachleuten im Justizwesen beurteilen. In beiden Studien werden u. a. folgende Verhaltensweisen der Dolmetscher: innen erfragt: Auslassungen von Inhalten, Hinzufügungen von Inhalten, von Erklärungen oder von Kommentaren, Vereinfachungen und selbst-initiierte Rückfragen. Die Ergebnisse in verschiedenen Publikationen, in denen vor allem unvollständige Verdolmetschungen (Auslassungen) und/ oder selbst-initiierte Redebeiträge (Hinzufügungen) beobachtet wurden, beeinflussten die Gestaltung des 16 An dieser Stelle möchte ich Mira Kadri ć für die Durchsicht des Entwurfs des Kriterienrasters und für ihre Hinweise danken. 1.3 Ein Forschungsprojekt als Wegbereiter 19 <?page no="20"?> Kriterienrasters ebenfalls (vgl. Bot, 2005b). Die fehlende Nähe der Verdolmetschung zum Original wurde sowohl von weiteren Dolmetschwissenschaftler: innen (vgl. Amato, 2007; Napier, 2002, 2004) als auch von Mediziner: innen (vgl. Aranguri et al., 2006; Butow et al., 2011b; Flores et al., 2003) thematisiert. Zusätzlich zu den Beobachtungen aus den verschiedenen Studien wurden die für die Analyse der Gespräche bedeutsamen Kriterien durch die Unterrichtserfahrung der Dozierenden des Instituts für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) ausdifferenziert. Ausserdem wurden die Kriterien während des laufenden Projekts aufgrund der beobachteten Phänomene des Datenmaterials weiter ausgestaltet. Die schliesslich konsensual etablierten Kriterien bezogen sich auf die Vollständigkeit und die Genauigkeit der Verdolmetschung, das medizinische Fachwissen und die Terminologiekenntnisse der Dolmetscher: innen sowie auf die sprachlich beobachtbaren rollenspezifischen Handlungen (vgl. Sleptsova et al., 2015). Nach der Fertigstellung des Kriterienrasters wurden die 19 Konsultationen in Segmente aufgeteilt. Insgesamt wurden 3866 Segmente gezählt. Anschliessend wurden die Kriterien anhand des Software-Programms ATLAS.ti kodiert und mit Hilfe dieser Software in den Dateien ausgezählt (vgl. Hofer et al., 2013; Sleptsova et al., 2015). Die Kodierung der Kriterien in ATLAS.ti war in erster Linie die Basis der quantitativen Analyse. Für Mediziner: innen ist die quantitative Forschung von zentraler Bedeutung. Auch in der Linguistik wird auf die Bedeutung der Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden hingewiesen (vgl. Menz, 2013a, p. 8; Sator & Spranz-Fogasy, 2011, p. 382). ATLAS.ti ist ein flexibles Instrument, das neben quantitativem auch qualitatives Arbeiten unterstützt (vgl. Muhr, 1994). Das Programm ATLAS.ti erlaubt es, neben der Kodierung Kommentare zu formulieren. Beim Kriterium „ Auslassungen “ kann zum Beispiel erfasst werden, ob Sachverhalte, Phatisches, emotionale Äusserungen oder anderes unverdolmetscht bleiben. Beim Kriterium „ Hinzufügungen “ kann beispielsweise zwischen Erklärungen, Zusatzfragen oder metadiskursiven Kommentaren differenziert werden. Die Kodierungen können jederzeit von allen beteiligten Projektmitarbeiter: innen automatisch abgerufen werden, was ein gemeinsames Arbeiten an denselben Gesprächen erleichtert. 1.3.2 Ergebnisse im Rahmen des Projekts Die Auswertung der Fragebögen ergab abgesehen von Unterschieden in der Gewichtung in wesentlichen Punkten übereinstimmende Meinungen in der Beurteilung des Rollenprofils. 17 So lehnen es sowohl Expert: innen als auch Dolmetscher: innen ab, dass die Dolmetscher: innen für die Patient: innen oder die Expert: innen Partei ergreifen oder die Gefühle der Patient: innen explizieren (vgl. Sleptsova et al., 2012). Hingegen sind die Dolmetscher: innen aus der Sicht der Expert: innen sowie aus der Sicht der Dolmetscher: innen dazu legitimiert, erklärend und/ oder vermittelnd in die Interaktion einzugreifen. Ebenso wird den Dolmetscher: innen sowohl von den Expert: innen als auch von den Dolmetscher: innen selbst die Aufgabe der Kulturvermittlung zugestanden. Auf der Seite der Expert: innen ist die Zustimmung in diesem Punkt deutlicher. 17 Diese Ergebnisse sind im unveröffentlichten Schlussbericht an die KTI-Kommission enthalten (Sleptsova et al., 2012). 20 1 Einleitung <?page no="21"?> Die Einträge im Software-Programm ATLAS.ti 18 ermöglichen die Quantifizierung und die Systematisierung von dolmetschspezifischen Kriterien (vgl. Sleptsova et al., 2012). Die Häufigkeit von systematischen Problemen in gedolmetschten Gesprächen im Spitalalltag wird über das ganze Korpus hinweg sichtbar. Die quantitative Auswertung anhand des Kriterienrasters zeigt inhaltlich-thematische Veränderungen auf, vor allem Auslassungen oder Hinzufügungen. Es sind insgesamt 2148 Auslassungen und 1781 Hinzufügungen gezählt worden (Sleptsova et al., 2015, p. 5). Hinzufügungen treten oft gemeinsam mit Rollenwechseln auf. Mit dem Rollenwechsel sind Interventionen der Dolmetscher: innen gemeint, mit denen sie zusätzliche Informationen, Erklärungen oder Präzisierungen in die Gespräche einfügen, die nicht Teil der Äusserungen der primären Gesprächsparteien sind. Daneben zeigt die quantitative Auswertung den häufigen Wechsel in der Adressierung: Es finden in erster Linie Wechsel von der Höflichkeitsform (Sie) zur 2. Person Singular (du) statt, wenn die Dolmetscher: innen und die Patient: innen miteinander sprechen, sowie Wechsel von der 3. Person Plural zur 3. Person Singular, wenn die Dolmetscher: innen und die Expert: innen über die Patient: innen sprechen statt mit ihnen. Solche Rollenwechsel bei den Dolmetscher: innen wurden in 660 Fällen registriert (Sleptsova et al., 2015, p. 5). Weiter weist die quantitative Auszählung in 315 Fällen auf fehlende terminologische Kenntnisse der Dolmetscher: innen hin (Sleptsova et al., 2015, p. 5). Die Bedeutung der Terminologie wird in linguistischen Beiträgen (Brünner, 2009; Lalouschek, 2005; Meyer, 2004) und in übersetzungs- und dolmetschwissenschaftlichen Publikationen mehrfach beschrieben (vgl. Bancroft & Dallmann, 2010; Crezee, 2013; Schmitz, 2012). In der quantitativen Analyse steht der Fachausdruck als „ isoliertes sprachliches Mittel “ im Mittelpunkt (Brünner & Gülich, 2002), d. h. ein Fachausdruck wird in der quantitativen Analyse als in der Verdolmetschung vorhanden oder als nicht vorhanden aufgelistet. Aber auch wenn der vorwiegend quantitative Ansatz hauptsächlich etwas über das Auftreten von Phänomenen und Problemen aussagt, weist die Häufigkeitsverteilung der Kriterien im vorliegenden Datenmaterial auf das Ausmass des Einflusses der Dolmetscher: innen auf die Gesprächsinhalte sowie auf die unterschiedliche Qualität der Verständigung hin. Die Häufigkeit der Abweichungen, vor allem der Auslassungen und Hinzufügungen überraschte sowohl die Expert: innen als auch die Linguist: innen. Hinter der quantitativen Auszählung von einzelnen Kriterien standen auch qualitative Schritte (vgl. Schlobinski, 1996, p. 15 ff.). Die Auswertung war insofern auch ein qualitatives Verfahren, als das gesamte Interaktionsgeschehen analysiert wurde. So führte bereits die Zuordnung von Daten in das Kriterienraster im Projektteam mehrfach zu Diskussionen über den quantitativen Ansatz hinaus, da einzelne Daten mehreren Kriterien zugeteilt werden konnten. Es war oft eine Ermessensfrage, ob Ausgelassenes für wesentlich gehalten, eine Passage lediglich als ungenau eingestuft oder ob ein fehlender logischer Zusammenhang in der Verdolmetschung als nachteilig für die Verständigung beurteilt wurde. Diskussionsbedarf gab es etwa bei der Zuordnung von Fachausdrücken. Es musste 18 Für die Erstellung der Transkripte in EXMERaLDA und die Verwendung von ATLAS.ti braucht es spezielle Fertigkeiten. Für ihren grossen Einsatz bei der Einführung der Software sowie bei der Auswertung der Daten möchte ich Stefanie Kaufmann herzlich danken. Dankbar denke ich auch an die Unterstützung von Sandra Hanselmann, Mirjam Zürcher und Mirjam Hodel zurück. Für die Einführung in das Software-Programm ATLAS.ti danke ich Franc Wagner und Ulla Kleinberger. 1.3 Ein Forschungsprojekt als Wegbereiter 21 <?page no="22"?> mehrfach überlegt werden, ob ein bestimmter terminologischer Ausdruck überhaupt notwendigerweise durch den äquivalenten Ausdruck in der Zielsprache wiedergegeben werden muss, ob er paraphrasiert, durch Zeigeprozeduren, durch deiktische Mittel ( „ hier “ tut es weh) oder durch einen pronominalen Hinweis in adäquater Weise substituiert werden kann, so dass gar kein terminologisches Problem entsteht (vgl. Hofer et al., 2013). Als unzureichend erwies sich der quantitative Ansatz vor allem, wenn deutlich wurde, dass Dolmetscher: innen zum Wohle der optimalen Verständigung von originalen Redebeiträgen abweichen und zum Beispiel vereinfachend formulieren, den Sinn aber beibehalten. Zusammenfassend wird im Rahmen des KTI-Projekts Folgendes deutlich: Zunächst hinterlassen die gedolmetschten Gespräche einen weitgehend positiven Eindruck: Alle Gespräche können zu Ende geführt werden. Die Dolmetscher: innen haben offensichtlich Routine und sind es gewohnt, nach jedem Redezug zu dolmetschen und ohne Verzögerungen an die vorausgehenden Redebeiträge anzuschliessen. In allen Gesprächen fällt ein zügiger Redefluss und eine Flexibilität in der Lexik auf, selbst dann, wenn die Dolmetscher: innen in der Wortwahl eingeschränkt sind. 19 Die Dolmetscher: innen sind zum Teil vertraut mit der Verwendung der 1. Person Singular in der Redewiedergabe, wie es den von Ausbildungsinstitutionen und Berufsverbänden priorisierten Formen des Dolmetschens entspricht. Daraus lässt sich schliessen, dass sie sich Grundsätze des Dolmetschens entweder in Aus- und Weiterbildungskursen oder in der Berufspraxis angeeignet haben. Nach der quantitativen Auswertung anhand des Kriterienrasters änderte sich der Eindruck deutlich. Neben positiven Aspekten liessen sich im Gesprächsverlauf Unstimmigkeiten und Brüche erkennen, die bei den ersten Sichtungen der Videoaufzeichnungen verborgen blieben. Die Resultate der Analyse zeigen, dass die Selbsteinschätzung der Dolmetscher: innen, wie sie in den Resultaten der Befragung zum Ausdruck kommt, nicht mit den in der Praxis gewonnenen Ergebnissen übereinstimmen. In den Analysen von verschiedenen Textausschnitten wird sichtbar, dass die Dolmetscher: innen Informationen mehrfach auslassen und (manchmal gleichzeitig) durch Hinzufügungen entscheidend in die Gesprächsinhalte eingreifen, während sie sich in der Befragung vielmehr als Übermittler: innen der originalen Informationen sehen (vgl. Sleptsova et al., 2015). Die Ergebnisse, die im Rahmen des KTI-Projekts gewonnen und im Schlussbericht für die KTI beschrieben wurden (vgl. Sleptsova et al., 2012), sind für die vorliegende Arbeit grundlegend. Das wichtigste Ergebnis ist, dass zentrale Anliegen der Patient: innen in den Verdolmetschungen keine Entsprechung finden. Damit können die Expert: innen diese nicht weiter explorieren. 1.4 Gliederung der vorliegenden Studie Nachdem in Kapitel 1 die Ergebnisse des wegbereitenden Forschungsprojekts, die Motivation zur eigenen Forschungsarbeit sowie die Ziele der vorliegenden Arbeit beschrieben wurden, geht es in Kapitel 2 um die theoretische Einbettung dieser Studie. Die linguistische 19 Die Zweitsprache der Dolmetscher: innen in den sechs Fallbeispielen ist Deutsch. Die sprachliche Kompetenz der Dolmetscher: innen im Deutschen ist unterschiedlich gut, sie ist aber nicht Teil der Untersuchung. 22 1 Einleitung <?page no="23"?> Gesprächsanalyse wird als methodischer und theoretischer Bezugsrahmen vorgestellt (2). In neuerer Zeit setzt die auf der Konversationsanalyse basierende multimodale Detailanalyse Videoaufzeichnungen voraus (2.1). Anhand von Videoaufzeichnungen können in den sechs ausgewählten Fallbeispielen die räumlichen Gegebenheiten (2.2) sowie das Zusammenwirken der sprachlichen Äusserungen mit den körperlichen Ressourcen aller Beteiligten beobachtet werden (2.3). Den Abschluss dieses Kapitels bilden Merkmale der Expert: innen-Laien-Kommunikation 20 im medizinischen Setting (2.4). In Kapitel 3 wird einleitend über impulsgebende Forschungsdisziplinen für das Gesprächsdolmetschen orientiert (3). Seit den 1970er-Jahren interessieren sich Forscher: innen aus verschiedenen Fachbereichen für die gedolmetschte medizinische Kommunikation. Insbesondere Arbeiten aus der interaktionalen Linguistik, aus der Soziolinguistik sowie aus der medizinischen Gesprächsforschung prägen die dolmetschwissenschaftliche Forschung. Im Bereich des Gesprächsdolmetschens setzte die Forschung in den 1990er-Jahren ein (3.1). Im darauffolgenden Unterkapitel wird auf den beim Gesprächsdolmetschen üblichen konsekutiven Modus, auf die Besonderheiten des Gesprächsdolmetschens als Beruf sowie auf das Dolmetschen im Spital eingegangen. Die hohen Anforderungen an Gesprächsdolmetscher: innen stehen in keinem Verhältnis zu den geringen Möglichkeiten der Qualifizierung. Verbindliche Standards oder genormte Vorstellungen über die Aufgaben und über die Rolle der Gesprächsdolmetscher: innen fehlen weitgehend (3.2). Ein zentrales Anliegen in der Dolmetschwissenschaft ist die Beurteilung der Dolmetschqualität. Seit den 70er-Jahren haben verschiedene Autor: innen Taxonomien für die Beurteilung der Dolmetschqualität erstellt, die für die Analysen von Gesprächen im institutionellen Kontext herangezogen werden (3.3). Im Folgenden werden basierend auf der bestehenden Forschungsliteratur spezifische Themen, die mit der Aufgaben- und Problemstruktur des Dolmetschens zusammenhängen, vorbereitend auf die empirischen Analysen dargelegt. Vertieft bearbeitet werden die Redewiedergabe und die Adressierung, die verschiedenen Beteiligungsformen, das von bestimmten Rollenprofilen geprägte sprachlich wahrnehmbare Verhalten der Dolmetscher: innen sowie die Modifikationen des ausgangssprachlichen Inhalts durch die Dolmetscher: innen (3.4). Auch wenn in der Dolmetschwissenschaft neben der beschreibenden Vorgehensweise eine inhaltsvergleichende, kategorisierende und bewertende Haltung besteht, hat die Multimodalität in der neueren Dolmetschwissenschaft die Schwerpunktsetzung zunehmend beeinflusst. Die multimodale Erforschung von gedolmetschten Gesprächen bedingt Videoaufzeichnungen. Anstelle von Audiodaten ermöglichen Videoaufzeichnungen von gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen einen Einblick in die räumlichen Gegebenheiten sowie in die Positionierung der Beteiligten im Raum. Ebenso werden die Blickkontakte, die Körperorientierung, die Kopfbewegungen sowie die Gesten sichtbar. Die Beobachtung der Beteiligten legt das Zusammenwirken von sprachlichen Handlungen und körperlichen Ressourcen sowie die Beteiligungsformen dar (3.5). Wesentliche Ursachen von Verstehensproblemen sind inhaltliche Divergenzen zwischen den ausgangssprachlichen und den zielsprachlichen Redebeiträgen, divergierende Wissensvoraussetzungen in der Expert: innen-Laien-Kommunikation sowie heterogene Ansichten von Dolmetscher: innen und Expert: innen hinsichtlich der Gestaltung der 20 In der Regel wird in der vorliegenden Arbeit der Gender-Doppelpunkt gesetzt. Eine Ausnahme ist der Ausdruck „ Laien “ . 1.4 Gliederung der vorliegenden Studie 23 <?page no="24"?> Zusammenarbeit (3.6). In Kapitel 4 wird das methodische Vorgehen transparent gemacht. Weiter dient das Kapitel der Vorstellung des Korpus (4). Die Auswahl der Gespräche und der Dolmetscher: innen erfolgte im Rahmen des KTI-Projekts, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Bei diesen Gesprächen handelt es sich um 19 authentische Ärzt: innen-Patient: innen- Gespräche, die im Zeitraum vom Dezember 2011 bis Mai 2012 mit Videokameras aufgezeichnet wurden. Die Videoaufzeichnungen stammen aus verschiedenen Abteilungen der Schweizer Universitätsspitäler Basel, Zürich und Bern. Beteiligt an den Gesprächen sind Expert: innen (Ärzt: innen, Pflegefachfrauen, Physiotherapeut: innen und eine Diabetesberaterin), Patient: innen sowie Dolmetscherinnen beziehungsweise ein Dolmetscher. Die Aufnahmedauer umfasst insgesamt 14 Stunden und 42 Minuten (4.1). Bereits im Rahmen des KTI-Projekts wurden die Gespräche vollständig transkribiert. Die Transkribentinnen übersetzten die albanischen beziehungsweise die türkischen Anteile im Verlauf der Transkription ins Deutsche (4.2). Aus den 19 Gesprächen wurden für die vorliegende Arbeit 26 Sequenzen aus fünf Gesprächen ausgewählt. Bei der Selektion von analyserelevanten Stellen ging es für die Datenpräsentation darum, besonders klare Passagen zu identifizieren, die für bestimmte Phänomene und/ oder für eine Gesprächsphase typisch sind. Abgesehen von Fallbeispiel 6 handelt es sich dabei um längere Sequenzen, in denen Schmerzen und krankheitsbedingte Sorgen inhaltlich im Fokus sind (4.3). Das Vorgehen orientiert sich sowohl an den Methoden der Gesprächsanalyse als auch an den Methoden der Dolmetschwissenschaft. Die unterschiedlichen Perspektiven der Gesprächsforschung und der Dolmetschwissenschaft spiegeln sich in einer Zweiteilung der Analysen. In einem ersten Teil wird das koordinierte Handeln nachgezeichnet, während im zweiten Teil die Verarbeitungsprozesse der Dolmetscher: innen im Fokus sind. Die beiden Teile greifen auf vielfältige Weise ergänzend ineinander. Die Fallbeispiele werden jeweils mit einer Zusammenfassung abgeschlossen (4.4). Anschliessend folgt ein Überblick über die Fallbeispiele sowie über die Datenbeispiele in den Kapiteln 2 beziehungsweise 3 (4.5). Kapitel 4 endet mit der Beschreibung einiger terminologischen Besonderheiten (4.6). In Kapitel 5 bilden die Sequenzanalysen den empirischen Kern. Die 26 Gesprächsausschnitte wurden fünf Konsultationen in der inneren Medizin, in der Onkologie und in der Diabetologie entnommen. Das sechste Fallbeispiel ist ein Ausschnitt aus einer Pflegeanamnese. In allen Sequenzanalysen werden die Auswirkungen der Verdolmetschungen auf das Interaktionsgeschehen, das Zusammenwirken von sprachlichen und anderen multimodal wahrnehmbaren Handlungen der Beteiligten sowie die Beteiligungsformen diskutiert. Eine Reihe von Standbildern aus den Videoaufzeichnungen illustrieren verschiedene Gesprächssituationen. Die Fallbeispiele bauen nicht aufeinander auf, können also unabhängig voneinander gelesen werden. Mit Ausnahme der Pflegeanamnese sind sie durch die Wahl der inhaltlichen Schwerpunkte verbunden. In fünf Fallbeispielen werden die patient: innenenseitigen Beschwerdeschilderungen und die sprachliche Umsetzung der Dolmetscher: innen sowie die Reaktionen der Expert: innen auf die Äusserungen der Patient: innen einschliesslich der Verdolmetschungen analysiert (5.1 - 5.5). Im sechsten Fallbeispiel ist das übergeordnete Thema die Diskrepanz zwischen der Aushandlung der Rollen durch die Pflegefachfrau und die Dolmetscherin in der ersten Sequenz und der Ausgestaltung der Rollen in den zwei weiteren Sequenzen (5.6). In Kapitel 6 werden zentrale Ergebnisse der Arbeit zusammengeführt. Die sechs Fallbeispiele eint zunächst die Häufigkeit der Themen „ Schmerz “ , „ Ängste “ und „ krankheitsbedingte Sorgen “ (6.1). Fall- 24 1 Einleitung <?page no="25"?> übergreifende Ergebnisse aus den Sequenzanalysen werden aus der dolmetschwissenschaftlichen Perspektive präsentiert. Schwierigkeiten ergeben sich im Verstehensprozess vor allem, weil die Verarbeitungsprozesse der Dolmetscher: innen für die primären Gesprächsparteien in der Interaktion aus sprachlichen Gründen nicht wahrgenommen werden können (6.2). Die Analysen illustrieren das systematische Zusammenwirken der sprachlichen Redebeiträge mit den anderen multimodalen Ausdrucksressourcen über längere Passagen. Im Vordergrund sind Beobachtungen zur Körperorientierung, zum Blickverhalten und zur Gestik (6.3). Schliesslich werden musterhafte Charakteristika der gedolmetschten Expert: innen-Laien-Kommunkation gebündelt. Hervorgehoben werden Aspekte der divergierenden Wissensvoraussetzungen, der Asymmetrie in der Gesprächsbeteiligung sowie der Ungleichheit der Vertrauensbedingungen (6.4). Für die Generalisierung von Analyseergebnissen der vorliegenden Untersuchung werden im Folgenden disziplinübergreifende Forschungsresultate aus dem Konferenzdolmetschen, dem Gebärdensprachdolmetschen, der linguistischen Gesprächsanalyse und der darauf fussenden Multimodalität sowie aus der medizinischen Gesprächsforschung herangezogen (6.5). Die Arbeit endet mit einigen Überlegungen zur Umsetzung der Ergebnisse in der Aus- und Weiterbildung von Dolmetscher: innen und Expert: innen (6.6). 1.4 Gliederung der vorliegenden Studie 25 <?page no="26"?> 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive In Kapitel 2 geht es um die theoretische Einbettung der Studie aus gesprächsanalytischer Perspektive. Das bahnbrechend Neue der soziologisch orientierten Konversationsanalyse, die unter anderen von den Soziologen Erving Goffman (1922 - 1982), Harvey Sacks (1935 - 1975) und Harold Garfinkel (1917 - 2011) initiiert wurde, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem realen Gespräch. Garfinkel entwickelte die Ethnomethodologie, die Ausgangspunkt der Konversationsanalyse ist. Als deren Begründer gilt Sacks, dessen Vorlesungen zum grossen Teil erst nach seinem frühen Unfalltod im Jahr 1975 posthum publiziert wurden (Sacks, 1992). Die Anhänger der Konversationsanalyse „ [ … ] sehen in Alltagsgesprächen einen besonders geeigneten Gegenstand, um soziales Handeln im Detail zu beobachten und zu beschreiben. “ (Gülich & Mondada, 2008, p. 1) Das Gespräch wurde in den 1970er-Jahren zu einem zentralen Forschungsthema der Linguistik (vgl. Löning, 2001, p. 1577). Hausendorf (2001) beschreibt die Gesprächsanalyse „ als eine lebendige, sowohl empirisch ertragreiche als auch methodisch innovative linguistische Disziplin “ (Hausendorf, 2001, p. 971). 1 Die der ethnomethodologischen Konversationsanalyse verpflichteten Forscher: innen untersuchen Gespräche in verschiedenen Kontexten. Seit den 1980er-Jahren wurde die medizinische Kommunikation im deutschsprachigen Raum zu einem durch eine rege Forschungstätigkeit gekennzeichneten Gegenstandsbereich (vgl. u. v. a. Ehlich et al., 1990; Löning, 1981, 1985; Löning & Rehbein, 1993; Spranz-Fogasy, 1987). Die Konversationsanalyse wurde zu einem bedeutsamen Zweig der Linguistik. Von Anfang an verzichtete sie auf eine „ allgemeine explizite Methodik “ (Kallmeyer, 2005, p. 1215). In konversationsanalytischen Untersuchungen wird datengeleitet vorgegangen. Das Ziel der analytischen Arbeit besteht darin, bestimmte Mechanismen und Prinzipien anhand von authentischen Gesprächen sichtbar zu machen und nicht umgekehrt von bereits vorgegebenen Kategorien auf das Datenmaterial auszugehen (vgl. Gülich & Mondada, 2008). Deppermann (2008) beschreibt das Ziel folgendermassen: [Die Gesprächsanalyse] will wissen, wie Menschen Gespräche führen [Hervorhebung im Original]. Sie untersucht, nach welchen Prinzipien und mit welchen sprachlichen und anderen kommunikativen Ressourcen Menschen ihren Austausch gestalten und dabei die Wirklichkeit, in der sie leben, herstellen. Deppermann (2008, p. 9) Aus gesprächsanalytischer Perspektive geht es um die Beobachtung, wie sich die Beteiligten interaktiv aufeinander beziehen und das fortlaufende Gespräch koordinieren. Die Gesprächsanalyse begreift Gespräche als interaktiven und sequenziell organisierten Prozess. Die Gespräche finden in einer zeitlichen Abfolge statt. Jede Äusserung bezieht sich auf die 1 Zur Einführung in die Gesprächsforschung dienten mir in erster Linie Deppermann (2008), Deppermann/ Schmitt (2007), Gülich/ Mondada (2008), Sator/ Gülich (2013), Hausendorf et al. (2012), Sator (2013), Schmitt (2007b), Schmitt/ Knöbl (2013) und Stukenbrock (2015). <?page no="27"?> vorhergehende. Die interaktiven Prozesse finden zwischen allen an der Interaktion Beteiligten statt: Das in den Mittelpunkt gerückte System des Zug-um-Zug kann dabei als ein originär interaktives Ordnungsprinzip gelten [Hervorhebung im Original], insofern es auf Organisationsaufgaben aufmerksam macht, die mit der Interaktion zwischen Beteiligten anfallen und gelöst werden müssen; insofern es auf einen Abstimmungs- und Koordinationsbedarf hinweist, der allein daraus resultiert, dass im Gespräch nicht alle zur gleichen Zeit reden können und von daher Mechanismen der Sprecherwahl, d. h. Mechanismen der Etablierung von Anschlussfähigkeiten für nächste Sprecher, einsetzen müssen. (Hausendorf, 2004, p. 9) Die Sequenzialität ist eine grundlegende Eigenschaft des Gesprächs, die mit der Frage „ what ’ s next? “ in Schegloff/ Sacks (1973) die Reihenfolge im Blick hat (vgl. auch Hausendorf, 2007b). Ein Turn ist für nachfolgende Turns bestimmend. Am engsten ist die Verknüpfung bei den so genannten Paarsequenzen ( „ adjacency pairs “ ): Hierbei handelt es sich um zwei paarweise aneinander gekoppelte, von zwei verschiedenen Sprecher: innen produzierte Äusserungen, von denen - wie etwa bei der Frage-Antwort-Sequenz oder bei der Paarsequenz der Begrüssung - die Realisierung der ersten eine normative Erwartung im Hinblick auf die unmittelbar nachfolgende Realisierung einer dem initiierten Paarsequenztypus adäquaten zweiten Äusserung erzeugt. (Bergmann, 1981, p. 27; vgl. auch Sacks et al., 1974) Aus der Sequenzialität „ [ … ] ergibt sich ein wichtiges [ … ] Prinzip, nämlich das der „ lokalen Kohärenz “ (Gülich & Mondada, 2008, p. 49) [Hervorhebung GH]: Es besagt, dass Äußerungen sich normalerweise auf das beziehen, was ihnen im Gespräch unmittelbar vorausgeht. Wenn dieses Prinzip an einer Stelle im Gespräch nicht gelten, d. h. ein Beitrag nicht entsprechend der zeitlich-linearen Abfolge verstanden werden soll, verwenden die Gesprächsteilnehmer bestimmte Verfahren, um sequenzielle Diskontinuität zu markieren, z. B. Ausdrücke wie d ’ ailleurs oder metadiskursive Äusserungen wie à propos oder justement oder pour en revenir à ce dont nous parlions. [Hervorhebung im Original] (Gülich & Mondada, 2008, p. 49) Kohärenz ist eine komplexe Eigenschaft, die in der vorliegenden Arbeit auf den Aspekt des wechselseitigen Verstehens im Gespräch fokussiert. Es geht um den Zusammenhang, der durch eine kohärente Folge von Redebeiträgen der Beteiligten entsteht. „ Kohärenz “ bedeutet auch, dass die Interaktion in eine von den Beteiligten erwartete Richtung geht und eine entsprechende Reaktion auslöst (mehr zu Kohärenzbedingungen z. B. bei Brinker, 1997, p. 27 ff.). Kohärenzstiftend sind u. a. Kohäsionsmittel. Sie unterstützen die logischsemantische Beziehung in der Interaktion. Ein mit der Interaktivität und der Sequenzialität verknüpfter Mechanismus ist der Sprecherwechsel oder das turn-taking (vgl. die grundlegende Studie von Sacks/ Schegloff/ Jefferson, 1974). Die an einem Gespräch Beteiligten wechseln sich beim Sprechen ab. Ein Redezug oder Gesprächsbeitrag dauert so lange, bis ein/ e andere/ r Sprecher: in einen neuen Redezug beginnt. Die Länge eines Redezugs ist sehr unterschiedlich. Entweder beendet eine/ r der Beteiligten den Redezug (Turn) und der/ die nächste Sprecher: in übernimmt das Rederecht oder eine/ r der Beteiligten ergreift das Wort an „ sogenannten redeübergaberelevanten Stellen (transition relevance places, TRP) “ (Gülich & Mondada, 2008, p. 39). Der Sprecherwechsel kann aber auch an anderen Stellen erfolgen (vgl. u. a. Egbert, 2009, p. 39; Schegloff, 2000). Er kann in gegenseitigem Einverständnis stattfinden, aber er gestaltet sich keineswegs immer reibungslos. Egbert (2009) weist auf einen engen Zusammenhang 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive 27 <?page no="28"?> zwischen dem Sprecherwechsel und der Entstehung von Problemquellen hin. Die Lösung eines Problems wird entweder von den Sprecher: innen des eben abgeschlossenen Redezugs selbst initiiert oder von den Sprecher: innen, die den Turn übernehmen. (Egbert, 2009, p. 42) An einem Gespräch können zwei Menschen oder mehr Menschen beteiligt sein. In der vorliegenden Studie geht es um Gespräche, bei der drei Personen anwesend sind. Man spricht von Mehrparteiengesprächen oder triadischer Kommunikation. 2 Unabhängig davon, ob zwei, drei oder mehr Parteien an einem Gespräch beteiligt sind, können Verstehensprobleme zum Beispiel durch mangelnde Kohärenz entstehen, wenn ein Wort oder ein Verknüpfungsmittel fehlt (Rickheit & Schade, 2001, p. 282). Die Verständigung kann auch misslingen, wenn mehrere Beteiligte überlappend sprechen. Es kann sich dabei um eine Fehleinschätzung handeln, zum Beispiel wenn Redezüge als beendet gesehen werden, etwa bei (längeren) Sprechpausen. In anderen Gesprächssituationen entstehen Überlappungen durch ein kompetitives Verhalten, das als Unterbrechung empfunden werden kann (vgl. Goodwin & Goodwin, 1992). Überlappte Anteile können wiederholt werden, damit sie doch noch gehört werden (vgl. Egbert, 2009, p. 79). Auffälligkeiten in der Interaktion ergeben sich nicht nur durch mangelnde Kohärenz oder durch Überlappungen, sondern zum Beispiel auch durch Design-Aktivitäten. Dabei beziehen sich die Sprecher: innen bei der Textproduktion auf die vorangegangenen Redebeiträge und orientieren sich an den Adressat: innen, d. h. sie gestalten ihre Beiträge so, dass sie auf die Adressat: innen zugeschnitten sind. Hinter ihren Redebeiträgen sind Überlegungen, mit welchen Äusserungen sie zum Beispiel auf Zustimmung stossen oder ein bestimmtes Ziel erreichen können. Dabei bleiben die Einschätzungen aber diejenigen der Sprecher: innen selbst. Ein auf solchen strategischen Überlegungen basierendes Konzept ist das recipient design. Dieses Konzept geht auf Sacks, Schegloff und Jefferson zurück; in Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) wurde es folgendermassen beschrieben: By ‚ recipient design ‘ we refer to a multitude of respects in which the talk by a party in a conversation is constructed or designed in ways which display an orientation and sensitivity to the particular other(s) who are the co-participants. (Sacks et al., 1974, p. 727) Das recipient design besagt also, dass die Beteiligten ihre Redebeiträge auf die Adressat: innen zuschneiden. 3 Gemäss dem recipient design orientieren sich Sprecher: innen an den „ kognitiven Voraussetzungen “ , die sie selbst den Adressat: innen zuschreiben (Hitzler, 2013, p. 110). Dabei handelt es sich nicht um „ gesicherte “ Zuschreibungen, sondern um Annahmen über den Wissensstand, über Ansichten, Erwartungen oder über wahrscheinliche Reaktionen ihrer Adressat: innen (vgl. z. B. Deppermann, 2015, p. 343; Deppermann & Blühdorn, 2013, p. 8). 4 Der Grundgedanke besteht darin, dass die Sprecher: innen ihre Äusserungen nach ihren eigenen Einschätzungen an die Erwartungen der Rezipient: innen anpassen. Diese Annahmen sind nicht statisch, sondern sie werden im Laufe der Interaktion aktualisiert (Deppermann & Blühdorn, 2013, p. 8). Die Adressat: innen können die von den 2 In der vorliegenden Studie wird nicht von triadischer Kommunikation gesprochen, da die Dolmetscher: innen nicht im eigentlichen Sinn Gesprächspartei sind, obwohl sie an der Interaktion beteiligt sind. 3 Im Deutschen wird der Ausdruck recipient design auch etwa mit „ Adressatenzuschnitt “ wiedergegeben (vgl. Deppermann & Blühdorn, 2013; Schmitt & Knöbl, 2013). 4 Aspekte des recipient design in Mehrparteiengesprächen wurden u. a. von Hitzler (2013), Mundwiler (2017) und Schmitt/ Knöbl (2013) beschrieben. 28 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="29"?> Sprecher: innen getroffenen Annahmen ratifizieren oder neu aushandeln (Hitzler, 2013, p. 113). In den folgenden Unterkapiteln werden der Standard der Videoaufzeichnungen, Aspekte der Räumlichkeit, die Bedeutung der multimodalen Ressourcen sowie Besonderheiten in der Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation diskutiert. 2.1 Die Videoaufzeichnung von authentischen Gesprächen In den Anfängen der Konversationsanalyse wurden Telefongespräche analysiert, die auf Tonbandgeräte aufgenommen wurden (vgl. Schegloff & Sacks, 1973). Gesprächsanalytisches Arbeiten beschränkte sich auf das Verbale, bevor die körperlichen Ressourcen einbezogen wurden, wie Holly (2008) in seinem Kommentar zu Schmitts (2007b) Sammelband „ Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion “ schreibt (Holly, 2008, p. 277). Bedenken, die Interaktionen könnten durch Beobachtungen verändert werden, mögen den Einsatz von Videokameras zunächst eingeschränkt haben. Labov (1972), einer der Gründerväter der Soziolinguistik, sah in der Beeinflussung des Verhaltens der Sprecher: innen durch Videoaufnahmen ein besonderes Problem. Er vertrat die Ansicht, dass Sprecher: innen sich anders verhalten, wenn sie beobachtet werden: „ To obtain the data most important for linguistic theory, we have to observe how people speak when they are not being observed. “ (Labov, 1972, p. 113) Mit dem „ Beobachterparadoxon “ zog er den Wert der empirischen Forschung in Zweifel. Deppermann (2008) argumentiert mit dem Aspekt der Gewöhnung gegen das Beobachterparadoxon, wonach die Befangenheit der am Gespräch Beteiligten „ bereits nach einigen Minuten rapide abnimmt “ (2008, p. 25). Tuma et al. (2013) bestätigen diese Ansicht. Die heutige Forschungspraxis zeigt, „ [ … ] dass Menschen, die [ … ] miteinander interagieren, die Kamera sehr bald nicht mehr beachten. “ (Tuma et al., 2013, p. 13) Die technische Entwicklung, u. a. die Handlichkeit von Videokameras, und vor allem das Interesse der Linguist: innen an den körperlichen Ausdrucksweisen führten schliesslich zur Erweiterung des Untersuchungsfokus um multimodale und paraverbale Anteile. 5 Videoaufzeichnungen von authentischen Gesprächen werden den Audiodaten vorgezogen, da die räumlichen Bedingungen sowie die körperlichen Ressourcen bei der Kommunikation eine zentrale Rolle spielen und so auch mit analysiert werden können (vgl. z. B. Mondada & Schmitt, 2010a). Zur detailgetreuen Erforschung von Interaktionen sind Videoaufzeichnungen das geeignetste Mittel. Videoanalysen werden in verschiedenen Forschungsfeldern genutzt, u. a. bei Ärzt: innen- Patient: innen-Gesprächen. Voraussetzung ist das Einverständnis der Beteiligten (für den vorliegenden Kontext wird in Kapitel 4.1.1 ausführlicher darauf eingegangen). Durch den Zugriff auf Videodaten werden etwa Aspekte wie die Räumlichkeit und die Positionierung der Beteiligten im Raum, die multimodalen Handlungen wie das Blickverhalten, die Körperorientierung, die Gestik sowie die Kooperation in der Interaktion und die Adressat: innenwahl zu beobachtbaren relevanten Merkmalen (Hausendorf et al., 2012). 5 Zu den paraverbalen Anteilen gehören in der vorliegenden Untersuchung die Lautstärke und das Sprechtempo (mehr zu den paraverbalen Phänomenen z. B. bei Martin & DiMatteo, 2013, p. 834). 2.1 Die Videoaufzeichnung von authentischen Gesprächen 29 <?page no="30"?> In Mehrparteiengesprächen können Redebeiträge anhand der Videoaufzeichnungen leichter zugeordnet werden. 2.2 Aspekte der Räumlichkeit Die Videoaufzeichnungen geben neben dem Einblick in den genauen Gesprächsverlauf Aufschluss über den räumlichen Rahmen sowie über die Positionierung: „ Face-to-face- Interaktion ist ein unumgänglich räumliches Ereignis, und die Strukturen gegebener Räumlichkeit wirken über unterschiedlichste Implikationen auf die Interaktion ein. “ (Deppermann & Schmitt, 2007, p. 24) Die Räume, die für Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche genutzt werden, sind „ Sprechzimmer “ . Mit dieser Bezeichnung wird auf die Aufgabe des Sprechens hingewiesen. Die „ Sprechzimmer “ , Behandlungsräume oder Therapieräume sind nicht privat, aber der Zutritt ist lediglich mit dem Einverständnis der Vertreter: innen der medizinischen Institutionen gestattet. Die Expert: innen beziehungsweise die Institutionen entscheiden über die Nutzung der Einrichtung, der Instrumente und der sonstigen Gegenstände. Bereits durch die räumlichen Verhältnisse und die Möblierung wird die Asymmetrie der an der Interaktion Beteiligten sichtbar. Die Ausstattung des Raums weist auf die unterschiedlichen Rollen der Expert: innen und der Patient: innen sowie auf die Gesprächsverantwortung der Expert: innen hin. Es ist eindeutig, wo die Expert: innen sitzen. Ihr Bürostuhl steht beim Schreibtisch und sollte auch für längeres Sitzen bequem sein. Falls es ein Drehstuhl ist, können sich die Expert: innen den Patient: innen fallweise zuwenden, um Fragen zu stellen, Erklärungen abzugeben, oder sich von ihnen abwenden, um im Computer Daten abzurufen, die Krankengeschichte nachzuführen und Rezepte auszustellen. Ihre Aufmerksamkeit ist bei fliessender Interaktion abwechslungsweise auf die Patient: innen, auf die Schreibarbeit oder auf dieArbeit am Computer gerichtet. Bei Heath (1984) finden sich folgende Beobachtungen: [ … ] as well as conversing with the patient, the doctor engages in a myriad of other activities in the patient ’ s presence including - conducting physical examinations, reading and writing the medical record cards, issuing prescriptions, sick notes and the like. These concerns may be dealt with in distinct phases of the consultation, though it is frequently the case that they are conducted alongside the flow of talk between the patient and the doctor. (Heath, 1984, p. 312) Im Sinne eines genormten „ Ensembles “ (vgl. Hausendorf & Schmitt, 2013) sind in einem Sprechzimmer auf dem Schreibtisch ein Computer, ein Telefon, Schreibutensilien, die für die Konsultation wesentlichen Patient: innen-Akten und allenfalls Persönliches der Expert: innen wie Fotos oder Erinnerungsstücke zu finden. In die Einheit „ Tisch und Stuhl “ kann eine Hängeregistratur integriert sein. Die übrige Einrichtung ist den entsprechenden Konsultationszwecken angepasst, zum Beispiel mit einer Liege für körperliche Untersuchungen. Die Patient: innen bleiben lediglich für die beschränkte Zeit der vereinbarten Konsultation im Sprechzimmer, die Sitzgelegenheit muss daher nicht zum Verweilen einladen. Die Sitzgelegenheiten sind so positioniert, dass die Patient: innen den Expert: innen gegenüber sitzen oder an einem Tisch übereck. Die Möblierung im Raum ist grundsätzlich so organisiert, dass der Sichtkontakt gewährleistet ist (zur Positionierung der Dolmetscher: innen siehe Kap. 3.5.2). 30 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="31"?> Die Sitzposition, der Bezug zum Raum sowie der Bezug der Beteiligten zueinander spielen in der Face-to-face-Kommunikation eine wesentliche Rolle (vgl. Hausendorf et al., 2012; Hausendorf & Schmitt, 2018). Die Plätze, die von den Beteiligten eingenommen werden, weisen auf die soziale Ordnung hin: Die Einnahme bestimmter Plätze im Raum durch Beteiligte im Kontext spezifischer Handlungszusammenhänge ist ein zentraler Bestandteil sozialer Interaktion, bei der die räumliche Positionierung in höchst anschaulicher Weise zum Indikator für die soziale Positionierung der Beteiligten wird. In dieser Verschränkung sozial-räumlicher Positionierung zeigt sich in exemplarischer Weise die Relevanz, die die Analyse des Raumes für die Analyse gerade auch der sprachlichen Interaktion besitzt. (Hausendorf & Schmitt, 2018, p. 96) 2.3 Multimodale Interaktion und Koordination Die Analyse des multimodalen Handelns der Beteiligten erfordert Videodaten als Datengrundlage. Sie ermöglichen die Beobachtung der körperlichen Resssourcen und erlauben es, die verbalen Äusserungen im Zusammenspiel mit handlungsbegleitenden multimodalen Anteilen aller Beteiligten genau zu verfolgen: „ Durch Aufnahme und Transkription der Interaktionen bleiben der Prozess und die Details für die Analyse erhalten [ … ] “ (Deppermann, 2008, p. 106; vgl. auch Mondada & Schmitt, 2010b). Die multimodale Analyse der Interaktionen folgt dem gesprächsanalytischen Grundsatz, transkribierte Videoaufnahmen von authentischen Gesprächen möglichst unvoreingenommen zu beobachten. Mit Multimodalität werden in der Gesprächsforschung verschiedene Ressourcen bezeichnet. Die Veränderungen der Körperhaltung, die Kopfbewegungen, die Körperzuwendung, das Blickverhalten sowie die Gesten werden visuell wahrgenommen (vgl. Schmitt, 2007b; Spranz-Fogasy & Becker, 2015, p. 96; Stukenbrock, 2008, 2015). An der multimodalen Kommunikation sind verschiedene Körperregionen beteiligt: Insbesondere sind dies das Gesicht, die Augen, der Kopf, die Arme, die Hände und die Beine. Darüber hinaus besitzen die gesamte Körperhaltung einer Person, ihre praktischen Tätigkeiten und die Konstellation verschiedener Körper im Raum kommunikative Qualität. [Hervorhebung im Original] (Fiehler, 2015, p. 21) Zur multimodalen Kommunikation gehören auch Momente des Schweigens. Die Beteiligten können gerade dann multimodal aktiv sein. Dieses Konzept greift Schmitt (2012) auf und zeigt, dass die Beteiligten in Sprechpausen multimodal kommunizieren. Sie zeigen etwa durch Handbewegungen an, dass sie an der Interaktion teilnehmen (vgl. z. B. Schmitt, 2012, p. 78). Das Interesse an solchen Details macht es notwendig, die in der Zeit ablaufenden, unvermeidbar transitorischen sozialen Handlungen zum Zweck ihrer Dokumentation gleichsam einzufrieren, d. h. so zu fixieren, dass sie für die Analyse beliebig oft reproduziert werden konnten. Im Tonband - und später im Videogerät - stand eine solche flexible und umstandslos handhabbare Technik zur Verfügung. (Bergmann, 1981, p. 15) 2.3.1 Der multimodale Analyseansatz Interaktion wird als multimodales Gesamtgeschehen verstanden. Die multimodale Analyse macht zum Thema, wie die Beteiligten sich u. a. durch die Körperorientierung, die Kopfhaltung, das Blickverhalten sowie durch Gesten aufeinander abstimmen. Depper- 2.3 Multimodale Interaktion und Koordination 31 <?page no="32"?> mann/ Schmitt (2007) sehen die multimodale Analyseperspektive als eine Überwindung der „ [ … ] Priorisierung der verbalen Anteile der Konversationsanalyse zugunsten einer multimodalen Erweiterung von Interaktion im Sinne der ‚ face-to-face ‘ -Vorstellung Goffmans [ … ] “ (vgl. Deppermann & Schmitt, 2007, p. 17; Schmitt, 2015). Für Schmitt (2007a) geht die multimodale Analyse weit über die verbalen Aspekte hinaus: 6 Der multimodale Ansatz begreift multimodale Interaktion als einen ganzheitlichen und von der Körperlichkeit nicht zu trennenden Prozess. Ganzheitlich ist der Prozess insofern, als er immer aus dem gleichzeitigen Zusammenspiel mehrerer unterschiedlicher Modalitäten besteht. Hierzu zählen beispielsweise: Verbalität, Prosodie, Mimik, Gestik, Körperpositur, Körperkonstellationen und Blickverhalten, die Positionierung im Raum und die Manipulation mit Objekten. Körperlich ist der Prozess insofern, als der Körper sowohl das Instrument als auch die zentrale Ressource all dieser unterschiedlichen Darstellungsebenen darstellt. (Schmitt, 2007a, p. 399) Beim multimodalen Ansatz stellt sich die Frage nach dem Vorgehen bei der Analyse. Norris (2004) beschreibt die Analyse von empirischen Videodaten folgendermassen: „ Videotaped data are vital for the multimodal interactional analyst, as they give us the option to revisit the same interaction again and again, focusing upon one mode at the time and then analyzing their interplay. “ (Norris, 2004, p. 53) Auch wenn einzelne Aspekte der Reihe nach betrachtet werden, das Zusammenwirken von Sprache mit den körperlichen Ressourcen bleibt zentral: Gaze, head movement, and gesture also influence the postural position of individuals; and since gaze and gesture are often interdependent upon the mode of spoken language, we can see that all embodied modes interconnect. (Norris, 2004, p. 53) Mondada/ Schmitt (2010a) räumen den verschiedenen Ausdrucksebenen grundsätzlich dieselbe Bedeutung ein. Erst in der spezifischen Gesprächssituation geben die Beteiligten den einzelnen Modalitäten ihre Vorzugsstellung: Aus einer multimodalen Perspektive auf Interaktion werden die unterschiedlichen Dimensionen oder Modalitätsebenen theoretisch als grundsätzlich gleichwertig konzipiert. Keine der Dimensionen ist demnach für die Analyse der Interaktionskonstitution zentraler oder wichtiger als andere: Blickkontakt oder Körperpositur kommen als Modalitäten theoretisch, methodisch und konzeptuell der gleiche Status zu wie Verbalität. Konkret tritt eine Modalität nur dann in den Vordergrund, wenn sie von den Beteiligten selbst zur situationssensitiven Realisierung eines bestimmten Handlungszusammenhangs erkennbar relevant gesetzt wird. (Mondada & Schmitt, 2010a, p. 25) Auch in einer weiteren Publikation hebt Mondada (2016) diese Beobachtung hervor: „ [ … ] there is no principled priority of one type of resource over the others (e. g. of language over embodiment) [ … ]. “ (Mondada, 2016, p. 341) 2.3.2 Die Koordination von verschiedenen Ausdrucksebenen Schon seit geraumer Zeit ist die Koordination von verschiedenen Ausdrucksebenen Gegenstand der Forschung. Kendon (1967) beobachtet in seinem Beitrag „ Some functions of gaze direction in social interaction “ anhand von audiovisuellem Material das Blick- 6 Der theoretische Hintergrund der Multimodalität wurde vor allem anhand der Studien folgender Autor: innen erarbeitet: Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (2012), Mondada/ Schmitt (2010a), Schmitt (Schmitt, 2007a, 2007b). 32 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="33"?> verhalten im Gespräch, u. a. das Zusammenwirken von Kopfnicken und Blickabwendungen oder von Lachen und Blickdauer (Kendon, 1967, p. 45 f.). Kendon (1967) hat anhand von sieben Gesprächen das Blickverhalten für den Sprecherwechsel herausgearbeitet. 7 Er beschreibt ein asymmetrisches Blickverhalten, das auf die kommunikativen Formen der Sprecher: innen und der Rezipient: innen hinweist: Thus at points in the interaction where the speaker and auditor exchange roles, the speaker characteristically ends his utterance by looking at the auditor with a sustained gaze and the auditor characteristically looks away as he begins to speak. It is suggested that the speaker, by looking at the auditor, signals to him that he is ready for him to start speaking, as well as being able to see whether this signal has been received. In looking away, the other person signals that he has accepted the ‘ offer ’ of a change of role. (Kendon, 1967, p. 60) Gut 10 Jahre später zeigt Goodwin (1980) anhand von Zweiergesprächen zum Beispiel beim Abendessen oder bei einer Party, dass Blickkontakte gewissen Regelmässigkeiten unterliegen. Die Rezipient: innen halten den Blick länger auf die Sprecher: innen gerichtet, als die Sprecher: innen die Rezipient: innen anschauen. Goodwin (1980) fasste diese Beobachtungen in Regeln: Regel 1 besagt, dass die Rezipient: innen die Sprecher: innen während ihres Redebeitrags anschauen, während die Sprecher: innen in ihrem Blickverhalten freier sind: „ A speaker should obtain the gaze of his recipient during the course of a turn at talk. “ (Goodwin, 1980, p. 275) Regel 2 besagt, dass die Rezipient: innen die Sprecher: innen anschauen sollten, wenn sie von ihnen angeschaut werden: „ A recipient should be gazing at the speaker when the speaker is gazing at the hearer. “ (Goodwin, 1980, p. 287). Auch ein Neueinsetzen im Gesprächsverlauf nach einer Unterbrechung kann zum Blickkontakt führen: First [ … ] the restart can provide a speaker with the ability to begin a new sentence at the point where the recipient ’ s gaze is obtained. Second, the recipient ’ s action just after the restart in the current data raises the possibility that a restart may also act as a request for the gaze of a hearer. (Goodwin, 1980, p. 280) Wie bereits Kendon (1967) und Goodwin (z. B. Goodwin, 1980) beobachten weitere Autor: innen im 21. Jahrhundert, wie die Beteiligten körperlich und verbal miteinander interagieren. Die Betrachtung der Koordination verknüpft verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade in Mehrparteien-Gesprächen kommt es vor, dass unklar ist, wer adressiert wird. Das Blickverhalten und die Körperorientierung spielen eine zentrale Rolle bei der Adressat: innenwahl. Sie erfolgt sowohl über die Verbalität als auch über die anderen multimodalen Ressourcen. Hartung (2001) schreibt dazu: „ Sowohl im Herstellen und Halten des Blickkontaktes, aber auch in der Körperhaltung “ drückt sich die Adressiertheit aus (Hartung, 2001, p. 1348 f.). Neben dem Blickverhalten und der Körperzuwendung wird die Adressierung durch sprachliche Formen der Anrede wie Personalpronomina, Namen oder Titel realisiert. Hartung (2001) führt ausserdem die Ebene der Äusserungsgestaltung ein. 7 Kendon beobachtete das Verhalten von Studierenden in den ersten Semestern der Universität Oxford im Zweiergespräch. Die Studierenden kannten sich vor dem Gespräch nicht und hatten den Auftrag sich bei dieser Gelegenheit kennenzulernen. 2.3 Multimodale Interaktion und Koordination 33 <?page no="34"?> Die Äusserungsgestaltung umfasst etwa den Sprachwechsel, den Fachsprachenanteil oder die Lautstärke (Hartung, 2001, p. 1348 f.). Dass die Redezugzuweisung in Mehrparteiengesprächen nicht allein über den Blick oder über die verbale Adressierung erfolgt, zeigt auch der Linguist Lerner (2003, p. 178 f.) anhand von Gesprächsausschnitten. Die Adressat: innenwahl ist auch Thema bei Auer (2017) im Artikel „ Gaze, addressee selection and turn-taking in three-party interaction “ . Die fortschreitende Technik erlaubt neue Methoden für die Beobachtung des Blickverhaltens. Auer (2017) untersucht zwei Episoden von etwa 60 Minuten mit dem Einsatz von eye-tracking- Brillen. An den zwei Gesprächsepisoden sind drei Studierende beider Geschlechter beteiligt. Es wurde kein bestimmtes Gesprächsthema vorgegeben. In seiner Studie geht er davon aus, dass das Blickverhalten bei der Adressat: innenwahl und bei der Sprecherwahl unterschieden werden kann. Es handelt sich dabei um zwei miteinander verwandte, aber nicht identische Gesprächssituationen. Im Laufe der Gespräche treten die Unterschiede der Blickkontakte zutage: Bei derAdressat: innenwahl zeigt sich ein rekurrentes Blickverhalten: „ In multi-party conversations, current speakers regularly look at co-participants alternatingly in order to select them as addressees of the turn. “ (Auer, 2017, p. 29) Beim Sprecherwechsel spielt der Blick zwar ebenfalls eine Rolle, ist aber in Übereinstimmung mit Lerner (2003) als alleiniges Signal zu wenig verlässlich für die Redezugzuweisung: „ It clearly offers the turn to a co-participant, but when used alone, it is less effective than verbal or multimodal techniques of next-speaker selection (such as the use of names as address terms or second person pronouns in tandem with gaze.) ” (Auer, 2017, p. 29) Zur präzisen Erfassung des Blickverhaltens werden in der neueren Forschung vermehrt eye-tracking-Brillen eingesetzt (vgl. u. a. Stukenbrock, 2018b). Weiß/ Auer (2016) untersuchen anhand einer einstündigen Konversation die Asymmetrie bei Häsitationsphasen. Zu Häsitationen hat sich bereits Kendon (1967) geäussert: „ During long utterances it is also found that the speaker looks at the auditor during passages of fluent speech and at the end of phrases but that he looks away during passages of unfluent speech or during hesitations. “ (Kendon, 1967, p. 60) In der Studie von Weiß/ Auer (2016) sind zwei junge Männer die Sprecher. Beide tragen während des Gesprächs eye-tracking-Brillen. Das Gespräch wurde arrangiert, ohne dass ein bestimmtes Thema vorgegeben wurde. Weiß/ Auer (2016) untersuchen Musterhaftigkeiten im Blickverhalten der Beteiligten aus der Perspektive der Rezipienten. Es haben sich zwei Resultate ergeben: Die Sprecher wenden den Blick bei Häsitationsphasen regelmässig von den Partnern ab und der jeweilige Rezipient schaut weiterhin auf sie, während seltener festgestellt wird, dass auch die Rezipienten den Blick abwenden. Weiß/ Auer (2016) weisen auf das vermehrte Auftreten von Häsitationen am Einheitenbeginn hin. Damit indizieren sie eine „ Bündelung der kognitiven Ressourcen auf den sprachlichen Planungsprozess “ (Weiß/ Auer, 2016, p. 133). Sie beobachten während Häsitationen ein Wegblicken nach links, rechts oder nach unten, selten nach oben (Weiß/ Auer, 2016, p. 134 f.) Stukenbrock (2018b) hebt die Bedeutung des Blickverhaltens ebenfalls hervor und zeigt anhand von fünf Gesprächen, in denen die jeweiligen Beteiligten eyetracking-Brillen tragen, „ [ … ] that gaze plays a prominent role in the interpersonal coordination of the participants ’ speech, gesture, body orientation and movements in space. “ (Stukenbrock, 2018b, p. 291) Gesten sind ebenso konstitutive Anteile von Interaktionen. Sie haben vielfältige Funktionen, u. a. markieren sie relevante Teile von Äusserungen, bilden Äusserungen nach und 34 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="35"?> fokussieren auf bestimmte Körperstellen (Schwitalla, 2018, p. 89). Mit dem Kopf werden „ symbolische Gesten ausgeführt (Kopfschütteln: Verneinung, Kopfnicken: Bejahung) “ (Fiehler, 2009, p. 38). Zeigegesten oder bildhafte Gesten werden als verständnisfördernde Strategien der Beteiligten eingesetzt und können mit einem lokaldeiktischen Ausdruck ( „ hier “ ) und/ oder mit Blickkontakten unterstützt werden (vgl. Stukenbrock, 2015, p. 46; Stukenbrock, 2016, p. 116). Im Artikel „ Blickpraktiken von Sprecher: innen und Adressat: innen bei der Lokaldeixis: Mobile Eye Tracking-Analysen zur Herstellung von joint attention “ beschreibt Stukenbrock (2018a) die „ Verwobenheit “ von Sprache, Gestik und Blick: Sprache, Gestik und Blick sind in einer spezifischen Weise miteinander verwoben: Blick wird zu einer Ressource interpersoneller Koordinierung, die über regulatorische Funktionen wie z. B. im Turn-Taking hinausgeht. Mein Argument lautet, dass die Blickpraktiken der Beteiligten in deiktischen Referenzierungsakten bestimmte (mikro-)sequenzielle Positionen besetzen und dadurch systematisch dazu beitragen, [ … ] einen neuen Status von Intersubjektivität zwischen den Beteiligten herzustellen und zu dokumentieren. (Stukenbrock, 2018a, p. 134) Die Adressat: innen müssen die Zeigehandlungen und darüber hinaus „ die der Zeigehandlung zugrunde liegende Intentionalitätsstruktur “ erkennen (Stukenbrock, 2015, p. 91). Erst wenn die Adressat: innen erkennen lassen, dass sie die Zeigehandlungen verstanden haben, wissen die Zeigenden, dass ihre Zeigehandlung erfolgreich war. Die Adressat: innen können die Zeigehandlung bestätigen, durch eine Nachfrage bearbeiten oder sie schweigend zur Kenntnis nehmen (vgl. Stukenbrock, 2015, p. 92). Die Aufmerksamkeit der Expert: innen liegt während des Gesprächs mit Patient: innen in vielen Fällen allerdings auf mehreren Handlungen wie Schreiben, Lesen von Berichten, Nachführen von Akten usw. (vgl. Heath, 1984, p. 312), so dass ihnen die Gesten der Patient: innen entgehen. Heath (1984) hat festgestellt, dass die Patient: innen gerade in solchen Augenblicken ihre Redebeiträge stärker mit Gesten begleiten (Heath, 1984, p. 332). Die Systematik der gestischen Aktivitäten hat eine lange Tradition. McNeill (1992) hat zurückgehend auf Ekman/ Friesen (1969) gestische Aktivitäten in Beziehung zur verbalen Kommunikation klassifiziert (vgl. dazu auch Kendon, 2004; Norris, 2004; Stukenbrock, 2015, p. 21). Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Typen von redebegleitenden Gesten werden der Klassifikation von McNeill (1992) folgend aufgeführt: • deiktische Gesten • ikonische Gesten • metaphorische Gesten • Schlagstockgesten (beats) 8 • Butterworth-Gesten Die deiktische Geste kann bei der Schmerzlokalisierung eine Zeigehandlung sein. Dieses gestische Zeigen wurde von Stukenbrock (v. a. Stukenbrock, 2008; 2015) besonders detailliert untersucht. Die deiktischen Gesten sind aus der Perspektive der Zeigenden von Interesse und dienen gleichzeitig dem Verständnis der Adressat: innen, vorausgesetzt die Adressat: innen nehmen die Gesten wahr: „ Die deiktische Zeigehandlung erfordert ein 8 Die Übersetzungen der Benennungen finden sich zum Beispiel bei Adam/ Castro (2013) und Stukenbrock (2015). 2.3 Multimodale Interaktion und Koordination 35 <?page no="36"?> hohes Mass an intra- und interpersoneller Koordinierung (Adaptivität, Projektivität) und etabliert klar definierte, modalitätsübergreifende konditionelle Relevanzen. “ (Stukenbrock, 2015, p. 35) Sprecher: innen vermitteln Informationen mit Gesten sowie mit deiktischen Ausdrücken und fordern die Aufmerksamkeit der Rezipient: innen ein: The gestural use of a deictic term is particular in that it by default requires the co-participant to use his eyes and look, first at the speaker to get additional visible information from his bodily displays (e. g. a gesture) and next at the object of interest. (Stukenbrock, 2018b, p. 292) Ikonische Gesten stehen in direkter Beziehung zur verbalen Äusserung. Sie bilden die Form von konkreten Objekten oder Vorgängen ab, zum Beispiel die Geste für das Telefonieren. 9 Metaphorische Gesten sind ebenfalls bildhafte Gesten. Allerdings werden nicht konkrete Objekte, sondern abstrakte Inhalte repräsentiert, zum Beispiel das Ansteigen von Blutzuckerwerten. 10 Schlag- oder Taktstockgesten wurden von McNeill (1992) in Anspielung auf den Taktstock der Dirigent: innen beats genannt, weil es sich um relativ kurze rhythmische Bewegungen der Hand von oben nach unten oder von vorne nach hinten handelt, mit denen wesentliche Inhalte der Redebeiträge im Rhythmus der Sprache betont werden (1992, p. 80). Schlag- oder Taktstockgesten lassen Rückschlüsse darauf zu, welche Elemente die Sprecher: innen hervorheben wollen. Im Gegensatz zu den deiktischen, den ikonischen und den metaphorischen Gesten haben sie keinen direkten Bezug zu den Inhalten. Die Butterworth-Geste ist eine weitere gestische Handlung, die in die Untersuchung miteinbezogen wird. Sie wird von McNeill (1992) ebenfalls aufgeführt, obwohl er sie als selten benutzt einstuft (McNeill, 1992, p. 80). Benannt wurden die Butterworth-Gesten nach Brian Butterworth (Butterworth & Hadar, 1989), die während Wortfindungsprozessen greifende Gesten beobachten: „ A prototypical instance of a Butterworth is a hand grasping or plucking in the air while the speaker is trying to recall a word. “ (McNeill, 1992, p. 77) Butterworth-Gesten haben ebenfalls keinen Bezug zu den Inhalten. Der Übersichtlichkeit halber wird die Butterworth-Geste an dieser Stelle eingeführt, obwohl sie eine Bewegung ist, die eher von Dolmetscher: innen als von Sprecher: innen im monolingualen Gespräch ausgeführt wird (vgl. Adam & Castro, 2013, p. 72). Im gedolmetschten Gespräch hat diese Geste eine besondere Bedeutung. Sie stellt eine greifende Handbewegung dar, die dann vorkommt, wenn die Dolmetscher: innen nach einem Wort suchen. In der Praxis sind vor allem die ikonischen und die metaphorischen Gesten nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden. Die Grenzen zwischen den Gestentypen sind laut Stukenbrock (2015) weniger scharf, als die Kategorien dies suggerieren: „ Entscheidend ist, dass die gestentypologisch voneinander unterschiedenen Gestentypen keine diskreten, sich wechselseitig ausschliessenden Kategorien bilden, sondern unscharfe Grenzen haben, ineinander übergehen und sich überlagern können. “ (Stukenbrock, 2015, p. 22) Dies gilt umso mehr, als es sich bei Gesten nicht um gefestigte oder lexikalisierte Formen handelt, sondern um ein spontanes Handeln (Streeck, 2016, p. 70). Mit gestischen Zeichen können sich die Beteiligten Rückmeldungen geben, wie sie vorangegangene Redebeiträge verstanden haben. Man spricht etwa von Backchannel- Signalen. Backchannel-Signale oder Rückmelde-Signale können verbale Handlungen sein, 9 Dieses Beispiel kommt in den Fallbeispielen nicht vor. 10 Dieses Beispiel stammt aus dem Fallbeispiel 4/ Teil I (vgl. Bild 5.4.1 - 1 in Fallbeispiel 4/ Teil I). 36 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="37"?> wie zum Beispiel „ mhm “ oder „ genau “ , oder die Beteiligten geben eine körperliche Rückmeldung, zum Beispiel mit Kopfnicken. Linell (1998) vermutet, dass Backchannel- Signale als „ listener support items “ generell eher für die soziale Beziehung als für die inhaltliche Ebene von Belang sind, weil damit das Rederecht nicht beansprucht wird. Backchannel-Signale dienen beim Sprecherwechsel als Einführung des neuen Redezugs oder werden zur Ermunterung der Sprecher: innen eingesetzt: Amongst these items, we find, first and foremost, so-called listener support items, i. e. utterances in the form of response particles like ‚ yeah, mm, mm-hm, no ‘ etc, when these are not intended nor treated as attempts to gain the conversational floor. Such support items may have different functions, chief among them that of encouraging the speaker to continue [ … ]. (Linell, 1998, p. 174) Eine Reihe von weiteren Autor: innen untersuchen multimodale Backchannel-Signale (vgl. u. a. Bavelas et al., 2002; Gardner, 2001; Kendon, 1967). Die Benennungen sind unterschiedlich. Kendon (1967) spricht von accompaniment signals. Damit sind kurze Äusserungen gemeint, die den Sprecher: innen rückmelden, wie ihre Redebeiträge verstanden worden sind. Gardner (2001, p. 2 f.) erstellt eine Taxonomie von response types oder response tokens, denen er verschiedene Funktionen zuordnet. So drücken die Rezipient: innen ( „ listeners “ ) zum Beispiel mit „ mhm “ aus, dass sie das Gesagte verstanden haben oder dass die Sprecher: innen weiterfahren sollen. Bei den response tokens kann es sich auch um kurze Fragen handeln, um etwas zu klären, oder es kann ein Übergang zu einem nächsten Thema signalisiert werden, beispielsweise mit „ okay “ (Gardner, 2001). Bavelas et al. (2002) stellen die Koordination von kommunikativen Handlungen in den Mittelpunkt. Sie sprechen von einem „ integrated message model in which certain specific acts work closely with words to convey meaning. “ (Bavelas et al., 2002) Ein verbaler Ausdruck ( „ Ja “ ) begleitet zum Beispiel ein Nicken. Dem Zusammenwirken der Aktivitäten haben sich Deppermann/ Schmitt (2007) in ihrem Beitrag „ Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes “ gewidmet. Sie untersuchen koordinative Aktivitäten der Beteiligten (Deppermann & Schmitt, 2007, p. 22 f.). In ihrem Verständnis „ [ … ] beziehen sich koordinative Anforderungen auf unterschiedliche Aspekte, zu denen insbesondere Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Multimodalität und Mehrpersonenorientierung gehören. “ (Deppermann & Schmitt, 2007, p. 23) Sie gehen davon aus, dass Koordination eine permanente konstitutive Anforderung an die Beteiligten darstellt (Deppermann & Schmitt, 2007, pp. 32 - 36). Dabei unterscheiden sie zwei Grundformen der Koordination: die intrapersonelle und die interpersonelle Ebene. Mit der intrapersonellen Ebene bezeichnen sie: Aktivitäten, mit denen ein Interaktionsbeteiligter die unterschiedlichen Ausdrucksmodalitäten seines eigenen Verhaltens aufeinander abstimmt: Verbalität, Mimik, Blickorganisation, Gestik, Körperpositur, Raumorientierung etc. müssen koordiniert werden. (Deppermann & Schmitt, 2007, p. 32) Bei der intrapersonellen Koordination stimmen die Beteiligten ihre eigenen Aktivitäten aufeinander ab. Dies zum Beispiel, wenn Patient: innen ihre Ängste schildern und diese Beschreibung mit multimodalen Verfahren kombinieren, etwa mit Gesten (vgl. Gülich & Couper-Kuhlen, 2007). Wenn verschiedene Beteiligte ihre Aktivitäten „ adaptiv “ aufeinander beziehen, sprechen Deppermann/ Schmitt (2007) von der interpersonellen Koordination (Deppermann & Schmitt, 2007, p. 34 ff.). Die intra- und die interpersonellen Koordinie- 2.3 Multimodale Interaktion und Koordination 37 <?page no="38"?> rungsaktivitäten können als Ausdruck des Bemühens um Verständigung gesehen werden. Ein Beispiel für die Koordination der Aktivitäten wäre etwa eine Situation, in der Patient: innen und Expert: innen auf dieselben Unterlagen schauen, darauf deuten und gleichzeitig verbal agieren. In solchen Situationen sind die intrapersonelle und die interpersonelle Koordination ineinander verwoben: „ Während Blick und Körperausrichtung zunächst der intrapersonellen Koordination bei der Verweisraumherstellung dienen, unterliegt der simultane Einsatz verbaler Ressourcen den interpersonellen Koordinationsanforderungen. “ (Stukenbrock, 2015, p. 95) 2.4 Merkmale der Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche Die Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation ist seit den 1970er-Jahren in verschiedenen Disziplinen ein Forschungsgegenstand geworden (Spranz-Fogasy, 2008, p. 50). Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräche finden innerhalb der institutionellen Rahmenbedingungen statt. Im Folgenden geht es darum, einige Aspekte der monolingualen Ärzt: innen-Patient: innen- Gespräche zu beleuchten, die für die Interaktion zwischen Expert: innen und Patient: innen prägend sind. Es sind dies u. a.: • die mehrphasige Struktur im medizinischen Gespräch • die Sequenzen des ärztlichen Fragens und des patient: innenseitigen Antwortens (Frage- Antwort-Folge) • die Handlungsroutinen der Expert: innen auf inhaltlicher Ebene • die unterschiedlichen Beteiligungsrechte • die Vernachlässigung der emotionalen Anliegen durch die Expert: innen • die divergierenden Wissensvoraussetzungen Aufbauend auf den Feldstudien von Byrne/ Long (1976) teilen verschiedene Autor: innen Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche mit geringfügigen Unterscheidungen in folgende mehrphasige Strukturen ein: Begrüssung und Eröffnung, Beschwerdeschilderung, Beschwerdenexploration, Diagnosestellung, Therapieplanung, Therapieentwicklung, Beendigung (vgl. Lalouschek, 2013, p. 428; Menz, 2015, p. 77; Spranz-Fogasy, 2010, p. 36; Spranz- Fogasy & Becker, 2015, p. 108). 11 Die Aktivitäten der Expert: innen innerhalb dieser Gesprächsphasen sind systematische Handlungen wie Fragen, Vorschläge, Anweisungen etc. (vgl. u. a. Heritage & Maynard, 2006b; Nowak, 2010; Spranz-Fogasy, 2005, 2010). Die Sequenzen des ärztlichen Fragens und des patient: innenseitigen Antwortens (Frage- Antwort-Folge) einer „ klassischen “ Konsultation spielen sich etwa folgendermassen ab: Die Expert: innen setzen ein Erstgespräch in der Eröffnungsphase zum Beispiel mit der Frage „ Wie geht es Ihnen? “ in Gang. In der weiteren Folge des Gesprächs schildern die Patient: innen ihre Beschwerden aus ihrer Sicht. Die Expert: innen hören zu, fragen nach oder signalisieren Verständnis, bis sie schliesslich nach der Diagnosestellung zur Therapieplanung übergehen. Beschwerden oder Anliegen werden über eine Frage-Antwort-Folge 11 Eine rigide Abfolge der Gesprächsphasen besteht nicht (vgl. Menz, 2015, p. 81; Spranz-Fogasy, 2008, p. 57). Die Realisierungsvarianten hängen von der spezifischen Gesprächsart (z. B. Erstgespräch, Kontrolltermin, Therapiestunde) und vom kommunikativen Verhalten der primären Gesprächsparteien ab. 38 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="39"?> exploriert (vgl. z. B. Heritage & Maynard, 2006a, p. 9 f.). In ihrer Funktion entscheiden die Expert: innen, welche Fragen sie stellen, welches Thema sie aufgreifen beziehungsweise ignorieren oder wann sie ein Gespräch abschliessen (vgl. Lalouschek, 2002, p. 17). Sie übernehmen damit von Anfang an den führenden Part im Gespräch. Die Handlungsroutinen der Expert: innen auf der inhaltlichen Ebene sind mit bestimmten Interaktionstypen wie etwa Anamnesen, Kontrollbesuchen oder Schlussbesprechungen verbunden. Im charakteristischen Gesprächsverlauf ist die Handlungsdynamik durch eine Asymmetrie gekennzeichnet: In doctor-patient consultations, there are a variety of practices of communication that are asymmetrically distributed between participants. One important asymmetry is that of initiative: doctors primarily initiate actions and solicit responses, whereas patients primarily respond to doctors ’ initiatives [ … ] (Robinson, 2001, p. 19). Die Expert: innen steuern das Gespräch mit ihren Fragen, die Patient: innen antworten. Fragen geben den „ kohärenzbildenden Rahmen “ vor (Spranz-Fogasy, 2010, p. 75). 12 Die Expert: innen bestimmen den Gesprächsverlauf (Tiittula, 2001), ohne ihrerseits auf Fragen der Patient: innen reagieren zu müssen. Die Verantwortung für das Gespräch liegt bei den Expert: innen, was den Stellenwert der Anliegen sowie die Beteiligungsrechte der Patient: innen einschränken kann. Die unterschiedlichen Beteiligungsrechte beschreibt Lalouschek (2013) folgendermassen: „ Patient: innen befinden sich [ … ] in einer prinzipiell reaktiven, auf das sprachliche Handeln der Ärzt: innen bezogenen und von ihnen abhängigen Position. Ihre interaktiven Mittel, aktiv und gesprächssteuernd einzugreifen, sind gering. “ (Lalouschek, 2013, p. 384) Ein Beispiel für die „ Interaktions-Dominanz “ der Expert: innen ist der folgende Auszug aus einem Gespräch für ein versicherungs-psychiatrisches Gutachten. Der aus dem Datenmaterial ausgewählte Ausschnitt stammt aus den im Rahmen des KTI-Projekts aufgezeichneten Gesprächen, ist jedoch nicht Teil der Sequenzanalysen in den Kapiteln 5.1 - 5.6. In diesem Beispiel zeigt sich, wie der Psychiater die Beschwerdeschilderung des Exploranden 13 unterbrechen kann und wie der Explorand dem Themenwechsel des Psychiaters folgt: Datenbeispiel 1: „ [ … ] ich habe vorhin noch vergessen zu fragen [ … ] “ Im ersten Teil eines versicherungs-psychiatrischen Gesprächs erfährt der Psychiater (P) von der alevitischen Vereinszugehörigkeit des Exploranden (E). In einer späteren Phase kommt der Psychiater darauf zurück. Er erklärt seinen abrupten Themenwechsel mit einem metadiskursiven Einschub „ [ … ] ich habe vorhin noch vergessen zu fragen. “ 14 Die Wiedergabe durch die Dolmetscherin (D) wird an dieser Stelle nicht kommentiert. 12 Mehr zu spezifischen Fragetypen findet sich bei Nowak/ Spranz (2008a) sowie bei Spranz-Fogasy (2010). 13 In psychiatrischen Gutachten wird von „ Explorand: innen “ statt von Patient: innen gesprochen. 14 Das psychiatrische Gutachter-Gespräch erstreckt sich über knapp drei Stunden. Dieser Auszug ist der Anfang der vierten Videokassette und beginnt deshalb mit der Zeile [1]. 2.4 Merkmale der Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche 39 <?page no="40"?> [1] 0 [00: 00.0] 1 [00: 00.0] 2 [00: 08.0] A [v] ( - ) (-) gut wie fühlen Sie sich von der Stimmung, sind Sie traurig? [2] 3 [00: 19.3] A [v] sind Sie fröhlich? geht es auf und ab? D [v] moreliniz nas ı l? sevinçlimisiniz D [UE] wie ist Ihre Stimmung? sind Sie [3] 4 [00: 26.4] 5 [00: 27.6] D [v] üzgünmüsünüz? yada de ğ i ş iyormu? bir a ş a ğı bir yukar ı D [UE] fröhlich sind sie traurig? oder wechselt es? mal nach unten mal nach oben E [v] genelde traurig oluyorum ya. E [UE] im allgemeinen bin ich traurig [4] 6 [00: 29.5] 7 [00: 32.6] 8 [00: 36.4] 9 [00: 37.8] A [v] (-) sehr traurig? D [v] meistens bin ich traurig. çok üzgünmüsünüz? D [UE] sind Sie sehr traurig? E [v] yo çokda E [UE] ne sehr traurig [5] 10 [00: 39.3] 11 [00: 40.4] 12 [00: 40.6] 13 [00: 43.4] A [v] ( - ) em ich habe vorhin noch D [v] nein nicht so (.) nicht sehr traurig E [v] üzgün de ğ ilim ama E [UE] bin ich nicht aber [6] .. A [v] vergessen zu fragen, Sie haben gesagt Sie seien in einem alevitischen [7] .. 14 [00: 56.6] 15 [00: 57.0] 16 [00: 57.3] 17 [00: 57.4] 18 [00: 58.3] 19 [00: 59.0] 20 [01: 02.0] A [v] Kultur e Kulturverein gewesen Sie sind Alevit ? E [v] mhm ja E [nv] ((nickt)) Tab. 2.4-1: Rückgriff auf ein früheres Thema Der Psychiater spricht den Exloranden auf seine Stimmungslage an: „ [ … ] wie fühlen Sie sich von der Stimmung? “ Für den Psychiater gehören diese Fragen nach der emotionalen Befindlichkeit zur routinemässigen Abklärung. Sie sind Teil des stark strukturierten psychiatrischen Gutachtergesprächs. Der Psychiater wechselt von der Beschwerdenexploration unerwartet zur Frage nach einem biografischen Detail. Mit seinem metadiskursiven Einschub „ [ … ] ich habe vorhin noch vergessen zu fragen “ unterbricht er sein Ablaufmuster und greift auf einen bereits abgeschlossenen Teil des Gesprächs zurück (vgl. Matic, 2017, p. 50). Im weiteren Verlauf bleibt er kurz beim Thema der kulturellen Zugehörigkeit, bevor er ebenso unvermittelt die Fragen zur Stimmungslage wieder aufnimmt (hier nicht abgebildet). Aufgrund seiner dominanten Experten-Stellung kann der Psychiater erwarten, dass er vom Exploranden auf seine Frage „ Sie sind Alevit? “ eine Antwort erhält. Der Explorand passt sich dem Themenwechsel denn auch an; den Erwartungen des Psychiaters entsprechend antwortet er mit „ Ja “ . 15 15 Der Redebeitrag wird nicht gedolmetscht, da der Explorand die Frage nach der Vereinszugehörigkeit auf Deutsch verstanden hat und auf Deutsch antwortet. 40 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="41"?> Umgekehrt können Expert: innen die von den Patient: innen gestellten Fragen ignorieren. Es ist das „ Vorrecht “ der Expert: innen, Fragen unbeantwortet zu lassen und „ Zugzwänge “ ohne Erklärung ausser Kraft zu setzen (Hausendorf & Quasthoff, 2005, p. 115). Die Dominanz der Expert: innen kann die Beteiligung von Patient: innen an der Interaktion einschränken. Es bleibt den Expert: innen vorbehalten, Themen zu setzen und zu entscheiden, ob sie zum Beispiel auf Fragen, auf Schilderungen von Schmerzen und Ängste der Patient: innen eingehen oder ob sie sich auf die sachlichen Themen der Konsultation beschränken wollen. Den hilfesuchenden Patient: innen gegenüber haben sie eine gewisse Vormachtstellung (vgl. u. a. Lalouschek, 2013, p. 384; Löning, 1994; Peräkylä, 2006, p. 246). Der Konversationsanalytiker Drew (2008) äussert in seinem Beitrag „ Spotlight on the Patient “ Zweifel an der Offenheit der Ärzt: innen in Bezug auf die Anliegen der Patient: innen: „ They [patients] may not always be successful in the ‚ negotiation process ‘ [ … ], and physicians may not always be responsive to their [patients ’ ] concerns [ … ] “ (Drew, 2008, p. 267). Lalouschek (2013) betont aufgrund ihrer Daten ebenfalls, dass es noch immer eine Herausforderung für die Expert: innen bedeutet, die Patient: innen am Gespräch zu beteiligen: Der Begriff Patientenbeteiligung prägt seit einigen Jahren die öffentliche Diskussion zur Gesundheitsversorgung. Als Grundqualität moderner ärztlicher Betreuung bedeutet er, Patienten und Patient: innen in der Konsultation stärker am Gespräch und an den Entscheidungen zu beteiligen und in die Behandlung miteinzubeziehen. (Lalouschek, 2013, p. 354) Eine durch die unterschiedlichen Beteiligungsrechte entstandene Vernachlässigung von patient: innenseitigen Anliegen kann sich auf den weiteren Verlauf auswirken. Eine Zurückweisung der Bedürfnisse der Patient: innen durch die Expert: innen kann in Gesprächen zu thematischen Schleifen führen (Spranz-Fogasy, 2010, p. 46), wenn die Patient: innen ihr Anliegen mehrfach vorbringen müssen, um gehört zu werden. Falls ihre Anliegen zuvor nicht bearbeitet wurden, kommen die Patient: innen erst am Ende des Gesprächs auf früher geschilderte Symptome zurück, oder sie nehmen ihrAnliegen neu auf, falls sie es gar nicht erst zur Sprache bringen konnten (Lalouschek, 2013, p. 398). In mehreren Untersuchungen zur monolingualen Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation wird das Anbringen des Anliegens am Schluss der Konsultation als so genanntes by the way syndrome beschrieben (vgl. u. a. Lalouschek, 2013; Rodondi et al., 2009; West, 2006; White et al., 1994). White et al. (1994) halten die am Schluss der Konsultation vorgebrachten Probleme oft für ernsthafte patient: innenseitige Anliegen: „ These new problems are often emotionally charged for the patient, reflecting fear of very threatening condition [ … ] “ (White et al., 1994, p. 24). Boyd/ Heritage (2006) bezeichnen das Phänomen als doorknob concern (Boyd & Heritage, 2006, p. 177), Menz (2015) spricht von „ Türklinkenenthüllungen “ (Menz, 2015, p. 77). Dieses Patient: innen-Verhalten ist bei den Ärzt: innen äusserst unbeliebt, da sie nur schon aus Zeitgründen nicht mehr auf neue Anliegen eingehen können (vgl. z. B. West, 2006, p. 380). Wenn die Expert: innen solche Anliegen nicht aufnehmen, bleiben die Anliegen der Patient: innen unbearbeitet, obwohl das Modell der Patient: innenbeteiligung in der neueren Medizin einen hohen Stellenwert hat. 16 Das „ Thema “ Patient: 16 Der Weltärztebund (WMA) hat den hippokratischen Eid für Ärzt: innen modifiziert und die Autonomie der Patient: innen stärker hervorgehoben. Die englischsprachige Version des Gelöbnisses ist auf der 2.4 Merkmale der Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche 41 <?page no="42"?> innenbeteiligung wird in der Gesprächsforschung mehrfach bearbeitet (vgl. v. a. Lalouschek, 2013; Nowak & Spranz-Fogasy, 2008b; Sator, 2013; Sator & Gülich, 2013). Ein weiterer Aspekt, der mit den asymmetrischen Beteiligungsrechten zusammenhängt ist die Vernachlässigung von emotionalen Anliegen. Die Untersuchung der kommunikativen Darstellung von emotionalen Anteilen ist in den vergangenen Jahren Gegenstand der Forschung geworden (vgl. z. B. Gülich & Lindemann, 2010; Lindemann, 2015; Sorjonen & Peräkylä, 2012). Spranz-Fogasy/ Becker (2015) beschreiben, dass die Patient: innen sich in ihren Beschwerdeschilderungen nicht nur auf sachlich geäusserte Beschwerden beschränken, sondern ihre Schmerzen und/ oder ihre Ängste zur Sprache bringen: So sind Angst, Befürchtungen, Sorgen und Unsicherheit die wesentlichen Emotionen im Hinblick auf die Beschwerden des Patienten [ … ], die eine Gefühlsarbeit [ … ] seitens des Arztes erforderlich machen, also das Eingehen auf das von den Patienten geschilderte Erleben und die damit verbundenen Emotionen. (Spranz-Fogasy & Becker, 2015, p. 97) Aus der Sicht der Patient: innen bleiben dringende emotionale Anteile in den Redebeiträgen häufig unbearbeitet. Dabei sollte nach heutigen Vorstellungen den Patient: innen in einer vertrauensvollen Ärzt: innen-Patient: innen-Beziehung „ eine umfassende Krankheitsdarstellung ermöglicht werden, wozu in vielen Fällen auch Emotionen gehören, da diese einen wichtigen Teil des Krankheitswissens und -erlebens darstellen. “ (Lindemann, 2015, p. 157) Aber in verschiedenen linguistischen Beiträgen zur monolingualen Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation wird anhand von authentischen Gesprächsdaten das fehlende Eingehen der Expert: innen auf die emotionalen Anliegen der Patient: innen beobachtet (vgl. u. a. Fiehler, 2005; Gülich & Lindemann, 2010; Lindemann, 2015; Ruusuvuori, 2007). Der Umgang mit den Emotionen der Patient: innen stellt nach der Beobachtung von Linguist: innen offenbar eine kommunikative Herausforderung für die Expert: innen dar: „ Die Gesprächsforschung konstatiert [ … ] eine auf Vermeidung von Emotionalität ausgerichtete ärztliche Gesprächshaltung. “ (Lindemann, 2015, p. 157; vgl. auch Fiehler, 2005) Die Expert: innen machen eher die Sachebene als das subjektive Erleben der Patient: innen zum Gegenstand der Interaktion. Sie nehmen zu den Schmerzschilderungen und Ängsten der Patient: innen eine distanzierte Haltung ein oder blenden die affektiven Redebeiträge ganz aus. Auch aus medizinischer Sicht wird bestätigt, dass Expert: innen den Sachinhalten oft mehr Raum als den Emotionen geben (vgl. Epstein et al., 2007; Pollak et al., 2007). Ebenso legen Butow et al. (2002) in einer Studie dar, dass sie als Expert: innen emotionale Anliegen zum Nachteil von Patient: innen mehrfach unbearbeitet lassen: „ Doctors were more likely to respond to informational cues than emotional cues [ … ]. “ (Butow et al., 2002, p. 53) Koerfer et al. (2018) sind der Ansicht, dass dieses Verhalten bereits in der Ausbildung der angehenden Mediziner: innen angelegt ist, da die emotionalen Anliegen während des Studiums kaum thematisiert werden. Ein weiteres Merkmal der Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation sind die divergierenden Wissensvoraussetzungen. Die Expert: innen treten den Laien gegenüber mit ihrem medizinischen Spezialwissen auf. Das Wissensgefälle zwischen Expert: innen und Patient: innen kann situativ zu Verständigungsproblemen führen, wenn Expert: innen über das Webseite der World Medical Association abrufbar, und zwar unter: https: / / www.wma.net/ policies-post/ wma-declaration-of-geneva/ (Stand: 11.12.2021). 42 2 Theoretische Grundlagen aus gesprächsanalytischer Perspektive <?page no="43"?> spezialisierte Fachwissen hinaus mit der Vertrautheit mit den institutionellen Routinen und mit dem hohen Sozialprestige auf Hilfe suchende Patient: innen mit dem subjektiven Wissen über ihre Beschwerden treffen. Dabei muss jeweils differenziert werden, ob es sich lediglich um lokale Ungleichheiten oder um grundsätzliche Asymmetrien handelt (vgl. Brock & Meer, 2004). Neben negativen Aspekten wie vor allem die eingeschränkten Beteiligungsrechte der Patient: innen sowie die Vernachlässigung der emotionalen Anteile finden sich in der Literatur durchaus auch positiv geprägte Einschätzungen der Beziehungen zwischen Expert: innen und Patient: innen: „ In der ELK 17 sind Experte und Laie [ … ] als komplementäre Gesprächsrollen zu verstehen, d. h. sie haben differierende, einander ergänzende Aufgaben im Gespräch. “ (Brünner, 2009, p. 171) Die Patient: innen können sich mit ihrem semiprofessionellen Wissen über das Krankheitsgeschehen und ihr körperliches Empfinden effizient mit den Expert: innen unterhalten (vgl. Brünner, 2009, p. 173). Dieses semiprofessionelle Wissen haben sich vor allem Langzeitpatient: innen angeeignet, die sich in einem permanenten Prozess spezifische Kenntnisse über ihre Krankheit angeeignet haben. Die Expert: innen sind auf das (Krankheits-)Wissen sowie auf den Kooperationswillen der Patient: innen angewiesen, um die Beschwerdeschilderungen in ihre Systematik einordnen zu können (vgl. Antos & Wichter, 2001, p. 19; Brünner, 2011, p. 16). Interaktionen in medizinischen Settings beruhen trotz des bestehenden Gefälles zwischen Expert: innen und Laien auf kooperativen Leistungen (vgl. Brünner, 2005, 2009). Im Normalfall kann davon ausgegangen werden, dass die am Gespräch Beteiligten sich grundsätzlich verstehen wollen. 17 Experten-Laien-Kommunikation wird hier mit „ ELK “ abgekürzt. 2.4 Merkmale der Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche 43 <?page no="44"?> 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis Die Erforschung von monolingualer klinischer Kommunikation hat u. a. in der Linguistik sowie in der Medizin eine längere Tradition. Verschiedene Arbeiten aus diesen Forschungsrichtungen erwiesen sich für die Dolmetschwissenschaft als ertragreich. Das frühe Interesse an der medizinischen Kommunikation illustriert etwa die aufwändige Studie von Byrne/ Long (1976), die anhand von monolingualen Gesprächen die Abfolge typischer Gesprächsaktivitäten in britischen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen untersuchten. Als Forscher, der sich im deutschen Sprachraum früh mit Eröffnungsinitiativen in Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen beschäftigte, ist Spranz-Fogasy (1987) zu nennen. Im Rahmen der funktionalen Pragmatik und Diskursanalyse beschäftigten sich Rehbein/ Löning (1993) mit der Arzt-Patient: innen-Kommunikation und Heath (1984) richtete seine Aufmerksamkeit zu einem frühen Zeitpunkt auf die Multimodalität. Aufgrund der Beschäftigung mit authentischen medizinischen Mehrparteiengesprächen und/ oder mit der interkulturellen Kommunikation haben auch gedolmetschte Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräche schon früh Beachtung gefunden (vgl. z. B. Rehbein, 1985). In neueren gesprächslinguistischen Studien zu Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen zeigt sich das wachsende Interesse an gedolmetschten Gesprächen (vgl. u. a. Bührig, 2005; Bührig & Meyer, 2009; Davidson, 2000, 2002; Menz, 2013c; Meyer, 2004; Sator, 2013; Sator & Gülich, 2013; Vranjes et al., 2018a). 3.1 Gesprächsdolmetschen als disziplinübergreifendes Forschungsthema Die in Kapitel 2 umrissenen gesprächsanalytischen Methoden, Prinzipien und Konzepte waren impulsgebend für die dolmetschwissenschaftliche Untersuchung von gedolmetschten Gesprächen. Im Bereich des Gesprächsdolmetschens setzte die Forschung in den 1990er-Jahren ein. Die Erforschung des gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächs aus der Perspektive der Dolmetschwissenschaft ist facettenreich, gleichzeitig aber stark fragmentiert (vgl. Antonini et al., 2017, p. 21). Dies möglicherweise zu einem guten Teil deshalb, weil Forscher: innen aus mehreren Disziplinen unterschiedliche Aspekte der gedolmetschten medizinischen Kommunikation bearbeiten. Fragestellungen und Ergebnisse aus der interaktionalen Linguistik, der medizinischen Gesprächsforschung, der Soziologie, der Dolmetschwissenschaft sowie aus der beruflichen Dolmetschpraxis fliessen in die jeweils anderen Disziplinen ein. Rehbein (1985) hat in einer Fallstudie im pädiatrischen Setting verschiedene Verfahren von Dolmetscher: innen, die über keine formale dolmetschspezifische Ausbildung verfügen, bei deutsch-türkischen Transferprozessen beschrieben. Er führt dabei folgende Verfahren ein: Reduzieren und Hinzufügen von Inhalten, Überführen von Erklärungen in Anweisungen, Verallgemeinern, Verschieben eines Fokus, Zusammenfassen und Abblocken von Informationen. Rehbeins (1985) Verfahren wie die einige Jahre früher vom Psychologen <?page no="45"?> Barik (1971) formulierten Kriterien der Auslassung, der Hinzufügung sowie der Ersetzungen erwiesen sich als richtungsweisend. In der Dolmetschwissenschaft wurden die bestehenden Kriterienkataloge später u. a. von den Dolmetschwissenschaftler: innen Bühler (1986) 1 und Wadensjö (1998) modifiziert und ergänzt (mehr dazu in Kap. 3.3). Nachdem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. Phänomene des Konferenzdolmetschens und im Nachgang des 2. Weltkriegs und der Nürnberger Prozesse vor allem die Anforderungen des Simultandolmetschens im Fokus der Dolmetschforschung waren (vgl. Moser Mercer, 2011, p. 49), wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Erforschung neuer Einsatzgebiete für Dolmetscher: innen in Behörden und Gerichten sowie in Spitälern zunehmend wichtiger. Neben der Gesprächsforschung gab die erste Konferenz Critical Link in Geneva Park (Kanada) im Jahr 1995 einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung des Dolmetschens im institutionellen Kontext. Die Konferenz brachte Dolmetschwissenschaftler: innen, praktizierende Dolmetscher: innen aus verschiedenen Bereichen sowie Vertreter: innen des Lautsprachendolmetschens und des Gebärdensprachdolmetschens zusammen. Die Critical-Link-Konferenzen werden seither regelmässig durchgeführt. Das Ziel dieser Konferenzen besteht vor allem darin, die Dolmetschforschung im institutionellen Kontext, die Diskussion um ethische Grundprinzipien sowie die Etablierung von Standards für Gesprächsdolmetscher: innen, die weltweit in den meisten Fällen über keine dolmetschspezifische Hochschulausbildung verfügen, zu fördern. Im Nachgang dieser Konferenzen wurde jeweils ein Sammelband mit Beiträgen über Theorie und Praxis des Gesprächsdolmetschens herausgegeben. Die Fragestellungen im Bereich des Gesprächsdolmetschens sind in verschiedenen Ländern weitgehend dieselben, die Antworten auf die akuten Probleme des Dolmetschens in verschiedenen Settings wie die Professionalisierung der Dolmetscher: innen oder die Organisation des Dolmetschwesens bleiben jedoch weiterhin meist länderspezifisch (vgl. Ozolins, 2010). Insbesondere die Ausbildungsstandards variieren stark in verschiedenen Ländern: Since the world politically comprises nation states made up of different cultures, languages and societies it is not surprising that there is no agreed international set of qualifications and code of ethical conduct for dialogue interpreters. (Tebble, 2012, p. 23) Die ersten Dolmetschdienste gab es in Australien in den 1970er-Jahren (vgl. Pöchhacker, 2015). Seither ist der Bedarf an Dolmetscher: innen im Gesundheitswesen weltweit gestiegen (vgl. Hsie, 2015, p. 177). Roat/ Crezee (2015) sind überzeugt, dass das Thema zunehmend an Bedeutung gewinnen wird (Roat & Crezee, 2015, p. 236). Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts widmet die Forschung dem Dolmetschen im Spital deutlich mehr Aufmerksamkeit. Forscher: innen beschäftigen sich weltweit in mannigfaltiger Weise mit der Theorie und der Praxis des Gesprächsdolmetschens. Ein Beispiel dafür ist das EU-Projekt medisign (vgl. Napier & Leeson, 2016). 2 Überdies weist eine grosse Anzahl von Einzelpublikationen in verschiedenen Ländern auf das steigende Interesse der Forschung an der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation hin, u. a. in 1 Eine detaillierte Beschreibung von Bühlers Kriterien findet sich bei Pöchhacker (2016, p. 173). 2 Das steigende Interesse am Gesprächsdolmetschen ist in verschiedenen Bereichen belegt, z. B. im Justizwesen (vgl. Driesen, 2012; Kadri ć , 2009), im Bildungsbereich (vgl. Davitti & Pasquandrea, 2017) oder im Asylwesen (Pöllabauer, 2005). 3.1 Gesprächsdolmetschen als disziplinübergreifendes Forschungsthema 45 <?page no="46"?> Australien (v. a. Hale, 2007; Tebble, 2009, 2012), in Belgien (z. B. Krystallidou, 2014; Van de Geuchte & Van Vaerenbergh, 2017; Vranjes et al., 2018a), in Dänemark (Dubslaff & Martinsen, 2005), in Deutschland (u. a. Kalina, 2015; Meyer, 2009), in Italien (u. a. Amato, 2007; Gavioli, 2012; Merlini & Favaron, 2005), in Grossbritannien (u. a. Llewellyn & Lee, 2014; Mason, 2001; Napier, 2002), in den Niederlanden (u. a. de Boe, 2015; Van de Mieroop, 2012), in Österreich (u. a. Grbi ć , 2008; Pöchhacker & Kadri ć , 1999), in Schweden (Englund Dimitrova & Tiselius, 2016; Wadensjö, 1998), in der Schweiz (u. a. Bischoff et al., 2006; Hofer et al., 2015; Sleptsova et al., 2012), in Spanien (u. a. Collados Aís et al., 2011; Valero-Garcés, 2008; Valero-Garcès, 2007) und in den USA (u. a. Angelelli, 2012; Davidson, 2002). Die Forschungsarbeiten decken ein breites Spektrum von Themen ab. Ein weltweit häufig und disziplinübergreifend bearbeitetes Thema ist in erster Linie die Rolle der Dolmetscher: innen (vgl. z. B. Angelelli, 2004; Hale, 2007; Pöchhacker, 2012; Sleptsova et al., 2015). 3 Ausserdem werden Studien zur (In-)Adäquatheit von Dolmetschleistungen im Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräch von verschiedenen Autor: innen aus der Dolmetschwissenschaft (u. a. Amato, 2007; Cambridge, 1999; Cirillo, 2012; Major & Napier, 2012; Merlini, 2009), aus der Linguistik (u. a. Bolden, 2000; Meyer, 2004) sowie aus der Medizin (u. a. Aranguri et al., 2006; Butow et al., 2011b; Flores et al., 2012) durchgeführt. Infolge der häufig als inadäquat beschriebenen Dolmetschleistung ist die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung für Dolmetscher: innen (zum Teil auch für ihre Auftraggeber: innen) ein weiteres Thema (vgl. u. a. Crezee, 2013; Driesen & Petersen, 2011; Gile, 2009; Grbi ć , 2008; Kalina, 2011; Krystallidou, 2016; Valero-Garcés, 2008). Die umfangreichsten Studien im deutschen Sprachraum zum Gesprächsdolmetschen im Spital sind die Monografien von Pöchhacker (2007), von Meyer (2004) sowie der von Menz (2013c) herausgegebene Sammelband. Gemeinsam ist den Autor: innen, dass sie authentische Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche untersuchen und dass die Dolmetschleistungen zu einem grossen Teil von ad hoc-Dolmetscher: innen, vor allem von Angehörigen oder Bekannten der Patient: innen (mehr dazu in Kap. 3.2.4) erbracht werden. Die Unterschiede liegen in den verschiedenen Fachdisziplinen der Forscher: innen, in den Forschungsschwerpunkten und im methodischen Vorgehen. Der Dolmetschwissenschaftler Pöchhacker (2007) verfolgt mit seiner Abhandlung aus wissenschaftstheoretischer Perspektive das Ziel, die Entwicklung der Dolmetschforschung innerhalb der Translationswissenschaft aufzuzeigen. Auf der empirischen Ebene befasst er sich anhand von zwei Fallbeispielen mit der Problematik von gedolmetschten Gesprächen. Gegenstand der Analyse sind Videoaufzeichnungen von zwei logopädischen Therapiesitzungen, die in einem Fall von einer nicht-klinischen Spitalmitarbeiterin und im anderen Fall von einer jugendlichen Verwandten gedolmetscht werden. In beiden Fällen sind die Missverständnisse aufgrund von inhaltlichen „ Verschiebungen “ und von Problemen mit der Fachsprache so gravierend, dass die Verständigung in hohem Ausmass beeinträchtigt ist. Pöchhacker (2007) legt sein Augenmerk zudem auf das erweiterte Rollenverständnis der Dolmetscher: innen, das sie zu selbst-initiierten Äusserungen oder zu Auslassungen legitimiert, sowie auf die grundsätzliche Problematik der Einsätze von ad hoc-Dolmet- 3 Angelelli ist Linguistin, Hale und Pöchhacker sind Dolmetschwissenschaftlerin beziehungsweise Dolmetschwissenschaftler, Sleptsova ist Psychologin. 46 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="47"?> scher: innen, die für diese Tätigkeit nicht ausgebildet sind. In seinen Analysen der Gesprächsausschnitte legt er schwerwiegende inhaltliche Mängel in den Verdolmetschungen frei, die den Therapeut: innen aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse unzugänglich sind. Seine Analysen sind als Aufforderung zur Professionalisierung der Gesprächsdolmetscher: innen zu werten (Pöchhacker, 2007, p. 284). Seit der Erstveröffentlichung dieser Studie im Jahr 2000 ist das Thema „ Dolmetschen im Krankenhaus “ im deutschsprachigen Raum ein ernst genommener Forschungsbereich der Dolmetschwissenschaft geworden. Der Linguist Meyer (2004) fokussiert in seinen Analysen von diagnostischen Aufklärungsgesprächen auf das sprachliche Handeln der Ärzt: innen und der Dolmetscher: innen, die Wissensvermittlung sowie auf die terminologischen Kenntnisse der Dolmetscher: innen. Als Dolmetscher: innen fungieren in seinen auf Tonträger aufgenommenen Aufzeichnungen Angehörige oder Pflegekräfte. Dabei arbeitet er vor allem die Entterminologisierung von medizinischen Fachausdrücken im Dolmetschprozess heraus. Die Dolmetscher: innen ersetzen Fachausdrücke etwa durch selbst-initiierte Erläuterungen. Die Aufklärungspflicht gegenüber nicht-deutschen Patient: innen wird durch inadäquates Dolmetschen vernachlässigt, da unsicher ist, wieviel die Patient: innen von den gedolmetschten Ausführungen verstehen. Mit seiner Untersuchung verweist er auf die gesellschaftliche Relevanz des Themas und fordert eine systematische Schulung von Dolmetscher: innen. Meyer (2004) setzt durch gezielte Weiterbildungen für bilinguale Pflegefachkräfte auf eine Verbesserung der Situation, da sie im Gegensatz zu den Angehörigen der Patient: innen über medizinisches und terminologisches Wissen sowie über institutionelle Kenntnisse verfügen. Die Linguist: innen Sator (2013) und Sator/ Gülich (2013) analysieren im Sammelband von Menz (2013c) Gespräche aus der Kopfschmerzambulanz der Wiener Universitätsklinik für Neurologie. Sie richten den Blick vor allem auf den Vergleich zwischen den Verdolmetschungen von unausgebildeten ad hoc-Dolmetscher: innen und einer professionellen Dolmetscherin, die Teile eines akademischen Dolmetschstudiums absolviert hat, auf die multimodalen Ressourcen der Expert: innen, der Dolmetscher: innen und der Patient: innen sowie auf die Beteiligungsstruktur. Das Besondere an diesem Sammelband ist die Bearbeitung desselben Datenmaterials durch verschiedene Autor: innen, die ähnliche Fragestellungen bearbeiten, insbesondere die Beteiligungsstruktur. Ihre Untersuchungen zeigen auf, wie komplex die Phänomene der gedolmetschten Kommunikation sind, wie deutlich das multimodale Zusammenspiel aller am Gespräch Beteiligten das Interaktionsgeschehen beeinflusst und wie deutlich die Beteiligung der Patient: innen an der gedolmetschten Interaktion eingeschränkt wird. Einen weiteren Fokus legen die Autor: innen bei ihren Untersuchungen auf die verschiedenen sprachlichen Formen der Adressierung und der Redewiedergabe. Das Gemeinsame in den kurz umrissenen drei Studien besteht darin, dass die inadäquaten Dolmetschleistungen der ad hoc-Dolmetscher: innen herausgehoben werden. Der Vergleich zwischen den ad hoc-Dolmetscher: innen und den professionellen Dolmetscher: innen wird in der dolmetschwissenschaftlichen Literatur allerdings gelegentlich kritisch hinterfragt. So plädiert Martínez-Gómez (2015) für die Professionalisierung aller Dolmetscher: innen, statt sie bestimmten Gruppen zuzuweisen und die Kompetenzen lediglich mit der Gruppenzugehörigkeit zu korrelieren (Martínez-Gómez, 2015, p. 419). 3.1 Gesprächsdolmetschen als disziplinübergreifendes Forschungsthema 47 <?page no="48"?> Zwischen den Disziplinen der Gesprächsforschung und des Gesprächsdolmetschens bestehen seit einigen Jahren methodische und inhaltliche Gemeinsamkeiten. Beiden Forschungsfeldern gemeinsam sind die Interessen am interaktiven Handlungsgeschehen, an den multimodalen Ressourcen in authentischen Gesprächen sowie an sozialen Beziehungen zwischen den Beteiligten (mehr dazu in Kap. 3.5). Neben der Gesprächsanalyse und der Dolmetschwissenschaft befasst sich die medizinische Gesprächsforschung mit dem Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräch. Gespräche mit Patient: innen machen einen grossen Teil des ärztlichen Berufs aus (vgl. u. a. Bliesener & Köhle, 1986; Langewitz et al., 2002). Vor allem in der Psychiatrie ist die Bedeutung des Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächs schon früh erkannt worden, etwa von Balint (1957). Zentrale Bedeutung im medizinischen Gespräch haben aus medizinischer und aus linguistischer Sicht u. a. der Verlauf von Gesprächen sowie die Patient: innenbeteiligung (Lalouschek, 2013; Spranz-Fogasy, 2008). Aus medizinischer und aus dolmetschwissenschaftlicher Sicht ist die Sicherung des wechselseitigen Verstehens zentral (vgl. u. a. Aranguri et al., 2006; Langewitz, 2013; Löning, 1994). Sowohl in der medizinischen Gesprächsforschung als auch in der Dolmetschwissenschaft werden inhaltliche Divergenzen sowie das Rollenverständnis der Dolmetscher: innen thematisiert. Die Expert: innen haben aus medizinischen Gründen ein ebenso vitales Interesse an einer genauen und vollständigen Verdolmetschung (vgl. Aranguri et al., 2006; Bot, 2005a, 2005b; Butow et al., 2011b; Flores et al., 2003) 4 wie die Dolmetschwissenschaftler: innen. Die genaue und vollständige Wiedergabe der Redebeiträge ist insbesondere im Hinblick auf die Erforschung des Dolmetschprozesses sowie auf die Didaktik zentral (vgl. u. a. Gile, 2009; Hale, 2007). Eines der umstrittensten Themen in beiden Disziplinen ist das Rollenverständnis der Dolmetscher: innen (mehr dazu in Kap. 3.4.3). 5 Die Analyse von Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen schliesst häufig an soziologische und soziolinguistische Konzepte und Fragestellungen an (vgl. dazu zum Beispiel Auer, 2013; Kallmeyer, 2005). Dabei steht die Diskussion um die Adressierung sowie um die Beteiligungsformen im Vordergrund (vgl. insbesondere Goffman, 1961, 1981). An das Konzept Goffmans der adressierten und der nicht-adressierten Zuhörer: innen knüpfen verschiedene Vertreter: innen der Dolmetschwissenschaft an (vgl. z. B. Krystallidou, 2016; Wadensjö, 1998). Die hier geschilderten thematischen Überlappungen der verschiedenen Forschungsfelder haben lediglich einen verallgemeinernden Charakter. In den nachfolgenden Kapiteln wird auf den Dolmetschprozess, auf den beim Gesprächsdolmetschen üblichen konsekutiven Modus, auf die Besonderheiten des Gesprächsdolmetschens als Beruf sowie auf das Dolmetschen im Spital eingegangen. 4 Das in der medizinischen Gesprächsforschung verwendete Datenmaterial stammt aus den jeweiligen Berufsfeldern der Autor: innen: aus der Kardiologie (Aranguri et al., 2006), der Psychiatrie (Bot, 2005b), der Onkologie (Butow et al., 2011b) sowie der Pädiatrie (Flores et al., 2003). 5 Ähnliche Themen zu den Aufgaben und zur Rolle der Dolmetscher: innen werden auch im Bildungs- und im Sozialwesen bearbeitet. In der Justiz stehen wie in der Medizin die Adäquatheit der Wiedergabe und das Rollenverhalten der Dolmetscher: innen im Vordergrund. 48 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="49"?> 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus Der Dolmetschprozess bedingt ein Zusammenwirken des Zuhörens, des Analysierens, des Abrufens der Erinnerungen beziehungsweise der Notizen, der sprachlichen Transferleistung und des Monitorings des Outputs in der Zielsprache. Das optimale Produkt ist die detailgetreue Wiedergabe des Sinnzusammenhangs eines ausgangssprachlichen Redebeitrags in der Zielsprache. Das gilt für alle Arten des Dolmetschens. Die Grundzüge der Dolmetschtätigkeit, die Verstehensprozesse, der sprachliche Transfer sowie die Produktionsprozesse in der Zielsprache bleiben in allen Settings des Gesprächsdolmetschens dieselben, unabhängig davon ob an Gerichten, in den Staatsanwaltschaften, beim Elterngespräch oder im Spital gedolmetscht wird. Was das Gesprächsdolmetschen in allen Sparten und sogar länderübergreifend kennzeichnet, ist die Gesprächskonstellation, in der die Dolmetscher: innen die Verständigung zwischen Vertreter: innen von Institutionen und Klient: innen oder Patient: innen ermöglichen (vgl. Pöllabauer, 2002, p. 290). Neben Sprachkompetenzen müssen die Dolmetscher: innen über Fachkenntnisse in den Bereichen, in denen sie dolmetschen, verfügen (Ahrens, 2016, p. 93). Weitere Voraussetzungen für adäquates Dolmetschen in institutionellen Settings sind die Sicherheit im Umgang mit dolmetsch-ethischen Verhaltensregeln, ein Wissen über das Management von Gesprächen sowie ein Verständnis für die Rolle der Beteiligten (Kalina, 2017, p. 175). Beim Gesprächsdolmetschen besteht die Aufgabe der Dolmetscher: innen darin, für beide Gesprächsparteien zu dolmetschen, die Beziehung zwischen ihnen zu stärken und selbst in den Hintergrund zu treten. Der in den Gesprächen des vorliegenden Datensatzes durchgängig verwendete Dolmetschmodus ist das so genannte Konsekutivdolmetschen. 6 Darunter wird der Modus verstanden, bei dem die Dolmetscher: innen einen Redebeitrag von unterschiedlicher Länge in der einen Sprache, der Ausgangssprache, hören und anschliessend in der anderen Sprache, der Zielsprache, wiedergeben. Die Sprecher: innen und die Dolmetscher: innen sprechen nicht zeitgleich, sondern nacheinander. Bei Verstehensschwierigkeiten lässt der Konsekutivmodus den Dolmetscher: innen die Möglichkeit, die Redebeiträge der primären Gesprächsparteien bis zu einem gewissen Grad in ihrer selbstgewählten Geschwindigkeit zu verarbeiten (Gile, 2009, p. 176) beziehungsweise nachzufragen, falls sie etwas aus akustischen oder aus inhaltlichen Gründen nicht verstanden haben. Nachfragen kann allerdings heissen, dass dieselben Fragen mehrfach gestellt beziehungsweise beantwortet werden müssen, so dass das Gespräch in Schleifen verläuft. Überdies haben Nachfragen den Nachteil, dass sie den Fluss der Interaktion unterbrechen. Im Anschluss an Nachfragen können ungedolmetschte Zwiegespräche zwischen den Dolmetscher: innen und den Gesprächsparteien entstehen, aus denen entweder die Expert: innen oder die Patient: innen ausgeschlossen sind. Mit dem Dolmetschprozess beschäftigt sich die Forschung etwa seit den 1960er-Jahren. Als Pionierin in der Dolmetschwissenschaft des 20. Jahrhunderts gilt Danica Seleskovitch. 6 Pöchhacker (2012) weist darauf hin, dass Gespräche auch in anderen Formen gedolmetscht werden können, z. B. im Modus des Flüsterdolmetschens, bei dem für eine kleine Anzahl von Zuhörer: innen praktisch gleichzeitig leise gesprochen oder eben geflüstert wird, oder im Abblatt-Modus, bei dem ein schriftlich vorliegender Text mündlich wiedergegeben wird (Pöchhacker, 2012, p. 46). 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus 49 <?page no="50"?> Sie hat sich in ihrer théorie du sense vom Wort-für-Wort-Prozess gelöst. Beim Dolmetschen kommt es vielmehr auf die sinngemässe Wiedergabe an, die Ausdrucksseite wird vernachlässigt (vgl. Albl-Mikasa, 2007; Kalina, 1998, p. 51 ff.; Seleskovitch, 1978a, 1978b). Das Konsekutivdolmetschen ist komplex und stellt „ [ … ] spezielle Anforderungen an kognitive Fähigkeiten (vor allem Speicherfähigkeit im Gedächtnis, Notationstechnik, Antizipationsstrategien) und soziale Kompetenzen (vor allem Interaktionskompetenz, Deutung von Körpersprache). “ (Schäffner, 2016, p. 25 ff.) Bei längeren Redebeiträgen der primären Gesprächsparteien ist das Gedächtnis der Dreh- und Angelpunkt der Dolmetschleistung. Der Dolmetschwissenschaftler Gile (2009) entwickelte das Effort model für Konferenzdolmetscher: innen, das den kognitiven Aufwand beim Dolmetschen darstellt. Im Effort model werden die Grundideen zur Veranschaulichung der Abfolge von Verarbeitungsprozessen und zur Bedeutung der Gedächtnisfunktion in erster Linie zu didaktischen Zwecken dargelegt. 7 Das Kennzeichnende an Giles (2009) Modell ist der zweiphasige Prozess. 8 Gemäss diesem Modell lassen sich Aufgabenbereiche beim Dolmetschen der einen oder der anderen Phase zuschreiben. Die erste Phase umfasst eine Verstehensphase (listening and analysing), in der zur Stützung des Langzeitgedächtnisses auch Notizen genommen werden können. Auf die erste Phase folgt die Produktionsphase (target-speech production), nachdem die Dolmetscher: innen ihre gespeicherten Erinnerungen aus dem Gedächtnis abgerufen oder im Falle einer Notizennahme ihre Notizen verarbeitet haben. Sie formulieren die Zusammenhänge in der Zielsprache neu und hören sich bei der Wiedergabe zu, d. h. sie überprüfen ihre Formulierung. 9 Das Effort model basiert auf dem Prinzip der mentalen Kapazität, die nur begrenzt zur Verfügung steht. Gemäss Gile (2009) arbeiten die Dolmetscher: innen aus verschiedenen Gründen gleichsam an der Grenze ihrer Kapazität (tightrope-hypothesis) oder sie werden darüber hinaus gefordert (overload): [ … ] a major objective of the Model is to explain interpreting difficulties, in particular recurrent problems which are well known to the interpreting community and often mentioned in the literature but which have not been analyzed in the past using a common conceptual framework (such triggers include names, numbers, enumerations, fast speeches, strong foreign or regional accents, poor speech logic, poor sound, etc.). In the Effort Models framework, problem triggers are seen as associated with increased processing capacity requirements which may exceed available capacity [ … ]. (Gile, 2009, p. 171) Bei der mentalen Überbelastung (overload) ist die Dolmetschleistung beeinträchtigt. Wenn die Anforderungen die verfügbare Kapazität übersteigen, dann sind die Dolmetscher: innen überfordert. Es kommt zu Problemen, die sich in Form von „ numerous errors, omissions and otherwise sub-optimal rendering of the source speech “ manifestieren (Gile, 2009, p. 191). 7 Detaillierte Beschreibungen zum Konsekutivdolmetschen finden sich bei verschiedenen Autor: innen (vgl. u. a. Albl-Mikasa, 2007; Kalina, 1998; Russell, 2005). 8 Giles (2009) Effort model für das Konsekutivdolmetschen entstand erst im Anschluss an das von ihm zuvor erarbeitete Modell zum Simultandolmetschen (Gile, 2009). Beim Simultandolmetschen geben die Dolmetscher: innen einen Text in seiner Gesamtheit ohne Unterbrechung mit einer geringen Verzögerung wieder. Der Vortrag der Sprecher: innen wird dadurch nicht unterbrochen. Die Dolmetscher: innen arbeiten mit Kopfhörer und Mikrophon. 9 Hale (2007) teilt den Dolmetschprozess in drei Phasen ein: „ The three main steps of the interpreting process are comprehension, conversion and delivery. “ (Hale, 2007, p. 14) 50 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="51"?> Ein Ausschnitt aus einem gedolmetschten Gespräch einer Ärztin mit einer türkischen Patientin illustriert, wie ein fehlender Fachausdruck und eine Nachfrage der Dolmetscherin die Verarbeitungskapazität über Gebühr belasten: Datenbeispiel 2: „ [ … ] dort hatte man Verschleisserscheinungen an der unteren Wirbelsäule festgestellt [ … ] “ Die Patientin (P) klagt in einem Nachsorgegespräch erneut über Schmerzen. Die Ärztin (Ä) sucht in ihren Unterlagen nach der eine Weile zurückliegenden Diagnose und den damals angeordneten Massnahmen. Die Dolmetscherin (D) unterbricht die Ärztin, um wegen eines Fachausdrucks, den sie nicht versteht, nachzufragen. Durch das Aufsplitten der Konzentration kann sie den Zusammenhang nicht mehr reproduzieren. [58] 140 [06: 50.5] 141 [06: 51.8] 142 [06: 55.1*] Ä [v] und ich schaue ganz schnell, eem und dort hatte [59] Ä [v] man Verschleisserscheinungen an der unteren Wirbelsäule festgestellt und hatte [60] Ä [v] aber empfohlen, dass mit Physiotherapie und Schmerzmitteln ee das behandelt. [61] 143 [07: 15.0] 144 [07: 16.1] 145 [07: 17.6] 146 [07: 18.9] Ä [v] Verschleiss ist ee degenerative Abnützung. D [v] was ist ein Verschleiss? ah Abnützung. ş eyinde, belinde ya şı ndan dolay D UE] Ah Verschleiss. dings am Rücken sind durch [62] D [v] kullan ı mdan dolay bir hasar görmü ş ler o yüzdende fizio fiziktedavi görmen D [UE] Abnützung Schäden gesehen worden und darum solltest du Physiotherapie [63] D [v] gerekti ğ ini söylemi ş ler sana o zaman, önermi ş ler, hat ı rl ı yormusun bunlar ı ? D [UE] machen, hatte man dir damals gesagt, vorgeschlagen, erinnerst du dich? kannst [64] 147 [07: 23.4] 148 [07: 35.9] D [v] orda ne dediler ne anlat ı lar hat ı rl ı yormusun? D [UE] du dich noch erinnern was sie gesagt dir erzählt haben ? Tab. 3.2-1: Problematik der Fachsprache In diesem Ausschnitt, der aus Fallbeispiel 1 stammt, erschwert ein einzelner Fachterminus ( „ Verschleisserscheinungen “ ) das Verständnis des Zusammenhangs. Die Dolmetscherin kennt den Fachausdruck nicht und kann die Bedeutung nicht aus dem Kontext erschliessen. Sie kann ihn deshalb auch nicht paraphrasieren, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Paraphrasieren ist ein gängiges, allerdings zeitaufwändiges Vorgehen beim Dolmetschen, wenn ein entsprechender Ausdruck in der Zielsprache nicht verfügbar ist und eine Annäherung an die originale Äusserung gesucht wird (Kalina, 1998, p. 120). Kalina (1998) spricht in einem solchen Fall von verdeckter Selbst-Reparatur. Die Dolmetscherin erfragt in der Interaktion die Bedeutung des Ausdrucks „ Verschleiss “ . Die Ärztin paraphrasiert darauf den Ausdruck, bleibt in ihrerAntwort auf die Frage der Dolmetscherin aber bei der Fachsprache ( „ degenerative Abnützung “ ). Während die Ärztin weiterspricht, lenkt die Dolmetscherin ihre mentalen Ressourcen auf den Verstehensprozess. Sie verschafft sich etwas Zeit zum Überlegen, indem sie der Verdolmetschung ins Türkische den deutschen 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus 51 <?page no="52"?> Ausdruck voranstellt: „ Ah Verschleiss. “ Nach einem unklaren Beginn ihrer Verdolmetschung kann sie die Hauptaussage ohne die Wiedergabe des Fachausdrucks „ Wirbelsäule “ ungefähr sinngemäss wiedergeben: „ Dings am Rücken sind durch Abnützung Schäden gesehen worden [ … ] “ , aber den weiteren Zusammenhang kann sie nicht mehr adäquat wiederherstellen. Die Dolmetscherin erinnert sich noch an den Ausdruck „ Physiotherapie “ , aber nicht mehr an den genauen Zusammenhang der ausgangssprachlichen Äusserung. Der Informationsverlust ist zu gross geworden. Die Gedächtnisleistung hätte durch die Zuhilfenahme der Notizentechnik unterstützt werden können, aber die Dolmetscherin hat sich nichts notiert. Weil sie den originalen Redebeitrag der Ärztin nicht abrufen kann, weicht sie in der Folge davon ab. Sie kompensiert das Vergessene, indem sie bei der Patientin nachfragt, ob sie sich an die Zusammenhänge erinnern kann. Damit lagert sie die Verantwortung für das Verständnis des Redebeitrags der Ärztin an die Patientin aus. Die kognitive Überlastung führt zu einer Suche nach einer Alternativlösung, mit der die Dolmetscherin ihr Wissensdefizit beheben kann. Die Ursache der Modifikation des ursprünglichen Zusammenhangs ist das fehlende terminologische Wissen der Dolmetscherin. Der individuelle Grad der Belastung beim Dolmetschprozess und die Qualität der Verdolmetschungen variieren je nach den individuellen Sprachkompetenzen in den beiden Sprachen, je nach der analytischen Kompetenz, der Konzentrationsfähigkeit, des Gedächtnisspeichers und des Fachwissens der jeweiligen Dolmetscher: innen. Laut Gile (2009) kann dem overload durch Gegenmassnahmen entgegengewirkt werden. Durch Routine und durch die Aneignung von fachlichem Wissen können Vorgänge „ automatisiert “ werden (Gile, 2009, p. 183; vgl. auch Kalina, 1998, p. 150). Für die Verarbeitungsprozesse beim Dolmetschen sind fundierte Fachkenntnisse sowie institutionelles Wissen notwendig. Dolmetscher: innen, die sich in einem bestimmten Gebiet, zum Beispiel in der Rheumatologie, gut auskennen, können durch ihr eigenes fachliches Wissen und ihre terminologischen Kenntnisse eine bessere Leistung erbringen. Umgekehrt erschweren wenig Routine sowie fehlendes (Fach-)Wissen die Verarbeitung der ausgangssprachlichen Redebeiträge. Eine weitere Massnahme gegen negative Konsequenzen des overloads ist die Notizennahme. Vor allem wenn eine längere Gesprächssequenz gedolmetscht werden soll, können Notizen der Unterstützung der Gedächtnisleistung dienen. Die Notizennahme benötigt allerdings ebenfalls Zeit und Kapazität. Zur Art, wie Notizen (zum Beispiel in welcher Sprache) zu nehmen sind, gibt es unterschiedliche Ansichten (vgl. z. B. Kalina, 1998, p. 238 ff.), aber die grundsätzliche Bedeutung der Notizennahme für die praktische Tätigkeit beim Dolmetschen gilt als gesichert (vgl. Albl-Mikasa, 2007, p. 59). Die Notizennahme setzt in jedem Fall voraus, dass die Dolmetscher: innen den Sinn erfassen, die Inhalte in einer hochkomprimierten Form notieren und das Notierte bei der Wiedergabe leicht erfassen können. Für Gesprächsdolmetscher: innen, die keine dolmetschspezifische Ausbildung haben, d. h. die Technik der Notizennahme nie erlernt haben, ist allgemein von vordringlicher Bedeutung, dass sie sich mindestens Einzelheiten notieren, die man sich nicht unbedingt leicht merken oder aufgrund der Logik nicht herleiten kann, wie etwa Namen oder Zahlen (Driesen & Petersen, 2011, p. 60). Aus psycholinguistischer Sicht hat sich unter anderen Kohn (1988) mit dem Übersetzen von Fachtexten auseinandergesetzt. Er hat darauf hingewiesen, dass Verstehensprobleme 52 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="53"?> überbrückt werden können, „ wenn es dem Rezipienten gelingt, ein Situationsmodell aufzubauen, aus dem in Ergänzung der grammatisch/ lexikalischen Wegweiser das für den Text relevante Welt/ Fachwissen (top-down) abgerufen werden kann. “ (Kohn, 1988, p. 40 f.) Beim bottom-up-Prozess gehen die Dolmetscher: innen vom Wortlaut der ausgangssprachlichen Redebeiträge aus. Im Bemühen um das Verständnis des Ausgangstextes besteht als Basis für die Textproduktion eine kontinuierliche Wechselwirkung zwischen den top-down- Prozessen und den bottom-up-Prozessen (vgl. Brown & Yule, 1983; Kalina, 2007, p. 185; Van Dijk & Kintsch, 1983). Kurz/ Grossdinter (2007) weisen darauf hin, dass Konferenzdolmetscher: innen mit weniger Erfahrung Inhalte häufiger bottom-up verarbeiten. Sie plädieren aufgrund ihrer Untersuchung für eine die Effizienz steigernde Optimierung der aussersprachlichen und der sprachlichen Wissensbasis, der Gedächtnisleistung sowie für eine „ [ … ] Beherrschung der Idiomatik, hier von Sprichwörtern, sprichwörtlichen Wendungen und ähnlichen festgefügten Formulierungen [ … ] “ . (Kurz & Gross-Dinter, 2007, p. 224) Diese Ergebnisse können auf Gesprächsdolmetscher: innen übertragen werden. Wenn ihnen die Wissensbasis beziehungsweise die entsprechende Terminologie fehlen, verfahren sie wie unerfahrene Konferenzdolmetscher: innen ebenfalls bottom-up. 10 Fachlich anspruchsvolle Inhalte oder komplexe Zusammenhänge sind nicht die einzige Ursache für Dolmetschprobleme; die Aufnahme- und Verarbeitungskapazität der Dolmetscher: innen kann nur schon durch die Länge der ausgangssprachlichen Äusserungen überbeansprucht werden. (vgl. Sator & Gülich, 2013, p. 183) Grundsätzlich richtet sich die Länge der Verdolmetschungen nach dem ursprünglichen Redebeitrag der Expert: innen beziehungsweise der Patient: innen. Die Redezüge der Expert: innen sind unterschiedlich lang. Die Spannweite reicht von einer kurzen Frage nach dem ersten Auftreten der Schmerzen: „ Seit wann? “ bis zu einer längeren Erklärung der Expert: innen oder zu einer ausführlichen Beschwerdeschilderung der Patient: innen. Im folgenden Beispiel schildert der Patient seine Beschwerden. Die Dolmetscherin unterbricht ihn, weil sie befürchtet, dass ihre Verarbeitungskapazität durch eine zu grosse Informationsmenge in einem Redebeitrag überfordert wird. Das Beispiel stammt aus einem Anästhesie-Gespräch aus dem vorliegenden Datensatz (die Stelle ist nicht Teil der ausgewählten Gespräche in den Kapiteln 5.1 - 5.6.): Datenbeispiel 3: „ Warte schnell, wir müssen kürzer “ Der Arzt (A) eröffnet das Gespräch mit dem Hinweis, dass die Dolmetscherin (D) alles dolmetscht, was gesprochen wird (nicht Teil des hier wiedergegebenen Ausschnitts). Der Patient (P) schildert seine Beschwerden und die bisher vereinbarten therapeutischen Massnahmen. Die Dolmetscherin unterbricht ihn, bevor er zu Ende gesprochen hat, damit sie alles wiedergeben kann. 10 Die Dolmetscher: innen können die für die Verdolmetschung erforderliche Wissensbasis im Verlauf einer bestimmten Interaktion erweitern, wenn es ihnen gelingt, einen Terminus oder einen Sachverhalt beim Zuhören aus dem Kontext zu erschliessen. Dabei geht es möglicherweise eher um die Erweiterung des Wortschatzes als um wirkliches Verstehen. 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus 53 <?page no="54"?> [5] 7 [01: 27.7*] 8 [01: 27.8] 9 [01: 32.1] P [v] ja.ja tregojë P [nv] ((greift P [UE] sag D [v] mhm [6] P [v] se, ne fillim kam pas shumë problem, edhe jom kon bash total i bllokum, (xxx) P [nv] sich an den Nacken, zeigt mit der Hand an seinen rechten Oberarm und an den Hals)) P [UE] ihm, dass ich am Anfang viel Probleme hatte und ich war ganz blockiert, [7] P [v] kam marre edhe shpritca, për mem shliru. P [UE] (xxx) habe auch Spritzen gekriegt, damit diese Schmerzen lockerer [8] 10 [01: 45.0] P [UE] werden die Schmerzen nachlassen. D [v] vec pak prit, se duhet kështu ma D [UE] warte schnell, wir müssen kürzer, [9] D [UE] shkurt, also am anfang hat er starke schmerzen gehabt, er war total blockiert [10] 11 [01: 57.0] 12 [01: 58.8] A [v] mhhmm P [v] edhe tregojë se dy javë P [UE] dann sag ihm, dass ich D [v] und (xxx) hat er paar mal spritze gekriegt. Tab. 3.2-2: Unterbrechung durch die Dolmetscherin Der Patient spricht Albanisch. Er wendet sich an die Dolmetscherin und beginnt mit dem Hinweis auf seine Probleme: „ Sag ihm, dass ich am Anfang viele Probleme hatte und ich war ganz blockiert “ . Der Redebeitrag wird von der Dolmetscherin im konsekutiven Modus wiedergegeben. Sie unterbricht den Patienten, und bevor sie den Redebeitrag des Patienten dolmetscht, weist sie den Patienten mit dem metadiskursiven „ warte, wir müssen kürzer “ an, sich auf kleinere Tranchen zu beschränken, damit sie seine Redebeträge vollständig dolmetschen kann. Die Gedächtnisleistung der Dolmetscherin limitiert die Länge der Äusserung. Unterbrechungen können bei wenig geübten Dolmetscher: innen ein ausgangstextnäheres Dolmetschen ermöglichen, als wenn abgewartet wird, bis die Gesprächsparteien zu Ende gesprochen haben. Solche Unterbrechungen können von den primären Gesprächsparteien jedoch als störend empfunden werden. Im optimalen Fall werden weder die Gesprächsparteien noch die Dolmetscher: innen unterbrochen, sondern erst nach den einzelnen Redeeinheiten werden Pausen eingelegt, so dass die Dolmetscher: innen beim Sprecherwechsel Gelegenheit erhalten, den Beitrag zu dolmetschen (vgl. Kalina, 1998, p. 23). Zwischen den Gesprächsparteien selbst kommt es kaum zu Sprecherwechseln, da sie nicht in direktem Gespräch miteinander sind. Der Sprecherwechsel kann unterschiedlich organisiert werden. In Studien, in denen authentische Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche beobachtet werden, beschreiben die Autor: innen verschiedene Muster. Pasquandrea (2011) beschreibt, dass der Sprecherwechsel durchaus reibungslos vor sich gehen kann (vgl. Pasquandrea, 2011, p. 458). In manchen Fällen werden die Dolmetscher: innen von den 54 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="55"?> Gesprächsparteien multimodal mit der Körperausrichtung, mit Blickkontakten oder Gesten darauf aufmerksam gemacht, dass sie das Rederecht übernehmen können (vgl. Davitti & Pasquandrea, 2017; Pasquandrea, 2011). Wie das Datenbeispiel 3 zeigt, kommt es allerdings vor, dass die Dolmetscher: innen ihr Rederecht verbal einfordern müssen, um die Verständigung sicherzustellen. In wieder anderen Gesprächssituationen kommt es an turnübergaberelevanten Stellen entweder zwischen den Expert: innen und den Dolmetscher: innen oder zwischen den Patient: innen und den Dolmetscher: innen zu Zwiegesprächen. Pasquandrea (2011) beobachtet das Verhalten von Ärzt: innen und stellt anhand seines Datenmaterials fest, dass die Ärzt: innen warten, bis das Zwiegespräch beendet ist (Pasquandrea, 2011, p. 470). Bei einem Überhang am Ende von Redebeiträgen kann es beim Sprecherwechsel zu überlappender Rede kommen (vgl. z. B. Pöllabauer, 2015, p. 212). In Fällen von überlappendem Sprechen aufseiten der primären Gesprächsparteien können Dolmetscher: innen auf verschiedene Art und Weise reagieren. Die verschiedenen Reaktionen der Dolmetscher: innen, mit denen sie in der Regel eine solche Störung zu beheben suchen, sind von Roy (2000, p. 85) beschrieben worden. Die Dolmetscher: innen können einem Sprecher beziehungsweise einer Sprecherin folgen und den anderen Redebeitrag im Anschluss dolmetschen, falls sie in der Lage sind, diese Inhalte zu memorieren, bis sie die Wiedergabe der ersten Äusserung zu Ende gebracht haben, oder sie können versuchen, während der Verdolmetschung für die eine Gesprächspartei auf die Einwürfe der anderen Gesprächspartei mit Backchannel-Signalen wie „ mhm “ , mit ratifizierenden Reaktionen wie „ ja “ , mit einem Nicken oder mit einem gestischen Signal zu reagieren und damit die Gesprächspartei, die auf die Verdolmetschung warten muss, in die Interaktion einzubeziehen. Die von Roy (2000) vorgeschlagenen Lösungen erfordern ein hohes Mass an Konzentrationsfähigkeit und an Erinnerungsvermögen. Falls die Dolmetscher: innen den kognitiven Anforderungen nicht gewachsen sind, gehen bei Überlappungen Inhalte verloren (Braun, 2015, p. 358). 3.2.1 Gesprächsdolmetschen als Beruf Beim Gesprächsdolmetschen handelt es sich um bilaterales Dolmetschen in erster Linie im Bildungs-, Gesundheits-, Justiz- oder Sozialwesen. Im Anschluss an die Redebeiträge in der Ausgangssprache werden die Äusserungen in die Zielsprache konsekutiv gedolmetscht (vgl. Kap. 3.2). Die Gesprächsdolmetscher: innen arbeiten jeweils in beide Sprachen, während die traditionell ausgebildeten Konferenzdolmetscher: innen in der Regel in die Erstsprache dolmetschen. Die Konferenzdolmetscher: innen arbeiten bei Fachkonferenzen, bei internationalen Gerichtshöfen, in der Politik oder in der Diplomatie. Das Gesprächsdolmetschen ist aufgrund der demographischen Entwicklung seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert vor allem in den Bereichen der Justiz und des Gesundheitswesens ein in der Dolmetschwissenschaft (vgl. u. a. Berk-Seligson, 1990; Kalina, 2017; Ozolins, 1995, p. 153; Wadensjö, 1998) und in der Dolmetschdidaktik (vgl. u. a. Driesen, 2012; Gile, 2009) weltweit viel diskutiertes Phänomen geworden. Zu den Ländern, die sich früh mit der Problematik des Gesprächsdolmetschens auseinandersetzten, gehören Australien, Kanada, die USA sowie europäische Länder wie Schweden, die Niederlande oder Grossbritannien (vgl. Taibi, 2014). In der Schweiz begann die Auseinandersetzung mit der 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus 55 <?page no="56"?> Theorie und der Praxis des Gesprächsdolmetschens am Anfang des 21. Jahrhunderts, Zunächst wurde das „ Dolmetschen im Spital “ thematisiert (vgl. Bischoff et al., 2005), später das Behörden- und Gerichtsdolmetschen (vgl. Hofer & General, 2012). Die Anforderungen an die Dolmetscher: innen sind hoch, während die Möglichkeiten der Qualifizierung für Gesprächsdolmetscher: innen in Relation dazu gering sind (Kalina, 2017, p. 174). Wenn man davon ausgeht, dass insbesondere für bestimmte Sprachkombinationen - dazu zählen Albanisch und Türkisch - eine beschränkte Anzahl von qualifizierten Dolmetscher: innen zur Verfügung stehen, erstaunen die durch Dolmetscher: innen verursachten inhaltlichen Veränderungen, die zum Teil gravierende Auswirkungen auf die Verständigung haben können, kaum (vgl. Amato, 2007; Cirillo, 2012; Hofer, 2019; Hofer et al., 2017). 3.2.2 Berufsbezeichnungen Die unterschiedlichen Vorstellungen über die Aufgaben und Rollen der Dolmetscher: innen spiegeln sich bereits in der Verschiedenheit der Benennungen. 11 Zum einen sind bereichsübergreifende Gemeinsamkeiten ausschlaggebend, zum anderen weisen die Benennungen auf bestimmte Bereiche, auf Rollen oder auf das Gesprächsformat hin. Zu den bereichsübergreifenden Gemeinsamkeiten gehört in erster Linie die Situation, in der Mitglieder einer bestimmten sprachlichen und kulturellen Gemeinschaft für diejenigen dolmetschen, denen die Landessprache (noch) zu wenig vertraut ist (vgl. Bancroft et al., 2013). Der Beruf ist aufgrund von solchen Hilfeleistungen entstanden, die einer unterschiedlich grossen Anzahl von Menschen von ihren bereits länger in einem bestimmten Land weilenden Landsleuten mit besseren Zweitsprachenkenntnissen angeboten wird. Damit ermöglichen einzelne mit besseren Deutschkenntnissen für ihre community den Zugang zu verschiedenen Institutionen wie Spitälern, Gerichten, Behörden, Schulen etc. Die häufigsten bereichsübergreifenden Benennungen im angelsächsischen Sprachraum sind community interpreting und public service interpreting: Community Interpreting (CI), or public service interpreting (PSI) as it is also commonly known, is a service that is invariably rooted in the communities and societies that require and provide it. As such it reflects the practices, norms, standards, needs, demands and policies of these communities and societies. CI or PSI, as the double denomination already suggests, comes in many national and geographical variations and is impacted by societal and political forces at local, regional, national and international levels (Remael & Carroll, 2015, p. 1). Die Benennung Community Interpreting findet sich gelegentlich auch in deutschen Publikationen (Pöllabauer, 2005). Für den deutschen Sprachraum hat Pöchhacker (2007) den Namen „ Kommunaldolmetschen “ geprägt. Als „ Kommunaldolmetscher: innen “ werden alle Dolmetscher: innen bezeichnet, die im institutionellen Rahmen arbeiten. Dolmetscher: innen im Justizwesen werden im englischen Sprachraum häufig bereichsspezifisch zu „ legal interpreters “ zusammengefasst. Spezifischer als „ legal interpreting “ sind die im Deutschen gängigen Benennungen „ Behörden- und Gerichtsdolmetschen “ (Hofer & General, 2012) oder „ Polizeidolmetschen “ (Kadri ć , 2012). 11 In der vorliegenden Arbeit werden englische sowie deutsche Benennungen aufgeführt, da die hier verwendete Literatur auf Englisch oder Deutsch verfasst ist. 56 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="57"?> Ebenfalls bereichsspezifisch sind die Termini „ medical interpreters “ oder „ medical interpreting “ , die für das Dolmetschen im Gesundheitswesen im angelsächsischen Sprachraum gängig sind (vgl. u. a. Hale, 2007; Roberts, 1997). Eine deutsche Entsprechung für „ medical interpreting “ findet sich in der Schweiz mit „ Dolmetschen im Spital “ (Bischoff et al., 2006). Eine griffigere Benennung für Dolmetscher: innen im Gesundheitswesen bleibt im Deutschen vorläufig eine Herausforderung für Terminolog: innen. Auf die Rollenaufgabe wird im Englischen, unter anderem im medizinischen Bereich, mit dem Ausdruck cultural brokerage hingewiesen. Als bedeutsam für die Verständigung betrachten u. a. Penn/ Watermeyer (2012) die kulturelle Vermittlung: The role of such a cultural broker is viewed as particularly important in medical contexts, because patients may hold different cultural beliefs or understandings about the cause of their illness which may not be congruent with the health professional ’ s medical view. (Penn & Watermeyer, 2012, p. 270) Die Kulturvermittlung, die Ergänzungen oder Erklärungen von (kulturellen) Sachverhalten einschliesst, wird im deutschen Sprachraum häufig ebenfalls als Teil der Aufgabe der Dolmetscher: innen betrachtet (vgl. z. B. Schicktanz & Wöhlke, 2013). In der Schweiz wird ebenfalls von „ kultureller Vermittlung “ (vgl. Bischoff et al., 2006) oder von „ interkulturellem Dolmetschen “ gesprochen (vor 2013 wurde die Bezeichnung „ interkulturelles Übersetzen “ verwendet). In dolmetschwissenschaftlichen Arbeiten werden kulturelle Erklärungen zum Teil kritisch beurteilt: „ [ … ] the meanings and responsibilities of an ‚ advocate ‘ , ‚ cultural broker ‘ and ‚ mediator ‘ need to be clarified to decide whether such roles are feasible or even desirable. “ (Hale, 2007, p. 45; vgl. auch Bancroft, 2015) Auf das Gesprächsformat hingewiesen wird mit den Benennungen dialogue interpreting: „ Dialogue interpreting, used in community interpreting for speakers/ users typically of indigenous, deaf, and immigrant languages in immigrant receiving countries, occurs especially in the domains of health [ … ] “ (Tebble, 2012, p. 23) oder mit liaison interpreting: I will use the generic term ‚ liaison interpreting ‘ specifically to refer to the form of interpreting in which there are two or more parties speaking different languages, and the interpreter is physically present and interprets exchanges between the parties. [Hervorhebung im Original] (Ozolins, 1995, p. 153; vgl. auch Ozolins, 2016) Im deutschen Sprachraum spricht man vom „ Dialogdolmetschen “ (vgl. z. B. Viljanmaa, 2017, p. 57 f.) oder vom „ Gesprächsdolmetschen “ (vgl. z. B. Böhm et al., 2018, p. 10). 12 Die Berufsbezeichnungen der Dolmetscher: innen sind weder gesetzlich geschützt noch einheitlich reglementiert. Das Fehlen von Normen in verschiedensten Ländern ist eine weitere Schwierigkeit für die Dolmetscher: innen und führt zu einer wenig homogenen Praxis (vgl. Dabi ć 2021, p. 53). Die Ausübung des Berufs ist von unterschiedlichen Vorstellungen der Dolmetscher: innen geprägt (vgl. Menz, 2013c; Origlia Ikhilor et al., 2017; Rudvin, 2007). Erschwerend kommt hinzu, dass die Expert: innen ebenfalls unterschiedliche Ansichten und Erwartungen zum Verhalten der Dolmetscher: innen haben (vgl. z. B. Fatahi et al., 2008). Ihre Unsicherheit lässt sich nur schon daran erkennen, dass sie ihre Patient: innen wechselweise direkt ansprechen oder mit den Dolmetscher: innen über sie sprechen (vgl. u. a. Bot, 2005b; Sator & Gülich, 2013; Van de Mieroop, 2012). 12 In der vorliegenden Arbeit wird der Ausdruck „ Gesprächsdolmetschen “ verwendet. 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus 57 <?page no="58"?> 3.2.3 Dolmetschen im Spital Patient: innen werden teilweise von Angehörigen oder Bekannten begleitet, die dann die Funktion von Dolmetscher: innen übernehmen, vor allem wenn ein Spital keine Vereinbarung mit einer Organisation hat, die Dolmetscher: innen vermittelt (mehr dazu in Kap. 3.2.4). Einige Spitäler in der Schweiz haben sich aufgrund der Vielsprachigkeit in ihrer Institution seit einiger Zeit dazu entschlossen, ihren Patient: innen, die sich mit den medizinischen Ansprechpersonen nicht direkt verständigen können, Dolmetscher: innen zur Seite zu stellen (Faucherre et al., 2010, p. 336). 13 Eines der vordringlichen Probleme ist die Bandbreite von Sprachen bei den Patient: innen, da der Bedarf an Dolmetscher: innen aus demografischen Gründen einem steten Wandel unterworfen ist. Die Sprachenpalette ändert sich je nach politischer und wirtschaftlicher Situation unterschiedlich schnell. Die Einsätze der Dolmetscher: innen sind von diesem wechselnden Bedarf derAuftraggeber: innen, zum Beispiel der Spitäler, abhängig. Die schwankende Zahl von Einsätzen erschwert ihnen eine reguläre Berufstätigkeit. Aus diesem Grund dolmetschen sie zum Teil nur selten und haben gar nicht unbedingt Interesse an einer vertieften Ausbildung. Sie lernen autodidaktisch durch die Erfahrung bei ihrer Arbeit als Dolmetscher: innen. Selbst für diejenigen, die nach einer Ausbildung streben, ist die Ausgangslage schwierig, da die Zulassung zu einer Grundausbildung als Dolmetscher: innen an Hochschulen erschwert ist, wenn sie mit den verschiedensten Erstsprachen nicht über das erforderliche Sprachenportfolio verfügen. 14 Die Qualifikation der Dolmetscher: innen leitet sich oft aus ihrer Biographie ab. In der Regel ist den Dolmetscher: innen, die für Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche im Spital hinzugezogen werden, gemeinsam, dass sie entweder im Kindes- oder im frühen Erwachsenenalter in die Schweiz gekommen sind und Deutsch gelernt haben oder dass sie in der Schweiz in einem bilingualen Umfeld aufgewachsen sind und zu Hause mit mindestens einem Elternteil eine Sprache sprechen, die keine Landessprache ist. Vor allem für Dolmetscher: innen, die in der Schweiz als Bilinguale aufgewachsen sind, ist das Dolmetschen im Spital oft ein Nebenberuf, den sie nur eine bestimmte Zeit lang ausüben wollen. Sie haben unterschiedliche Ausbildungen, Berufe und Sprachkompetenzen. Meist sind sie Quereinsteiger: innen ohne eine mehrjährige theoriebasierte Dolmetschausbildung (vgl. Hudelson et al., 2013, p. 2; Sleptsova et al., 2012). Manchen fehlt die theoretische Grundlage für den Beruf gänzlich. Es ist dieselbe Situation wie u. a. in Deutschland (Kalina, 2017, p. 179). Die im Rahmen des KTI-Projekts erhobenen Angaben der Dolmetscher: innen zum Bildungshintergrund zeigen auf, dass sie sich die Dolmetschkompetenz, fachspezifische, terminologische und institutionelle Kenntnisse sowie das Wissen um die Problematik des 13 In der vorliegenden Studie werden ausschliesslich Gespräche im Spital analysiert, aber die Dolmetschproblematik stellt sich zum Beispiel auch in Apotheken (vgl. Schwappach et al., 2012). 14 In der Schweiz werden an der Universität Genf und an der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) in den Master-Programmen ausschliesslich Konferenzdolmetscher: innen ausgebildet. In anderen Ländern (zum Beispiel in Deutschland oder Belgien) gibt es universitäre Ausbildungen im Bereich Dolmetschen im institutionellen Kontext, die sprachenunabhängig für Interessent: innen mit den verschiedensten Erstsprachen angeboten werden (Driesen, 2012, p. 153). 58 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="59"?> Rollenverständnisses zum Teil wenigstens in praxisbegleitenden Aus- und Weiterbildungskursen angeeignet haben (Sleptsova et al., 2012). In der Schweiz übernehmen nur in seltenen Fällen an Hochschulen ausgebildete Übersetzer: innen oder Konferenzdolmetscher: innen mit der Erstsprache Deutsch Einsätze im Spital (vgl. Sleptsova et al., 2015). Wenn Konferenzdolmetscher: innen im Spital dolmetschen, zum Beispiel um Erfahrung in der Praxis zu sammeln, dann meist in gängigen Sprachen wie Italienisch, Englisch oder Französisch. Aber selbst wenn sie eine der dringender benötigten Sprachen wie Arabisch, Albanisch, Farsi, Kurmandschi oder Türkisch anbieten könnten, würden sich wohl nur wenige den von den Spitälern angebotenen Bedingungen anpassen. Konferenzdolmetscher: innen dolmetschen vorwiegend in ihre Erstsprache und zu deutlich höheren Ansätzen als Gesprächsdolmetscher: innen, die im Gesundheitswesen für wesentlich geringere Stundensätze in beide Sprachrichtungen arbeiten. Die Gesprächsdolmetscher: innen im Spital übertragen die originalen Äusserungen in die Erstsprache sowie in die Zweitsprache (vgl. Kap. 3.2.1), was von den Dolmetscher: innen eine pausenlose Aufmerksamkeit erfordert. Wenn man bedenkt, dass Dolmetschen im Spital zur Erfassung von teilweise komplexen Zusammenhängen hohe Ansprüche an die kognitiven Fähigkeiten stellt und ein äusserst spezialisiertes Wissen mit einem umfangreichen Fachvokabular voraussetzt, eine spezifische Dolmetschausbildung aber oft fehlt, erstaunt es kaum, dass die Qualität der Dolmetschleistungen im Spital so unterschiedlich ist und dass es beim Dolmetschen zu gravierenden Problemen kommt (vgl. u. a. Langewitz, 2013, p. 58; Origlia Ikhilor et al., 2017). 3.2.4 Organisation des Dolmetschwesens in Schweizer Spitälern Die Organisation von Dolmetscher: innen wird in Schweizer Spitälern auf verschiedene Arten geregelt: 1. Dolmetschleistungen werden durch Familienangehörige oder Bekannte erbracht, d. h. die Patient: innen müssen selbst dafür sorgen, dass sie von Personen begleitet werden, die sich mit den Expert: innen verständigen können. Man spricht in diesen Fällen von ad hoc- Dolmetscher: innen (vgl. Meyer, 2004; Pöchhacker, 2007) oder von Familiendolmetscher: innen (vgl. Sator, 2013; Sator & Gülich, 2013). 2. Dolmetschleistungen werden durch Mitarbeiter: innen des Spitals erbracht. Sie werden ebenfalls als ad hoc-Dolmetscher: innen bezeichnet und werden nach Bedarf zu einem Gespräch gerufen, wenn sie die Sprache von Patient: innen sprechen, die sich mit den Expert: innen nicht in ihrer Erstsprache verständigen können. 3. Wenn Menschen ihre sprachlichen Ressourcen nutzen wollen, melden sie sich als Dolmetscher: innen direkt bei einem Spital oder bei einer anderen Institution oder sie erhalten ihre Einsätze durch eine regionale Vermittlungsstelle, bei der sie registriert sind (siehe unten). Sie arbeiten zudem ausserhalb des Spitals in den verschiedensten Berufen. In solchen Fällen spricht man von „ professionellen “ Dolmetscher: innen. In der Regel haben sie keine persönliche Beziehung zu den Patient: innen. Trotzdem kann ein persönliches Verhältnis entstehen, wenn Dolmetscher: innen mehrfach für dieselben Patient: innen dolmetschen. Oder es besteht bereits eine Vertrautheit, weil die Dolmet- 3.2 Der Dolmetschprozess und der konsekutive Modus 59 <?page no="60"?> scher: innen und die Patient: innen derselben Sprachgruppe angehören und sich privat oder aus anderen Zusammenhängen kennen. Als ad hoc-Dolmetscher: innen (vgl. Punkt 1 und 2) werden sowohl Familienangehörige oder Bekannte als auch Pflegefachpersonen und die im nicht-klinischen Bereich tätigen Mitarbeiter: innen des Spitals bezeichnet. Familienangehörige haben im Gegensatz zu „ professionellen “ Dolmetscher: innen ein Zusatzwissen über die Patient: innen und deren Situation. Sie schöpfen mindestens teilweise aus ihrem familiären Wissen. Das kann deutliche Nachteile haben, da sich Schamgefühle oder Tabus auf die Verdolmetschungen hemmend auswirken können (Davidson, 2001, p. 172). Allenfalls können bei den Familiendolmetscher: innen auch eigene Interessen im Spiel sein (Sator, 2013, p. 127 f.). Die Pflegefachpersonen sind im klinischen Alltag integriert und können daher auf institutionsspezifisches und medizinisches Wissen zurückgreifen. Ihr Vorwissen betrifft die Redebeiträge der Expert: innen (Davidson, 2001, p. 172; Meyer, 2004). Eine Vorbereitungszeit haben die Mitarbeiter: innen eines Spitals nicht, wenn sie spontan zu einem Einsatz aufgeboten werden. Ob sie ohne Vorbereitung und ohne Terminologiearbeit eine gute Dolmetschleistung erbringen können, ist unsicher. Zudem entstehen durch die kurzfristig anberaumten Dolmetscheinsätze von Pflegefachpersonen oder anderen Mitarbeiter: innen des Spitals unliebsame Lücken im Tagesablauf. 15 Die Bezeichnung „ professionelle Dolmetscher: innen “ wird in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz häufig als Gegensatz zur Benennung „ ad hoc-Dolmetscher: innen “ verwendet, zum Beispiel von Meyer (2004) in Deutschland, von Menz (2013c) in Österreich und von Bischoff/ Grossmann (2007) in der Schweiz. Auf eine standardisierte berufliche Ausbildung oder eine besondere Qualifikation verweist „ professionell “ jedoch nicht. Es geht grundsätzlich lediglich um die Tatsache, dass die Dolmetscher: innen keine Mitarbeiter: innen des Spitals sind und für ihre Dolmetschleistungen bezahlt werden (Pöchhacker & Shlesinger, 2007, p. 161). In der Schweiz bewerben sich „ professionelle “ Dolmetscher: innen selbstständig bei den Auftraggeber: innen oder lassen sich bei einer der so genannten Vermittlungsstellen registrieren. Vermittlungsstellen sind in regionalen Zentren für die Organisation von Dolmetscheinsätzen zuständig. Ein grosser Teil der Schweizer Spitäler regelt die Dolmetschtätigkeit über diese regionalen Vermittlungsstellen, mit denen die Spitäler bestimmte Tarifsätze vereinbaren. Der Dachverband dieser Vermittlungsstellen ist „ Interpret, die schweizerische Interessengemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln “ . „ Interpret “ hat ein Weiterbildungsangebot initiiert und zertifiziert die Dolmetscher: innen, die diesen Weiterbildungskurs besucht und die anschliessende Prüfung bestanden haben. 16 Selbst wenn die häufig verwendete Bezeichnung „ professionelle Dolmetscher: innen “ für Sprachmittler: innen ohne mehrjährige Dolmetschausbildung an einer Hochschule etwas irreführend sein mag, weist sie immerhin auf ein Bewusstsein vor allem bei auftraggebenden Expert: innen, bei Vertreter: innen von Migrationsbehörden sowie bei den arbeitsvermittelnden Institutionen hin, dass Dolmetschen nicht einfach Angehörigen, Bekannten der Patient: innen oder Spitalmitarbeiter: innen ohne jede dol- 15 Diese Beobachtung entspricht der Erfahrung von M. Sleptsova, die als Mitarbeiterin des Spitals gelegentlich zum Dolmetschen hinzugezogen wird (mündliche Kommunikation). 16 Quelle: https: / / www.inter-pret.ch/ de/ ausbildung-und-qualifizierung_0/ ausbildung-und-qualifizierung-159.html (Stand: 11.12. 2021) 60 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="61"?> metschspezifische Ausbildung überlassen werden kann. Im Gegensatz zu ad hoc-Dolmetscher: innen haben „ professionelle “ interkulturelle Dolmetscher: innen in den Fällen, in denen sie frühzeitig gebucht werden und in manchen Fällen Unterlagen erhalten, immerhin die Möglichkeit, sich auf die spezifische Thematik vorzubereiten und die Terminologie in beiden Sprachen aufzuarbeiten. 17 Solange ihre spezifische Sprachkombination im Spital (und in anderen Institutionen) benötigt wird, dolmetschen sie regelmässig. Durch eine kontinuierliche Berufspraxis können sie sich ein dolmetschspezifisches, fachliches und institutionelles Basiswissen aneignen. Die Verdolmetschungen von ad hoc-Dolmetscher: innen werden von Autor: innen aus der Linguistik und aus der Medizin in verschiedenen Publikationen als fehleranfälliger beurteilt als die Dolmetschleistung von „ professionellen “ Dolmetscher: innen (Gany et al., 2007; Sator & Gülich, 2013). Diese Einschätzung wird allerdings in Frage gestellt, unter anderem in der Studie von Flores et al. (2003, vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 3.6.1). In jedem Fall und für alle Dolmetscher: innen sind überdurchschnittliche Sprachkompetenzen in beiden Sprachen (oder in mehreren Sprachen, falls sie ein umfassenderes Sprachenportfolio anbieten), Dolmetschtechniken, die Reflexion über die Problematik des Rollenverständnisses, medizinische Fachkenntnisse, institutionsspezifische Kenntnisse sowie das Wissen über kommunikative Verhaltensweisen in der Expert: innen-Laien- Kommunikation unabdingbare Voraussetzungen für die Ausübung des Berufs als Dolmetscher: innen. 3.3 Kriterien für die Beurteilung der Qualität von Dolmetschleistungen Eine prominente Stellung nimmt in der Dolmetschwissenschaft die Beurteilung der Qualität der Dolmetschleistung ein. Die Qualität der Verdolmetschung wird nach der Übereinstimmung beziehungsweise nach der fehlenden Übereinstimmung zwischen den originalen Äusserungen und den Verdolmetschungen bemessen. Verglichen werden in erster Linie die Inhalte, die Lexik (adäquater Wortschatz, Fachterminologie), Stilmittel sowie die Syntax und grammatische Aspekte (Satzarten, Verknüpfungsmittel, Modus, Wahl der Personalpronomina). Von besonderer Bedeutung für eine adäquate Dolmetschleistung sind die Erfassung von Zusammenhängen in den ausgangssprachlichen Äusserungen (vgl. Albl-Mikasa & Hohenstein, 2017; Crezee, 2013; Englund Dimitrova & Tiselius, 2016; Hofer et al., 2015; Pöchhacker, 2012; Tebble, 2012) sowie die Produktion von inhaltlich adäquaten und kohärenten Verdolmetschungen (vgl. u. a. Collados Aís & García Becerra, 2015; Gumul, 2015; Major & Napier, 2012). Abweichungen von den originalen Äusserungen sind ein zentrales Thema in der Dolmetschwissenschaft (vgl. u. a. Meyer, 2004; Napier, 2002; Pöchhacker, 2007). 17 Anlässlich eines Weiterbildungskurses vom 10.11.2016 an der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) klagten die Teilnehmer: innen, dass sie ihre Dolmetschaufträge meistens ausführen müssen, ohne im Voraus Unterlagen erhalten zu haben. Auch Vorgespräche würden selten durchgeführt. 3.3 Kriterien für die Beurteilung der Qualität von Dolmetschleistungen 61 <?page no="62"?> Zahlreiche Dolmetschwissenschaftler: innen haben Kriterien eingeführt, mit denen die Qualität an der thematisch-inhaltlichen Entsprechung zwischen dem ausgangs- und dem zielsprachlichen Redebeitrag gemessen wird (vgl. u. a. Bühler, 1986; Gile, 1990; Kalina, 2011; Napier, 2002; Pöchhacker, 2007). Die Kriterien und die Methode des interlingualen Vergleichs zur Beurteilung von Dolmetschleistungen wurden für den Bereich des Konferenzdolmetschens entwickelt. Die Beurteilung der Qualität von Dolmetschleistungen hat im Rahmen des Konferenzdolmetschens eine längere Tradition (vgl. Barik, 1971; Bühler, 1986). Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts gewann die Erforschung der Adäquatheit der Verdolmetschungen auch im Rahmen des Gesprächsdolmetschens an Bedeutung (vgl. v. a. Amato, 2007; Cirillo, 2012; Napier, 2015; Pöchhacker, 2007; Wadensjö, 1998). Einen Konsens darüber, wie diese Qualität definiert sein sollte und wie Verdolmetschungen zu beurteilen wären, gibt es allerdings bis heute nicht (vgl. Collados Aís & García Becerra, 2015; Grbi ć , 2015, p. 334). Das Problem der Inadäquatheit ist beim Gesprächsdolmetschen um einiges akuter als beim Konferenzdolmetschen, weil die allermeisten Gesprächsdolmetscher: innen im Gegensatz zu den Konferenzdolmetscher: innen unter anderem keine mehrjährige Dolmetschausbildung durchlaufen haben und über zu wenig fachspezifisches Wissen verfügen. Als einer der ersten untersuchte Barik (1971) in seiner Dissertation, die er 1969 an der psychologischen Fakultät der amerikanischen Universität Chapel Hill in North Carolina einreichte, Dolmetschleistungen in Bezug auf die Äquivalenz von Ausgangstext und Zieltext. Sein Korpus bestand aus experimentellen Daten. Anhand von Transkriptionen beschrieb er drei Kriterien: omission (Auslassungen), addition (Hinzufügungen) und substitution (Ersetzungen [Übersetzung GH]). 18 Er hielt fest, dass nicht alle dieser „ Verschiebungen “ gravierende inhaltliche Konsequenzen hatten, ja dass sie in einigen Fällen sogar positive Konsequenzen haben können, und er wies darauf hin, dass es Kombinationen von Auslassungen und Hinzufügungen gibt. Dazu merkt die Dolmetschwissenschaftlerin Falbo (2015) Folgendes an: „ This clearly shows that category boundaries are lose and permeable, indicating a lack of precise definition and thus a degree of methodological uncertainty. “ (Falbo, 2015, p. 143) Die Translationsforscherin 19 Bühler (1986) konzipierte aufgrund von Umfragen bei praktizierenden Konferenzdolmetscher: innen einen Kriterienkatalog. Dieser beinhaltet folgende Komponenten: sense consistency with the original message (inhaltliche Übereinstimmung mit dem ausgangssprachlichen Text), completeness of interpretation (Vollständigkeit), logical cohesion of utterance (logischer Zusammenhang einer Äusserung), fluency of delivery (Redefluss) und use of correct terminology (adäquate Terminologie [Übersetzungen ins Deutsche GH]), Kriterien, die „ seitdem zur Grundlage der qualitätsorientierten Dolmetschforschung geworden sind. “ (Kalina, 2004, p. 4) Bühler (1986) weist darauf hin, dass eine Beurteilung der Dolmetschleistung anhand solcher Kriterien zum Teil lediglich für diejenigen möglich ist, die die originale Äusserung verstehen (Bühler, 1986, p. 233). Wenn die entsprechenden Sprachkenntnisse fehlen, sind nur die an der Sprachoberfläche wahrnehmbaren Kriterien wie der Redefluss, der Akzent oder die Stimmlage beurteilbar. Die inhaltliche Übereinstimmung der zielsprachlichen Äusserung mit der 18 Genauere Erläuterungen zu Bariks (1971) Forschungsergebnissen und seiner Taxonomie finden sich zum Beispiel bei Kalina (Kalina, 1998, p. 60; 2004, p. 3) oder bei Napier (2002, p. 77 f.). 19 Translationsforschung umfasst die Dolmetschwissenschaft und die Übersetzungswissenschaft. 62 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="63"?> originalen Äusserung und die Vollständigkeit können von den Beteiligten ohne entsprechende Sprachkenntnisse hingegen nicht erkannt werden. Die Dolmetsch- und Sprachwissenschaftlerin Kalina (2011) erweitert die bisherigen Kriterien aufgrund ihrer Erfahrung als Konferenzdolmetscherin. Anhand von halbexperimentellen Daten 20 weist sie darauf hin, dass die Bedeutsamkeit von Faktoren je nach den Phasen von Dolmetscheinsätzen unterschiedlich ist (Kalina, 2011). Sie unterscheidet Phasen, die an bestimmte Aufgabenprofile geknüpft sind: die Vorbereitung vor dem Dolmetscheinsatz (pre-process), die Aufgaben während der Darbietung (in-process) und die Nachbereitung (post-process). Die Dolmetschleistung hängt also nicht nur von den Kompetenzen der Dolmetscher: innen und ihrer momentanen Konzentration ab, sondern zusätzlich von der Vor- und Nachbereitung durch die Dolmetscher: innen. Die Vorbereitung ist überdies stark davon abhängig, ob die Expert: innen den Dolmetscher: innen im Voraus Unterlagen zur Verfügung stellen. In der Praxis fehlt den Expert: innen dafür oft die Zeit und ausserdem vermutlich das Verständnis für die Notwendigkeit, sensible Daten weiterzugeben. 21 Im Anschluss an einen Dolmetschauftrag ist die Aufarbeitung von Kenntnissen in den jeweiligen Fachbereichen, etwa in der Medizin, zu leisten. Nicht jede Veränderung durch die Dolmetscher: innen ist mit Inadäquatheit gleichzusetzen: Veränderungen wie Auslassung oder Hinzufügung werden, wie die Dolmetschwissenschaft inzwischen hat nachweisen können, nicht mehr in jedem Fall als Qualitätsmangel betrachtet; eine Auslassung in der Dolmetschleistung kann wie die Hinzufügung auch durchaus dazu beitragen, einen vom Redner intendierten Zweck zu verfolgen und sein Ziel zu erreichen. (Kalina, 2011, p. 165) Deshalb wird bei Unterschieden zwischen den beiden Versionen der Terminus „ Modifikationen “ dem wertenden Ausdruck „ Abweichungen “ vorgezogen. Kalina (2011) betont zudem, dass die Qualität der von Dolmetscher: innen erbrachten Sprachleistungen nicht nur von ihren Kompetenzen, sondern auch von externen Faktoren abhängig ist, wie zum Beispiel der Sprechleistung der Redner: innen (vgl.Kalina, 2011, p. 166). Auch aus dieser Perspektive ist der Ausdruck „ Modifikation “ eher gerechtfertigt als „ Abweichung “ . Am Ende des 20. Jahrhunderts etabliert vor allem die Dolmetschwissenschaftlerin Wadensjö (1998) mit ihrer Studie „ Interpreting as Interaction “ das linguistische Paradigma, mit dem sie das interaktionistische Geschehen in den Vordergrund stellt. Sie initiiert die Analyse der ganzen Kommunikation, in der die Dolmetscher: innen mit den primären Gesprächsparteien interagieren. Sie untersucht insgesamt 20 aus dem Gesundheits-, aus dem Rechts- und aus dem Sozialwesen stammende Audio-Aufzeichnungen von gedolmetschten Gesprächen. Wadensjö (1998) löst sich in ihrer Studie „ Interpreting as Interaction “ von der Beobachtung der reinen Arbeit des Dolmetschens und sieht die gedolmetschte Kommunikation als komplexen sozialen Prozess. Die Dolmetscher: innen nehmen als co-constructors und coordinators an der Kommunikation teil und übernehmen aktive Rollen im interaktionalen Geschehen. Dies ist entscheidend, denn das Ziel besteht nicht 20 Es handelt sich um die Verdolmetschung anhand eines zu Forschungszwecken aufgezeichneten Gesprächs. 21 Diese Information stammt von Kursteilnehmer: innen in Weiterbildungsprogrammen am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). 3.3 Kriterien für die Beurteilung der Qualität von Dolmetschleistungen 63 <?page no="64"?> darin, Gespräche an Kriterien zu messen, die im Voraus von den Analysierenden festgelegt wurden. Es geht vielmehr darum, sich soweit als möglich an die im Gespräch wahrnehmbaren Daten zu halten. Wadensjö (1998) beschreibt in ihren Gesprächsausschnitten verschiedene Arten von Missverständnissen, die zum Beispiel auf die asymmetrische Verteilung von Macht und Kompetenzen zwischen den primären Gesprächsparteien, auf gesichtswahrende Äusserungen, auf Überlappungen oder auf spezifische Wortschatzprobleme zurückzuführen sind. Ein Teil der Missverständnisse wird durch die inhaltlichen Veränderungen der Dolmetscher: innen ausgelöst. Die Umsetzung der originalen Äusserungen in die Zielsprache bleibt also auch bei Wadensjö (1998) ein zentraler Faktor in der gedolmetschten Kommunikation. Sie bezeichnet die zielsprachlichen Redebeiträge als „ renditions “ und unterscheidet verschiedene Arten von Wiedergaben: • close renditions (ausgangstextnahe Wiedergaben von ausgangssprachlichen Redebeiträgen) • expanded renditions (bedeutungsergänzende Wiedergaben) • reduced renditions (bedeutungsreduzierende Wiedergaben) • summarising renditions (zusammenfassende Wiedergaben) • substituted renditions (Kombination zwischen bedeutungsergänzenden und bedeutungsreduzierenden Wiedergaben) Ausserdem kategorisiert sie zwei weitere Arten von Divergenzen zwischen dem Ausgangstext und dem Zieltext: • zero-renditions (Auslassungen von Inhalten) • non-renditions (von den Dolmetscher: innen selbst-initiierte Hinzufügungen) 22 (Wadensjö, 1998, p. 107 f.) Der Interlingualvergleich anhand von unterschiedlichen Taxonomien bleibt auch in neuerer Zeit ein methodischer Zugang (vgl. z. B. Collados Aís et al., 2011; Kalina, 2015; Napier, 2002; Pöchhacker, 2007). Verschiedene Dolmetschwissenschaftler: innen untersuchen den output und erstellen Taxonomien von Abweichungen (Pöchhacker, 2016, p. 137). Auslassungen und Hinzufügungen sind in allen Taxonomien aufgelistet, auch wenn die Benennungen zum Teil unterschiedlich sind. Auslassungen waren im KTI-Projekt die häufigsten Modifikationen (vgl. Kap. 1.3.2). Die Dolmetschwissenschaftlerin für Gebärdensprache Napier (Napier, 2002, 2004, 2015) beschäftigt sich ausführlich mit Auslassungen. Anhand der Transkription und von retrospektiven Interviews untersucht sie die Verdolmetschungen des ersten Teils einer Vorlesung von zehn Gebärdensprachdolmetscher: innen für gehörlose Studierende im Hinblick auf Auslassungen. Sie unterscheidet fünf Kategorien von Auslassungen (Napier, 2002, p. 84): 22 Die Übersetzungen der englischen Kategorien stammen von GH. 64 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="65"?> 1. Conscious strategic omissions: Die Dolmetscher: innen lassen bestimmte Sachverhalte absichtlich aus, wenn sie diese in der Zielsprache für irrelevant halten oder wenn sie redundant sind. Die Formulierung in der Zielsprache gewinnt durch die Auslassung an Klarheit. 2. Conscious intentional omissions: Die Dolmetscher: innen lassen bestimmte Sachverhalte aufgrund von Verstehensproblemen in der Ausgangssprache oder von Wortfindungsproblemen in der Zielsprache mit Absicht aus. Mit der Auslassung verdecken die Dolmetscher: innen ihre sprachlichen Lücken oder ihr Unwissen bewusst. 3. Conscious unintentional omissions: Die Dolmetscher: innen lassen relevante Sachverhalte aufgrund von Verarbeitungsschwierigkeiten aus. Sie beabsichtigen die Information(en) abzuspeichern und zu einem späteren Zeitpunkt einzufügen. Die Sachverhalte oder das einzelne Wort bleiben aber schliesslich unverdolmetscht. 4. Conscious receptive omissions: Die Dolmetscher: innen lassen bestimmte Sachverhalte aufgrund von Problemen in der Rezeptionsphase (z. B. akustische Probleme) aus. 5. Unconscious omissions: Die Dolmetscher: innen lassen bestimmte Sachverhalte aus, ohne sich dessen bewusst zu werden. 23 Die Kategorien hat Napier (2002) anhand von Befragungen der Dolmetscher: innen im Anschluss an die Verdolmetschung festgelegt. Sie zieht den Schluss, dass die Dolmetscher: innen ihre Änderungen mindestens zum Teil aufgrund von bewussten Überlegungen vollziehen. Ihre statistische Auswertung zeigt, dass die Auslassungen, die den Dolmetscher: innen nicht bewusst sind, 27 % ausmachen gegenüber 73 % der Auslassungen, die mit Absicht vorgenommen werden. Dies bei einem Stichprobenumfang von 341 Befragungen. Eine ähnliche Studie im Bereich des Gesprächsdolmetschens existiert nicht, so dass es keine direkt vergleichbaren Werte gibt. Bei diesem hohen Anteil von absichtlich vorgenommenen Auslassungen kann jedoch auch im vorliegenden Datenmaterial davon ausgegangen werden, dass Gesprächsdolmetscher: innen einen Teil der Auslassungen bewusst vornehmen. Jedenfalls lässt sich der von Napier (2002) festgestellte Umstand, dass Auslassungen unter anderem vom Ausmass des Fachwissens abhängig sind (Napier, 2002, p. 172), mit hoher Sicherheit auf den Bereich des Gesprächsdolmetschens im Gesundheitswesen übertragen. Dass Auslassungen von medizinischen Fachausdrücken die Ursache von gravierenden Verstehensproblemen sein können, zeigt sich in verschiedenen empirischen Untersuchungen (vgl. u. a. Butow et al., 2011b; Hofer et al., 2015). Für eine gelingende Kommunikation entscheidend ist u. a. auch die vollständige und adäquate Wiedergabe von Sinneinheiten und von Zusammenhängen. Collados Aís et al. (2015) betonen die Konsequenzen der Auslassung von kohäsiven Mitteln für die Verständigung: Cohesion is the verbal parameter par excellence, whose importance is emphasized in all studies of interpreting quality and listener expectations. It is no surprise, therefore, that practically all empirical studies on quality have analyzed this parameter. The lack of cohesion in a speech can easily prevent the listener from understanding its content. (Collados Aís & García Becerra, 2015, p. 372; vgl. auch Ivars, 2011) 23 Die Erläuterungen auf Deutsch stammen von GH. 3.3 Kriterien für die Beurteilung der Qualität von Dolmetschleistungen 65 <?page no="66"?> Die Dolmetschwissenschaftlerin Gumul (2015) beschäftigt sich ebenfalls mit der Bedeutung von kohäsiven Verknüpfungselementen. Als Ursachen für die Auslassung bezeichnet sie Relationen, die von Dolmetscher: innen als irrelevant eingestuft werden, oder fehlendes Fachwissen: The cohesive pattern may [ … ] be altered by the interpreter because a given cohesive device is perceived as not essential for rendering the sense of the message, or because its recognition depends on specialised knowledge that is not available. On the other hand, the rate of OMISSIONS [Grossschreibung im Original] tends to decrease considerably when the interpreter has had prior access to the source text, or when s/ he is familiar with the subject matter. (Gumul, 2015, p. 63) Verschiedene Modifikationen wie Auslassungen oder auch Hinzufügungen sind in der Regel erst anhand von Transkripten erkennbar. Zu Anzeichen für Missverständnisse, die für Expert: innen auch ohne Transkript wahrnehmbar sind, gehören etwa unbeantwortete Fragen, Wiederholungen von Anliegen der Patient: innen und unverdolmetschte Rückfragen von Dolmetscher: innen bei Patient: innen. Für die Patient: innen wahrnehmbar ist in erster Linie ein fehlendes Eingehen auf ihre Anliegen. Wie weit sie ungedolmetschte Anteile verstehen, hängt von ihren individuellen Sprachkenntnissen ab. Auf empirischen Daten beruhende Untersuchungen von Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen, die einen vertieften Einblick in den Gesprächsverlauf geben, sind in der Forschungsliteratur selten. 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion Die im Folgenden skizzierten spezifischen Phänomene hängen mit der Aufgaben- und Problemstruktur des Dolmetschens zusammen. Mit der Einbindung des Gesprächsdolmetschens in die Dolmetschwissenschaft werden konversationelle Verfahren wie die Redewiedergabe zum Thema. Die Besonderheit der Redewiedergabe beim Dolmetschen besteht darin, dass diejenigen, die das Gehörte wiedergeben, ebenso anwesend sind wie die originalen Sprecher: innen. Für das Gesprächsdolmetschen charakteristisch sind Varianten der sprachlichen Formen bei der Redewiedergabe und der Adressierung (vgl. v. a. Bot, 2005b; Dubslaff & Martinsen, 2005; Sator & Gülich, 2013), die verschiedenen Beteiligungsformen (vgl. u. a. Davitti & Pasquandrea, 2013; Hofer et al., 2017; Sator & Gülich, 2013), das von bestimmten Rollenprofilen geprägte sprachlich wahrnehmbare Verhalten der Dolmetscher: innen (vgl. u. a. Angelelli, 2004; Davidson, 2000; Krystallidou, 2016) sowie die von den Dolmetscher: innen verursachten Modifikationen, die erst im interlingualen Vergleich sichtbar werden (vgl. u. a. Amato, 2007; Cirillo, 2012; Hofer et al., 2017; Krystallidou et al., 2017). 3.4.1 Redewiedergabe und Adressierung Die Redewiedergabe stellt einen Aspekt dar, der auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen mag. Die Dolmetscher: innen geben die vorangegangene Äusserung wieder. Der Translationswissenschaftler Harris (1990) sieht den Standard im ‚ honest spokesman ‘ vor, der genau und vollständig in der 1. Person Singular dolmetscht (Harris, 1990, p. 118). Für Konferenzdolmetscher: innen bleibt die Vorgabe der 1. Person Singular ( „ Ich-Form “ ) bei der Wiedergabe der ausgangssprachlichen Redebeiträge unverändert: „ In their function as service providers, conference interpreters speak in the first person on behalf of the speaker, 66 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="67"?> and as such, their primary loyalty is always owed to the speaker [ … ] “ (Zwischenberger, 2011, p. 122). Für Gesprächsdolmetscher: innen empfehlen Berufsverbände, zum Beispiel die California Standards for Healthcare Interpreters (CHIA, 2002, p. 12), ebenfalls die direkte Rede, weil die Textproduktion für die Dolmetscher: innen einfacher ist. Ausserdem sind die Verdolmetschungen in der Ich-Form für die Rezipient: innen leichter verständlich als die indirekte Rede mit einem Matrixsatz und der Eindruck von parallel geführten Interaktionen zwischen den Expert: innen und den Dolmetscher: innen beziehungsweise zwischen den Patient: innen und den Dolmetscher: innen wird vermieden (Hale, 2007, p. 44). Ein weiteres Argument für die 1. Person Singular ist die angestrebte Identifikation der Dolmetscher: innen mit den jeweiligen Sprecher: innen: „ [ … ] the interpreting scenario in which one party addresses the other directly and the interpreter uses the first person to identify in turn with each speaker is generally considered to be the canonical one [ … ] “ (Merlini & Favaron, 2005, p. 279). Obwohl die 1. Person Singular in der Redewiedergabe aus der Sicht der Hochschulen und der Berufsverbände auch im Bereich des Gesprächsdolmetschens ein angestrebter Standard ist (vgl. z. B. Dubslaff & Martinsen, 2005; Hale, 2007; Merlini & Favaron, 2005), haben sich in der Praxis keine allgemein gültigen Standards für die sprachlichen Formen der Redewiedergabe durchgesetzt (vgl. z. B. Garzone, 2015, p. 282). Die Realität weicht von der in der Theorie geforderten Handlungsweise ab, wie mehrere Untersuchungen zeigen. Ausführlich mit den wechselnden pronominalen Formen haben sich vor allem die Soziologin Bot (2005b), die Dolmetschwissenschaftler: innen Dubslaff/ Martinsen (2005) sowie die Linguist: innen Johnen (2006), Van de Mieroop (2012) und Sator/ Gülich (2013) auseinandergesetzt. Das Datenmaterial von Bot (2005b), die in den Niederlanden als Psychotherapeutin tätig ist, besteht aus sechs authentischen psychotherapeutischen Sitzungen (Bot, 2005b). Die Arbeitssprachen der Dolmetscher: innen sind Darisch, Persisch und Niederländisch. Die Dolmetscher: innen waren bei der Durchführung der Studie beim „ Dutch Interpreter and Translator Centre “ akkreditiert und galten als gut qualifiziert und erfahren (Bot, 2005b, p. 95 f.). Aufgrund der Daten in ihrem Korpus stellt Bot (2005b) im Vergleich mit den ausgangssprachlichen Redebeiträgen eine häufige Verschiebung des Personalpronomens „ ich “ zu „ er/ sie “ in der Redewiedergabe fest. Sie hält diesen Wechsel für unproblematisch, da er lediglich die Tatsache in den Blick rückt, dass eine dritte Person anwesend ist. Aus den Reihen der Dolmetscher: innen kam ihr bei einem Vortrag an der Critical Link Konferenz vom Mai 2004 heftiger Widerspruch entgegen (Bot, 2005b, p. 187), da die 1. Person Singular in der Dolmetschwissenschaft das präferierte Format ist (vgl. Merlini & Favaron, 2005). Bot (2005b) unterscheidet bei der Redewiedergabe zwischen Formen mit der Verwendung der Redewiedergabemarkierung ( „ er/ sie sagt “ ) und Formen ohne Markierung. Sie entwickelte anhand ihrer Daten folgende Taxonomie des Perspektivenwechsels (Bot, 2005b, p. 175 f.): Formen ohne Redewiedergabemarkierung 1. direct translation (direkte Übersetzung): I went to school. (Ich ging in die Schule). 2. indirect translation (indirekte Übersetzung): he went to school. (Er ging in die Schule). 24 24 Die Übersetzungen ins Deutsche stammen von GH. 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 67 <?page no="68"?> Formen mit Redewiedergabemarkierung 1. direct representation (direkte Darstellung): he says I went to school. (Er sagt, ich ging in die Schule.) 2. indirect representation (indirekte Darstellung): he says (that) he went to school. (Er sagt, er ging in die Schule./ Er sagt, dass er in die Schule ging.) Als auffällig in ihrem Korpus beschreibt Bot (2005b) die Einleitung der Verdolmetschungen durch das verbum dicendi ( „ sagen “ ). Die Dolmetscher: innen belassen es zum Teil nicht bei der einmaligen Verwendung, sondern sie wiederholen die Redewiedergabemarkierung innerhalb desselben Redebeitrags. 25 Beim Vergleich der verschiedenen Stellen kommt Bot (Bot, 2005a, 2005b) zum Schluss, dass die Verwendung der Redewiedergabemarkierung „ er/ sie sagt “ je nach Anzahl des Vorkommens unterschiedliche Ursachen hat. In der einmaligen Verwendung schreibt sie der Redewiedergabemarkierung die Kennzeichnung der Urheberschaft sowie eine Haltung der Distanz zu. Bei der mehrmaligen Verwendung geht sie hingegen davon aus, dass die Tatsache der Urheberschaft etabliert ist. In der Wiederholung innerhalb eines einzelnen Redezugs vermutet sie eine kurze Denkpause der Dolmetscher: innen, in der sie für die Formulierung in der Zielsprache Zeit gewinnen. Die „ Denkpause “ ist nicht als Sprechpause im eigentlichen Sinn wahrnehmbar, sie dient vielmehr der Überbrückung beim Wortfindungsprozess: [ … ] the use of multiple representations is linked to the difficulties the interpreter encounters in translating the therapist turns ‚ and that ‚ s/ he says ‘ is used more often than once within one turn, it [ … ] may serve primarily to provide a ‚ thinking pause ‘ . (Bot, 2005a, p. 257; vgl. auch Bot, 2005b) Die beiden dänischen Autor: innen Dubslaff/ Martinsen (2005) untersuchen in vier simulierten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen den Wechsel bei der Verwendung von Personalpronomina. Die Dolmetscher: innen mit den Arbeitssprachen Arabisch und Dänisch waren zum Zeitpunkt dieser Studie bei dänischen Agenturen verpflichtet. Eine akademische Ausbildung hatten sie nicht. Dubslaff/ Martinsen (2005) verweisen auf Bots (2003) Beitrag und beobachten vor allem den Wechsel von der 1. Person Singular zur 3. Person Singular sowie die Verwendung der Redewiedergabemarkierung. Dubslaff/ Martinsen (2005) präzisieren, dass die Dolmetscher: innen in verschiedenen Situationen während der Redewiedergabe von der 1. Person Singular zur 3. Person Singular wechseln - zum Beispiel um Distanz zu markieren. Darüber hinaus zeigen sie anhand ihrer Daten, dass die Ärzt: innen die Patient: innen ebenfalls unterschiedlich adressieren und von der 1. Person Singular zur 3. Person Singular wechseln. Sie sind der Ansicht, dass die Ärzt: innen mit dem Wechsel in der Regel den Verhaltensweisen der Dolmetscher: innen folgen. Der deutsche Sprachwissenschaftler Johnen (2006) untersucht im Rahmen der Mehrsprachigkeitsforschung die Redewiedergabe in gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen- Gesprächen. Das Datenmaterial besteht aus 17 deutsch — türkischen und 14 deutsch — portugiesischen Gesprächsausschnitten. Im Vordergrund steht die Untersuchung der Redewiedergabemarkierung ( „ er/ sie sagt “ ), die gemäss Johnen (2006) der Markierung der Distanz von den ausgangssprachlichen Äusserungen, der Verdeutlichung des höheren Wissensstatus der Expert: innen und durch die offen gelegte Zuordnung der Konnektivität dient. 25 Das verbum dicendi kann am Satzanfang (vorgestellt), in der Satzmitte (integriert) oder am Satzende (nachgestellt) stehen. 68 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="69"?> Die belgische Linguistin Van de Mieroop (2012) beobachtet ebenfalls eine mehrfache Verwendung der Redewiedergabemarkierung ( „ er/ sie sagt “ ) in gedolmetschten Ärzt: innen- Patient: innen-Gesprächen. Ihre Beobachtungen gründen auf einem Korpus von vier Audioaufzeichnungen von authentischen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen im Spital. Die Arbeitssprachen der interkulturellen Mediatorin 26 sind Russisch und Niederländisch. Aufgrund der Analyse ihres Datenmaterials kommt Van de Mieroop (2012) zum Schluss, dass die Dolmetscher: innen mit der Redewiedergabemarkierung einen Sprecherwechsel anzeigen und überdies signalisieren, dass die Verantwortung für die Äusserungen bei den Expert: innen liegt, die das entsprechende Wissen haben (Van de Mieroop, 2012, p. 111). Neben der Klärung der Urheberschaft, der Informationsquelle oder der Distanzierung und der Imagewahrung bei gesichtsbedrohenden Äusserungen ist die Redewiedergabemarkierung ein Zeichen des kognitiven overload der Dolmetscher: innen (Van de Mieroop, 2012, p. 113). Die Dolmetscher: innen verschaffen sich durch die automatisierte Verwendung der Redewiedergabemarkierung etwas mehr Zeit für die Formulierung des relevanten Inhalts in der Zielsprache), was der Botschen Denkpause entspricht (vgl. Bot, 2005b). In Van de Mieroops (2012) Daten kommen die verba dicendi bei gedolmetschten Äusserungen der Patient: innen sowie der Expert: innen vor (Van de Mieroop, 2012). Die Beobachtung, dass mit den verba dicendi eine bestimmte Wissensquelle bezeichnet wird, findet sich auch in mehrsprachigen Interaktionen ausserhalb von gedolmetschten Gesprächen. Matic et al. (2016) weisen in ihrem Aufsatz über Gesprächssequenzen in mehrsprachigen häuslichen Pflegeinterventionen auf diese Verwendung hin (Matic et al., 2016, p. 57 f.). Der Wechsel von der 3. Person Plural zur 3. Person Singular in der Adressierung wird in der Literatur in der Regel mit der Redewiedergabe zusammen thematisiert (vgl. u. a. Bot, 2005b; Dubslaff & Martinsen, 2005; Sator & Gülich, 2013). Neben der direkten Adressierung (zum Beispiel „ Haben Sie Schmerzen? “ ) findet sich die an die Dolmetscher: innen gerichtete indirekte Adressierung „ Hat er Schmerzen? “ . 27 Beim Wechsel der Pronomina in der Adressierung können anhand der Videoaufzeichnungen die Blickkontakte und die Körperbewegungen im Zusammenwirken mit der verbalen Anrede verdeutlichen, wer angesprochen wird und wer nicht (vgl. Davitti & Pasquandrea, 2013, p. 23 f.; Krystallidou, 2016, p. 192). Eine andere Strategie verfolgen die Gebärdensprachdolmetscher Llewellyn/ Lee (2014). Sie wenden sich von der normativen Festlegung der Verwendung der 1. Person Singular ab und entwickeln das Modell des role-space. Sie argumentieren für eine grössere Freiheit bei der Wahl des Personalpronomens, die dazu dienen soll, ambige Formen zu disambiguieren. Sie betonen die Bedeutung der Flexibilität für Dolmetscher: innen in der aktuellen sozialen Situation, in der es primär um die Sicherung des wechselseitigen Verstehens geht. In einem Beispiel wie „ Ich erkläre Ihnen jetzt die Wirkung des Medikaments “ , versteht der/ die adressierte Patient: in möglicherweise nicht, von wem er/ sie die Erklärungen erhält. Im Sinne des interaktiven Paradigmas des Gesprächsdolmetschens plädieren die beiden Autoren für eine Flexibilisierung der in der Dolmetschwissenschaft priorisierten Verwendung der 1. Person Singular, wenn die Gesprächssituationen durch den Wechsel zur 3. Person Singular disambiguiert werden können. 26 Van de Mieroop (2012) bezeichnet die Dolmetscher: innen als Mediator: innen. 27 Ähnliche Beispiele kommen im vorliegenden Korpus mehrfach vor. 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 69 <?page no="70"?> 3.4.2 Beteiligungsformen Neben den Formen der Personalpronomina, den Blickkontakten und der Körperbewegung gibt die Sprachwahl Auskunft über die verschiedenen Beteiligungsformen. Die Beteiligungsformen scheinen sich aus der Dolmetschsituation zu ergeben, d. h. die Verdolmetschung erfolgt zwischen den Redebeiträgen der primären Gesprächsparteien. In empirischen Untersuchungen zeigen sich jedoch verschiedene Beteiligungsmuster. Aufschlussreich hinsichtlich der Beteiligungsformen in gedolmetschten Interaktionen sind die Analysen von Sator/ Gülich (2013). Die Linguist: innen Sator/ Gülich (2013) untersuchen in ihrem authentischen Datenmaterial aus der Kopfschmerzambulanz der Wiener Universitätsklinik für Neurologie u. a. den „ Interaktionsmodus “ . In den Sequenzanalysen differenzieren sie zwischen reproduzierenden (dolmetschenden) und selbst-initiativen (nicht-dolmetschenden) Interaktionsmodi (Sator & Gülich, 2013, p. 173 f.): • reproduzierender Interaktionsmodus: Die Dolmetscher: innen geben die türkischen Äusserungen der Patient: innen auf Deutsch wieder. Ebenso übertragen sie die deutschen Äusserungen der Ärzt: innen ins Türkische (Sator & Gülich, 2013, p. 174 f.). • nicht-dolmetschender Interaktionsmodus: Patient: innen und Ärzt: innen, Patient: innen und Dolmetscher: innen beziehungsweise Dolmetscher: innen und Ärzt: innen sprechen Deutsch miteinander, ohne dass die Interaktionen gedolmetscht werden. Ebenso bleiben die Redezüge, in denen die Patient: innen mit den Dolmetscher: innen auf Türkisch sprechen, für die Ärzt: innen unverdolmetscht. Weiter wird die Möglichkeit aufgeführt, dass alle Beteiligten - Ärzt: innen, Patient: innen und Dolmetscher: innen - miteinander Deutsch sprechen, ohne dass gedolmetscht wird (Sator & Gülich, 2013, p. 174 f.). Mit ihrer Systematik von verschiedenen Beteiligungsformen zeigen Sator/ Gülich (2013) auf, dass die Dolmetscher: innen, teilweise ohne zu dolmetschen, ein Zwiegespräch mit einem/ r der beiden Beteiligten führen (Sator & Gülich, 2013, p. 178 f.). Nicht-dolmetschendes Sprechen kann also bedeuten, dass die Dolmetscher: innen sich als primäre Gesprächspartei an der Interaktion beteiligen (Sator & Gülich, 2013, p. 180 f.). Dolmetschwissenschaftler: innen, die anhand von authentischem Datenmaterial verschiedene interaktive Beteiligungsformen im gedolmetschten medizinischen Gespräch beschreiben, sind in erster Linie Pasquandrea (2011, 2012), Cirillo (2012) und Krystallidou (2014). Pasquandrea (2011) schildert die durch die Hinzuziehung von Dolmetscher: innen komplexere Interaktion aus der Perspektive der Expert: innen sowie die Verschiebung der Beteiligungsformate: The presence of an interpreter adds some interesting variables, since, in such a situation, doctors are faced with additional tasks: they are obliged to rely on the interpreter and, consequently, must yield part of their interactional power and share responsibilities for the management of the interaction; they may not retain control on extended parts of the conversation with the patient; and they need to manage a complex interactional space, which involves different languages being spoken, constantly changing participation formats being negotiated, and several actions being performed simultaneously. (Pasquandrea, 2011, p. 456) Weiter beschreibt Pasquandrea (2011), dass es zwischen den Dolmetscher: innen und den Patient: innen zu Zwiegesprächen kommt. In seinen Beispielen fällt auf, dass die Expert: 70 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="71"?> innen keine Verdolmetschung von Zwiegesprächen zwischen den Patient: innen und den Dolmetscher: innen verlangen. Sie scheinen den Dolmetscher: innen zu vertrauen und behandeln sie sogar als gleichberechtigte Gesprächspartei ( „ fullyfledged participant “ ), wenn sie seit längerem mit ihnen zusammenarbeiten (Pasquandrea, 2011, p. 476). Auch die Analysen der Gesprächsausschnitte aus Konsultationen mit chinesischen Patient: innen in einer weiteren Publikation von Pasquandrea (2012) zeigen, dass die Expert: innen den Dolmetscher: innen einen grossen Spielraum gewähren: „ As an example, doctors usually do not interrupt the dyadic interactions, [ … ] preferring instead to wait for them to come to a spontaneous end. “ (Pasquandrea, 2012, p. 148) Die Expert: innen warten das Ende des Zwiegesprächs ab und fahren anschliessend im Gespräch weiter, ohne nach dem Inhalt zu fragen. Cirillos (2012) Beispiele von gedolmetschten medizinischen Gesprächen enthalten ebenfalls Zwiegespräche (Cirillo, 2012, p. 108). Sie führt aus, dass gerade in Zwiegesprächen affektive Anteile wie zum Beispiel Babysprache, humorvolle Bemerkungen und Lachen vorkommen (Cirillo, 2012, p. 117). Als problematisch beschreibt sie den Ausschluss eines/ r der Beteiligten und die Beeinträchtigung des direkten Kontakts zwischen den primären Gesprächsparteien: [ … ] it must be noted that although all three parties may be physically present in the room, the interpreter has some difficulties in managing three-party affective involvement and recurrently leaves out either the healthcare provider or the patient, thus somehow hampering direct contact between the two. (Cirillo, 2012, p. 120) Krystallidou (2014) untersucht anhand von medizinischen Interaktionen den Einfluss auf die Beteiligungsformen durch die Koordination von Verbalität, Augenkommunikation und Körperorientierung. Die authentischen Gespräche werden von angehenden Dolmetscher: innen innerhalb ihres Ausbildungsprogramms reflektiert und in einer weiteren Trainingseinheit in simulierten Interaktionen von Studierenden in den Rollen der Ärzt: innen, der Patient: innen und der Dolmetscher: innen nachgestellt. In den Analysen der Interaktionen anhand von Videoaufnahmen kommt Krystallidou (2014) zum Schluss, dass die Dolmetscher: innen durch ihre Anwesenheit, durch den sprachlichen Transfer, durch die Blickkontakte sowie durch die Körperorientierung für den Einbezug aller Beteiligten von Bedeutung ist: In other words, the interpreter ’ s presence creates the conditions for all participants ’ inclusion in interaction by means of (i) the interpreter ’ s renditions (spoken language), gaze and posture; and (ii) the primary participants ’ awareness of the interpreter ’ s physical presence and professional capacity (i. e. the interpreter is expected to make the one primary participant ’ s utterances accessible to the other). (Krystallidou, 2014, p. 413) In medizinischen Forschungsberichten wird in erster Linie auf die Einschränkung der Patient: innenbeteiligung hingewiesen. Als Ursache für die geringere Beteiligung der Patient: innen wird in einer englischen Studie die Zeit genannt, die für die Verdolmetschung gebraucht wird: „ Interpreted consultations were as long as same language consultations but patients said less. “ (Seale et al., 2013, p. 126) Diesen Zusammenhang beschreiben auch Rivadeneyra et al. (2000), die gedolmetschte Gespräche mit spanischsprachigen Patient: innen untersuchen: „ Due to the time consumed by the interpretation process, patients may have had fewer opportunities to raise concerns or to explain their symptoms. “ (Rivadeneyra 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 71 <?page no="72"?> et al., 2000, p. 473) Fernandez et al. (2004) beobachten, dass Expert: innen in gedolmetschten Interaktionen weniger auf Fragen der Spanisch sprechenden Patient: innen eingehen, als wenn Patient: innen und Expert: innen dieselbe Sprache sprechen. Auch in Situationen, in denen Patient: innen zu den Redebeiträgen der Expert: innen Stellung nehmen, wird gemäss Ngo-Metzger et al. (2007) in gedolmetschten Gesprächen nur zum Teil auf die Kommentare der Patient: innen geachtet: „ In language-discordant visits, patients were more likely to have their comments ignored by the providers, even in the presence of an interpreter. “ (Ngo-Metzger et al., 2007, p. 328) Ngo-Metzger et al. (2007) wählten für ihre Studie Gespräche mit Patient: innen aus dem asiatischen Raum. Man könnte annehmen, dass gedolmetschte Gespräche u. a. aufgrund von Zwiegesprächen mehr Zeit in Anspruch nehmen. Menz (2013b) beobachtet jedoch, dass „ gedolmetschte Gespräche [ … ] nur unbedeutend länger als nicht gedolmetschte “ sind (Menz, 2013b, p. 346). Er untersucht die Gesprächsanteile und kommt zum Schluss, dass die Ärzt: innen bei gleichbleibender Gesprächslänge ungefähr gleich viel sprechen, unabhängig davon, ob gedolmetscht wird oder nicht, die Patient: innen hingegen „ hoch signifikant weniger “ (Menz, 2013b, p. 348), d. h. die Dolmetscher: innen beanspruchen die Redezeit der Patient: innen. Aus den Ergebnissen der verschiedenen Studien lässt sich schliessen, dass die Expert: innen den Dolmetscher: innen einen grossen Spielraum gewähren und ihnen vertrauen. In der Dynamik der Interaktion können spontan wechselnde Beteiligungsformen entstehen. Dabei werden fallweise die Patient: innen beziehungsweise die Expert: innen aus der Interaktion ausgeschlossen. Offenbar werden länder-, kultur- und disziplinübergreifend ähnliche Probleme festgestellt. 3.4.3 Rollenprofile Die Rolle ist ein soziologisches Konzept, das mit dem Gesprächsdolmetschen in die Dolmetschwissenschaft eingebracht wird. Die Rolle wird in der Dolmetschwissenschaft zu einem prominenten Thema (vgl. z. B. Englund Dimitrova & Tiselius, 2016, p. 195; Hale, 2007; Merlini & Gatti, 2015, p. 139). Mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wird der Rolle u. a. von Vertreter: innen der interkulturellen Kommunikation (Dysart-Gale, 2005) sowie der Psychologie (Granger & Baker, 2003; Leanza, 2005) gewidmet. Das „ klassische “ Rollenprofil definiert Dolmetschen als unbeteiligtes Übermitteln von Äusserungen. Die Dolmetscher: innen übertragen gemäss diesem Modell den Wortlaut der ausgangssprachlichen Äusserungen mechanisch in die Zielsprache. Diese Beschreibung des Dolmetschens wurde bereits von Friedrich Schleiermacher (1813) formuliert. Er bezeichnete es als „ fast nur ein mechanisches Geschäft, welches bei mässiger Kenntnis beider Sprachen jeder verrichten kann, und wobei, wenn nur das offenbar falsche vermieden wird, wenig Unterschied des besseren und schlechteren stattfindet. “ (Schleiermacher, 1813, p. 42, zitiert nach Störig 1963). Diese Ansicht des mechanistischen Dolmetschens griffen Shannon und Weaver in ihrem Kommunikationsmodell von 1948 auf. Im technischen Kommunikationsmodell des Mathematikers und Elektrotechnikers Shannon (1916 - 2001) wird eine Information eines Senders an einen Empfänger übermittelt. Der Mathematiker Weaver (1894 - 1978) überträgt das Nachrichtenübermittlungsmodell auf die Kommunikation zwischen Menschen. The Mathematical Theory of Communication von Shannon/ Weaver wurde 1949 publiziert. Auer (2013) schreibt dazu: 72 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="73"?> Unabhängig davon, dass das nachrichtentechnische Kommunikationsmodell für die faktische Beschreibung sprachlicher Interaktion unter Menschen recht ungeeignet ist, bleibt jedoch ein anderer Aspekt festzuhalten: Das ‚ Rohrpost ‘ -Modell, in dem Nachrichten feste Einheiten in ‚ Gefässen ‘ sind, die ein Sender dem Empfänger aushändigt oder schickt, ist tief in unserer alltäglichen Sprachideologie verwurzelt. (Auer, 2013, p. 17) Das „ Rohrpost-Modell “ nimmt in der Diskussion um die Rollen der Dolmetscher: innen denn auch eine prominente Stelle ein. Dieses Modell schreibt den Dolmetscher: innen die Rolle einer blossen „ Transfermaschine “ zu, die lediglich Wörter von einer Sprache in die andere umsetzt. Davidson (2002) spricht bei dieser Art von Dolmetschtätigkeit von einer „ voicebox “ oder einem „ parrot “ (Davidson, 2002, p. 1275). Der Linguist Reddy (1979) nimmt den Gedanken der Informationsübermittlung auf und prägt in seinem Aufsatz „ The Conduit Metaphor - A Case of Frame Conflict in Our Language about Language “ den Ausdruck „ conduit “ . Der conduit-Prozess wird in der Literatur zum Dolmetschen mehrfach thematisiert und prägt das Denken der Auftraggeber: innen. Vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil die Metapher des conduit zum Teil als wörtliche Wiedergabe von sprachlichen Äusserungen (miss)verstanden und damit als Garantie für Vollständigkeit empfunden wird: „ Word-forword interpreting has long been considered the gold standard, mainly by the ‚ users ‘ of interpreters, the health care professionals. “ (Bischoff et al., 2012, p. 17) Unter dem Einfluss des Interesses an der face-to-face Interaktion werden die Dolmetscher: innen in institutionellen Kontexten jedoch zunehmend als Beteiligte der Interaktion beschrieben, denen sich etwa folgende Fragen stellen: Sollen sie alles wiedergeben, was gesagt wird, oder sollen sie sich am Gespräch beteiligen und zum Beispiel Wiederholungen oder Unverständliches nach eigenem Ermessen auslassen oder Erläuterungen hinzufügen, wenn ihnen eine Äusserung unklar erscheint? Den Dolmetscher: innen wird von verschiedenen Autor: innen zugestanden, dass sie sich mit selbst-initiierten Inhalten in den Gesprächsverlauf einbringen (vgl. u. a. Baraldi & Gavioli, 2012; Wadensjö, 1998). Bereits mit ihrer Präsenz gestalten sie die Interaktion mit (vgl. u. a. Bot, 2003; Bot, 2005a, 2005b; Davitti & Pasquandrea, 2017; Davitti & Pasquandrea, 2013; Krystallidou, 2014; Vranjes et al., 2018a). Die Perspektive auf das Dolmetschen als soziale Interaktion betrifft das Dolmetschen im Asyl-, im Bildungs-, im Sozial- und im Gesundheitswesen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche. 28 Welche Aufgaben die Dolmetscher: innen ausser der sprachlichen Übermittlung von Inhalten übernehmen (sollen), äussert sich bereits in unterschiedlichen Bezeichnungen für die Dolmetscher: innen, die auf eine bestimmte Rolle hinweisen. Die Rollen werden verschiedenen Kategorien zugeteilt. Fallweise werden die Dolmetscher: innen als Ko- Therapeut: innen (co-therapists) (Bot, 2015, p. 258; Bot & Verrept, 2013) oder als Helfer: innen (helpers) wahrgenommen. Als Ko-Therapeut: innen leisten die Dolmetscher: innen mit ihrer Wiedergabe Verstehenshilfe für die Patient: innen bei fachsprachlichen Inhalten, indem sie Erklärungen zu den Äusserungen der Expert: innen abgeben. Als Helfer: innen unterstützen sie die Patient: innen bei ihren Anliegen. Der Ausdruck „ Helfer: innen “ bezieht 28 Rollenprofile erhalten in der traditionellen Dolmetschforschung zum Konferenzdolmetschen wenig Aufmerksamkeit. In der Forschung zum Konferenzdolmetschen beschäftigte man sich längere Zeit mehr mit der Entwicklung von Qualitätskriterien und der interlingualen Übereinstimmung (vgl. u. a. Bühler, 1986; Collados Aís & García Becerra, 2015; Collados Aís et al., 2011), mit der Verständlichkeit und den Strategien beim Dolmetschprozess (Kalina, 1998) oder mit Didaktik (u. v. a. Gile, 2009). 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 73 <?page no="74"?> sich häufig auf die Rolle der Dolmetscher: innen im Bereich des Gebärdensprachdolmetschens, wie sie in der Entstehungszeit des Berufs gesehen wurde (vgl. z. B. Roy, 1993). Beide Bezeichnungen lassen eine Allianzbildung mit der einen oder der anderen Gesprächspartei vermuten: „ Indeed, in group loyalties and allegiances may influence non-professional interpreters ’ performance, either consciously or unconsciously. “ (Martínez-Gómez, 2015, p. 422) Die Dolmetscher: innen werden weiter in der Rolle von Kulturvermittler: innen (cultural brokers) gesehen (vgl. u. a. Penn & Watermeyer, 2012; Raval, 2003). Wie den Ko-Therapeut: innen und den Helfer: innen wird den Kulturvermittler: innen ein aktives Verhalten in der Interaktion zugestanden, das dem Postulat einer möglichst detailgetreuen Verdolmetschung widerspricht. Von Kulturvermittler: innen wird eine Klärung von bestimmten Kulturspezifika erwartet, über die sie aufgrund ihrer Herkunft Bescheid wissen (Angelelli, 2012, p. 252; Penn & Watermeyer, 2012, p. 270; Tribe & Lane, 2015, p. 255). Angelelli (2012) betont im Zusammenhang mit dem Thema „ Schmerz “ die Bedeutung der Kulturvermittlung: „ In order for the health care provider to understand patients ’ pain in a therapeutic and culturally appropriate manner, she/ he must understand definitions, perceptions, expressions, and communication of pain from a cultural perspective [ … ]. “ (Angelelli, 2012, p. 266) Wenn Beteiligte im Pflegebereich ohne die Hinzuziehung von Dolmetscher: innen mit unterschiedlichen Sprachen miteinander im Gespräch sind und es zu Verständigungsschwierigkeiten kommt, schreibt man die Probleme möglicherweise ohne eine genaue Datenanalyse dem Umstand der interkulturellen Kommunikation zu (Matic, 2017, p. 70 f.). Die Dolmetschwissenschaftler: innen Felberg/ Skaaden (2012) weisen aufgrund ihrer Erfahrung mit dem Dolmetschen im Gesundheitswesen ebenfalls auf die Gefahr hin, kulturelle Konzepte mehr zu gewichten als Kommunikationsprobleme und spezifische Kompetenzen: We argue that the use of the concept of culture may lead to ‚ othering ‘ of minority patients, may conceal rather than reveal communication problems, and may confuse the intersection between interpreters ’ and medical professionals ’ areas of expertise. (Felberg & Skaaden, 2012, p. 95) Die Erwartung, dass die Dolmetscher: innen alles über die kulturellen Belange eines Landes wissen, ist grundsätzlich problematisch, „ da sich innerhalb einer Kultur individuelle, paar- oder gruppenspezifische Eigenheiten (Subkulturen, Idiokulturen etc.) herausbilden können, über die der Dolmetscher nur bedingt Bescheid weiss [ … ] “ . So Blumenthal (2016) die sich in ihrer Untersuchung der Bedeutung von körperlichen Signalen im psychotherapeutischen Setting widmet (Blumenthal, 2016, p. 69). 29 Eine Grundsatzdiskussion über die Bedeutung der Interkulturalität in der gedolmetschten Kommunikation und in der medizinischen Gesprächsforschung soll an dieser Stelle unterbleiben, da sich im KTI-Projekt kaum Hinweise auf kulturelle Aspekte fanden, die für die Verständigung ein Problem darstellten (Sleptsova et al., 2012). Es soll hier lediglich auf die Problematik der Typisierung eingegangen werden. Menz (2013a) legen unter dem Stichwort der interkulturellen Kommunikation dar, dass zu viele verschiedene Faktoren, 29 Im Rahmen des KTI-Projekts erzählte ein aus dem Stadtgebiet stammender Dolmetscher von Verständnisschwierigkeiten in einem Gespräch mit einem Patienten, der aus dem ländlichen Gebiet stammte und sich anders ausdrückte, als er (der Dolmetscher) sich das gewohnt war. 74 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="75"?> die nichts mit einer spezifischen kulturellen Homogenität zu tun haben, das Kommunikationsgeschehen beeinflussen, und sie warnen vor Trugschlüssen in Bezug auf den Umgang mit verallgemeinernden kulturellen Konzepten: „ Der Kulturbegriff dient oft dazu, eine Gruppe oder ‚ Gemeinschaft ‘ von Menschen auf der Basis von Generalisierung, Homogenisierung, Assimilation und Dissimilation zu typisieren. “ (Menz, 2013a, p. 19) Die Problematik der Typisierung wird durch folgendes Beispiel aus dem vorliegenden Datenmaterial illustriert: Datenbeispiel 4: „… für die türkischen Verhältnisse so wie nichts Auffälliges. “ Im folgenden Ausschnitt aus einem drei Stunden dauernden Gutachtergespräch formuliert der Psychiater seine Vorstellung zum seiner Ansicht nach untypischen Verhalten des türkischen Exploranden. 30 [1] 0 [00: 00.0] 1 [00: 00.1] 2 [00: 02.1] A [v] und seine Gestik das ist für die türkischen Verhältnisse so A [v] wie (xxx) nichts Auffälliges. D [v] er macht fast gar nicht ich mach mehr [2] 4 [00: 14.1] 5 [00: 16.2] 6 [00: 27.9] D [v] Handbewegungen zu er zeigt nicht viel Körpersprache. Tab. 3.4.3-1: Typisierung von kultureller Zugehörigkeit Die typisierende Vorstellung des Psychiaters wird hier verbalisiert und dadurch wahrnehmbar. Andere typisierende Ansichten steuern möglicherweise die Einstellungen von Expert: innen oder Dolmetscher: innen, ohne dass die Beteiligten davon erfahren. „ Was als Aspekt ‚ kultureller ‘ Zugehörigkeit zu verstehen ist [ … ] “ (Hausendorf, 2007a, p. 405), entscheidet der Psychiater in diesem Gespräch nicht aufgrund der Interaktion, sondern aufgrund seiner Vorstellungen und Etikettierungen. Die Bedeutung der kulturellen Vermittlung beim Dolmetschen wird unterschiedlich beurteilt, aber kaum empirisch belegt. Ebenfalls unterschiedlich gesehen wird die Rolle des gatekeepers. Davidson (2000) hat mit der Untersuchung von zehn gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen aus einem grösseren Korpus herausgearbeitet, dass Dolmetscher: innen keine neutralen „ Sprachrohre “ sind, sondern aktiv am Gespräch teilnehmen, indem sie von sich aus Fragen der Ärzt: innen beantworten oder selektiv dolmetschen. Davidson (2000) sieht die Problemquelle im Wesentlichen bei der Institution, die an der Einhaltung von möglichst kurzen Terminen interessiert ist, so dass die Dolmetscher: innen dazu angehalten werden, „ to keep the patient on track “ (Davidson, 2002, p. 1295), dann aber auch bei der Entscheidung der Dolmetscher: innen, sich eher in den Dienst der Expert: innen zu stellen als in den Dienst der Patient: innen: „ [ … ] interpreters frequently engaged in furthering the physician ’ s perceived agenda for the discourse. “ (Davidson, 2000, p. 401). 31 30 Dieser Ausschnitt ist nicht Teil der hier diskutierten Fallbeispiele. Es handelt sich um den Beginn der zweiten Videokassette, die nach den ersten 46 Minuten eingelegt wurde. 31 Weitere Rollenbezeichnungen finden sich in den Taxonomien von Leanza (2005) und Bischoff et al. (2012). Zum Teil handelt es sich um dieselben Funktionen mit anderen Namen, zum Teil aber um neue Funktionen. So weisen Leanza (2005) und Bischoff (2012) insbesondere auf die Funktion der 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 75 <?page no="76"?> Hale (2007) fasst das Konzept des von Davidson (2000) beschriebenen gatekeeping breiter und gibt den nach diesem Konzept handelnden Dolmetscher: innen einen eher noch umfassenderen Handlungsspielraum. Sie entscheiden: „ [ … ] what to transmit and what to omit from the speakers ’ utterances. “ (Hale, 2007, p. 42) Pöllabauer (2012) weist, unter anderem gestützt auf die Gatekeeping-Theorie von Vos/ Shoemaker (2009), die Selektionsleistungen in der journalistischen Berufsroutine untersuchen, auf verschiedene Möglichkeiten von Selektionierungen hin. Sie übernimmt den Terminus für das Gesprächsdolmetschen und beschreibt die Rahmenbedingungen im Sozialwesen, die mit denen des Gesundheitswesens zu einem grossen Teil identisch sind, als „ gates “ : [ … ] the common practice of using untrained interpreters [ … ] can be said to be one of the major „ gates “ for non-German speaking clients of social service institutions which puts them at a clear disadvantage when compared to German-speaking clients. (Pöllabauer, 2012, p. 221) In Untersuchungen zu den Aufgaben und zur Funktion der Dolmetscher: innen wird mehrfach beschrieben, dass die Dolmetscher: innen auf unterschiedliche Art und Weise in die Gespräche eingreifen; sie lassen Teile der ausgangssprachlichen Redebeiträge aus oder fügen eigene Inhalte in die originalen Äusserungen ein. Insbesondere die von den Dolmetscher: innen selbst-initiierten Hinzufügungen haben zum Teil mit den unterschiedlichen Auffassungen zu den Rollenprofilen der Dolmetscher: innen zu tun (vgl. u. a. Davidson, 2000; Penn & Watermeyer, 2012; Raval, 2003). Die Vielfalt der Ansichten zum Dolmetschen zeigen vor allem verschiedene Befragungen bei Dolmetscher: innen und Auftraggeber: innen, die von Autor: innen aus unterschiedlichen Ländern und Disziplinen durchgeführt wurden (Dysart-Gale, 2005; Granger & Baker, 2003; Origlia Ikhilor et al., 2017; Viljanmaa, 2017). Die Kommunikationswissenschaftlerin Dysart-Gale (2005) befragte 17 Dolmetscher: innen, die im amerikanischen Gesundheitswesen tätig sind, nach ihrer Auffassung zur Rolle. Nach ihren Aussagen richten sie sich grundsätzlich nach dem conduit-Modell. Sie schildern jedoch unter anderem Tätigkeiten, die dem conduit-Modell zuwiderlaufen und über das Dolmetschen hinausgehen, wie etwa die Erledigung von Telefonaten und Nachfragen bei den Patient: innen nach ihrem Befinden. In den von den klinischen Psycholog: innen Granger/ Baker (2003) in Grossbritannien durchgeführten Befragungen nennen Dolmetscher: innen ebenfalls eine Vielzahl von Aufgaben, die sie übernehmen sollten: [ … ] anticipate and clarify confusions, explain relevant issues, elucidate technical and procedural factors, give an impression of the emotions conveyed in the client ’ s spoken and body language, and act as the client ’ s advocate. (Granger & Baker, 2003, p. 116) Im Hinblick auf das Rollenverständnis halten die befragten Dolmetscher: innen neben der kulturellen Vermittlung Erklärungen von Fachausdrücken oder den Aufbau der Beziehung zu den Vertreter: innen der Institutionen für hilfreich (Granger & Baker, 2003, p. 102). Erklärungen der Dolmetscher: innen sind allerdings schon deshalb kritisch zu reflektieren, Dolmetscher: innen als Immigrationshelfer: innen hin, in der sie durch ihre berufliche Integration als Vorbild dienen können. 76 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="77"?> weil die Patient: innen keine Stellung dazu beziehen können, wenn sie die zusätzlichen Inhalte aus sprachlichen Gründen nicht verstehen. Das Analoge gilt für Erklärungen in der Sprache der Patient: innen, die den Expert: innen nicht zugänglich sind. Selbst-initiierte Erläuterungen oder Ergänzungen der Dolmetscher: innen nehmen den Patient: innen die Möglichkeit, für sich selbst zu sprechen. Das Recht der Patient: innen auf die eigene Stimme gilt in jeder Hinsicht, nicht nur für kulturelle Belange. Mason (2015) schreibt dazu: „ In other words, they [the interpreters] tend to deprive patients of their own voice. “ (Mason, 2015, p. 114) Es ist zudem fraglich, ob eine adäquate Vermittlung von zusätzlichen Informationen realistisch ist, wenn mehrfach deutlich wird, dass den Gesprächsdolmetscher: innen die erforderlichen fachlichen Kompetenzen fehlen. Im Rahmen der von Origlia Ikhilor et al. (2017) verfassten Schweizer Studie „ Barrierefreie Kommunikation in der geburtshilflichen Versorgung allophoner Migrant: innen “ bringen die Dolmetscher: innen in ihren Voten deutlich zum Ausdruck, dass ihr Rollenverständnis von widersprüchlichen Konzepten beeinflusst ist. Sie sehen Neutralität zwar als wichtigen Aspekt ihrer Rolle als Dolmetscher: innen, halten sich jedoch gleichzeitig für berechtigt, nach eigenem Gutdünken eine „ adressatengerechte[n] Umwandlung der Gesprächsinhalte “ vorzunehmen (Origlia Ikhilor et al., 2017, p. 48). Ob die Eingriffe in die ausgangssprachlichen Redebeiträge jeweils „ adressatengerecht “ sind, ist jedoch lediglich eine Einschätzung der befragten Dolmetscher: innen selbst. Die Expert: innen äussern sich in dieser Untersuchung zum Teil kritisch über Familienangehörige als Dolmetscher: innen und ziehen „ interkulturell Dolmetschende “ vor, die ihnen von den Vermittlungsstellen zugeteilt werden (Origlia Ikhilor et al., 2017, p. 61). Die Fachsprache stellen sie jedoch auch für die interkulturellen Dolmetscher: innen als Schwierigkeit dar (Origlia Ikhilor et al., 2017, p. 71). Die Dolmetscherin und Dozentin Viljanmaa (2018) schildert aufgrund einer Befragung in Finnland ebenfalls, dass Dolmetscher: innen verschiedene Ansichten über ihre Tätigkeit und entsprechend unterschiedliche Rollenvorstellungen haben, die sie dazu legitimieren, die ausgangssprachlichen Redebeiträge von sich aus zu verändern (Viljanmaa, 2018, p. 23 ff.). Lediglich 21 von 78 Dolmetscher: innen plädieren für ein ausgangstextnahes Dolmetschen. In keiner dieser bisher skizzierten Studien sind Gesprächsdaten aufgezeichnet worden, so dass ein Vergleich der „ theoretischen “ Ansichten mit authentischen Gesprächsdaten fehlt. Der mehrfach nachgewiesenen Problematik der Dolmetschleistungen und den kontroversen Rollenprofilen in der Praxis stehen Plädoyers von mehreren Dolmetschwissenschaftler: innen gegenüber, die für ein ausgangstextnahes Dolmetschen, für ethische Prinzipien und solide Kompetenzen plädieren: „ One emerging best practice is for community interpreters to become the faithful voice of all participants [ … ] “ (Bancroft, 2015, p. 226). Zur Rollenvielfalt nimmt auch Hale (2007) deutlich Stellung: „ However, it is difficult to understand how medical interpreters can be more helpful to the provision of health care by deviating from their role of interpreter and adopting an advocate or gatekeeper role. “ (Hale, 2007, p. 46) Mit dem Argument, dass die Dolmetscher: innen keine Gesprächsparteien sind, wird gefordert, dass sie sich darauf beschränken sollten, die Inhalte der Beteiligten aus der Ausgangssprache in die Zielsprache zu übertragen. Selbstinitiierte inhaltliche Eingriffe der Dolmetscher: innen werden demzufolge als unzulässige Einmischung gewertet (vgl. z. B. Setton, 2015, p. 163; Tebble, 2012, p. 44). Doch gleichzeitig werden die Aufgaben der Dolmetscher: innen selbst innerhalb der „ konventionellen “ 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 77 <?page no="78"?> Dolmetschwissenschaft kontrovers diskutiert: „ Light editing or explicating cultural references may be indispensable for making sense to some listeners, or may constitute welcome intercultural mediation, but may also result in dilution or even censorship. “ (Setton, 2015, p. 163) Ähnliches formuliert Tebble (2012): Intentional omissions of interpreting content and intentional additions to the message made personally by the interpreter are examples of interference, but coordinating talk implicitly on a turn-by-turn basis and coordinating talk by addressing the metalingual features usually produce acceptable interpreting. (Tebble, 2012, p. 42) Was „ acceptable interpreting “ ist, wird zunehmend im Lichte einer koordinierten Kommunikation und einer optimalen Verständigung beurteilt (vgl. Krystallidou, 2016; Major & Napier, 2012, 2019). Das heisst, den Dolmetscher: innen wird auch in der Dolmetschwissenschaft mehr Spielraum zugestanden, als mit dem Konzept einer strengen Form des conduit gefordert wird. Zwischen einer das Verständnis erleichternden Verdolmetschung mit zusätzlichen Erklärungen von den Dolmetscher: innen und (manipulativen) Eingriffen besteht ein schmaler Grat. Mit dem Spielraum von dolmetscherischem Handeln setzen sich Merlini/ Gatti (2015) anhand von Audioaufzeichnungen auseinander 32 : „ This paper stems from a preliminary reflection on some of the rigidities of the notion of ‚ role ‘ , a notion which has been at the very core of investigations into dialogue interpreting since the very beginning [ … ] “ . (Merlini & Gatti, 2015, p. 139) In den authentischen Gesprächen, die in emotional belasteten Situationen stattfinden, werden die unterschiedlichen Verhaltensweisen von drei Dolmetscher: innen untersucht, die an Beratungsstellen für Familienplanung tätig sind. Im ersten Gespräch ermuntert die Dolmetscherin eine junge Frau aus Estland, die einen Schwangerschaftsabbruch plant, mit selbst-initiierten beruhigenden Worten zum Sprechen, da die Patientin keine Antwort zu persönlichen Fragen geben will. Der Dolmetscherin gelingt es dank ihrer Einfühlung, das Gespräch zu ermöglichen. Im zweiten Gespräch will die chinesische Patientin, die schwanger ist, auf eine Amniozentese verzichten, obwohl ihr Mann eine Erbkrankheit hat. Die Dolmetscherin initiiert ein Zwiegespräch mit der Patientin über die Gründe der Ablehnung und darüber, dass die Kosten übernommen werden könnten. Sie versucht auf die Patientin einzugehen, kann sie aber nicht umstimmen. Die Patientin im dritten Gespräch klagt über intensive Schmerzen im Unterleib im Anschluss an eine Operation. Die Dolmetscherin entwickelt keine Empathie. Die beiden Autorinnen befürworten ein mitfühlendes Verhalten der Dolmetscher: innen und plädieren dafür, dass Dolmetscher: innen den Patient: innen gegenüber mit Empathie reagieren. Ihrer Meinung nach verstösst Empathie nicht gegen die Vorgabe von „ Neutralität und Unparteilichkeit “ , sondern wirkt sich positiv auf die Kommunikation aus (Merlini & Gatti, 2015, p. 155). Sie halten es allerdings für sinnvoll, dass ihre Annahme in einer Studie mit umfangreicheren Daten bestätigt wird. Neben den uneinheitlichen Ansichten zu den Rollen und zum sprachlichen Verhalten der Dolmetscher: innen wird in der Literatur die systematische Umsetzung von bestimmten Rollenprofilen in konkreten Gesprächen diskutiert. Merlini/ Gatti (2015) halten die Systematisierung von Rollenprofilen für nicht praktikabel (Merlini & Gatti, 2015, p. 140). Nach 32 Die Autor: innen mussten auf Videoaufzeichnungen verzichten, da sie keine Erlaubnis dafür erhielten. 78 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="79"?> Roys (2000) Ansicht widersprechen die Dynamik von Gesprächen sowie die Komplexität des Dolmetschprozesses der Umsetzung von statischen Rollenmodellen. Sie beschreibt die hohen Anforderungen an die Dolmetscher: innen, die eine Dominanz von bestimmten Rollen kaum zulassen: Interpreters are not simply processing information and passively passing it back and forth. Their task requires knowledge of a discourse system that includes grammar, language use, organization, participant relationships, contextual knowledge, and sociocultural knowledge. Interpreters must also have the ability to adapt this knowlege quickly to size up a situation, anticipate problems, and decide on solutions within seconds which means they operate in an emergent system of adaptability. (Roy, 2000, p. 103) Die Analysen von Gesprächsausschnitten aus authentischen Interaktionen zeigen lediglich eine teilweise Übereinstimmung mit den in den verschiedenen Befragungen umschriebenen Aufgaben und Profilen. Pöchhacker (2007) befragte 1996 ärztliches Personal und Pflegepersonal in 12 Wiener Krankenhäusern nach ihren Vorstellungen über die Rollen- und Aufgabenprofile von Dolmetscher: innen. Zu den in der Befragung genannten Problembereichen gehören das ungenügende medizinische Wissen, die mangelnden Kenntnisse der Fachausdrücke, die unklaren Antworten sowie gegensätzliche Rollenerwartungen und Rollenauffassungen. Ein „ konsequentes translatorisches Verhalten “ lässt sich jedoch nicht erkennen (Pöchhacker, 2007, p. 235). In den im Rahmen des KTI-Projekts (Sleptsova et al., 2012) durchgeführten Befragungen zeigen die Dolmetscher: innen sowie die Expert: innen zwar eine eindeutige Präferenz für die Neutralität der Dolmetscher: innen im Sinne der conduit-Rolle, betonen aber gleichzeitig die Bedeutung der Kulturvermittlung. Wie bei Pöchhacker (2007) geht aus der Analyse der Transkripte hervor, dass sich die in der Befragung schriftlich geäusserten Ansichten nicht mit dem Verhalten in den Fallbeispielen decken (Sleptsova et al., 2012). Befragungen geben lediglich Auskunft über persönliche Einschätzungen. Die aufgrund von Befragungen oder von theoretischen Überlegungen herausgearbeiteten Rollenbilder scheinen der Praxis in authentischen gedolmetschten Interaktionen nicht zu entsprechen. 33 Die heterogenen Ergebnisse der verschiedenen Studien zu unterschiedlichen Aspekten des Rollenverständnisses unterstreichen die Bedeutung von Videoaufzeichnungen in realen Settings. 3.4.4 Modifikationen Die Vorgaben der Treue zum ausgangssprachlichen Original, der Genauigkeit und der Vollständigkeit sowie des ethischen Verhaltens der Dolmetscher: innen sind in der Dolmetschforschung von grösserem Interesse als die Kategorisierungen der Rollenprofile (Pöchhacker, 2016, p. 167 f.). Die kontroversen Rollenprofile, die in Kapitel 3.4.3 geschildert wurden, haben insofern einen Einfluss auf das sprachliche Verhalten der Dolmetscher: innen, als sie sich dazu legitimiert fühlen können, einzelne Wörter oder Teile von 33 Verschiedene Sichtweisen zum Rollenverständnis werden in zahlreichen Publikationen aus der Sicht von Dolmetschwissenschaftler: innen (vgl. u. a. Hale, 2007) beziehungsweise aus der Sicht von Linguist: innen (vgl. u. a. Davidson, 2000) sowie von Mediziner: innen (vgl. u. a. Leanza, 2005) diskutiert. Wie im Gesundheitswesen besteht auch in anderen Sparten ein ähnliches Spannungsfeld in Bezug auf die Beteiligungsrollen, v. a. im Bildungs- und Sozialwesen, (vgl. z. B. Davitti & Pasquandrea, 2013). 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 79 <?page no="80"?> Redebeiträgen nach eigenem Ermessen zum Beispiel im Sinne von Ko-Therapeut: innen oder von Kulturvermittler: innen zu modifizieren. Selbst-initiiertes Dolmetschen verleiht den Dolmetscher: innen auf der lokalen Ebene eine Position der Macht. In verschiedenen empirischen Untersuchungen zeigen sich ausserdem Verstehensprobleme, die auf den sprachlichen Umsetzungsprozess zurückzuführen sind. Anhand von authentischen Gesprächen werden in erster Linie Auslassungen und Hinzufügungen von Inhalten aus verschiedenen Perspektiven untersucht: Amato (2007) analysiert authentische Gespräche, die in einem italienischen Rehabilitationszentrum aufgezeichnet wurden. Als Basis für ihre Beobachtungen zieht sie Wadensjös (1998) Kriterien zerorenditions und non-renditions heran (vgl. Kap. 3.3). Beispiele für Auslassungen (zerorenditions) und Hinzufügungen (non-renditions) finden sich in den drei von ihr untersuchten Gesprächsausschnitten mehrfach. Im Hinblick auf die Hinzufügungen nennt Amato (2007) zum Beispiel Nachfragen zur Klärung (Amato, 2007, p. 34). Die Auslassungen mit Ausnahme der unverdolmetscht bleibenden Backchannel-Signale des Arztes betreffen mehr die Redebeiträge der Patient: innen als die des Arztes (vgl. Amato, 2007, p. 30). Amato (2007) kommt zum Schluss, dass die Dolmetscher: innen den Äusserungen der Ärzte mehr Bedeutung zumessen: The distribution of turns by speaker shows that in all encounters the sum of turns produced by primary participants was smaller than the total numbers of turns by the interpreters. Analysis of zero renditions showed that all interpreters privileged doctor as participant and the doctor/ mother conversational axis in their translational function, and that specific kinds of zero rendition were recurrant in all encounters. (Amato, 2007, p. 37 f.) 34 Sie vermutet, dass die privilegierte Kommunikationsbeziehung zum Arzt auf bewussten Entscheidungen basiert: „ This suggests that a good number of discretionary decisions of interpreters come into play in medical settings [ … ]. “ (Amato, 2007, p. 38) Cirillo (2010) untersucht anhand von Daten, die in norditalienischen Spitälern und Familienberatungszentren aufgenommen wurden, ebenfalls Auslassungen (zero-renditions) und Hinzufügungen (non-renditions). Vier der Audioaufzeichnungen stammen aus der Gynäkologie, eine fünfte aus der Orthopädie. Cirillo (2010) legt besonderes Augenmerk auf Auslassungen von Redebeiträgen mit emotionalem Gehalt, die von den Patient: innen oder den Expert: innen relevant gesetzt werden. In ihren Beispielen stellt sie fest, dass die Dolmetscherin affektive Anteile unabhängig davon auslässt, ob sie von den Patient: innen oder von den Expert: innen formuliert werden (Cirillo, 2010, p. 68). In beiden Fällen beeinträchtigen die Auslassungen die soziale Beziehung zwischen den Patient: innen und den Expert: innen (Cirillo, 2010, p. 68). In ihrem Beitrag „ Managing affective communication in Triadic Exchanges: Interpreters ’ Zero-renditions and Non-renditions in Doctor-Patient Talk “ bestätigt Cirillo (2012) anhand von sechs Gesprächsausschnitten die Häufigkeit von Auslassungen und Hinzufügungen durch die Dolmetscher: innen. Sie betont die unterschiedlichen Auswirkungen: „ [ … ] non-renditions and zero-renditions may encourage direct contact between primary participants [ … ], or hamper such contact [ … ], with 34 Hinweise auf wechselnde Koalitionen mit einer der beiden Gesprächsparteien finden sich in weiteren Studien (vgl. Granger & Baker, 2003, p. 100; Martínez-Gómez, 2015) (vgl. Kap. 3.4.3). 80 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="81"?> the interpreter selecting „ translatables “ on the basis of their apparent relevance and appropriateness to the situation “ . (Cirillo, 2012, p. 120) 35 Ebenfalls aus Italien stammt eine weitere Studie: Davitti/ Pasquandrea (2013) beobachten in zwei Gesprächsausschnitten aus der Pädiatrie beziehungsweise aus der Gynäkologie, dass bedeutungsergänzende Wiedergaben (expanded renditions) in ihren Gesprächen unterschiedliche Konsequenzen haben. Beide Patient: innen sprechen Chinesisch, die Dolmetscherin ist dieselbe. Die Aufzeichnungen stammen aus einer italienischen Klinik. Im ersten pädiatrischen Gespräch befürchtet die Mutter, dass ihr hohes Fieber für ihr Baby bedrohlich ist. Davitti/ Pasquandrea (2013) führen aus, dass die Dolmetscherin im Zwiegespräch mit der Patientin die von der Ärztin geäusserte Diagnose eines Milchstaus aufnimmt. Die Intervention der Dolmetscherin ist ausführlicher als die tentativ formulierte Erklärung der Ärztin. Durch ihre explizitere Äusserung hindert die Dolmetscherin die Patientin daran, ihre Zweifel an der Begründung der Ärztin für ihr hohes Fieber vorzubringen (Davitti & Pasquandrea, 2013, p. 14). Im zweiten Gesprächsausschnitt klärt die Patientin das von der Gynäkologin verursachte Missverständnis, indem sie die Patientin mit einer selbst-initiierten Hinzufügung darauf hinweist, dass die Ärztin einen zweiten gynäkologischen Test anordnet, der mit dem bereits durchgeführten Abstrich (Davitti & Pasquandrea, 2013, p. 25) nicht identisch ist. Auf diese Weise gelingt es der Dolmetscherin mit einer von ihr initiierten Erklärung, das Vertrauen der Patientin zur Ärztin (wieder) herzustellen. Krystallidou et al. (2017) legen den Schwerpunkt ihrer Untersuchungen von Verdolmetschungen auf Auslassungen (omissions) oder Hinzufügungen (additions) von affektiven Anteilen wie Freude, Sorgen, Ängste, Hass usw. Sie stellen in diesen Analysen von simulierten Gesprächen innerhalb eines gemeinsamen Ausbildungsmoduls für angehende Ärzt: innen und angehende Dolmetscher: innen an der Universität von Antwerpen fest, dass emotionale Anteile in den Redebeiträgen der Patient: innen von Dolmetscher: innen ausgelassen oder in ihrer Relevanz zurückgestuft werden. Bei Auslassungen können die Ärzt: innen nicht auf die emotionalen Anliegen der Patient: innen reagieren. Selbst nach der Verdolmetschung von Redebeiträgen mit affektivem Gehalt reagieren Ärzt: innen nur teilweise darauf (Krystallidou et al., 2017, p. 7). Krystallidou et al. (2017) beobachten, dass die Patient: innen in diesen Fällen ihre Anliegen erneut aufnehmen. Krystallidou et al. (2020) zeigen in ihren Analysen von 20 authentischen Ärzt: innen- Patient: innen-Gesprächen die Auswirkungen von Auslassungen in der Verdolmetschung. Im gesamten Korpus werden 44 Redebeiträge mit emotionalem Gehalt ermittelt. Davon sind zwei Redebeiträge ausgangstextnahe gedolmetscht. Von 44 patient: innenseitigen Redebeiträgen bleiben 20 unverdolmetscht. Bei dieser Forschungsarbeit handelt es sich um professionelle Dolmetscher: innen mit einer Ausbildung. Es wird allerdings nicht präzisiert, um was für eine Ausbildung es sich genau handelt. Sleptsova et al. (2015) zeigen, dass Dolmetscher: innen häufig Informationen auslassen und anderes in die Interaktion einfügen. Zu den Hinzufügungen gehören etwa Erklärungen, Wiederholungen oder selbst-initiierte Fragen und Antworten. 35 Cirillos (2012) Beobachtungen basieren auf Audioaufnahmen. 3.4 Spezifische Phänomene in der gedolmetschten Interaktion 81 <?page no="82"?> Die oben skizzierten Publikationen geben einen Einblick in die Vielfalt der Beobachtungen. Die Autor: innen machen deutlich, dass den Auslassungen und Hinzufügungen verschiedene kommunikative Ziele der Dolmetscher: innen zugrunde liegen, zum Beispiel die Vermeidung oder die Rückstufung von bestimmten Inhalten wie die affektiven Anteile (Cirillo, 2012; Krystallidou et al., 2017), die Vermeidung oder die Förderung von direkten Kontakten zwischen den primären Gesprächsparteien (Cirillo, 2012; Davitti & Pasquandrea, 2013), die Überbrückung von Verständigungsschwierigkeiten oder die von den Dolmetscher: innen als erforderlich eingeschätzten zusätzlichen Erklärungen. Zum Thema gemacht werden auch die soziale Beziehung der Dolmetscher: innen zu den Expert: innen (vgl. Amato, 2007; Cirillo, 2010). Weitere Studien beschreiben Modifikationen etwa aufgrund des „ erweiterten Rollenverständnisses “ der Dolmetscher: innen (Pöchhacker, 2007), aufgrund einer ungenügenden Beherrschung der Grammatik, aufgrund eines mangelhaften Wortschatzes in den beiden Sprachen, aufgrund eines unzureichenden (Fach-)Wissens, aufgrund von fehlenden terminologischen Kenntnissen (vgl. Albl-Mikasa & Hohenstein, 2017; Hofer et al., 2015; Tebble, 2012, p. 38) oder auch aufgrund von Erinnerungslücken (vgl. Gile, 2009, 2015). Zusammenfassend wird aus den obigen Beispielen deutlich, dass die Dolmetscher: innen mit selbst-initiierten Handlungen in die Interaktionen eingreifen. Bereits die Bearbeitung einzelner Schwerpunkte in der Dolmetschforschung wie Auslassungen und Hinzufügungen zeigt, wie heterogen die Literatur zur gedolmetschten Kommunikation ist. Die Modifikationen können zu deutlich nachweisbaren Beeinträchtigungen für den Gesprächsverlauf, für die sozialen Beziehungen zwischen den Beteiligten und/ oder für die medizinische Behandlung der Patient: innen führen (vgl. u. a. Amato, 2007; Pöchhacker, 2007). Modifikationen können sogar in derselben Studie sowohl negative als auch positive Auswirkungen haben, wie Davitti/ Pasquandrea (2013) sowie Cirillo (2012) zeigen (siehe oben). Anzumerken ist, dass die Terminologie in den genannten Publikationen uneinheitlich ist. 36 Dies zum Teil deshalb, weil die Autor: innen an verschiedene Studien anknüpfen. Die Diskussion, wie weit Dolmetscher: innen in die ausgangssprachlichen Äusserungen eingreifen sollen, ist bis heute im Gang, und zwar in der Dolmetschwissenschaft (vgl. u. a. Ozolins, 2015, p. 333; Tebble, 2012, p. 44) sowie in der medizinischen Gesprächsforschung (vgl. Butow et al., 2011b, p. 2806). Die Konzentration auf die Handlungen der Dolmetscher: innen ist allerdings keine ausreichende Basis für eine umfassende Analyse von Gesprächen. Die Qualität der Verdolmetschungen hängt auch wesentlich von den Inputs der primären Gesprächsparteien ab: „ Quality in interpreting depends to a considerable extent on the source language input that the interpreter must process. “ (Mead, 2015a, p. 191; vgl. dazu auch Englund Dimitrova & Tiselius, 2016, p. 199) Als Forderung wird der Fokus auf die Redebeiträge der Gesprächsparteien in der Theorie zwar formuliert (vgl.Kalina, 2011), aber in empirischen Studien wird das Gewicht häufig lediglich auf die Verdolmetschungen 36 Amato (2007) und Cirillo (Cirillo, 2010, 2012) verwenden für Hinzufügungen den Ausdruck „ nonrenditions “ , Davitti/ Pasquandrea (2013) hingegen „ expanded renditions “ (bedeutungsergänzende Wiedergaben [Übersetzung GH]). Krystallidou et al. (2017) benutzen die Ausdrücke „ omissions “ für Auslassungen und „ additions “ für Hinzufügungen. 82 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="83"?> gelegt. In den Fallbeispielen, die in den Kapiteln 5.1 - 5.6 besprochen werden, sind die Redebeiträge sowohl der Dolmetscher: innen als auch der primären Gesprächsparteien im Fokus. Eine wesentliche Voraussetzung für eine adäquate Verdolmetschung ist die Verständlichkeit der originalen Redebeiträge. Je deutlicher oder expliziter ein Redebeitrag ausformuliert ist, desto besser ist die Verständlichkeit (vgl. Fiehler, 2015, p. 390). Verständliche Redebeiträge eignen sich besser als Vorlage für die Dolmetscher: innen als unklare oder unvollständige Formulierungen. So stellen zum Beispiel Ellipsen in ausgangssprachlichen Redebeiträgen eine besondere Schwierigkeit für Dolmetscher: innen dar, da sie den Inhalt ohne Vorgabe ergänzen müssen. 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft Die linguistische Gesprächsanalyse hat mit ihrem Blick auf die Interaktion als Ganzes, mit ihren Prinzipien, Mechanismen und Methoden die Erforschung gedolmetschter Gespräche in erheblichem Mass beeinflusst. Verschiedene Publikationen zeigen, dass sich die Dolmetschwissenschaft seit Anfang des 21. Jahrhunderts vermehrt Konzepte und Prinzipien der Gesprächsanalyse für die Untersuchung von gedolmetschten Gesprächen zu eigen macht (vgl. u. a. Davitti, 2019; Hale & Napier, 2013; Napier & Hale, 2015; Tebble, 2009). Die Erkenntnis, dass das Gesprächsdolmetschen eine dialogisch-interaktionistisch orientierte Tätigkeit und ein soziales Ereignis ist, in der alle Beteiligten zur Interaktion beitragen, gewinnt in der Forschung zunehmend an Einfluss. Die Prinzipien der Interaktivität und der Sequenzialität, des Mechanismus des Sprecherwechsels, des überlappenden Sprechens, der Kohärenz und der Kohäsion im Gespräch werden in der Forschung zum Gesprächsdolmetschen zu relevanten Faktoren. 37 Seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts verstärkt sich in der Erforschung derÄrzt: innen-Patient: innen-Gespräche besonders das Interesse an der Methodik der linguistischen Gesprächsanalyse, an der Positionierung der Anwesenden im Raum, am multimodalen Zusammenspiel von Blickkontakten und Gestik mit der Verbalität, an der Adressat: innenwahl und der Redewiedergabe sowie an den Merkmalen der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche. Die grundlegende Erkenntnis, dass sprachliche Äusserungen von körperlichen Handlungen untrennbar sind, hat die Schwerpunktsetzung der Dolmetschwissenschaft in den letzten Jahren verändert. Die neuen Forschungsinteressen sind insbesondere im Zuge der Verfeinerung visueller Aufnahmemöglichkeiten der letzten Jahre entstanden. Multimodale Aspekte wie Körperorientierungen, Blickkontakte, Gesten sowie Rückmeldeverfahren wurden relevante Untersuchungsebenen (vgl. v. a. Davitti & Pasquandrea, 2013; Pasquan- 37 Zum Thema Interaktivität und Sequenzialität vgl. z. B. Wadensjö (1998), zum Mechanismus des Sprecherwechsels vgl. v. a. Roy (2000), zur Kohärenz Collados Aís/ García Becerra (2015). Das Konzept des recipient design ist m. W. bisher nicht in die Dolmetschtheorie eingeflossen, obwohl empirische Daten davon zeugen, dass Dolmetscher: innen ihre Wiedergabe mehrfach nach den Erwartungen der Expert: innen ausrichten (vgl. Davidson, 2000, p. 401; Hofer et al., 2015). 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft 83 <?page no="84"?> drea, 2011, 2012; Vranjes et al., 2018a). Videoaufzeichnungen sind häufiger geworden (vgl. u. a. Amato, 2007; Davitti & Pasquandrea, 2017; Hofer et al., 2017; Krystallidou, 2014; Mason, 2001; Tebble, 2009). In dolmetschwissenschaftlichen Publikationen sind bisher in der Regel lediglich einzelne Aspekte aus kurzen Ausschnitten herausgegriffen worden, zum Beispiel die Blickkontakte und/ oder die Gestik (vgl. v. a. Davitti, 2013; Krystallidou, 2014). Mit dem in der vorliegenden Arbeit verfolgten konsequenten Blick auf die Multimodalität werden die körperlichen Ressourcen über längere Sequenzen hinweg zur Verbalität in Bezug gesetzt. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass sich die Forschung im Bereich des Gebärdensprachdolmetschens bereits zu einem frühen Zeitpunkt in höherem Mass den gesprächsanalytischen Methoden zugewandt hatte als die Forschung des Lautsprachendolmetschens (vgl. v. a. Metzger, 1999; Roy, 2000). Aufgrund der Annäherung der Forschungsinteressen der beiden Formen des Dolmetschens zueinander findet seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ein vitaler gegenseitiger Austausch statt. Beide Fachdisziplinen behandeln Themen wie die Schwierigkeiten und Herausforderungen des Dolmetschens, die Rollen der Beteiligten, die sozialen Beziehungen zwischen den Beteiligten sowie die Qualifizierung der Dolmetscher: innen (u. a. Haug & Hofer, 2021). Trotz des Einflusses der gesprächsanalytischen Untersuchungsmethoden auf die Dolmetschwissenschaft gibt es eine Reihe von Unterschieden. In der Gesprächsanalyse „ [ … ] wird rekonstruiert, wie eine Äusserung oder Handlung in der Interaktion von den Beteiligten interpretiert und behandelt wird. “ (Gülich & Mondada, 2008, p. 17) Die Gesprächsanalyse geht datengeleitet vor; sie beschreibt und analysiert die Daten aus der Beteiligtenperspektive. Der auffälligste Unterschied zwischen nicht-gedolmetschten und gedolmetschten Interaktionen besteht in der Gesprächsorganisation aufgrund der Anwesenheit der Dolmetscher: innen, deren primäre Aufgabe es ist, die ausgangssprachlichen Redebeiträge wiederzugeben. Beim Dolmetschen versteht lediglich die eine der beiden Gesprächsparteien die gedolmetschten Anteile. Daher ist die Frage, wie ausgangstextnah die originalen Redebeiträge gedolmetscht werden, in der Dolmetschwissenschaft im Brennpunkt des Interesses. Die Dolmetschwissenschaft nimmt neben der beschreibenden Vorgehensweise eine inhaltsvergleichende, kategorisierende und bewertende Haltung ein (vgl. Kap. 3.3). So stehen in verschiedenen Studien die Dolmetscher: innen und die inhaltlichen Modifikationen, hauptsächlich Auslassungen und Hinzufügungen, im Fokus (vgl. u. a. Amato, 2007; Cirillo, 2010; Krystallidou et al., 2017). Ebenso prägt der Aspekt der Rolle der Dolmetscher: innen mehrere Forschungsarbeiten (Aranguri et al., 2006; vgl. v. a. Cirillo, 2012; Davidson, 2000; Krystallidou, 2014; Pasquandrea, 2011). Die dolmetschwissenschaftlichen Untersuchungen unterscheiden sich durch den Fokus auf die Aufgabe des Dolmetschens und auf die Rolle der Dolmetscher: innen vom Ansatz der Gesprächsforschung. In der Dolmetschwissenschaft ist das Interesse an den dolmetschspezifischen Kompetenzen und an den Verfahren der Dolmetscher: innen wohl auch deshalb dominant geblieben, weil die Dolmetschwissenschaftler: innen meist ausgebildete Konferenzdolmetscher: innen und gleichzeitig in der Lehre tätig waren. Der charakteristische Werdegang führte sie aus der Praxis zur forschenden Praxis, zur Wissenschaft und zur Lehre (vgl. Ahrens, 2012, p. 4). Kalina (2011) hat zwar bereits auf die Bedeutung der Sprechleistung von Redner: innen hingewiesen (Kalina, 2011, p. 166), aber mehr im Hinblick auf die Beurteilung der Dolmetschqualität als auf den Gesprächsverlauf. 84 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="85"?> Auch in der medizinischen Praxis ist die Nähe zum Ausgangstext entscheidend. Die Dolmetscher: innen sollten den Expert: innen möglichst alle Anliegen der Patient: innen ohne Auslassungen oder Hinzufügungen übermitteln. Die Expert: innen sind darauf angewiesen, dass sie alles erfahren, was die Patient: innen ihnen mitteilen wollen. Für die Entscheidung, die beiden Disziplinen trotz der Unterschiede für die Analysen der Gespräche zu verbinden, gaben verschiedene Faktoren den Ausschlag. Im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial nach dem Abschluss des KTI-Projekts verschob sich der Fokus vom Schwerpunkt des sprachlichen Transfers auf die interaktive und koordinative Aufgabe der Dolmetscher: innen. Auch wenn die Dolmetscher: innen keine Gesprächsparteien sind, beteiligen sie sich am Gespräch (vgl. Sator & Gülich, 2013, p. 302). So wurde es der gesprächsanalytischen Methodik folgend zu einem Untersuchungsgegenstand, nachzuzeichnen, wie alle Beteiligten interaktiv auf die vorausgehenden Redebeiträge reagieren und den weiteren Gesprächsverlauf gestalten. Parallel zum eigenen fortschreitenden Analyseprozess im Verlauf dieser Arbeit regten Studien von Dolmetschwissenschaftler: innen aus verschiedenen Ländern, die sich mit ihren Daten an gesprächsanalytischen Methoden orientierten, zur verstärkten Auseinandersetzung mit der Gesprächsforschung an (vgl. u. a. Amato, 2007; Cirillo, 2012; Davitti & Pasquandrea, 2013; Pasquandrea, 2012; Tebble, 2009). Bei der Bearbeitung der eigenen Daten wurde deutlich, dass die Dolmetscher: innen sich multimodal an den Interaktionen beteiligen, indem sie Blickkontakt mit den primären Gesprächsparteien haben, sich ihnen zuwenden oder wegblicken und ihre Äusserungen mit Gesten und Backchannel-Signalen begleiten. Die körperlichen Handlungen der Beteiligten können anhand der Videoaufzeichnungen beobachtet werden. An der Körperorientierung, an den Kopfbewegungen, am Blickverhalten, an den Gesten sowie an Backchannel- Signalen wird sichtbar, auf welche Weise die Dolmetscher: innen mit den Gesprächsparteien multimodal interagieren. Das Spezifische an der Untersuchung der in den Kapiteln 5.1 - 5.6 analysierten Gesprächsausschnitte ist das Beobachten des Ineinandergreifens der sprachlichen und der anderen multimodalen Handlungen aller Beteiligten. Die multimodale Perspektive auf die gedolmetschte Kommunikation stellt ein zentrales Forschungsdesiderat dar. In den folgenden Kapiteln wird aus der Perspektive der Dolmetschwissenschaft auf die Themen eingegangen, die bereits aus dem Blickwinkel der linguistischen Gesprächsanalyse diskutiert wurden (vgl. Kap. 2) und die massgeblich unter dem Einfluss der linguistischen Gesprächsanalyse für das Gesprächsdolmetschen relevant geworden sind: die Videoaufzeichnungen von authentischen Daten als methodischer Standard in der Dolmetschwissenschaft, die Räumlichkeit und die Positionierung der Beteiligten, multimodale Aktivitäten sowie Merkmale der Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche aus der Sicht der Dolmetschforschung. 3.5.1 Die Videoaufzeichnungen von authentischen Daten in der Dolmetschforschung Aufgrund des steigenden Interesses an multimodalen Ressourcen sind Videoaufzeichnungen als Datengrundlage in den letzten Jahren der Dolmetschwissenschaft bedeutsamer geworden. Eine umfassende multimodale Analyse einer gedolmetschten Interaktion setzt ebenso wie bei einem monolingualen Gespräch eine Videoaufzeichnung voraus (vgl. Kap. 2.1). Insgesamt ist der Umfang an Publikationen zum Thema Dolmetschen im 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft 85 <?page no="86"?> medizinischen Bereich zwar stark gewachsen (vgl. Crezee, 2013; Nicodemus & Metzger, 2014; Pöchhacker & Shlesinger, 2007), aber gemessen an der Zahl der Publikationen sind Studien, in denen mit Videokameras aufgezeichnete authentische Daten bearbeitet werden (u. a. Bot, 2005a, p. 6; Pöchhacker, 2007; Vranjes et al., 2018a, p. 306), immer noch verhältnismässig selten. Die Forderung nach Videoaufzeichnungen ist in der Dolmetschforschung weniger etabliert als in der Gesprächsforschung. In medizinischen Settings liegt eine der Ursachen darin, dass es aus Datenschutzgründen schwierig ist, gedolmetschte Gespräche zu Forschungszwecken aufzuzeichnen (Mason, 2012, p. 180; Pasquandrea, 2011, p. 456; Vranjes et al., 2018a, p. 307). Ausserdem sind Dolmetscher: innen Videoaufnahmen gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt. Sie berufen sich darauf, dass die Qualität der Dolmetschleistung schwer zu erfassen ist, weil sie „ unter meist schwierigen Bedingungen erbracht wird und lediglich für den Augenblick zu nutzen ist; ihre Qualität ist ebenfalls temporär und flüchtig. “ (Kalina, 2011, p. 162). Für das verhältnismässig spät einsetzende Interesse der Dolmetschwissenschaftler: innen an gesprächsanalytischen Phänomenen (vgl. Kap. 3.5) mag es weitere „ praktische “ Gründe geben. Der im Anschluss an die Videoaufzeichnungen zu leistende Transkriptionsaufwand ist um einiges höher als bei monolingualen Gesprächen, da die Redebeiträge der Patient: innen und die Verdolmetschungen erst übersetzt werden müssen. Je nach Sprache ist das Spektrum der in Frage kommenden Übersetzer: innen/ Transkribent: innen sehr klein, vor allem wenn keine bereits entsprechend ausgebildeten Fachleute wie Linguist: innen, Übersetzer: innen oder Dolmetscher: innen zur Verfügung stehen. Falls sich Erstsprachler: innen mit den erforderlichen sprachlichen Kompetenzen für die Übersetzungsarbeit finden lassen, ist unter Umständen die mangelnde Erfahrung mit den elektronischen Hilfsmitteln, die bei der Transkription eingesetzt werden, ein weiteres Problem (mehr dazu in Kap. 4.2). Bedenken, die Interaktionen könnten durch Beobachtungen verändert werden, könnten auch für gedolmetschte Gespräche geltend gemacht werden. Deppermanns (2008) Argument der Gewöhnung an die Kamera gilt bei der gedolmetschten Kommunikation jedoch ebenso wie bei monolingualen Gesprächen (vgl. Kap. 2.1). Zudem fällt Labovs (1972) Einwand gegen Videoaufzeichnungen aufgrund des Beobachterparadoxons bei gedolmetschten Gesprächen vermutlich noch weniger ins Gewicht als in monolingualen Gesprächen. Dies aus folgenden Gründen: Den Dolmetscher: innen bleibt aufgrund der kognitiven Belastung kaum Zeit, den für Beobachter: innen interessanten Verhaltensweisen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sie sind bis an die Grenzen ihrer Kapazität ausgelastet (vgl. Gile, 2009). Die Dolmetscher: innen haben sich auf den Wortfindungsprozess, auf die Wiedergabe von (Fach-)Inhalten mit der entsprechenden Terminologie sowie von logischen Zusammenhängen aus dem Gedächtnis zu konzentrieren. Fallweise müssen sie ausserdem multimodale Phänomene wie Blickkontakte, Gestik, Körperbewegungen und paraverbale Signale von beiden Gesprächsparteien in den Sprachentransfer einbeziehen (Ahrens, 1998, 2015). Abgesehen davon wissen die Dolmetscher: innen kaum, welche Verhaltensweisen für die Beobachter: innen aussagekräftig sind und welche Verhaltensweisen überhaupt erwünscht wären, und schliesslich haben die Analysierenden Aspekte im Blick, die von den Beteiligten kaum gesteuert werden können, wie zum Beispiel der Mechanismus des Sprecherwechsels, die Umsetzung des fachlichen Wissens in die Zielsprache, die Augenkommunikation und die Gestik aller Beteiligten beziehungsweise die Reproduktion von Gesten durch die Dolmetscher: innen. 86 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="87"?> Erst anhand von Videoaufzeichnungen können die körperlichen Ressourcen im Zusammenhang mit den Redebeiträgen beschrieben werden. Ebenso wird die Zuordnung von Redebeiträgen deutlich, wenn die Beteiligten zu sehen sind. So lässt sich zweifelsfrei erkennen, wer mit wem spricht, wer sich wem zuwendet und wer wessen Ansicht zum Beispiel mit Nicken zustimmt. In letzter Zeit hat sich das Interesse an multimodalen Ressourcen bei einigen Dolmetschwissenschaftler: innen verstärkt (vgl. u. a. Davitti & Pasquandrea, 2017; Davitti & Pasquandrea, 2013; Hofer, 2019; Hofer et al., 2017; Krystallidou, 2014; Mason, 2012; Pasquandrea, 2011, 2012; Ticca, 2017; Vranjes et al., 2018a). 3.5.2 Aspekte der Räumlichkeit und der Sitzpositionen der Beteiligten Die Situation des Raumes, wie sie in Kapitel 2.2 aus der Sicht der Gesprächsforschung beschrieben wurde, gibt den Rahmen für die Sitzposition der Expert: innen, der Patient: innen und der Dolmetscher: innen. Die Bedeutung des Raumes wird in der Dolmetschwissenschaft bis heute noch seltener thematisiert, als dies Hausendorf (2010) für die Gesprächsforschung schildert. Am ehesten wird die Positionierung der Beteiligten diskutiert. Für die Dolmetscher: innen ist in der Praxis trotz der Bedeutung der Sitzposition in der Regel kein besonderer Ort vorgesehen. Dabei hängt von der Räumlichkeit ab, wie die Beteiligten sich positionieren (Expert: innen) oder positioniert werden (Patient: innen und Dolmetscher: innen) und was die Beteiligten wahrnehmen können (vgl. Hausendorf, 2013). Durch die Konstellation im Raum wird erkennbar, was an gegenseitiger visueller Zugänglichkeit möglich ist und was nicht. Die räumliche Positionierung ist für die Dolmetscher: innen insofern von Belang, als sie mit beiden Gesprächsparteien interagieren und auf beide eine gute Sicht erforderlich ist. Grundsätzliche Überlegungen zur Sitzposition finden sich im Rahmen von Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräch nur selten in der Dolmetschforschung. Die Dolmetschwissenschaftlerin Pokorn (2015) weist darauf hin, dass die Sitzordnung im Spital vor allem der spezifischen räumlichen Situation angepasst werden muss und weniger systematisch von Vorgaben abhängig gemacht werden kann (Pokorn, 2015, p. 313). Eine etablierte Norm, der allgemein gefolgt wird, existiert nicht. In den Behandlungsräumen stehen oft zwei Besucherstühle bereit, die für die Patient: innen und eine Begleitperson vorgesehen sind. Der zweite Stuhl kann von Dolmetscher: innen benutzt werden. 38 In der Fachliteratur gilt bei gedolmetschten Interaktionen das Dreieck als gute Lösung (Pokorn, 2015, p. 313). Eine solche Anordnung gibt den Patient: innen die Möglichkeit, ihre medizinische Ansprechperson und die Dolmetscher: innen direkt anschauen zu können, ohne den Kopf wenden zu müssen. Ebenso erlaubt das Dreieck den Dolmetscher: innen und den Expert: innen einen guten Sichtkontakt zu allen Beteiligten. Die Dolmetscher: innen müssen mit den primären Gesprächsparteien in Blickkontakt sein, um die Redebeiträge akustisch gut zu verstehen, Gesten wahrzunehmen und darauf reagieren zu können (vgl. Ahrens, 2015, p. 37). Ein guter visueller Zugang zu den Patient: innen sowie zu den Expert: innen ist eine entscheidende Voraussetzung für eine adäquate Dolmetschleistung (vgl. 38 In der Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation kann es durchaus sein, dass die Patient: innen von einer ihnen vertrauten Person begleitet wird, d. h. es können insgesamt auch vier Personen anwesend sein. 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft 87 <?page no="88"?> Tebble, 2012, p. 36). Ebenso sind Dolmetscher: innen auf guten Sichtkontakt auf die in der Interaktion verwendeten Dokumente angewiesen, zum Beispiel eine Tabelle mit Laborwerten o. ä., falls sie Kommentare dazu dolmetschen müssen. Ausserdem sollten die Dolmetscher: innen für die Notizennahme eine Fläche zum Schreiben nutzen können. Von Psychotherapeut: innen wird in verschiedenen Publikationen ebenfalls eine Sitzordnung im Dreieck vorgeschlagen (vgl. Knaevelsrud et al., 2012; Morina et al., 2010). Morina et al. (2010) plädieren für die Bildung einer Hauptachse zwischen Patient: innen und Therapeut: innen. Die Dolmetscher: innen sitzen zwischen diesen beiden, aber etwas ausserhalb dieser Achse, so dass aufgrund der Sitzordnung klar wird, dass Patient: innen und Therapeut: innen die beiden primären Gesprächsparteien sind (Morina et al., 2010, p. 109). Auch Mediziner: innen äussern sich zur räumlichen Positionierung in gedolmetschten Konsultationen: „ The spatial arrangement of the chairs could facilitate the necessary informative exchange. “ (Fatahi et al., 2008, p. 43) 3.5.3 Multimodalität als Forschungsgegenstand in der Dolmetschwissenschaft Im Rahmen der gedolmetschten Kommunikation werden neben den sprachlichen Redebeiträgen die multimodalen und die paraverbalen Praktiken beobachtet, wie das bereits für die monolingualen Gespräche beschrieben wurde (vgl. Kap. 2.3.1). Dolmetschwissenschaftliche Studien sind häufig auf die Analyse sprachlicher Handlungen beschränkt, obwohl etwa die Augenkommunikation bereits seit den 1960er-Jahren als Forschungsgebiet Bedeutung erlangt hat (vgl. Kendon, 1967). Verschiedene Formen des multimodalen Verhaltens wurden in der Dolmetschwissenschaft, in der Kommunikationswissenschaft (z. B. Ahrens, 1998; Argyle & Cook, 1976; Poyatos, 1997) sowie in der medizinischen Gesprächsforschung (vgl. Byrne & Heath, 1980) zwar schon mehrfach als bedeutsam für die Verständigung erkannt, aber in der Dolmetschwissenschaft wurden die körperlichen Ressourcen wie die Körperorientierung, Blickkontakte, Gesten sowie Backchannel-Signale über längere Zeit kaum beachtet. Erst mit den technischen Entwicklungen und Neuerungen der letzten zwei Jahrzehnte wurde das Forschungsfeld der multimodalen Interaktionsanalyse neu belebt. Beobachtungen zu Körperorientierung, Blickverhalten und Gestik sind in der Dolmetschforschung allerdings nur schon deshalb verhältnismässig selten Gegenstand der Untersuchung (vgl. Dal Fovo & Niemants, 2015, p. 3; Mason, 2012, p. 177), weil die Forscher: innen keine Erlaubnis für Videoaufzeichnungen erhalten und die multimodalen Ressourcen aufgrund von fehlenden Videoaufzeichnungen nicht dokumentiert werden können. Gerade im Gesundheitswesen berichten Autor: innen, dass ihnen der Zugang zu authentischen gedolmetschten Interaktionen verwehrt wurde. So stützen sich Merlini/ Favaron (2003) in ihrer Untersuchung von 32 gedolmetschten medizinischen Interaktionen in australischen Spitälern auf ihre Notizen sowie auf Gespräche mit den Dolmetscher: innen im Anschluss an die Konsultationen, da die Videoaufzeichnung der Gespräche aus Gründen des Datenschutzes abgelehnt wurde (Merlini & Favaron, 2003, p. 215, vgl. u. a. auch Mason, 2012, p. 180). 39 Der Rhetoriktrainer für Konferenzdolmetscher: innen Felgner (2017) inszeniert für 39 Die langwierigen Bemühungen um Videoaufnahmen im KTI-Projekt für die vorliegende Untersuchung bestätigen die Erfahrungen der oben zitierten Autor: innen. 88 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="89"?> die Untersuchung von multimodaler Kommunikation Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche mit Studierenden und Expert: innen, da er keinen Zugang zu authentischen Gesprächen erhielt (Felgner, 2017, p. 253). 40 Immerhin ist der Umfang der empirischen Studien, die multimodale Ressourcen anhand von authentischen Daten in die Analysen einbeziehen, in den letzten Jahren gestiegen (vgl. Bot, 2005a; Davitti & Pasquandrea, 2013; Hofer, 2019; Hofer et al., 2017; Krystallidou, 2014; Mason, 2012; Pasquandrea, 2011, 2012; Vranjes et al., 2018a). Im Folgenden werden einige zentrale Ergebnisse von gesprächsanalytisch geprägten Publikationen dargestellt, um den Forschungsstand abzubilden. Multimodale Analysen von gedolmetschten Interaktionen im medizinischen Bereich gibt es in verschiedenen Ländern. In der Gesprächsforschung werden im von Menz (2013c) herausgegebenen Sammelband (Menz, 2013c) Videoaufzeichnungen aus der Kopfschmerzambulanz der Wiener Universitätsklinik für Neurologie untersucht. Darin enthalten sind die Beiträge von Sator (2013) und Sator/ Gülich (2013). 41 Sator (2013) und Sator/ Gülich (2013) zeigen in ihren Sequenzanalysen von gedolmetschten Interaktionen auf, dass Körperorientierungen der Beteiligten während eines Redebeitrags je nach Kommunikationssituation wechseln und die Blicke zwischen den Beteiligten während des Sprechens hin- und herschweifen. Der Wechsel der Körperorientierung, der Kopfbewegungen und der Blickrichtung zeigen an, wer jeweils die Adressat: innen sind, wer an der Interaktion beteiligt wird und wer nicht. Sator (2013) hebt die Bedeutung des multimodalen Zusammenspiels von drei Beteiligten in gedolmetschten Gesprächen hervor: Insgesamt machen die Mikroanalysen der Videoaufnahmen deutlich, dass die Interaktionsbeteiligung das Ergebnis eines gemeinsamen multimodalen komplexen Zusammenspiels aller drei Beteiligten ist. Monokausale Erklärungen, die die Ursache für die problematische Interaktion ausschliesslich dem Kommunikationsverhalten eines Beteiligten zuschreiben, greifen zu kurz und werden der multimodalen interaktiven Herstellung nicht gerecht. (Sator, 2013, p. 82) Die Koordination der multimodalen Ressourcen der Beteiligten mit den sprachlichen Ausdrucksformen in der gedolmetschten medizinischen Kommunikation wird von mehreren Autor: innen im Rahmen von verschiedenen Fragestellungen bearbeitet. Zu diesen Autor: innen gehören in erster Linie Pasquandrea (2011, 2012), Davitti/ Pasquandrea (2013), Krystallidou (2014) und Vranjes et al. (2018a). 42 Die Autor: innen analysieren eine unterschiedliche Anzahl von Gesprächsausschnitten in verschiedenen Settings des Gesundheitswesens. Beobachtet werden in unterschiedlichem Mass die Verhaltensweisen der Expert: innen und der Dolmetscher: innen. Die Patient: innen sind mit Ausnahme der Untersuchung von Vranjes et al. (2018a) selten als eigenständig Handelnde im Fokus. 40 Die Beteiligten sind Studierende im Masterstudiengang an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Expert: innen aus dem Gesundheitswesen. 41 Sator (2013) und Sator/ Gülich (2013) untersuchen gedolmetschte Gespräche an der Schnittstelle der Gesprächsforschung und der medizinischen Kommunikation. 42 Die Autor: innen Pasquandrea (2011, 2012) sowie Davitti/ Pasquandrea (2013) arbeiten mit Daten aus italienischen Kliniken, Krystallidou (2014) präsentiert Ausschnitte aus Gesprächen aus einem Spital in Belgien und Vranjes et al. (2018a) diskutiert Aufzeichnungen, die aus einer psychiatrischen Klinik in den Niederlanden stammen. 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft 89 <?page no="90"?> Pasquandrea (2011) analysiert Gesprächsausschnitte aus drei gynäkologischen Konsultationen mit drei verschiedenen Expert: innen und drei pädiatrischen Konsultationen mit denselben Expert: innen und einer Pflegefachfrau. Die Dolmetscherin ist in diesen Gesprächen ebenfalls dieselbe. Die Patientinnen sind Chinesinnen. Pasquandrea (2011) beobachtet, dass sich die Expert: innen mit multimodalen Ressourcen, d. h. mit Blickkontakten, Gesten und Körperhaltungen am laufenden Gespräch beteiligen (Pasquandrea, 2011, p. 476). Die Expert: innen arbeiten häufig mit dieser Dolmetscherin zusammen, so dass ein Vertrauensverhältnis zwischen ihnen besteht. Sie überlassen der Dolmetscherin verschiedene Aufgaben, die über das Dolmetschen hinausgehen: „ [ … ] asking for additional information; giving or asking advice about the treatment recommended by the doctor; expanding a turn in order to clarify what the doctor said; or starting „ small talk “ about mundane and private topics. “ (Pasquandrea, 2011, p. 458) Pasquandrea (2012) analysiert in seinem Beitrag „ Co-constructing Dyadic Sequences in Healthcare Interpreting: a multimodal account “ ebenfalls anhand von drei Konsultationen in der Gynäkologie und drei Konsultationen in der Pädiatrie das multimodale Verhalten der Expert: innen in Zwiegesprächen (vgl. Kap. 3.4.2). Die Expert: innen intervenieren kaum verbal, haben aber Blickkontakt mit den jeweiligen Sprecher: innen, um das Gespräch zu monitoren (Pasquandrea, 2012, p. 150), oder sie nicken, um ihr Einverständnis zu signalisieren (Pasquandrea, 2012, p. 143). Davitti/ Pasquandrea (2013) untersuchen multimodale Handlungen in Kombination mit verbalen Handlungen in vier Gesprächsausschnitten aus verschiedenen gedolmetschten Gesprächen. 43 Zwei Gespräche finden im medizinischen Setting zwischen chinesischen Patient: innen und italienischen Ärzt: innen statt. 44 Die beiden Beispiele zeigen uneinheitliche Verhaltensweisen der Dolmetscherin. Eine der Patient: innen wird aus der Interaktion ausgeschlossen, die andere einbezogen. Im einen Gespräch positioniert sich die Dolmetscherin auf der Seite der Ärztin. Die Dolmetscherin signalisiert ihre Haltung verbal sowie durch Blickabwendungen von der Patientin und hindert sie durch ihr Verhalten daran, ihre Anliegen vorzubringen (Davitti & Pasquandrea, 2013, p. 13). Im zweiten Gespräch unterstützt dieselbe Dolmetscherin die Patientin mit Zusatzerklärungen. Sie ist in Blickkontakt mit der Patientin, während sich die Ärztin in dieser Zeit ihrer Arbeit am Computer widmet. Die Dolmetscherin hat sich der Patientin zugewendet und richtet den Blick auf sie. Damit übernimmt sie gegenüber der Patientin eine unterstützende Funktion: In this section, we have shown how interpreters ’ participation may play a positive role in the interaction and empower AMs 45 , by adding required and necessary information, facilitating understanding and, more broadly, acting as coordinators and intercultural mediators; such a role is achieved both by verbal and non-verbal resources, e. g. by the use of gaze and body orientation [ … ]. (Davitti & Pasquandrea, 2013, p. 23) Krystallidou (2014) untersucht ebenfalls die Bedeutung von Körperorientierung und Blickkontakt im Hinblick auf den Einbezug beziehungsweise den Ausschluss von Betei- 43 Davitti/ Pasquandrea (2013) bearbeiten teilweise dasselbe Datenmaterial wie Pasquandrea (2011, 2012). 44 Die anderen zwei Gespräche handeln von Schwierigkeiten von Kindern, die erst seit kurzem in Italien wohnen und sich in das italienische Schulsystem integrieren müssen. 45 „ AMs “ sind generell adults in mobility, unabhängig davon, ob es sich um Beteiligte in einem gedolmetschten Gespräch im Gesundheits- oder im Bildungswesen handelt (Erklärung GH). 90 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="91"?> ligten in gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen. Anhand ihrer Textauszüge und ihres Bildmaterials kann sie zeigen, dass die Körperorientierung sowie Blickkontakte die Interaktionen über die verbalen Handlungen hinaus deutlich beeinflussen. Sie beobachtet mehrfach, dass die Dolmetscher: innen in erster Linie die Patient: innen mit ihrem Blick in die Interaktion einbeziehen (Krystallidou, 2014, p. 413). Vranjes et al. (2018a) untersuchen mit dem Einsatz von eye-tracking-Brillen sowohl das Blickverhalten als auch die Backchannel-Signale des Therapeuten, des Patienten sowie der Dolmetscherin während einer psychotherapeutischen Sitzung. Diese Studie ist bisher die einzige, in der mit Hilfe der eye-tracking-Methode sprachliche und körperliche Musterhaftigkeiten in gedolmetschten Gesprächen statistisch ausgewertet werden. In der von Vranjes et al. (2018a) analysierten Interaktion zeigt sich, dass der Therapeut beim Sprechen mehrheitlich zum Patienten schaut (Vranjes et al., 2018a, p. 314). Die Blicke zur Dolmetscherin hin sind deutlich seltener. Die quantitative Verteilung über das Gespräch hinweg beträgt 66 % gegenüber 14 %. Damit wird der Patient zum hauptsächlichen Rezipienten, wie dies bereits Bot (2005b) in den Analysen ihrer psychotherapeutischen Gespräche festgestellt hat (2005b, p. 140). Der Therapeut behält jedoch den Kontakt auch zur Dolmetscherin aufrecht, indem er seinen Blick regelmässig zu ihr führt, wenn der Patient spricht. Der Patient tendiert zu Blickabwendungen, wenn der Therapeut spricht. Die interaktive Ausrichtung des Patienten liegt deutlicher bei der Dolmetscherin. Als Tendenz beschreiben Vranjes et al. (2018a), dass der Patient seinen Blick während der Verdolmetschung ins Niederländische mehr auf die Dolmetscherin richtet als auf den Therapeuten, obwohl er die Sprache (Niederländisch) nicht versteht. Vranjes et al. (2018a) kommen zum Schluss, dass der Patient die Dolmetscherin durch Blickkontakte als Gesprächspartei und als seine eigentliche Ansprechperson behandelt (Vranjes et al., 2018a, p. 317). Die Dolmetscherin richtet sich wie der Therapeut deutlicher auf den Patienten aus als auf den Therapeuten (Vranjes et al., 2018a, p. 317), ein Resultat, das Bots (Bot, 2005b) Beobachtungen widerspricht. Die Dolmetscherin wendet den Blick zum Zeitpunkt der Turn-Beendigungen zu 76 % dem Patienten zu, obwohl meist der Therapeut den nächsten Turn übernimmt. Während des Redebeitrags des Therapeuten schweift ihr Blick in regelmässigen Abständen zum Patienten zurück. Vranjes et al. (2018a) beobachten neben den Blickkontakten einerseits verbale Backchannel-Signale (etwa „ mhm “ , „ yeah “ , „ okay “ ) und andererseits körperliche Rückmeldeverfahren der Beteiligten (zum Beispiel Nicken). Als musterhaftes Charakteristikum registrieren sie, dass sprachfreie Backchannel-Signale mit sprachlichen Handlungen synchron auftreten (Vranjes et al., 2018a, p. 316). Die Ergebnisse in den verschiedenen Studien zeigen multimodales Verhalten der Beteiligten. Davitti/ Pasquandrea (2013) zeigen das Zusammenspiel von sprachlichen und körperlichen Ressourcen in verschiedenen Gesprächen. Obwohl die Vergleichbarkeit der verschiedenen Autor: innen und im Rahmen von unterschiedlichen Gesprächssituationen, Schwerpunkten, Methoden und Standbildern eingeschränkt ist, illustrieren die fünf Publikationen zum Teil Gemeinsamkeiten im Verhalten bei Zwiegesprächen sowie in der Verwendung der multimodalen Ressourcen: • Bei Zwiegesprächen zwischen Dolmetscher: innen und Patient: innen verlangen die Expert: innen keine nachträgliche Verdolmetschung (Davitti & Pasquandrea, 2013; Pasquandrea, 2011, 2012). 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft 91 <?page no="92"?> • Die Dolmetscher: innen verhalten sich mit körperlichen Ressourcen in allen Gesprächen als Beteiligte der Interaktion (vgl. alle fünf Publikationen). • Die Autor: innen legen in ihren Untersuchungen besonderes Gewicht auf das Blickverhalten (vgl. alle fünf Publikationen). • Die Dolmetscher: innen richten den Blick vermehrt auf die Patient: innen (Krystallidou, 2014; Vranjes et al., 2018a). In den oben skizzierten Studien nimmt die Gestik wenig Raum ein. 46 Bei der körperlichen Nähe kann gestisches Verhalten von den Beteiligten an sich gut wahrgenommen werden. Allerdings besteht in der gedolmetschten Kommunikation die Schwierigkeit der zeitlichen Versetzung. Die Dolmetscher: innen können die Gesten der Patient: innen und der Expert: innen „ simultan “ wahrnehmen und sie als Informationsquelle nutzen, während die Expert: innen sich vielleicht weniger auf die Bewegungen der Patient: innen konzentrieren, da sie ihre Aufmerksamkeit zwischen den Patient: innen und den Dolmetscher: innen aufsplitten müssen. Ob die Expert: innen die Gesten der Dolmetscher: innen den Patient: innen beziehungsweise den Dolmetscher: innen zuordnen können, ist ungewiss, da im schnellen Verlauf der Interaktion nicht unbedingt festzustellen ist, ob die Dolmetscher: innen die Gestik der Patient: innen reproduzieren oder ob sie die Gesten ihren eigenen Formulierungen in der Zielsprache anpassen. Immerhin gibt es zum Verhalten der Gesprächsdolmetscher: innen eine Norm. In der ISO- Norm (ISO 13611 2014) wird der Dolmetscher zwar als „ language professional “ definiert, „ who conveys a message produced in a source language, be it spoken or signed, into a target language, spoken or signed, in real time, and whose task is to convey every element of the message. “ In der Anmerkung 1 zu diesem Passus findet sich eine „ Kann-Präzisierung “ zu diesen Bestandteilen der Botschaft: „ Elements of a message can include content, intention, form, gist, gesture, pauses, silences, tone, etc. “ (ISO 13611 2014: 2.3.2). In ihrer Arbeit zum Gerichtsdolmetschen hält Kinnunen (2017) die Forderung nach der Wiedergabe von Gesten jedoch für unvereinbar mit den heute gängigen Auffassungen des Gesprächsdolmetschens, nach denen die Dolmetscher: innen nicht alles roboterartig wiedergeben, sondern als am Gespräch Beteiligte und als Koordinator: innen von Interaktionen gesehen werden (Kinnunen, 2017, p. 48). Ein Blick in die zu diesem Thema spärliche Literatur gibt einen vorläufigen Eindruck über das gestische Verhalten von Dolmetscher: innen. In einer Publikation zum Simultandolmetschen von Adam/ Castro (2013) 47 wird anhand einer quantitativen Auswertung der Daten festgestellt, dass die Konferenzdolmetscher: innen am häufigsten Schlaggesten benutzen, mit denen sie Inhalte relevant setzen. Ausserdem fällt den Autor: innen in ihrem Datenmaterial die Verwendung von so genannten Butterworth-Gesten auf, die den Wortfindungsprozess der Dolmetscher: innen begleiten (vgl. Kap. 2.3.2). 48 46 Zur Koordination von verschiedenen Ausdrucksebenen vgl. Kap. 2.3.2. 47 Es handelt sich in dieser Publikation um die Auswertung von experimentellen Daten; die Dolmetscher: innen sind angehende Konferenzdolmetscher: innen, die eine Rede aus dem Spanischen ins Deutsche dolmetschen. Die Dolmetscher: innen in dieser Studie reproduzieren die Gestik der Redner: innen nicht. 48 Auf die Bedeutung von Gesten zur Unterstützung des Wortfindungsprozesses beim Gesprächsdolmetschen weisen in der Dolmetschliteratur Driesen/ Petersen (2011) hin. Sie beziehen sich auf das Gerichtsdolmetschen, aber die nicht-gerichtsspezifischen Beobachtungen zum Dolmetschen können auch auf das Gesprächsdolmetschen im Allgemeinen übertragen werden. 92 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="93"?> Gerade in der gedolmetschten Kommunikation, in der die Unsicherheiten in der verbalen Verständigung bei den Expert: innen Skepsis hervorrufen können, ob sie die Patient: innen richtig verstanden haben, könnten multimodale Anteile und insbesondere Gesten die Erkennung von Verstehensproblemen ermöglichen. Wenn zum Beispiel Gesten der Patient: innen darauf hinweisen, dass die Verdolmetschungen den Äusserungen der Patient: innen nicht entsprechen, dann könnten Nachfragen zur Lösung beitragen, wie dies die Psychologen Martin & DiMatteo (2013) betonen: „ [ … ] sensitivity to nonverbal cues should always be coupled with the skill of tactful inquiry and an openness to fully hear the patient ’ s experience. “ (Martin & DiMatteo, 2013, p. 844) Bisher kaum untersucht wurden im Bereich des Gesprächsdolmetschens paraverbale Komponenten, u. a. die sprachunabhängigen Merkmale wie die Lautstärke oder das Sprechtempo (Blumenthal, 2016, p. 86). Ebenso ist die Mimik ein Phänomen, das in der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Interaktion m. W. bisher kaum thematisiert wurde. 49 In der medizinischen Forschung sind in erster Linie die Arbeiten von Bot (Bot, 2005a, 2005b) zu nennen. Sie bedauert, dass Analysen anhand von Videoaufzeichnungen in der Psychiatrie immer noch selten sind: Even after the relative explosion of empirical research on interpreting in the medical and judicial field since the 1990s, empirical research, especially research based on recorded sessions, in interpreting in mental health is still very rare. (Bot, 2015, p. 255) Zusätzlich zur Untersuchung von verbalen Problemen thematisiert sie die Besonderheiten der Blickkontakte und der Gesten beim Sprecherwechsel. Die Dolmetscher: innen schauen beim Sprechen ihre Zuhörer: innen an und diejenigen, die sie adressieren. Bot (2005b) zeigt, dass Goodwins (1980) Beobachtungen für gedolmetschte Gespräche nicht unbedingt zutreffen (vgl. Kap. 2.3.2). Im Unterschied zu seinen Regeln richten die Therapeut: innen den Blick auf die Patient: innen und nicht auf die Dolmetscher: innen, die am Sprechen sind. Ein Ergebnis, das mit den Beobachtungen von Vranjes et al. (Vranjes et al., 2018a) übereinstimmt. Ebenfalls im Gegensatz zu Goodwins (1980) Regeln zeigt Bot (2005b) in einer der Konsultationen, dass der Patient den Blick auf den Therapeuten richtet, wenn der Dolmetscher spricht. Auffällig ist für Bot (2005b) die Abwesenheit von Gesten beim Sprecherwechsel: „ Gestures do not seem to play an active role in turn transfer. They are used indicatively. Remarkably all participants have their hands in their laps at the moments of turn transfer. “ (Bot, 2005b, p. 137) Neben Bot (2005b) liegen weitere Analysen von Videoaufzeichnungen aus verschiedenen medizinischen Bereichen vor (vgl. Aranguri et al., 2006; Rivadeneyra et al., 2000; Seale et al., 2013). Die Schwerpunkte liegen bei diesen Publikationen jedoch auf der Adäquatheit des Dolmetschens, also auf der Verbalität. In der Regel sind für Expert: innen aus dem Gesundheitswesen die Genauigkeit und die Vollständigkeit der Verdolmetschungen bedeutsam, während multimodale Faktoren kaum untersucht werden (vgl. Kap. 2.4). So bleiben Aspekte wie Körperorientierung, Kopfbewegungen, Blickkontakte und Gestik vorwiegend Themen in Publikationen über monolinguale Ärzt: innen-Patient: innen-Ge- 49 Eine Ausnahme stellt die bereits genannte Untersuchung von Felgner (2017) dar. 3.5 Methoden der linguistischen Gesprächsanalyse in der Dolmetschwissenschaft 93 <?page no="94"?> spräche, die von Nicht-Mediziner: innen verfasst wurden (vgl. z. B. Greatbatch, 2006; Heath, 1984). 3.6 Merkmale der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen- Kommunikation Die in Kapitel 2.4 umrissenen Besonderheiten und Problemquellen in den Ärzt: innen- Patient: innen-Gesprächen bleiben in der gedolmetschten Form der Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation bestehen. Das gedolmetschte Gespräch unterscheidet sich jedoch durch die Anwesenheit von Dolmetscher: innen und durch die bilinguale Situation deutlich von einer monolingualen Interaktion. Patient: innen und Expert: innen sind bei einer gedolmetschten Konsultation in einem „ indirekten “ Austausch miteinander: Die Dolmetscher: innen geben das wieder, was sie verstanden, im Gedächtnis gespeichert oder auf einem Schreibblock notiert haben (Ahrens, 2016, p. 86). Die Expert: innen sowie die Patient: innen müssen sich auf die Verdolmetschungen verlassen. 50 Während es den Beteiligten eines Gesprächs in monolingualen Interaktionen durchaus möglich ist, direkt nachzufragen ( „ Wie soll ich das verstehen? “ ) oder Einwände geltend zu machen ( „ Das habe ich nicht so gemeint “ ), ist die Situation in gedolmetschten Gesprächen durch die zeitliche Versetztheit komplexer, da alle Fragen oder Einwände erst gedolmetscht werden müssen, bevor auf sie eingegangen werden kann. Diese Verzögerung hat zur Folge, dass je nach Länge der Redebeiträge „ die Repliken nicht in einem zeitlich nahen Kontext gegeben werden. “ (Kleinberger Günther, 2005, p. 80) Solche Verzögerungen kommen gelegentlich auch in monolingualen Gesprächen vor, zum Beispiel in der „ Softkommunikation “ , wie Kleinberger Günther (2005) beschreibt. Die Verzögerungen sind in der gedolmetschten Kommunikation allerdings die Regel, was die Verständigung in den gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen grundsätzlich belastet (vgl. Kap. 3.2). Verstehensprobleme ergeben sich infolge von inadäquaten Verdolmetschungen, von ungleichen Wissensvoraussetzungen der Beteiligten sowie infolge von uneinheitlichen, oft widersprüchlichen Ansichten zu den Aufgaben der Dolmetscher: innen. 3.6.1 Inhaltliche Divergenzen Inhaltliche Divergenzen zwischen den ausgangssprachlichen und den zielsprachlichen Redebeiträgen in der Ärzt: innen-Patient-innen-Kommunikation können gravierende kommunikative Schwierigkeiten auslösen. „ Gedolmetschte Kommunikation bedeutet grundsätzlich eine Veränderung “ , schreibt Kalina (2011, p. 165). Ausgangssprachliche und zielsprachliche Äusserungen unterscheiden sich auf jeden Fall in der sprachlichen Form und bei jedem Transfer ist kaum mehr als eine „ möglichst grosse inhaltliche Ähnlichkeit zum Original “ zu erhoffen (Macheiner, 1995, p. 18). Die Qualität des Dolmetschprodukts wird an 50 Bei Albanisch oder Türkisch fallen die Verstehensprobleme deutlich mehr ins Gewicht als bei Sprachen wie Englisch, Französisch oder Italienisch, bei denen auch in Fällen, in denen zum Zwecke einer optimalen Verständigung Dolmetscher: innen hinzugezogen werden, häufig mindestens Bruchstücke verstanden werden. Es gibt mittlerweile Expert: innen, die Albanisch oder Türkisch sprechen, aber in den vorliegenden Gesprächen ist dies nicht der Fall. 94 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="95"?> der bestehenden beziehungsweise der fehlenden Übereinstimmung zwischen dem Original und der Verdolmetschung gemessen. Die fehlende Übereinstimmung lässt sich im laufenden Gespräch nicht leicht feststellen. Zwar können die Expert: innen im laufenden Gespräch wahrnehmen, dass die Interaktion stockt oder die Zusammenhänge unklar sind. Aber wenn sie die originalen Redebeiträge der Patient: innen nicht verstehen, können sie kaum erkennen, warum die Kommunikation ins Stocken gerät und wer dafür verantwortlich ist. Gedolmetschte Konsultationen sind auch für die Expert: innen eine Herausforderung: In verschiedenen Studien wird bei allen Unterschieden der Schwerpunkte deutlich, dass Expert: innen gedolmetschte Gespräche immer wieder als problematisch empfinden. Wenn die Expert: innen zum Bespiel auf ihre Fragen keine stimmige Antworten erhalten, wäre erst anhand der Transkripte erkennbar, worauf die Verständigungsprobleme zurückzuführen sind. Aber Gespräche werden lediglich in seltenen Fällen transkribiert. Zur Erforschung von inhaltlichen Divergenzen anhand von authentischen Gesprächen hat Bot (2009) wesentlich beigetragen. Sie beschreibt in ihrem Beitrag „ Role models in Mental Health Interpreting “ , dass 10 - 40 % der Redezüge in den von ihr untersuchten psychotherapeutischen Gruppengesprächen abweichend gedolmetscht wurden. Dabei beobachtet sie drei verschiedene Varianten in den Reaktionen der Therapeut: innen: 1. Die Abweichungen zwischen den ausgangssprachlichen und den zielsprachlichen Äusserungen werden von den Therapeut: innen registriert, haben aber nach ihren Einschätzungen keine negativen Auswirkungen. Die ausbleibenden Reaktionen auf Abweichungen von ausgangssprachlichen Redebeiträgen werden mit der knapp bemessenen Zeit für die Konsultationen erklärt: „ [ … ] in order to keep the communication going, one cannot dwell on every misunderstanding. “ (Bot, 2009, p. 123) 2. Die Abweichungen werden von den Therapeut: innen nicht registriert, wenn die Verdolmetschungen sprachlich adäquat sind. Erst beim Interlingualvergleich zeigt sich, dass die Inhalte nicht korrespondieren. Die Abweichungen bleiben insbesondere unentdeckt, wenn sie systematisch wiederholt werden (Bot, 2009, p. 123). 3. Die Abweichungen werden zwar nicht registriert, aber die Therapeut: innen vermuten Kommunikationsprobleme aufgrund der Verdolmetschung. Auf inadäquates Dolmetschen deuten zum Beispiel Reformulierungen von Fragen oder Rückfragen. Manchmal stellt sich später im Gespräch heraus, dass die Vermutungen der Therapeut: innen zutrafen (Bot, 2009, p. 124). Bereits in ihrer Dissertation legte Bot (2005b) ihr besonderes Augenmerk auf Divergenzen, die im Gespräch unbemerkt bleiben, aber anhand der Transkripte als solche erkannt werden: „ I focus on divergent renditions and describe situations in which they go ‚ unnoticed ‘ by the participants. “ (Bot, 2005b, p. 109) In solchen Situationen empfinden die Therapeut: innen ihrer Einschätzung nach verschiedentlich ein diffuses Missbehagen: „ [ … ] I have the impression from the behaviour of the primary speakers that they must have a ‚ hunch ‘ that something ‚ is not quite right ‘ . “ (Bot, 2005b, p. 109) 51 Dieser vage Eindruck ist 51 Solche diffusen Gefühle des Zweifels an den Dolmetschleistungen waren der Hauptgrund für die Zusammenarbeit der Universitätsspitäler Basel, Zürich und Bern mit dem Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften), die in das KTI- Projekt mündete (vgl. Kap. 1.1). 3.6 Merkmale der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation 95 <?page no="96"?> für Therapeut: innen offenbar kein Grund, den Details nachzugehen und präzise Fragen zu stellen. Sie berichten Bot (2005b), dass sie sich in einer gedolmetschten Interaktion für den Gesprächsverlauf nicht allein verantwortlich fühlen (Bot, 2005b, p. 111). Seit Jahren gibt es abgesehen von Bot (Bot, 2005a, 2005b, 2009) immer wieder Expert: innen, die den Ursachen der Verstehensprobleme auf den Grund gehen wollen und gedolmetschte Interaktionen dem interlingualen Vergleich unterziehen, selbst wenn die Herstellung von Transkripten einen hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand bedeutet. 52 Die klinisch tätigen Psychiater: innen Vásquez/ Javier (1991) untersuchen zwei Gespräche aus der Psychiatrie anhand der fünf Kriterien „ omission “ ( „ Auslassung “ ), „ addition “ ( „ Hinzufügung “ ) „ condensation “ ( „ Zusammenfassung “ ) „ substitution “ ( „ Substitutionen “ ) und „ role exchange “ ( „ Rollenwechsel “ ) (Vasquez & Javier, 1991, p. 164). 53 Sie weisen in ihren Analysen auf die Konsequenzen der Veränderungen oder Modifikationen hin. Die Inadäquatheit von Verdolmetschungen thematisiert auch das medizinische Team um Fatahi et al. (2008). Bereits aufgrund der unterschiedlichen Länge kommen bei den Expert: innen Zweifel an der Vollständigkeit der Verdolmetschung auf: „ Sometimes the patient talks for five minutes and it is interpreted in two seconds. “ (Fatahi et al., 2008, p. 41) Bei einigen Forscher: innen aus der Medizin sind Auslassungen im Fokus. Das Team um die Onkologin Butow (2013) ermittelt in 142 gedolmetschten onkologischen Konsultationen eindrückliche Zahlen: „ Fifty percent of doctor and 59 % of patient prognostic speech units were not interpreted or interpreted non-equivalently when an interpreter was present. “ (Butow et al., 2013, p. 246) Der Kinderarzt Flores und sein Team (Flores et al., 2003) finden in der Untersuchung von authentischen Konsultationen einen grossen Anteil an Auslassungen und an selbst-initiierten Formulierungen, die sich u. a. durch fehlende Informationen über bereits vorgenommene medizinische Untersuchungen, durch eine vom Original divergierende Dosierung eines Antibiotikums und durch inadäquate Anweisungen zur Anwendung von Medikamenten von den originalen Redebeiträgen unterscheiden (Flores et al., 2003, p. 6). Laws und seine Forschungsgruppe (2004) verwenden dasselbe Datenmaterial wie Flores et al. (2003) und beklagen ebenfalls die Tatsache, dass in alarmierendem Mass lückenhaft gedolmetscht wird. Sie befürchten, dass die Abweichungen in den Verdolmetschungen mit klinischen Auswirkungen auf die medizinische Versorgung verbunden sein könnten. Sie fordern deshalb eine vertiefte Auseinandersetzung mit gedolmetschen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen „ to understand better, in qualitative terms, the interaction processes and individual behaviors associated with language interpretation. “ (2004, p. 79) 54 Der Kardiologe Aranguri und seine Mitautor: innen (2006) berichten ebenfalls von Auslassungen, unter anderem von beziehungsbildenden Anteilen von small talk: „ Not having a ‚ small talk ‘ to build a relationship decreases the possibilities of developing a ‚ friendly ‘ conversation that can lead to increased interest in learning more about the disease. “ (Aranguri et al., 2006, p. 627) Aranguri et al. (2006) fragen sich zudem, 52 In der Schweiz fehlten bislang sowohl in der Dolmetschwissenschaft als auch in der Medizin Studien, die anhand eines grösseren Korpus authentische gedolmetschte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche untersuchten (vgl. Sleptsova et al., 2012). 53 Die Übersetzungen stammen von GH. 54 In der medizinischen Forschung sind von Flores et al. (2003), Aranguri et al. (2006) sowie Butow et al. (2011b) ähnliche Kriterien für die Beobachtung von authentischen Gesprächen verwendet worden wie in der Dolmetschwissenschaft (vor allem Auslassungen und Hinzufügungen). 96 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="97"?> wer denn letztlich Verantwortung für ein Gespräch hat, wenn die Expert: innen eine Diagnose erstellen, ohne zu wissen, was die Patient: innen genau sagen (Aranguri et al. 2006, p. 628). In verschiedenen medizinischen Studien wurde untersucht, ob Unterschiede in der Qualität des sprachlichen Transfers zwischen so genannten „ professionellen “ (d. h. vom Spital für ihre Leistungen bezahlten) Dolmetscher: innen und ad hoc-Dolmetscher: innen auszumachen seien (vgl. Kap. 3.2.4). Zum Beispiel untersuchten Flores et al. (2003) Leistungen von ad hoc-Dolmetscher: innen und von „ professionellen “ Dolmetscher: innen. Die Dolmetschleistungen der verschiedenen Gruppen unterscheiden sich gemäss dieser Studie zahlenmässig nicht signifikant voneinander, hingegen haben die Modifikationen der ad hoc-Dolmetscher: innen häufiger (77 % gegenüber 53 %) schwerwiegende klinische Konsequenzen (Flores et al., 2003, p. 9). Auf die Unterschiede der Bildungshintergründe der ad hoc-Dolmetscher: innen beziehungsweise der professionellen Dolmetscher: innen wird nicht eingegangen. 55 Butow et al. (2011b) zeigen in einer weiteren Studie, dass Angehörige die Redebeiträge der primären Gesprächsparteien zwar weniger ausgangstextnah wiedergeben, die meisten inadäquaten Verdolmetschungen aber keine negativen Konsequenzen haben. Bei der differenzierten qualitativen Analyse scheint es allerdings einen entscheidenden Unterschied zu geben: Diagnosen und Prognosen bleiben von den Angehörigen tendenziell eher ungedolmetscht als von den „ professionellen “ Dolmetscher: innen (Butow et al., 2011b, p. 2805). 56 Wie die Resultate der oben genannten Untersuchungen zeigen, werden die inhaltlichen Divergenzen zu einem grossen Teil den mangelhaften Kompetenzen der Dolmetscher: innen zugeschrieben. Allerdings sind erschwerende Faktoren für die Arbeit der Dolmetscher: innen zu nennen (vgl. Kap. 3.4.4). Die Dolmetscher: innen stehen im Anschluss an die vorausgehenden Äusserungen der Expert: innen und der Patient: innen in einer Vielfalt von Situationen unter dem steten Druck zu dolmetschen, unabhängig davon, wie schwierig es für sie ist, die Inhalte zu verstehen und adäquat in die Zielsprache zu übertragen, zumal sie bei einem nicht voraussehbaren Gesprächsverlauf flexibel reagieren müssen. Weitere Stressfaktoren sind zudem die mitunter schwer verständlichen Ausdrucksweisen der primären Gesprächsparteien (Kalina, 2011, p. 164) sowie die für die mündliche Kommunikation typische Flüchtigkeit (Kalina, 2011, p. 162). Eine besondere Schwierigkeit stellen dabei die für den mündlichen Charakter typischen Ellipsen, Satzabbrüche und syntaktischen Ungenauigkeiten sowie die koordinativen Aufgaben dar (Tebble, 2012). 3.6.2 Divergierende Wissensvoraussetzungen in der Expert: innen-Laien-Kommunikation Ein spezifisches Charakteristikum in der gedolmetschten Expert: innen-Laien-Kommunikation sind die divergierenden Wissensvoraussetzungen, die bereits in den Ausführungen zum monolingualen Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräch angesprochen wurden (vgl. Kap. 2.4). Die Verstehensprobleme, die im Zusammenhang mit den für die Expert: 55 Einige Autor: innen legen ihren Fokus auf die unterschiedlichen Leistungen von ad hoc arbeitenden und von professionellen Dolmetscher: innen (vgl. z. B. Meyer, 2004; Sator & Gülich, 2013). Die Problematik dieser Unterscheidung besteht darin, dass der Ausdruck „ professionell “ nicht bedeutet, dass die Dolmetscher: innen über eine adäquate Dolmetschausbildung verfügen (siehe Kap. 3.2.4). 56 Bei Butow et al (2011b) waren die ad hoc-Dolmetscher: innen Angehörige der Patient: innen. 3.6 Merkmale der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation 97 <?page no="98"?> innen-Laien-Kommunikation wesentlichen Wissensdivergenzen entstehen, sind gemäss einigen medizinischen und dolmetschwissenschaftlichen Studien schwerwiegend (vgl. Aranguri et al., 2006; Flores et al., 2003; Hofer et al., 2017; Pöchhacker, 2012). Das Fachwissen und die Terminologie machen einen bedeutsamen Teil der Problemquellen in der monolingualen Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation aus (vgl. u. a. Brünner, 2009, p. 171; Lalouschek, 2005, p. 186). Das Thema der Fachsprache wird in den Analysen von authentischen gedolmetschten Daten im Vergleich mit der Diskussion um die verschiedenen Rollen selten aufgegriffen. Untersuchungen aus der Dolmetschwissenschaft, in denen unterschiedliche Wissensvoraussetzungen oder terminologische Lücken thematisiert werden, stammen etwa von Albl-Mikasa/ Hohenstein (2017), Englund Dimitrova/ Tiselius (2016), Pöchhacker (2012), und Hofer et al. (Hofer et al., 2017; Hofer et al., 2013; 2015). Mediziner: innen haben natürlicherweise ein hohes Interesse an einer adäquaten Repräsentation des Fachwissens. Aus der Perspektive der medizinischen Gesprächsforschung beschäftigen sich beispielsweise Butow et al. (2011b), Flores et al. (Flores et al., 2012; Flores et al., 2003) oder Fatahi et al. (2010) mit den durch das fehlende Wissen sowie durch die mangelhaften terminologischen Kenntnisse der Dolmetscher: innen verursachten Informationsverlusten und inhaltlichen Verschiebungen. So war einem Dolmetscher oder einer Dolmetscherin der Terminus „ Rezeptor “ unbekannt (Butow et al., 2011b, p. 2804). 57 Flores et al. (2003) nennen Beispiele von Terminologieproblemen bei Wörtern wie „ level “ , „ results “ oder „ medicine “ , die „ professionelle “ Dolmetscher: innen auf Spanisch nicht wiedergeben konnten (Flores et al., 2003, p. 9). Fatahi et al. (2010) veranschaulichen die Problematik der mangelhaften Terminologiekenntnisse mit folgendem Beispiel: „ Because the interpreter did not know the word for ‚ vomiting ‘ in Swedish, he translated directly from the Kurdish word ‚ dilm esheweto ‘ so the doctor got my message as ‚ my heart is going to be destroyed ‘ . “ (Fatahi et al., 2010, p. 162) Aufgrund dieser Verdolmetschung wurde ein Elektrokardiogramm angeordnet. Auch Aranguri et al. (2006) thematisieren terminologische Lücken. Dass die Kommunikation zwischen Expert: innen und Patient: innen durch divergierende Wissensvoraussetzungen beeinträchtigt wird, lässt sich bereits aufgrund des unterschiedlichen Bildungshintergrunds der beiden Gesprächsparteien erwarten. Die Expert: innen verfügen über mehrjährige Ausbildungen und einen entsprechenden Wissensvorsprung. Ausserdem haben sie über Jahre hinweg u. a. gelernt, Informationen aus Patient: innenangaben zu strukturieren, auszuwerten und Diagnosen zu stellen. Die eigentlichen Gesprächsparteien für die Expert: innen bleiben auch in der gedolmetschten Interaktion die Patient: innen. Man könnte daher davon ausgehen, dass sie die Patient: innen direkt in der 3. Person Plural ansprechen, aber empirische Untersuchungen aus medizinischer (vgl. u. a. Bot, 2005a, 2005b) sowie aus linguistischer und dolmetschwissenschaftlicher Perspektive zeichnen häufig ein anderes Bild (vgl. u. a. Dubslaff & 57 Der Redebeitrag des Arztes oder der Ärztin „ I don ’ t think that you had that particular receptor looked at. “ wurde in der Verdolmetschung folgendermassen wiedergegeben: „ From the information you gave me about treatment in China, I felt you hadn ’ t received this treatment. “ Sowohl die ausgangssprachlichen Redebeiträge als auch die Verdolmetschungen sind lediglich auf Englisch wiedergegeben. Die Patient: innen sprachen im Original Chinesisch (10), Arabisch (5) oder Griechisch (7). 98 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="99"?> Martinsen, 2005; Sator & Gülich, 2013; Van de Mieroop, 2012) (vgl. Kap. 3.4.1). Wie Dubslaff/ Martinsen (2005, p. 219) und Sator/ Gülich (2013, p. 178) zeigen, wenden sich die Expert: innen verschiedentlich an die Dolmetscher: innen und verwenden für die Patient: innen die 3. Person Singular. Dubslaff/ Martinsen (2005) vermuten, die Expert: innen würden die 3. Person Singular erst dann verwenden, nachdem die Dolmetscher: innen in der 3. Person Singular über die Patient: innen gesprochen haben (Dubslaff & Martinsen, 2005, p. 226). Eine andere Ursache der Verwendung der 3. Person Singular könnte darin bestehen, dass die Expert: innen unsicher sind, wer welches Wissen hat, wer was verstanden hat und mit wem infolgedessen das Gespräch geführt werden soll. Das Sprechen mit den Dolmetscher: innen über die Patient: innen würde in diesem Fall im Laufe des Gesprächs jeweils dann stattfinden, wenn die Verständigung nach Einschätzung der Expert: innen ins Stocken kommt. Eine weitere mögliche Ursache für den pronominalen Wechsel besteht darin, dass die Expert: innen von sich aus die Dolmetscher: innen anstelle der Patient: innen adressieren, weil sie davon ausgehen, dass die Dolmetscher: innen mehr wissen und die Zusammenhänge besser verstehen als die Patient: innen. Nach Auskunft der Projektpartner der Abteilung Psychosomatik des Universitätsspitals Basel verlassen sich die Expert: innen im Allgemeinen auf die Verdolmetschungen, ohne nachzufragen. 58 Ausserdem mag den medizinischen Expert: innen der Zugang zu den Dolmetscher: innen aus sprachlichen Gründen einfacher scheinen, wenn bestimmte Sachverhalte erklärt werden müssen. Expert: innen gehen zudem möglicherweise davon aus, dass die Dolmetscher: innen sich vor oder während der Ausübung ihrer Tätigkeit ein umfassendes Fachwissen angeeignet haben, so dass sie über bessere Fachkenntnisse verfügen als die Patient: innen. Schliesslich mag für die Expert: innen in Schweizer Spitälern die Tatsache, dass die Dolmetscher: innen bei Vermittlungsstellen akkreditiert sind (vgl. Kap. 3.2.4) und daher wohl über gewisse Kompetenzen verfügen, dazu führen, dass die Expert: innen eher den Dolmetscher: innen vertrauen als den Patient: innen. Davidson (2000) schildert ein entsprechendes Verhalten anhand von authentischen Daten in den USA. Die Hinwendung der Expert: innen zu den Dolmetscher: innen mag zudem mit einem ungenauen Wissen über den Dolmetschprozess zusammenhängen. Sie stellen sich den Sprachtransfer möglicherweise einfacher vor, als er ist. So befürchten der Dolmetschwissenschaftler Dean und der Psychiater Pollard (2009), dass Auftraggeber: innen über das Dolmetschen zu wenig genau Bescheid wissen: „ [ … ] most consumers [ … ] perceive the work of interpreters as vastly more easy and straightforward than it is and therefore do not participate more broadly and actively in the process. ‚ Just translate word for word what I say ‘ [ … ] “ (Dean & Pollard, 2009, p. 261). Mit der wörtlichen Wiedergabe ist die Annahme verbunden, dass der Dolmetschvorgang darauf beschränkt ist, ein Wort einer Sprache durch ein Wort einer anderen Sprache zu ersetzen. Dass dies ein Mythos ist, vermerkte bereits der amerikanische Philosoph Willard van Orman Quine (1969): „ Uncritical semantics is the myth of a museum in which the exhibits are meanings and the words 58 In der gemeinsamen Arbeit während des KTI-Projekts wiesen die Projektpartner: innen W. Langewitz und M. Sleptsova darauf hin, dass Expert: innen Kommunikationsprobleme erfahrungsgemäss bei den Patient: innen orten. 3.6 Merkmale der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation 99 <?page no="100"?> are labels. To switch languages is to change the labels. “ (Quine 1969) Diesem Mythos begegnet man vor allem bei Expert: innen im Sinne des Wort-für-Wort-Übersetzens heute noch (vgl. dazu insbesondere Fallbeispiel 5). Dass Expert: innen für die Zusammenarbeit mit Dolmetscher: innen neben ihrem Fachwissen über ein solides Wissen über die Besonderheiten der Kommunikation in gedolmetschten Gesprächen, über die Komplexität des Dolmetschprozesses und über die Problematik der Rollenvielfalt verfügen sollten, wird kaum je thematisiert. Mehrere Autor: innen aus der Medizin plädieren für ein besseres Verständnis der dolmetschspezifischen Verarbeitungsprozesse (vgl. Aranguri et al., 2006, p. 623; Butow et al., 2011a, p. 404; McDowell et al., 2011, p. 147; Ngo-Metzger et al., 2007, p. 328). Aus dolmetschwissenschaftlicher Sicht werden zum besseren wechselseitigen Verständnis gemeinsame Weiterbildungsprogramme für Dolmetscher: innen und Expert: innen empfohlen (vgl. Cambridge et al., 2012, p. 123; Krystallidou, 2014, p. 414; Krystallidou et al., 2018, p. 127). Der Wissenstransfer verläuft ebenso in umgekehrter Richtung von den Patient: innen (via Dolmetscher: innen) zu den Expert: innen. Die Patient: innen haben ihr subjektives Wissen über ihre Krankheiten. Ausserdem haben sie sich im Laufe der Behandlung ein „ semiprofessionelles “ medizinisches Wissen (Löning, 1994) erworben, das sie aus den früheren Kontakten mit den Expert: innen oder aus anderen Quellen gewonnen haben. Zudem verstehen Patient: innen, die seit einiger Zeit in einem Land leben, die jeweilige Landessprache zum Teil und sind deshalb gelegentlich in der Lage, auf die ausgangssprachlichen Redebeiträge der Expert: innen zu reagieren. Selbst wenn sie nur geringe Sprachkenntnisse haben, zeigt ihnen der Gesprächsverlauf, ob die Expert: innen auf ihre Anliegen eingehen oder nicht. In den Interaktionen sind sie sowohl von den Expert: innen als auch von den Dolmetscher: innen abhängig; sie können das Gespräch lediglich insofern steuern, als sie ihre Anliegen wiederholen, solange diese unbearbeitet bleiben. Die Dolmetscher: innen verfügen über Kompetenzen in mindestens zwei Sprachen. In dieser Beziehung können sie ebenfalls als Expert: innen gesehen werden, wie dies die ISO- Norm (ISO 13611 2014) definiert (vgl. Kap. 3.5.3). 59 Obwohl die Dolmetscher: innen weder über das spezialisierte Fachwissen der Expert: innen noch über das subjektive Wissen der Patient: innen verfügen, stellen sie für die Patient: innen sowie für die Expert: innen die zentrale Erkenntnisquelle dar. Ihr kognitiver Bezugsrahmen setzt sich aus dem Vorwissen über den momentanen Krankheitsfall, aus dem Fachwissen, aus dem institutionellen Wissen sowie aus den Informationen im laufenden Gespräch zusammen. Informationen zum aktuellen Fall erhalten sie jedoch bei weitem nicht immer im Voraus. Das Fachwissen sowie das institutionelle Wissen sind notgedrungen bruchstückhaft, da sie immer wieder in anderen Fachbereichen arbeiten, oft mit sehr kurzen Vorbereitungszeiten. Zudem haben die Dolmetscher: innen häufig keine Erfahrung mit Internet-Recherchen, wie sich in den Aus- und Weiterbildungsprogrammen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) zeigte. Der medizinischen Fachkommunikation auf dieser Basis folgen zu können, bedeutet eine der grossen Herausforderungen der Dolmetscher: innen. 59 Im Justizwesen verweist die Schweizer Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Stand 1. März 2019) in Art. 68 Abs. 5 StPO auf die Dolmetscher: innen als Sachverständige (vgl. Art. 73, Art. 105 StPO und 182 - 191 StPO). 100 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="101"?> 3.6.3 Heterogene Ansichten und Einschätzungen Wie bereits in Kapitel 3.4.2 ausgeführt, stehen alle Beteiligten kontinuierlich vor der Aufgabe, das Gespräch zu organisieren und aufeinander zu reagieren. Dabei treffen in der gedolmetschten Kommunikation unterschiedliche Handlungen der drei Beteiligten, heterogene Ansichten und Einschätzungen aufeinander. Beim Versuch, den Herausforderungen des gedolmetschten Gesprächs zu begegnen, werden unterschiedliche Strategien wahrnehmbar. Sator/ Gülich (2013) beschreiben anhand ihrer Daten zum Beispiel, dass Dolmetscher: innen sich den Expert: innen zuwenden, um in ihrer gemeinsamen Sprache in einem Zwiegespräch in der 3. Person Singular über die Patient: innen sprechen (2013, p. 299 ff.). Dadurch kann es lokal zu einem Ausschluss der Patient: innen kommen (vgl. Kap. 3.4.2). Wenn umgekehrt Zwiegespräche zwischen Dolmetscher: innen und Patient: innen stattfinden, bleiben Expert: innen ausgeschlossen. Zwiegespräche der Dolmetscher: innen mit den Patient: innen sind ein bekanntes Phänomen, wie einer von Hale (2007) unter dem Stichwort „ Vertrauen “ durchgeführten Befragung bei Ärzt: innen zu entnehmen ist. Sie stellt 100 Ärzt: innen die Frage nach dem Vertrauen zu den Leistungen der Dolmetscher: innen. In zwei Rückmeldungen werden Zwiegespräche der Dolmetscher: innen mit den Patient: innen als problematisch empfunden (Hale, 2007, p. 150). Bei einem Rücklauf von lediglich 20 % kann die Bedeutung des Phänomens nicht auf sinnvolle Weise quantifiziert werden, aber das Problem der unverdolmetschten Zwiegespräche wurde von diesen Ärzt: innen zumindest erkannt. Gemäss verschiedenen Untersuchungen fordern Expert: innen nach Zwiegesprächen zwischen Dolmetscher: innen und Patient: innen keine nachträgliche Verdolmetschung ein (vgl. Davitti & Pasquandrea, 2013; Pasquandrea, 2011, 2012). Die Expert: innen vertrauen den Dolmetscher: innen und fragen auch bei inhaltlichen Brüchen nicht nach (vgl. Davitti & Pasquandrea, 2013). In Zwiegesprächen können die Dolmetscher: innen die Interaktion eine Zeitlang dominieren, was ihnen eine gewisse Machtposition verschafft. Diese Machtposition ist jedoch auf den lokalen Kontext beschränkt (vgl. Brock & Meer, 2004, p. 186). Auch selektive Wiedergaben verleihen den Dolmetscher: innen Macht (vgl. Kap. 3.4.4). Grundsätzlich liegt es jedoch nicht in der Macht der Dolmetscher: innen, den Gesprächsverlauf zu steuern, von den Expert: innen zusätzliche Erklärungen zur Krankheit der bedolmetschten Patient: innen zu verlangen oder das Gespräch von sich aus zu beenden, sie müssen sich „ den Vorgaben der institutionellen Situation unterordnen “ (Brock & Meer, 2004, p. 198). In verschiedenen Studien wird ein labiles Gleichgewicht in gedolmetschten Gesprächen geschildert. Sowohl Expert: innen als auch Patient: innen können ihrerseits mit Zwiegesprächen oder Blickkontakten Allianzen mit den Dolmetscher: innen bilden, die zum Ausschluss der jeweils anderen Partei führen, und damit einen Loyalitätskonflikt auslösen. Die Dolmetschwissenschaftlerin Dabi ć (2021) schreibt dazu: Der Loyalitätskonflikt, der aus divergenten, einander mitunter entgegengesetzten Nutzererwartungen resultiert, kann sich gerade im Kontext der Psychiatrie stark manifestieren, indem jeder der beiden Gesprächspartner: innen versucht, die Dolmetscherin an ihre/ seine Seite zu ziehen: einerseits die Psychotherapeutin als arbeitende Fachperson, die an die Berufsethik der Dolmetscherin appelliert, andererseits die KlientIn als eine GesprächsteilnehmerIn, die darauf angewiesen ist, sich mit Hilfe der DolmetscherIn in einer prekären Situation Gehör zu verschaffen und Hilfe zu bekommen. (Dabi ć 2021, p. 65) 3.6 Merkmale der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation 101 <?page no="102"?> In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass die Expert: innen anstelle der Patient: innen die Dolmetscher: innen als Gesprächsparteien behandeln, indem sie die Dolmetscher: innen direkt adressieren (vgl. u. a. Bot, 2005b; Sator & Gülich, 2013). Die Konsequenzen bestehen darin, „ dass Ärzt: innen, die zuvor mit der Patientin gesprochen hatten, zu einem Sprechen mit der Dolmetscherin über die Patientin wechseln “ [Hervorhebung im Original] (Sator & Gülich, 2013, p. 299). Für die Patient: innen kann es problematisch sein, wenn solche Zwiegespräche unverdolmetscht bleiben und sie die Redebeiträge nicht mitverfolgen können. Expert: innen aus der Medizin schildern verschiedentlich kommunikative Schwierigkeiten aufgrund von heterogenen Einschätzungen der Aufgaben und der Funktion von Dolmetscher: innen (vgl. Butow et al., 2011b; McDowell et al., 2011). Die Zusammenarbeit von Expert: innen und Dolmetscher: innen kann insbesondere durch das fehlende Wissen, wie verschiedene Dolmetscher: innen ihre Rollen ausgestalten, belastet werden. Dazu ein Ausschnitt eines Berichts der Forschungsgruppe um die Pflegewissenschaftlerin McDowell et al. (2011): „ When health care providers and patients are uninformed about the role of the health care interpreter, they may have competing or unrealistic expectations of what an interpreter can and should do. “ (McDowell et al., 2011, p. 145) Butow et al. (2010) vertreten ebenfalls die Ansicht, dass kaum bekannt sei, wie die Dolmetscher: innen ihre Rolle(n) wahrnehmen. Sie veranlassten eine Befragung bei den Dolmetscher: innen, die ein uneinheitliches Bild ergab: „ Some saw themselves as merely an accurate conduit of information, while others saw their role in broader terms, encompassing patient advocacy, cultural brokerage and provision of emotional support. “ (Butow et al., 2010) An einer von Fatahi et al. (2008) durchgeführten Befragung, an der acht Allgemeinpraktiker: innen teilnahmen, favorisieren die Ärzt: innen Verdolmetschungen ohne Auslassungen oder Hinzufügungen durch Dolmetscher: innen (Fatahi et al., 2008, p. 41). Aus der Perspektive der Expert: innen variieren die Auffassungen zum sprachlich wahrnehmbaren Rollenverständnis in erster Linie zwischen einem auf Neutralität, Vollständigkeit und Originaltreue ausgerichteten Dolmetschen und einem kulturvermittelnden Agieren (vgl. Kap. 3.4.3). Am häufigsten wird von Autor: innen aus verschiedenen Ländern wohl die Bedeutung der Kulturvermittlung für die Verständigung der Expert: innen mit Patient: innen hervorgehoben. Die Kulturvermittlung wird allerdings besonders kontrovers diskutiert. Das zeigen u. a. Studien aus der Psychotherapie. Die Psychotherapeut: innen Morina et al. (2010) wenden sich gegen aktivere Handlungsweisen von Dolmetscher: innen: „ Die Erfahrung zeigt, dass Rollen wie Co-Therapie, Patientenfürsprache und kulturelle Mediation in einem psychotherapeutischen Setting wenig sinnvoll bzw. nicht anwendbar sind. “ (Morina et al., 2010, p. 105) Andere Autor: innen - ebenfalls aus dem Bereich der Psychotherapie - schliessen die Kulturvermittlung im Konzept einer sinngetreuen Verdolmetschung ein: „ Er [der Dolmetscher] sollte übersetzen, was gesagt wird, und nichts hinzufügen, deuten oder weglassen (bestenfalls konsekutiv statt simultan und in Ich-Form). Zudem sollte er eine kulturvermittelnde Funktion einnehmen. “ (Storck et al., 2016, p. 526) Auf welche Weise die Kultur vermittelt werden soll, wenn nicht durch verbal geäusserte Hinzufügungen, wird von Storck et al. (2016) allerdings offengelassen. Leanza et al. (2010), ein aus einem Psychologen, einer Psychologin und einer Medizinerin bestehendes Autor: innen-Team, sehen die Kulturvermittlung hingegen deutlich als eine wesentliche Zusatzaufgabe der Dolmetscher: innen: „ Because the interpreter may share the patient ’ s culture and is also part 102 3 Gesprächsdolmetschen: Theoretische Grundlagen und Berufspraxis <?page no="103"?> of the medical system [ … ], she can serve as a bridge between the two cultures. “ (Leanza et al., 2010, p. 1888) 60 Resultate von weiteren Befragungen belegen, dass Expert: innen in der Praxis eine Reihe von unterschiedlichen Anforderungen an die Dolmetscher: innen stellen (Origlia Ikhilor et al., 2017; Pöchhacker, 2007, p. 62; Sleptsova et al., 2015). Die Expert: innen erwarten von den Dolmetscher: innen, dass sie neben der detailgetreuen Umsetzung von Inhalten aus der einen in die andere Sprache weitere Aufgaben übernehmen. Sie sehen die Dolmetscher: innen unter anderem als Ko-Therapeut: innen (vgl. u. a. Bot, 2015, p. 258), als Helfer: innen (vgl. u. a. Raval, 2003, p. 18) oder als Kulturvermittler: innen (vgl. u. a. Tribe & Lane, 2015, p. 255). Die Ärztin Fernandez und ihre Kolleg: innen (Fernandez et al., 2004) zweifeln allerdings daran, dass der Nutzen der kulturellen Kompetenz der Dolmetscher: innen in der medizinischen Interaktion überhaupt empirisch nachgewiesen werden kann: „ While much has been written about the need for culturally competent care, empiric evidence that cultural competence affects communication and the physician-patient relationship is lacking. “ (Fernandez et al., 2004, p. 167) Obwohl Expert: innen im Allgemeinen gemäss verschiedenen Studien offenbar ein heterogenes Wissen über die Komplexität des Umsetzungsprozesses, über das benötigte Fachwissen, über die Art der erforderlichen Qualifikationen der Dolmetscher: innen, über die Auswirkungen der verschiedenen Beteiligungsformen auf die soziale Beziehungen oder über die Bedeutung der Rollenvielfalt haben, scheinen sie sich zu einem grossen Teil auf die Dolmetscher: innen zu verlassen. Überdies haben sie hohe Erwartungen an die translatorischen Kompetenzen der Dolmetscher: innen (Havelka, 2018, p. 107). Diese Einschätzung kann dazu führen, dass die Expert: innen die kognitiven Leistungen der Dolmetscher: innen überschätzen, diejenigen der Patient: innen unterschätzen und Ursachen von wahrnehmbaren Problemen im Gesprächsverlauf bei den Patient: innen statt bei den Dolmetscher: innen vermuten. 60 Von interdisziplinären Studien wird in der vorliegenden Arbeit lediglich bei einer disziplinübergreifenden Zusammenarbeit gesprochen, z. B. wenn Mediziner: innen mit Sprachwissenschaftler: innen zusammenarbeiten (vgl. z. B. Aranguri et al., 2006), aber nicht in Fällen, in denen die Autor: innen aus benachbarten Fachbereichen stammen, d. h. wenn Ärzt: innen mit Pflegefachleuten zusammenarbeiten. 3.6 Merkmale der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation 103 <?page no="104"?> 4 Korpus und Datenaufbereitung Dieses Kapitel ist die Einleitung zum empirischen Teil der vorliegenden Arbeit. Die Datenerhebung in den drei Universitätsspitälern Basel, Bern und Zürich, die Auswahl der Gespräche und der Dolmetscher: innen sowie die Transkription der Gespräche erfolgte im Rahmen des KTI-Projekts. Die Datenselektion sowie die Beschreibung des Vorgehens und des Aufbaus der Sequenzen beziehen sich dagegen auf die vorliegende Untersuchung. Es folgen die Zusammenstellung der Fallbeispiele sowie der Datenbeispiele, die innerhalb der Kapitel 2 und 3 präsentiert werden. Abschliessend werden einige Fachtermini im Hinblick auf ihre Verwendung in der vorliegenden Arbeit beschrieben. 4.1 Datenerhebung Bei den 19 für das KTI-Projekt aufgenommenen Gesprächen handelt es sich in allen Fällen um authentische, d. h. nicht für Forschungszwecke erzeugte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche. Die gedolmetschten Gespräche, die von Expert: innen mit albanischen beziehungsweise mit türkischen Patient: innen geführt wurden, stammen aus den drei am KTI-Projekt beteiligten Spitälern. Zum Teil wurden die Gespräche unter der Anleitung von Studienmitarbeiter: innen aufgezeichnet, die in den jeweiligen Spitalabteilungen selbst gedolmetschte Gespräche leiten, zum Teil wurden sie von den gesprächsleitenden Expert: innen selbst aufgenommen. Für die Videoaufnahmen wurde jeweils eine Kamera eingesetzt. Die Gespräche im Umfang von 14 Stunden und 42 Minuten wurden im Zeitraum vom Dezember 2011 bis Mai 2012 in den Universitätsspitälern Basel, Zürich und Bern durchgeführt. Die Länge der einzelnen Gespräche ist unterschiedlich, das kürzeste umfasst 23 Minuten, das längste - ein Gespräch für ein psychiatrisches Gutachten - 2 Stunden 46 Minuten. Die Vertreter: innen der medizinischen Berufe sind Ärzt: innen, Pflegefachfrauen, darunter eine Diabetes-Beraterin und Physiotherapeut: innen. Mit Ausnahme einer Diabetes- Beraterin, die zwei Gespräche leitet, führen alle Expert: innen lediglich ein Gespräch. Die Expert: innen sind immer deutschsprachig und verstehen weder Albanisch noch Türkisch. Die Patient: innen sprechen in fünf Videoaufnahmen Albanisch und in 14 Videoaufnahmen Türkisch. Mit Bezug auf die Expert: innen und die Dolmetscher: innen können drei prototypische Sprachkonstellationen unterschieden werden: 1. Die deutschsprachigen Expert: innen sprechen als Schweizer: innen das jeweilige Standarddeutsch, die Dolmetscher: innen sprechen Schweizer Standarddeutsch (mit den entsprechenden Varietäten). 2. Die deutschsprachigen Expert: innen sprechen Schweizerdeutsch, die Dolmetscher: innen ein dialektal gefärbtes Standarddeutsch. 1 1 Die Varietäten sind in den Transkripten wahrnehmbar. <?page no="105"?> 3. Die deutschsprachigen Expert: innen sowie die Dolmetscher: innen sprechen Schweizerdeutsch. Diese unterschiedlichen Varietäten führen m. E. in keinem Gespräch zu beobachtbaren Verständnisproblemen. Ein erkennbares Verständnisproblem hat aufgrund der Varietät allerdings für die Transkribentin in Fallbeispiel 3 bestanden, in dem die Patientin ein vom mazedonischen Dialekt beeinflusstes Albanisch spricht (mündliche Kommunikation N. Morina). 4.1.1 Auswahl der gedolmetschten Gespräche Die Projektpartner: innen des KTI-Projekts verfolgten von Anfang an den Grundgedanken, ein Korpus von Gesprächen aus verschiedenen medizinischen Bereichen der drei am Projekt beteiligten Spitäler zu erheben, um einen möglichst breiten Zugang zum Phänomen „ Dolmetschen im Spital “ zu gewinnen. Die Fokussierung auf ein bestimmtes Genre, etwa Anamnesegespräche, psychiatrische Gutachten oder Therapiegespräche, wurde bewusst vermieden. Weniger Einfluss konnten die Projektpartner: innen auf die konkrete Auswahl der Gespräche ausüben. Sie war in erster Linie davon abhängig, ob angefragte Expert: innen und Patient: innen sich damit einverstanden zeigten, in authentischen Gesprächssituationen mit Videokameras aufgenommen zu werden. Darüber hinaus forderte die Ethikkommission beider Basel 2 , dass die Patient: innen eine Woche im Voraus umfassend informiert werden und vorab eine Einverständniserklärung unterzeichnen. Die Patient: innen konnten ihre Einwilligung trotz der abgegebenen Erklärung bis unmittelbar vor dem Gespräch zurückziehen. Der Auswahlprozess gestaltete sich entsprechend langwierig. 4.1.2 Auswahl der Dolmetscher: innen Aufgrund der grossen Anzahl von albanischen und türkischen Patient: innen entschieden sich die Vertreter: innen der Abteilung Psychosomatik des Universitätsspitals Basel für die Sprachen Albanisch und Türkisch (vgl. Kap. 1.1). Die Dolmetscher: innen mit der Sprachenkombination Albanisch - Deutsch und Türkisch - Deutsch wurden von den Vermittlungsstellen ausgewählt (vgl. Kap. 1.3.1). Letztlich gelang es im Rahmen des KTI-Projekts dank der Mitarbeit dieser Vermittlungsstellen, gedolmetschte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche aufzuzeichnen. Die Vermittlungsstellen sind vor allem im Gesundheitswesen verankert. Sie vermitteln Dolmetscher: innen für Gespräche, die u. a. in den Universitätsspitälern Basel, Zürich und Bern stattfinden. Die Abteilung Psychosomatik des Universitätsspitals Basel vereinbarte im Rahmen des KTI- Projekts mit den drei für diese Spitäler zuständigen Vermittlungsstellen die Vorgabe, dass die für das Projekt ausgewählten Dolmetscher: innen bereits seit mindestens drei Jahren regelmässig im Gesundheitswesen gedolmetscht haben. Zum Teil waren die ausgewählten Dolmetscher: innen seit mehr als drei Jahren im Gesundheitswesen tätig. Schliesslich lag es im Interesse der Vermittlungsstellen, Dolmetscher: innen auszuwählen, deren Leistungen nach ihrem Dafürhalten gut beurteilt werden. Die Personalien der Dolmetscher: innen sind der Projektleitung aufgrund des Datenschutzes nicht bekannt gegeben worden. Daher 2 Die Ethikkommissionen Bern und Zürich schlossen sich der Entscheidung der Ethikkommission beider Basel an. 4.1 Datenerhebung 105 <?page no="106"?> konnten weder präzise Angaben über den dolmetschspezifischen Aus- und Weiterbildungsstand noch andere ethnografische Daten erhoben werden. Für die 19 Gespräche mit 19 verschiedenen Patient: innen sind 17 Dolmetscher: innen ausgewählt worden. Je eine Dolmetscherin und ein Dolmetscher haben in zwei Gesprächen gedolmetscht. Die Dolmetscher: innen, die in den in dieser Studie aufgenommenen Gesprächen eingesetzt wurden, haben in allen Fällen einen starken Bezug zur Sprache der Patient: innen. Ob ihnen diese Sprache bis in die aktuellen Nuancen der Semantik, der Grammatik und der Kultur geläufig ist, bleibt ungewiss, da sie vermutlich bereits seit mehreren Jahren in der Schweiz leben (vgl. Kap. 3.2.3). 3 Die Sprachkompetenz im Deutschen variiert bei den Dolmetscher: innen. Die dialektale Färbung, die teilweise inadäquate Grammatik und die Intonation im Deutschen in allen Gesprächen legen den Schluss nahe, dass Deutsch in sämtlichen Gesprächen die Zweitsprache der Dolmetscher: innen ist. Die Sprachkompetenz der Dolmetscher: innen konnte im KTI-Projekt höchstens durch die Übersetzer: innen und Transkribent: innen sowie durch Erstsprachler: innen, die zur Revision hinzugezogen wurden, beurteilt werden, nicht aber durch die Projektleiter: innen. Für die in der vorliegenden Arbeit ausgewählten Sequenzen konnten der bilinguale Naser Morina (Albanisch), der als Co-Leiter und Psychotherapeut am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer (AFK) des Universitätsspitals Zürich tätig ist und bereits im KTI-Projekt mitgearbeitet hat, sowie der bilinguale Gesprächsanalytiker Kenan Hochuli (Türkisch) hinzugezogen werden. Es bleibt jedoch eine Schwäche der vorliegenden Arbeit, dass ich weder die Redebeiträge der Patient: innen noch die Verdolmetschungen in der Originalsprache verstehe. Ausnahmen sind zum Beispiel Äusserungen, in denen einzelne Wörter vorkommen, die häufig sind wie „ po “ ( „ ja “ ) oder dem Deutschen entsprechen, etwa wenn eine Patientin bestätigt, dass sie ein Problem hat ( „ po ç'ashtu, problem “ ). 4 4.2 Transkription der Gesprächsdaten Das zu analysierende Datenmaterial besteht aus den Videoaufnahmen und der Transkription einschliesslich der Übersetzungen der albanischen beziehungsweise der türkischen Redebeiträge ins Deutsche. 5 Die Transkription aller Redebeiträge ist für eine detailgenaue Analyse unabdingbar. Ohne eine Transkription aller Redebeiträge sind in den in der Sprache der Patient: innen geäusserten Anteilen für die Rezipient: innen lediglich die an der Sprachoberfläche wahrnehmbaren Kriterien wie etwa der Redefluss, die Stimme oder die Aussprache beurteilbar (vgl. Bühler, 1986). Insbesondere die Adäquatheit der Wiedergabe entzieht sich der Beobachtung. 3 Diesen Fragen konnte im Rahmen des KTI-Projekts nicht nachgegangen werden, und sie sind auch nicht Thema der vorliegenden Untersuchung. 4 Alle aus dem Umstand meiner fehlenden Albanischbeziehungsweise Türkisch-Kenntnisse entstandenen Mängel sind selbstverständlich mir anzulasten. 5 Den Hinweis auf die Relevanz der Transkription der gesamten Daten unter Einbezug der multimodalen Ressourcen verdanken wir Ulla Kleinberger, die das Projektteam mit ihrer gesprächsanalytischen Erfahrung unterstützt hat. 106 4 Korpus und Datenaufbereitung <?page no="107"?> Die Einführung in das Vorgehen beim Transkribieren und beim Übersetzen übernahm das Institut Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften). Nach der Erstellung der Videoaufnahmen wurden alle Daten von Transkribent: innen mit albanischer oder türkischer Erstsprache 6 anhand des EXMARaLDA Partitur-Editors 7 vollständig transkribiert. Die Wahl der Partiturnotationsweise ermöglichte die Darstellung der körperlichen Handlungen in Relation zu den verbalen. Im Anschluss an die Transkription wurden die 19 Gespräche nach Laws et al. (2004) segmentiert. Ein Segment umfasst nach seiner Methode eine Äusserung sowie die dazu gehörige Verdolmetschung (Laws et al., 2004, p. 72). Die Transkribent: innen hatten mehrere Jahre als Dolmetscher: innen im Gesundheitswesen gedolmetscht, transkribierten aber zum ersten Mal und mussten eigens für diese Aufgabe instruiert werden (vgl. dazu Valero-Garcès, 2015, p. 167). 8 Die albanischen und die türkischen Redebeiträge wurden von den Transkribent: innen ins Deutsche übersetzt und ebenfalls transkribiert. Den Ausschlag für die Entscheidung, dass die deutschen Redebeiträge von denselben Transkribent: innen bearbeitet werden sollten, gab die Erfahrung der Transkribent: innen als Dolmetscher: innen im Gesundheitswesen. Abgesehen davon, dass sie als Dolmetscher: innen beide Sprachen verstehen und sprechen, sind sie mit den medizinischen Themen und mit dem Fachvokabular ebenso wie mit dem Wechsel der Sprachen im konsekutiven Modus vertraut. Ausserdem sind sie aufgrund ihrer Dolmetscherfahrung (im Gegensatz zu Bilingualen ohne Dolmetscherfahrung und ohne Transkriptionserfahrung) gewohnt, gut hinzuhören und auf Überlappungen, Telefongeklingel und andere akustische Signale, die transkribiert werden müssen, zu achten. Die Transkriptionen geben den Analysierenden die Möglichkeit, die Flüchtigkeit des Gesprochenen für die Analyse „ einzufrieren “ (Bergmann, 1981) und das Datenmaterial immer wieder schrittweise nachzuverfolgen. Die Transkription in Partiturschreibweise umfasst folgende Sprecherspuren: a. Die Sprecherspur der Expert: innen (Abkürzung der Funktion der verschiedenen Expert: innen: „ A “ für Arzt, „ Ä “ für Ärztin, „ B “ für Diabetes-Beraterin, „ PF “ für Pflegefachfrau) b. Die Sprecherspur der Dolmetscher: innen (D) c. Die Sprecherspur der albanischen oder türkischen Patient: innen (P) d. Die Übersetzung der albanischen bzw. türkischen Redebeiträge der Dolmetscher: innen bzw. der Patient: innen ins Deutsche (D [UE]/ P [UE]) 6 Da die Transkribent: innen Landsleute und zum Teil Arbeitskolleg: innen der Dolmetscher: innen sind, werden ihre Namen nicht genannt. Sie haben mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Durchführung des Projekts geleistet. Ich möchte ihnen an dieser Stelle für ihre sorgfältige Arbeit danken. 7 Das Software-Programm EXMARaLDA ist im Internet frei zugänglich (http: / / www.exmaralda.org/ downloads.html, (Stand: 11.12.2021). 8 Bereits geschulte Transkribent: innen mit Albanisch- und Türkischkenntnissen standen nicht zur Verfügung. Zur Transkription angeleitet wurden die Dolmetscher: innen, die sich den Umgang mit dem EXMERaLDA-Programm zutrauten, von Mirjam Zürcher. Sie war damals wissenschaftliche Mitarbeiterin von Ulla Kleinberger am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften). 4.2 Transkription der Gesprächsdaten 107 <?page no="108"?> Die Übersetzungen ins Deutsche, die mit [UE]) gekennzeichnet sind, sowie die mit [nv] gekennzeichneten multimodalen Handlungsweisen (Körperhaltung, Blickrichtung, Gestik, Lachen) werden kursiv gesetzt. 9 Für die Transkription hat sich das Projektteam am Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT (Selting et al., 2009) orientiert. Im Hinblick auf die Lesbarkeit der Transkripte wurden folgende vereinfachte Regeln vereinbart: • Kleinschreibung (Ausnahmen: Eigennamen, Höflichkeitsform) • Transkription von dialektalen Sequenzen im Schweizer Dialekt (bei den Schweizerdeutsch sprechenden medizinischen Fachpersonen und Dolmetscher: innen); Beibehaltung von dialektalen Elementen in den albanischen und türkischen Transkriptionen. 10 • Verzicht auf die in der Schriftsprache übliche Interpunktion • Notierung von Pausen • Notierung von multimodalen Ressourcen (Blickrichtung, Gestik und Mimik) 11 In den Sequenzen sind folgende Transkriptionskonventionen verwendet worden: (.) = Pause < 0: 2 Sekunden (-) = Pause ab 0: 2 bis 0: 5 Sekunden ((x)) = Beschreibungen von multimodalen Handlungen (xxx) = unverständliche Äusserung ? = steigende Intonation . = fallende Intonation Grossbuchstaben = betonte Silben (auf die deutschen Redebeiträge beschränkt) Die Transkribent: innen übersetzten die albanischen und die türkischen Redebeiträge im Zuge der Transkriptionsarbeit. Sie wurden von der Projektleitung angewiesen, die albanischen und die türkischen Wort- und Satzstrukturen den morphologischen und grammatikalischen Regeln des Deutschen anzupassen, aber Unverständliches im semantischen Sinn und Metaphern ohne erklärende Zusätze ins Deutsche zu übertragen, so dass die Kulturspezifika und die Fremdheit der originalen Formulierungen erhalten bleiben sollten. Die Überprüfung durch Erstsprachler: innen hat an verschiedenen Stellen gezeigt, dass die Übersetzungen der Transkripte Problemstellen enthielten, die eine Anpassung des Wortlauts im Deutschen notwendig machten. Die in den albanischen oder türkischen Redebeiträgen vorgenommenen Änderungen wurden überprüft und ausschliesslich in Absprache mit den bilingualen Revisoren vorgenommen. Die Analyse der Gespräche basiert auf den revidierten Transkripten. Morphosyntaktische und orthografische Abweichungen von der Standardsprache wurden im Nachhinein dann angepasst, wenn sie der gesprochenen Äusserung in der Aufzeichnung widersprachen. So wurde die Orthografie in den deutschen Redebeiträgen in den Fällen angepasst, in denen akustisch wahrnehmbare Endungen in der Videoaufzeichnung unpräzise transkribiert worden waren. Grammatikalische Unebenheiten wurden beibehalten. Unklare und schwer verständliche Redebeiträge wurden ohne jede Korrektur transkribiert. 9 Die in Hofer et al. (2015) publizierte Beschreibung wurde leicht angepasst (vgl. auch Hofer et al., 2017). 10 Diese Aussage basiert auf den Aussagen der Transkribent: innen oder der Revisor: innen. 11 Multimodales wurde in einer eigenen Spur transkribiert. 108 4 Korpus und Datenaufbereitung <?page no="109"?> Aus Datenschutzgründen sind dem Projektteam die Namen der Patient: innen und der Dolmetscher: innen nicht bekannt gegeben worden. Sämtliche Namen mussten deshalb anonymisiert worden. In den Sequenzanalysen werden aus diesem Grund gesprächsübergreifend die Bezeichnungen „ P “ für „ Patient: innen “ und „ D “ für Dolmetscher: innen verwendet. In einem einzigen Gespräch wird der Name der Patientin mehrmals genannt. An diesen Stellen wird statt des Namens der Anfangsbuchstabe „ X “ eingesetzt, damit keine Rückschlüsse auf diese Patientin gezogen werden können. Als Bezeichnung für die Expert: innen wird gesprächsspezifisch der Anfangsbuchstabe entsprechend ihrer Funktion gewählt ( „ Ä “ für „ Ärztin “ , beziehungsweise „ A “ für „ Arzt “ , „ B “ für „ Diabetes-Beraterin “ , „ PF “ für „ Pflegefachfrau “ ). Um Rückschlüsse auf die Expert: innen möglichst auszuschliessen, werden auch die Aufnahmeorte im Einzelnen nicht genannt. 4.3 Datenselektion Für die vorliegende Untersuchung wurden aus den KTI-Daten 26 Sequenzen aus fünf Gesprächen ausgewählt. Entscheidend für die Auswahl waren formale und inhaltliche Aspekte. Formal relevant für die Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche sind insbesondere die Gesprächsränder, d. h. die Gesprächseröffnung sowie die Gesprächsbeendigung (vgl. Spranz-Fogasy, 2010). In einem Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräch stellen die Expert: innen häufig Fragen. Die erste Frage dient der Gesprächseröffnung. Mit der Eröffnungsfrage fordern die Expert: innen die Patient: innen auf, ihre Anliegen zu formulieren. Als Antwort auf eine einleitende Frage der Expert: innen folgen bei einem Erstgespräch die Beschwerdeschilderungen von Patient: innen (vgl. Kap. 2.4). Die Eröffnungsfrage kann auch bei einem Folgegespräch zu Beginn gestellt werden, damit die Expert: innen den Krankheitsverlauf nach dem „ Frage-Antwort-Muster “ explorieren können. Spranz-Fogasy (2010) beschreibt den Prozess der Gesprächseröffnung folgendermassen: Mit der expliziten oder impliziten Aufforderung zur Beschwerdenschilderung wird der Interaktionstyp Arzt-Patient-Gespräch initiiert und der folgenden Interaktion damit ein Orientierungsrahmen gegeben, der das Verstehen bei der Durchführung der konstitutionslogisch geforderten Aufgaben anleitet: bei der Darstellung einschlägiger Sachverhalte, beim Vollzug typischer Aktivitäten oder bei der Wahrung der besonderen Beziehungskonstellation. Sequenzorganisatorisch wird vom Arzt durch die Aufforderung zur Beschwerdenschilderung ein Prozess in Gang gesetzt, den dieser bis zu seinem Abschluss (in der Regel durch die Mitteilung der Diagnose) kontrolliert, und der ihm bis dahin Rechte auf Reparatur- und Expansionsanforderungen verschafft, die im ärztlichen Gespräch vor allem im Frage-Antwort-Muster realisiert werden. (Spranz- Fogasy, 2010, p. 38) Zwei der sechs für die vorliegende Untersuchung ausgewählten Fallbeispiele setzen mit der Frage nach dem Befinden ein (Fallbeispiele 1 und 2), bei einem weiteren ist das „ Frage- Antwort-Muster “ dominant (Fallbeispiel 5). Spranz-Fogasy (2010) betont die Relevanz der Absicherung der Verstehensleistung am Ende des Gesprächs: Die Gesprächsbeendigung ist in aufgabenorientierten Gesprächen wie dem Arzt-Patient-Gespräch hinsichtlich interaktiver Verstehensleistungen von besonderer Relevanz. Hier müssen die in den 4.3 Datenselektion 109 <?page no="110"?> voraufgehenden Handlungsphasen erzielten Resultate der Verständigungsarbeit für das zukünftige außersituative Handeln noch einmal abgesichert werden [ … ]. Wie die Bearbeitung der Handlungsschemakomponenten Diagnosemitteilung und Therapieplanung spielt auch die Gesprächsbeendigung für die Compliance eine wichtige Rolle. Verstehensdokumentarische Aktivitäten wie Wiederholungen, Zusammenfassungen oder letzte Abklärungen zu Diagnose und Therapie sind deshalb in hohem Maß erwartbar. Zumeist sind auch noch prognostische Aussagen und Vereinbarungen zum weiteren Therapieprozess Bestandteil der Gesprächsbeendigung, die auch als Resultate vorhergehender Aushandlungen und Verstehensprozesse gelten können. (Spranz-Fogasy, 2010, p. 44 f.) Unter den sechs Fallbeispielen finden sich zwei Beispiele von Gesprächsbeendigungen. Im einen geht es mit der Vereinbarung eines nächsten Termins um die Kontrolle des Therapieprozesses (Fallbeispiel 3), im anderen um die Absicherung der vorhergehenden Verständigungsarbeit (Fallbeispiel 4/ Teil I). Die gesellschaftliche Relevanz von Gesprächen im medizinischen Setting ist in verschiedenen Publikationen belegt (vgl. u. a. Lalouschek, 2010; Menz, 2015, 2013c; Reisigl, 2010; Spranz-Fogasy & Becker, 2015). Hingegen kommen die Themen „ Schmerz “ und „ schmerzbedingte Emotionen “ trotz der Bedeutsamkeit des Themas „ Schmerz “ in der Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation in den Publikationen zu gedolmetschten Ärzt: innen- Patient: innen-Gesprächen m. W. nicht vor. Physische (Schmerzen) und psychische (Ängste) Beschwerden gehören zu den Gründen, warum Menschen medizinische Hillfe suchen. Da körperliche Schmerzen an inneren Organen, krankheitsbedingte Sorgen oder psychische Leiden der Patient: innen in der Konsultation in der Regel nicht augenfällig sind, ist das Gespräch mit den Patient: innen über Schmerzen und krankheitsbedingte Ängste für die Diagnostik entscheidend. Für diese Untersuchung sind Schilderungen von Schmerzen und Sorgen als zentrale Themen definiert worden. In den besprochenen sechs Fallbeispielen (Kap. 5.1 - 5.6) drehen sich die Interaktionen in den Fallbeispielen 1, 2 und 4/ Teil II um körperliche Schmerzen und schmerzbedingte Ängste, in Fallbeispiel 3 geht es um therapiebedingte Ängste, in Fallbeispiel 4/ Teil I um die Optimierung von Therapiemassnahmen. Fallbeispiel 5 ist eine Pflegeanamnese im Rahmen einer Aufnahme im Spital-Notfall. Der Anfang der Pflegeanamnese unterscheidet sich von den übrigen Fallbeispielen dadurch, dass der Fokus auf den Rollen und auf der theoretischen Aushandlung der Aufgaben der Beteiligten im Voraus sowie auf der anschliessenden Umsetzung dieser Vorgaben in der Interaktion liegt. Für die Auswahl der Sequenzen, die in den Kapiteln 5.1 - 5.6 behandelt werden, waren konkret vor allem fünf Aspekte wegweisend: • Erstens wurde der Fokus auf emotionale Anteile sowie auf die diesen Redebeiträgen vorausgehenden Äusserungen und die darauffolgenden Reaktionen der Beteiligten gelegt. • Zweitens war entscheidend, dass in einer Sequenzenfolge bestimmte Sachverhalte ausgehandelt werden, die aufgrund der deutschsprachigen Äusserungen der Expert: innen oder der Dolmetscher: innen einen klaren thematischen Schwerpunkt haben. Ausserdem sollten die ausgewählten „ Kommunikationsereignisse “ so dargestellt werden, dass Anfang und Ende miterfasst werden (Kallmeyer, 2005, p. 1214). Die Sequenzen sind aus diesem Grund unterschiedlich lang. • Drittens sollte das Thema von den Beteiligten über mehrere Redezüge hinweg behandelt werden, so dass dolmetschspezifische Phänomene und Probleme wie die wechselnde 110 4 Korpus und Datenaufbereitung <?page no="111"?> Adressierung, die unterschiedlichen Beteiligungsformen oder die Verständigungsarbeit im Zusammenhang erfasst werden können. • Viertens sollten die Äusserungen akustisch verständlich sein, damit der Zusammenhang möglichst deutlich wird. Dies ist nicht allein für die Analyse entscheidend. Die akustische Verständlichkeit bedeutet eine bessere Ausgangslage für die Transkribent: innen und Übersetzer: innen, so dass die Qualität der Bearbeitung der Videoaufnahmen von Anfang an eher gewährleistet ist als bei Passagen mit beeinträchtigter Tonqualität. Die Übersetzung der albanischen und der türkischen Redebeiträge wurden mehrfach überprüft (vgl. Kap. 4.1.2). • Fünftens wurden die Sequenzen aus unterschiedlichen Gesprächsphasen ausgewählt, damit ein möglichst breites Spektrum von Themen und Fachlichkeitsgraden beobachtet werden kann. 4.4 Vorgehen und Aufbau der Sequenzanalysen Für die vorliegende Untersuchung wurden aus fünf Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen sechs Fallbeispiele ausgewählt, die in den Kapiteln 5.1 - 5.6 analysiert werden. Die Gespräche werden mit Ausnahme der Fallbeispiele 4/ Teil I und 4/ Teil II von unterschiedlichen Beteiligten geführt. Diese beiden Fallbeispiele entstammen demselben Gespräch in der Diabetologie. Bei den Expert: innen handelt es sich um Ärzt: innen, einen Arzt, eine Diabetesberaterin und eine Pflegefachfrau. Die Patient: innen in den Fallbeispielen 1, 2, 3 sowie 4/ Teil I und Teil II sind chronisch krank und der Patient in Fallbeispiel 5 ist wegen verschiedenen Beschwerden seit längerem in medizinischer Behandlung. Die primären Gesprächsparteien sprechen keine gemeinsame Sprache. Beide Gesprächsparteien sind in allen Fallbeispielen auf Dolmetscher: innen angewiesen. Die Analyse der Sequenzen basiert auf den deutschen Versionen. Die Übersetzungen aus dem Albanischen beziehungsweise aus dem Türkischen ins Deutsche wurden ein weiteres Mal überprüft, wenn die deutsche Version sinnwidrig schien oder der Zusammenhang unklar war. Aufgrund ihrer Unsicherheit im Deutschen ziehen die Patient: innen es aus sprachlichen Gründen vor, ihre Anliegen mit der Unterstützung von Dolmetscher: innen vorzubringen, obwohl sie über ihre Krankheiten einiges wissen und die medizinischen Zusammenhänge zum Teil besser verstehen als die Dolmetscher: innen. In den Sequenzanalysen bilden sich die Ergebnisse des KTI-Projekts (Sleptsova et al., 2012) ab, ohne dass im Einzelnen immer nachvollziehbar ist, von wem welche Anregungen stammen, ausser sie beziehen sich auf medizinische Zusammenhänge und auf klinische Konsequenzen von inadäquaten Verdolmetschungen. Wo die Quelle von bestimmten Gedankenanstössen in meiner Erinnerung verankert ist, werde ich das kenntlich machen. Im KTI-Projekt wurden die Rolle und die Aufgaben der Dolmetscher: innen anhand der Fragebogenumfrage sowie anhand der Analyse der 19 Videoaufzeichnungen von gedolmetschten authentischen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen herausgearbeitet (vgl. die Kap. 1.3 - 1.3.2). In Kapitel 1 wurde darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse der Befragung im KTI-Projekt keine Auskunft darüber geben, wie adäquat die Dolmetscher: innen die Redebeiträge der primären Gesprächsparteien in der Praxis wiedergeben. Aus diesem 4.4 Vorgehen und Aufbau der Sequenzanalysen 111 <?page no="112"?> Grund stand der interlinguale Vergleich zwischen den ausgangssprachlichen und den zielsprachlichen Redebeiträgen im KTI-Projekt im Vordergrund (vgl. Kap. 1.3.1). Nachdem im KTI-Projekt alle Gespräche vollständig transkribiert waren und sämtliche albanischen und türkischen Redebeiträge auf Deutsch vorlagen, wurden anhand der Transkripte Beispiele herausgearbeitet, die Verständigungsprobleme erkennbar machten. Ein weiteres Untersuchungsziel des in den Kapiteln 1.3 - 1.3.2 beschriebenen KTI-Projekts lag in der Frage, welche Rolle(n) die Dolmetscher: innen ausfüllen. Im Vordergrund der vorliegenden Arbeit ist nicht mehr die Beurteilung anhand von Kriterien, sondern - wie im Ziel definiert (vgl. Kap. 1.2) - der interaktive Prozess der Ko- Konstruktion, an dem sowohl die Dolmetscher: innen als auch die primären Gesprächsparteien Anteil haben. Die verschiedenen multimodalen Handlungen und Gesprächspraktiken aller Gesprächsbeteiligten werden beobachtet, um besser zu verstehen, wie Gespräche verlaufen und wie sprachliche und andere multimodale Handlungen koordiniert werden. Ein weiterer Unterschied zum KTI-Projekt besteht darin, dass in den vorliegenden Sequenzanalysen dem Gesprächsverlauf über mehrere Redezüge gefolgt wird, was zu detailreicheren Erkenntnissen führt als bei der Herausarbeitung von Kriterien, die im Voraus etabliert worden sind. Ein dritter Punkt, der über die Befunde des KTI-Projekts hinausgeht, sind die Beteiligungsformen der Patient: innen sowie der Dolmetscher: innen. Es wird nach der Beteiligungsrolle der Patient: innen gefragt sowie danach, wie die Dolmetscher: innen sich in den vorliegenden Gesprächsausschnitten beteiligen und wie sie von den primären Gesprächsparteien beteiligt werden. Bereits für die Analysen innerhalb des KTI-Projekts wurde multimodales Material in den Fällen transkribiert, in denen in erster Linie Körperorientierung, Blickkontakte und Gesten zur Klarheit der sprachlichen Äusserungen beitragen oder einen Widerspruch zum Gesagten aufdecken (vgl. Selting et al., 2009). Für die vorliegende Untersuchung wurden an einigen Stellen nachträglich Ergänzungen angebracht, da die körperlichen Handlungen erst in der vorliegenden Arbeit systematischer in die Analysen miteinbezogen wurden. Die räumlichen Gegebenheiten, die Positionierung der Beteiligten im Raum und die Körperorientierung sind in jedem Fallbeispiel Teil der Beobachtungen. Kopfbewegungen, Blickkontakte, Gestik und Backchannel-Signale werden in die Analyse einbezogen, wenn sie an diejenigen Kontexte gebunden sind, die diskutiert werden. Die Analyse der Sequenzen orientiert sich einerseits an der Gesprächsanalyse, andererseits an der Umsetzung der Redebeiträge in die Sprache der Gesprächsparteien durch die Dolmetscher: innen. Aus der gesprächsanalytischen Perspektive basiert der analytische Zugang auf der Auffassung, dass sich Phänomene und Problemquellen in der Interaktion selbst manifestieren, d. h. die Daten selbst sind der Ausgangspunkt für die Analysen der Handlungsweisen der Beteiligten (vgl. u. a. Deppermann, 2008, p. 21). Die gesprächsanalytische Aufgabe besteht darin, nachzuvollziehen, wie die Beteiligten sich „ Schritt für Schritt “ das wechselseitige Verstehen anzeigen (Deppermann, 2008, p. 49 f.). Die Verdolmetschungen sind Teil der gemeinsam erstellten Interaktion. Die Analyse bleibt auch aus der dolmetschwissenschaftlichen Perspektive immer mit dem Blick auf die Vielfalt multimodaler Erscheinungsformen der Kommunikation verbunden (vgl. Hausendorf et al., 2012, p. 7 f.). In der dolmetschspezifischen Analyse liegt der Fokus hingegen zudem auf dem Vergleich zwischen dem ausgangssprachlichen originalen Redebeitrag und der Verdolmetschung. Mit dem Vergleich geht eine beurteilende Haltung einher, mit der die 112 4 Korpus und Datenaufbereitung <?page no="113"?> Verarbeitungsprozesse beim Dolmetschen auf dem Prüfstein stehen. Ein wesentlicher Punkt bei der Analyse ist in der Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation die Wiedergabe von „ fremden “ (Fach-)Inhalten. Das Verbindende zwischen der Gesprächsanalyse und der Dolmetschwissenschaft ist das Ziel der Sichtbarmachung des multimodalen interaktiven Handelns. Für beide Fachrichtungen sind die Gesprächsführung, die Fachlichkeit der Gespräche, die Asymmetrien, die Vertrauensbedingungen sowie das Zusammenwirken von sprachlichen und körperlichen Handlungen zentrale Themen bei der Analyse von Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen. Eine gleichermassen auf dolmetschspezifischen und auf gesprächsanalytischen Analysemethoden basierende Vorgehensweise mag zwar aufgrund der Vielfalt an Themen und aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte eine die Verarbeitungstiefe hemmende Heterogenität aufweisen, ermöglicht aber im optimalen Fall einen offenen Blick für den Variationsreichtum von multimodalen Phänomenen in der gedolmetschten Interaktion. Der Wert dieses Vorgehens liegt zudem darin, spezifische Phänomene und Probleme aus den vorliegenden Daten mit den Resultaten von Forschungsarbeiten sowohl aus der Gesprächsforschung als auch aus der Dolmetschwissenschaft, die der vorliegenden Untersuchung möglichst nahe sind, vergleichen zu können. Aus dem Bereich der Dolmetschwissenschaft werden neben dem Gesprächsdolmetschen Arbeiten zum Konferenzdolmetschen und zum Gebärdensprachdolmetschen einbezogen. Zu einzelnen Themen wie den Modifikationen, dem Rollenverständnis, den multimodalen Handlungen oder den divergierenden Wissensvoraussetzungen werden ausserdem Untersuchungen aus der aktuellen medizinischen Gesprächsforschung hinzugezogen. Dabei werden Beobachtungen und Befunde aus gedolmetschten und aus nicht-gedolmetschten Gesprächen von Linguist: innen sowie von Mediziner: innen eingebracht. Am Anfang der sechs Fallbeispiele werden zum besseren Verständnis die Art der Konsultationen, die Gesprächsinhalte und die Gesprächsphasen der spezifischen Gesprächssituationen beschrieben. Zudem werden die Gründe für die Auswahl der jeweiligen Sequenzen genannt. Die Gliederung der Fallbeispiele widerspiegelt die Perspektive sowohl der Gesprächsanalyse als auch der Dolmetschwissenschaft. Die Sequenzanalysen sind in zwei Teile gegliedert: Anschliessend an die jeweiligen Transkriptauszüge wird in einem ersten Teil (A) das koordinierte Handeln nachverfolgt, und in einem zweiten Teil (B) wird vertieft auf spezifische Phänomene und Problemquellen im gedolmetschten Kommunikationsprozess eingegangen. Aufgrund der unterschiedlichen Länge der beiden Teile scheint sich der Schluss aufzudrängen, dass der zweite Teil „ Spezifische Phänomene und Problemquellen “ gegenüber dem ersten Teil „ Interaktion als koordiniertes Handeln “ stärker gewichtet wird. Das hängt damit zusammen, dass es im zweiten Teil zu Wiederholungen kommt, da die Aktivitäten der primären Gesprächsparteien und der Dolmetscher: innen auf vielfältige Weise ineinander greifen. Die Zweiteilung verlangt deshalb verschiedentlich Querverweise auf den ersten beziehungsweise auf den zweiten Teil der Analyse. Die Zweiteilung ist gelegentlich subjektiv. Im ersten Teil wird das multimodal koordinierte Handeln im Gesprächsverlauf geschildert, im zweiten Teil gehören zu den beobachteten Phänomenen und Problemquellen jeweils die sprachlichen Formen der Redewiedergabe und der Adressierung, die Bedeutung 4.4 Vorgehen und Aufbau der Sequenzanalysen 113 <?page no="114"?> der Sitzposition der Beteiligten und der körperlichen Ressourcen, die Modifikationen der Dolmetscher: innen bei der Wiedergabe der ausgangssprachlichen Redebeiträge sowie das Rollenverständnis der Dolmetscher: innen mit den Auswirkungen auf die Beteiligungsformen aller Beteiligten. Im Hinblick auf die Modifikationen wird aufgrund der Resultate im KTI-Projekt in erster Linie den Auslassungen und den Hinzufügungen Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. Sleptsova et al., 2015). 12 In den einzelnen Fallbeispielen ist die Reihenfolge der Themen nicht in allen Teilen identisch, weil es nicht darum geht, im Voraus ausgewählte Defizite der Dolmetscher: innen herauszuarbeiten, sondern es soll vielmehr dargestellt werden, wie sich die Interaktionen zwischen Expert: innen und Patient: innen unter den erschwerten Bedingungen der gedolmetschten Interaktion entwickeln und wie sich die Beteiligten multimodal abstimmen. Die Analyse folgt aufgrund des Sequenzialitätsprinzips dem Gesprächsverlauf. Die zur Illustration ausgewählten Standbilder sollen den Bezug zur Sitzposition, zur Körperorientierung, zu den Blickkontakten und zur Gestik exemplarisch darstellen. Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Auswahl der Standbilder eingeschränkt ist, weil „ [ … ] sprachfreie Phänomene nur sehr selektiv notiert werden [ … ] “ (Deppermann, 2008, p. 45). Aus Datenschutzgründen sind die Gesichter der Beteiligten verpixelt. Für die Aufzeichnungen ist jeweils nur eine Videokamera verwendet worden, so dass die Erkennbarkeit von multimodal relevanten Faktoren zum Teil nicht eindeutig ist (vgl. Mason, 2012, p. 181). Die Blickrichtung ist in einigen Gesprächssituationen lediglich an den Kopfbewegungen festzumachen. In der Regel sind lediglich der Oberkörper, der Kopf, die Kopfhaltung, die Arme und die Hände der Beteiligten sichtbar, da sie in den vorliegenden Videoaufzeichnungen sitzen (vgl. u. a. Hausendorf, 2010; vgl. auch Hausendorf et al., 2012). Anschliessend an die Sequenzanalysen werden aufbauend auf den Ergebnissen der sechs Sequenzanalysen Musterhaftigkeiten in den Fallbeispielen herausgearbeitet (vgl. Kap. 1.2). 4.5 Fallbeispiele und Datenbeispiele im Überblick Die Fallbeispiele sowie die Datenbeispiele in den Kapiteln 2.4, 3.2 und 3.4.3 sind dem Korpus des KTI-Projekts entnommen. Für die Fallbeispiele der vorliegenden Arbeit sind Sequenzen aus fünf Gesprächen ausgewählt worden. Zwei Fallbeispiele stammen aus demselben Gespräch: Fallbeispiel Bereich Anlass Gesprächsphase/ Schwerpunkt Sprachen 1 Allgemeinmedizin Kontrolluntersuchung Beschwerdeschilderung/ Exploration (Schmerzen) Türkisch - Deutsch 2 Onkologie Nachsorge Beschwerdeschilderung/ Exploration (Schmerzen/ Angst) Türkisch - Deutsch 12 In 3866 Segmenten wurden 2148 Auslassungen und 1781 Hinzufügungen gezählt. Im Vergleich dazu fallen die Zahlen bei Ungenauigkeiten (1149) beim Rollenwechsel der Dolmetscher: innen (660), bei sinnwidrigen Verdolmetschungen (571) sowie bei terminologischen Problemen (315) geringer aus (Sleptsova et al., 2015). 114 4 Korpus und Datenaufbereitung <?page no="115"?> Fallbeispiel Bereich Anlass Gesprächsphase/ Schwerpunkt Sprachen 3 Diabetologie Diabetes- Beratung Beschwerdeschilderung/ Therapieplanung/ Gesprächsbeendigung (therapiebedingte Angst) Albanisch - Deutsch 4/ Teil I Diabetologie Kontrolluntersuchung Therapieplanung/ Anweisungen zur Optimierung der Medikation Türkisch - Deutsch 4/ Teil II Diabetologie Kontrolluntersuchung Beschwerdeschilderung/ Gesprächsbeendigung (by-the-way-syndrom) Türkisch - Deutsch 5 Notfallaufnahme Pflegeanamnese Befragung des Patienten Türkisch - Deutsch Tabelle 1: Die Fallbeispiele im Überblick Im Folgenden sind die in den Kapiteln 2 und 3 verwendeten Datenbeispiele aufgeführt: Datenbeispiel Bereich Anlass Gesprächsphase/ Schwerpunkt Sprachen 1 Psychiatrisches Gutachten Psychiatrische Abklärung Befragung zum momentanen Leben Türkisch - Deutsch 2 Allgemeinmedizin Kontrolluntersuchung Diagnose (Schmerzen) Türkisch - Deutsch 3 Anästhesiologie Kontrolluntersuchung Beschwerdeschilderung (Schmerzen) Albanisch - Deutsch 4 Psychiatrisches Gutachten Psychiatrische Abklärung Befragung zum momentanen Leben Türkisch - Deutsch Tabelle 2: Die in den Kapiteln 2 und 3 verwendeten Datenbeispiele im Überblick 4.6 Terminologisches Dolmetschen: In den meisten Fällen wird der Terminus „ Dolmetschen “ für die Tätigkeit der Dolmetscher: innen verwendet. Aus stilistischen Gründen wird in einigen Fällen der Ausdruck „ Wiedergabe “ verwendet. So wird zum Beispiel in einem Satz wie „ Die Dolmetscher: innen dolmetschen den Zusammenhang (in)adäquat “ das Verb „ dolmetschen “ durch „ wiedergeben “ oder „ übertragen “ ersetzt. Modifikationen: Da es sich bei den Divergenzen zwischen ausgangs- und zielsprachlichen Redebeiträgen um Veränderungen handelt, die sich in unterschiedlicher Weise auf den Gesprächsverlauf auswirken, wird der Terminus „ Modifikationen “ der Bezeichnung „ Abweichungen “ vorgezogen, um so mehr als das Ziel der Untersuchung nicht in der „ Fehlersuche “ liegt, sondern im Herausarbeiten von Musterhaftigkeiten. Multimodalität: In der Regel wird von Multimodalität gesprochen. Wenn der Gegensatz zwischen zwischen Sprache und Gestik bei Backchannel-Signalen verdeutlicht werden soll, wird „ sprachlich “ beziehungsweise „ körperlich “ oder „ sprachfrei “ verwendet. 4.6 Terminologisches 115 <?page no="116"?> Redebeitrag: Der Ausdruck „ Redebeitrag “ wird verwendet, wenn der Inhalt einer Äusserung gemeint ist. Redezug: DerAusdruck „ Redezug “ wird verwendet, wenn die Übernahme der Rede durch andere Sprecher: innen gemeint ist. Turn: DerAusdruck Turn wird vor allem in zusammengesetzten Wörtern verwendet, zum Beispiel beim Wort „ Turn-Übernahme “ . Reformulierung: Der Ausdruck „ Reformulierung “ wird dann verwendet, wenn die Dolmetscher: innen zum Beispiel nach einer Häsitationsphase einen Ausdruck oder einen Sachverhalt neu formulieren, ohne den Inhalt zu verändern (vgl. Gülich & Kotschi, 1987). Wenn sie aus sprachlichen oder inhaltlichen Gründen etwas Inadäquates durch eine andere Formulierung ersetzen, wird der Ausdruck „ Korrektur “ verwendet, unabhängig davon ob es sich um eine selbst-initiierte oder um eine fremd-initiierte Korrektur handelt. 116 4 Korpus und Datenaufbereitung <?page no="117"?> 5 Auswertung der Fallbeispiele Insgesamt werden 26 Gesprächsausschnitte aus fünf medizinischen Konsultationen diskutiert. Die Gesprächsausschnitte sind mit Ausnahme der Fallbeispiele 4/ Teil I und 4/ Teil II verschiedenen Konsultationen entnommen. Die Gesprächsausschnitte in den Kapiteln 5.1 - 5.6 sind nicht durchlaufend nummeriert, die Zählungen setzen in jedem Fallbeispiel jeweils neu ein. Die in den Transkripten eingesetzten Zahlen beziehen sich auf die im Lauftext besprochenen Äusserungen. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin In Fallbeispiel 1 handelt es sich um eine Verlaufskontrolle in der Allgemeinmedizin. 1 Die folgende Sequenzanalyse umfasst vier Gesprächsausschnitte, die unmittelbar aufeinander folgen. Die Dauer der vier Segmente beträgt 3: 59 Minuten. Das aufgezeichnete Gespräch dauert insgesamt 23: 00 Minuten. Das Gespräch setzt nach einer kurzen Einleitung mit der Beschwerdeschilderung der Patientin ein; die Begrüssungsszene ist in der Videoaufnahme nicht enthalten. Situierung des gesamten Gesprächs Die Gesprächsparteien sind eine deutschsprachige Ärztin (Ä) und eine türkische Patientin (P); für die Verständigung ist eine Dolmetscherin (D) hinzugezogen worden. Die Ärztin und die türkische Patientin kennen sich seit einiger Zeit. Die Ärztin hat deshalb bereits ein umfassendes Vorwissen über die verschiedenen Krankheiten der Patientin. Die Patientin litt zeitweise unter Lähmungserscheinungen und sass ein Jahr lang im Rollstuhl. Ausserdem war sie wegen Nierenkrebs und Blasenproblemen in Behandlung. Zum Zeitpunkt dieser Kontrolltermins kann sie wieder gehen, ist aber noch auf Krücken angewiesen. Im Verlauf dieses Gesprächs werden verschiedene Themen angesprochen, unter anderen sind dies die Schmerzen der Patientin, die Nachkontrollen im Anschluss an Operationen sowie die Beantragung einer Rente der Invalidenversicherung. Der unmittelbare Anlass des aktuellen Folgetermins ist der Labortest für die Verordnung des Blutverdünner-Medikaments Marcumar. Inhalt der ausgewählten Sequenzen (1 - 4) Die erste der vier Sequenzen setzt in der Eröffnungsphase ein, die in die Beschwerdeschilderung und -exploration übergeht. 1 Die Diskussionen des KTI-Teams, vor allem die Anregungen des Internisten und Psychiaters Wolf Langewitz und des Linguisten Marcel Eggler, sind in die Überlegungen eingeflossen. <?page no="118"?> Das dominante Thema in den ausgewählten vier Sequenzen ist die Schilderung der Schmerzen, die seit kurzem immer wieder auftreten. Die Ärztin stellt in den folgenden vier Sequenzen konkretisierende Fragen dazu. Dabei kommt es zu einer Reihe von Verständigungsschwierigkeiten. Auswahl der Sequenzen Der Grund für die Auswahl der folgenden Sequenzen war das Thema „ Schmerz “ . Im Fokus der Analyse sind die Verständnisschwierigkeiten in der Phase der Beschwerdeschilderung und der -exploration. 5.1.1 Sequenz 1: „ Wie geht ’ s? “ Die Ärztin eröffnet das Gespräch mit der Frage nach dem allgemeinen Befinden der Patientin: „ Wie geht ’ s? “ [11] 24 [02: 28.8] (1) 25 [02: 27.9] (2) 26 [02: 28.7] (3) Ä [v] WIE GEHTs? D [v] nas ı ls ı n ı z? D [UE] wie geht es Ihnen? P [v] EE, NIT P [nv] ((zeigt auf [12] (4). P [v] gut uh BEIde KRANK VIEL so (.) ALles. P [nv] Rücken und Knie und klopft mit den Händen auf die beiden Oberschenkel)) Ä [nv] ((Die Ärztin wendet sich nach einer Unterbrechung durch eine Assistentin [13] Ä [nv] wieder der Patientin zu, nickt ihr zu und legt ihr die Hand auf den Unterarm)) [14] 27 [02: 46.6] (5) (6) 28 [02: 48.9] D [v] iyi olmayan neyidi? onu sordu sana. D [UE] was war nicht gut? das hat sie dich gefragt. P [v] diyorumki bu baca ğı m çok bu P [nv] ((streicht mit den Händen über Hüfte P [UE] ich sage dieses Bein schmerzt sehr [15] 29 [02: 54.0] D [UE] mhm mhm. EE in dem D [nv] ((zeigt auf das Bein der P [v] kalçadan a ğ riyor tah ş uraya kadar zaten dizlerim a ğ r ı yor çok uyu ş up ş ey yapiyor P [nv] und Knie)) ((zeigt auf ihre Oberschenkel)) P [UE] von der Hüfte bis hierher meine Knie tun sowieso weh 118 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="119"?> [16] (7) D [UE] linken Bein habe ich so starke Schmerzen, das fängt von der Hüfte an D [nv] Patientin)) P [v] yani P [UE] schläft viel ein und macht dings [17] (8) 30 [03: 04.4] 31 [03: 09.3] D [UE] bis zum Knie. Tab. 5.1.1-1: Gesprächsausschnitt 1 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin beginnt diese Sequenz mit einer Frage, die gleichzeitig Teil einer Begrüssung und eine inhaltliche Aufforderung zur Darstellung der Beschwerden ist: „ Wie geht ’ s? “ (1). 2 Eine Frage, wie Spranz-Fogasy (1987) sie als typisches Muster für die Gesprächseröffnung beschreibt (Spranz-Fogasy, 1987, p. 297; vgl. auch Kap. 4.3). Mit ihrer Frage impliziert die Ärztin, dass sie die Patientin bereits kennt. Ausserdem signalisiert sie damit ihre Bereitschaft zuzuhören. Sie koordiniert die Frage mit einer einladenden Kopfbewegung zur Patientin. Sie gesteht der Patientin eine Freiheit in der Wahl des Themas ohne eine zeitliche Begrenzung zu (vgl. Löning, 1993, p. 202). Die Patientin sitzt mit Blickrichtung auf die Ärztin und antwortet auf Deutsch „ Ee, nit gut, uh beide krank, viel, so, alles. “ (4) Indem die Patientin mit beiden Handflächen auf ihre Oberschenkel klopft, macht sie deutlich, was sie mit „ beide “ meint. Ihre Antwort überlagert die Verdolmetschung der einleitenden Frage, die sie offensichtlich ohne Verdolmetschung verstanden hat. Die Antwort der Patientin wird unterbrochen, weil jemand an die Tür klopft. Die Ärztin spricht kurz mit einer (in der Videoaufzeichnung nicht zu sehenden) Assistentin; nach der kurzen Unterhaltung schliesst sie die Tür wieder. Sie wendet sich erneut der Patientin zu und die beiden schauen sich an, ohne zu sprechen. Die Patientin nutzt die Pause nicht zur Redeübernahme, sondern schweigt einen Moment abwartend, der Blick ist auf die Ärztin gerichtet. Die Ärztin stellt den gemeinsamen Gesprächsfokus mit dem Blick, mit einer Kopfgeste sowie einer Handgeste wieder her. Sie schaut die Patientin an, nickt ihr zu und legt ihr die Hand auf den Arm. Als „ Sozialdominante “ (Kallmeyer et al., 1994, p. 45 f.) kann sie anzeigen, dass die Patientin die Rede übernehmen soll. Die Dolmetscherin stupft die Patientin an und erst im Anschluss an die Intervention der Dolmetscherin übernimmt die Patientin den nächsten Redezug (vgl. Teil B). Daraufhin schildert die Patientin die Schmerzen im Bein und beschreibt weitere Symptome wie die offenbar seit längerem schmerzenden Knie und das Einschlafen (des Beins? ). Am Schluss fügt sie „ macht dings “ hinzu ohne weitere Erklärung (7). Die Ärztin macht Notizen, während die Patientin spricht und auch noch während der anschliessenden Verdolmetschung, achtet aber mit kurzen Seitenblicken immer wieder auf die Gestik der Patientin, die mit beiden Händen mehrmals über ihre Oberschenkel streicht (vgl. Bild 5.1.1 - 1). 2 Die besprochenen Stellen werden nummeriert, damit sich die Leser: innen in den Gesprächsausschnitten besser orientieren können. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 119 <?page no="120"?> Bild 5.1.1 - 1: Die Ärztin verfolgt die deiktischen Zeigegesten der Patientin mit ihrem Blick. In der folgenden Verdolmetschung fehlen die Hinweise auf diese Symptome (vgl. Teil B). Während der Verdolmetschung schaut die Patientin die Ärztin an oder sie blickt auf die Krankheitsgeschichte. Auf wen die Ärztin bei der Verdolmetschung den Blick richtet, kann an dieser Stelle nicht deutlich erkannt werden, da die Patientin nahe neben der Dolmetscherin sitzt. Im Laufe der Verdolmetschung wendet die Ärztin den Blick mehrfach ab, um sich der Schreibarbeit zu widmen. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Ärztin und die Patientin sitzen übereck am Tisch. Die Dolmetscherin sitzt unmittelbar neben der Patientin und neigt den Oberkörper leicht nach vorne. So kann sie den Blickkontakt mit der Ärztin beziehungsweise mit der Patientin fallweise leicht herstellen. Die Patientin antwortet auf die Eingangsfrage der Ärztin ( „ Wie geht ’ s? “ [1]) auf Deutsch ( „ Ee nit gut …“ [4]), ohne dafür eine Verdolmetschung zu benötigen. Sie kann also etwas Deutsch. Die Dolmetscherin bringt sich trotzdem ins Gespräch ein und personalisiert die Frage „ Nas ı ls ı n ı z? “ (2), auf Deutsch „ Wie geht es Ihnen? “ (3) Als Form der Adressierung der Patientin wählt sie die 3. Person Plural. Sie dreht sich der Patientin zu und richtet den Blick auf sie. Nach der Unterbrechung durch die Assistentin (vgl. Teil A), die die Patientin mit dem Blick zur leicht geöffneten Tür verfolgt, überbrückt die Dolmetscherin das Schweigen der Patientin im Anschluss an die Geste der Ärztin, indem sie die Wiederaufnahme des Gesprächs übernimmt. Die Patientin dreht den Kopf und wendet sich der Dolmetscherin zu. Der Grund für die Kopfbewegung liegt in der für die Patientin ungünstigen Sitzposition unmittelbar neben der Dolmetscherin. Die Dolmetscherin schränkt die offene Frage derÄrztin nach dem Befinden der Patientin ein und fordert stattdessen eine Beschreibung von konkreten Symptomen: „ Was war nicht 120 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="121"?> gut? “ (5) Sie steuert den Gesprächsverlauf, indem sie der Patientin metakommunikativ auf Türkisch vermittelt, dass sie sich genau an die Frage derÄrztin halten soll: „ Das hat sie dich gefragt. “ (6) Die Dolmetscherin wechselt in der Adressierung zur 2. Person Singular. Der Ärztin präsentiert die Dolmetscherin keine Wiedergabe ihrer selbst-initiierten Anweisung für die Patientin. Die Ärztin lässt diese kurze Intervention der Dolmetscherin auf Türkisch zu, ohne nachzufragen. Die Dolmetscherin übernimmt die Rolle einer primären Gesprächspartei, erinnert die Patientin unaufgefordert an die Frage der Ärztin und ermahnt sie zum Weitersprechen. Dabei verwendet sie die 2. Person Singular: „ Das hat sie dich gefragt. “ (6) Die Frage „ Was war nicht gut? “ (5) wird metasprachlich als Redewiedergabe gekennzeichnet. Inhaltlich betont die Dolmetscherin damit zu Unrecht die Genauigkeit der Verdolmetschung. Die Entscheidung der Dolmetscherin, die Patientin in der 2. Person Singular zu adressieren, wenn sie mit der Patientin Türkisch spricht, mag kulturelle Gründe haben, weil sich Patient: innen und Expert: innen in der Türkei häufig duzen. Die vertrauliche Anredeform könnte allerdings auch ein Anzeichen dafür sein, dass die Patientin und die Dolmetscherin sich privat oder von früheren Dolmetscheinsätzen kennen. Während der Beschwerdeschilderung folgt die Patientin mit dem Blick ihren Gesten, um diese relevant zu setzen (vgl. Stukenbrock, 2008, p. 9). Anschliessend schaut sie mit einem kontrollierenden Blick auf die Dolmetscherin. Die Dolmetscherin richtet ihren Blick auf die Zeigegesten der Patientin. Aufgrund der Kopfhaltung der Dolmetscherin ist anzunehmen, dass sie sich auf die Patientin konzentriert und die kurzen Seitenblicke der Ärztin auf die Zeigegesten der Patientin nicht registriert. Mit dem Backchannel-Signal „ mhm mhm “ (7) bestätigt sie der Patientin, dass sie ihren Redebeitrag verstanden hat und mit der Verdolmetschung einsetzt (vgl. Gardner, 2001, p. 2). Die Blickrichtung der Dolmetscherin zur Patientin während der Rückmeldung wird erst nachträglich wahrnehmbar, wenn sie nach dem Backchannel-Signal den Kopf zur Ärztin dreht. Sie verbalisiert für die Ärztin, wo die Patientin Schmerzen empfindet: „ mhm, mhm ee, in dem linken Bein habe ich so starke Schmerzen, das fängt von der Hüfte an bis zum Knie “ (8) (vgl. Bild 5.1.1 - 1). In der Beschwerdeschilderung der Patientin übernimmt die Dolmetscherin die 1. Person Singular. Die Gesten der Patientin werden von der Dolmetscherin nicht im gleichen Umfang reproduziert. Während die Patientin mit beiden Händen über die Oberschenkel streicht, deutet die Dolmetscherin mit dem Zeigefinger auf die entsprechenden Schmerzstellen und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die gleiche Stelle wie die Patientin (vgl. Bild 5.1.1 - 2). Stukenbrock (2015) weist darauf hin, dass bei Zeigegesten prototypischerweise der Zeigefinger verwendet wird (Stukenbrock, 2015, pp. 21; vgl. auch Kendon, 2004; McNeill 1992). Den Hinweis auf die „ sowieso “ schmerzenden Knie, das „ Einschlafen “ und „ macht dings “ lässt die Dolmetscherin aus (7). Die Ärztin kann diese Beschwerden deshalb nicht explorieren. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 121 <?page no="122"?> Bild 5.1.1 - 2: Die Dolmetscherin zeigt mit dem Zeigefinger andeutungsweise auf die Schmerzstellen. Im Verlauf der 1. Sequenz fallen die Modifikationen der ausgangssprachlichen Äusserungen auf: Bei der Wiedergabe der Dolmetscherin fällt zunächst ihr selbst-initiiertes Eingreifen auf, mit dem sie die Patientin auf Türkisch anweist, ihre Beschwerden zu schildern, ohne dass die Ärztin darauf reagiert. Ihre Intervention dauert nicht einmal eine Sekunde. Trotzdem hindert sie mit ihrem selbst-initiierten Eingreifen die Patientin unter Umständen daran, positive Entwicklungen zu beschreiben. Auf die Anweisung der Dolmetscherin hin schildert die Patientin ihre Symptome. Die Dolmetscherin unterbricht die Patientin. Bevor diese zu Ende gesprochen hat, setzt die Dolmetscherin überlappend mit der Wiedergabe ein. Das Ende des Redebeitrags hört sie deshalb nicht mehr. In der Folge reduziert sie die Wiedergabe der Beschwerden auf die Schmerzen im linken Bein bis zum Knie (8). 5.1.2 „ Sind das Schmerzen, die neu sind oder die Sie schon von vorher kennen? “ Die Ärztin schliesst mit präzisierenden Nachfragen an das für die weitere Exploration entscheidende Stichwort „ Schmerzen “ an. [17] 30 [03: 04.4] 31 [03: 09.3] (9) Ä [v] mhm mhm sind das SCHMERzen, die NEU sind [18] 32 [03: 14.0] Ä [v] oder die Sie schon von VORher kennen? D [v] bu a ğ r ı lar peki yenimi yoksa daha D [UE] Diese Schmerzen also sind die neu oder [19] (10) D [v] öncenden biliyormusun yoksa daha öncen biliyormusun bu a ğ r ı lar varmydi? D [UE] kennst du sie von vorher oder weisst du ob du die Schmerzen vorher hattest. 122 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="123"?> [20] 33 [03: 18.2] (11) 34 [03: 23.7] (12) D [v] yok, yok bu ş imdi tarif D [UE] Nein nein der Schmerz P [v] ya zaten dizlerim bu felcden dolay ı a ğ riyor belim. P [nv] ((zeigt auf Knie und Rücken)) P [UE] Na meine Knie der Rücken schmerzen wegen der Lähmung. Ä [nv] ((wendet sich ihrer Schreibarbeit zu)) [21] 35 [03: 25.4] 36 [03: 26.6] (13) D [v] etti ğ in a ğ ri ee das ist neu. D [UE] den du jetzt beschreibst. P [v] ş u yeni. P [nv] ((zeigt wieder vom Rücken zum Knie)) P [UE] Das ist neu [22] 37 [03: 27.8] 38 [03: 29.9] (14) D [UE] Ja diese Schmerzen von Hüfte bis Knie P [v] ş öle ş urdan ş uraya kadar yeni. P [nv] ((zeigt auf den linken Oberschenkel)) P [UE] So von hier bis da also [23] 39 [03: 34.0] (15) 40 [03: 35.7] (16) 41 [03: 38.0] 42 [03: 38.0] Ä [v] mhm, seit WANN haben Sie die SCHMERzen? Ä [nv] ((nickt)) D [UE/ v] das ist neu. nezamandan beri bu a ğ r ı var? D [UE] Seit wann besteht dieser Schmerz? P [UE] Hmm, nach [24] 43 [03: 43.7] (17) D [UE] Am einundzwanzigsten bin ich von der Türkei zurückgekommen und dann P [v] Hmm, Türkiyeden döndükten sonra öyle oldu, Ay ı n 21de döndüm ondan sonra burda P [UE] der Rückkehr aus der Türkei wurde es so, am einundzwanzigsten bin ich [25] (18) 44 [03: 44.4] 45 [03: 40.1] 46 [03: 50.1] (19) 47 [03: 50.1] 48 [03: 51.0] Ä [v] GRAD daNACH? D [UE] hat es angefangen. D [nv] ((Dolm stellt die Krücken auf die P [v] hava so ğ uktu. P [UE] zurückgekehrt danach war das Wetter hier kalt. [26] (20) 49 [03: 51.8] (21) 50 [03: 53.0] D [UE] Das Wetter war hier so kalt. D [nv] andere Seite)) P [v] nanay iyi de ğ ildi. P [UE] Nein es war nicht gut . Tab. 5.1.2 - 1: Gesprächsausschnitt 2 A. Interaktion als koordiniertes Handeln In Sequenz 2 handelt es sich um eine Folge von Frage-Antwort-Sequenzen. Bei der Frage „ Sind das Schmerzen, die neu sind oder die Sie schon von vorher kennen? “ (9) formuliert die 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 123 <?page no="124"?> Ärztin im ersten Teil der Frage unpersönlich. Ob sie den Blick bei dieser Frage auf die Patientin oder auf die Dolmetscherin gerichtet hat, ist nicht sichtbar. Die Ärztin spricht langsam und deutlich, wie wenn sie hoffen würde, dass die Patientin sie ohne Verdolmetschung versteht. Verbal richtet sie sich an die Patientin, die in der vorhergehenden Sequenz gezeigt hat, dass sie etwas Deutsch kann. Die Dolmetscherin vermittelt der Ärztin nach einer kurzen Intervention auf Türkisch die Antwort: „ Ee, das ist neu. “ (13) Die Ärztin achtet nicht darauf, dass die Dolmetscherin vor der Wiedergabe zur Patientin auf Türkisch spricht, ohne etwas zu verdolmetschen. Während dieses Zwiegesprächs wendet sie sich den Unterlagen zu. Deshalb erkennt sie nicht, dass möglicherweise ein Problem entsteht, wenn sie nicht vernimmt, was geredet wird. Sie signalisiert stattdessen mit „ mhm “ , dass sie das Rederecht übernimmt und fragt gleich im Anschluss daran: „ Seit wann haben Sie die Schmerzen? “ (16) Nach dem Signal des Nachdenkens „ hmm “ folgt eine längere Erklärung der Patientin, während der sie die Dolmetscherin anblickt. Sie erzählt aus der Erinnerung an die damalige Zeit: „ Hmm, nach der Rückkehr aus der Türkei wurde es so, am einundzwanzigsten bin ich zurückgekehrt, danach war das Wetter hier kalt. “ (17) Bei der Transkription der ins Deutsche übersetzten Version des Redebeitrags der Patientin „ [ … ] danach war das Wetter hier kalt. “ entsteht der Eindruck einer zusammenhängenden Erzählstruktur mit der präzisierenden Zeitangabe in der Mitte der Äusserung sowie der darauffolgenden temporalen Verknüpfung „ danach “ . Die Dolmetscherin vermittelt die Fakten inhaltlich adäquat, aber reduziert, ohne das Narrative beizubehalten: „ Am einundzwanzigsten bin ich von der Türkei zurückgekommen und dann hat es angefangen. “ Die Ärztin fragt gedehnt „ Grad danach? “ (19) Sie scheint dem Umstand der zeitlichen Abfolge eine Bedeutung für die Beurteilung der Schmerzursache zuzumessen. Ohne die temporale Verknüpfung ( „ danach “ ) in der ausgangssprachlichen Äusserung der Patientin beendet die Dolmetscherin die Wiedergabe: „ Das Wetter war hier so kalt. “ (20) Während der Verdolmetschung wendet sich die Patientin wieder der Ärztin zu und signalisiert mit dem auf dem Schreibtisch der Ärztin aufgelegten Arm eine Vertrautheit mit der Situation und der Ärztin (vgl. Bild 5.1.2 - 3) B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Bereits bei der Adressierung zeigt sich bei der Dolmetscherin eine Uneinheitlichkeit im formalen sprachlichen Verhalten. Zunächst dolmetscht sie die Frage der Ärztin mit einer unpersönlichen Formulierung, wie es die Ärztin in der ausgangssprachlichen Frage getan hatte: „ Diese Schmerzen also sind die neu [ … ] “ , wechselt aber innerhalb desselben Redebeitrags zur 2. Person Singular: „ oder kennst du sie von vorher [ … ] “ (10). Bei der selbst-initiierten Anweisung an die Patientin bleibt sie bei der 2. Person Singular: „ Nein, nein, der Schmerz, den du jetzt beschreibst “ (12). Mit der Usanz im institutionellen Kontext in Schweizer Spitälern in Einklang ist ausschliesslich die 3. Person Plural „ Sie “ . „ Du “ wird als beleidigend empfunden, wenn man sich nicht persönlich kennt. Auf die Frage derÄrztin ( „ Seit wann haben Sie die Schmerzen? “ [15]) wechselt sie wiederum zur unpersönlichen Formulierung: „ Seit wann besteht dieser Schmerz? “ (16) Der Adressierungswechsel zeigt eine sprachliche Instabilität, die auf ein wenig reflektiertes Rollenverständnis der Dolmetscherin hindeutet. 124 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="125"?> Die Redewiedergabe in der 1. Person Singular ( „ am einundzwanzigsten bin ich zurückgekehrt …“ [18] scheint immerhin zu belegen, dass die Dolmetscherin mit dem formalen Aspekt des Dolmetschens in Kontakt gekommen ist. Die Modifikationen zeigen einen Mangel in der Erfassung der Struktur der von derÄrztin gestellten Frage. Die Dolmetscherin gibt den ersten und den zweiten Teil der von derÄrztin formulierten Frage zu Beginn von Sequenz 2 zwar inhaltlich adäquat wieder: „ Diese Schmerzen also sind die neu oder kennst du sie von vorher? “ , fügt dem zweiten Teil dann aber einen mehr oder weniger synonymen dritten Teil hinzu: „ [ … ] oder weisst du, ob du die Schmerzen vorher hattest? “ (10) Das expandierende Dolmetschen beeinträchtigt die Verständlichkeit. Die Fragestruktur suggeriert drei Antwortmöglichkeiten statt der alternativen Beziehung ( „ neue Schmerzen “ vs. „ frühere Schmerzerfahrungen “ ). Der dritte Teil ist inhaltlich lediglich eine Paraphrase 3 des zweiten Teils. Die Dolmetscherin hat die Äusserung aus eigener Initiative expandiert, sie wurde weder verbal zur Klärung aufgefordert, zum Beispiel durch eine Frage, noch durch multimodale Signale der Patientin. Man könnte in diesem Fall vermuten, dass die Dolmetscherin mit ihrer paraphrasierenden Formulierung die Frage von sich aus verdeutlichen möchte. Aber die Ergänzung der Frage durch die Dolmetscherin hat keine klärende Wirkung. Die Paraphrase lässt eher auf eine mangelnde kognitive Kompetenz der Dolmetscherin bei der Erfassung der Inhalte und/ oder auf ein mangelhaftes Monitoring (Selbstkontrolle) schliessen. 4 Die Äusserung wird unübersichtlicher und weniger gut verständlich als die kürzere und prägnantere originale Formulierung der Ärztin. Im Laufe der Sequenz 2 erschweren die Auslassungen sowie die Unterschiede zwischen den ausgangsprachlichen Äusserungen und den zielsprachlichen Formulierungen der Dolmetscherin an verschiedenen Stellen die Verständigung. Mit der Antwort „ Na meine Knie, der Rücken schmerzen wegen der Lähmung “ (11) reagiert die Patientin weder auf die Frage der Ärztin noch auf die Verdolmetschung. Aufgrund dieser Reaktion kann man mutmassen, dass die Patientin die Paraphrase der ursprünglichen Frage nicht verstanden hat. Die Aussage der Patientin könnte darauf hinweisen, dass sie die Schmerzen doch schon früher gehabt hat, nämlich zur Zeit der Lähmung (die Lähmung und die früher untersuchten Schmerzen werden knapp 5 Minuten später im Gespräch ausserhalb der hier wiedergegebenen Sequenzen thematisiert). Mit ihrer Antwort äussert die Patientin ihre eigene 3 Gülich & Kotschi (1987) definieren die Paraphrase in ihrem Beitrag „ Reformulierungshandlungen als Mittel der Textkonstitution “ als eine Reformulierungshandlung. Dabei wird die vorherige Äusserung durch das Nachfolgende nicht ungültig. Von Korrektur sprechen sie dann, wenn eine frühere Formulierung im Nachhinein als ungültig bezeichnet wird (Gülich & Kotschi, 1987, p. 218). 4 In ihrem Beitrag „ How do experts interpret? “ zieht Liu (2008) aufgrund von Ergebnissen aus verschiedenen Forschungsberichten den Schluss, dass erfahrene Simultandolmetscher: innen ihre Dolmetschleistungen weit besser monitoren, weil sie durch die Dolmetschprozesse weniger ausgelastet sind als Dolmetscher: innen mit weniger Erfahrung und für den „ checking mechanism “ mehr Kapazitäten zur Verfügung haben (Liu, 2008, p. 167). Dieser Mangel an kognitiver Sprachverarbeitungsroutine mag auch bei Gesprächsdolmetscher: innen ein Grund für die geringere Kapazität bei Monitoringprozessen sein. Allerdings lässt sich eine direkte Vergleichbarkeit zwischen dem Monitoring beim Simultandolmetschen und beim Gesprächsdolmetschen nur bedingt belegen. Selbst beim Simultandolmetschen ist die Vergleichbarkeit zwischen noch unerfahrenen und erfahrenen Dolmetscher: innen nicht immer gewährleistet, da die Erforschung des Paradigmas Expert: innen - Anfänger: innen auf unterschiedlichen Rahmenbedingungen basiert (vgl. Moser Mercer, 1997; Moser Mercer, 2015). 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 125 <?page no="126"?> Meinung über die Ursache der Schmerzen. Die Dolmetscherin lässt diese Antwort nicht gelten und weist die Patientin aus eigener Initiative an, statt über die Lähmung über die Schmerzen, die eben gerade thematisiert worden sind, zu sprechen: „ Nein, nein, der Schmerz, den du jetzt beschreibst. “ (12) Offenbar hält die Dolmetscherin den Hinweis auf die Lähmung für unpassend oder irrelevant und bestimmt möglicherweise im Sinne des gatekeeping mit, was Thema sein soll und was nicht. Sie verstösst damit gegen dolmetschethische Regeln und verhält sich der Patientin gegenüber manipulativ (vgl. Kap. 3.4.3). Die Ärztin lässt das kurze Zwiegespräch der Dolmetscherin mit der Patientin auf Türkisch zu, ohne nachzufragen (vgl. Teil A). Sie vertraut der Dolmetscherin (vgl. Kap. 3.6.3). Der Hinweis der Patientin auf die Lähmung wäre möglicherweise klinisch bedeutsam gewesen. 5 Damit nimmt die Dolmetscherin an der medizinischen Verantwortung teil und sieht sich in der Rolle einer aktiven Gesprächspartei, von der die Ärztin nichts ahnt. 6 In einem nichtgedolmetschten Gespräch hätte die Ärztin diesen Hinweis auf die Lähmung gehört und entscheiden können, ob sie ihn thematisch weiterverfolgen oder ihm die Relevanz absprechen möchte. Eine weitere Modifikation ist an der sprachlichen Oberfläche eher unspektakulär und wird erst bei genauerer Beobachtung wahrnehmbar. Es handelt sich um die Stelle, an der die Patientin erzählt, seit wann sie die Schmerzen hat. Sie gibt mit dem Backchannel-Signal „ hmm “ zu verstehen, dass sie die Frage überlegen will und sich in die damalige Situation zurückversetzt: „ Hmm, nach der Rückkehr aus der Türkei wurde es so, am einundzwanzigsten bin ich zurückgekehrt, danach war das Wetter hier kalt. “ (17) Die Verdolmetschung fällt diesmal knapper aus als das ausgangssprachliche Original: „ Am einundzwanzigsten bin ich von der Türkei zurückgekommen und dann hat es angefangen. “ (18) Und zeitlich leicht versetzt: „ Das Wetter war hier so kalt. “ (20) Die Verdolmetschung verliert mit der Auslassung des Backchannel-Signals gegenüber der Patientenäusserung am Erzählcharakter und an Authentizität (vgl. Teil A). Während die Dolmetscherin noch spricht, fasst die Patientin mit Nachdruck zusammen: „ Nein, es war nicht gut. “ (21) Dieser Kommentar der Patientin wird von der Dolmetscherin nicht wiedergegeben - vermutlich überhört sie ihn, weil beide gleichzeitig sprechen, und ausserdem ist die Dolmetscherin an dieser Stelle gerade damit beschäftigt, die Krücken der Patientin zur Seite zu stellen. (vgl. Bild 5.1.2 - 3). Die Dolmetscherin richtet den Blick auf die jeweilige Sprecherin, da sie sich auf die Redebeiträge konzentrieren muss. 7 Wenn die Dolmetscherin spricht, löst sie den Blick mehrmals von den Zuhörer: innen, wie es der Goodwinschen Regel (Goodwin, 1980) entspricht (vgl. Kap. 2.3.2). Eine Besonderheit ist die Blickabwendung in dem Moment, in dem sie die Krücken der Patientin auf die linke Seite stellt. 5 Dieser Frage wird hier nicht weiter nachgegangen, da es sich um eine linguistische Untersuchung handelt. 6 Für die Übernahme einer Mitverantwortung durch die Dolmetscherin wird in der Literatur häufig die Bezeichnung Ko-Therapeutin verwendet (vgl. Bot, 2015, p. 258). 7 Die Dolmetscherin hat den Blick aus Konzentrationsgründen in der Rezeptionsphase immer auf die jeweilige Sprecherin gerichtet (vgl. Mason, 2012; Vranjes et al., 2018a). 126 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="127"?> Bild 5.1.2 - 3: Die Dolmetscherin stellt die Krücken der Patientin neben sich. Die Manipulation mit den Krücken der Patientin mag dazu beitragen, dass die Dolmetscherin ihre Konzentration durch ihr eigenes Verhalten einschränkt und den Gedankenfluss der Patientin weniger detailgetreu zum Ausdruck bringt, was sich mit den Beobachtungen Giles (2009) zu den Grenzen des Arbeitsspeichers deckt (vgl. Kap. 3.2). Die Dolmetscherin folgt mit ihrem Blick ihrer Bewegung, mit der sie die Krücken zur Seite stellt. Gleichzeitig vervollständigt sie die Verdolmetschung. Während der Verdolmetschung schaut die Patientin zur Ärztin. Die Ärztin hört nur die Verdolmetschung und zieht kaum in Betracht, dass die zielsprachliche Äusserung das Resultat des Dolmetschprozesses ist und dem ausgangssprachlichen Redebeitrag in den Details nicht entspricht. So könnte bei der Ärztin der Eindruck entstehen, dass die Patientin das Erlebte in einfachen Hauptsätzen ohne Verknüpfungshinweise beschreibt. Vermutlich schreibt sie die einfache Syntax automatisch der Patientin zu, umso mehr als die Dolmetscherin den Redebeitrag der Patientin in der 1. Person Singular wiedergibt. Die Folge davon könnte sein, dass sie die kognitiven Fähigkeiten der Patientin unterschätzt. Wie in Sequenz 1 unterstreicht die Patientin ihre Worte mit Zeigegesten. Die Patientin zeigt mehrfach auf die entsprechende Körperstelle (vgl. die Zeilen [20], [21] und [22]). Die Dolmetscherin verbalisiert die Gesten der Patientin, ohne sie zu reproduzieren „ von Hüfte bis Knie “ für die Ärztin: „ Ja, diese Schmerzen von Hüfte bis Knie, das ist neu. “ (14) Obwohl die Zeigegesten der Patientin in dieser Sequenz fast allgegenwärtig sind, reagiert die Ärztin auf diese deiktischen Prozeduren nicht. Sie agiert meist schriftorientiert und führt die Krankengeschichte weiter. Dabei achtet sie kaum mehr auf das visuell wahrnehmbare Geschehen. Die Verbalisierung der Dolmetscherin kann als Reaktion auf das Verhalten der Ärztin gesehen werden. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 127 <?page no="128"?> 5.1.3 „ Sind die Schmerzen abhängig von der Belastung oder auch in Ruhe oder in der Nacht? “ Nachdem die Ärztin in Sequenz 2 erfahren hat, dass die Patientin unter Schmerzen leidet, die sie vorher nicht gehabt hat, möchte sie nun klären, ob die Schmerzen nur bei Belastung „ oder auch in Ruhe oder in der Nacht “ auftreten. [26] 50 [03: 53.0] 51 [03: 54.9] Ä [v] jaa sind die SCHMERzen ABhängig von deeer [27] (22) 52 [03: 59.3] (23) 53 [04: 03.1] Ä [v] BeLAStung? oder auch in RUhe oder in der NACHT. D [v] peki bu a ğ r ı lar ı n ş eyle ilgisi D [UE] Haben diese Schmerzen eine [28] (24) 54 [04: 09.9] (25) D [v] varm ı ? kendini yormakla hareketlerle? D [UE] Verbindung mit Dings wenn du dich anstrengst oder bewegst? P [v] nanay onlar her gün P [nv] ((streicht sich über P [UE] Nene die sind nicht [29] (26) (27) P [v] yok yok. ben bu so ğ ukta d ış ar ı çk ı m ı yorum yürüyü ş yapm ı yorum ondan m ı ? P [nv] den Oberschenkel)) P [UE] jeden Tag da. Ich gehe bei der Kälte nicht raus und laufe nicht ist es deswegen? [30] 55 [04: 10.3] (28) 56 [04: 14.8] 57 [04: 17.1] (29) (30) D [UE] Das hängt nicht davon ab. kann das auch schon sein. das Wetter ist kalt. P [v] çünkü kay ı yorum kar var, buz var. P [UE] Ich rutsche aus es hat Eis darum. [31] (31) D [UE] mhm. Das Wetter ist jetzt kalt und dann ich gehe nicht raus. Ich [32] 58 [04: 19.5] (32) Ä [v] hmmm Ä [nv] ((zieht die Augenbrauen hoch und nickt)) D [UE] mache keine Spaziergänge. vielleicht das hängt auch davon ab. D [nv] ((begleitet die Rede mit Schlagstockgesten)) [33] (33) 60 [04: 32.3] Ä [v] mhm, mhm Tab. 5.1.3-3: Gesprächsausschnitt 3 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin exploriert die Ursache der Schmerzen. Sie ruft mit dem Ausdruck „ Belastung “ einen Fachbezug auf, der aber von der Dolmetscherin nicht aufgenommen wird (vgl. Teil B). Sie fragt weiter, ob die Schmerzen auch „ in Ruhe oder in der Nacht “ auftreten. Die Frage nach den Umständen der Schmerzen „ in Ruhe oder in der Nacht “ (23) fehlt in der Verdolmetschung und löst damit einen anders gearteten Gesprächsverlauf aus, als wenn die Dolmetscherin diese Frage wiedergegeben hätte und die Patientin darauf hätte reagieren können. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Auftreten der Schmerzen gestaltet sich nicht zielführend (vgl. Teil B). 128 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="129"?> Schliesslich führen die ins Deutsche gedolmetschten Sachverhalte doch zu einem Befund. Am Ende der Sequenz 3 quittiert die Ärztin die Verdolmetschung mit dem Ausdruck des Überlegens „ hmmm “ , mit einem Nicken und der zustimmenden Backchannel-Reaktion „ mhm mhm “ (33) (vgl. Gardner, 2001, p. 2). Die fehlende Bewegung als Ursache der Schmerzen scheint ihr plausibel, auch wenn die von ihr erfragten Umstände unbeantwortet bleiben. Sie weiss nicht, dass das Gegensatzpaar der Belastungsphase und der Ruhephase unverdolmetscht geblieben ist, so dass die Patientin diese Frage nicht bearbeiten kann. Der genaue Gesprächsverlauf bleibt ihr verborgen. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Ärztin hat die Eingangsfrage in Sequenz 3 ohne Anrede gestellt, aber die Dolmetscherin adressiert die Patientin in der 2. Person Singular. Diese Form der Adressierung entspricht damit dem Verhalten der Dolmetscherin in den ersten zwei Sequenzen. Für die Redewiedergabe der Äusserungen der Patientin bleibt die Dolmetscherin wie in den ersten beiden Sequenzen bei der 1. Person Singular, d. h. sie spricht aus der Perspektive der Patientin. In Sequenz 3 spielen die Modifikationen der gedolmetschten Version gegenüber den originalen Äusserungen eine gravierende Rolle. Die Auslassungen und inhaltlichen Verschiebungen der Dolmetscherin prägen den Gesprächsverlauf in entscheidender Weise. Aus der Frage der Ärztin „ Sind die Schmerzen abhängig von der Belastung? Oder auch in Ruhe oder in der Nacht. “ (22/ 23) wird in der Verdolmetschung folgende Äusserung: „ Haben diese Schmerzen eine Verbindung mit dings, wenn du dich anstrengst oder bewegst? “ (24) Die Dolmetscherin formuliert expandierend, ähnlich wie das bereits in der Sequenz 2 bei der Frage, ob die Schmerzen neu sind oder ob sie sie von früher kennt, beobachtet werden konnte, lässt aber „ Ruhe “ und „ Nacht “ aus. Die Frage derÄrztin ist elliptisch, was die Verständlichkeit erschwert (vgl. Fiehler, 2015; vgl. auch Kap. 3.4.4). Die Dolmetscherin erfasst den Sinn nicht und weicht auf „ dings “ aus. Die Patientin kann in der Folge nicht verstehen, was die Dolmetscherin mit „ dings “ meint. Sie könnte nachfragen, unterlässt das aber. Neben der Auslassung des Fachausdrucks „ Belastung “ und die Auslassung von den erfragten Rahmenbedingungen der Schmerzen „ in Ruhe “ und „ in der Nacht “ (vgl. Teil A) ist die verdolmetschte Antwort auch aufgrund der unklaren Bezüge der Pronomina „ das “ und des Adverbs „ davon “ unverständlich ( „ Das hängt nicht davon ab. Kann das auch schon sein. “ [28/ 29]) Das Problem der fehlenden Verknüpfung ist in der Dolmetschwissenschaft bekannt (vgl. Kap. 3.3). In ihrem Beitrag zur Bedeutung von kohäsionsfördernden Verknüpfungen für die Dolmetschwissenschaft meint Tebble: „ Pronouns can cause ambiguity if the nouns to which they refer are not explicit. “ (Tebble, 2009, p. 215) Die Ärztin erhält keine Antwort auf ihre Frage nach dem Eintreten der Schmerzen in der Belastungsbeziehungsweise in der Ruhephase, was die wechselseitige Verständigung beeinträchtigt. Das Nicht-Eingehen auf ihre Frage schreibt sie wohl der Patientin zu. Das Ausbleiben der Antwort ist in Wirklichkeit jedoch auf die Modifikation in der Verdolmetschung zurückzuführen, von der die Ärztin nichts weiss. Aufgrund der Auslassung der Dolmetscherin kann die Patientin auf die Frage derÄrztin gar nicht antworten. Aus dem Informationsangebot der Dolmetscherin ( „ dings “ , „ anstrengen “ oder “ bewegen “ nimmt sie das Thema „ Bewegung “ auf und führt aus, dass die Schmerzen nicht jeden Tag da sind (25) und dass sie sich nicht gross bewegt, weil es draussen zu kalt ist. „ Ich gehe bei der Kälte 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 129 <?page no="130"?> nicht raus und laufe nicht, ist es deswegen? “ (26/ 27) In der Frage der Patientin „ [ … ] ist es deswegen? “ (27) verbirgt sich vermutlich ihre Hypothese, dass sie Schmerzen hat, weil ihr die Bewegung fehlt. Jedenfalls greift die Dolmetscherin diese Begründung auf und formuliert ausführlicher als die Patientin: „ Das Wetter ist jetzt kalt und dann gehe ich nicht raus, ich mache keine Spaziergänge. “ (31) Die Ärztin kann die Frage „ [ … ] ist es deswegen? “ in der türkischen Version nicht wahrnehmen. Allenfalls könnte sie den Anfang der Antwort in der gedolmetschten Version ( „ das hängt nicht davon ab “ [28]) noch als Folgeäusserung der Frage verstehen, aber die weitere Entwicklung ( „ Kann das auch schon sein “ [29]) steht in keinem Bezug zu ihrer ursprünglichen Frage. In der anschliessenden Wiedergabe formuliert die Dolmetscherin expliziter als die Patientin: „ mhm, das Wetter ist jetzt kalt und dann ich gehe nicht raus, ich mache keine Spaziergänge “ (31). Der Zusammenhang zwischen den ausbleibenden Spaziergängen und der Bewegungsarmut „ Vielleicht das hängt auch davon ab “ (32) wird in der Verdolmetschung deutlicher herausgearbeitet als die Frage der Patientin „ ist es deswegen? “ (27) dies tut. Diese Präzisierung mag der Auslöser dafür sein, dass die Ärztin sich für den Bewegungsmangel als Ursache für die Schmerzen entscheidet. Sie reagiert mit verbaler Zustimmung auf die Vermutung der Dolmetscherin ( „ mhm, mhm “ [32]). Ihre Mimik deutet ebenso darauf hin, sie zieht die Augenbrauen hoch und nickt. Die Ursache der Bewegungsarmut wurde zwar im interaktiven Zusammenspiel erarbeitet, aber die Dolmetscherin war aktiver an der Interaktion beteiligt, als die Ärztin wissen kann: Ursprünglich hat die Patientin einen Zusammenhang zwischen den Schmerzen und der Lähmung herstellen wollen, aber die Dolmetscherin hat die von der Patientin vorgebrachte Ursache der Lähmung zurückgewiesen und gibt der Bedeutung der Kälte, des Zuhauseseins und der fehlenden Spaziergänge durch expandierendes Dolmetschen mehr Gewicht. Sie begleitet ihre Wiedergabe mit Schlag- oder Taktstockgesten, die den Charakter der Aufzählung „ mittragen “ und eine kohäsive Wirkung haben. Zu weiteren Modifikationen führen Überlappungen in der 3. Sequenz: Äusserungen überlagern einander, zum Teil weil die Dolmetscherin mit der Wiedergabe einsetzt, bevor die Patientin zu Ende gesprochen hat, zum Teil weil die Patientin weiterspricht, während die Dolmetscherin das Vorhergehende dolmetscht. Das überlappende Sprechen ist der Grund für die Wiederholung des Hinweises darauf, dass das Wetter kalt ist, und vermutlich auch für die Auslassung der Dolmetscherin einer weiteren Erklärung der Patientin dafür, dass sie nicht hinausgeht: „ Ich rutsche aus, es hat Eis, darum. “ (30) Solange die Patientin überlappend mit der Dolmetscherin im Gespräch ist, bleibt ihr Blick bei der Dolmetscherin. Sobald die Patientin mit Sprechen aufhört, schaut sie während der Verdolmetschung zur Ärztin. Überlappend ist ausserdem das Backchannel-Signal „ mhm “ (31) der Dolmetscherin, das mit dem Seitenblick hin zur Patientin synchron ist. Der durch die Kopfbewegung wahrnehmbare Seitenblick macht verständlich, dass die Dolmetscherin mit dieser Rückmeldung auf die Rede der Patientin reagiert, während sie an dieser Stelle eigentlich mit der Ärztin im Gespräch ist - ein koordinierendes verbales Feedback, das ein hohes Ausmass an Konzentration erfordert. Hinweise auf überlappendes Sprechen, das Dolmetscher: innen am Zuhören hindert und vermutlich zu Auslassungen führt, finden sich zum Beispiel auch in den Gesprächsdaten von Pöllabauer (2004, p. 158). 130 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="131"?> 5.1.4 Sequenz 4: „ Wann hat sie die Schmerzen? “ Nachdem die Ärztin von der Patientin keine zielführende Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Schmerzen und den Lebensumständen der Patientin erhalten hat, entscheidet sie sich für einen Adressierungswechsel, mit dem sie die Dolmetscherin zur primären Gesprächspartei macht. [33] 60 [04: 32.3] (34) 61 [04: 34.0] (35) Ä [v] WANN hat sie die SCHMERzen? D [v] daha çok ne zaman a ğ r ı n ı z? D [UE] Wann haben Sie am meisten [34] 62 [04: 36.6] (36) D [v] oluyor? D [UE] Schmerzen? P [v] ya uzan ı nca kalk ı nca çok a ğ r ı ma oluyor birden böyle. böyle P [nv] ((streicht über den Oberschenkel)) P [UE] Wenn ich mich hinlege schmerzt plötzlich die Hüfte. Wenn sie so sind. [35] 63 [04: 41.4] 64 [04: 44.6] (37) D [UE] Beim Aufstehen eigentlich wenn ich mich hinlege oder sitze wenn P [v] oldular ı çok a ğ r ı yor. P [nv] ((streicht sich über den linken Oberschenkel)) P [UE] Schmerzt sehr. [36] (38) 65 [04: 46.2] 66 [04: 49.4] 67 [04: 56.9] Ä [v] aha. aber IM SITzen, IM LIEgen D [UE] ich aufstehen, beim Aufstehen vor allem. Yani, ee uzan ı rken yada D [UE] Also beim Liegen oder Sitzen [37] (39) (40) Ä [v] IN der NACHT, IN RUhe KEIne SCHMERzen. D [v] oturdu ğ un yerde o anda a ğ r ı varm ı , o bahs etti ğ in a ğ r ı ? D [UE] in dem Moment gibt es dann Schmerzen, die Schmerzen von denen du gesprochen [38] 68 [05: 01.4] 69 [05: 01.7] 70 [05: 03.8] (41) D [UE] hast? P [v] i ş te böyle evet, böyle kalkt ığı m. kakt ığı m zaman a ğ r ı yor. P [UE] So ja wenn ich so aufstehe. Wenn ich aufstehe schmerzt es. [39] 71 [05: 03.9] (42) 72 [05: 04.6] 73 [05: 04.9] 74 [05: 05.6] D [v] kalkarken a ğ riyor, otururuken ş imdi böyle duruyorken. D [UE] Beim Aufstehen schmerzt es beim Sitzen so beim Stehen. P [v] Otururken, otururken P [nv] ((streicht wiederholt über den Oberschenkel)) P [UE] Beim Sitzen beim Sitzen [40] (43) 75 [05: 08.2] 76 [05: 08.1] 77 [05: 12.4] 78 [05: 11.1] Ä [v] mhm D [UE] Doch schon manchmal beim Sitzen. P [v] bazen a ğ r ı yor yani. ş u k ı s ı m böyle ta bu kalcama. P [UE] Dieser Abschnitt bis zu meiner Hüfte P [UE] schmerzt es manchmal. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 131 <?page no="132"?> [41] 79 [05: 12.0] (44) 80 [05: 13.8] 81 [05: 13.0] 82 [05: 14.9] D [v] peki yatarken uzan ı rken? D [UE] gut beim Hinlegen Liegen? P [v] Uzanairken tek böyle oynat ığı m zaman P [UE] Beim Hinlegen nur wenn ich es bewege [42] (45) 83 [05: 16.2] 84 [05: 22.0] (46) Ä [v] mhm D [UE] Ja beim Liegen aber wenn ich, wenn ich ee meine P [v] ş ey oluyor. P [UE] passiert dings. [43] 85 [05: 22.6] 86 [05: 23.0] (47) D [UE] Beine bewege. P [v] zaten böyle yüksek ş ey yapm ışı m böyle yast ı k, böyle yat ı yorum. P [nv] ((zeigt, wie sie liegt)) P [UE] Ich habe sowieso dings gemacht so ein Kissen ich liege so. [44] 88 [05: 28.0] D [UE] mhmh ich habe eigentlich unter meine Beine auch schon ein Kissen, das ich [45] 89 [05: 33.0] 90 [05: 35.5] (48) Ä [v] NÜTZT DafalGAN und ZALdiar? D [v] o Zaldiar ve Dafalganin faydas ı D [UE] ein bisschen hochhalten kann. Dieses Zaldiar und Dafalgan nützen die? [46] 91 [05: 37.7] 92 [05: 38.4] 93 [05: 38.4] 94 [05: 38.6] 95 [05: 41.1] (49) Ä [v] das NÜTZT, ok. es ist die FRAge ODER ob JETZT, es D [v/ UE] oluyormu? Ja P [UE] jawohl. [47] (50) Ä [v] kann GUT sein, dass wenn Sie im MoMENT WEniger TRAIning haben, dass [48] 96 [05: 51.0] (51) D [v] ya ş eyden dolay olabilir diyor ş u anda çok fazla hareket etmiyorsun ondan D [UE] Ja das kann wegen dings sein sagt sie im Moment bewegst du dich nicht viel [49] 97 [05: 55.0] 98 [05: 57.9] 99 [05: 59.0] Ä [v] dass Sie da aus DIEsem P [v] dolay ı . D [UE] deswegen. P [v] i ş te bende, bende onu diyorum kendikendime. P [UE] Das ist es das sag ich mir auch selbst. D [UE] ee ich denke auch schon so. [50] (52) 100 [06: 02.7] 101 [06: 02.7] (53) Ä GRUND jetzt MEHR SCHMERzen haben. D [v] mhm yani, az hareket etti ğ iniz için belkide D [UE] Also weil Sie sich wenig bewegen 132 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="133"?> [51] 102 [06: 05.0] 103 [06: 06.2] D [v] fazla a ğ r ı n ı z olabilir. D UE] haben Sie vielleicht mehr Schmerzen. P [nv] ((streicht sich über die Oberschenkel)) P [v] olabilir yani ben ona itiraz etmiyorum. P [UE] Kann sein. Also ich will dem nicht [52] 104 [06: 07.9] (54) (55) P [v] çünkü ben memnunum doktorumdan. doktorum çok iyi. P [UE] widersprechen denn ich bin zufrieden mit meinem Arzt. Mein Arzt ist sehr gut. [53] 105 [06: 11.6] 106 [06: 12.6] (56) 107 [06: 14.7] 108 [06: 14.8*] 109 [06: 16.3] Ä [v] mhmh Ä [nv] ((Ärztin D [UE] Ich lehne nicht ab, was Sie mir sagen. ich denke auch schon so und P [v] nereye gelirse, ben de onu b ı rakamam. P [UE] Wo sie hinkommt verlass ich sie nicht. [54] (57) 110 [06: 19.3] 111 [06: 18.0] (58) Ä [nv] legt der Patientin die Hand auf den Unterarm.)) D [UE] Dann bin ich mit Ihnen sehr zufrieden. und wo Sie gehen, gehe P [v] çok P [UE] Ich bin sehr [55] (59) 112 [06: 22.0] 113 [06: 24.0] 114 [06: 26.0] Ä [v] bin HIER Ä [nv] ((lacht)) D [UE] ich auch mit Ihnen burday ı m D [nv] ((lacht)) D [UE] Ich bin immer P [v] çok güzel bak ı yor. P [nv] ((lacht)) P [UE] zufrieden. Sie kümmert sich sehr gut. [56] (60) 115 [06: 27.0] P [v] herzaman, diyor. D [UE] hier sagt sie. Tab. 5.1.4-4: Gesprächsausschnitt 4 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin wendet sich verbal an die Dolmetscherin, wenn sie nach den Schmerzumständen fragt: „ Wann hat sie die Schmerzen? “ (34) Sie spricht mit der Dolmetscherin über die Patientin und verwendet dabei die 3. Person Singular für die Patientin. Das in Sequenz 4 zum ersten Mal benutzte Adressierungsformat deutet darauf hin, dass die Ärztin an dieser Stelle die Dolmetscherin als primäre Gesprächspartei präferiert. Der Wechsel der Blickrichtung derÄrztin hin zur Dolmetscherin ist in der Videoaufnahme nicht zu erkennen, weil die Dolmetscherin unmittelbar neben der Patientin sitzt. Für die Beteiligung der Patientin wirkt sich der Adressierungswechsel kaum nachteilig aus, da die Dolmetscherin die Patientin in der Wiedergabe direkt adressiert. Während der ärztlichen Frage dreht die Patientin den Kopf zur Ärztin und blickt sie an. Dann richtet sie sich an die Dolmetscherin 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 133 <?page no="134"?> und es entwickelt sich ein kurzes Zwiegespräch. Die Ärztin verfolgt das Zwiegespräch mit den Augen und widmet sich dazwischen ihrer Schreibarbeit. Bei der Verdolmetschung ins Deutsche schaut die Patientin wieder zur Ärztin. Nach der verwirrlichen Antwort: „ Beim Aufstehen eigentlich, wenn ich mich hinlege oder sitze [ … ] “ bearbeitet die Ärztin die Frage nach dem Auftreten der Schmerzen ein weiteres Mal und gibt konkrete Antwortmöglichkeiten an: „ aha, aber im Sitzen, im Liegen, in der Nacht, in Ruhe keine Schmerzen “ (39). Mit den Fingern der rechten Hand zählt sie die Varianten auf. Im Gegensatz zur vorherigen Frage erkundigt sie sich nun nach dem schmerzfreien Zustand. Sie hat die Antwort der Dolmetscherin nur unvollständig im Gedächtnis und führt „ Sitzen “ in ihrer Frage nochmals auf. Sie spricht so langsam und deutlich, dass wiederum der Eindruck entsteht, sie spreche die Patientin direkt an. Auf eine Adressierung verzichtet sie. Die Ärztin bezieht mit der unpersönlich formulierten Frage die Patientin und die Dolmetscherin gleichermassen ins Gespräch ein. Der entscheidende inhaltliche Unterschied ist die Verneinung „ keine Schmerzen “ . Dass die Ärztin nach der umgekehrten Situation fragt, wird der Dolmetscherin erst nachträglich klar: „ Gut beim Hinlegen Liegen? “ (44) Inzwischen kann sie die genaue Frage nicht mehr rekonstruieren. Aufgrund der missverständlichen Antworten schliesst die Ärztin das Thema „ Schmerz “ nach fast drei Minuten ab. Offenbar erwartet sie nun keine neuen Erkenntnisse mehr. Die implizite Aufforderung an die Dolmetscherin zur Mitverantwortung durch die Veränderung in der Adressierung am Anfang der Sequenz 4 ( „ Wann hat sie die Schmerzen? “ [34]) hat derÄrztin zu keiner klaren Antwort verholfen. Sie wechselt das Thema kommentarlos - möglicherweise aus zeitlichen beziehungsweise gesprächsorganisatorischen Gründen - und fragt ohne eine spezifische Adressierung, ob die Schmerzmittel Dafalgan und Zaldiar nützen (48). Die Patientin antwortet auf Deutsch ( „ Jawohl “ ). Durch ihr code-switching etabliert sie sich als Adressatin. Hartung (2001) zählt code-switching zum Repertoire der sprachlichen Adressierungsformen (Hartung, 2001, p. 1349; vgl. auch Kap. 2.3.2). Auf die zustimmende Antwort hin greift die Ärztin den Gedanken auf, den die Patientin ( „ ist es deswegen? “ [27]) und vor allem die Dolmetscherin in Sequenz 3 ( „ vielleicht das hängt auch davon ab “ [32]) als Hypothese für die Ursache der Schmerzen vorweggenommen haben. Der Überlegungsprozess der Ärztin wird durch die Körperhaltung, durch die Mimik und die Gestik bis zu einem gewissen Grad sichtbar: Sie lehnt sich leicht nach hinten, presst die Lippen aufeinander, hebt beide Arme etwas an, dreht die inneren Handflächen leicht nach aussen und stellt ihre Unsicherheit bildlich dar (vgl. Bild 5.1.4 - 4). Schliesslich setzt sie zögernd zur Schlussfolgerung an: „ Es ist die Frage oder, ob jetzt “ (49) und „ Es kann gut sein [ … ] “ (50). Der nachgeschobene Fragesatz signalisiert, dass die Ärztin die Hypothese der mangelnden Bewegung „ weniger Training [50]) “ erst nach einer Häsitation übernimmt, die eine „ kognitive Planungsphase “ indiziert (Weiß & Auer, 2016, p. 133). Die Gestik der Ärztin wird beim Anheben der Hände während der zögerlich einsetzenden Schlussfolgerung besonders aussagekräftig, in der sie die mögliche Ursache der Schmerzen formuliert. Die Dolmetscherin sowie die Patientin richten ihren Blick in abwartender Körperhaltung auf die Ärztin. 134 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="135"?> Bild 5.1.4 - 4: Körperhaltung, Gestik und Mimik signalisieren das Zögern der Ärztin. Die Ärztin formuliert mit einigem Zögern die für sie wahrscheinlichste Ursache der Schmerzen. 8 Während der Häsitationsphase schaut sie vor sich hin, bevor sie mit Sprechen weiterfährt. Dieses Blickmuster deckt sich mit dem Blickverhalten, das Weiß/ Auer (2016) bei Häsitationen beobachten (vgl. Kap. 2.3.2). Die Dolmetscherin nutzt die kurze Pause der Ärztin, um zu dolmetschen (53). Und in Reaktion auf die Verdolmetschung formuliert die Patientin ihr Einverständnis. Sie gibt sich mit der Begründung ihrer Schmerzen zufrieden. Sie unterstützt ihre verbalen Äusserungen mit Gesten. Sie zeigt vor allem die Schmerzstellen an, streicht sich immer wieder über den linken Oberschenkel und folgt der Zeigegeste mit ihrem Blick. Die Dolmetscherin reproduziert diese Gesten nicht. Die Patientin schliesst die Sequenz mit einem Lob für die Ärztin: „ Kann sein also. Ich will dem nicht widersprechen, denn ich bin zufrieden mit meinem Arzt (54). Mein Arzt ist sehr gut. “ (55) B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Im Hinblick auf die Adressierung ist zu Beginn der Sequenz 4 vor allem der Adressierungswechsel in der Frage der Ärztin auffällig (vgl. Teil A): „ Wann hat sie die Schmerzen? “ (34) Die Ärztin versucht offenbar, die Verständigungsschwierigkeiten zu lösen, indem sie die Dolmetscherin als primäre Gesprächspartei in die Gesprächsverantwortung einbezieht. Ob sie bei der Frage den Blick auf die Dolmetscherin richtet, wird nicht deutlich. Mit dem Adressierungswechsel ändert die Ärztin den Beteiligtenstatus. Sie fordert die Dolmetscherin auf, eine Vermittlerrolle 9 zu übernehmen und schliesst damit die Patientin von der 8 Die gut wahrnehmbare Mimik ist in diesem Datenmaterial eine Ausnahme. 9 In der Schweiz wird von interkulturellem Dolmetschen und von interkulturellem Vermitteln gesprochen. Beide Tätigkeiten werden als Teil der interkulturellen Kommunikation dargestellt (Bischoff & Dahinden, 2009). Die Ärztin gesteht der Dolmetscherin die Vermittlerrolle zu. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 135 <?page no="136"?> Interaktion aus (vgl. Tiittula, 2001, p. 1366). Der Adressierungswechsel lässt den Schluss zu, dass die Ärztin die Patientin für die fehlende Information verantwortlich macht 10 und eher auf die Verständigung mit der Dolmetscherin setzt. Die Dolmetscherin verwendet bei der Adressierung uneinheitliche Formen. Zunächst adressiert sie die Patientin in der 3. Person Plural: „ Wann haben Sie am meisten Schmerzen? “ [35]) Im darauffolgenden Redezug, in dem sie wie bereits in den Sequenzen 1 und 2 selbst-initiiert handelt, ist sie gegenüber der Patientin wieder bei der 2. Person Singular: „ [ … ] die Schmerzen, von denen du gesprochen hast. “ (40) Am Schluss der Sequenz sind beide Formen, die 2. Person Singular sowie die 3. Person Plural nebeneinander zu finden: „ [ … ] im Moment bewegst du dich nicht viel [ … ] “ (51) und gleich darauf „ Also weil Sie sich wenig bewegen [ … ] “ (53). Auch die Patientin fällt in dieser Sequenz mit der Adressierung auf. Sie wählt am Schluss der hier abgebildeten Sequenz einen besonderen Typus der Adressierung. Sie verwendet für die an die Ärztin gerichtete Botschaft die 3. Person, als spräche sie mit der Dolmetscherin über die Ärztin: „ [ … ] ich bin zufrieden mit meinem Arzt “ (54). Diese Formulierung verlangt von der Dolmetscherin eine Umstrukturierung. Sie entscheidet sich für die „ natürliche “ direkte Anrede und adressiert die Ärztin in der Wiedergabe direkt: „ [ … ] ich bin mit Ihnen sehr zufrieden “ (57). Was die Redewiedergabe betrifft, gibt die Dolmetscherin wie in den anderen drei Sequenzen die Perspektive der Patientin praktisch immer in der 1. Person Singular wieder. Nur gegen Ende der vierten Sequenz wechselt sie zum Modus der indirekten Rede, wenn sie die folgenden Äusserungen der Ärztin dolmetscht: „ Ja, das kann wegen dings sein, sagt sie “ (51) und ein zweites Mal: „ Ich bin immer hier, sagt sie. “ (60) Im ersten Beispiel wird zunächst markiert, dass es sich um den Standpunkt der Ärztin handelt. Gleichzeitig signalisiert die Dolmetscherin mit „ dings “ ein Wortfindungsproblem. Mit der Redewiedergabemarkierung „ sagt sie “ gewinnt die Dolmetscherin zusätzlich etwas Zeit zum Überlegen. Bot (2005b) spricht von einer „ thinking pause “ (Bot, 2005b, p. 188). Im zweiten Beispiel verdeutlicht die Redewiedergabemarkierung in der Verdolmetschung, dass die Ärztin mit „ Ich “ gemeint ist und nicht die Dolmetscherin: „ Ich bin immer hier, sagt sie. “ Für die Patientin wäre an dieser Stelle möglicherweise unklar geblieben, ob die Ärztin oder die Dolmetscherin selbst gemeint ist (vgl. die Argumentation von Llewellyn & Lee, 2013; Llewellyn & Lee, 2014; vgl. Kap. 3.4.1). 11 Die inhaltlichen Modifikationen der Dolmetscherin erschweren derÄrztin die Suche nach den Ursachen der Schmerzen. Die Dolmetscherin verschiebt in der Verdolmetschung den Fokus der ausgangssprachlichen Frage vom Zeitpunkt auf die Intensität der Schmerzen: „ Wann haben Sie am meisten Schmerzen? “ (35) In ihrer Antwort gibt die Patientin (auf Türkisch) einen klar formulierten Hinweis: „ Wenn ich mich hinlege, schmerzt plötzlich die Hüfte “ (36), was die Dolmetscherin auslässt. Die Patientin reagiert zudem auf die Frage nach der Intensität ( „ am meisten Schmerzen “ ) mit der Äusserung „ schmerzt sehr “ (37), was ebenfalls nicht verdolmetscht wird, möglicherweise deshalb, weil die Dolmetscherin zu diesem Zeitpunkt überlappend die vorausgegangene Äusserung der Patientin wiedergibt. Die Dolmetscherin fügt dann von sich aus „ Aufstehen “ und „ Sitzen “ hinzu: „ Beim 10 Dieses Verhalten deckt sich mit der Erfahrung von W. Langewitz und M. Sleptsova (vgl. Kap. 3.6.2). 11 Das Modell des role space wurde erst ca. zwei Jahre nach der Videoaufzeichnung dieses Gesprächs veröffentlicht. 136 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="137"?> Aufstehen eigentlich, wenn ich mich hinlege oder sitze, wenn ich aufstehe, beim Aufstehen vor allem. “ (38) Ein entscheidender Punkt der Störung bleibt wie bereits in der 3. Sequenz die Auslassung „ in der Nacht, in Ruhe “ (39). Auffällig ist, dass die beiden Ausdrücke „ Nacht “ und „ Ruhe “ in beiden Sequenzen ausgelassen werden. Die Ärztin kann nicht wissen, dass in der Verdolmetschung von „ Ruhe “ und „ Nacht “ nie die Rede ist. Damit kann die Patientin nicht auf diese Frage reagieren. Grundsätzlich könnte es sich um ein Wortschatzproblem handeln, aber dieser Hypothese widerspricht die Tatsache, dass beide Ausdrücke zum aktiven Wortschatz der Dolmetscherin gehören müssten ( „ Nacht “ auf dem Niveau A1; „ Ruhe “ auf dem Niveau A2). 12 Möglicherweise erschweren der Dolmetscherin die elliptische Form der Äusserung sowie die fallende Intonation in der Äusserung der Ärztin das Verständnis (Rehbein, 1993, p. 335) 13 . Ebenso entscheidend ist, dass der Dolmetscherin die Verneinung im Redebeitrag der Ärztin zunächst entgeht. Aus eigener Initiative fügt sie hinzu: „ [ … ] die Schmerzen, von denen du gesprochen hast. “ (40) Damit bezieht sie ihrerseits die Patientin in die inhaltliche Verantwortung mit ein. Für die Patientin geht es aufgrund der Verdolmetschung nach wie vor um die Situationen, in denen die Schmerzen auftreten. Sie bestätigt deshalb, dass sie beim Aufstehen Schmerzen hat ( „ Wenn ich aufstehe, schmerzt es “ [41]). Beim nochmaligen Nachfragen (ohne Verdolmetschung für die Ärztin) fügt die Dolmetscherin „ sitzen “ und „ stehen “ hinzu (42). Vom Sitzen hatte zunächst nur die Dolmetscherin gesprochen (37). Im weiteren Verlauf fügt die Patientin die Position des Sitzens ebenfalls hinzu: „ Beim Sitzen [ … ] schmerzt es manchmal. “ (43) Es gelingt der Dolmetscherin nicht, die einzelnen Punkte der Aufzählung in der Frage zu den Schmerzumständen aus dem Gedächtnis abzurufen. Sobald sich die Dolmetscherin etwa eine Viertelminute zur Frage der Ärztin versetzt erinnert, dass die Ärztin nach den schmerzfreien Situationen gefragt hatte, ergänzt sie: „ Gut beim Hinlegen, Liegen “ (44). Die Frage ist inhaltlich widersprüchlich, da die Patientin nach ihrer früheren Aussage vor allem dann Schmerzen hat, wenn sie sich hinlegt (36). Die Patientin gibt eine Antwort, die inkonsistent mit der früheren Auskunft und diffus ist: „ Beim Hinlegen, nur wenn ich es bewege, passiert dings. “ (45) Die Dolmetscherin verdeutlicht den Zusammenhang von sich aus, indem sie die Frage bejaht und ergänzt „ meine Beine “ : „ Ja, beim Liegen, aber wenn ich, wenn ich ee meine Beine bewege. “ (46) Die Antwort bleibt selbst mit der Ergänzung durch die Dolmetscherin undeutlich. Die Ärztin übergeht diese Antwort wie auch den Hinweis auf die Bewältigungsstrategie mit dem Kissen (47), den die Patientin gestisch veranschaulicht. Die Dolmetscherin reproduziert an dieser Stelle die ikonische Geste, mit der sie mit beiden Händen 12 Die Substantive „ Nacht “ und „ Ruhe “ finden sich im Wortschatz für den Fremdsprachenerwerb auf der ersten (A 1) beziehungsweise auf der zweiten Stufe (A 2) der Kompetenzskala des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens https: / / www.goethe.de/ pro/ relaunch/ prf/ de/ Pruefungsziele_Testbeschreibung_A1_SD1.pdf (Stand: 11.12.2021). https: / / www.goethe.de/ pro/ relaunch/ prf/ de/ Pruefungsziele_Testbeschreibung_A2_SD2.pdf (Stand: 11.12.2021) Diese Ausdrücke müssten der Dolmetscherin also bekannt sein, wenn die Forderungen nach fundierter Beherrschung von zwei Sprachen erfüllt sein sollen (vgl. u. a. Hofer & General, 2012, p. 127; Kadri ć , 2009, p. 214). Als unabdingbare Voraussetzung für Dolmetscher: innen gilt die fünfte oder sechste Stufe der Kompetenzskala (C1 oder C2) des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GER) (Hofer & General, 2012, p. 127). 13 Rehbein (1993) verweist auf die Eigenart der fallenden Stimme bei Ärzt: innenfragen. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 137 <?page no="138"?> untermalt, wie sie die Beine mit einem Kissen unterstützt. Auch andere Gesten der Patientin, vor allem Zeigegesten, reproduziert sie, aber grundsätzlich ist die Gestik der Dolmetscherin zurückhaltender als diejenige der Patientin. Die Gesten der Ärztin werden von der Dolmetscherin kaum je reproduziert. Am Schluss der Sequenz 4 gibt die Dolmetscherin den Anfang der Ursachenbegründung zwar nur vage wieder: „ Ja, das kann wegen dings sein, sagt sie [ … ] “ (51), aber schliesslich dolmetscht sie den Sachverhalt adäquat: „ Also weil Sie sich wenig bewegen, haben Sie vielleicht mehr Schmerzen. “ (52) Die Komplimente für die Ärztin nach dem Abschluss des Themas „ Schmerzen “ (56,58) sind möglicherweise für die „ Kamera “ . Die Patientin schaut nach dieser Aussage jedenfalls kurz zur Videokamera hin. Die Dolmetscherin schwächt die Komplimente der Patientin an die Ärztin zwar ab, indem sie Äusserungen der Patientin zum Teil auslässt, z. B. „ Mein Arzt ist sehr gut. “ (55) und „ Sie kümmert sich sehr gut. “ (59) Die Ärztin legt der Patientin wie am Anfang des Gesprächs die Hand auf den Arm, beide lachen. Die Sequenz endet entsprechend entspannt. 5.1.5 Zusammenfassung Die Patientin ist für eine Blutkontrolle bestellt. Nun leidet sie seit kurzem unter Schmerzen im linken Bein und erhofft sich von der Ärztin eine Erklärung für ihre Beschwerden. Ungenaue Wiedergaben der Dolmetscherin führen zu Verständigungsschwierigkeiten und zu einer langwierigen Beschwerdenexploration. A. Interaktion als koordiniertes Handeln Auf die Eingangsfrage der Ärztin nach dem Befinden der Patientin klagt die Patientin über Schmerzen, deren Ursache die Ärztin in den Sequenzen 1 - 4 zu ergründen sucht. Die Eröffnungsfrage entspricht der Gesprächsagenda, wie Spranz-Fogasy (2010) sie schildert. Die Ärztin fragt nach dem ersten Einsetzen der Schmerzen und nach dem weiteren Verlauf. Bei den Antworten nimmt sich die Ärztin Zeit zum Zuhören, ohne die Patientin oder die Dolmetscherin zu unterbrechen. Ausserdem achtet sie während der Verdolmetschung verschiedentlich auf die repetitiven Zeigegesten, mit denen die Patientin der Ärztin immer wieder klare Hinweise auf die Schmerzstellen gibt. Trotzdem gestaltet sich die Suche nach der Ursache der Schmerzen als langwierig und unergiebig. Der auffälligste Aspekt des Misslingens in der Interaktion besteht darin, dass die Fragen der Ärztin und die Antworten der Patientin nicht sinnvoll miteinander korrespondieren. Auf wiederholtes Fragen mit Variationen in der Fragestellung hin folgen mehrmals keine zielführenden Antworten. Es entsteht der Eindruck eines Gesprächs in „ Schleifen “ . Der Ärztin wird nicht bewusst, dass ihre Fragen unpräzise verdolmetscht werden, so dass die Patientin gar nicht genau auf die Fragen antworten kann. Ebenso wenig weiss sie, dass die Antworten der Patientin ebenfalls ungenau wiedergegeben werden. Nach den mehrmaligen Verständigungsproblemen bricht die Ärztin die Frageserie ab und bezieht die Dolmetscherin in die Verantwortung mit ein, indem sie die Dolmetscherin direkt adressiert. Offenbar ortet die Ärztin die Verständigungsprobleme bei der Patientin und vertraut eher der Dolmetscherin (vgl. Kap. 3.6.3). Die Schwerfälligkeit des Informationsflusses und die zeitintensive Suche nach der Ursache der Schmerzen werden damit der Patientin zur Last gelegt. Trotz dieses Strategiewechsels erreicht die Ärztin ihr anvisiertes 138 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="139"?> Ziel nicht. Schliesslich bricht sie die Frageserie ab, ein Verhalten, das der Beobachtung von Bot (2009, p. 123) entspricht. Am Schluss dieser vier Sequenzen kann die Ärztin aufgrund der ihr zugänglichen Informationen und aufgrund der Zeigegesten trotz allen Verständigungsproblemen davon ausgehen, dass die Patientin vor allem Hüftschmerzen hat, wenn sie aufsteht oder sich hinlegt. Als Ursache der Schmerzen vermutet die Ärztin eine witterungsbedingte Bewegungsarmut, eine Begründung, die von der Patientin akzeptiert wird. Zwischen den beiden primären Gesprächsparteien besteht zu diesem Zeitpunkt eine emotionale Nähe: Die verbal geäusserte positive Einschätzung der Patientin gegenüber der Ärztin rührt möglicherweise daher, dass sie sich mit ihren Beschwerden von der Ärztin ernst genommen und in die Entscheidungsfindung eingebunden fühlt. Trotz der entspannten Atmosphäre zwischen den primären Gesprächsparteien und trotz des flüssigen Sprechtempos ist das Fehlschlagen der Kommunikation aufgrund der inadäquaten Verdolmetschung mehrfach dokumentiert. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Ein für das Gesprächsdolmetschen als typisch geltendes Phänomen sind die uneinheitlichen Formen der Redewiedergabe und der Redewiedergabemarkierung (vgl. u. a. Bot, 2005a, 2005b; Sator & Gülich, 2013). Die Formen der Redewiedergabe und der Redewiedergabemarkierung Die Dolmetscherin verwendet verschiedene Formen der Redewiedergabe sowie die Redewiedergabemarkierung. 14 1. Person Sg. im AT Verwendung der 1. Person Sg. im AT durch die (P) Beibehaltung der 1. Person Sg. durch die (D) im ZT Auslassung/ unpersönliche Formulierung der (D) Fallbeispiel 1 10 8 1/ 1 Tab. 5.1.5-1: Redewiedergabe durch die Dolmetscherin im ZT 15 Die Dolmetscherin in Fallbeispiel 1 behält die direkte Wiedergabe in der 1. Person Singular zu einem grossen Teil bei. Sie übernimmt in acht von zehn Redezügen der Patientin die direkte Wiedergabe mit dem Personalpronomen „ ich “ . In zwei Redebeiträgen weicht sie in der Verdolmetschung von der direkten Rede ab. Einmal lässt sie die Begründung aus, warum sie nicht aus dem Haus geht ( „ Ich rutsche aus [ … ]) “ , das zweite Mal wählt sie eine unpersönliche Formulierung: „ Beim Aufstehen schmerzt es. “ , während die Patientin in der 1. Person Singular gesprochen hat: „ Wenn ich aufstehe, schmerzt es. “ In keinem Fall hat der pronominale Wechsel inhaltlich problematische Konsequenzen. Die Ärztin verwendet die 1. Person Singular in diesen vier Gesprächsausschnitten nie, sie formuliert unpersönlich, zum Beispiel „ Es kann gut sein [ … ] “ , oder sie lässt das Pronomen aus ( „ Bin hier. “ ) Die Dolmetscherin ergänzt das Pronomen „ ich “ zur besseren Verständlichkeit: ( „ Ich bin [ … ] hier [ … ] “ ). 14 Die verschiedenen Formen werden pro Verdolmetschung nur einmal gezählt, auch wenn das entsprechende Pronomen im selben Segment mehrmals vorkommt. 15 AT steht für Ausgangstext, ZT für Zieltext. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 139 <?page no="140"?> Redewiedergabemarkierung vorgestellt integriert nachgestellt Fallbeispiel 1 - 1 1 Tab. 5.1.5-2: Redewiedergabemarkierung: Häufigkeit und Position Mit der Redewiedergabemarkierung verweist die Dolmetscherin mit einem verbum dicendi auf die ausgangssprachliche Version der Expertin. Sie verwendet die Redewiedergabemarkierung „ sagen “ zweimal. Das erste Mal fügt sie das verbum dicendi in der Satzmitte ein. Es handelt sich um eine Stelle, an der die Ärztin in der ausgangssprachlichen Äusserung zögert, bevor sie eine tentative Diagnose formuliert. Es könnte also sein, dass die Dolmetscherin das Zögern der Ärztin übernimmt. Eine andere Variante kann sein, dass die Dolmetscherin ein Wortfindungsproblem hat: „ Ja, das kann wegen dings sein, sagt sie [ … ] “ . „ Dings “ deutet zumindest darauf hin. Das zweite Mal fügt sie das verbum dicendi am Schluss an: „ Ich bin [ … ], sagt sie “ . Hier geht es um die Vermeidung eines Missverständnisses. So wird für die Patientin deutlich, dass mit „ ich “ die Ärztin gemeint ist. Ein Vorgehen, dass Llewellyn/ Lee (2014) in der gedolmetschten Face-to-face-Kommunikation als sinnvoll beurteilen (vgl. Kap. 3.4.1). Die Redewiedergabemarkierung wird lediglich für die Verdolmetschungen der Ärztin verwendet. Die Adressierungsformen der Beteiligten Als charakteristisch werden in der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Kommunikation die Adressierungswechsel der Beteiligten beschrieben (vgl. u. a. Sator & Gülich, 2013). 16 Die Adressierungsformen der Ärztin, der Patientin und der Dolmetscherin repräsentieren verschiedene Beteiligungsformen. Neben den direkten Adressierungsformen kommen weitere Beteiligungsformate vor wie unpersönliche Formulierungen der Ärztin, die 3. Person Singular der Patientin, wenn sie über die Ärztin spricht, oder die 2. Person Singular in der Adressierung der Patientin durch die Dolmetscherin. Adressierung der (P) durch die (Ä) 3. Person Pl. (direkte Adressierung) 3. Person Sg. (indirekte Adressierung) Unpersönliche Formulierungen Fallbeispiel 1 3 1 4 Tab. 5.1.5-3: Adressierungsformen der Ärztin Die Ärztin stellt der Patientin acht Fragen. In zwei Fragen und in einem Aussagesatz adressiert die Ärztin die Patientin in der 3. Person Plural ( „ Sie “ ) direkt; vier Fragen sind unpersönlich formuliert (zum Beispiel „ Grad danach? “ ). Nachdem die Ärztin keine zufriedenstellenden Antworten erhalten hat, richtet sie sich mit ihrer Frage an die Dolmetscherin: „ Wann hat sie die Schmerzen? “ Der Adressierungswechsel kommt unerwartet. Mit diesem kommunikativen Strategiewechsel, mit dem sie die Patientin als Beteiligte ausschliesst, versucht sie über die Dolmetscherin zu einer relevanten Antwort zu kommen. Das Auftreten der Schmerzen bleibt jedoch unklar. Der verbale Ausschluss der 16 Die verschiedenen Formen der Adressierung werden pro Redebeitrag ebenfalls nur einmal gezählt, auch wenn das entsprechende Pronomen mehrmals darin vorkommt. 140 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="141"?> Patientin durch die Ärztin scheint in der Verdolmetschung nicht auf: „ Wann haben Sie am meisten Schmerzen? “ , formuliert die Dolmetscherin. Adressierung der (D) bzw. der (Ä) durch die (P) 2. Person Sg. Adressierung der (D) bzw. der (Ä) durch die (P) 3. Person Sg. Fallbeispiel 1 - - 3 Tab. 5.1.5-4: Adressierungsformen der Patientin In den vier Gesprächsausschnitten adressiert die Patientin weder die Dolmetscherin noch die Ärztin direkt. In Sequenz 4 spricht sie an drei Stellen mit der Dolmetscherin in der 3. Person Singular über die Ärztin. Adressierung der (P) durch die (D) 3. Person Pl. (Sie) 2. Person Sg. (du)/ selbst-initiierte Formulierungen (du) Fallbeispiel 1 3 3/ 2 Tab. 5.1.5-5: Adressierungsformen der Dolmetscherin Die Dolmetscherin adressiert die Patientin dreimal in der 3. Person Plural und fünfmal in der vertrauteren Form der 2. Person Singular, zweimal handelt es sich dabei um selbstinitiierte Formulierungen. Die 3. Person Singular, die von der Ärztin verwendet wird ( „ Wann hat sie die Schmerzen? “ ) scheint in der Verdolmetschung nicht auf (siehe oben). Die Verdolmetschungen entsprechen dem Format in den ausgangssprachlichen Redebeiträgen nur zum Teil. So fragt die Ärztin zum Beispiel „ Wie geht ’ s? “ . Die Dolmetscherin wechselt zur Anrede in der 3. Person Plural „ Wie geht es Ihnen? “ Umgekehrt wählt die Dolmetscherin für eine persönliche ausgangssprachliche Formulierung der Ärztin: „ Seit wann haben Sie die Schmerzen? “ eine unpersönliche Frage: „ Seit wann besteht dieser Schmerz? “ Insgesamt fällt ein Mehr an pronominalen Formen in der gedolmetschten Kommunikation gegenüber monolingualen Gesprächen auf. Bereits die verbalen Adressierungsformen zeigen die Komplexität der Beteiligungsformen an. Eine wichtige Rolle spielen in Fallbeispiel 1 die Sitzposition, die Körperorientierung, Körperbewegungen, das Blickverhalten, die Gestik sowie die Backchannel-Signale. Die Sitzposition ist so gewählt, dass die Ärztin einen guten visuellen Kontakt sowohl zur Patientin als auch zur Dolmetscherin hat. Die Patientin sitzt der Ärztin übereck gegenüber und legt den Arm vertrauensvoll auf den Schreibtisch der Ärztin, ausser in den Situationen, in denen sie mit beiden Händen auf die Schmerzstellen zeigt. Die Sitzposition der Patientin ist nicht auf die Dolmetschkonstellation ausgerichtet. Wenn sie mit der Expertin spricht, muss sie den Kopf leicht drehen. Für die Interaktion mit der Dolmetscherin ist eine stärkere Körper- und Kopfbewegung erforderlich. Die für die Patientin ungünstige Sitzposition scheint die soziale Beziehung jedoch nicht zu beeinträchtigen. Die Dolmetscherin sitzt in leicht abgewinkelter Körperorientierung zur Linken der Patientin; sie hat guten Blickkontakt zur Ärztin. Der Blick der Dolmetscherin hin zur Patientin ist an der Kopfbewegung erkennbar. 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 141 <?page no="142"?> Für die Analyse ist der visuelle Zugang zum Blickverhalten der Beteiligten bei der hier gewählten Kamera-Einstellung unterschiedlich. Aufgrund der eingeschränkten Sicht auf die Beteiligten muss zum Beispiel offenbleiben, ob die Ärztin bei ihren Fragen oder während den Verdolmetschungen den Blick auf die Patientin oder auf die Dolmetscherin richtet, da die beiden nahe beieinandersitzen. Die Augenkommunikation sowohl der Ärztin als auch der Dolmetscherin kann lediglich teilweise an der Drehung des Kopfes erkannt werden. Trotz der zum Teil eingeschränkten Erkennung der Blickkontakte können Regularitäten im Verhalten der drei Beteiligten aufgezeigt werden: • Die Ärztin richtet ihren Blick beim Sprechen alternierend auf die Patientin oder die Dolmetscherin. Aufgrund der räumlichen Anordnung beziehungsweise der Kameraeinstellung kann teilweise lediglich an der Kopfdrehung erkannt werden, ob sie die Patientin oder die Dolmetscherin anschaut (siehe oben). • Beim Zuhören schränkt sie die Blickkontakte ein, um die Krankheitsgeschichte nachzuführen, achtet aber mit Seitenblicken immer wieder auf die Patientin und ihre Gesten. • Sie senkt den Blick bei einer Häsitationsphase, bevor sie nach einer „ kognitiven Planungsphase “ wieder mit der Dolmetscherin und/ oder der Patientin Augenkontakt aufnimmt (vgl. Weiß & Auer, 2016, p. 133 ff.). • Die Patientin muss den Kopf drehen, wenn sie den Blick auf die Ärztin beziehungsweise auf die Dolmetscherin richtet. • Sie schaut während der Verdolmetschung regelmässig die Ärztin an, also nicht die Sprecherin. Dieses Blickverhalten entspricht der Beobachtung von Bot (2005b, p. 140), während der Patient in Vranjes et al. (2018a, p. 317) sich auf die Dolmetscherin konzentriert (vgl. Kap. 3.5.3). • Wenn die Ärztin spricht, richtet die Patientin ihren Blick auf die Ärztin oder sie blickt auf die Unterlagen, die vor ihr auf dem Schreibtisch derÄrztin liegen. Dies im Gegensatz zum Patienten in Vranjes et al. (2018a), der seinen Blick vom Therapeuten abwendet. • Die Dolmetscherin blickt beim Zuhören jeweils auf die Sprecher: innen. • Wenn die Dolmetscherin die Redebeiträge der Patientin wiedergibt, schaut sie mehrheitlich die Ärztin an, löst den Blick aber wiederholt von ihr und lenkt den Blick auf die Patientin. Die Blicke hin zur Patientin sind teilweise der Unterbrechung durch die Patientin geschuldet. • Wenn die Dolmetscherin die Redebeiträge der Ärztin wiedergibt, schaut sie tendenziell die Patientin an, soweit der Blickkontakt identifiziert werden kann. Die Blickkontakte der drei Beteiligten sind in erster Linie mit dem Sprecherwechsel koordiniert. Die Zeigegesten spielen als Hinweise auf die Schmerzstellen eine wichtige Rolle. Die Patientin begleitet ihre Redebeiträge auffallend häufig mit Zeigegesten. Während sie mit den Gesten auf die Schmerzstellen zeigt, folgt sie dem Zeigen mit ihrem Blick. Die Ärztin nimmt die Zeigegesten der Patientin wahr. Auch die Dolmetscherin verfolgt die Gesten der Patientin mit dem Blick, reproduziert sie teilweise oder verbalisiert sie. Mit der Reproduktion beziehungsweise der Verbalisierung von Gesten zeigt die Dolmetscherin, dass sie die Aussagekraft der Gestik beachtet. Bei der Reproduktion der Gesten folgt sie wie die Patientin ihrem Blick. Obwohl die Dolmetscherin die Zeigegesten der Patientin zum Teil reproduziert, ist ihre Gestik im Sinne der intrapersonellen Koordinierung vor allem auf ihre 142 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="143"?> eigene Sprachproduktion abgestimmt (Deppermann & Schmitt, 2007, p. 32; vgl. Kap. 2.3.2). Sie begleitet ihr Sprechen hin und wieder mit Schlag- oder Taktstockgesten (beats) im Rhythmus der Sprache (vgl. Adam & Castro, 2013; vgl. auch Kap. 3.5.3). Grundsätzlich ist die Dolmetscherin zurückhaltender in der Gestik als die Patientin. Die Ärztin drückt ihre Verbundenheit mit der Patientin aus, indem sie sie in Sequenz 1 durch die Neigung des Kopfes zur Beschwerdeschilderung ermuntert und indem sie ihr in den Sequenzen 1 und 4 die Hand auf den Arm legt. Neben solchen multimodalen Signalen vor dem Beginn eines Redebeitrags interagieren die Beteiligten auch mit verbalen Backchannel-Signalen, die allerdings nicht gedolmetscht werden. Am Anfang der Einheit wird „ hmm “ sowohl von der Ärztin als auch von der Patientin als Signal des Nachdenkens verwendet. Andere Backchannel-Signale folgen auf einen Redebeitrag. Die Ärztin gibt mit Backchannel-Signalen wie „ mhm “ oder „ aha “ zu erkennen, dass sie den Verdolmetschungen folgt und die Antworten in ihre Überlegungen einbezieht. Während die meisten Backchannel-Signale der Ärztin im Sinne von Zustimmungsbekundungen sind, hat eine Rückmeldung der Dolmetscherin eine andere Funktion. Sie bestätigt mit „ mhm “ , dass sie neben der Textproduktion für die Ärztin gleichzeitig die Redebeiträge der Patientin bearbeitet. Damit spricht die Dolmetscherin und hört gleichzeitig zu, was eine grosse Konzentration voraussetzt (vgl. Kap. 3.2). Diese Rückmeldung an die Patientin ist mit dem Blick zur Patientin koordiniert. Entscheidend für die Kommunikation ist in Fallbeispiel 1 die Verbalität. In den ersten drei Sequenzen stellt die Ärztin Fragen, die nur teilweise adäquat beantwortet werden. Die Verständigung wird in erster Linie aufgrund der Modifikationen der Dolmetscherin erschwert. Dabei geht es mitunter um fehlende Treue im Detail, aber meist handelt es sich um gravierende Verschiebungen von Informationen, die das wechselseitige Verstehen erschweren oder sogar verhindern und die Entscheidungsfindung der Ärztin beeinträchtigen. Vor allem durch die von der Dolmetscherin inadäquat wiedergegebenen Schmerzsituationen ergibt sich für die Ärztin ein diffuses Bild. Die Bezüge zwischen Fragen und Antworten werden durch Auslassungen und Hinzufügungen der Dolmetscherin so undeutlich, dass die Ärztin schliesslich darauf verzichtet, die inkonsistenten Antworten bei der Schilderung der Symptome zu klären. Interessant ist, dass das Phänomen von fehlenden Nachfragen auch in monolingualen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen registriert wird. 17 Für die Dolmetscherin sind die Variationen, die in der Frage-Antwort-Szene bei der Erfragung der Umstände der Schmerzen von der Ärztin aufgezählt werden, ohne Notizennahme schwer zu memorieren, da sie keiner von ihr leicht nachvollziehbaren Logik folgen (Driesen & Petersen, 2011, p. 61; Gile, 2009, p. 171). Es misslingt der Dolmetscherin, den Textüberblick ohne Notizen zu behalten. Aufgrund der in der Transkription erkennbaren Auslassungen der Dolmetscherin kommt es zu erheblichen Mängeln in der Kommunikation, die für die Diagnosefindung erschwerend sind. Am häufigsten führen Auslassungen aufgrund des fehlenden medizinischen Wissens und der mangelhaften Terminologiekenntnisse der Dolmetscherin zu Verständigungsproblemen. Zum Beispiel verarbeitet die Dolmetscherin bei der Auslassung des Gegensatzpaars „ Belastung “ - „ Ruhe “ und „ Nacht “ den Terminus „ Belastung “ nicht weiter. 17 Lalouschek (2013) beschreibt, dass Ärzt: innen bei „ ambigen “ Darstellungen von Symptomen weniger nachfragen als bei sonstigen Äusserungen (Lalouschek, 2013, p. 379). 5.1 Fallbeispiel 1: Konsultation in der Allgemeinmedizin 143 <?page no="144"?> Vermutlich fehlt ihr das Wissen der medizinischen Zusammenhänge, das es ihr erlauben würde, die terminologische „ Lücke “ zum Beispiel durch eine Substitution des Ausdrucks „ Belastung “ in einem top-down-Prozess zu schliessen (vgl. Kohn, 2004). Dass die Substantive „ Nacht “ und „ Ruhe “ ausgelassen werden, lässt sich wohl eher auf Konzentrationsprobleme oder die fehlende Aufnahmekapazität des Gedächtnisses als auf Wortschatzprobleme zurückführen. Zu weiteren gesprächsrelevanten Auslassungen in der Verdolmetschung gehört die zum Teil fehlende Abbildung von kohäsionsbildenden Elementen. Die Dolmetscherin kann die ursprüngliche Struktur der ausgangssprachlichen Redebeiträge in der Produktionsphase nicht mehr herstellen. Das Wegfallen von temporalen oder kausalen Verknüpfungshinweisen kann die Verständigung wesentlich beeinträchtigen und auf subtile Weise bewirken, dass die Ärztin die kognitiven Fähigkeiten der Patientin unterschätzen könnte, weil sie die Logik der ursprünglichen Äusserung auf Türkisch aus sprachlichen Gründen nicht erkennen kann (vgl. Kap. 3.3). 18 Zu weiteren Auslassungen kommt es in Fallbeispiel 1 aufgrund von mehrfach vorkommendem überlappendem Sprechen. Die überlappenden Redebeiträge werden von der Dolmetscherin initiiert, weil sie die Sprecher: innen unterbricht, um mit ihren Dolmetscheinsätzen zu beginnen. Dies wohl vor allem, weil sie mit den Unterbrechungen gedächtnisbedingte Lücken vermeiden will. Zum Teil ist allerdings auch die Patientin für die Überlappungen verantwortlich. Abgesehen von den Überlappungen vollzieht sich der Sprecherwechsel jedoch reibungslos. Unverdolmetscht bleiben schliesslich auch die Zwiegespräche zwischen der Dolmetscherin und der Patientin. Die in diesen Zwiegesprächen vermittelten Informationen fehlen der Ärztin für die Ermittlung des Befunds. Überdies entgeht ihr, dass die Dolmetscherin in diesen unverdolmetschten Episoden die Möglichkeit hat, in der Rolle als gatekeeper in die Inhalte einzugreifen und das Gespräch zu steuern. Die Patientin verzichtet in der Folge auf die von derÄrztin angebotenen offenen Themenwahl und fügt sich den unverdolmetschten Anweisungen der Dolmetscherin, von denen die Ärztin nichts erfährt. Auch Hinzufügungen der Dolmetscherin haben Auswirkungen auf die Interaktionen. Gravierend für die Verständigung zwischen der Ärztin und der Patientin sind neben den inhaltlich relevanten Auslassungen die beiden metadiskursiven Kommentare der Dolmetscherin, mit denen sie die Patientin anweist, welche Themen Eingang in das Gespräch führen sollen und welche nicht. Die Dolmetscherin beeinflusst damit die Antworten der Patientin, wiederum ohne dass dies für die Ärztin wahrnehmbar wird. Das sprachliche Verhalten der Dolmetscherin sowie der Ärztin beeinflusst die Beteiligungsformen. Die Dolmetscherin hält selbst-initiierte Äusserungen und ein manipulatives Verhalten mit ihrer Rolle für vereinbar. Mit Hinzufügungen verändert sie die Antworten der Patientin und steuert den Gesprächsverlauf, wie wenn sie als primäre Gesprächspartei an der Interaktion beteiligt wäre. Sie sieht sich legitimiert, selbst-initiierte Gesprächsbeiträge und Hinweise an die Patientin zum Inhalt der ausgangssprachlichen Redebeiträge hinzuzufügen. Damit hat sie ein gewisses Machtpotenzial. 18 Pöchhacker (2007) weist darauf hin, dass es den Beteiligten ohne Kenntnis der Sprache der Patient: innen kaum möglich ist, die Qualität der Verständigung zu beurteilen (Pöchhacker, 2007, p. 176 f.) 144 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="145"?> Die Ärztin stützt die Position der Dolmetscherin und behandelt sie vor allem im Anschluss an Kommunikationsprobleme als Beteiligte, indem sie die Dolmetscherin direkt adressiert und den Blick auf sie richtet. Diese Strategie der Ärztin ist aber gerade deshalb keine Lösung für die Kommunikationsprobleme, weil das Misslingen der Verständigung zu einem wesentlichen Teil durch die Dolmetscherin verursacht wird. Weiter verlässt sie sich auf die Dolmetscherin und fragt nie nach, wenn zwischen der Patientin und der Dolmetscherin Zwiegespräche mit Blickkontakten stattfinden, obwohl sie dadurch von der Interaktion ausgeschlossen wird (vgl. Pasquandrea, 2011, 2012). Anhand der Transkripte wird sichtbar, wie leicht es durch das Eingreifen der Dolmetscherin zu ausgangstextfernen Verdolmetschungen kommt und wie schwierig es für die Ärztin ist, die Modifikationen der Dolmetscherin zu erkennen und die Qualität der Verdolmetschung im spontanen Gespräch zu beurteilen (vgl. Kap. 3.4.4). Ebenfalls erst im Transkript wird sichtbar, dass die Patientin sich der Dolmetscherin unterordnet. Aufgrund der Anweisungen der Dolmetscherin revidiert sie ohne das Wissen der Ärztin die ursprünglichen Schilderungen ihrer Symptome. Die Patientin wird durch das Verhalten sowohl der Dolmetscherin als auch der Ärztin im Vergleich mit Patient: innen, die sich ohne Dolmetscher: innen verständigen können, benachteiligt. 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie In Fallbeispiel 2 handelt es sich um ein Nachsorgegespräch in der Onkologie. Die folgende Sequenzanalyse umfasst vier Gesprächsausschnitte, die in chronologischer Reihenfolge aufgeführt, aber durch eine unterschiedliche Anzahl von Redezügen voneinander getrennt sind. Die Dauer der vier Sequenzen ohne die dazwischen liegenden Abstände beträgt 3: 15 Minuten. Das aufgezeichnete Gespräch dauert insgesamt 30: 15 Minuten. Die Begrüssungsszene ist in der Videoaufnahme nicht enthalten. Situierung des gesamten Gesprächs Die Gesprächsparteien sind ein Standarddeutsch sprechender Arzt (A) und eine türkische Patientin (P); für die Verständigung ist eine Dolmetscherin (D) hinzugezogen worden. Die Patientin hat eine Chemotherapie im Anschluss an eine Brustkrebsoperation hinter sich. Zum Zeitpunkt dieser Onkologie-Sprechstunde muss sie sich einer Bestrahlungstherapie unterziehen. Im Gespräch klagt die Patientin über starke Schmerzen und Müdigkeit. Sie befürchtet aufgrund dieser Schmerzen ein Rezidiv oder die Bildung eines neuen Tumors. Neben den Terminen in der Onkologie hat sie aus Angst wegen der Schmerzen zusätzlich beim Hausarzt Rat gesucht. Er hat ihr ein Antidepressivum verschrieben, aber bisher ist keine Besserung eingetreten. Inhalt der ausgewählten Sequenzen (1 - 4) Die erste der vier Sequenzen leitet mit einer offenen Frage direkt in die Phasen der Beschwerdeschilderung und der Beschwerdenexploration über. Der Schluss des Gesprächsausschnitts, die 4. Sequenz, ist Teil der Gesprächsbeendigung. Der Arzt ist in dieser Konsultation darum bemüht, die Patientin davon zu überzeugen, dass sowohl die Chemo- 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 145 <?page no="146"?> therapie als auch die Bestrahlung die richtigen Massnahmen für die Bekämpfung des Brustkrebses sind. Er führt weiter aus, dass Müdigkeit und Schmerzen in dieser Phase durchaus zu den üblichen Folgen der Behandlung gehören. Mit seinem Bemühen um Glaubwürdigkeit argumentiert der Arzt am Anliegen der Patientin vorbei, die vom Arzt die Gewissheit verlangt, dass er sie vollständig heilen kann. Das dominante Thema in den ausgewählten Sequenzen ist die Schilderung der Schmerzen und der Müdigkeit. Die wiederkehrende Thematisierung der Schmerzen sowie der Ängste verknüpft die ausgewählten Sequenzen inhaltlich miteinander. Das ursprüngliche Ziel des Arztes besteht darin, den Heilungsprozess zu überprüfen. Aufgrund der Beschwerdeschilderung der Patientin hat er nun die Aufgabe, die Symptome zu beurteilen und die Patientin von der Adäquatheit der Therapie zu überzeugen. Auswahl der Sequenzen Der Grund für die Auswahl der folgenden Sequenzen war wie in Fallbeispiel 1 das Thema „ Schmerz “ . Im Fokus der Analyse stehen die Sachorientierung des Arztes, das emotionale Erleben der Patientin und die Verhaltensweisen der Dolmetscherin innerhalb dieses Spannungsfelds. 5.2.1 Sequenz 1 „ [ … ] ich habe viel Schmerzen und Weh. “ Zu Beginn dieser Sequenzen fragt der Arzt die Patientin nach ihrem Befinden. Die einführende Frage führt zur Beschwerdeschilderung durch die Patientin: [13] 23 [01: 17.7] (1) 24 [01: 19.7] (2) A [v] JA JETZT wie GEHT es IHNen? D [v] Nas ı ls ı n ı z? D [UE] Wie geht es [14] 25 [01: 20.7] (3) 26 [01: 23.2] P [v] iyi iyi de ğ ilim a ğ r ı s ı z ı lar ı m çok. P [UE] mir geht nicht gut gut ich habe viel Schmerzen und Weh. D [UE] mir gohts nit D [UE] Ihnen? [15] 27 [01: 24.7] 28 [01: 26.4] 29 [01: 26.4] 30 [01: 26.6] 31 [01: 27.1] 32 [01: 28.4] (4) A [v] mhmh A [nv] ((nickt)) P [v] bugün çoktur a ğ r ı P [UE] Heute habe ich viel D [UE] guet ich ha viel Schmerze und Weh [16] (5) P [v] s ı z ı lar ı m çoktur dün evelki gün i ş te üç gün duramad ı m P [UE] Schmerzen und Weh gestern und der Tag vorher drei Tage habe ich es nicht 146 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="147"?> [17] 33 [01: 33.8] (6) .. 34 [01: 36.5] 35 [01: 39.2] 36 [01: 40.1] (7) A [v] DREI TAge A [nv] ((Geste mit 3 Fingern)) P [v] dün ee ev doktoruna gittim P [nv] ((nickt)) P [UE] ausgehalten. gestern bin ich zum Hausarzt gegangen. D [UE] also sit drei Tag hani das [18] (8) (9) D [UE] eem vorgeschter au ja und ich has nümme könne ushalte und deshalb bin i D [nv] ((nickt)) [19] 37 [01: 40.9] D [UE] zum Husarzt gange. Tab. 5.2.2-1: Gesprächsausschnitt 1 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Nach dem (hier nicht abgebildeten) einführenden Dank an die Patientin für die Bereitschaft, sich im Rahmen dieses Projekts für eine Videoaufzeichnung zur Verfügung zu stellen, beginnt der Arzt seinen Redebeitrag mit zwei kurzen, durch Alliteration verknüpfte Gliederungssignale „ Ja, jetzt [ … ] “ und der unmittelbar daran anschliessenden Frage, wie es ihr gehe (1). Ebenso wie in Fallbeispiel 1 leitet der Arzt mit der Frage nach dem Befinden die Beschwerdeschilderung der Patientin ein (vgl. Spranz-Fogasy, 2010, vgl auch Kap. 4.3). Dabei beugt er sich mit dem Oberkörper noch etwas mehr zu ihr hin. Mit seiner Aufforderung in Form einer offenen Frage ermöglicht der Arzt der Patientin eine freie Themengestaltung. Während der emotionalen Schilderung schaut sie erst vor sich hin, dann zur Dolmetscherin. Mit unterstützenden Verhaltensweisen - einem Nicken und dem bestätigenden Backchannel-Signal „ mhmh “ (4) - ermuntert der Arzt die Patientin zur Fortsetzung der Erzählung. Die Patientin wiederholt die Klage über die Schmerzen und fährt weiter mit der deutlich strukturierten Angabe der zeitlichen Abfolge: “ Heute [ … ], gestern [ … ], der Tag vorher drei Tage [ … ] (5). Dann setzt sie neu ein: „ Gestern bin ich zum Hausarzt gegangen. “ (6) Sie wendet den Blick zum Arzt, während die Dolmetscherin die Beschwerdeschilderung der Patientin wiedergibt. Der Arzt wirft verständnissichernd ein: „ drei Tage “ (7) und hebt drei Finger in die Höhe. Da die Patientin während der Verdolmetschung den Arzt anblickt, sieht sie die Handgeste und nickt bestätigend. Möglicherweise versteht sie auch die Zahl auf Deutsch. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Der Arzt, die Patientin und die Dolmetscherin sitzen im Dreieck, was es ihnen ermöglicht, sich einander mit einer leichten Kopfdrehung zuzuwenden. Sie haben alle den gleich guten Sichtkontakt zueinander. Aus der Perspektive der Analyse ist vor allem die Patientin gut sichtbar. Sie sitzt vis-à-vis von der Kamera. Die Dolmetscherin und der Arzt sind lediglich von der Seite zu sehen. Ihre Augenkommunikation ist grundsätzlich weniger gut erkennbar als diejenige der Patientin. Die Sichtbarkeit ist ausserdem abhängig davon, wie stark sie sich mit dem Oberkörper der Patientin zu- und von der Kamera abwenden. 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 147 <?page no="148"?> Zu Beginn der Sequenz 1 wendet sich der Arzt an die Patientin und beugt sich ihr entgegen. Er adressiert sie in der 3. Person Plural, redet also direkt mit ihr und fragt sie nach ihrem Befinden. Die Dolmetscherin adressiert die Patientin in der 3. Person Plural und gibt das zentrale Anliegen, die Klage der Patientin über „ viel Schmerzen und Weh “ (3), zügig und adäquat in der 1. Person Singular wieder. Die Redewiedergabe entspricht damit der „ true interpreter norm “ (vgl. Harris, 1990; vgl. auch Kap. 3.4.1). Die Modifikationen betreffen zunächst die Auslassung der Gliederungssignale „ ja, jetzt [ … ] “ (1). Die phatischen Partikeln am Anfang dieses Redebeitrags dienen dazu, den Kontakt zur Patientin herzustellen (Hentschel & Weydt, 2002, p. 650). Auf die Bedeutung der Verdolmetschung von solchen beziehungsfördernden Elementen beim Gesprächsdolmetschen im Gesundheitswesen weisen u. a. Albl-Mikasa et al. (2015) sowie Roat/ Crezee (2015, p. 242) hin. Dem Inhalt der einleitenden Worte kommt an dieser Stelle allerdings verhältnismässig wenig Bedeutung zu, weil die Patientin sie vermutlich auf Deutsch versteht - sie hat in Sequenz 1 mit ihrem Nicken nach dem Einwurf des Arztes auf Deutsch deutlich gemacht, dass sie etwas Deutsch versteht - , und weil sie die Körpersprache des Arztes wahrnehmen kann. Er wendet sich ihr zu (vgl. Teil A). Der verbale beziehungsfördernde Aspekt fehlt jedoch, wenn die phatischen Partikeln insgesamt unverdolmetscht bleiben. Die Zeitangabe gibt die Dolmetscherin im Vergleich zur Angabe der Patientin etwas verkürzt wieder. Ausser der Angabe „ drei Tage “ weist die Dolmetscherin lediglich auf „ vorgestern “ hin. Die Verdolmetschung verliert damit an inhaltlicher Übersichtlichkeit und Verständlichkeit. Vor allem wird die Fähigkeit der Patientin, vollständig und strukturiert zu formulieren, nicht abgebildet. Ebenfalls ausgelassen wird beim Dolmetschen die Wiederholung der Klage über die Schmerzen (8). Die Dolmetscherin knüpft inhaltlich an die „ drei Tage “ an und verschiebt den von der Patientin vorgegebenen Fokus ( „ viel Schmerzen und Weh “ ) auf die Zeitdauer der Schmerzen. Damit stuft sie aus eigener Initiative die Relevanz der Intensität der Schmerzen zurück. Der Arzt hat trotz der unvollständigen Verdolmetschung von den Schmerzen der Patientin erfahren, priorisiert mit seiner Rückfrage aber ebenfalls die Zeitdauer. Während ihrer Verdolmetschung ratifiziert die Dolmetscherin die Rückfrage des Arztes zur Zeitangabe, ohne ihre Wiedergabe zu unterbrechen, mit „ vorgeschter au ja “ (9). Dazu dreht sie den Kopf deutlicher zum Arzt hin und nickt. Mit der multimodalen Analyse ist zweifelsfrei zu erkennen, wem diese Zustimmung gilt. 5.2.2 Sequenz 2: „ [ … ] dann packt mich die Angst sofort [ … ] “ Ausserhalb der hier aufgeführten Textstellen holt die Patientin etwas aus und berichtet vom Besuch beim Hausarzt, bei dem sie wegen der Schmerzen Hilfe gesucht hat. 19 Die Patientin hat von ihm ein Medikament erhalten, das ihr aber nicht zu helfen scheint. Im weiteren Fortgang des Gesprächs (hier nicht abgebildet) erkundigt sich der Arzt nach der Strahlentherapie. Damit hat die Patientin gerade erst angefangen, sie kann also dazu noch nichts sagen und kommt auf das Thema der Schmerzen zurück, die sie als belastend empfindet. 19 Dieses Verhaltensmuster von Patient: innen mit Schmerzen wird z. B. von Lalouschek (2008) beschrieben: „ Patient: innen suchen mit dem Wunsche nach Heilung ihre Ärzt: innen auf, aber immer wenn die Heilung auf sich warten lässt, wird ein weiterer Spezialist oder eine weitere Spezialistin aufgesucht. “ (Lalouschek, 2008, p. 15) 148 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="149"?> Der Arzt führt aus, dass Schmerzen im Nachgang einer Operation und bei einer Bestrahlung nichts Aussergewöhnliches sind. Die Patientin widerspricht zwar der Einschätzung des Arztes nicht explizit, wiederholt aber ihre Bedenken und beschreibt in der folgenden Sequenz nachdrücklich, was die Schmerzen gefühlsmässig bei ihr auslösen: [88] 191 [07: 06.4] (10) P [v] ee acaba ordam ı zaten ben hasta bir P [UE] ee ist es wohl da ich bin sowieso ein [89] (11) P [v] insan ba ş ka bir yerdemi ş imdi birde bu yara oldu ğ u zaman P [UE] kranker Mensch oder von einer anderen Stelle und jetzt als diese Wunde entstand [90] 192 [07: 13.2] (12) (13) (14) 193 [07: 18.9] P [v] birde korku al ı yor hemen bu nere a ğ r ı d ığı zaman ben diyorumki burdan P [UE] dann packt mich die Angst sofort wo schmerzt es ich sage es kommt von da P [nv] ((deutet auf die linke Brust)) D [nv] ((nickt)) [91] (15) 194 [07: 19.0] 195 [07: 23.7] (16) P [v] geliyor yani belki ba ş ka bir yerden gelir. P [UE] vielleicht kommt es von einem anderen Ort. D [UE] also ich ee denk es isch em jezt e so fescht gsi ich weiss die Schmerze [92] (17) 196 [07: 26.7] 197 [07: 27.5] 198 [07: 27.7] A [v] VIEL SCHLIMmer mhm D [UE] aber die drei Tag sind jezt so feschti Schmerze gsi viel schlimmer gsi dass [93] (18) 199 [07: 32.0] 200 [07: 32.5] 201 [07: 32.6] 202 [07: 39.8] A [v] mhm mhmh A [nv] ((nickt mehrmals)) D [UE] ich gmeint han em ob das vo öppis anderem kunt und wenn ich [94] (19) D [UE] Wund ich ha jo do e Wunde und em denn mein ich immer es ka si dass es D [nv] ((deutet auf die linke Brust)) [95] 203 [07: 40.3] 204 [07: 41.0] 205 [07: 41.5] A [v] mhm D [UE] öppis anderscht isch dass vo anderscht her kunt die Schmerze das [96] (20) 206 [07: 42.9] (21) A [v] ich würde es mir GERne mal ANschauen D [UE] macht mi so unruhig. Tab. 5.2.2-2: Gesprächsausschnitt 2 A. Interaktion als koordiniertes Handeln In Sequenz 2 bleiben Schmerzen und Angst das dringende Anliegen der Patientin. Sie formuliert unmissverständlich, dass sie sich als kranken Menschen empfindet (10), den „ die Angst packt “ (12). Wenn die Patientin nun erneut auf ihre Angst und ihre Schmerzen hinweist, kann man annehmen, dass der Arzt sie bisher offenbar nicht von der Harmlosigkeit der Schmerzen überzeugen konnte. Die Bedeutung der Reaktion von Ärzt: innen auf 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 149 <?page no="150"?> psycho-soziale Faktoren schildern zum Beispiel Teas Gill/ Maynard (2006, p. 148): „ Given that the exploration of psychosocial factors is central to improved communication and medical care [ … ], it is important for doctors to pay attention to patients ’ explanations that introduce such factors. “ Die Patientin erreicht schliesslich interaktiv, dass der Arzt ihre Bedenken ernst nimmt und sie körperlich untersucht, um den Schmerzen auf den Grund zu gehen ( „ ich würde es mir gerne mal anschauen. “ [21]) Die körperliche Untersuchung findet im Anschluss an Sequenz 2 statt. Nach der Untersuchung adaptiert der Arzt seine Diagnose und bezieht die Verspannungen der Patientin, die er in der körperlichen Untersuchung ertasten kann, in seine Diagnose mit ein. Aber statt das emotionale Befinden der Patientin anzusprechen, bleibt er auf der für ihn relevanten körperlichen Ebene, wie das zum Beispiel Lindemann (2015, p. 159) in monolingualen Gesprächen beobachtet. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Adressierung und Redewiedergabe sind in Sequenz 2 unauffällig. Eine direkte Adressierung kommt in Sequenz 2 an keiner Stelle vor. Die Redewiedergabe der ausgangssprachlichen Äusserungen der Patientin erfolgt wie in Sequenz 1 in der 1. Person Singular. Die durch die Dolmetscherin reproduzierte Gestik wird für die Verständigung relevant. Zur Klärung der Schmerzstelle zeigt die Patientin in Sequenz 2 auf die linke Brust (vgl. Bild 5.2.2 - 1). Bild 5.2.2 - 1: Die Patientin zeigt auf die Schmerzstelle. Während der Schilderung des Anliegens blickt die Patientin praktisch unverwandt auf die Dolmetscherin. Die nickende Kopfbewegung der Dolmetscherin, mit der sie die Zeigegeste der Patientin bestätigt, ist von hinten zu beobachten. Die Patientin verfolgt mit ihrem Blick die Gesten der Dolmetscherin bei der Wiedergabe für den Arzt, bevor sie sich wieder dem 150 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="151"?> Arzt zuwendet. Bei der Dolmetscherin lässt die Drehung des Kopfes vermuten, dass sie ihren Blick während der Wiedergabe mehrmals zur Patientin schweifen lässt. Die Dolmetscherin übernimmt die Zeigegeste der Patientin und hilft dadurch, die schmerzende Stelle zu lokalisieren (vgl. Bild 5.2.2 - 2). Der Arzt hat zuvor verstanden, die Schmerzen seien auf der rechten Brust. Mit der Reproduktion der Geste der Patientin gelingt es der Dolmetscherin, das Missverständnis zu klären (diese Stelle ist in den ausgewählten Sequenzen nicht abgebildet). Bild 5.2.2 - 2: Die Dolmetscherin reproduziert die Zeigegeste. Im verbalen Austausch hingegen finden sich einige dolmetschspezifische Probleme. Der Grundgedanke der Patientin ist zwar verständlich formuliert, aber die Dolmetscherin lässt die bildhafte und emotionale Schilderung der Patientin aus, die sich als einen von der Krankheit gezeichneten Menschen sieht. Den daran anschliessenden, von der Patientin durch temporale Adverbien klar strukturierten Teil der Äusserung ( „ [ … ] und jetzt als diese Wunde entstand, dann packt mich die Angst sofort [ … ] “ [12]) lässt die Dolmetscherin grösstenteils ebenfalls unverdolmetscht. Der Arzt erfährt aus diesem Grund nichts von der Angst der Patientin und kann in der Folge nicht darauf eingehen. Die Überlegungen der Patientin zur Lokalisierung der Schmerzen sind sprachlich zunehmend diffus formuliert und weniger gut nachvollziehbar als die Schilderung zu Beginn des Redebeitrags. Sie beschreibt, wie sie sich selbst die Frage stellt: „ [ … ] wo schmerzt es? “ (13) Sie gibt sich anschliessend gleich selbst die Antwort. Die Schmerzen kommen „ von da “ (14), aber vielleicht kommen sie „ von einem anderen Ort “ (15). Der Zusammenhang zwischen diesen einzelnen Teilen lässt sich nicht ohne weiteres erschliessen. Offenbar befürchtet die Patientin, dass die Schmerzen mit dem Krebs zusammenhängen oder der Anfang einer neuen Erkrankung sind. Bei der Schilderung ihrer Sorgen schaut sie zuerst vor sich hin, dann zur Dolmetscherin. Erst gegen Ende der Verdolmet- 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 151 <?page no="152"?> schung schaut sie zum Arzt. Während der Wiedergabe schaut derArzt abgesehen von einem kurzen Blick auf seine Unterlagen unverwandt auf die Dolmetscherin, unterstützt sie mit dem Backchannel-Signal „ mhm “ und nickt mehrmals. Seine häufigen Backchannel-Signale deuten darauf hin, dass er den Turn jederzeit gerne übernehmen würde. Er unterbricht die Dolmetscherin jedoch nicht. Nach Abschluss der Verdolmetschung neigt er sich wieder der Patientin zu. Laut und überdeutlich, wie wenn er damit das Verstehen der Patientin sichern könnte, sagt er am Ende der Sequenz 2: „ Ich würde es mir gerne mal anschauen. “ (21) Die Dolmetscherin steht vor der schwierigen Aufgabe, den in der Flüchtigkeit des Gesprochenen nur schwer erfassbaren Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen der Äusserung zu verstehen und wiederzugeben. Ein zusätzliches Problem scheint die Länge des Redebeitrags zu sein (vgl. Kap. 3.2). Die „ Gesamtstrategie “ der Dolmetscherin an dieser Stelle ist nur mit einem Zurückblicken auf Sequenz 1 erkennbar. Sie besteht in dieser Situation darin, die ineinander verschachtelten Gedanken der Patientin nach eigenem Gutdünken zu „ ordnen “ und eine zusammenhängende Äusserung zu formulieren. Um dieses Ziel zu erreichen, fügt die Dolmetscherin Äusserungen der Patientin aus Sequenz 1 hinzu: „ [ … ] drei Tage habe ich es nicht ausgehalten “ (5). Sie wiederholt in Sequenz 2 die frühere Klage über die Schmerzen ( „ die drei Tag sind jetzt so feschti Schmerze gsi “ [17]). Dazu Mason (2015): „ [ … ] they [the interpreters] may seek to fill in gaps or otherwise make good a communicative deficit. “ (Mason, 2015, p. 316). Insgesamt führt diese gesichtswahrende Strategie 20 zu einer einigermassen „ fugenlosen “ verständlichen Wiedergabe für den Arzt im Sinne des recipient design. Diese Strategie basiert auf ihren eigenen Einschätzungen und wird nicht „ explizit gemacht “ (Deppermann & Blühdorn, 2013, p. 9; vgl. auch Sacks et al., 1974, p. 727). Die Dolmetscherin geht möglicherweise davon aus, dass sie als Dolmetscherin vom Arzt eher ernst genommen wird, wenn sie eine verständliche Äusserung formuliert, und dass der Arzt die „ Anpassung “ der Inhalte vielleicht nicht einmal wahrnimmt, wenn ihre Verdolmetschung plausibel erscheint. Eine „ unbeholfene “ oder an der Oberfläche weniger stimmige Verdolmetschung könnte zu einer Rückfrage des Arztes führen. Rückfragen wären allerdings eine Chance für eine optimale Verständigung im Sinne der Patientin. Eine der gesprächsentscheidenden Modifikationen in Sequenz 2 sind Relevanzrückstufungen. Ein deutliches Beispiel ist die Stelle, an der die Dolmetscherin am Schluss der Wiedergabe in einer selbst-initiierten Hinzufügung auf die Sorgen der Patientin hinweist, aber die Angst hinunterstuft: ( „ das macht mi so unruhig. “ [20]) Der Arzt vermeidet es an dieser Stelle, auf den von der Dolmetscherin wiedergegebenen Hinweis der Unruhe zu reagieren. Eine weitere Modifikation ist die Hinzufügung von Heckenausdrücken. Die Dolmetscherin drückt mit der Einfügung von Heckenausdrücken eine Relativierung der von der Patientin geäusserten Inhalte auf: „ Also, ich denk, es isch em jetzt so fescht gsi [ … ] “ (16) [Hervorhebung GH], „ dass ich gmeint han “ (18) ([Hervorhebung GH] und „ [ … ] denn mein ich immer es ka si [ … ] “ (19) [Hervorhebung GH]. 21 Die Patientin selbst hat nur am 20 „ Face-saving strategies are commonly used by non-professional interpreters in order to protect their own social image ( … ) “ (Martínez-Gómez, 2015, p. 422; vgl. auch Pöchhacker & Kadri ć , 1999, p. 166). 21 Heckenausdrücke (hedgings) reflektieren die Einstellung des Arztes zum Aussagewert seines Wissens. Lakoff (1973) weist mit Bezug auf Robin Lakoff darauf hin, dass Verben und syntaktische Strukturen eine Äusserung einschränken können (Lakoff, 1973, p. 490). 152 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="153"?> Schluss dieser Äusserung, an der sie auf die mögliche Herkunft der Schmerzen verweist, eine Unsicherheit ausgedrückt ( „ vielleicht kommt es von einem anderen Ort [15]). Die Modifikationen in Sequenz 2 fallen stärker ins Gewicht als diejenigen in Sequenz 1. Der Arzt widmet sich dem Gespräch mit grosser Aufmerksamkeit und richtet sich mit seinem Blick auf die jeweiligen Sprecher: innen aus, soweit die Kopfhaltung und die Blickrichtung erkennbar sind. Schreibarbeiten führt er keine aus. 5.2.3 Sequenz 3: „ [ … ] die letschte zwei het sie sehr übertriebe. “ Einige der zwischen Sequenz 2 und Sequenz 3 liegenden Gesprächspassagen sind dem Antidepressivum gewidmet, das der türkischstämmige Hausarzt der Patientin verschrieben hat. Sie geht nach eigenen Angaben zu diesem Arzt, weil sie jemanden „ zum Reden “ braucht. Er habe ihr das Medikament verordnet, sie jedoch auf die Nebenwirkungen (Übelkeit und Müdigkeit) dieses Medikaments hingewiesen, berichtet die Patientin. Im folgenden Gesprächsausschnitt rückt der Arzt die Behandlung als Ursache der Müdigkeit in den Vordergrund. Er hält es zwar für möglich, dass das vom Hausarzt verordnete Medikament zusätzlich Müdigkeit und Übelkeit auslöst. Aber die Ursache der Müdigkeit (die Übelkeit wird vom Arzt nicht weiterverfolgt) kann nach Ansicht des Arztes ebenso wie die Schmerzen allein auf die Chemotherapie und die Bestrahlung zurückgeführt werden. [261] 529 [21: 39.9] (22) A [v] also EINerseits [262] A [v] haben Sie noch die CHEMOtherapie im KÖRper jedenfalls RESte der [263] 530 [21: 48.6] (23) A [v] WIRkung von der CHEMOtherapie die STRAHlentherapie ist AUCH klassisch [264] (24) (25) A [v] da das macht HÄUFig MÜde und vielLEICHT macht auch das medikaMENT [265] (26) 531 [21: 57.1] A [v] ein BISSchen was da dran aber ICH DENke JA alLEINe die CHEMO und die [266] (27) A [v] STRAHlentherapie sind WIRklich GRÜnde warums einem für eine geWISse [267] (28) A [v] zeit warum man da MÜde sein KANN. D [v] yani ald ığı n ı z ee kimyasal terapi yani D [UE] Also die chemische Therapie die sie Chemo [268] (29) (30) 533 [22: 10.7] D [v] kemo terapi dedikleri bu yorgunluk yapar o bilinen bir ş eydir ışı n. D [UE] therapie nennen die macht Müdigkeit das ist etwas das bekannt ist. [269] (31) 534 [22: 17.2] (32) D [v] tedaviside yorgunluk yapar mm bu ilaçdanda em ondada biraz P [nv] ((nickt mehrmals.)) D [UE] Strahlentherapie macht auch müde und von dem Medikament em von dem kann [270] (33) D [v] etki vard ı r ama bilinen o di ğ er iki etkinin size o yorgunlu ğ u yapaca ğı . D [UE] auch ein bisschen Wirkung sein aber die Wirkung der anderen zwei sind bekannt 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 153 <?page no="154"?> [271] 535 [22: 24.4] P [v] (xxx) giden kemo terapi zaten ilacla (xxx) onu ben hiç P [UE] (xxx) die vergangene Chemotherapie mit dem D [UE] dass sie müde machen. [272] (34) P [v] unutamam iki sefer beni öldürdü dirilti. P [UE] Medikament (xxx) werde ich sowieso nie vergessen zweimal hat es mich [273] 536 [22: 32.3] P [UE] umgebracht und wiederbelebt. D [UE] Also ich ha das nit vergesse die Chemo [274] (35) D [UE] therapie sie hän mir das zweimol geh und das isch für mich ich bi em [275] 537 [22: 41.0] (36) 538 [22: 41.0] 539 [22: 42.6] (37) 540 [22: 44.2] (38) A [v] ZWEImal? SECHSmal. P [v] he SECHSmal ta D [UE] wie gschtorbe und uferschtande. iki kere dediniz. D [UE] Sie haben zweimal gesagt [276] 541 [22: 45.5] (39) 542 [22: 47.6] 543 [22: 49.0] 544 [22: 49.3] A [v] ah P [v] deki en son ikisi beni çok mahvetti. P [UE] sag die letzten zwei haben mich am meisten zerstört. D [v] ah die LETschte zwei het [277] (40) 545 [22: 50.7] 546 [22: 52.1] (41) A [v] DIE waren die SCHLIMMsten, JA. D [v] sie SEHR e überTRIEbe . Tab. 5.2.3-3: Gesprächsausschnitt 3 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Der Arzt wendet sich nach der Verdolmetschung des vorherigen Redebeitrags der Patientin zu. Er leitet seine Turn-Übernahme mit „ also “ (22) ein und nennt zunächst die Chemotherapie „ jedenfalls Reste der Wirkung von der Chemotherapie “ (22), dann „ die Strahlentherapie “ (23) als Ursachen der Müdigkeit. Dem Antidepressivum räumt der Arzt eine geringe Auswirkung ein (26). Nach Meinung des Arztes können allein die Chemotherapie und die Strahlentherapie „ wirklich Gründe “ (27) für die Müdigkeit sein [Hervorhebungen GH]. Während er der Patientin darlegt, warum sie nach der Chemotherapie und während der Bestrahlung müde sein kann, spricht er langsam und mit Nachdruck, als ob er hoffen würde, dass die Patientin ihn ohne Verdolmetschung versteht (vgl. Fallbeispiel 1). Er setzt die Argumente, die Strukturiertheit seines Redebeitrags, die Wortwiederholungen sowie das etwas verlangsamte rhythmische Sprechen als Mittel der Überzeugung ein. Zusätzlich bekräftigt er seine Ausführungen mit deutlich wahrnehmbaren Schlaggesten, abwechslungweise mit der geöffneten rechten Hand, mit der Faust oder mit beiden Händen. Die serielle Aneinanderreihung von potenziellen Gründen für die Müdigkeit der Patientin unterstützt er gestisch, indem er mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Daumen, den Zeigefinger und den Mittelfinger nacheinander antippt (vgl. Bild 5.2.3 - 3). Er blickt die 154 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="155"?> Patientin an, unterbricht den Blickkontakt jedoch kurz, um zur Dolmetscherin zu schauen. Die Patientin konzentriert sich beim Zuhören ganz auf den Arzt. Sie wechselt die Blickrichtung erst beim Einsetzen der Verdolmetschung. Vermutlich hat sie den Arzt nicht oder höchstens zum Teil verstanden, da sie sie ihr Einverständnis erst bei der Verdolmetschung mit Nicken signalisiert. Bild 5.2.3 - 3: Der Arzt untermalt seine Ausführungen gestisch. Die Dolmetscherin reproduziert diese Gesten in der Wiedergabe für die Patientin nicht. Ihre Handbewegungen sind in dieser Sequenz auf ihr eigenes Sprechen abgestimmt. Sie repräsentieren oft Greifbewegungen (Butterworth-Gesten), die den Wortfindungsprozess abbilden oder möglicherweise sogar erleichtern (vgl. Adam & Castro, 2013, p. 72; Butterworth & Hadar, 1989, p. 173; McNeill, 1992, p. 77). Trotz der Akzentuierung der Inhalte durch die Schlaggesten schränkt der Arzt die Faktizität mehrmals ein. Die Äusserungen erhalten durch Adverbien, ein Indefinitpronomen, einen Matrixsatz und ein Modalverb den Charakter einer vorsichtigen Meinungsäusserung, die seinen Wissensvorsprung in den Hintergrund rückt und etwas Nähe zur Patientin vermittelt: „ [ … ] das macht häufig müde [ … ] “ (24) [Hervorhebung GH], „ [ … ] vielleicht macht auch das Medikament ein bisschen was dran [ … ] “ . Mit dem Modaladverbial „ vielleicht “ verweist er auf seine subjektive Meinung (25) [Hervorhebung GH]. Der Arzt besteht aber doch auf der allgemeinen akzeptierten ärztlichen Erfahrung: „ [ … ] aber ich denke, [ … ] die Chemo und die Strahlentherapie sind wirklich Gründe “ (26/ 27), „ warum man da müde sein kann. “ (28) [Hervorhebungen GH]. Die Beobachtung ist zudem eine allgemeine, sie gilt für andere Patient: innen auch, was er mit den Pronomina „ einem “ oder „ man “ ausdrückt „ [ … ] warums einem für eine gewisse Zeit [ … ] “ und „ warum man da müde sein kann. “ (28). Bei der anschliessenden Verdolmetschung richtet die Patientin den Blick auf die Dolmetscherin, nicht wie vorher auf den Arzt. In ihrer Antwort schliesst sie nicht an 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 155 <?page no="156"?> die Argumentation des Arztes an, sondern greift das Stichwort „ Chemotherapie “ in der Verdolmetschung auf und beschreibt, wie sie diese in Erinnerung hat: „ [ … ] zweimal hat es mich umgebracht und wiederbelebt. “ (34) Die Anzahl der chemotherapeutischen Behandlungen gibt Anlass zu einem Missverständnis. Die Dolmetscherin spricht von insgesamt zwei Behandlungen. Der Arzt, der sich bei der Wiedergabe der Dolmetscherin zuwendet, erkundigt sich nach einem Kontrollblick in die Unterlagen bei der Dolmetscherin: „ Zweimal? Sechsmal. “ (36) Der Arzt will das Problem mit der Dolmetscherin klären. Er erwartet, dass er das benötigte Wissen von ihr erfährt und schaut sie an. Die Patientin kommt der Dolmetscherin zuvor und bestätigt mit Blick zum Arzt auf Deutsch, es seien sechsmal gewesen (37). Mit ihrer Reaktion und dem code-switching zeigt sie an, dass sie über eine gewisse rezeptive und produktive Sprachkompetenz im Deutschen verfügt (vgl. Teil B). Der Arzt signalisiert der Patientin in überlappender Rede sein Mitgefühl. Er kann aufgrund seiner Erfahrung auf die Klage der Patientin schliessen, obwohl die Dolmetscherin die Klage der Patientin nicht wiedergibt: „ Die waren die schlimmsten, ja. “ (41) Die empathische Reaktion des Arztes bleibt unverdolmetscht, möglicherweise wegen des überlappenden Sprechens. Er wendet sich der Patientin zu und hält Augenkontakt mit ihr (vgl. Bild 5.2.3 - 4). Bild 5.2.3 - 4: Der Arzt wendet sich verständnisvoll der Patientin zu. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen In Sequenz 3 wird die Adressierung nur an wenigen Stellen sichtbar, die verallgemeinernden Pronomina des Arztes ( „ einem “ ) oder ( „ man “ ) lässt die Dolmetscherin aus. Damit entgeht der Patientin die Überzeugung des Arztes, dass bei dieser Behandlung allgemein mit solchen Beschwerden zu rechnen ist. Sie sollten deshalb keinen Anlass zur Besorgnis geben. 156 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="157"?> Durch die Auslassung geht der beruhigende Effekt der Verallgemeinerung teilweise verloren (33). In der unverdolmetschten kurzen Interaktion mit der Patientin verwendet die Dolmetscherin die 3. Person Plural ( „ Sie haben zweimal gesagt. “ [38]) Beim Kommentar zur Äusserung der Patientin über die zwei letzten Chemotherapie-Behandlungen verwendet sie die 3. Person Singular und spricht über die Patientin. Die Patientin adressiert die Dolmetscherin in der 2. Person Singular. Sichtbar wird die Adressierung, wenn sie die Dolmetscherin auffordert, die vorangegangene Äusserung über die Anzahl der chemotherapeutischen Behandlungen zu berichtigen und das Missverständnis auszuräumen: „ Sag, die letzten zwei haben mich am meisten zerstört. “ (39) Grund für das Missverständnis ist die Anzahl der chemotherapeutischen Behandlungen. Die Dolmetscherin missversteht die (ungenaue) Äusserung der Patientin: „ [ … ] zweimal hat es mich umgebracht und wiederbelebt. “ (34) Sie expandiert nach ihrem Verständnis: „ [ … ] sie hän mir das zweimol ge (Standarddeutsch: gegeben) [Anmerkung GH] und das isch für mich wie … wie gschtorbe und uferschtande “ . (35) Die Patientin lässt den Blick zwischen der Dolmetscherin und dem Arzt hin und her schweifen, hält dann den Blick bis zur Stelle, an der sich die Dolmetscherin in der Anzahl der Chemotherapien irrt, auf den Arzt gerichtet. Zu diesem Zeitpunkt schaut der Arzt zur Kontrolle in die Unterlagen. Die Patientin korrigiert die Dolmetscherin, weil sie die Frage des Arztes auf Deutsch versteht (vgl. Teil A). Die Dolmetscherin sucht die Schuld der Patientin zuzuweisen und wirft ihr vor, sie habe doch selbst „ zweimal “ gesagt (38). Die Patientin widerspricht und fordert die Dolmetscherin auf, den Zusammenhang auch dem Arzt gegenüber richtigzustellen: Die Bitte um Richtigstellung der Patientin - auf Türkisch - entgeht dem Arzt. Das kurze Zwiegespräch überträgt die Dolmetscherin nicht. Die Dolmetscherin kommt der Bitte der Patientin nicht nach, da dies für sie eine gesichtsbedrohende Handlung wäre. Stattdessen äussert sie mit gesenkter Stimme einen Kommentar: „ Die zwei letschte het sie sehr übertriebe “ [40]), der vermutlich weder den Arzt, der überlappend spricht und die Patientin anschaut, noch die Patientin erreicht, die den Blick auf den Arzt gerichtet hat und wohl ihm zuhört. Die Dolmetscherin nutzt den Moment, in dem der Arzt und die Patientin nicht auf sie achten. Sie vernachlässigt mit diesem metadiskursiven Kommentar den respektvollen Umgang mit den Gesprächsparteien, der zum Beispiel in den California Standards for Healthcare Interpreters (CHIA, 2002) gefordert wird. 22 Der Bruch der Loyalität zur Patientin erweist sich als ein gravierendes Fehlverhalten (vgl. Kap. 3.6.3). Die gedämpfte Stimme der Dolmetscherin an dieser Stelle deutet darauf hin, dass sie sich der Abweichung von den Lege-artis-Standards des Dolmetschens bewusst ist. Dieser pejorative Kommentar ist der einzige dieser Art; aber er macht eine Distanz der Dolmetscherin gegenüber der Patientin spürbar. Die Patientin hört diesen Redebeitrag vermutlich gar nicht, zumindest reagiert sie nicht darauf. 22 Die Forderung nach einem respektvollen Umgang mit den Gesprächsparteien ist in den „ California Standards for Healthcare Interpreters “ wie folgt formuliert: „ Interpreters strive to support mutually respectful relationships between all three parties in the interaction (patient, provider and interpreter) [ … ] “ (CHIA, 2002, p. 11). 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 157 <?page no="158"?> Weitere Ungenauigkeiten in der Verdolmetschung erschweren die Verständlichkeit des originalen ausgangssprachlichen Redebeitrags des Arztes. Zunächst fällt die Reformulierung am Anfang auf ( „ die chemische Therapie, die sie Chemotherapie nennen “ [29]), die kaum als Erklärung für die Patientin dient - der Ausdruck wurde ja schon früher im Gespräch benutzt. Es handelt sich eher um einen lexikalischen Lapsus, der im anschliessenden Relativsatz von der Dolmetscherin selbst korrigiert wird. Dann fehlen in der Verdolmetschung der genauere Hinweis des Arztes auf die Reste der Wirkung der Chemotherapie, die müde macht, die Nennung der Chemotherapie und der Strahlentherapie, die der Arzt explizit aufführt - die Dolmetscherin spricht diffuser von den „ anderen zwei “ (33) - , die rhetorischen Mittel sowie die gestischen Bewegungen des Arztes. Ob die Patientin die weniger übersichtlich und weniger präzise formulierte Verdolmetschung versteht, bleibt offen. Sie reagiert jedenfalls nicht auf das Vorangegangene, sondern greift nur das Stichwort „ Chemotherapie “ auf und klagt über die Auswirkungen der Behandlung (vgl. Teil A). Ein weiterer die ausgangssprachlichen Redebeiträge modifizierender Aspekt ist die Auslassung der Heckenausdrücke 23 , mit denen der Arzt die Bestimmtheit bei seinen Aufzählungen mildert: „ [ … ] die Chemotherapie [ … ], die macht Müdigkeit [ … ] “ (30) und „ [ … ] die Strahlentherapie macht auch müde “ (31), „ [ … ] die Wirkung der anderen zwei sind [sic] bekannt “ (33). Sie behält lediglich das Modalverb ( „ kann “ ) bei der Wirkung des Medikaments bei: „ [ … ] von dem Medikament kann auch ein bisschen Wirkung sein. “ (32) Die Auslassungen der Heckenausdrücke vermitteln den Eindruck, dass der Arzt in der Verdolmetschung an dieser Stelle deutlicher in der Rolle als faktenbezogener Experte in Erscheinung tritt, als er dies in seiner ausgangssprachlichen Äusserung tut. 24 5.2.4 Sequenz 4: „ Hat sie Fragen an mich? “ Im Anschluss an die 3. Sequenz hofft der Arzt, dass sich der Allgemeinzustand der Patientin doch verbessert hat (dieser Ausschnitt ist in den Sequenzen 1 - 4 nicht enthalten). Die Patientin versichert dem Arzt, es ginge ihr zwar besser, aber die Schmerzen und die daraus resultierenden Ängste bleiben ihr zentrales Thema. [316] 630 [26: 08.8] (42) 631 [26: 10.7] A [v] hat sie FRAgen an mich? D [v] sormak istedi ğ iniz bir ş ey D [UE] Gibt es etwas das Sie mich [317] (43) 632 [26: 12.8] (44) 633 [26: 15.7] (45) P [v] ş u anda soru akl ı mada bir ş ey gelmiyo i ş te benim sorum P [UE] Im Moment Frage es fällt mir auch nichts ein also meine Frage ist D [v] var m ı bana? D [UE] fragen möchten? 23 In der Literatur wird von Heckenausdrücken oder hedgings gesprochen, mehr zum Konzept „ hedging “ bei Lakoff (1973), Markannen/ Schröder (1997) und bei Ekberg/ Lecouteur (Ekberg & Lecouteur, 2012). 24 In verschiedenen Studien wird darauf hingewiesen, dass Heckenausdrücke im Ausgangstext eine Funktion erfüllen und in den Verdolmetschungen der Dolmetscher: innen dieselbe Funktion übernehmen sollten (vgl. u. a. Albl-Mikasa et al., 2015, p. 87; Hale, 2007, p. 113). 158 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="159"?> [318] (46) P [v] yani ben ş u anda bekliyomki deyerkine senin vucudunda kanser kanser P [UE] Ich warte im Moment darauf dass man sagt in deinem Körper ist kein Krebs [319] 634 [26: 21.2] (47) 635 [26: 22.8] 636 [26: 23.0] 637 [26: 23.1] 638 [26: 24.9] P [v] yok onu bekliyorum yoksa yani diyecekki ba deyecek belki ş indik senin P [UE] Darauf warte ich sonst also sollte sagen sollte mir sagen vielleicht ist in D [v] ne? D [UE] was? [320] 639 [26: 28.1] (48) 640 [26: 31.9] P [v] vucudunda kanser yok (xxx) ve bunu bekliyorum yani ba ş ka P [UE] deinem Körper kein Krebs (xxx) und warte darauf also anderes D [UE] Also im [321] (49) 641 [26: 37.1] D [UE] moment nit so em öppis los das ich miesst froge aber mi Denken isch dass [322] (50) 642 [26: 41.6] D [UE] Sie mir sage em jetzt hämmer alles gmacht und jetz händr kai Krebszelle [323] 643 [26: 46.1] 644 [26: 49.8] (51) A [UE] ist das ihr D [UE] mehr im Körper und em und dass das besser wird dass em [324] 645 [26: 51.8] A [v] beDENken oder ihre FRAge oder P [v] yani P [UE] also D [v] yani bu dü ş üncenizmi sorunuzmu? D [UE] Also ist das Ihr Gedanke oder Ihre Frage? [325] (52) 647 [26: 58.6] P [v] sorum i ş te ne diyki bana söylesin bunu söylesinki rahatlay ı m yani. P [UE] meine Frage also sag er soll mir das sagen damit ich mich entspanne also. D [UE] Also [326] 648 [27: 00.7] 649 [27: 01.2] 650 [27: 04.2] 651 [27: 04.6] 652 [27: 06.5] 653 [27: 06.9] 654 [27: 09.1] 655 [27: 09.4] 656 [27: 10.5] 657 [27: 10.8] A [v] FRAge ja mhmh ja ja A [nv] ((nickt mehrmals)) D [UE] das isch mi Frog em also dass Sie mi also dass Sie ihre säge emm sie [327] 658 [27: 11.1] 659 [27: 11.3] (53) .. (54) A [v] jawohl D [UE] het kaini Krebszelle dass es ihre wieder guet goht und dass sie sich [328] 660 [27: 11.4] 661 [27: 11.5] D [UE] denn wohlfühlt mit dere Antwort. Tab. 5.2.4-4: Gesprächsausschnitt 4 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Mit der das Ende des Gesprächs einleitenden Frage adressiert der Arzt zum ersten Mal in dieser Konsultation die Dolmetscherin anstelle der Patientin: „ Hat sie Fragen an mich? “ 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 159 <?page no="160"?> (42). Dabei verwendet er für die Patientin die 3. Person Singular. Dabei zeigt er mit dem Zeigefinger kurz auf die Patientin. Gleichzeitig wendet er sich der Dolmetscherin zu und sein Blick ist auf sie gerichtet, d. h. sie wird an dieser Stelle als primäre Gesprächspartei behandelt (vgl. Bild 5.2.4 - 5). Bild 5.2.4 - 5: Der Arzt wendet sich gegen Ende des Gesprächs an die Dolmetscherin. Die Patientin hat ihren Blick auf den Arzt gerichtet und kann wahrnehmen, dass er gleichzeitig kurz mit dem Zeigefinger auf sie deutet. Der Wechsel in der Adressierung erfolgt unerwartet. Mit dem Adressierungswechsel und der Blickabwendung von der Patientin suggeriert der Arzt möglicherweise, dass das Gespräch von seiner Seite als abgeschlossen zu betrachten ist. Dass ein bestimmtes Verhalten das Ende von Ärzt: innen- Patient: innen-Gesprächen signalisieren kann, beschreiben Boyd/ Heritage (2006) als „ negatively polarized question designs “ , als Fragen, die Expert: innen vor allem gegen Ende der Konsultation stellen (Boyd & Heritage, 2006, p. 177). Das Sprechen über die Patientin in der 3. Person Singular ist ein Anzeichen dafür, dass der Arzt der Dolmetscherin verbal und qua Blick die Rolle einer am Gespräch Beteiligten zuweist. Damit schränkt er die Beteiligung der Patientin ein (vgl. Fallbeispiel 1). Entscheidend für den Gesprächsverlauf scheint dieser Adressierungswechsel jedoch nicht zu sein, da er in der Verdolmetschung nicht aufscheint: „ Gibt es etwas, das Sie mich fragen möchten? “ (43) Für die Patientin ist der Wechsel in der Adressierung sprachlich kaum wahrnehmbar, sichtbar aber wird für sie die körperliche Ausrichtung des Arztes und sein Blick zur Dolmetscherin hin. Der Fortlauf der Kommunikation gestaltet sich aufgrund der schwer verständlichen Formulierung der Patientin als schwierig. Die Dolmetscherin signalisiert der Patientin mit der Fragepartikel „ ne? “ (was? ) (47) ihr Nichtverstehen. Dem Arzt fällt die Nachfrage auf, er wendet den Blick von der Patientin ab und schaut zur Dolmetscherin. Da die Patientin mit Erzählen unbeirrt weiterfährt, blickt der Arzt wieder zur Patientin. Nach der Verdolmet- 160 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="161"?> schung bringt er mit seiner Rückfrage „ Ist das ihr Bedenken oder ihre Frage oder? “ (51) zum Ausdruck, dass er seinerseits unsicher ist, ob er die Verdolmetschung richtig verstanden hat. Er scheint die undeutliche Formulierung der Patientin zuzuschreiben und wendet sich mit seiner Rückfrage an die Dolmetscherin. Der Arzt zieht offenbar nicht in Erwägung, dass die Dolmetscherin inhaltlich vom ausgangssprachlichen Redebeitrag abweichen und eigenständige Formulierungen wählen könnte, weil sie Verstehensprobleme hat. Ebenso wenig kann er erkennen, dass die Dolmetscherin ausgangssprachliche Redebeiträge nach ihrem Gutdünken modifiziert. Der Arzt führt seinen medizinischen Standpunkt bis zur Verabschiedung (hier nicht abgebildet) aus. Er versichert der Patientin, dass die gewählte Therapie seiner Meinung nach die richtige sei und beibehalten werden sollte. Die Patientin habe eine gute Chance, aber eine Gewissheit gebe es nicht. Der von der Patientin an ihn gestellten Forderung nach absoluter Sicherheit kann der Arzt nicht nachkommen. Ein faktenbezogenes Verhalten, mit dem er nicht an die Lebenswelt und an die Ängste der Patientin anschliesst. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Auffällig ist in Sequenz 4 die Adressierung aufseiten des Arztes und der Patientin. Er adressiert die Dolmetscherin und verwendet in der gesprächsbeendenden Frage die 3. Person Singular für die Patientin. Dieser Adressierungswechsel in der Phase der Gesprächsbeendigung geschieht unvermittelt. Die Dolmetscherin wird für den Arzt zur primären Gesprächspartei. Ebenso wie der Arzt wendet sich auch die Patientin mit ihrem Anliegen an die Dolmetscherin. Sie adressiert die Dolmetscherin in der 2. Person Singular „ [ … ] also sag, er soll mir das sagen [ … ] “ [52]) und für den Arzt verwendet sie die 3. Person Singular. Die Dolmetscherin adressiert die Patientin wie in den drei vorausgehenden Sequenzen konsequent in der 3. Person Plural. Sie bleibt in der Redewiedergabe wie bereits in den vorangehenden Sequenzen bei der 1. Person Singular und weicht nur dann von der „ Ich- Perspektive “ ab, wenn sie den Bezug in der direkten Rede als nicht eindeutig einstuft und klären will, wer die Ansprechperson ist. An der Stelle „ [ … ] dass Sie mi (Standarddeutsch: mir), [Hervorhebung GH], also dass Sie ihre säge (Standarddeutsch: ihr, [54]) [Hervorhebung GH] macht die Dolmetscherin mit der selbst-initiierten Korrektur ( „ also dass sie ihre säge “ ) deutlich, dass der Arzt nicht ihr selbst etwas sagen soll, sondern der Patientin (vgl. Llewellyn & Lee, 2014). Damit sorgt sie für eine bessere Verständlichkeit (vgl. Kap. 3.4.1). 25 Um die Verwechslungsgefahr zu vermeiden, koordiniert die Dolmetscherin die Personalpronomina mit dem Blickkontakt und mit einem Nicken in Richtung des Arztes und dann zur Patientin hin. Zudem deutet sie mit Handgesten erst auf den Arzt und anschliessend auf die Patientin (vgl. Bild 5.2.4 - 6). Während der Erklärung richten die Patientin und der Arzt den Blick auf die Dolmetscherin. Der Arzt signalisiert sein Verständnis in überlappender Rede durch „ ja “ , mhm “ , „ jawohl “ (53). Mit seinem Kopfnicken bestätigt er sein Verständnis und zieht zusätzlich die Aufmerksamkeit auf sich. Aufgrund der Häufung der Backchannel-Signale ( „ mhm “ , „ ja “ , „ jawohl “ ) entsteht der Eindruck, dass er den Redezug wohl gerne vor dem Ende der Verdolmetschung übernehmen möchte. Er setzt 25 Die Dolmetscherin nutzt das Modell des role space spontan, das Modell ist erst seit 2013/ 2014 bekannt. 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 161 <?page no="162"?> sein Rederecht als dominante Gesprächspartei nicht durch, sondern wartet, bis die Dolmetscherin mit Sprechen aufhört. Bild 5.2.4 - 6: Die Dolmetscherin klärt die pronominalen Bezüge verbal und mit Gesten. In Sequenz 4 kommt die Hauptaussage in der Verdolmetschung - die Patientin möchte eine Garantie, dass sie völlig geheilt ist - adäquat zum Ausdruck. Die Dolmetscherin überträgt die gesprächsbeendende Frage des Arztes adäquat. Die Patientin meint zunächst, sie habe keine Frage mehr (44). Dann aber leitet sie mit dem redestrukturierenden „ also “ ( „ also meine Frage ist “ [45]) doch zur Frage über, die eher den Charakter der erwünschten Antwort hat: „ [ … ] also meine Frage ist, ich warte im Moment, dass man sagt, in deinem Körper ist kein Krebs [ … ] “ (46). Die Patientin hofft, dass „ man “ ihr die vollständige Heilung in Aussicht stellt. Während sie überlegt, ob sie eine Frage hat, schaut sie vor sich hin, bevor sie den Blick zur Dolmetscherin führt. Im Laufe der Wiedergabe ins Deutsche zeigen sich die Verstehensprobleme. Die Dolmetscherin versteht die Äusserung der Patientin nicht ausreichend, unterbricht die Patientin und fragt nach: „ was? “ (47). Vermutlich versteht sie den Schluss des vorherigen Redebeitrags nicht: „ [ … ] darauf warte ich sonst also [ … ] “ (48). Die Patientin wiederholt zwar Teile ihrer Äusserung, aber zu einem besseren Verständnis scheint die Wiederholung nicht zu führen. Das Verstehensproblem der Dolmetscherin wirkt sich negativ auf die Verdolmetschung aus (49), die in Häsitationssignale ([ … ] „ em “ ; [ … ] „ dass em “ ) und in ein unbeendetes Satzgefüge „ dass das besser wird, dass em. “ mündet (50). 26 Die Modifikationen der Dolmetscherin bestehen hauptsächlich aus expandierenden Formulierungen, mit denen die Unklarheiten im Redebeitrag der Patientin mindestens teilweise geglättet werden. Die Dolmetscherin ergänzt den Redebeitrag der Patientin nach 26 Aufgrund der Sitzposition sind die Augenbewegungen der Dolmetscherin während der Häsitationsphase nicht sichtbar. 162 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="163"?> eigenen Vorstellungen: „ jetzt hämmer alles gmacht [ … ] “ und „ [ … ] dass das besser wird [ … ] (50), da sie die ausgangssprachliche Äusserung offenbar nicht ganz verstanden hat. Was mit „ das “ gemeint ist, bleibt unklar und ebenso die undeutliche Formulierung der Patientin „ und warte darauf also anderes “ (48) sowie die vage Antwort der Patientin auf die Rückfrage des Arztes, dass er „ das “ sagt, damit sie sich entspannen kann (52). Die wenig aussagekräftige Äusserung der Patientin wird in der Verdolmetschung zwar auch nicht an allen Stellen deutlich: „ dass das besser wird “ , aber grundsätzlich entscheidet sich die Dolmetscherin in ihrer Wiedergabe für einen höheren Detaillierungsgrad und ergänzt im Dienste der besseren Verständigung den Hinweis auf die Krebsangst, von der die Patientin zuvor in Sequenz 2 und am Anfang der Sequenz 4 gesprochen hat. Die Dolmetscherin leistet mit ihrer Wiedergabe Interpretationsarbeit: ( „ [ … ] also dass Sie ihre säge, [ … ] sie het kaini Krebszelle mehr, dass es ihre wieder guet goht und dass sie sich denn wohlfühlt mit dere Antwort. “ [53]). Diesmal schaut die Patientin bis kurz vor dem Ende der Verdolmetschung zur Dolmetscherin. Dann wendet sie sich dem Arzt zu. Für den Arzt wird die Äusserung inhaltlich verständlich. Einen Anlass zur Nachfrage seinerseits sieht er am Ende der Sequenz nicht. Die eingeschränkte Verständlichkeit in der Formulierung der Patientin mag Ausdruck ihrer Ängste sein. Diese Hypothese wird gestützt durch eine Unruhe in der Gestik der Patientin: Sie knetet ihre Hände und wirft die Arme in die Höhe. Ein zweiter Aspekt ist die Vermeidung des Blickkontakts am Anfang der Sequenz, wenn sie mit Sprechen beginnt. Sie schaut zunächst vor sich hin, bevor sie ihre Frage formuliert und den Blick zur Dolmetscherin hinwendet (vgl. Sequenz 1). Die Blickabwendung kann mit der kognitiven Planungsphase am Einheitenbeginn zu tun haben (Weiß & Auer, 2016, p. 133). Der emotionale Anteil mag beim Wegblicken ebenfalls mitschwingen. Kendon (1967) hat das Blickverhalten in emotionalen Gesprächssituationen beobachtet und die Tendenz „ to look away at points of high emotion “ beschrieben (Kendon, 1967, p. 57). 5.2.5 Zusammenfassung Die Brustkrebspatientin schildert im Nachsorgegespräch ihre Schmerzen und ihre Angst vor einem Rezidiv oder einer Neuerkrankung. DerArzt versichert ihr im Gegenzug, dass die vom Spital angeordneten Therapiemassnahmen die richtigen seien, ihr eigentliches Anliegen - die Angst - kommt nicht zur Sprache. A. Interaktion als koordiniertes Handeln Der Arzt fragt die Patientin nach ihrem allgemeinen Befinden, nimmt sich Zeit zum Zuhören, ermuntert sie mit Nicken und mit Backchannel-Signalen ( „ mhm “ o. ä.) zum Sprechen. Die Konsultation besteht grundsätzlich aus Fragen des Arztes, den Beschwerdeschilderungen der Patientin sowie den darauffolgenden Einschätzungen des Arztes mit den jeweiligen Verdolmetschungen. Die Schmerzen sowie die damit verbundene Angst bleiben während des ganzen Gesprächs das Hauptanliegen der Patientin. Sie greift das Thema „ Schmerz “ gleich in der Antwort auf die Eröffnungsfrage des Arztes in Minute 1 (Sequenz 1) auf. In Minute 7 (Sequenz 2) kommt sie wieder auf die angstauslösenden Schmerzen zu sprechen. In der 26. Minute (Sequenz 4) macht sie in der Phase der Gesprächsbeendingung die Angst vor einem Rezidiv oder vor einer neuen Erkrankung erneut zum Thema. Das mehrfache Zurück- 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 163 <?page no="164"?> kommen auf das Anliegen zeigt, dass das Thema für die Patientin unerledigt ist, weil der Arzt nicht darauf eingeht. Die Folgen der Wiederaufnahme des Themas durch die Patientin sind ein schleifenartiger Gesprächsverlauf, der sich bis zu einem gewissen Mass auf die Länge des Gesprächs auswirkt. 27 Der Arzt geht auf die physischen Schmerzen der Patientin ein und lässt den Befund der körperlichen Untersuchung in die Beurteilung einfliessen. Ausserdem zeigt er der Patientin gegenüber Empathie, aber ohne die Emotionen zu thematisieren. Er verhält sich in erster Linie als erfahrener Mediziner, indem er der Patientin vermittelt, dass die angeordneten Massnahmen wichtig und richtig seien. Er betont die Normalität sowie die Harmlosigkeit ihrer Beschwerden. Mit auffälligen Handgesten, vor allem mit Schlaggesten, bekräftigt er seine Argumente. Mit seiner Diagnose mag er Recht haben, aber er trägt mit seiner Ausrichtung des Gesprächs auf die körperlichen Beschwerden kaum viel zur Beruhigung der Patientin bei. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Der erste Eindruck der gedolmetschten Kommunikation ist positiv: Die Dolmetscherin ist mit ihrer Aufgabe offenbar vertraut. Mit ihrem hohen Sprechtempo wirkt sie in ihren Verdolmetschungen sicherer, als sie es in Wirklichkeit ist. Die Formen der Redewiedergabe Die Dolmetscherin richtet sich in der Redewiedergabe nach der von der Dolmetschwissenschaft favorisierten sprachlichen Form der 1. Person Singular (vgl. Hale, 2007; Harris, 1990). 1.Person Sg. im AT Verwendung der 1. Person Sg. im AT durch die (P) Beibehaltung der 1. Person Sg. durch die (D) im ZT Fallbeispiel 2 5 5 Tab. 5.2.5-1: Redewiedergabe durch die Dolmetscherin im ZT Die Dolmetscherin in Fallbeispiel 2 übernimmt in allen fünf Redezügen der Patientin die direkte Wiedergabe mit dem Personalpronomen „ ich “ . Hingegen lässt sie das Personalpronomen „ ich “ , das der Arzt ein einziges Mal verwendet, aus. Eine Redewiedergabemarkierung kommt in Fallbeispiel 2 nicht vor. Die Adressierungsformen der Beteiligten Die Adressierungsformen des Arztes, der Patientin und der Dolmetscherin repräsentieren verschiedene Beteiligungsformen. Neben den direkten Adressierungsformen kommen weitere Beteiligungsformate vor wie die Verwendung der 3. Person Singular der Patientin, wenn sie mit der Dolmetscherin über den Arzt spricht, oder der Dolmetscherin, wenn sie einen Kommentar hinzufügt. 27 Die Verdolmetschung ist nur einer der Faktoren, der die Dauer der Konsultation bestimmt. Gedolmetschte Gespräche sind gemäss einer Studie von Menz (2013b) unwesentlich länger als nicht-gedolmetschte (vgl. Kap. 3.4.2). 164 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="165"?> Adressierung der (P) durch den (A) 3. Person Pl. (direkte Adressierung) 3. Person Sg. (indirekte Adressierung) Fallbeispiel 2 2 2 Tab. 5.2.5-2: Adressierungsformen des Arztes Der Arzt richtet sich in den acht Redezügen lediglich in zwei Fällen in der 3. Person Plural direkt an die Patientin. Der Adressierungswechsel zur 3. Person Singular gegen Ende des Gesprächs zeigt möglicherweise den Willen des Arztes an, die Konsultation zu beenden „ Hat sie Fragen an mich? “ . In der Rückfrage im Anschluss an die Verdolmetschung verwendet er ebenfalls die 3. Person Singular: „ Also ist das ihr Gedanke [ … ]? “ . Adressierung der (D) durch die (P) Adressierung der (D) in der 2. Person Sg. 3. Person Sg. Fallbeispiel 2 1 1 Tab. 5.2.5-3: Adressierungsformen der Patientin In Fallbeispiel 2 sind die Adressierungsformen der Patientin selten. Sie spricht die Dolmetscherin nur einmal direkt in der 2. Person Singular ( „ sag “ [39]) an. Am Ende der Sequenz 4 spricht sie mit der Dolmetscherin in der 3. Person Singular über den Arzt. Adressierung der (P) durch die (D) 3. Person Pl. (direkte Adressierung) 3. Person Sg. (selbst-initiierte Hinzufügungen) Fallbeispiel 2 3 2 Tab. 5.2.5-4: Adressierungsformen der Dolmetscherin In den Sequenzen 1 - 4, in denen die Adressierung der Patientin durch die Dolmetscherin in drei Fällen vorkommt, hält sich die Dolmetscherin an die priorisierten Formen des Dolmetschens und verwendet für die Patientin die 3. Person Plural. Die 3. Person Singular verwendet sie zweimal, das eine Mal, wenn sie einen selbst-initiierten Kommentar formuliert „ die letschte zwei het sie sehr übertriebe “ , und das zweite Mal, wenn sie eine klärende Bemerkung hinzufügt: „ [ … ] dass sie sich denn wohlfühlt [ … ] “ . Eine wichtige Rolle spielen in Fallbeispiel 2 die Sitzposition, das Blickverhalten, die Kopfbewegungen, die Gestik sowie die Backchannel-Signale. Die Sitzposition erlaubt dem Arzt und der Dolmetscherin einen guten visuellen Sichtkontakt zueinander. Die Patientin sitzt näher beim Arzt als bei der Dolmetscherin und muss den Kopf drehen, wenn sie mit der Dolmetscherin spricht. Das Blickverhalten der Patientin ist für die Analyse gut wahrnehmbar, die Blickkontakte der Dolmetscherin sowie des Arztes sind hingegen nur eingeschränkt sichtbar. Zum Teil kann die Augenkommunikation aufgrund der Kopfbewegungen erkannt werden. Wie in Fallbeispiel 1 können trotz der zum Teil eingeschränkten Erkennung der Blickkontakte Regularitäten im Verhalten der drei Beteiligten aufgezeigt werden: • Der Arzt richtet seinen Blick alternierend auf die Patientin oder auf die Dolmetscherin. Aufgrund der räumlichen Anordnung beziehungsweise der Kameraeinstellung kann nur teilweise an der Drehung des Kopfs erkannt werden, ob er die Patientin oder die 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 165 <?page no="166"?> Dolmetscherin anschaut. Die Kopfbewegungen deuten darauf hin, dass der Blickwechsel mit dem Sprecherwechsel einhergeht. • Während der Verdolmetschungen ins Deutsche richtet der Arzt seinen Blick soweit erkennbar mehrheitlich auf die Dolmetscherin. • Beim Zweifeln an der Verdolmetschung wendet der Arzt den Blick ab und schaut in die Unterlagen. • Die Patientin muss den Kopf drehen, wenn sie sich an die Dolmetscherin wendet. • Kurz vor dem Sprecherwechsel wendet sie sich der/ m zuhörenden Beteiligten zu, der/ die den nächsten Redezug übernehmen wird. Die Körperdrehung und der Blickwechsel erfolgen teilweise leicht später. Der späte Blickwechsel mag mit dem Sprachwechsel zusammenhängen, das heisst die Patientin erkennt das Ende des deutschen Redebeitrags aus sprachlichen Gründen nicht. • Am Anfang eines eigenen Redebeitrags wendet sie in der Regel den Blick ab. Die Blickabwendung ist bei emotionalen Anteilen besonders deutlich. • Während der Verdolmetschung für den Arzt schaut sie in der Regel den Arzt an, also nicht die Sprecherin. Dieses Blickverhalten entspricht der Beobachtung von Bot (2005b, p. 140), (vgl. Kap. 3.5.3, vgl. auch Fallbeispiel 1). Eine Ausnahme ist folgende Situation: Wenn die Dolmetscherin in den Sequenzen 2 und 4 stärker gestikuliert, bleibt sie mit dem Blick bei der Dolmetscherin und wendet sich erst gegen Ende der Verdolmetschung dem Arzt zu. • Wenn der Arzt spricht, richtet die Patientin ihren Blick auf ihn, obwohl sie ihn nicht versteht. Zumindest zeigt sie ihr Verstehen nicht durch irgendeine Reaktion an. • Die Dolmetscherin blickt jeweils auf die Sprecher: innen. • Während der Wiedergabe für den Arzt hält sie grundsätzlich Blickkontakt mit ihm, führt den Blick jedoch wiederholt zur Patientin zurück. • Fallweise blickt sie als Sprecherin am Anfang der Verdolmetschung auf die wegschauende Patientin, die den Blick noch auf den Arzt gerichtet hat. In der Gestik zeigt sich sowohl beim Arzt als auch bei der Patientin im Verlauf der Interaktion mehr Lebhaftigkeit. Der Arzt betont seine Argumente mit seinen redebegleitenden auffälligen Gesten, vor allem mit Schlaggesten (vgl. Teil A). Bei den Redezügen der Patientin drückt sich die Dringlichkeit ihres Anliegens in der expressiver werdenden Gestik in Sequenz 4 aus, während die Hände in weniger intensiven Sprechphasen und beim Zuhören oft im Schoss ( „ hands in lap “ ) oder auf den Oberschenkeln liegen (vgl. Bot, 2005b, p. 137). Die Dolmetscherin verfolgt die Gesten der Patientin mit dem Blick und reproduziert sie teilweise, zum Beispiel die Zeigegeste der Patientin zur Identifikation der Schmerzstelle. Mehrheitlich passt die Dolmetscherin ihre Gestik aber dem eigenen Sprechen an, zum Beispiel um das durch die Dolmetschsituation entstandene uneindeutige Personalpronomen „ ich “ zu klären (vgl. Sequenz 4). Auffällig sind Butterworth-Gesten in Verbindung mit Wortfindungsproblemen (vgl. Kap. 2.3.2). Mit dem ein- oder zweisilbigen Backchannel-Signal „ mhm “ , „ mhm mhm “ reagiert derArzt auf die Verdolmetschung. Dazu koordiniert er sein Sprechen wiederholt mit Nicken. In verschiedenen Gesprächssituationen haben die Backchannel-Signale unterschiedliche Funktionen und Formen. Über die Kenntnisnahme hinaus zeigt der Arzt mit der auffälligen Häufung der Backchannel-Signale „ mhm mhm “ , „ ja “ oder „ jawohl “ seine Bereitschaft an, 166 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="167"?> den Redezug zu übernehmen. Die Dolmetscherin reagiert nicht auf dieses Zeichen der Ungeduld und dolmetscht weiter. Der interlinguale Vergleich anhand des Transkripts macht einige Modifikationen sichtbar. Die Ausblendung der Themen Schmerz und Angst sind entscheidende Auslassungen der Dolmetscherin. Diese tragen dazu bei, dass der Arzt seine eigenen Gesprächsziele verfolgt, ohne auf die Anliegen der Patientin einzugehen. DerArzt erfährt zum Beispiel nichts davon, dass die Patientin bildhaft beschreibt, wie sie als kranker Mensch von der Angst geplagt wird, wenn sie Schmerzen hat (Sequenz 2). Zu Auslassungen kommt es ausserdem in Situationen, in denen die Dolmetscherin die ausgangssprachlichen Redebeiträge der Patientin nur teilweise erfasst. Als Folge der Verstehensdefizite ergänzt die Dolmetscherin ihre Wiedergaben durch selbst-initiierte Inhalte oder durch die Wiederholung von Anteilen aus früheren Äusserungen (vgl. Fallbeispiel 1). Ein weiterer Aspekt, der den Charakter der ausgangssprachlichen Äusserungen modifiziert, ist die vermutlich auf kognitive Probleme der Dolmetscherin zurückzuführende ungenaue Nachbildung der Argumentation des Arztes. Die Dolmetscherin lässt die grammatischen und rhetorischen Strukturen in ausgangssprachlichen Äusserungen des Arztes, die seinen Überzeugungswillen ausdrücken, unverdolmetscht. Neben Auslassungen sind Relevanzrückstufungen der Dolmetscherin bei der Schilderung von emotionalen Anteilen in den Äusserungen der Patientin eine weitere Ursache für die interaktiven Probleme. Die heruntergestufte Bedeutung der emotionalen Anteile in der Verdolmetschung mögen mit ein Grund dafür sein, dass der Arzt während des ganzen Gesprächs bei den medizinischen Sachverhalten bleibt. Der Arzt könnte die Ängste der Patientin erkennen und ihr Anliegen aufgreifen, wenn dies seinem Gesprächsplan entsprechen würde. Auch wenn die Dolmetscherin die Schmerzen und die Angst nur reduziert wiedergibt, dolmetscht sie doch die Befürchtung der Patientin, dass die Schmerzen vielleicht „ von einem anderen Ort “ kommen, und die Unruhe der Patientin gibt sie in Sequenz 2 ebenfalls wieder. Dies wäre durchaus eine Grundlage für die Bearbeitung dieses Anliegens durch den Arzt. Die Patientin und der Arzt tauschen wechselseitig Blicke aus, er signalisiert sein Verständnis für sie, aber über ihre Angst spricht er nicht. Für die Patientin bleibt vermutlich undurchschaubar, warum der Arzt ihre Ängste lediglich aus der medizinischen Perspektive kommentiert. Laut Driesen 28 zeigen Dolmetscher: innen in Bezug auf Schmerzen und Emotionen von sich aus eine ähnliche Zurückhaltung wie die Expert: innen. Ein Wechselspiel zwischen Auslassungen und Hinzufügungen findet sich in den Sequenzen 2 und 3. 29 Die Dolmetscherin fügt abschwächende, relativierende Formulierungen (Heckenausdrücke) ein, wenn sie die Äusserungen der Patientin verdolmetscht (Sequenz 2), während sie umgekehrt bei der Verdolmetschung für die Patientin die Heckenausdrücke des Arztes auslässt (Sequenz 3). Die in diesen vier Sequenzen auffälligste Hinzufügung ist der metadiskursive Kommentar zur Äusserung der Patientin über die zwei 28 Christiane Driesen ist ausgebildete Konferenzdolmetscherin. Sie dolmetscht für Behörden und Gerichte und konzipierte zahlreiche Ausbildungsgänge für Dolmetscher: innen, die für Behörden und Institutionen im öffentlichen Raum dolmetschen, aber keine Hochschulausbildung absolviert haben. Sie weist im Rahmen von persönlichen Gesprächen darauf hin, dass Dolmetscher: innen emotionale Anteile von sich aus vermeiden. 29 Mit dieser Vorgehensweise kombiniert sie die Auslassungen mit Hinzufügungen, ein Verfahren, das bereits Barik (1971) beschrieben hat (Barik, 1971, p. 203; vgl. auch Kap. 3.3). 5.2 Fallbeispiel 2: Nachsorgegespräch in der Onkologie 167 <?page no="168"?> letzten chemotherapeutischen Behandlungen ( „ die letschte zwei het sie sehr übertriebe “ ). Anlass des Kommentars der Dolmetscherin über die Patientin ist das Missverständnis mit der Anzahl der chemotherapeutischen Behandlungen, auf das die Patientin und der Arzt sie aufmerksam gemacht haben. Insbesondere durch die Hinzufügungen manifestiert sich ein Rollenverständnis der Dolmetscherin, das selbst-initiatives Handeln ohne vorangegangene Redebeiträge einschliesst (vgl. Fallbeispiel 1). Im Unterschied zu den vorausgehend beschriebenen Abweichungen, bei denen sich aus dem Kontext nicht eindeutig herausarbeiten lässt, ob es sich jeweils um ein kognitives Problem im Rezeptionsund/ oder im Produktionsprozess oder um eine intendierte Intervention handelt, ist der Kommentar über die zwei letzten chemotherapeutischen Behandlungen ein bewusster Akt des Eingreifens in den ausgangssprachlichen Redebeitrag. Insgesamt ist das Gespräch von Schwierigkeiten allgemeiner medizinischer und sozialpsychologischer Art geprägt. Die Patientin kann dem Arzt die für sie miteinander verbundenen Themen „ Schmerz “ und „ Angst “ nicht vermitteln, obwohl sie so deutlich darauf hinweist. Die Zurückhaltung des Arztes im Umgang mit affektiven Anteilen ist, wie in Kapitel 2.4 beschrieben, auch ein Attribut der monolingualen medizinischen Interaktion (vgl. Lalouschek, 2013; Lindemann, 2015; Pollak et al., 2007). Beschwerdeschilderung und Anliegen gehören häufig zusammen. Lalouschek schreibt dazu: „ [ … ] es hat sich gezeigt, dass die Beschwerdendarstellung der Patient: innen häufig der Vorbereitung der Anliegensformulierung dient, diese Funktion von den Ärzt: innen aber nicht unbedingt erkannt [ … ] wird. “ (Lalouschek, 2013, p. 427) Die Analyse dieses Fallbeispiels zeigt, dass das Vermeiden von Emotionalität aufseiten des Arztes eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Arzt und der Patientin hemmt. Die Patientin erzählt im Laufe des Gesprächs, dass sie einen zweiten Arzt beizieht. 30 Dass der Arzt das Anliegen der Patientin nicht anspricht, illustriert, wie schwierig es für die Patientin in dieser Interaktion ist, ihre Anliegen vorzubringen. Das hierarchische Gefälle zwischen dem wissenden Arzt und der Hilfe suchenden Patientin lässt der Patientin weniger Gestaltungsraum, als die offene Frage des Arztes zu Beginn der Sequenz 1 dies in Aussicht stellt. 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie Fallbeispiel 3 ist einem Kontrolltermin in einer spitalinternen Diabetes-Beratungsstelle entnommen. Die folgende Sequenzanalyse umfasst fünf Gesprächsausschnitte, die in chronologischer Reihenfolge aufgeführt, aber durch unterschiedlich lange Gesprächsausschnitte voneinander getrennt sind. Der letzte Ausschnitt ist ein Teil der Gesprächsbeendigung. Die Dauer der fünf Sequenzen ohne die dazwischenliegenden Abstände beträgt 5: 28 Minuten. Die Videoaufzeichnung des gesamten Gesprächs dauert 33: 35 Minuten. Der letzte Teil des Gesprächs (07: 13 Minuten) ist auf einer zweiten Videokassette aufgezeichnet. Deshalb beginnt die Sequenz 5 mit Zeile 62. 30 Diese Passage ist in diesem Fallbeispiel nicht enthalten (vgl. Sequenz 5.2.3). 168 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="169"?> Die Videoaufnahme setzt mit der Rückschau auf die letzte Sitzung ein, die etwa ein halbes Jahr zurückliegt. Die Begrüssungsszene ist nicht Teil der Videoaufnahme. Situierung des gesamten Gesprächs Die Gesprächsparteien sind eine deutschsprachige Diabetes-Beraterin (B) und eine albanische Patientin (P). Für die Verständigung ist ein Dolmetscher (D) hinzugezogen worden. Die Diabetes-Beraterin und die albanische Patientin kennen sich bereits. Die in der vorangegangenen Beratungssitzung vereinbarten therapeutischen Massnahmen sind der Anknüpfungspunkt dieses Gesprächs. Das Ziel der Beraterin besteht darin, die Patientin so anzuleiten, dass die Vollständigkeit der Messdaten eine bessere Dosierung der Insulineinheiten ermöglicht, als dies bisher der Fall gewesen ist. Das Anliegen der Patientin ist ein ganz anderes. Sie möchte von der Beraterin in erster Linie wissen, ob die seit kurzem in den Unterleib verabreichten Insulinspritzen eine Gefahr für die Gebärmutter und für den Verdauungstrakt darstellen, weil sie seither unter verschiedenen Beschwerden im Unterleib leidet. Inhalt der ausgewählten Sequenzen (1 - 5) Die dominanten Themen in den Sequenzen 1 - 5 sind in erster Linie die Beschwerden und die Ängste der Patientin. Mit dem Blutzucker geht es ihr nach eigenem Empfinden gut. Nach ihrer Einschätzung leidet sie stärker an Schmerzen im Unterleib und an Verdauungsstörungen, die für sie viel eher eine Konsequenz der Insulinspritzen in den Unterleib als des Diabetes sind. Die Beraterin hingegen beunruhigen die zu hohen Blutzuckerwerte und sie versucht der Patientin die Bedeutung der adäquaten Dokumentation der Blutzuckerwerte im Hinblick auf die Anpassung der Insulindosierung zu erklären. Auswahl der Sequenzen Der Grund für die Auswahl der Sequenzen war das Thema „ Angst “ . Im Fokus der Analyse stehen das emotionale Erleben der Patientin, divergierende Gesprächsziele sowie die Besonderheiten der Adressierung und der Blickkontakte. 5.3.1 Sequenz 1: „ Diese fragt weiter, warte, bis sie fertig ist. “ Die Beraterin leitet das Gespräch mit einer Rückblende ein, in der die Vorgeschichte kurz aufgerollt wird. Sie beendet die begrüssungsähnliche Sequenz mit einer indirekten Frage nach der Höhe der Blutzuckerwerte (die indirekte Frage ist ausserhalb der ausgewählten Gesprächsausschnitte). Ihr aktuelles Thema ist die Blutzuckermessung. Sie zeigt sich besorgt, weil die Patientin immer noch zu hohe Blutwerte hat. [1] 0 [00: 00.9] (1) B [v] JA, das LETZte MAL wo Frau X. HIER war haben vor allem B [nv] ((sucht nach der richtigen Stelle in den Unterlagen, blickt dann zum Dolmetscher)) [2] (2) 1 [00: 07.3] B [v] ANgeSCHAUT wie die situaTION zu HAUse war nachdem sie ja im [3] (3) 2 [00: 11.1] B [v] auGUST bei uns in den beRAtungen WAR und haben mit ihr [4] (4) B [v] ANgeSCHAUT wie OFT sie BLUTzucker misst und wie OFT sie 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 169 <?page no="170"?> [5] 3 [00: 18.5] (5) 4 [00: 21.4] 5 [00: 21.8] (6) B [v] insuLIN spritzt P [v] mhm D [v] pra kur jeni kan herën e fundit ketu, kjo doktoresha ka ka D [UE] Also, das letzte Mal als Sie hier waren, die Ärztin hat hat [6] (7) (8) D [v] bisedu se si ka shku puna masëë n'gusht kur e keni bo … D [UE] besprochen, wie es gegangen ist nachdem ö ö im August als Sie es [7] 6 [00: 22.3] 7 [00: 29.8] (9) 8 [00: 31.5] (10) D [v] kur jeni kan për her t'fundit këtu edhe don me dit se sa D [UE] gemacht haben … das letzte Mal als Sie hier waren und sie möchte wissen, [8] 9 [00: 34.5] (11) 10 [00: 35.4] 11 [00: 36.5] (12) 12 [00: 37.6] 13 [00: 38.1] 14 [00: 39.6] P [v] gjakun, po une tri herë po P [UE] Das Blut, ja ich dreimal ja D [v] herë e matni gjakun po po kjo vazhdon me D [UE] wie oft Sie das Blut messen po ja diese fragt weiter, [9] (13) 15 [00: 40.1] 16 [00: 40.6] (14) B [v] und wir haben ja FESTgeSTELLT dass ihre D [v] pytjet po prit t'maroj. D [UE] warte bis sie fertig ist. [10] 17 [00: 45.9] (15) B [v] BLUTzuckerwerte sehr HOCH sind D [v] ne kemi ardh në përfundim see sh … D [UE] wir haben festgestellt, dass der [11] 18 [00: 53.5] D [v] sheqeri n'gjak është shumë i naltë te ju D [UE] Bl … blutzucker bei Ihnen sehr hoch ist. Tab. 5.3.1-1: Gesprächsausschnitt 1 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Beraterin eröffnet die Sequenz 1 mit der Erinnerung an die letzte Beratungssitzung, in der die Messung der Blutwerte und die Insulininjektionen Thema waren: „ [ … ] das letzte Mal, wo Frau X. hier war “ (1), „ haben vor allem angeschaut, wie die Situation zu Hause war “ (2), „ [ … ] nachdem sie ja im August bei uns in den Beratungen war “ (3), „ [ … ] und haben mit ihr angeschaut, wie oft sie den Blutzucker misst und wie oft sie Insulin spritzt. “ (4) Der Adressierung in den Äusserungen der Beraterin kommt eine besondere Bedeutung zu. Die Beraterin spricht von Beginn an in der 3. Person Singular über die Patientin: „ [ … ] das letzte Mal, wo Frau X. hier war [ … ] “ (1). Sie entscheidet sich unabhängig vom Dolmetscher für die 3. Person Singular. 31 Während sie spricht, sucht sie zunächst in ihren Unterlagen nach der richtigen Stelle und richtet anschliessend den Blick auf den 31 Dies im Gegensatz zu den Ergebnissen in Dubslaff & Martinsen (2005), die den Dolmetscher: innen die Verantwortung für die Wahl der Adressierung zuschreiben. 170 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="171"?> Dolmetscher. Sie behandelt den Dolmetscher statt der Patientin als Ansprechpartner. Der Dolmetscher nickt und markiert auf diese Weise, dass er ihre Äusserung verstanden hat. Er sowie die Patientin richten den Blick auf die Beraterin (Bild 5.3.1 - 1). Bild 5.3.1 - 1: Der Blick der Beraterin ist auf den Dolmetscher gerichtet. Durch ein Neigen des Kopfs lässt die Beraterin erkennen, dass sie es an der Zeit findet, dem Dolmetscher das Rederecht zu übergeben, nachdem sie einen Teil der Einleitung beendet hat. Dass die Beraterin den Blick auf den Dolmetscher gerichtet hat, wird erst durch die Drehung des Kopfes eindeutig, wenn sie sich zur Patientin hinwendet. Durch ihren Blickwechsel signalisiert sie, dass sie der Patientin die Möglichkeit zu einer Reaktion gibt. Da die Patientin vom Dolmetscher am Weitersprechen gehindert wird, führt sie ihren Redebeitrag nicht weiter. In diesem ersten Redebeitrag hat die Beraterin den bisherigen Ablauf der Behandlung rekapituliert. Der Dolmetscher neigt sich der Beraterin zu und durch sein Kopfnicken signalisiert er der Beraterin ein Ausmass an Verstehen, das er mit seiner darauffolgenden Verdolmetschung nicht einlöst. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Diabetes-Beraterin und die Patientin sitzen übereck, der Dolmetscher hat unmittelbar neben der Patientin gegenüber der Beraterin Platz genommen. Sowohl die Beraterin als auch der Dolmetscher haben einen guten visuellen Zugang zueinander. Für die Patientin ist die Sitzposition ungünstig. Bei gerader Sitzhaltung hat sie weder den Dolmetscher noch die Beraterin im direkten Blickfeld, sie muss den Kopf und den Oberkörper nach links oder nach rechts drehen, je nachdem, wen sie anschauen will. Für die Analyse ist aufgrund der Kameraeinstellung lediglich die Patientin gut sichtbar, die Blickkontakte des Dolmetschers und der Beraterin sind fast ausschliesslich über die Kopfbewegungen wahrnehmbar. 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 171 <?page no="172"?> Während die Beraterin eingangs spricht, hat sich die Patientin ihr zugewandt. Der Dolmetscher setzt mit dem Übernahme-Signal „ also “ ein (vgl. Fallbeispiel 2): „ also das letzte Mal, als Sie hier waren “ (5). Zu Beginn der Wiedergabe des Dolmetschers reagiert die Patientin mit einer Drehung des Oberkörpers zum Dolmetscher hin. Der Dolmetscher übernimmt in der Wiedergabe zwar die temporalen Verknüpfungshinweise: „ das letzte Mal “ und „ nachdem ö ö im August “ (8) aus den Redebeiträgen der Beraterin ([ … ] das letzte Mal [1]) beziehungsweise ([ … ] nachdem sie ja im August “ [3]), aber er kann sich an das Thema der Beratungssitzung nicht mehr erinnern. Die Verzögerungssignale „ nachdem ö … ö im August “ (8) und das Neueinsetzen der Wiedergabe mit dem Verweis auf „ das letzte Mal “ (9) zeigen die Unsicherheit des Dolmetschers an. Für seine Schwierigkeiten mag die Auslassung des Personalpronomens im Redebeitrag der Beraterin (mit)verantwortlich sein: „ [ … ] haben mit ihr angeschaut [ … ] “ (4). Aufgrund der Verbform ( „ haben “ ) ist das Personalpronomen „ wir “ sinngemäss zu ergänzen. Damit fehlt eine Bezeichnung der Akteure, die eigentlich für ein kooperatives Handeln stehen. Das Pronomen „ wir “ kann in diesem Kontext auch auf die von der Beraterin in Anspruch genommene Autorität des pluralis hospitalis hinweisen (vgl. Wodak, 1997, p. 183 f.). Für den Dolmetscher bedeutet die syntaktische Unvollständigkeit gedankliche „ Einfüllarbeit “ , die seinen Verarbeitungsprozess erschweren mag. Eine weitere pronominale Besonderheit in den ausgangssprachlichen Äusserungen der Beraterin ist der Verweis auf den institutionellen Handlungsraum im ersten Redezug: „ [ … ] nachdem sie ja im August bei uns in den Beratungen war [ … ] “ (3). Der Dolmetscher setzt für das deiktisch verwendete Personalpronomen ( „ bei uns “ ) das Lokaldeiktikon „ hier “ ein: „ [ … ] das letzte Mal, als Sie hier waren “ (9). Diese Anpassung gelingt dem Dolmetscher mühelos. In der Verdolmetschung scheint die 3. Person Singular in der Adressierung nicht auf. Der Dolmetscher adressiert die Patientin entsprechend der Usanz des Dolmetschens (vgl. u. a. Hale, 2007; Harris, 1990) sowie den sozialen Normen in der institutionellen Kommunikation im deutschsprachigen Raum in der 3. Person Plural: „ [ … ] das letzte Mal, als Sie hier waren “ [5]). Erst später, wenn er auf eigene Initiative interveniert ( „ warte, bis sie fertig ist “ [13]), wechselt er zur 2. Person Singular. 32 Anschliessend verwendet er wieder die 3. Person Plural. Wenn er mit der Patientin über die Beraterin spricht, verwendet er für die Beraterin die 3. Person Singular. Zusätzlich zur Dolmetschaufgabe koordiniert der Dolmetscher die Interaktion. Nachdem er die Patientin am Sprechen gehindert hat, übergibt er der Beraterin qua Blick das Rederecht erneut (vgl. Teil A). Die Beraterin gesteht dem Dolmetscher einen Freiraum zu, indem sie akzeptiert, dass der Dolmetscher mit der Patientin spricht, ohne zu dolmetschen. Wenn die Beraterin kein Albanisch spricht - wie aus der Interaktion deutlich wird - , versteht sie das kurze Gesprächsintermezzo zwischen der Patientin und dem Dolmetscher nicht. Sie erfährt deshalb nichts von der Zurechtweisung des Dolmetschers an die Adresse der Patientin, die davor zum Sprechen angesetzt hat ( „ das Blut ja “ [11]) und zu erzählen beginnt ( „ ich dreimal “ [12]). 32 Nach Auskunft des bilingualen, im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer (afk) tätigen Psychologen Naser Morina mit albanischer Erstsprache ist der unterschiedliche Gebrauch der zweiten Person Singular und Plural in derAdressierung kulturspezifisch. Die 2. Person Singular ( „ Du “ ) ist persönlicher und kann bedeuten, dass der Dolmetscher das Vertrauen der Patientin gewinnen will. 172 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="173"?> Während der Verdolmetschung hat die Beraterin in ihre Unterlagen geschaut. Vor dem Ende der Verdolmetschung blickt sie zur Patientin, da sie eine Antwort erwartet (Rossano, 2013, p. 317). Bei der erneuten Übernahme des Rederechts senkt die Beraterin den Blick und schaut dann den Dolmetscher an. Sie führt aus, dass die Zielwerte noch nicht erreicht sind: „ [ … ] und wir haben festgestellt, dass ihre Blutzuckerwerte sehr hoch sind. “ (14) Diesmal erscheint das Personalpronomen „ wir “ in der Äusserung der Beraterin. Der Redebeitrag besteht aus einem vollständigen Satz und der Dolmetscher gibt die ausgangssprachliche Äusserung adäquat wieder (15). Die Patientin wendet ihren Blick vom Dolmetscher ab und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Beraterin, sobald diese ihren Redebeitrag zu Ende führt (14). Die Modifikationen des Dolmetschers führen auf unterschiedliche Weise zu Kommunikationsproblemen. Bereits in der ersten Tranche der Verdolmetschung misslingt die Wiedergabe des Sinnzusammenhangs: „ [ … ] im August, als Sie es gemacht haben [ … ] “ (8) bleibt ungeklärt, was die Patientin gemacht haben soll. Weiter fehlen in der Verdolmetschung die Hinweise auf die Beratung in der Diabetologie, auf das Verhalten der Patientin zu Hause im Anschluss an die Beratung sowie die Frage nach der Häufigkeit der Insulininjektionen. Der in der originalen Äusserung der Beraterin deutliche Zusammenhang zwischen „ Blutzucker messen “ und „ Insulin spritzen “ geht in der Verdolmetschung ebenfalls verloren. Der Dolmetscher kann sich zwar einzelne Elemente merken und wiedergeben, aber sie ergeben keinen klar erfassbaren Zusammenhang. Die Fülle der Informationen übersteigt offenbar die Gedächtniskapazität des Dolmetschers (vgl. Kap. 3.2). Erschwerend für den Verstehensprozess des Dolmetschers und die Kohärenzbildung in der Produktionsphase könnte sein, dass der Dolmetscher nicht an die Vorgeschichte anknüpfen kann, weil er möglicherweise noch nie für diese Patientin gedolmetscht hat. Die Probleme des Dolmetschers bei der Erfassung des Inhalts lassen ausserdem den Schluss zu, dass vor dem Gespräch keine Orientierung über das Gesprächsziel stattgefunden hat. Für die Patientin ist die Situation höchstens aufgrund der Erinnerung an die damalige Diabetes-Beratung klar. Sie reagiert erst auf die Frage nach der Messhäufigkeit, eine Information, die der Dolmetscher adäquat wiedergibt, wenn auch terminologisch etwas verkürzt „ [ … ] wie oft Sie das Blut messen “ (10) statt den „ Blutzucker “ (4). Die Patientin schliesst an das Stichwort „ Blut “ an, und will zur Messung der Blutzuckerwerte ausführlicher Stellung nehmen ( „ ich dreimal “ [12]). Der Dolmetscher lässt diesen Satzanfang unverdolmetscht. Kaum hat die Patientin mit Reden angefangen, muss sie aufgrund der metadiskursiven Zurechtweisung durch den Dolmetscher erst die Beraterin weiterreden lassen: „ Ja, diese fragt weiter, warte, bis sie fertig ist. “ (13) Der Dolmetscher stellt den Beteiligungswunsch der Patientin zurück und weist sie auf Albanisch an zu warten. Seine selbst-initiierte Anweisung bleibt unverdolmetscht, so dass die Beraterin nichts über das kurze Zwiegespräch erfährt. Eine terminologische Ungenauigkeit fällt zunächst kaum ins Gewicht, könnte aber für den Gesprächsverlauf eine gewisse Bedeutung haben: Der Dolmetscher bezeichnet die medizinische Fachperson als „ Ärztin “ ( „ doktoresha “ [6]), während es sich bei der Gesprächsleiterin in Wirklichkeit um eine Diabetes-Beraterin handelt. Diese Ungenauigkeit könnte sich als Grund dafür erweisen, dass die Patientin die Therapeutin für eine Ärztin hält. Deshalb hat sie möglicherweise erwartet, dass ihre Fragen nach den Folgen der 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 173 <?page no="174"?> veränderten Injektionstechnik im Vordergrund stehen. Ausser den im Verlauf des Gesprächs von der Patientin wiederholten Bitten um Klärung ihrer medizinischen Fragen findet sich im Gespräch allerdings kein weiterer Beleg für diese Vermutung. Die Formen der Redewiedergabe in der Reformulierung des Dolmetschers sind uneinheitlich. Der Dolmetscher setzt bei der ersten Verdolmetschung mit der direkten Rede ein: „ [ … ] das letzte Mal, als Sie hier waren [ … ] “ (6). Neben der direkten Rede verwendet er auch die indirekte Rede ( „ [ … ] die Ärztin [ … ] hat besprochen, wie es gegangen ist “ [7]) oder den indirekten Fragesatz „ [ … ] sie möchte wissen, wie oft Sie das Blut messen. “ [10]) Damit macht er kenntlich, dass er nicht als primärer Sprecher fungiert, sondern die Redebeiträge der Beraterin wiedergibt. Die Verständigung zwischen der Patientin und der Beraterin wird beeinträchtigt durch die kognitive Überlastung des Dolmetschers, durch seine daraus resultierenden inhaltlichen Auslassungen sowie durch sein erweitertes Rollenverständnis, das ihn dazu legitimiert, die Verantwortung für die Gesprächsorganisation zu übernehmen, über das Rederecht der Patientin zu entscheiden und damit ihren Beteiligungsrahmen einzuschränken. 5.3.2 Sequenz 2: „ Ich würde gerne mit ihr einmal die Blutzuckerwerte anschauen. “ Die Beraterin leitet in Sequenz 2 das Thema der Messung der Blutzuckerwerte ein. [38] 79 [03: 25.1] B [v] ich würde [39] 80 [03: 29.2] B [v] GERne mit ihr jetzt einmal die BLUTzuckerwerte ANSCHAUen, wenn [40] (16) 81 [03: 31.5] 82 [03: 33.2] (17) 83 [03: 33.5] B [v] das für sie in ORDnung ist. D [v] po thot pra n'qoft se asht për ju n'rregull, D [UE] sie sagt, wenn es für Sie in Ordnung ist, [41] 84 [03: 33.8] 85 [03: 37.2] (18) P [v] ani veç kçyri. P [UE] kontrolliere sie D [v] kjo do ti shikjon tashti k'to vlerat e sh e sheqerit n'gjak, në rregull? D [UE] diese wird jetzt diese Bl … blutzuckerwerte anschauen, in Ordnung? [42] 86 [03: 38.7] 87 [03: 39.4] (19) P [v] veç sa e di une veç njiii, veç nji dit n'drek nuk jam kan ktu, P [UE] nur soweit ich weiss, nur ein nur einmal am Mittag war ich nicht D [v] JA [43] 88 [03: 44.4] P [v] s'e kom mat çka e di unë, qerat tri her n'dit nuk rrej katër her jo, tri P [UE] hier, ich habe es nicht gemessen, soviel ich weiss, die anderen sonst [44] (20) (21) 89 [03: 44.6] 90 [03: 45.1] 91 [03: 46.4] P [v] her. P [UE] dreimal am Tag, ich lüge nicht, nicht viermal, dreimal. D [v] tss tsss D [nv] ((nickt mehrmals)) 174 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="175"?> [45] 92 [03: 48.2] 93 [03: 49.0] (22) 94 [03: 49.5] 95 [03: 51.2] 96 [03: 57.3] 97 [03: 57.9] P [v] nji her P [UE] einmal D [UE] po okay, okay Ja, Sie können die an, das anschauen, soviel D [nv] ((nickt)) D [UE] Ja okay. okay [46] (23) D [UE] ich weiss nur ein einziges Mal habe ich vielleicht nicht richtig [47] (24) 98 [03: 58.0] ] ] B [v] oKAY P [v] D [UE] Ja gemessen. Tab. 5.3.2-2: Gesprächsausschnitt 2 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Beraterin bleibt in Sequenz 2 bei der Adressierung in der 3. Person Singular. Die Patientin schaut die Beraterin an, solange sie spricht. Die Beraterin hat ihren Blick auf den Dolmetscher gerichtet und schweift nur kurz zur Patientin hinüber, wenn sie das Einverständnis der Patientin einfordert ( „ [ … ] wenn das für sie in Ordnung ist “ [16]). Der Dolmetscher gibt die Frage ausgangstextnah wieder (17) und die Patientin erklärt sich mit dem Anliegen der Beraterin einverstanden: „ Kontrolliere sie. “ (18) Für die Besprechung der Blutzuckerwerte hat die Patientin ihre Aufzeichnungen dieser Werte in die Beratung mitgebracht, aber offenbar fühlt sie sich durch diese Kontrolle doch in die Defensive gedrängt. In ihrer Antwort auf die Bitte der Beraterin, die Blutzuckerwerte anschauen zu dürfen, beteuert die Patientin als erstes, nur das eine Mal nicht richtig gemessen zu haben, sie sei am Mittag nicht „ hier “ (19) gewesen. Damit gibt sie den Grund an, warum sie einmal eine Messung ausgelassen hat. Der Dolmetscher lässt die Begründung aus und da die Beraterin sich auf die gedolmetschte Version stützt, erfährt sie nichts davon (vgl. Teil B). Die Patientin schaut vor sich hin und der Kopf ist leicht der Beraterin zugeneigt: „ Ich lüge nicht [ … ] “ (20). Diese nachdrückliche Äusserung bleibt ebenfalls unverdolmetscht und damit für die Beraterin unzugänglich. Weiter erklärt sie, sie habe „ nicht viermal “ , sondern „ dreimal “ (21) gemessen. Sie betont die Wahrheit ihrer Äusserung: Der Grund, warum sie einmal nicht gemessen hat, sowie der Appell der Patientin, dass man ihr glauben möge ( „ ich lüge nicht [ … ] “ [20]) verstärken in der originalen Äusserung den Eindruck, dass die Patientin bestrebt ist, die Beraterin von ihrer Zuverlässigkeit und ihrer Glaubwürdigkeit zu überzeugen. Erst gegen den Schluss ihres Redebeitrags schaut sie zum Dolmetscher und bekräftigt ihre Aussage, dass sie nicht lügt, mit einer Schlaggeste der rechten Hand. Bei der darauffolgenden Verdolmetschung schaut sie vor sich hin. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Der Dolmetscher adressiert die Patientin in der 3. Person Plural, während die Patientin in der Adressierung des Dolmetschers die 2. Person Singular verwendet (vgl. Fallbeispiel 1 und 2). 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 175 <?page no="176"?> Für die Redewiedergabe des Beitrags der Beraterin verwendet der Dolmetscher unmittelbar nacheinander zwei unterschiedliche sprachliche Formen. Wenn er die Äusserung der Beraterin dolmetscht, verbindet er bei der Wiedergabe die direkte Rede mit der Matrix- Konstruktion und dem einleitenden verbum dicendi: „ Sie sagt, wenn es für Sie in Ordnung ist [ … ] “ (17). Die Anfangsposition der Redewiedergabemarkierung ist eine der Varianten. Damit wird auch der Sprecherwechsel signalisiert. 33 Gleich anschliessend spricht der Dolmetscher im selben Redezug über die Beraterin in der 3. Person Singular: „ [ … ] diese wird jetzt diese Blutzuckerwerte anschauen [ … ] “ (17). Die wesentlichen Modifikationen in Sequenz 2 sind Auslassungen des Dolmetschers mit unterschiedlichen Auswirkungen. Ins Gewicht fällt vor allem die Auslassung von emphatischen Anteilen in den Äusserungen der Patientin, wenn sie sich an den Dolmetscher wendet und ihm ihre Gewohnheiten beim Messen der Blutzuckerwerte darlegt. Auf die beziehungsrelevante Äusserung der Patientin ( „ [ … ] ich lüge nicht [ … ] “ [20]) bestätigt der Dolmetscher lediglich der Patientin gegenüber etwas ungeduldig, dass er ihr glaubt ( „ po [ ja], okay, okay “ [22]). Er nickt mehrmals dazu, wie um sie zu beschwichtigen. Darüber hinaus deuten die verbale Wiederholung „ okay, okay “ und das damit koordinierte mehrmalige Nicken an, dass er bereit wäre, mit dem Dolmetschen einzusetzen. Ohne die Verdolmetschung der vorangehenden Äusserung der Patientin kann die Beraterin nicht wahrnehmen, worauf sich die bestätigenden Worte ( „ [ … ] okay, okay “ ) beziehen, selbst wenn sie „ okay “ versteht. Die Begründung der fehlenden Messung lässt der Dolmetscher unverdolmetscht. Der Dolmetscher kann die Inhalte nicht aus dem Gedächtnis abrufen oder er filtert die Redebeiträge im Sinne des recipient design. In letzterem Fall entscheidet er, was in der Beratung Thema sein soll und was nicht oder was die Beraterin seiner Einschätzung nach interessiert beziehungsweise nicht interessiert. Am Schluss reduziert er die Redebeiträge der Patientin: „ Ja, Sie können [ … ] das anschauen “ [ … ] (22) ohne direkte Redewiedergabe in der 1. Person Singular. Der Beraterin entgeht durch die Auslassungen der Grund der fehlenden Messung sowie das Bedürfnis der Patientin, von ihr ernstgenommen zu werden (vgl. Teil A). Die Patientin kann die Beraterin auf der Beziehungsebene weniger gut erreichen, als wenn die Beraterin hören könnte, dass die Patientin sich so deutlich um Glaubwürdigkeit bemüht. Die Patientin fügt ihrer Rechtfertigung die Anzahl der Messungen an (vgl. Teil A), der Dolmetscher lässt diese Angabe ebenfalls aus (21). Er nickt, so dass der Eindruck entsteht, er habe die Äusserung verstanden. Ob er sie wirklich verstanden hat, bleibt ungewiss. Jedenfalls bleibt die Zahl unverdolmetscht. Es könnte sein, dass er diese Zahlen für irrelevant hält, da er ja auf die regelmässigen Messungen der Patientin hinweist. Möglich ist auch, dass der „ Arbeitsspeicher “ des Dolmetschers mit der Wiedergabe der Hauptaussage ausgelastet ist. Zahlen gelten beim Dolmetschen als schwer zu memorieren (vgl. Driesen & Petersen, 2011). Mead (2015b) beschreibt Untersuchungen mit Dolmetsch-Studierenden, die darauf hindeuten, dass der Wechsel von der Konzentration auf den Sinn und den Zusammenhang zur Erfassung von präzisen Angaben wie zum Beispiel Zahlen eine Herausforderung bedeutet (Mead, 2015b, p. 287; vgl. auch Kap. 3.2). 33 Bot (2005b) und Van De Mieroop (2012) weisen in ihren Untersuchungen ebenfalls darauf hin, dass das verbum dicendi „ sie sagte “ in den Wiedergaben der Dolmetscher: innen als Signal für den Sprecherwechsel dient, wenn die Redewiedergabemarkierung am Anfang steht (Bot, 2005b, p. 129; Van de Mieroop, 2012, p. 101; vgl. auch Kap. 3.4.1). 176 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="177"?> Durch die Auslassung der Begründung in der Verdolmetschung, dass sie nicht „ hier “ gewesen sei (19), sowie durch die Hinzufügung der Eventualität wirkt die Patientin unsicher - „ [ … ] nur ein einziges Mal habe ich vielleicht nicht richtig gemessen. “ (23) [Hervorhebung GH] Die Beraterin könnte diese Wiedergabe des Dolmetschers so verstehen, dass die Patientin ihren Blutzucker zwar gemessen, die Messung aber nicht korrekt durchgeführt hat. Wenn der Grad der Glaubhaftigkeit aufgrund der inhaltlichen Unvollständigkeit in der Wiedergabe des Dolmetschers gegenüber der ausgangssprachlichen Äusserung reduziert ist, kann auch diese Auslassung bewirken, dass die Beraterin die Patientin weniger ernst nimmt, als wenn sie alles gehört hätte. Ein interessantes Detail ist die Ratifizierung der Patientin ( „ Ja “ [24]) nach dem Redebeitrag des Dolmetschers auf Deutsch. Offenbar versteht sie etwas Deutsch und weiss möglicherweise von den Auslassungen des Dolmetschers. Sie schaut dabei zur Beraterin. Diese erwidert den Blick und hält ihn am Anfang der Sequenz 3 auf die Patientin gerichtet. Sequenz 3 folgt unmittelbar auf Sequenz 2. 5.3.3 Sequenz 3: „ Sie will was über den Magen erzählen [ … ]. “ In Sequenz 3 bringt die Patientin ihr dringendes Anliegen vor. Sie befürchtet, dass die Insulininjektionen in den Unterleib eine Verschlimmerung ihrer Beschwerden verursacht hat. [47] 100 [03: 59.8] (25) P [v] a ase, ama shum jam kan une pi mitrës e smut. P [UE] Ich bin aber mehr wegen der Gebärmutter krank [48] 101 [04: 03.6] (26) 102 [04: 05.8] 103 [04: 06.7] (27) P [v] a po ani P [UE] gewesen. a ja okay. D [v] po kjo, noshta vjen masanej. sie will was über D [UE] aber das das kommt vielleicht später [49] 104 [04: 08.5] (28) D [UE] den Magen erzählen ich hab gesagt vielleicht das kommt [50] (29) 105 [04: 10.0] 106 [04: 10.9] (30) B [v] JA P [v] e une po t'vej tishti e pruna qinato vet k'tu,ama se kam k' P [UE] Wenn wir jetzt da sind, möchte ich dich etwas fragen, ich D [UE] später. [51] (31) (32) P [v] to isilinat ç'tej ma shum mos ma infektu barki,se kam marr shum k'tu, P [UE] steche Insulin, vielleicht ist mein Bauch deswegen entzündet, weil ich [52] 107 [04: 20.7] (33) P [v] se une qera her i kam morr k'tu k'tu k'tu k'tu ene n'kra, P [nv] ((zeigt auf die Einstichstellen)) P [UE] hier mehr spritze. sonst habe ich sie hier hier hier hier und am Arm [53] (34) 108 [04: 27.7] 109 [04: 28.4] P [v] nuk kom morr veç n'bark. se tash po i P [nv] ((zeigt P [UE] gespritzt, ich habe früher nicht nur am Bauch gespritzt. D [nv] ((nickt)) 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 177 <?page no="178"?> [54] 110 [04: 31.3] (35) 111 [04: 31.9] 112 [04: 32.7] P [v] shpoj k'to e po marr infektim, se para di javë un jam P [nv] auf den Bauch)) P [UE] spritze ich hier und ich bekomme eine Infektion. weil vor zwei Wochen D [v] në n'bark? D [UE] am Bauch? [55] (36) 113 [04: 34.1] (37) 114 [04: 36.1] P [v] kën e smur k'tu thot tu kënë e infktu zorrt. P [nv] ((zeigt auf den Bauch )) P [UE] war ich hier krank und sie haben gesagt der Darm ist entzündet. D [v] mhm [56] 115 [04: 37.7] (38) D [UE] Frau X. will gerade fragen, ob das zusammenhängt mit dem in [57] (39) D [UE] Spritzen am Bauch, weil sie hat in im Bauch oder im Magen eine [58] 116 [04: 47.6] (40) B [v] hm und wie ÄUSsert sich diese INnfekTION? D [UE] Infektion bekommen. [59] 117 [04: 50.6] (41) 118 [04: 53.6] P [v] infeksioni, po m' P [UE] Die Infektion der D [v] qysh tu ka qysh ju ka paraqit ky infeksioni? D [UE] Wie hat sich bei dir bei Ihnen diese Infektion geäussert? [60] (42) 119 [04: 58.0] P [v] ajenë barki, mitja edhee zorrt po m'aja ça i ka ça i ka që k'tu. P [nv] ((zeigt auf die P [UE] Bauch der Magen und der Darm schwellen an diese Seite diese Seite bis [61] (43) 120 [04: 59.4] 121 [05: 00.9] 122 [05: 01.3] (44) P [nv] Schmerzstellen)) P [UE] hier. D [UE] po mhm der Bauch wird geschwollen und D [UE] Ja [62] 123 [05: 04.0] 124 [05: 06.5] (45) 125 [05: 07.2] 126 [05: 08.0] (46) B [v] mhm und hat sie dann verDAUungsbeSCHWERden, hat sie P [v] edhe men m'merrna P [UE] und es wird mir schwindelig. D [v] Därme au a ki problem, a keni D [UE] Hast du Problem, haben Sie [63] (47) (48) 127 [05: 08.1] 128 [05: 10.9] 129 [05: 12.7] 130 [05: 13.1] B [v] SCHMERzen? P [v] po ç'ashtu, problem po a de P [UE] Ja so, Problem ja wohl. D [v] probleme me me tret ushqimin? po a? ja, sie D [UE] Probleme das Essen zu zu verdauen? ja a? [64] (49) 131 [05: 15.5] D [UE] hat Problem mit Verdauen. Tab. 5.3.3-3: Gesprächsausschnitt 3 178 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="179"?> A. Interaktion als koordiniertes Handeln Zu Beginn von Sequenz 3 führt die Patientin ihr eigentliches Anliegen ein, dass die Gebärmutter für sie das grössere gesundheitliche Problem darstellt als die Zuckerkrankeit (25). Sie befürchtet, dass die Häufigkeit der Insulinspritzen im Unterleib die Gebärmutter und den Verdauungstrakt schädigen könnten: „ Ich bin aber mehr wegen der Gebärmutter krank gewesen. “ (25) Der Dolmetscher lässt diesen von der Patientin relevant gesetzten Redebeitrag unverdolmetscht. Immerhin beteiligt der Dolmetscher die Beraterin im Nachhinein an seiner Reaktion der Patientin gegenüber, die auf Albanisch stattgefunden hat, ohne dass die Beraterin nachgefragt hat: „ Sie will was über den Magen erzählen, ich hab gesagt, vielleicht das kommt später. “ (28) Die Beraterin ratifiziert die Entscheidung des Dolmetschers mit „ Ja “ (29). Mit ihrem „ Ja “ „ sanktioniert “ die Beraterin das kurze unverdolmetschte Zwiegespräch des Dolmetschers mit der Patientin. Sie akzeptiert ohne weiteres, dass er als ihr primärer Gesprächspartner und als gatekeeper (vgl. Davidson, 2000) auftritt, der befugt ist, die Patientin in Schranken zu weisen. Sie vertraut dem Dolmetscher, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was die Patientin bewegt und ob der Hinweis auf den Magen vielleicht ins Gespräch einfliessen sollte. Der Patientin gelingt es dank ihrer Beharrlichkeit, sich gegenüber dem Dolmetscher durchzusetzen und ihr Anliegen unmittelbar nach seiner Ablehnung erneut zum Thema zu machen (vgl. Teil B). Am Anfang ihrer Schilderung blickt sie vor sich hin, dann zum Dolmetscher. Sie nimmt den Blick zurück, wenn sie auf die Einstichstellen zeigt. Die Beraterin verfolgt die Zeigegesten der Patientin mit den Augen, verzichtet aber auf eine Reaktion auf diese Zeigehandlungen. Nicht einmal das wiederholte eindringliche Zeigen der Patientin mit dem Zeigefinger auf die Stellen am Arm, wo sie früher Insulin gespritzt hat, veranlasst die Beraterin nachzufragen, obwohl sie den Dolmetscher durch eine Nachfrage auf die Auslassung hätte aufmerksam machen können. Sie hätte dem Dolmetscher gegenüber skeptisch werden können, weil die gedolmetschten Inhalte in keiner Weise auf die Zeigeprozeduren verweisen. Im Anschluss an die Verdolmetschung erkundigt sich die Beraterin nach den konkreten Symptomen der Infektion: „ Hm und wie äussert sich die Infektion? “ (40) Die Patientin schaut auf die Beraterin. Der Dolmetscher lehnt sich der Patientin deutlich entgegen, um zu sichern, dass sie bei der Verdolmetschung auf ihn schaut. Auf die Frage der Beraterin hin beschreibt die Patientin, dass Magen und Darm „ anschwellen “ , sie zeigt auf die Stelle mit den Worten: „ [ … ] diese Seite, diese Seite bis hier. “ (42) In seiner darauffolgenden Verdolmetschung ratifiziert der Dolmetscher diese Äusserung mit dem Backchannel-Signal „ ja mhm “ , obwohl er nicht der eigentliche Rezipient ist. Er übernimmt die Zeigegesten nicht (43) und verkürzt die im Redebeitrag der Patientin geäusserten Ängste: „ [ … ] der Bauch wird geschwollen und Därme au. “ (44). Dass ihr schwindelig wird (46), vernimmt die Beraterin nicht, weil dies dem Dolmetscher vermutlich wegen der überlappenden Rede entgeht. Bevor die Patientin zu Ende gesprochen hat, erkundigt sich die Beraterin beim Dolmetscher nach weiteren Symptomen. Sie wirft während der Interaktion gelegentlich kurze Seitenblicke zur Patientin hin, konzentriert sich grundsätzlich jedoch auf den Dolmetscher. Soweit sie vom Anliegen der Patientin erfährt, nimmt sie sich Zeit und geht auf darauf ein, obwohl sie in ihrer Funktion als Diabetes-Beraterin die ihr zur Verfügung stehende Zeit für die Anleitung zur genauen Dokumentation der Blutzuckerwerte und der Anpassung der Insulindosierung bräuchte. 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 179 <?page no="180"?> Sie adressiert auch in Sequenz 3 den Dolmetscher und spricht über die Patientin in der 3. Person: „ Und hat sie dann Verdauungsbeschwerden, hat sie Schmerzen? “ (45) Die Patientin bestätigt, dass sie Probleme hat, und der Dolmetscher bestätigt die Verdauungsprobleme, die Frage nach den Schmerzen lässt er aus: „ Ja, sie hat Problem mit Verdauen. “ (49) Die Beraterin kann sich deshalb zu den Schmerzen nicht äussern. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen In Sequenz 3 fällt zu Beginn die Art der Redewiedergabe des Dolmetschers erneut auf. Die Patientin erzählt in der 1. Person Singular über ihre Angst vor gesundheitlichen Konsequenzen aufgrund der neuen Injektionstechnik. Der Dolmetscher gibt ihren Redebeitrag in der 3. Person Singular und lediglich zusammenfassend wieder. Zudem hindert er die Patientin am Reden: „ Aber das kommt vielleicht später. “ (26) Weiter verwendet er die 3. Person Singular, wenn er der Beraterin über seine Intervention bei der Patientin berichtet: „ sie will was über den Magen erzählen [ … ] “ (27) oder wenn er das Anliegen der Patientin an die Beraterin weitergibt: „ Frau X. will gerade fragen, ob das zusammenhängt mit dem [ … ] Spritzen am Bauch [ … ] “ (38). Ebenso in derAntwort an die Beraterin: „ Ja, sie hat Problem mit Verdauen “ (49). Er spricht an diesen Stellen über die Patientin, wie das auch die Beraterin tut. Die Formen der sprachlichen Adressierung entsprechen denjenigen in den vorangehenden Sequenzen. Der Dolmetscher verwendet bei der Adressierung der Patientin in der Regel die 3. Person Plural. An zwei Stellen adressiert er die Patientin in der 2. Person Singular, aber er korrigiert sich beide Male unmittelbar: „ Wie hat sich bei dir, bei Ihnen diese Infektion geäussert? “ (41), und später, wenn er sich auf die Frage der Beraterin bei der Patientin nach den Verdauungsproblemen erkundigt: „ Hast du Problem, haben Sie Probleme, das Essen zu verdauen? “ (47) Er ist offenbar mit dem Standard der Dolmetschpraxis sowie mit den sozialen Normen im institutionellen Kontext vertraut und weiss, dass die distanziertere Form der 3. Person Plural in der institutionellen Kommunikation im Gesundheitswesen üblich ist. Umgekehrt verwendet die Patientin dem Dolmetscher gegenüber auf Albanisch ausschliesslich die 2. Person Singular. An einer Stelle wendet sie sich explizit an ihn ( „ Wenn wir jetzt da sind, möchte ich dich etwas fragen [ … ] “ [30]). Die Blickrichtung zum Dolmetscher hin lässt ebenfalls erkennen, dass sie sich an den Dolmetscher wendet (vgl. Teil A). Zu den gravierendsten Modifikationen des Dolmetschers gehört seine Unterlassung, die Äusserung „ Ich bin aber mehr wegen der Gebärmutter krank gewesen “ (25) zu dolmetschen. Die Patientin schildert ihre Erfahrungen mit der neuen Injektionstechnik, die sie als gesundheitsgefährdend einstuft. Der Dolmetscher verhindert mit seinem selbst-initiierten Handeln also zuerst einmal, dass die Patientin sich bei der Beraterin Gehör verschaffen und ihre Angst thematisieren kann (vgl. Teil A). Er beeinflusst den Gesprächsverlauf, weil er die Situation im Sinne des recipient design so einschätzt, dass die Beraterin im Rahmen der Anleitung zur präzisen Erfassung der Blutzuckerwerte nichts davon hören möchte. Aus eigener Initiative vertröstet er die Patientin auf später ( „ Aber das kommt vielleicht später. “ [26]) Offenbar hält er das Anliegen der Patientin für unpassend, für irrelevant, weitschweifig und zeitraubend. Die Patientin fügt sich für den Augenblick ( „ a ja, okay “ [27]). Sie scheint dem Dolmetscher das Rederecht zunächst zu überlassen, übernimmt aber unmittelbar nach der Verweigerung des Rederechts durch den Dolmetscher den nächsten Redezug, 180 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="181"?> mit dem sie ihr Anliegen erneut aufgreift: „ Wenn wir jetzt da sind, möchte ich dich etwas fragen [ … ] “ (30). Zunächst hat sie den Blick gesenkt (vgl. Bild 5.3.3 - 2), so dass unklar ist, wen sie adressiert, aber die Wahl der 2. Person Singular weist auf den Dolmetscher als Ansprechperson hin, den sie auch an anderen Stellen duzt. Der Dolmetscher zeigt seine Beteiligung an der Interaktion mit Nicken an. Bild 5.3.3 - 2: Die Patientin leitet ihr Hauptanliegen ein. Der Dolmetscher und die Beraterin richten beide den Blick auf die Patientin, zum Zeichen, dass sie den Turn übernehmen soll. Die Patientin wählt statt des direkten Einstiegs in die Interaktion eine metakommunikative Steuerung als Ankündigung ihres Anliegens und betont mit dieser Initiative den propositionalen Gehalt ihres darauffolgenden Redebeitrags: „ Wenn wir jetzt da sind, möchte ich dich etwas fragen [ … ]. “ (30) Dabei wendet sie sich dem Dolmetscher zu und schaut ihn an. Sie formuliert darauf ihreAngst vor den Auswirkungen der neuen Einstichstellen (vgl. Teil A). Sie zeigt auf die verschiedenen Stellen an den Armen, wo sie das Insulin vorher injiziert hat (vgl. Bild 5.3.3 - 3). Sie folgt ihren Zeigegesten mit dem Blick. Bild 5.3.3 - 3: Die Patientin deutet mit dem Zeigefinger mehrfach auf die Einstichstellen. 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 181 <?page no="182"?> Die Patientin beschreibt die Infektion als Folge der Insulininjektionen in den Unterleib und befürchtet einen Zusammenhang zwischen den Einstichstellen und der Entzündung im Unterleib: „ [ … ] ich steche Insulin, vielleicht ist mein Bauch deswegen entzündet [ … ] “ (32). Als Beleg für den Zusammenhang zwischen den neuen Injektionen in den Bauch und den Symptomen der letzten Zeit führt sie die Reaktion der Ärzt: innen in der Notaufnahme an: „ Weil vor zwei Wochen war ich hier [im Spital, Anmerkung GH] krank (36) und sie haben gesagt, der Darm ist entzündet. “ (37) Die aus der Sicht der Patientin fatalen Konsequenzen der Spritzen in den Unterleib fasst der Dolmetscher zusammen. Er braucht dazu nur 10 Sekunden, die Patientin hat 26 Sekunden lang gesprochen (Fatahi et al., 2008, p. 41; vgl. auch Kap. 3.6.1). Während der Verdolmetschung schaut die Patientin zunächst vor sich hin, dann zur Beraterin. Der Vergleich der albanischen Äusserung der Patientin mit der Verdolmetschung macht die Auslassungen der strukturierenden kohäsiven Mittel in der Verdolmetschung deutlich. Die Patientin setzt rekapitulierend ein: „ [ … ] ich steche Insulin [ … ] “ (31) und folgert dann: „ [ … ] vielleicht ist mein Bauch deswegen entzündet, weil ich hier mehr spritze. “ (32) Sie stellt das Adverb „ vielleicht “ voran. Damit relativiert sie die folgende Annahme und nimmt eine mögliche abschlägige Antwort der Beraterin vorweg. Trotzdem markiert sie gleich anschliessend mit dem Kausaladverb „ deswegen “ und der Konjunktion „ weil “ den kausalen Zusammenhang. Sie befürchtet, dass sie im Unterleib Krankheitssymptome entwickelt, weil sie ihr Verhalten geändert hat: „ Sonst habe ich sie hier, hier, hier, hier und am Arm gespritzt [ … ] “ (33), „ ich habe früher nicht nur am Bauch gespritzt. “ [Hervorhebungen GH] (34) Der Dolmetscher reduziert die sorgfältige Argumentation der Patientin auf den indirekten Fragesatz „ [ … ] ob das zusammenhängt mit dem „ [ … ] Spritzen am Bauch “ (38) und auf den Kausalanschluss „ weil “ : „ [ … ] weil sie hat im Bauch oder Magen eine Infektion bekommen. “ (39) In der Verdolmetschung fehlen die zeitliche Einordnung ( „ sonst “ , „ früher “ [34]), „ vor zwei Wochen “ [36]) und der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen den Insulinspritzen in den Bauch und den Symptomen der Patientin. Der Verlust der kohäsiven Verknüpfungshinweise verflacht die Inhalte und verdeckt die differenzierte sprachliche Logik der Patientin. Das Transkript der Übersetzung aus dem Albanischen ins Deutsche lässt im Redebeitrag der Patientin eine klar strukturierte Hypothese erkennen. Durch die reduzierte Verdolmetschung entgeht der Beraterin, dass die Patientin über die kognitive Fähigkeit verfügt, ihre Erzählung detailliert zu strukturieren. 34 Ausserdem fehlt in der Verdolmetschung die Aussage, dass sie vor zwei Wochen krank war und eine Darmentzündung diagnostiziert wurde „ [ … ] sie haben gesagt, der Darm ist entzündet. “ (37) Durch diese Auslassung entfällt der Beleg durch die medizinische Expertise in der Verdolmetschung, der die Glaubwürdigkeit der Patientin stützen würde. Bei der Wiedergabe des Dolmetschers kommt es zu einem terminologischen Versehen. Die Patientin nennt als vermutete Folge der Injektionen die Schädigung der Gebärmutter, während der Dolmetscher von Magenproblemen spricht. Beim Vergleich der albanischen und der deutschen Version anhand des Transkripts fällt das Problem des Fachausdrucks auf, 34 In einem monolingualen Gespräch können die medizinischen Expert: innen die sprachliche Leistung von Patient: innen erkennen; bei gedolmetschten Gesprächen ist das nicht möglich, was sich für die Patient: innen als Nachteil erweisen kann (vgl. Menz, 2013c). 182 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="183"?> die Patientin spricht von der Gebärmutter, der Dolmetscher spricht vom Magen. Die Patientin benutzt den Terminus „ mitrës “ , auf Deutsch „ Gebärmutter “ , der Dolmetscher „ mitja “ , auf Deutsch der „ Magen “ . Im Albanischen ähneln sich die beiden Wörter: „ mitrës “ (25) und „ mitja “ (42). Denkbare Varianten sind, dass es kulturelle Gründe dafür gibt, dass der Dolmetscher den Magen an Stelle der Gebärmutter nennt, dass er sich verhört oder dass er die beiden Termini aufgrund des fehlenden Fachwissens miteinander verwechselt. 35 Neben Auslassungen von affektiven Anteilen, etwa der Wiederholung „ hier, hier, hier, hier “ , von Fachsprachlichem ( „ Gebärmutter “ ) und von kohäsiven Verknüpfungen, zum Beispiel „ deswegen “ , „ weil “ , „ früher “ , fehlen der Beraterin auch Informationen, die wegen überlappender Rede nicht verdolmetscht werden, zum Beispiel die Frage nach den Schmerzen (45) oder der Hinweis auf den Schwindel (46). Die Patientin schildert die Folgen einer Infektion über 26 Sekunden hinweg. Während dieser Schilderung sind die Gesten der Patientin deutlich wahrnehmbar. Der Dolmetscher und die Beraterin verfolgen das auffällige gestische Verhalten mit ihrem Blick. In der Wiedergabe reproduziert der Dolmetscher die Gesten jedoch nicht. Trotz des hohen deiktischen Aufwands der Patientin „ ([ … ] hier, hier, hier, hier [ … ] “ [33]) lässt der Dolmetscher die verbaldeiktischen Wiederholungen aus. Die von der Patientin relevant gesetzten gestischen und deiktischen Mittel, mit denen sie auf ihr Anliegen aufmerksam macht, werden nicht zu einem gemeinsamen Thema (vgl. Hausendorf, 2003; Stukenbrock, 2015, p. 85 f.). Auch die Stimmung der Angst gibt der Dolmetscher nicht wieder. 5.3.4 Sequenz 4: „ [ … ] und ihre Frage ist jetzt, ob [ … ] das Insulin daran schuld ist? “ Die Patientin schildert ihre Beschwerden und ihre Angst vor neuen Beschwerden, die durch die Injektionen in den Unterleib ausgelöst werden. [92] (50) 188 [07: 35.1] 189 [07: 36.2] (51) B [v] okay und ihre FRAge ist jetzt, ob diese [93] 190 [07: 42.3] 191 [07: 42.6] B [v] infekTION die sie jetzt HAT im DARM, ob das insuLIN daran [94] (52) 192 [07: 47.7] B [v] SCHULD ist, DASS sie diese infekTION hat, ist das RICHtig? D [v] pra pytja D [UE] Also ihre [95] D [v] juj ësht se a a asht qi kjo infektim a ka lidhje me me kët gjilpënat që po i D [UE] Frage ist, ob diese Infektion ein Zusammenhang hat mit den Spritzen die 35 Dank dem Hinweis von Naser Morina wurde das terminologische Versehen des Dolmetschers deutlich. Gegen die Vermutung, dass sich der Dolmetscher einfach nur verhört, spricht die Auslassung des Hinweises der Patientin durch den Dolmetscher auf die Gebärmutter an einer weiteren Stelle in dieser Beratungssitzung (in den ausgewählten Sequenzen nicht abgebildet). Morina ist der Ansicht, dass der Dolmetscher die Termini miteinander verwechselt. Er schliesst eher aus, dass der Dolmetscher den „ Magen “ aus kulturellen Gründen wählt. Die Übersetzerin dieses Transkripts mit albanischer Erstsprache teilt diese Einschätzung. 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 183 <?page no="184"?> [96] (53) 193 [07: 55.5] 194 [07: 57.5] P [v] une nuk P [UE] Ich weiss D [v] merr n'bark, a po, kjo ësht pytja juj? doni me me dit se andikon për D [UE] du am Bauch spritzt, ja, das ist ihre Frage? Sie möchte wissen ob es ein [97] 195 [07: 59.0] (54) P [v] p'e dij. edhe përpara jam kan gjat ashtu e s'mut ashti s'po e dijshte se po P [UE] nicht und früher war ich auch so krank, aber ich weiss nicht, ich D [v] pers D [UE] Einfluss … [98] (55) P [v] i marr gjilponat veç zemra po m'kan, a di çi mos u bona hala ma bet a di P [UE] nehme die Spritzen, aber ich habe Angst, weisst du, dass es hier schlechter B [nv] ((Das Telefon der Beraterin beginnt zu klingeln)) [99] 196 [08: 08.6] 197 [08: 12.0] 198 [08: 12.2] 199 [08: 12.3] (56) P [v] k'tu. se p'e di sheqeri po m'ben shum posht, e shum bojn e kam P [UE] wird. ich weiss, der Zucker ist tief, sehr tief ist der Zucker, ihr könnt es D [v] po po, po po po po D [UE] Ja Ja, ja ja ja ja. [100] P [v] sheqerin, qera ta kqira me rrall aty, rrall d'onjhere see s'ma blun midja a e P [UE] dort anschauen, aber selten manchmal, weil der Magen nicht gut verdaut [101] 200 [08: 17.1] 201 [08: 21.5] B [v] diabetes berotig M., ich bi imene B [nv] ((telefoniert)) P [v] di qi ç'ashtu m'hyp sheqeri. P [UE] weisst du, dann wird der zucker hoch. [102] 202 [08: 30.7] B [v] Dolmetschgschpröch mit Videoufnahme, genau, tschüss. D [UE] ich hatte auch [103] (57) D [UE] früher ö Beschwerden, aber jetzt waren besch mm mehr [104] 203 [08: 36.8] (58) 204 [08: 38.0] 205 [08: 43.7] (59) B [v] mhm genau. es ist SO, dass das insuLIN unter die HAUT D [UE] Beschwerden da (xxx). D [nv] ((nickt)) [105] B [v] geSPRITZT wird, das WEISS sie ja, das hat sie von mir auch DAmals im [106] 206 [08: 45.0] 207 [08: 46.9] B [v] auGUST gelernt, wenn ETWAS unter die HAUT kommt, hat es KEINen [107] 208 [08: 52.9] (60) B [v] EINfluss auf den DARM. D [v] po thotëë, gjilpona mirret nër lëkur dhe kjo s'ka D [UE] Sie sagt, die Spritze wird unter die Haut 184 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="185"?> [108] D [v] kurrfar ndikimi te zorrt, s'ka kurrfar ndikimi te zorrt. D [UE] gespritzt, und das hat keinen Einfluss auf den Darm, es hat keinen Einfluss [109] 209 [09: 00.9] 210 [09: 06.1] (61) (62) 211 [09: 07.8] (63) P [v] e po nasht pra, veç ta heki e di çi kët problem, mos ta kem a P [UE] Ja schon okay. aber ich möchte nur das Problem loswerden, D [v] tani shpjegoja un kësaj zonjës. D [UE] auf den Darm. Jetzt werde ich ’ s der Frau erklären. [110] P [v] di jo për ç'atë, se veç po m'pall zemra çe duj, se une dhe përpara jam P [UE] Ich möchte es nicht haben, weisst du. ich war auch früher krank, ich war [111] 212 [09: 11.0] (64) 213 [09: 12.9] 214 [09: 13.1] (65) P [v] kan ç'ashtu e smut, s'jam kan une (xxx) une çeee katër vet qi jam P [UE] nicht (xxx) Ich bin seit vier Jahren D [UE] ebe, ich hatte au no früher Beschwerden. [112] 215 [09: 15.9] 216 [09: 16.5] (66) 217 [09: 17.6] 218 [09: 18.2] P [v] ç'ashtu e smut. kom hall, s'po e di P [UE] krank. Ich mache mir D [UE] seit vier Jahren hab ich ab und zu Beschwerden. [113] (67) 219 [09: 18.5] 220 [09: 19.2] 221 [09: 26.3] 222 [09: 27.1] (68) B [v] es ist natürlich SO, dass UMgekehrt diese P [v] veç t P [UE] Sorgen. ich weiss nicht D [nv] ((nickt)) [114] 223 [09: 29.2] ..(69) B [v] DARMprobleme, DIE können naTÜRlich einen gewissen EINfluss auf D [v] eh, pra po thot ësht e kundërta, n' D [UE] eh, sie sagt es ist das Gegenteil, D [nv] ((nickt)) [115] B [v] die BLUTzuckerwerte haben, weil die verDAUung nicht RICHtig D [v] qoft see nuk ë muni me e tret mir ushqimin, at'her ndikon kjo nëë rritjen e D [UE] wenn Sie Verdauungsprobleme haben, dann hat das einen Einfluss auf die [116] 224 [09: 29.9] 225 [09: 39.5] 226 [09: 40.2] 227 [09: 41.0] 228 [09: 41.6] (70) B [v] funktioNIERT. P [v] kshi? alaa P [UE] so? ah so. D [v] sheqerit n'gjak. pra e kundërta asht, po po. D [UE] Blutzuckerwerte. Also das Gegenteil ist, ja ja. Tab. 5.3.4-4: Gesprächsausschnitt 4 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Zu Beginn der Sequenz 4 kommt die Beraterin auf die frühere Frage der Patientin zu den Insulininjektionen in Sequenz 3 zurück - inzwischen sind gut drei Minuten vergangen. Sie übernimmt den Turn mit „ okay “ (50). „ Okay “ hat an dieser Stelle mehrere Funktionen. Die Beraterin leitet damit den Sprecher- und einen Themenwechsel ein, zudem signalisiert sie 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 185 <?page no="186"?> mit „ okay “ , dass sie bereit ist, auf den Vorschlag der Patientin einzugehen (vgl. Davidson 2002, S. 1289). 36 Die Beraterin verwendet für die Patientin weiterhin die 3. Person Singular (51). Sie formuliert die Frage und rekapituliert, was sie bisher verstanden hat. Sie spricht aber nach wie vor zum Dolmetscher. Die Patientin schaut zu ihr hin. Die Beraterin hat verstanden, dass die Patientin glaubt, das Insulin führe zu neuen Beschwerden (52). Der Dolmetscher rückt die Frage der Beraterin zurecht und weist auf die angstauslösende Spritztechnik hin - mit einer kurzen Rückfrage an die Patientin „ [ … ] ja, das ist ihre Frage? “ [53]) Er möchte die Frage expandieren, aber die Patientin unterbricht ihn, indem sie überlappend spricht. Ein Telefonanruf, den die Beraterin mit dem Hinweis auf das Dolmetschgespräch gleich wieder beendet, unterbricht das Gespräch kurz. Nach ihrem Telefongespräch nimmt die Beraterin den Gesprächsfaden wieder auf „ mhm, genau “ (58). Allerdings ist die „ Antwortpartikel “ weniger eine direkte Anknüpfung an die vorausgegangene verdolmetschte Äusserung, die sie unbeachtet lässt. „ Genau “ signalisiert - wie vorher „ okay “ - vielmehr den Sprecherwechsel. Die Beraterin knüpft an die vom Dolmetscher präzisierte vorausgegangene Frage an und initiiert den Turn mit „ mhm genau, es ist so, dass das Insulin unter die Haut gespritzt wird, das weiss sie ja, das hat sie von mir auch damals im August gelernt, wenn etwas unter die Haut kommt, hat es keinen Einfluss auf den Darm. “ (59) Grammatikalisch entwickelt sich „ genau “ vom Adjektiv zur Gesprächspartikel (vgl. Oloff, 2017; vgl. auch Betz 2015). Neben der diskursstrukturierenden Funktion findet auch eine Bedeutungsverschiebung statt. „ Mhm genau “ signalisiert weder den Abschluss eines Verstehensprozesses noch ein Einverständnis mit der Version des Dolmetschers, sondern die Beraterin weist die Ansicht, die der Dolmetscher vermittelt hat, zurück. Es ist unmöglich, so die Beraterin, dass das Insulin die Verdauungsprobleme auslöst. In der Verdolmetschung scheint das Backchannel-Signal nicht auf. Der Dolmetscher nickt bestätigend zum Redebeitrag der Beraterin, was wohl weniger mit seinem Kenntnisstand als mit seiner Loyalität zur Beraterin zu tun hat (vgl. Kap. 3.6.3). Der Dolmetscher gibt die Erklärung ausgangstextnah wieder, allerdings nennt er die Bezeichnung „ Insulin “ nicht explizit. Zudem lässt er den Hinweis der Beraterin aus, mit dem sie die Patientin daran erinnert, dass sie dies ja schon weiss, weil sie bereits in der letzten Beratung im vorangegangenen August von ihr (der Beraterin) darüber unterrichtet wurde (60). Damit entfällt in der Verdolmetschung der implizite Vorwurf der Beraterin, die Patientin wisse das ja, das müsse sie nicht mehr fragen. Die Beraterin geht vermutlich davon aus, dass die Patientin sich an die Erklärung von damals erinnert, aber sie fragt nicht nach. Falls die Patientin sich tatsächlich erinnern würde, könnte sie aus der wiederholten Äusserung, wenn sie gedolmetscht worden wäre, möglicherweise eine gewisse Sicherheit schöpfen. Immerhin führt die abgesehen von der Auslassung adäquat gedolmetschte Erklärung bei der Patientin zu einer gewissen Entlastung: „ ah so “ (70). 36 Die Multifunktionalität von „ okay “ beschreibt Davidson (2002, p. 1289) anhand eines Ausschnitts aus einem gedolmetschten Ärzt: innn-Patient: innen-Gespräch. In seinen Daten beobachtet er drei Funktionen: „ okay “ signalisiert das Verstehen des vorangegangenen Redebeitrags, den Wechsel von einem koordinierten Gespräch zu einer Berichterstattung sowie einen Sprachwechsel. 186 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="187"?> B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Patientin drängt erneut darauf, ihre Probleme zu thematisieren. Sie fokussiert auf ihr eigentliches Thema, auf ihre Angst. Sie führt aus, dass sie früher auch krank war, befürchtet jetzt aber, dass die Spritzen im Unterleib ihren Gesundheitszustand weiter verschlechtern: „ [ … ] und früher war ich auch so krank, aber ich weiss nicht. Ich nehme die Spritzen, aber ich habe Angst, [ … ], dass es hier schlechter wird. “ (54/ 55) Auch an dieser Stelle spricht die Patientin den Dolmetscher direkt an, indem sie im Zwiegespräch ein phatisches Signal einsetzt ( „ weisst du “ [55]), das der Dolmetscher in dieser Weise nicht übernehmen kann. Während sie über ihre Angst und über die tiefen Blutzuckerwerte spricht, sagt der Dolmetscher überlappend: „ ja, ja, ja, ja ja “ (56). Möglicherweise geht es darum, die Beiträge der Patientin im Sinne des recipient design zu beenden, weil er (aufgrund seiner Erfahrung? ) davon ausgeht, dass die Expert: innen Ängste ungern thematisieren oder weil er der Beraterin für ihr Telefonat Ruhe verschaffen will. Denkbar ist ausserdem, dass das Klingeln des Telefons seine Konzentration stört oder die Länge der Redeeinheit die Speicherfähigkeit des Gedächtnisses belastet (vgl. Kap. 3.2). Die Patientin hat den Blick auf den Dolmetscher gerichtet und lässt sich durch das Klingeln des Telefons nicht am Reden hindern. Sie hält aber inne, sobald die Beraterin den Anruf entgegennimmt. In beiden längeren Erklärungen der Beraterin, mit denen sie die Patientin beruhigen möchte, richtet die Patientin ihren Blick auf die Beraterin. Sie wendet sich erst wieder dem Dolmetscher zu, wenn er bereits mit Sprechen eingesetzt hat. In der Redewiedergabe finden sich unterschiedliche Formen. Für die Verdolmetschung der Redebeiträge der Patientin verwendet der Dolmetscher die 1. Person Singular: „ Seit vier Jahren habe ich ab und zu Beschwerden. “ (66) Einmal benutzt der Dolmetscher die 1. Person Singular zudem für sich selbst: „ Jetzt werde ich ’ s der Frau erklären. “ (63) Er verwendet aber auch andere Formen. Er gibt die Äusserungen der Beraterin mit einem indirekten Fragesatz wieder: „ Also ihre Frage ist, ob [ … ] “ (53) oder mit einem Matrixsatz und dem verbum dicendi „ Sie sagt, die Spritze wird unter die Haut gespritzt [ … ] “ (60) und ebenso an einer weiteren Stelle „ [ … ] sie sagt, es ist das Gegenteil [ … ] “ (69). Das verbum dicendi verwendet der Dolmetscher ausschliesslich für Äusserungen der Beraterin. Bei der Adressierung der Patientin verwendet der Dolmetscher wie in den beiden vorangehenden Sequenzen in der Regel die 3. Person Plural. An einer Stelle wechselt er zur 2. Person Singular ( „ [ … ] die du am Bauch spritzt [ … ] “ [53]), ohne sich wie zuvor zu korrigieren (vgl. Sequenz 3). In seinen Wiedergaben entfernt sich der Dolmetscher deutlich von den ausgangssprachlichen Redebeiträgen, die Modifikationen umfassen in erster Linie Auslassungen und Relevanzrückstufungen der Redebeiträge der Patientin. Das emotionale Erleben der Patientin ist der Beraterin aus diesem Grund nur in sehr reduziertem Mass zugänglich. Appelle wie „ [ … ] aber ich habe Angst [ … ] “ (54), oder „ Ich mache mir Sorgen. “ (67) unterdrückt der Dolmetscher. Er scheint der Ansicht zu sein, dass es in seiner Macht liegt, persönliche Anliegen auszulassen oder zu bagatellisieren. Damit verstösst er gegen dolmetsch-ethische Regeln und verhält sich manipulativ (vgl. Kap. 3.4.3). Die Patientin braucht für ihr Anliegen 20 Sekunden. Wie bereits zuvor verkürzt er den Redebeitrag der Patientin, die Verdolmetschung dauert 6 Sekunden. Er gibt lediglich einen kurzen Ausschnitt der patient: innenseitigen Klage wieder: „ Ich hatte auch früher ö Beschwerden, aber jetzt waren Besch mm mehr Beschwerden da. “ (57) Diesmal verwendet er die „ Ich-Form “ . 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 187 <?page no="188"?> Die Angst der Patientin verschweigt der Dolmetscher in der Wiedergabe, den von der Patientin geschilderten Zusammenhang zwischen den Einstichstellen und den Blutzuckerwerten ebenfalls. Die flehenden Worte der Patientin „ Ich bin seit vier Jahren krank “ (65) bagatellisiert er: „ Seit vier Jahren habe ich ab und zu Beschwerden. “ (66) Die wiederholten Schilderungen der Patientin, in denen sie ihre Angst vor den negativen Auswirkungen der Insulininjektionen im Unterleib formuliert, sind entscheidende Botschaften, die der Dolmetscher mehrfach auslässt oder zurückstuft. Damit vernachlässigt er das subjektive Empfinden der Patientin, ohne dass die Beraterin etwas davon merkt. Seine Interventionen führen dazu, dass die Patientin von der Beraterin keine Reaktion auf ihre vor allem in den Sequenzen 3 und 4 deutlich formulierten Bedenken erhält. Die Patientin wiederholt ihre Bedenken. Sie schaut in dieser emotionalen Phase den Dolmetscher an, spricht lauter und untermalt ihre Worte mit expressiven Handgesten. Sie scheint von ihm emotionale Unterstützung zu erwarten. Die Deutlichkeit der Formulierungen, die emphatischen Wiederholungen der Probleme und die erhöhte Lautstärke der Patientin machen die Sequenz 4 zur intensivsten Gesprächsphase in dieser Beratungssitzung. Es handelt sich hier um eine der seltenen Stellen im ganzen Korpus, an der ein paraverbales Phänomen die Dringlichkeit des Anliegens deutlich macht. „ Ja schon okay [ … ] “ (61) lenkt die Patientin zunächst ein, nimmt ihr Anliegen aber gleich wieder auf. Die kummervolle Aussage der Patientin: „ [ … ] ich möchte nur das Problem loswerden, ich möchte es nicht haben, weisst du [ … ] ich war früher auch krank [ … ] “ (62) bagatellisiert der Dolmetscher: ( „ Ebe, ich hatte au no früher Beschwerden. “ [64]) 37 Danach verspricht der Dolmetscher der Patientin, „ es “ der Frau jetzt zu erklären. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Dolmetscher sich seiner Beteiligtenrolle bewusst ist. Er gibt damit sogar gegenüber der Patientin zu, dass seine Verdolmetschung Lücken aufweist. Davon erfährt die Beraterin nichts. Sie weiss nicht, dass sich die Patientin mit ihrem Anliegen mehrfach und ausführlicher an den Dolmetscher wendet. Am Schluss der Sequenz 4 führt die Beraterin aus, dass sich die Darmprobleme negativ auf den Diabetes auswirken können (68). Der Dolmetscher verkürzt die Erklärungen der Beraterin. Den kausalen Zusammenhang „ [ … ] weil die Verdauung nicht richtig funktioniert. “ lässt er aus. Es kann sein, dass die Auslassung auf sein eingeschränktes medizinisches Verständnis zurückzuführen ist. Der Dolmetscher bestätigt die Erklärung der Beraterin mit Kopfnicken und scheint damit die Ansicht der Beraterin zu untermauern, dass sich die Darmprobleme negativ auf die Blutzuckerwerte auswirken. Mit seinem Nicken hat er bereits der früheren Erklärung der Beraterin Nachdruck verliehen, dass das Insulin unter die Haut gespritzt wird und damit den Darm nicht beeinflusst (vgl. Teil A). Damit verletzt er seine Unparteilichkeit. Offenbar identifiziert er sich an mehr als einer Stelle mehr mit dem Standpunkt der Beraterin als mit den Sorgen der Patientin. 37 „ Ebe “ ist vermutlich Schweizerdeutsch für „ eben “ . Diese Vermutung wird von Naser Morina bestätigt (E-Mail vom 12.12.2017). 188 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="189"?> 5.3.5 Sequenz 5: „ Wenn wir Anfang Jahr etwas abmachen würden? “ Zwischen Sequenz 4 und Sequenz 5 werden bis zur Gesprächsbeendigung etwa 15 Minuten darauf verwendet, die Blutzuckerwerte zu besprechen. Die Sequenz 5 ist auf einer zweiten Videokassette aufgenommen worden. Sequenz 5 ist Teil der Beendigungsphase des Gesprächs. Es geht um die Vereinbarung des nächsten Termins. [62] 142 [05: 28.3] 143 [05: 29.0] (71) B [v] OKay wenn wir ANfang JAnuar etwas [63] 144 [05: 32.1] (72) B [v] ABmachen WÜRden? D [v] a çka mendoni, a ta bojm nji termin n'fillim t' D [UE] Was meinen Sie, sollen wir einen Termin Anfang [64] 145 [05: 37.9] 73 146 [05: 40.7] (74) .. 147 [05: 42.3] B [v] okay, und P [v] jo valla, mas januar, mas januar. P [UE] Nein eigentlich nach Januar, nach Januar. D [v] janarit, apo? lieber sch … dann später. D [UE] Januar abmachen, oder? [65] 148 [05: 43.9] (75) 149 [05: 45.9] (76) B [v] wann später? P [v] po une e kam atë, atë letrën a di, P [UE] Aber ich habe dieses, diesen Brief, D [v] kur po doni, pra? D [UE] Wann wollen Sie, also? [66] 150 [05: 53.2] 151 [05: 55.1] 152 [05: 55.6] P [v] çka … numrin. edhe telefonoj . P [UE] weisst du, die Nummer. und ich rufe sie an. D [v] po, numrin. po kur D [UE] Ja, die Nummer. ja [67] (77) 154 [05: 58.5] 155 [06: 01.2] P [v] po, noshta djali m'telefonon, P [UE] Oder vielleicht mein Sohn ruft an. P [v] kthehesh telefonon? D [UE] Wenn du zurück bist, telefonierst du? D [UE] wenn ich [68] 156 [06: 01.5] 157 [06: 04.1] (78) (79) 158 [06: 04.4] B [v] GUT P [v] kur (xxx) edhe q'at'her. P [UE] wenn (xxx) dann. D [UE] zurück von den Ferien bin, sage mein Sohn und er ruft an. [69] 159 [06: 05.0] 160 [06: 05.1] (80) (81) 161 [06: 06.5] 162 [06: 06.6] 163 [06: 07.9] B [v] oKAY P [v] se s'po e di shti se kur po vi a kur s'po vi. P [UE] Weil jetzt weiss ich noch nicht wann ich zurückkomme. D [UE] ëë, ich 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 189 <?page no="190"?> [70] 164 [06: 08.2] 165 [06: 08.6] 166 [06: 08.8] B [nv] ((legt ihre Hand auf die P [nv] ((lacht)) D [UE] weiss es nicht genau, wann ich zurückkomme. [71] 167 [06: 09.0] B [nv] der Patientin und lacht)) Tab. 5.3.5-5: Gesprächsausschnitt 5 A. Interaktion als koordiniertes Handeln In Sequenz 5 ändert sich die Adressierung der Beraterin gegenüber der Patientin zum ersten Mal, sie verwendet die 1. Person Plural „ wir “ (71), mit der sie die Patientin einbezieht, oder sie formuliert unpersönlich. Eine direkte Adressierung bleibt jedoch auch hier aus. Sie möchte die Befolgung der Therapie durch die Patientin in einer weiteren Beratung sichern (Spranz-Fogasy, 2010, p. 44 f.; vgl. auch Kap. 4.3). Zu diesem Zweck möchte die Beraterin am Ende des Gesprächs gerne einen nächsten Termin ausmachen: „ Okay, wenn wir Anfang Januar etwas abmachen würden? “ (71) Die Patientin reagiert zögerlich und zieht einen späteren Termin vor (73). Die Beraterin fragt nach: „ okay und wann später? “ (74) Der Dolmetscher eher etwas drängender: „ Wann wollen Sie also? “ (75) Die Patientin spricht zu beiden und wendet den Kopf hin und her: „ Aber ich habe [ … ] diesen Brief, weisst du, die Nummer “ (76). Der Dolmetscher gibt wieder, was die Patientin sagt, er lässt allerdings Feedback-Signale der Beraterin aus, mit denen die Beraterin Einverständnis oder Akzeptanz signalisiert: „ okay “ (71/ 74/ 81) und „ gut “ (9). Möglicherweise geht der Dolmetscher davon aus, dass die Patientin diese Worte ohnehin versteht, oder er hält es für unnötig, Backchannel-Signale zu dolmetschen. Die Patientin hat einen Brief, auf dem die Telefonnummer der Beratung vermerkt ist (76). Die Abmachung am Ende des Gesprächs beschränkt sich auf das Versprechen der Patientin, dass ihr Sohn anrufen wird (78). Ihre nach wie vor abweisende Haltung der Terminvereinbarung gegenüber begründet sie damit, dass sie noch nicht weiss, wann sie aus den Ferien zurückkommt (80). Die Begründung für die Vermeidung eines konkreten Termins mag zwar zutreffen, aber wieweit bei ihrer Weigerung noch andere Gründe mitschwingen, kann anhand der Daten nicht ausgemacht werden. Der Beraterin liegt offensichtlich daran, dass die Patientin medizinisch möglichst gut betreut wird. Am Ende des Gesprächs legt sie ihre Hand auf die der Patientin und verleiht ihren Worten mit dieser Geste Nachdruck. Die Beraterin neigt sich der Patientin entgegen und schaut sie an. Die Patientin spricht mit der Beraterin, zwar auf Albanisch. Beide lachen. Der Dolmetscher scheint ebenfalls entspannt (vgl. Bild 5.3.5 - 4). Obwohl die Stimmung nun entspannt ist, bleibt trotz derAnnäherung ein Zweifel, ob sich die Patientin ernst genommen fühlt oder ob sie enttäuscht ist, weil die Beraterin auf ihre Ängste nicht reagiert. Unklar ist zudem, ob sie nachvollziehen kann, was der Dolmetscher alles ausgelassen hat. Möglicherweise entgeht ihr, warum die Beraterin nicht auf ihre Sorgen eingeht. 190 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="191"?> B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Der Dolmetscher adressiert die Patientin in Sequenz 5 in der 3. Person Plural: „ Was meinen Sie? “ Im Anschluss daran übernimmt er das institutionelle „ Wir “ , das die Beraterin verwendet (71). In der Redewiedergabe verwendet der Dolmetscher die 1. Person Singular. Die Patientin bleibt dem Dolmetscher gegenüber bei der 2. Person Singular. Gesprächsrelevante Modifikationen sind in Sequenz 5 ausser den Auslassungen der Backchannel-Signale (71/ 74/ 79/ 81) und der Beteuerungsformel „ valla “ (73) keine zu verzeichnen. „ Valla “ bedeutet etwa „ Ich schwöre “ oder „ Bei Gott “ . Eine der wenigen Stellen, die auf eine kulturelle Besonderheit deutet. Die Ablehnung der Terminabsprache für den Januar fällt damit recht deutlich aus. Da die Verdolmetschung dieser Formel fehlt, ist die Ablehnung im Deutschen unauffälliger. Das Stocken des Dolmetschers mag Ausdruck seiner Überlegung sein, wie er „ valla “ wiedergeben soll ( „ Lieber sch … dann später [73]). Er lässt den Ausdruck aus. Eine ausgangstextnahe Wiedergabe hätte den kulturellen Bezug für die Beraterin nicht unbedingt verdeutlicht, aber der Nachdruck, den die Patientin damit in ihre Äusserung legt, fehlt im Deutschen. Der Dolmetscher nimmt sich auch am Schluss des Gesprächs die Freiheit, ins Gespräch einzugreifen. Er betrachtet sich als legitimiert, die selbst-initiierte Rückfrage in die Interaktion einfliessen zu lassen „ Wenn du zurück bist, telefonierst du? “ (77). Bild 5.3.5 - 4: Am Ende kommt es zu einer Annäherung zwischen den Beteiligten. 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 191 <?page no="192"?> 5.3.6 Zusammenfassung Die Diabetes-Patientin befürchtet, dass ihre Beschwerden, unter denen sie leidet, seit sie sich das Insulin in den Unterleib spritzt, Folgen der Einstichstellen sind. Dieses Anliegen bringt sie in den fünf ausgewählten Sequenzen mit steigender Intensität ins Gespräch ein. Die Diabetes-Beraterin kann aufgrund der Lücken in der Verdolmetschung die Ängste der Patientin nicht erfassen; sie hält es aufgrund der Blutzuckerwerte für vordringlich, dass die Patientin die Zuckerkrankheit mithilfe der genauen Einhaltung der Therapiemassnahmen in Schach halten kann. A. Interaktion als koordiniertes Handeln Von der ersten Sequenz an gestaltet sich die Etablierung einer Kommunikationsbeziehung als schwierig. Die Patientin und die Beraterin haben unterschiedliche Gesprächsziele. Für die Patientin stehen die Folgen der Einstichstellen in die Bauchdecke und ihre Angst vor weiteren negativen Folgen der Injektionen im Vordergrund. Die Beraterin legt den Fokus auf die Kontrolle der Blutzuckerwerte. In Sequenz 4 kann sie die Bedenken der Patientin zwar etwas entkräften, aber sie bezieht sich mit ihren Argumenten ausschliesslich auf die körperliche Ebene. Die Angst der Patientin bleibt bis zum Schluss unbearbeitet. Die Reduktion auf die körperliche Ebene ist zum Teil dem Dolmetscher anzulasten, der die emotionalen Anteile ganz auslässt oder zumindest zurückstuft. Ein weiterer Grund für die Schwierigkeit der Beraterin, mit der Patientin ins Gespräch zu kommen, ist die Besonderheit der indirekten Adressierung in der 3. Person Singular (vgl. Teil B), da sie abgesehen von der solidarischen Form „ wir “ in Sequenz 5 für die Patientin die 3. Person Singular verwendet. Es scheint, dass sich bei der Beraterin bereits vor dieser Beratungs-Sitzung eine Präferenz für dieses bestimmte Format verfestigt hat. 38 Die indirekte Adressierung wird zudem durch die geringe Anzahl der Augenkontakte zwischen der Beraterin und der Patientin verschärft (siehe Teil B). In Sequenz 5 bemüht sich die Beraterin um einen Termin für die nächste Kontrolle. Gerade dieses Ende macht ihre Empathie gegenüber der Patientin deutlich. Es scheint, dass die Beraterin die Adressierung in der 3. Person Singular wählt, weil sie es vorzieht, sich an den Dolmetscher zu wenden, mit dem sie Deutsch reden kann. Ausserdem vertraut sie offenbar darauf, dass er die Zusammenhänge besser versteht als die Patientin, ohne aus dem Vorsatz heraus zu handeln, die Patientin aus dem Gespräch auszuschliessen. Immerhin besteht am Ende des Fallbeispiels 3 zwischen der Beraterin und der Patientin ein gutes Einvernehmen. Die Beraterin hat wohl einen recht positiven Eindruck von der gesamten Beratungssitzung. Sie nimmt sich Zeit und geht auf die Anliegen der Patientin ein, soweit sie davon erfährt, auch wenn sie von ihrem intendierten Ziel der Beratungssitzung abweichen. Der Beraterin ist jedoch nicht bewusst, wieviel an Informationen bei der Verdolmetschung verloren gegangen sind, auf die sie nicht eingehen kann. Ein eindrückliches Beispiel für unbemerkte Modifikationen ist etwa der Hinweis der Patientin auf die „ Gebärmutter “ , während der Dolmetscher in der Wiedergabe vom Magen spricht. 38 Die Beraterin führt im Rahmen des KTI-Projekts ein zweites Gespräch mit einem anderen Patienten, der ebenfalls indirekt in der 3. Person Singular adressiert wird. 192 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="193"?> B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Auch in Fallbeispiel 3 lässt der zügige Redefluss des Dolmetschers auf seine Erfahrung schliessen. Die Instabilitäten in der Redewiedergabe zum Beispiel deuten hingegen auf eine Unsicherheit in Bezug auf die Beteiligungsrollen. Die Formen der Redewiedergabe und der Redewiedergabemarkierung Der Dolmetscher richtet sich in der Redewiedergabe lediglich in wenigen Fällen nach der von der Dolmetschwissenschaft favorisierten sprachlichen Form der 1. Person Singular. 1. Person Sg. im AT Verwendung der 1. Person Sg. im AT durch die (P) Beibehaltung der 1. Person Sg. durch den (D) im ZT Auslassung/ 3. Person Sg. Fallbeispiel 3 11 3 4/ 4 Tab. 5.3.6-1: Redewiedergabe durch den Dolmetscher im ZT In elf Redezügen verwendet die Patientin das Personalpronomen „ ich “ . Der Dolmetscher übernimmt die 1. Person Singular in Fallbeispiel 3 lediglich in drei Redezügen. Wenn man die verschiedenen Stellen analysiert, an denen das Personalpronomen „ ich “ fehlt, lassen sich verschiedene Gründe für die Auslassung oder für den pronominalen Wechsel erkennen: In vier Fällen bleibt der ganze Redebeitrag der Patientin unverdolmetscht. Damit fällt auch das Personalpronomen aus. An weiteren vier Stellen kommentiert oder erklärt der Dolmetscher die Äusserung der Patientin mehr, als er im eigentlichen Sinn dolmetscht, so dass sich die Verschiebung des Personalpronomens durch die Gesprächssituation ergibt: „ Frau X. will gerade fragen [ … ] “ . An einer anderen Stelle lässt die metadiskursive Äusserung ( „ sie will was über den Magen erzählen “ ) den Schluss zu, dass der Dolmetscher sich mindestens zum Teil im Sinne des recipient design am von ihm vermuteten Desinteresse der Beraterin für die ausführliche Beschwerdeschilderung der Patientin orientiert, was ihn von einer detailgetreuen Verdolmetschung abhält. Die Verschiebung des Personalpronomens fällt noch deutlicher ins Gewicht, wenn man sich vergegenwärtigt, wie häufig die Patientin innerhalb eines einzelnen Redebeitrags von ihren Erfahrungen und Ängsten in der „ Ich-Form “ erzählt (die einzelnen Pronomina innerhalb eines Redebeitrags wurden nicht ausgezählt). Die Stimmung wird durch die Auslassungen oder durch die Verschiebung des Pronomens von der 1. Person Singular zur 3. Person Singular distanzierter als in den ausgangssprachlichen Beiträgen der Patientin. Das Personalpronomen „ ich “ , das die Beraterin einmal verwendet, lässt der Dolmetscher aus. Redewiedergabemarkierung vorgestellt integriert nachgestellt Fallbeispiel 3 3 - - Tab. 5.3.6-2: Redewiedergabemarkierung: Häufigkeit und Position In Fallbeispiel 3 kommt die Redewiedergabemarkierung lediglich bei Verdolmetschungen der Redebeiträge der Beraterin vor. Die drei Redewiedergabemarkierungen leiten die Verdolmetschung ein. Die drei Stellen finden sich in Passagen, in denen die Patientin 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 193 <?page no="194"?> überzeugt werden soll, der Anweisung oder den Ansichten der Beraterin zu folgen. Diese Beobachtung rückt die Funktion der Redewiedergabemarkierung, die Urheberschaft und die Autorität der Beraterin zu stützen, in den Vordergrund. Die Adressierungsformen der Beteiligten Neben der indirekten Adressierung der Patientin in der 3. Person Singular verwendet die Beraterin unpersönliche Formulierungen oder die 1. Person Plural. Die Patientin verwendet dem Dolmetscher gegenüber die 2. Person Singular, der Dolmetscher der Patientin gegenüber in der Regel die 3. Person Plural. Ein weiteres Beteiligungsformat ist die Verwendung der 3. Person Singular des Dolmetschers, wenn er mit der Patientin über die Beraterin oder mit der Beraterin über die Patientin spricht. Adressierung der (P) durch die (B) 3. Person Sg. (indirekte Adressierung) Unpersönliche Formulierungen/ 1. Person Pl. Fallbeispiel 3 6 6/ 3 Tab. 5.3.6-3: Adressierungsformen der Beraterin Auffällig in Fallbeispiel 3 sind vor allem die Adressierungsformen der Beraterin. Die Beraterin adressiert die Patientin innerhalb von 14 Redebeiträgen in sechs Fällen in der 3. Person Singular. Dadurch schliesst sie die Patientin von der Interaktion aus. In sechs Redebeiträgen verwendet die Beraterin eine unpersönliche Formulierung und in drei weiteren die 1. Person Plural ( „ wir “ ). In keinem Fall spricht die Beraterin die Patientin direkt an. Adressierung des (D) durch die (P) Adressierung des (D) durch die (P) in der 2. Person Sg. Fallbeispiel 3 4 Tab. 5.3.6-4: Adressierungsformen der Patientin In den fünf Gesprächsausschnitten spricht die Patientin den Dolmetscher innerhalb von 20 Redebeiträgen viermal direkt mit „ du “ an. Die Adressierung in der 2. Person Singular mag kulturell oder sozial bedingt sein. 39 Es könnte aber auch sein, dass der Dolmetscher und die Patientin sich aus früheren Dolmetschsituationen oder aus ihrem Privatleben persönlich kennen. Adressierung der (P) durch den (D) 3. Person Pl. (Sie) 2. Person Sg. ( „ du “ ) 3. Person Sg. über die (B) und die (P) Fallbeispiel 3 6 1/ 1/ 2/ 2 Tab. 5.3.6-5: Adressierungsformen des Dolmetschers Der Dolmetscher verwendet bei der Adressierung hauptsächlich die 3. Person Plural. Mit der Adressierung in der 3. Person Plural zeigt er, dass er mit der formalen Situation der 39 Die Frage der Verwendung der 2. Person Singular wurde bereits im KTI-Projekt behandelt. Der bilinguale Projektteilnehmer N. Morina wies darauf hin, dass die Verwendung der 2. Person Singular in Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen in der albanischen Kultur durchaus üblich ist. 194 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="195"?> institutionellen Kommunikation in der Schweiz vertraut ist. Wenn er bei der Adressierung der Patientin die 2. Person Singular verwendet, korrigiert er sich; unmittelbar danach wählt er, abgesehen von zwei Ausnahmen, die 3. Person Plural. Einmal fehlt die Korrektur, eine zweite Ausnahme findet sich in einer selbst-initiierten Frage mit Anweisungscharakter. In je zwei Fällen spricht er in der 3. Person Singular über die Beraterin beziehungsweise über die Patientin. Die 3. Person Singular, die von der Beraterin verwendet wird ( „ Hat sie Verdauungsprobleme? “ ) wird in der Verdolmetschung zur direkten Anrede in der 3. Person Plural (vgl. Fallbeispiel 2). Eine wichtige Rolle in Fallbeispiel 3 spielen die Sitzposition, die Körperorientierung, die Kopfbewegungen, das Blickverhalten, die Gestik sowie die Backchannel-Signale. Die Sitzposition ist so gewählt, dass die Beraterin einen guten visuellen Kontakt sowohl zur Patientin als auch zum Dolmetscher hat. Die Patientin und die Beraterin sitzen übereck. Für die Patientin ist die Sitzposition ungünstig. Sie muss sich beim Zuhören und bei der Turn-Übernahme entscheiden, wem sie sich zuwenden soll. Sie muss den Kopf und den Oberkörper fallweise in die eine oder andere Richtung drehen. An der Körperorientierung und an den Kopfbewegungen lässt sich ablesen, wen sie anschaut. Vor allem in den emotionsbehafteten Redebeiträgen, in denen sie ihre Ängste formuliert, wendet sie sich an den Dolmetscher, so dass die Interaktion teilweise als Zwiegespräch wirkt. Sie adressiert den Dolmetscher an solchen Stellen direkt: „ Wenn wir jetzt da sind, möchte ich dich etwas fragen “ oder sie bestätigt mit „ weisst du “ , dass sie ihn anspricht. Grundsätzlich fördert die Sitzordnung in Fallbeispiel 3 das direkte Gespräch zwischen der Beraterin und dem Dolmetscher. Die Analyse des Blickverhaltens wird dadurch erschwert, dass die Beraterin und der Dolmetscher aufgrund der Einstellung einer einzigen Kamera lediglich von der Seite gesehen werden können. Wie in den vorausgehenden Fallbeispielen können trotz der zum Teil eingeschränkten Erkennung der Blickkontakte Regularitäten im multimodalen Verhalten der drei Beteiligten aufgezeigt werden: • Die Beraterin wendet sich in erster Linie zum Dolmetscher hin und spricht über die Patientin. Während des ganzen Gesprächs wird aufgrund der Kopfhaltung deutlich, dass sie ihren Blick häufiger auf den Dolmetscher als auf die Patientin richtet. Die Patientin wird dadurch in die Aussenseiterposition gedrängt. Unterstützt wird diese Beobachtung durch die Häufung der 3. Person Singular und das damit verbundene Sprechen über die Patientin. • Sie blickt vor allem dann zur Patientin, wenn sie eine Reaktion von ihr erwartet, zum Beispiel nach einer Frage (Rossano, 2013, p. 317). Besonders deutlich wird diese Funktion des Blickverhaltens in der fünften Sequenz, wenn es für die Beraterin darum geht, mit der Patientin einen Termin auszumachen. Der Sprecherwechsel ist auch in Fallbeispiel 3 mit dem Blickwechsel koordiniert. • Blickabwendungen aus Gründen von anderweitigen Beschäftigungen (Schreibarbeit etc.) unterbleiben weitgehend. Eine Ausnahme ist die Suche nach der richtigen Stelle in den Unterlagen zu Beginn der Beratungssitzung. • Die Patientin muss den Kopf drehen, um ihren Blick auf die Beraterin beziehungsweise auf den Dolmetscher zu richten. 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 195 <?page no="196"?> • Wenn die Beraterin spricht, schaut die Patientin zu ihr oder sie blickt vor sich hin. • Während der Verdolmetschung für die Beraterin schaut sie in der Regel die Beraterin an. Dieses Blickverhalten entspricht der Beobachtung von Bot (2005b, p. 140). • Sie führt ihren Blick zum Dolmetscher zurück, wenn dieser mit der Wiedergabe für sie einsetzt oder schon eingesetzt hat. Der zum Teil verhältnismässig späte Blickwechsel mag damit zusammenhängen, dass die Patientin aus sprachlichen Gründen keinen genauen Anhaltspunkt hat, wann die Beraterin den Turn dem Dolmetscher übergibt. • Zu Beginn ihres Redebeitrags schaut die Patientin tendenziell zunächst vor sich hin, dann zum Dolmetscher (vgl. Weiß & Auer, 2016, p. 133). • Wenn die Patientin ihre emotionalen Anliegen vorbringt, wendet sie sich an den Dolmetscher. Dies trifft vor allem für die zwei längeren Zwiegespräche zu. In diesen zwei Zwiegesprächen fokussiert sie abgesehen von wenigen Blickabwendungen auf ihn, da sie von ihm die Vermittlung ihrer Anliegen erwartet. • Der Dolmetscher blickt jeweils auf die Sprecher: innen. • Während der Wiedergabe für die Beraterin hält er grundsätzlich Blickkontakt mit ihr, führt den Blick jedoch regelmässig zur Patientin zurück. • Wenn die Patientin den Blick nicht rechtzeitig auf ihn zurückführt, lehnt er sich ihr deutlich entgegen, um sich so ihren Blick zu sichern. In den Sequenzen zeigt sich, dass Blickpraktiken mit Gesten zusammenspielen. Deutlich sichtbar wird dieses Zusammenwirken besonders bei Zeigegesten. Die Patientin begleitet ihr Anliegen mit Zeigegesten. Eine Reaktion darauf fehlt jedoch meist. Sogar auf die auffälligen Gesten der Patientin achten weder der Dolmetscher noch die Beraterin. Alle drei Beteiligten reagieren mit unterschiedlichen sprachlichen oder sprachfreien Backchannel-Signalen. Die Beraterin zeigt mit Backchannel-Signalen wie „ mhm “ , „ okay “ oder „ mhm genau “ an, dass sie den Turn übernimmt. Einen Bezug zum vorangegangenen Redebeitrag stellt sie damit nicht her. Die Patientin drückt meist Bestätigung oder Verständnis aus mit „ mhm “ , „ okay “ oder „ Ja “ . Der Dolmetscher lässt die Rückmeldungen ausnahmslos aus. Die Backchannel-Signale des Dolmetschers haben verschiedene Funktionen. Häufungen von Gesprächspartikeln wie „ Ja, okay, okay “ , „ Ja, ja, ja,ja,ja, ja “ dienen der Unterbrechung und vermitteln der Patientin möglicherweise ein Gefühl der fehlenden Akzeptanz ihrer Ängste. Daneben kommen zustimmende Backchannel-Signale vor, wie Nicken als Zeichen des Verstehens oder verbale Rückmeldungen (zum Beispiel „ mhm “ ), mit denen der Dolmetscher der Patientin sein Verständnis anzeigt. Mit seinem Nicken signalisiert er jedoch nicht nur der Patientin, sondern auch der Beraterin sein Verständnis. Seine Signale gehen allerdings nicht immer mit dem tatsächlichen Verstehen einher, sondern zeigen eher seine Loyalität zur Beraterin. Wenn die Beraterin der Patientin zum Beispiel erklärt, dass die Einstichstellen keinen negativen Einfluss auf den Darm haben, nickt er mehrmals bestätigend. Er ergreift damit ihre Partei (vgl. Kap. 3.6.3). Der interlinguale Vergleich zeigt, dass die Kommunikation in vieler Hinsicht fehlschlägt. Eine der wesentlichen Ursachen für die mangelhafte Verständigung sind die Modifikationen des Dolmetschers. Gravierende Mängel entstehen durch Auslassungen. Besonders auffällig 196 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="197"?> ist die Häufung von Auslassungen oder von Relevanzrückstufungen, wenn die Patientin ihre Sorgen und Ängste schildert. Der Dolmetscher vermeidet es, sich auf die emotionale Ebene einzulassen (vgl. Fallbeispiel 2). Mehrfach ausgelassen werden zudem vor allem in Sequenz 3 kohäsive Verknüpfungen, was negative Auswirkungen auf die Verständlichkeit und überdies möglicherweise auf die Einschätzung der kognitiven Fähigkeit der Patientin durch die Beraterin hat (vgl. Fallbeispiel 1). Für die Beraterin ist zumindest nicht erkennbar, dass die Äusserungen der Patientin teilweise differenzierter strukturiert sind als die Verdolmetschung. Die Auslassungen der kohäsiven Verknüpfungen deuten darauf hin, dass der Dolmetscher die von der Patientin geschilderten Sachverhalte und Zusammenhänge nicht erfasst und/ oder nur unvollständig memorieren kann. Bei längeren Beiträgen können Auslassungen ohne Notizennahme die Folge eines ausgelasteten Arbeitsspeichers sein. Unvollständiges Sprechen beobachten auch Sator/ Gülich (2013): „ Nach zu langen Redeeinheiten von P (Patient [Erklärung GH]) oder A (Arzt [Erklärung GH]) dolmetscht die PD (professionelle Dolmetscherin [Erklärung GH]) ebenfalls häufig zusammenfassend [ … ] “ (Sator & Gülich, 2013, p. 183). Zum Teil sind Auslassungen auf Überlappungen zurückzuführen. Der Dolmetscher und die Patientin unterbrechen sich gelegentlich gegenseitig mit überlappendem Sprechen, was den Dolmetscher daran hindert, die Redebeiträge zu hören und anschliessend wiederzugeben (vgl. Pöllabauer, 2015). Die Verantwortung liegt dabei sowohl beim Dolmetscher als auch bei der Patientin. Ausserdem kann das Rollenverständnis des Dolmetschers zu Modifikationen führen. Schon zu Beginn des Gesprächs unterbricht er die Patientin aus eigener Initiative und moderiert das Gespräch nach eigenem Gutdünken. Er hält sich für legitimiert zu entscheiden, welche Beschwerden gedolmetscht werden sollen und welche nicht. Eine andere Stelle enthält den Hinweis des Dolmetschers, „ es “ der Beraterin jetzt zu erzählen (Sequenz 4). Damit verbalisiert er selbst, dass er sich bemächtigt fühlt, aus eigener Initiative zu handeln. Aus diesem „ Versprechen “ lässt sich zudem schliessen, dass er sich seiner reduzierenden Art des Dolmetschens bewusst ist. Das könnte denn auch bedeuten, dass er die emotionalen Anteile zumindest teilweise bewusst auslässt beziehungsweise zurückstuft und die Beraterin im Sinne des recipient design vom emotionalen Teil in den Redebeiträgen der Patientin abkoppelt. Mit seinem Handeln verhält er sich eher zur Beraterin loyal als zur Patientin. Die Auslassungen wie auch die Rückstufungen führen in erster Linie dazu, dass die Patientin die Beraterin mit ihrem Anliegen nicht erreicht, unabhängig davon, ob die Modifikationen des Dolmetschers eher durch seine kognitiven Schwierigkeiten oder durch sein Rollenverständnis ausgelöst werden. Die Hoffnung der Patientin, dass der Dolmetscher sie bei ihrem Anliegen unterstützt, scheitert. Aufgrund der Auslassungen und der Rückstufungen entgehen der Beraterin in erster Linie die mehrmals wiederkehrenden emotionalen Klagen. Davidson (2000) hat anhand seiner Aufzeichnungen von authentischen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen ebenfalls beobachtet, dass mehrmals dieselben Inhalte ausgelassen werden: „ While the interpreters do in fact convey much of what is said, 5.3 Fallbeispiel 3: Beratungsgespräch in der Diabetologie 197 <?page no="198"?> they also interpret selectively, and appear to do so in a patterned (non random) fashion. “ (Davidson, 2000, p. 400) 40 Hätte der Dolmetscher ausgangstextnah gedolmetscht, wäre die Beraterin möglicherweise besser auf die Patientin eingegangen. Sie vertraut dem Dolmetscher und geht fraglos von der verdolmetschten Version aus. Gewisse Problemquellen könnte sie allerdings erkennen, wenn sie dem Dolmetscher gegenüber kritischer wäre: Sie akzeptiert das Verhalten des Dolmetschers ohne nachzufragen, wenn er die Patientin am Sprechen hindert und sein Eingreifen in die Interaktion im Nachhinein metadiskursiv kommentiert ( „ [ … ] ich habe gesagt, das kommt vielleicht später. “ ) Damit „ outet “ er sich gegenüber der Beraterin als gatekeeper, der die Interaktion mitprägt (vgl. Davidson, 2000). Die Beraterin fragt ebenso wenig nach, wenn es zwischen der Patientin und dem Dolmetscher zu Zwiegesprächen auf Albanisch kommt. Auch nicht in Situationen, in denen sich die Patientin ausführlicher äussert als der Dolmetscher. Ausserdem müsste für die Beraterin erkennbar sein, dass die Verdolmetschung an zwei Stellen mit 8 Sekunden beziehungsweise 6 Sekunden deutlich kürzer ist als die originalen Redebeiträge von 26 Sekunden beziehungsweise 20 Sekunden. Für die Beraterin könnte ferner die auffällige Gestik der Patientin ein wahrnehmbarer Hinweis auf Dolmetschprobleme sein, wenn die Patientin mehrfach auf die Einstichstellen an den Armen: „ [ … ] hier, hier, hier [ … ] “ (33) und auf den Bauch zeigt (34). Die Beraterin könnte nachfragen, wenn der Dolmetscher weder die Zeigegesten der Patientin reproduziert noch explizit auf die bezeichneten Körperstellen hinweist. Sie hat den Blick ebenso wie der Dolmetscher auf diese Gesten gerichtet. Da sie nicht nach der Bedeutung des gestischen Verhaltens fragt, bleiben die auffälligen Gesten ungeklärt. Die verschiedenen Beteiligungsformen werden verbal durch die Personalpronomina gekennzeichnet. Allein das Sprechverhalten der Beraterin zeugt von einem wenig sensiblen Umgang mit der Patientin, wenn sie während der Sitzung in der 3. Person Singular über die Patientin spricht. Die Körperorientierung sowie die Augenkommunikation der Beraterin tragen ebenfalls wesentlich zum Ausschluss der Patientin aus der Interaktion bei. Das interaktive Gleichgewicht ist dadurch deutlich gestört. Weitere qualitätshemmende Faktoren, wie überlappendes Reden oder die Unterbrechungen durch die Anrufe für die Beraterin, hängen nur zum Teil oder gar nicht vom Dolmetscher ab. Die Modifikationen des Dolmetschers sind aber doch so entscheidend, dass die Kommunikation zwischen der Beraterin und der Patientin allein aufgrund der Verdolmetschungen als misslungen bezeichnet werden muss. Die Patientin ist gegenüber den Patient: innen, die mit den Expert: innen in der Erstsprache reden können, deutlich im Nachteil. Ihre Anliegen werden nicht aufgenommen, obwohl sie ihre Ängste verbal und mit einer lebhaften Gestik zu wiederholten Malen ins Gespräch einbringt, so dass wie in den Fallbeispielen 1 und 2 gesprächsverlängernde „ Schleifen “ entstehen. Eine gute Beziehung zwischen der Beraterin und der Patientin ist nicht zustande gekommen. Die Weigerung, einen nächsten Termin zu fixieren, hängt wohl auch damit zusammen. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Patientin mit dem Gespräch zufrieden ist. 40 Davidson (2000) schildert, dass ein Patient von ernsthaften Augenproblemen berichtet, die er bereits mehrfach angesprochen hat, aber in der gedolmetschten Version nur ungenügend aufgenommen werden. 198 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="199"?> 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie Das Fallbeispiel 4/ Teil I ist einer Verlaufskontrolle in der Diabetologie entnommen. Die folgenden sechs Sequenzen folgen zum Teil direkt aufeinander, zum Teil sind sie durch unterschiedlich lange Gesprächsabschnitte voneinander getrennt. Die ausgewählten Sequenzen sind in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Die im Folgenden diskutierten Sequenzen umfassen 5: 23 Minuten des Gesprächs. Das die sechs Sequenzen verknüpfende Thema ist die Optimierung der Insulintherapie bei einem an Diabetes Typ 2 erkrankten Patienten. Das aufgezeichnete Gespräch dauert insgesamt 29: 45 Minuten. 41 Situierung des gesamten Gesprächs Die Gesprächsparteien sind eine Ärztin (Ä), die Schweizer Standarddeutsch spricht, und ein türkischer Patient (P). Für die Verständigung ist eine Dolmetscherin (D) hinzugezogen worden. Das 4. Fallbeispiel, Teil I setzt erst nach 16 Minuten ein. In dieser Verlaufskontrolle werden die vom Patienten aufgezeichneten Blutzuckerwerte kontrolliert. Der Patient wird zwar schon länger im Spital behandelt, aber es ist seine erste Konsultation bei dieser Ärztin. In der Eröffnungsphase initiiert sie die Interaktion mit dem Patienten, indem sie ihn fragt, ob er vorher bei Frau X in Behandlung war. Ihr Ziel ist eine möglichst normnahe Blutzuckereinstellung beim Patienten. Sie erklärt ihm die Grundsätze der Therapie, die er bereits von früheren Arztbesuchen kennt. Inhalt der ausgewählten Sequenzen (1 - 6) Der Diabetes-Patient muss seine Blutzuckerwerte regelmässig messen und darauf achten, dass Blutzuckerschwankungen vermieden werden. Das dominante Thema in den Sequenzen 1 - 6 ist das komplexe Zusammenspiel zwischen der Insulindosierung und der Nahrungsmittelaufnahme. Der Patient sollte die folgenden medizinischen Zusammenhänge verstehen: Wenn der Patient beim Essen Insulin spritzt, dann muss er eine hohe Dosis Insulin injizieren, weil der Blutzuckerspiegel während des Essens stark ansteigt und nur mit einer hohen Dosis von Insulin auf einen normalen Wert gesenkt werden kann. Wenn der Patient hingegen zwischen den Mahlzeiten einen hohen Blutzuckerwert misst und Insulin benötigt, dann muss er eine kleinere Dosis Insulin spritzen, um eine Unterzuckerung zu vermeiden. Auswahl der Sequenzen Der Grund für die Auswahl der Sequenzen war die Bedeutung des medizinischen Wissens und der entsprechenden Terminologie für ein fachgerechtes Dolmetschen. 5.4.1 Sequenz 1: „ [ … ] wir müssen die Mitte finden. “ Zu Beginn der Konsultation hat sich die Ärztin kurz vorgestellt (hier nicht abgebildet). Dem bisherigen Gespräch und den vom Patienten aufgezeichneten Blutzuckerwerten entnimmt 41 Im Vorfeld der vorliegenden Untersuchung wurde bereits eine gekürzte Version dieses Kapitels veröffentlicht (Hofer et al., 2015). 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 199 <?page no="200"?> sie, dass die Blutzuckereinstellung nicht optimal verläuft und beim Patienten gelegentlich eine Unterzuckerung auftritt. [195] 361 [16: 06.5] (1) Ä [v] im moMENT ist [196] 362 [16: 11.8] Ä [v] das ZIEL bei Ihnen dass Sie KEIne unterZUCKerungen HABen. D [v] ee ş imdi D [UE] ee im Moment [197] (2) 363 [16: 16.7] Ä [v] das ist das ERSte das D [v] amac ı m ı z diyo önemli olan ş ekerinizin dü ş memesidir diyo. D [UE] ist das Ziel das wichtig ist dass Ihr Zucker nicht fällt sagt sie. [198] 364 [16: 18.1] Ä [v] ist das WICHtigste. D [v] bu birinci amaç önemli olan çok önemli olan. D [UE] Das ist das erste Ziel das wichtig ist das sehr wichtig ist. [199] 365 [16: 21.1] (3) 366 [16: 25.1] Ä [v] und das ZWEIte ist dass der ZUCKer NICHT zu HOCH ist. hm D [v] ikinci D [UE] Unser zweites [200] 367 [16: 29.7] Ä [v] und DANN die D [v] amac ı m ı zda çok önemli olanda fazla yükselmemesidi. D [UE] Ziel das sehr wichtig ist dass er nicht zu hoch steigt. P[nv] ((nickt)) [201] (4) . Ä [v] geNAUere einstellung das kommt dann LANGsam dass mans NOCH BESser [202] Ä [v] machen kann aber am Anfang ist WICHtig KEIne unterZUCKerung und nicht [203] 368 [16: 39.4] (5) Ä [v] GANZ HOHen ZUCKerwert. D [v] ortas ı n ı bulmam ı z laz ı m diyo önemli olan ilk ba ş ta D [UE] Wir müssen die Mitte finden sagt sie am Anfang ist [204] D [v] fazla yükselmemesi ikinciside fazla dü ş memesi diyo ortas ı n ı bulmak laz ı m D [UE] das Wichtigste dass er nicht zu hoch steigt und als zweites dass er nicht zu tief P [nv] ((nickt mehrmals hinteinander)) [205] (6) 369 [16: 43.5] D [v] diyo. D [UE] fällt sagt sie man muss die Mitte finden sagt sie. Tab. 5.4.1-1: Gesprächsausschnitt 1 200 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="201"?> A. Interaktion als koordiniertes Handeln In Sequenz 1 setzt die Ärztin mit der Beschreibung ihrer Behandlungsziele ein. Konkret macht die Ärztin den Patienten auf die Problematik der Schwankungen der Blutzuckerwerte aufmerksam und erklärt ihm die zwei wichtigsten Behandlungsziele, die darin bestehen, Zustände der Unterzuckerung sowie hohe Blutzuckerwerte zu vermeiden: „ Im Moment ist das Ziel, dass Sie keine Unterzuckerung haben. “ (1) Sie wendet sich in der 3. Person Plural direkt an den Patienten und macht durch die Adressierung deutlich, dass der Patient ihr Adressat ist. Mit ihrer Körperorientierung sowie ihrem Blick zeigt sie die Adressierung ebenfalls an. Nach der Verdolmetschung fährt die Ärztin fort: „ Und das zweite ist, dass der Zucker nicht zu hoch ist. “ (3) Im Anschluss daran folgt die Beschreibung der Wirkungsweise von zwei Insulinarten (hier nicht abgebildet), die der Patient in Kombination benötigt. 42 B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Ärztin und der Patient sitzen übereck, die Dolmetscherin ist mit etwas Abstand neben dem Patienten platziert, so dass ein Dreieck entsteht. Der Patient hat zur Ärztin und zur Dolmetscherin einen optimalen visuellen Zugang. Die Ärztin sitzt auf einem Drehstuhl an ihrem Schreibtisch. Für die Interaktion mit dem links von ihr sitzenden Patienten muss sie den Kopf nur leicht drehen. Stärker drehen muss sie den Kopf, wenn sie mit der Dolmetscherin Blickkontakt aufnehmen will, die leicht versetzt hinter ihr sitzt. Die Dolmetscherin hat nur dann visuellen Zugang zur Ärztin, wenn diese sich ihr zuwendet. Da für die Dolmetscherin kein bestimmter Platz vorgesehen ist, hat sie auf der Liege Platz genommen. Für die Redewiedergabe verwendet die Dolmetscherin in der ersten Sequenz das verbum dicendi am Schluss: „ [ … ] das erste, das ist das Ziel, das wichtig ist, dass Ihr Zucker nicht fällt, sagt sie. “ (2) Durch die Redewiedergabemarkierung ( „ sagt sie “ ) macht die Dolmetscherin klar, dass die Ärztin die Urheberin der Äusserung ist. Am Schluss der Sequenz 1 fällt die Wiederholung des verbum dicendi auf (5/ 6). Die Dolmetscherin fügt die Kennzeichnung der Redewiedergabe „ sie sagt “ einmal innerhalb und dreimal am Ende der Äusserung hinzu. Falls das verbum dicendi lediglich der Identifikation der jeweils Sprechenden bestimmt wäre oder auf den Expert: innen-Status hinweisen würde, müsste ein einziger Hinweis wohl ausreichen. Die Redundanz wirkt umständlich. Durch die mehrmalige Verwendung entsteht hier eher der Eindruck einer Unsicherheit, ähnlich wie beim Verzögerungssignal „ ee “ (2) am Anfang der ersten Wiedergabe der Dolmetscherin, das den Charakter einer gefüllten Pause hat (Bot, 2005a, p. 188; 2005b, p. 257; vgl. auch Kap. 3.4.1). Die Dolmetscherin adressiert den Patienten in der 3. Person Plural. Ausnahmen sind Formulierungen mit dem verallgemeinernden „ man “ oder mit dem deiktischen Pronomen „ wir “ , mit dem sie sich als Einheit mit der Ärztin darstellt. Die Ärztin zeigt ein auffälliges Blickverhalten. Sie verharrt mit ihrem Blick meistens beim Patienten, auch wenn gedolmetscht wird. Sowohl Bot (2005b) als auch Vranjes et al. (2018a) beobachten ein solches Verhalten in ihren Untersuchungen. Die Ärztin wendet sich mit dem Oberkörper aber immer auch kurz der Dolmetscherin zu, wie um zu prüfen, ob sie ihren 42 Dieses Fallbeispiel wurde im Laufe des KTI-Projekts diskutiert. Die Erklärungen des Mediziners W. Langewitz waren hilfreich für das Verständnis der medizinischen Zusammenhänge. 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 201 <?page no="202"?> Gedankengängen folgen kann. Dabei dreht sie den Kopf hin und her, da sie den Patienten und die Dolmetscherin nicht gleichzeitig im Blickfeld hat. Sie erscheint während dieses ganzen Gesprächsausschnitts unsicher, welche Länge der Redezüge der Dolmetscherin zugemutet werden können. Sie vergewissert sich mehrmals mit Blicken zur Dolmetscherin, wann sie das Rederecht an die Dolmetscherin abgeben soll, und pausiert während des Sprechens mehrmals. Die häufigen kurzen Unterbrechungen nach einzelnen Teilen der Äusserungen und das damit einhergehende Schweifen des Blicks zur Dolmetscherin verursachen eine fragmentiert wirkende Interaktion. Die Ärztin untermalt die Formulierung des ersten Ziels ( „ keine Unterzuckerung “ ) mit einer Handgeste. Sie pausiert bereits nach dem ersten Satzteil, damit die Dolmetscherin einsetzen kann, senkt die Stimme aber nicht ab und richtet den Blick nach dem Seitenblick auf die Dolmetscherin wieder auf den Patienten. Währenddessen hält sie ihre Hand in der gleichen Position mit der Handinnenfläche nach unten, um das Konzept einer unteren Grenze bildlich darzustellen. Die eingefrorene Gestik macht deutlich, dass sie nach der Verdolmetschung mit ihrem Redebeitrag weiterfahren will. Die Dolmetscherin nutzt die Redepause und gibt diesen ersten Teil der Äusserung wieder. Dabei reproduziert sie die metaphorische Geste (vgl. McNeill, 1992; vgl. auch Kap. 2.3.2) der Ärztin (vgl. Bild 5.4.1 - 1). Bild 5.4.1 - 1: Die Dolmetscherin reproduziert die Geste der Ärztin. Nach der Wiederholung des ersten Satzteils formuliert die Ärztin das zweite Ziel der Vermeidung der zu hohen Blutzuckerte (vgl. Bild 5.4.1 - 2). 202 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="203"?> Bild 5.4.1 - 2: Die Ärztin untermalt die Aufzählung mit dem Daumen und dem Zeigefinger gestisch. Nach Abschluss der Sinneinheit schaut die Ärztin zur Dolmetscherin und deutet als Aufforderung zur Turn-Übernahme mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf sie, eine der seltenen gestischen Turn-Übergaben in diesem Datenmaterial. Die Dolmetscherin stützt das Gedächtnis gestisch, indem sie sich für die Gedächtnisarbeit an der Handgeste der Ärztin orientiert und die beiden Handlungsziele wie die Ärztin mit Daumen und Zeigefinger begleitet. Sie hält die Hände so tief, dass die Zeigegeste mehr ihrer Erinnerung dient als einer Verständnishilfe für den Patienten (vgl. Bild 5.4.1 - 3). Bild 5.4.1 - 3: Die Dolmetscherin reproduziert die Geste des Aufzählens. 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 203 <?page no="204"?> Mit mehrmaligem Nicken bestätigt der Patient, dass er die Ausführungen der Ärztin verstanden hat, teilweise nickt er bereits vor der Verdolmetschung. Er scheint die medizinischen Zusammenhänge zu kennen und etwas Deutsch zu verstehen. Während der ganzen Sequenz hält er seine Hände gefaltet auf dem Schoss vor sich mit der „‚ hands in lap ‘ position “ (vgl. Kap. 3.5.3). Die Dolmetscherin kann in Sequenz 1 nur einen Teil der Inhalte aus dem Gedächtnis wiedergeben. Die Modifikationen in der Verdolmetschung deuten auf ein mangelhaftes Verständnis der Therapiemassnahmen hin. Die Dolmetscherin erfasst zwar die Diskrepanz zwischen den zu niedrigen und den zu hohen Blutzuckerwerten, beschreibt aber mit „ Fallen “ und „ Steigen “ einen Vorgang, während die Ärztin vom Zustand der Unterzuckerung und der zu hohen Blutzuckerwerte spricht. Die Nachzeichnung der therapeutischen Massnahme wird zur ungenauen Äusserung verkürzt: „ wir müssen die Mitte finden [ … ] “ (5/ 6), während die Ärztin in ihrer ausgangssprachlichen Äusserung präzise und in einer an sich auch Laien zugänglichen Sprache beschreibt, dass sie mit einer „ genauere[n] Einstellung “ der Dosis möglichst normnahe Blutzuckerwerte anstrebt (4). 5.4.2 Sequenz 2: „ Novorativ dings, sagt sie. “ Unmittelbar auf Sequenz 1 folgend weist die Ärztin auf die Wirkung des Insulins „ Novorapid “ hin. [205] 370 [16: 49.1] Ä [v] EM das [206] (7) 371 [16: 58.0] Ä [v] NovoRAPid (.) DIESes insuLIN ist ein insuLIN das SCHNELL wirkt. D [v] Novorativ D [UE] Novorativ [207] (8) 372 [16: 59.2] (9) 373 [17: 00.2] (10) D [v] diyo ş ey yok erken ee vucuda da ğı l ı yor etkisini D [UE] dings sagt sie Nein verteilt sich früh im Körper sie könne die P [v] erken dü ş ürüyo P [UE] senkt früh [208] 374 [17: 04.3] (11) 375 [17: 07.6] Ä [v] also nach miNUten bis STUNden. D [v] görebiliyorsunuz. yani dakikadan saatlere D [UE] Wirkung sehen Also es kann von Minuten bis [209] 376 [17: 09.5] 377 [17: 10.1] (12) 378 [17: 13.7] Ä [v] DESwegen GIBT man das zum ESsen. D [v] kadar sürebiliyo. o yüzden bunu D [UE] Stunden dauern Darum würde P [nv] ((nickt)) [210] 379 [17: 16.5] 380 [17: 16.9] (13) (14) Ä [v] weil DANN der zucker STARK ANsteigt. Ä [nv] ((macht mit dem rechten Arm eine Bewegung nach oben)) D [v] yemekle beraber veriyorlarm ış D [UE] sie das mit dem Essen geben P [nv] ((nickt)) 204 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="205"?> [211] 381 [17: 19.5] (15) 382 [17: 22.0] (16) Ä [v] Und Sie SEHen, HIER HAben Sie VIEL MEHR von diesem NOVOrapid Ä [nv] ((deutet auf eine Tabelle mit den Aufzeichnungen der Blutzuckerwerte)) D [v] yükselmesi için D [UE] damit es steigt. [212] 383 [17: 28.3] (17) 384 [17: 30.9] 385 [17: 31.7] 386 [17: 32.5] (18) Ä [v] als hier UNten. D [v] yukars ı ki ee Novor Novorapid yukr ı s ı yukar ı nden ee D [UE] Das ober ist Novor Das ob ober das sei höher P [v] Novorapid [213] 387 [17: 36.2] (19) 388 [17: 37.3] (20) D [v] a ş a ğı dakinden daha yüksekmi ş . das stimmt. D [UE] als ee das untere P [v] mhm do ğ ru do ğ ru bunu biliyorum. P [UE] Mhm richtig richtig das weiss ich. Tab. 5.4.2-2: Gesprächsausschnitt 2 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin erklärt die Wirkungsweise von „ Novorapid “ ( „ [ … ] ein Insulin, das schnell wirkt. “ [7]) Schon der Name des Medikaments deutet auf die rasche ( „ rapide “ ) Wirkung hin. Es folgen bruchstückartig die ergänzenden Erklärungen der Ärztin „ Also nach Minuten bis Stunden “ (11) und „ Deswegen gibt man das zum Essen. “ (12). Schliesslich begründet sie, warum man das Insulin „ Novorapid “ zum Essen gibt: „ Weil dann der Zucker stark ansteigt. “ (13) Sie begleitet diese Äusserung mit einer Bewegung des rechten Arms nach oben, um den Prozess des Steigens abzubilden. Nach den Erklärungen zum Insulin „ Novorapid “ beugt sich die Ärztin über eine Tabelle mit den Blutzuckerwerten des Patienten und deutet mit einem Schreibwerkzeug auf einen bestimmten Wert. Die Werte auf der Tabelle sind vermutlich nur für die Ärztin selbst erkennbar. Weder der Patient noch die Dolmetscherin beugen sich vor, um die Daten auf der Tabelle zu sehen (vgl. Bild 5.4.2 - 4). Bild 5.4.2 - 4: Die Ärztin zeigt auf einen bestimmten Wert. 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 205 <?page no="206"?> Die Ärztin führt aus, dass die Insulinmenge je nach Situation unterschiedlich ist (16). Die Dolmetscherin versteht den Zusammenhang offenbar nicht (18). Voraussetzung für adäquates Dolmetschen ist in jedem Fall das Verstehen (Pöchhacker, 2016, p. 139). Die Situation ist insofern paradox, als dem Patienten die Zusammenhänge klarer sind als der Dolmetscherin: „ mhm, richtig, richtig, das weiss ich. “ (19) Wenn die Dolmetscherin auf Deutsch „ Das stimmt “ (20) einwirft, dolmetscht sie nicht, sondern schliesst selbst-initiiert an die Ausführungen der Ärztin an. Sie blickt in diesem Moment auch zur Ärztin. Der Patient verfolgt die Ausführungen der Ärztin mit zurückgelehnter, unaufmerksam wirkender Haltung, die in Kombination mit dem Kopfnicken den Eindruck erweckt, dass der Patient die Vorgaben der Medikation versteht. Wie in Sequenz 1 hat er die Hände vor dem Körper gefaltet. Die Ärztin scheint die vom Patienten gezeigte Teilnahmslosigkeit nicht zu registrieren. Auch seine Reaktionen ignoriert sie, obwohl sie sich mit mit ihrem Blick und ihrer Körperorientierung häufig dem Patienten zuwendet. Sie reagiert weder auf sein Kopfnicken, mit dem er sein Verständnis anzeigt, noch auf seine Einwürfe. Sie versteht zwar seine Äusserung nicht, wenn er Türkisch spricht, aber sie könnte den Redebeitrag als solchen wahrnehmen und bei der Dolmetscherin nachfragen. Ausserdem könnte sie erkennen, dass der Patient den Namen des Medikaments berichtigt. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Ärztin spricht in kurzen Intervallen, so dass die Interaktion wie in Sequenz 1 staccatohaft wirkt. Die Dolmetscherin setzt jeweils dann ein, wenn die Ärztin pausiert. In der Adressierung des Patienten bleibt die Ärztin bei der 3. Person Plural, die Dolmetscherin verwendet unpersönliche Formulierungen. Bei der Redewiedergabe verwendet die Dolmetscherin zum Teil die direkte Rede, an deren Ende sie kenntlich macht, dass die Ärztin spricht: „ Novorativ, dings sagt sie “ (8). Die Redewiedergabemarkierung mag hier eine Verzögerung oder eine Denkpause als Folge von Verarbeitungsschwierigkeiten signalisieren (vgl. Bot, 2005b). Diese Stelle ist auch aufgrund der gesprächsrelevanten Modifikationen auffällig. Die Dolmetscherin nennt eine falsche Bezeichnung. 43 Sie kann sich den Namen dieses Insulins offensichtlich nicht merken. 44 Sie ersetzt den Namen mit dem Platzhalter „ dings “ (8). Damit zeigt sie dem Patienten ihr Gedächtnisproblem an. Der Patient interveniert und fängt das Zögern der Dolmetscherin auf. Er versteht offenbar, was die Ärztin meint, und gibt, ohne die richtige Bezeichnung des Medikaments zu nennen, den Sinn der Äusserung auf Türkisch wieder. Die Übersetzung ins Deutsche lautet: „ Senkt früh. “ (9) Damit beschreibt er den schnellen Wirkungseintritt des Insulins auf Türkisch, den die Ärztin in der ausgangssprachlichen Äusserung geschildert hat, aber die Dolmetscherin weist den Einwurf des Patienten ebenfalls auf Türkisch zurück ( „ Nein, verteilt sich früh im Körper “ [10]). Dass der Patient ihr Verstehensproblem auffängt, scheint ihr zu widerstreben. Die Dolmetscherin beansprucht den Status einer Expertin. Sie greift zwar auf „ erken “ (auf Deutsch „ früh “ ) aus der auf Türkisch formulierten Erläuterung des Patienten zurück, 43 Aufgrund von Gesprächen mit Dolmetscher: innen finden meist keine vorbereitenden briefings mit Expert: innen statt, in denen die Dolmetscher: innen etwas über die Zusammenhänge erfahren und sich mindestens die Namen von Medikamenten notieren können. 44 Die Technik der Notizennahme hätte der Dolmetscherin helfen können. Wenn sie sich den Namen des Medikaments notiert hätte, könnte sie ihr Gedächtnis entlasten (vgl. Gile, 2009). 206 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="207"?> modifiziert aber die Hauptbotschaft: In der Verdolmetschung ( „ Nein, verteilt sich früh im Körper. “ ) geht es eher um den biochemischen Prozess als um das medizinische Ziel der Behandlung. Sie widerspricht dem Patienten gesichtswahrend lediglich auf Türkisch. Die Ärztin fragt nicht nach, worum es in diesem Austausch geht (vgl. Teil A). Damit bleibt das Verständnisproblem der Dolmetscherin von der Ärztin unbeachtet. Die Dolmetscherin fügt hinzu: „ [ … ] sie könne die Wirkung sehen “ (10), eine Ergänzung, die weder der ausgangssprachlichen Äusserung über die Wirkungsweise entspricht, noch dem Patienten die Wirkung von „ Novorapid “ verdeutlichen würde, falls er auf die Verdolmetschung angewiesen wäre. Die Formulierung des Patienten ist näher bei der Aussage der Ärztin als diejenige der Dolmetscherin und ausserdem verständlicher. Die entscheidenste Abweichung der Dolmetscherin von der ausgangssprachlichen Version der Ärztin in Sequenz 2 ist die syntaktische Verschiebung in der Begründung. Anstelle der kausalen Konjunktion „ weil “ verwendet sie die finale Konjunktion „ damit “ . Es gelingt der Dolmetscherin nicht, aufgrund des lexikalisch-syntaktischen Verständnisses den Unterschied zwischen Konjunktionen der Kausaliät ( „ weil “ ) und der Finalität ( „ damit “ ) bottom-up nachzuzeichnen (vgl. Kap. 3.2). Sie kann ihre Wiedergabe auch nicht mit einem wissensgeleiteten top-down-Prozess optimieren, weil ihr das entsprechende medizinische Fachwissen fehlt. Infolgedessen kann sie nicht darauf aufbauend inferieren, dass die Menge der Insulindosis mit dem deutlichen Anstieg des Blutzuckerwertes beim Essen zusammenhängt. Die Verdolmetschung verliert an dieser Stelle ausserdem an Genauigkeit, weil die Dolmetscherin das von der Ärztin verwendete Adverb ( “ stark “ [14]) auslässt und statt der Bezeichnung „ Zucker “ das unpersönliche Pronomen „ es “ verwendet (15). Trotz allem ist die Verständigung zwischen Ärztin und Patient gewährleistet, weil der Patient auf seine Erfahrung mit dem Diabetes und auf sein eigenes medizinisches Wissen zurückgreifen kann. Zusätzlich zur Nennung des richtigen Namens des Medikaments (17) zeigen Gesten und Backchannel-Signale das Verständnis des Patienten mehrfach. Beispiele sind sein Nicken (14), der zustimmende Einwurf „ Richtig, richtig, das weiss ich. “ (19) und schliesslich das Backchannel-Signal „ mhm “ (19). Der Patient versteht die Zusammenhänge offensichtlich besser als die Dolmetscherin. Dieser Umstand entgeht der Ärztin jedoch. Der bereits in Sequenz 1 entstandene Eindruck des fehlenden medizinischen Verständnisses der Dolmetscherin bestätigt sich in Sequenz 2. Die Dolmetscherin kann die Erläuterungen der Ärztin nicht angemessen umsetzen. Ähnliche Probleme bei der Umsetzung von medizinischen Anweisungen haben Nicodemus et al. (2014) im Verlauf von simulierten Dolmetsch-Gesprächen mit Gebärdensprachendolmetscher: innen beobachtet (Nicodemus et al., 2014, p. 15). 45 5.4.3 Sequenz 3: „ Tschuldigung, heisst das nicht vor dem Essen essen? “ Eine knappe Minute später wechselt die Ärztin das Thema und spricht über die Insulindosierung zwischen den Mahlzeiten. 45 Die Autorinnen untersuchten in ihrem Forschungsprojekt, wie adäquat Gebärdensprachdolmetscher: innen Anweisungen für die Medikation vermitteln können. 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 207 <?page no="208"?> [217] 394 [17: 58.1] (21) 395 [18: 00.0] 396 [18: 00.9] 397 [18: 01.4] Ä [v] das ist ANdere situaTION. und D [v] oluyorsunuz. ba ş ka bi durum D [UE] Eine andere Situation P [v] mhm [218] (22) 398 [18: 03.6] (23) 399 [18: 05.2] (24) Ä [v] DESwegen ist es VIEL WEniger. weil D [v] o yüzden çok az dü ş ük. D [UE] Darum ist es sehr wenig tief P [v] mhm mhm [219] (25) (26) 401 [18: 08.9] (27) Ä [v] der ZUCKer NICHT noch ANsteigen wird. verSTEHen Sie DAS? P [v] ja ja (.) ja ja [220] 402 [18: 10.6] (28) 403 [18: 12.0] 404 [18: 12.8] (29) D [v] yükselmemesi için. anl ı yormusunuz diyo. D [UE] Damit es nicht steigt. Verstehen Sie fragt sie P [v] natürlich tabi anl ı yorum (xxx) P [UE] Natürlich ich verstehe [221] 405 [18: 13.5] 406 [18: 15.4] (30) 407 [18: 18.1] 408 [18: 18.9] 409 [18: 18.9] Ä [v] es geht NUR DArum D [v] er er verSTEHT weil mit der ANdere arzt hat es auch schon erKLÄRT P [v] ja ja [222] 410 [18: 19.5] Ä [v] das geht NUR DArum dass man das den ZUCKer ein bisschen korrigieren kann. [223] 411 [18: 24.6] 412 [18: 28.0] Ä [v] und wenn Sie SONST D [v] ş ey önemli olan bu ş ekeri kontrol etmektir ordaki (xxx) D [UE] Das was wichtig ist den Zucker zu kontrollieren mit dem [224] (31) Ä [v] IRGENDwann am TAG NICHT VOR dem ESsen den HOhen ZUCKer messen [225] 413 [18: 35.0] 414 [18: 40.0] (32) Ä [v] (-) zum BEIspiel ZWANzig also jetzt NICHT am ersten. D [v] TSCHULdigung heisst [226] 415 [18: 42.0] Ä [v] ja also NICHT jetzt DIEses am MORgen er D [v] das NICHT VOR dem essen essen [227] (33) Ä [v] hat gesagt er SPRITZT manchmal AUCH wenn der ZUCKer einfach zu HOCH [228] 416 [18: 48.3] 417 [18: 48.6] (34) Ä [v] ist weil er zu HOCH ist. das KANN man MAchen ABER dann ist es D [v] ja [229] 418 [18: 54.8] 419 [18: 55.3] (35) Ä [v] WICHtig dass man eine KLEIne DOsis nimmt. weil es IST ja D [v] WEIL hab ich 208 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="209"?> [230] 420 [18: 57.6] 421 [19: 02.7] (36) Ä [v] ALso WENN er ich hab geSEHen er D [v] VORher die FRAge nicht verSTANden. mhm [231] 422 [19: 03.3] Ä [v] misst JA auch SONST zwischendurch mal AUCH mal am MITtag oder so und er [232] Ä [v] sagt wenn der ZUcker dann HOCH ist zum BEIspiel HIER wars am MITtag [233] 424 [19: 10.8] 425 [19: 11.3] Ä [v] SECHzehn dann SPRITZT er etwas weil er zu HOCH ist. dann ist es D [v] mhm P [v] mhm [234] Ä [v] WICHtig dass er NICHT zu VIEL spritzt weil es ist nicht die GLEIche situaTION [235] 426 [19: 17.5] (37) Ä [v] wie am MORgen. D [v] sabahkile ak ş amkine ayn ı olmad ığı için önemli olan bu ak ş am D [UE] Weil der am Morgen und der am Abend nicht gleich ist ist das P [v] [236] 427 [19: 24.4] D [v] üstü fazla i ğ ne vurmaman ı zd ı r. D [UE] Wichtigste dass Sie am Nachmittag nicht zu viel spritzen P [v] mhm zaten o yüzdende P [UE] Mhm darum spritze ich [237] 428 [19: 30.0] D [UE] also darum tut er sowieso P [v] uyurke ak ş am o Novorapidden az vuruyorum. P [UE] vor dem Schlaf am Abend wenig von dem Novorapid [238] 429 [19: 31.5] 430 [19: 33.5] 431 [19: 34.7] (38) Ä [v] das ist geNAU RICHtig und das D [UE] am Abend Novorapid weniger spritzen do ğ rudur bu diyo D [UE] Das ist richtig sagt sie P [v] doktora bana anlatt ı . P [UE] Der Arzt hat es mir erzählt [239] 432 [19: 35.1] 433 [19: 35.3] 434 [19: 36.7] (39) Ä [v] (.) das ist RICHtig D [v] do ğ rudur diyo D [UE] Das ist richtig sagt sie P [v] mhm Tab. 5.4.3-3: Gesprächsausschnitt 3 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Wenn die Blutzuckerwerte während des Tages zwischen den Mahlzeiten hoch sind, muss die Insulindosierung deutlich geringer ausfallen als während einer Mahlzeit. Aufgrund des fehlenden Fachwissens der Dolmetscherin gestaltet sich die Verständigung im Verlauf von Sequenz 3 zusehends schwieriger. 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 209 <?page no="210"?> Den Redebeitrag am Anfang der Sequenz 3 strukturiert die Ärztin durch ein Pronomen ( „ das ist andere Situation “ [21]), durch ein Adverb ( „ deswegen ist es viel weniger “ [22]) und durch eine Konjunktion ( „ [ … ] weil der Zucker nicht noch ansteigen wird “ [25]) [Hervorhebungen GH]. Sie macht in ihren Ausführungen wiederum Pausen nach den einzelnen Äusserungen, wendet sich dann jeweils der Dolmetscherin zu und schaut sie an, so dass die Dolmetscherin mit der Wiedergabe einsetzen und in kurzen Intervallen dolmetschen kann (vgl. die Sequenzen 1 und 2). Im Anschluss an die Erläuterung vergewissert sich die Ärztin, ob der Patient die Wechselwirkung zwischen der Insulindosierung und dem Essen verstanden hat (26). Trotz den syntaktisch unvollständigen Äusserungen und der Fragmentierung der einzeln gedolmetschten Äusserungen zeigt der Patient sein Verstehen an, und zwar auf Deutsch, bevor gedolmetscht wird: „ Ja, ja, ja, ja, natürlich. “ (27) Mit dem code-switching bestätigt er, dass er etwas Deutsch versteht. Meyer (2009) weist darauf hin, dass einige Patient: innen sich im Alltag auf Deutsch durchaus verständigen können, sich aber bei medizinischen Konsultationen unsicher fühlen und lieber Dolmetscher: innen beiziehen. Die Ärztin ignoriert die Rückmeldung des Patienten und richtet sich stattdessen auf die Dolmetscherin aus. Die Dolmetscherin versteht die Erklärungen nicht. Der Patient bringt schliesslich ein, dass er am Abend etwas „ Novorapid “ spritzt, eine Strategie zur Bekämpfung des Diabetes, die von der Ärztin als „ genau richtig “ beurteilt wird (38). Die Interaktion in Sequenz 3 spielt sich fast ausschliesslich zwischen der Ärztin und der Dolmetscherin ab. Der Patient greift vor allem mit Backchannel-Signalen, mit dem einsilbigen „ mhm “ , dem zweisilbigen „ mhm, mhm “ (24) oder auf Deutsch mit „ ja, ja, ja, ja “ , in die Interaktion ein und versucht, die Erklärungsversuche der Ärztin und das Ringen um Verständnis der Dolmetscherin mit seinem Wissen zu beenden. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Dass der Patient in Sequenz 3 weitgehend von der Interaktion ausgeschlossen bleibt, zeigt sich im Adressierungswechsel. Bei der direkten Adressierung des Patienten bleiben zwar sowohl die Dolmetscherin als auch die Ärztin bei der 3. Person Plural. Die Ärztin fragt den Patienten „ Verstehen Sie das? “ (26) Im Zwiegespräch mit der Dolmetscherin verwendet sie aber die 3. Person Singular für den Patienten. Wenn es um eine allgemeine Verhaltensweise geht, wechselt sie anschliessend zu „ man “ : ( „ Das kann man machen “ [34]). Die Redewiedergabe legt die verschiedenen Beteiligungsformen offen. Die Dolmetscherin spricht mit der Ärztin über den Patienten und bleibt im Zwiegespräch mit ihr, um ihre mangelnden Fachkenntnisse zu ergänzen. Gegenüber dem Patienten kennzeichnet die Dolmetscherin mit der Redewiedergabemarkierung in dieser Sequenz zweimal, dass es sich um die Frage der Ärztin und nicht um ihre eigene Frage handelt: „ Verstehen Sie, fragt sie. “ (28) Der Patient beteuert sein Verstehen (29). Die Dolmetscherin macht die Ärztin darauf aufmerksam, dass der Patient das Spritz- Ess-Schema versteht, weil ein anderer Arzt ihm die Zusammenhänge bereits erklärt hat (30). Am Schluss der Sequenz 3 gibt die Dolmetscherin den Kommentar der Ärztin zum richtigen Dosierungsverhalten des Patienten wieder und beendet die direkte Rede mit dem verbum dicendi „ sagen “ (39). Entscheidend in dieser Sequenz sind die divergierenden Wissensvoraussetzungen, die sich bereits in den ersten zwei Sequenzen manifestieren. Nachdem die Ärztin bereits in 210 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="211"?> Sequenz 2 auf den Unterschied zwischen den Dosierungen (mit Essen - ohne Essen) hingewiesen hat, spricht sie nun Situationen an, in denen der Zucker irgendwann am Tag hoch ist (31). Weil die Dolmetscherin die Zusammenhänge nicht erfasst, bittet sie die Ärztin nun in einer selbst-initiierten Frage explizit darum, das Schema der Insulindosierung zu wiederholen: „ Tschuldigung, heisst das nicht vor dem Essen essen? “ (32). Im Anschluss an die Bitte der Dolmetscherin um Erklärung nimmt die Ärztin den Redebeitrag des Patienten auf: „ [ … ] er hat gesagt, er spritzt manchmal auch, wenn der Zucker einfach zu hoch ist, weil er zu hoch ist “ (33). Der Redebeitrag der Ärztin führt nicht zur erhofften Klärung. Die Dolmetscherin erfasst das therapeutische Konzept nach wie vor nicht und fragt noch einmal nach: „ Weil hab ich vorher die Frage nicht verstanden. “ (35) Die Dolmetscherin spricht in eigener Sache und setzt die 1. Person Singular für sich ein. Der unbeholfene Satzbau und der nicht-sinngemässe Bezug auf die Frage derÄrztin - die Ärztin hat gar keine Frage gestellt - verdeutlichen das Verständnisproblem der Dolmetscherin sowie das Ausmass ihrer Hilflosigkeit. Die Ärztin erinnert noch einmal daran, dass der Patient nicht zu viel spritzen soll, ohne genauer auf die Tatsache zu verweisen, dass die kleinere Dosis für den Zeitpunkt zwischen den Mahlzeiten gilt. Sie betont lediglich die Bedeutung der niedrigeren Dosierung ( „ [ … ] dann ist es wichtig, dass er nicht zu viel spritzt [ … ] “ [34]) und als Grund dafür gibt sie die veränderte Situation an ( „ [ … ] weil es ist nicht die gleiche Situation “ [36]) [Hervorhebungen GH]. Mit der Erklärung für die Dolmetscherin schliesst sie den Patienten verbal von der Interaktion aus, hält aber Blickkontakt zu ihm. Ihr Blick schweift zwischen der Dolmetscherin und dem Patienten hin und her. Die Ausführungen der Ärztin sind zwar von einem hohen kommunikativen Aufwand geprägt, aber es gelingt ihr nicht, eine für die Dolmetscherin verständliche Erläuterung zu formulieren. Der Rezeptionsprozess der Dolmetscherin wird abgesehen vom Problem des fehlenden Fachwissens durch eine komplexe Strukturierung des ausgangssprachlichen Redebeitrags erschwert. Die Ärztin schildert zu Beginn die Situation am Morgen, ändert dann aber den Satzbauplan und fährt mit der Wiedergabe einer hier nicht abgebildeten früheren Äusserung des Patienten weiter ( „ [ … ] nicht dieses jetzt am Morgen, er hat gesagt, er spritzt manchmal auch, wenn der Zucker einfach zu hoch ist, weil er zu hoch ist “ [33]). Für die spontane mündliche Kommunikation kein ungewöhnliches Verfahren, aber für die Verstehenskapazität der Dolmetscherin ein zu komplexer Redebeitrag. Zusätzlich entsteht durch den Hinweis der Ärztin auf den Mittag und den Morgen ein Missverständnis über die Bedeutung der Tageszeiten. Die Ärztin nennt die Tageszeiten lediglich als Beispiele. Die Dolmetscherin spricht in der Wiedergabe vom „ Morgen “ , dem „ Abend “ und dem „ Nachmittag “ (37), so als wären es Handlungen zu bestimmten Tageszeiten. Dadurch verschiebt sie den Fokus von der Nahrungsmittelaufnahme auf die Temporalität, was den Ausführungen der Ärztin nicht entspricht. Der Patient interveniert und erklärt, dass er am Abend wenig Novorapid spritzt (38). Diese Intervention des Patienten gibt die Dolmetscherin adäquat wieder und die Ärztin ratifiziert die Verdolmetschung, ohne einzubeziehen (oder zu realisieren? ), dass es der Patient war, der das gegenseitige Verstehen ermöglichte. Der Eindruck, dass der Patient im Gegensatz zur Dolmetscherin das Behandlungskonzept versteht, bestätigt sich auch an dieser Stelle. Wie in Sequenz 2 manifestiert sich die Schwierigkeit der Dolmetscherin, die Komplexität der antidiabetischen Therapie zu verstehen und adäquat ins Deutsche zu übertragen, erneut. Das fehlende Verständnis für die Fachzusammenhänge löst weitere gesprächs- 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 211 <?page no="212"?> relevante Modifikationen aus. Dies vor allem an der Stelle, an der die Dolmetscherin die von der Ärztin verwendete Konjunktion „ weil “ mit „ damit “ wiedergibt. Den kausalen Bezug in der ausgangssprachlichen Äusserung der Ärztin ( „ Weil der Zucker nicht noch ansteigen wird. “ [25]) ersetzt sie durch die finale Konjunktion ( „ Damit es nicht steigt. “ [28]) Die kohäsive Verknüpfung zwischen den einzelnen Äusserungen entspricht lediglich in einem Fall der ausgangssprachlichen Formulierung: „ darum “ (23) für „ deswegen “ [22]. 5.4.4 Sequenz 4: „ [ … ] also er isch do sehr gut begabt. “ Eine knappe Minute später wird die wichtigste Botschaft in diesem Gespräch - hohe Dosen mit Essen und kleine Dosen zwischen den Mahlzeiten - von der Ärztin wiederholt. [251] 456 [20: 29.9] (40) 457 [20: 31.4] D [v] ALso er isch P [v] o konuda uzman olmu ş um art ı k. ((lacht)) P [UE] In dem Thema bin ich Fachmann geworden mittlerweile [252] (41) 458 [20: 33.8] Ä [v] also WICHtig ist EINfach dass Sie verSTEhen Ä [nv] ((zeigt auf die Messwerte, die sie auf dem D [v] do SEHR gut beGABT ((lacht)) [253] (42) (43) 459 [20: 36.4] 460 [20: 39.8] Ä [v] dass DIEse HOhen DOsen MIT ESsen und das OHne essen. Ä [nv] Schreibtisch vor sich liegen hat.)) D [v] önemli D [nv] ((zeigt D [UE] Was P [v] ja ja ja P [nv] ((nickt)) [254] 461 [20: 43.5] 462 [20: 44.4] (44) 463 [20: 45.9] D [v] olan bu yüksek dosisler yemekle birlikte bunuda yemekden yemeden. D [nv] auf die Messwerte)) D [UE] wichtig ist die hohe Dosis mit dem Essen und das das ohne Essen zu essen P [v] mhmhm Tab. 5.4.4-4: Gesprächsausschnitt 4 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Dieser Gesprächsausschnitt setzt mit dem Hinweis des Patienten ein, dass er inzwischen Fachmann geworden ist (40). Die Dolmetscherin spricht von einer Begabung und stuft seine Äusserung durch ihr Lachen herunter (41). Die Ärztin zeigt keine Reaktion auf die phatische Äusserung, sondern schaut auf die Messwerte in den Unterlagen, die sie vor sich hat. Sie deutet mit beiden Händen auf zwei verschiedene Stellen auf der Messtabelle, den linken Zeigefinger legt sie auf die eine Stelle in der Messtabelle und mit dem Schreibwerkzeug in der rechten Hand deutet sie auf die andere Stelle. Der Patient nickt mehrmals, während die Ärztin den Unterschied der Insulindosen während und zwischen den Mahlzeiten noch einmal beschreibt: „ hohe Dosen mit Essen und das ohne Essen “ (42). Obwohl die Äusserung elliptisch ist - zu den „ hohen Dosen “ fehlt das Pendant der „ kleinen Dosen “ - , bestätigt er sein Verständnis wieder auf Deutsch ( „ Ja, ja, ja “ [43]), und nickt gleichzeitig. Er schaut auf die 212 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="213"?> Messdaten, die aus seiner Sicht auf dem Kopf stehen. Die Ärztin schaut zum Patienten, dann zur Dolmetscherin, die zum Dolmetschen ansetzt. Die Dolmetscherin lehnt sich leicht vor und deutet mit dem Zeigefinger ebenfalls in die Richtung der Messwerte (Bild 5.4.4 - 5), allerdings aus einer gewissen Distanz, so dass unklar bleibt, ob sie die Daten erkennen kann. Bild 5.4.4 - 5: Der Patient und die Dolmetscherin schauen gemeinsam auf die Messwerte. Der Patient und die Dolmetscherin orientieren sich an der Tabelle. Die Dolmetscherin deutet bei ihrer Wiedergabe auf die Messwerte hin. Die Ärztin schaut wieder kontrollierend zum Patienten, sie scheint unsicher, ob ihre Ausführungen wirklich verstanden worden sind. Die unvollständige Formulierung der Ärztin ist für die Dolmetscherin erschwerend. Der Ärztin nachsprechend formuliert die Dolmetscherin ebenfalls elliptisch: „ [ … ] die hohe Dosis mit dem Essen und das das ohne essen zu essen. “ (44) Vor allem die Wiederholung am Schluss „ zu essen “ , deutet auf ein Verarbeitungsproblem der Dolmetscherin hin und lässt aufgrund ihrer bisherigen Schwierigkeiten mit dem Fachbezug vermuten, dass sich im Versprecher das mangelnde Verständnis spiegelt. Die elliptische Verdolmetschung ist unverständlich. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen „ Also wichtig ist einfach, dass Sie verstehen [ … ] “ (42). Damit wendet sich die Ärztin dem Patienten zu und adressiert ihn direkt. Die Modifikation in dieser Sequenz besteht zunächst darin, dass die Dolmetscherin die „ Rahmung “ der ärztlichen Anweisung auslässt. Damit fehlt für den Patienten der nachdrückliche Hinweis, dass das Verständnis für seine Gesundheit „ wichtig “ ist. Weiter liegt die Problematik der Wiedergabe für einmal nicht in erster Linie in den Auslassungen, sondern in einer zu grossen Nähe der zielsprachlichen Äusserung zum Ausgangstext, die wohl auf das fehlende fachliche Verständnis zurückzuführen ist. Bereits in der Äusserung der Ärztin fehlt die explizite Beschreibung, dass die kleine Insulindosis 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 213 <?page no="214"?> zwischen den Mahlzeiten verabreicht werden sollte. Bei entsprechendem Fachwissen wäre die Dolmetscherin in der Lage gewesen, die Ellipse aufzulösen und sinngemäss hinzuzufügen, dass „ ohne Essen nur die kleine Dosis “ injiziert werden muss, so wie sie in Sequenz 1 das Wort „ Ziel “ zum besseren Verständnis eingefügt hat. Dass die Auflösung einer Ellipse den Inhalt verdeutlichen kann, beschreibt die Dolmetschwissenschaftlerin Tebble (2009) im Anschluss an kurze Beispiele aus gedolmetschten medizinischen Konsultationen: „ Expressions can be substituted for others with varying degrees of accuracy and when an ellipsis is used by one speaker a full reconstruction might help the meaning not to be lost. “ (Tebble, 2009, p. 215) Mit der entsprechenden Ergänzung hätte der Patient die vollständige Botschaft erhalten. Damit die Dolmetscherin den Zusammenhang adäquat hätte wiedergeben können, hätte sie bereits über das entsprechende Fachwissen verfügen müssen, entweder durch die eigene Vorbereitung oder durch ein Vorgespräch mit der Ärztin. Sie hat den Zusammenhang zwar mehrmals gehört, aber in den Sequenzen 2 - 4 hat sich gezeigt, dass sie das übergeordnete Thema, das Schema der Insulindosierung, im Laufe des Gesprächs nicht erfassen konnte. Da nun der Dolmetscherin für eine adäquate Ergänzung der Ellipse die einschlägigen Kenntnisse fehlen, wäre ihr die Möglichkeit geblieben, das erforderliche Wissen bottom-up zu ergänzen. Voraussetzung für eine solche Kompensationsstrategie ist das Verstehen der lokalen mikrostrukturellen Muster der Konjunktionen ( „ wenn - dann “ [vgl. Sequenz 3]) und/ oder der Adverbialien ( „ [ … ] mit Essen und [ … ] ohne Essen “ [42]) in den ausgangssprachlichen Redebeiträgen der Ärztin. Aus dem mangelnden sprachlogischen Verständnis heraus kann die Dolmetscherin in der knapp bemessenen Zeit lediglich eine annähernd identische Ellipse wiedergeben, wie sie die Ärztin formuliert hat. Es ist eher eine Behaltensleistung als ein Verstehensprozess, wie das auch bei der Wiederholung von monolingualen Texten beobachtet wurde: „ Die mentale Repräsentation der Textoberfläche dient als Grundlage für die Bildung der darauf aufbauenden höheren Repräsentationen. Sie ermöglicht eine wortwörtliche Wiederholung von Textsätzen auch ohne Verstehen. “ (Schnotz, 2006, p. 225) 5.4.5 Sequenz 5: „ Er macht das nach dem Essen [ … ] “ Bereits in den vorausgehenden Sequenzen hat die Ärztin deutlich gemacht, wie wichtig das Verständnis für den Patienten im Hinblick auf den Erfolg der Behandlung ist. Sie befürchtet (zu Recht), dass ihre Ausführungen zu den klinisch relevanten Behandlungszielen nicht verstanden wurden, und formuliert im Abstand von etwa einer Minute das bereits zuvor vermittelte Dosierungsschema. [267] 482 [21: 45.1] (45) Ä [v] mhm also was MIR einfach WICHtig ist dass er [268] 483 [21: 47.7] Ä [v] verSTEHT dass DIEse HOhe DOsis (.) geDACHT ist für MIT dem ESsen (.) Ä [nv] ((zeigt auf die Messwerte)) [269] 484 [21: 52.7] 485 [21: 56.4] (46) Ä [v] und diese KLEIne (.) OHNE ESsen D [v] benim için önemli olan anlamas ı için diyo bu D [nv] ((zeigt mit dem Zeigefinger auf die Messwerte)) D [UE] Was für mich wichtig ist dass er versteht sagt 214 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="215"?> [270] (47) (48) D [v] yemekle birlikte bunu da yemek yemeden önce ölçüyorsunuz yani D [UE] sie ist das ist mit dem Essen und das ist wenn Sie also vor dem Essen messen und [271] (49) 486 [22: 01.2] 487 [22: 04.4] (50) D [v] vuruyorsunuz. D [UE] spritzen. P [v] evet hay ı r hay ı r hay ı r bu ak ş am ölçüyorum ak ş am bu onalt ı yi P [nv] ((zeigt mit dem Zeigefinger auf die Messwerte)) P [UE] Ja nein nein nein das messe ich am Abend wenn ich am Abend [272] 488 [22: 09.5] (51) D [v] i ş te bunu D [nv] ((tippt mit dem D [UE] Also das vor dem P [v] vurunca ha bunuda vuruyorum ikisine beraber. P [UE] sechzehn spritze spritze ich das auch ich spritze das zusammen [273] 489 [22: 11.1] (52) 490 [22: 14.6] (53) D [v] yemekten önce. er macht D [nv] Zeigefinger mehrmals auf die Messwerte)) D [UE] Essen. P [v] yemekten sonra gece ben geliyom gece ölçüyom da (xxx) P [UE] Nach dem Essen ich komme nachts und messe nachts P [nv] ((deutet wieder auf die Tabelle mit den Messwerten)) [274] .. 492 [22: 16.5] (54) 493 [22: 17.4] (55) 494 [22: 18.5] Ä [v] GANZ geNAU das ist NACH D [UE/ v] das nach dem Essen wenn er nach Hause yemekten sonra evet do ğ ru D [UE] Nach dem Essen ja richtig P ((nickt)) [275] (56) 495 [22: 24.1] Ä [v] dem ESsen oder eben OHne essen also nicht ABhängig vom ESsen und DAS ist Ä [nv] ((zeigt wieder auf die [276] 496 [22: 25.6] (57) 497 [22: 27.5] 498 [22: 28.0] (58) 499 [22: 28.5] 500 [22: 29.2] (59) Ä [v] VOR dem ESsen. Ä [nv] Messwerte)) D [v] bu yemekten sonra buda yemekten önce tamam D [nv] ((zeigt auf die Messwerte)) D [UE] Das nach dem Essen und das vor dem Essen okay P [v] tamam tamam P [UE] Okay okay Tab. 5.4.5-5: Gesprächsausschnitt 5 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin betont erneut die Bedeutung des Behandlungsziels: „ [ … ] was mir einfach wichtig ist, dass er versteht, dass diese hohe Dosis gedacht ist für mit dem Essen und diese kleine ohne Essen. “ (45) Diesmal ist die Äusserung in der Ausgangssprache fast vollständig, der Hinweis auf die „ kleine “ ist da, nur die „ Dosis “ muss gedanklich noch ergänzt werden. Für 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 215 <?page no="216"?> den Patienten verwendet die Ärztin die 3. Person Singular. Sie bezieht damit die Dolmetscherin wiederum in die Verantwortung mit ein. Mit dem Einbezug der Dolmetscherin ändert sich auch die Blickrichtung. Die Ärztin richtet den Blick auf die Dolmetscherin und streift den Patienten nur mit zwei kurzen Blicken. Die Blickrichtung weist zusammen mit der 3. Person Singular (für den Patienten) mehrfach auf die Dolmetscherin als Rezipientin (vgl. Goffman, 1979, p. 9). Sie schaut vor allem auf die Tabelle und zeigt mit beiden Händen erneut auf die Messwerte (wie bereits in Bild 5.4.4 - 5). Die Dolmetscherin ersetzt in der Wiedergabe „ ohne Essen “ durch „ vor dem Essen “ (48). Der Patient korrigiert die Wiedergabe der Dolmetscherin. Nachdem der Patient zweimal interveniert, kann die Dolmetscherin den vom Patienten geschilderten Sachverhalt schliesslich nach mehreren Schleifen adäquat wiedergeben. Die Ärztin ratifiziert die Verdolmetschung ( „ Ganz genau “ [54]), ohne auf die Intervention des Patienten zu reagieren. Da das Verständnis für die richtige Dosierung ihr Anliegen ist, paraphrasiert sie das von ihr Gemeinte erneut: „ [ … ] nach dem Essen oder eben ohne Essen, also nicht abhängig vom Essen “ (56). Sie begleitet die Paraphrasen mit verschiedenen Handgesten: Sie setzt mit den beiden Händen Anführungszeichen in die Luft, wenn sie ihre frühere Formulierung „ zitiert “ ( „ eben ohne Essen “ ) und führt schliesslich mit parallel geführten flachen Händen Hin-und-her-Bewegungen aus. Damit untermalt sie bildhaft die Unabhängigkeit von festen Zeiten für die Dosierungen zwischen den Mahlzeiten in den Situationen, in denen der Zucker hoch ist. Schliesslich tippt sie wiederholt mit den Zeigefingern der rechten und der linken Hand auf die vorliegenden Messwerte. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Redewiedergabe zeigt mit dem Wechsel der Pronomina das Ineinandergreifen der Perspektiven: „ Was für mich wichtig ist, dass er versteht, sagt sie, ist das ist mit dem Essen [ … ] [46/ 47] “ „ [ … ] und das ist, wenn Sie also vor dem Essen messen und spritzen “ . (48) Zunächst nimmt die Dolmetscherin die Wortwahl sowie die wechselnde Perspektive der Ärztin ( „ er “ / „ Sie “ ) auf. Durch die Redewiedergabemarkierung ( „ sagt sie “ ) macht sie deutlich, dass die Ärztin die Urheberin des Redebeitrags ist. Durch das verbum dicendi ( „ sagt sie “ ) wird zudem ausgewiesen, dass sich das Personalpronomen „ mich “ auf die Ärztin bezieht und nicht auf die Dolmetscherin. Im Anschluss an die Redewiedergabemarkierung wechselt die Dolmetscherin zur direkten Adressierung ( „ [ … ] wenn Sie also vor dem Essen messen “ [48]) und wendet sich an den Patienten. Wenig später wechselt sie wieder zur 3. Person Singular, wenn sie statt einer detailgetreuen Wiedergabe des patientenseitigen Beitrags die Inhalte der auf Türkisch gesprochenen Episode für die Ärztin zusammenfasst: „ Er macht das nach dem Essen [ … ] “ (53). Diese gedolmetschte Passage illustriert, wie wechselnde Adressierungen in der Wiedergabe nebeneinander stehen können. Der thematisch-inhaltliche Verlauf dieser Episode zeigt, dass die Modifikationen der Dolmetscherin auch in Sequenz 5 weitgehend mit dem für sie schwer zu bewältigenden Fachbezug zusammenhängen. Ausgangspunkt ist die Äusserung der Ärztin: „ Mir ist einfach wichtig ist, dass er versteht, dass diese hohe Dosis gedacht ist für mit dem Essen und diese kleine ohne Essen. “ (45) Die Verdolmetschung kann inhaltlich in zwei Segmente eingeteilt werden. Falls man „ diese hohen Dosen “ aus dem ausgangssprachlichen Redebeitrag der Ärztin in der Verdolmetschung ergänzt, entspricht das erste Segment der Verdolmetschung dem Sinne nach der originalen Äusserung der Ärztin: „ Was für mich wichtig ist, dass er 216 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="217"?> versteht, sagt sie, ist das mit dem Essen [ … ]. “ (47) Der Patient ratifiziert diese Verdolmetschung, er kann das in der Verdolmetschung fehlende Element „ Dosen “ gedanklich ergänzen ( „ Ja “ [49]). Im zweiten Segment weicht die Dolmetscherin von der ausgangssprachlichen Äusserung ab: „ [ … ] und das ist, wenn Sie also vor dem Essen messen und spritzen. “ (48) In der Verdolmetschung rückt der Zeitpunkt der Insulinabgabe in den Vordergrund, was mit der ausgangssprachlichen Äusserung nicht übereinstimmt (vgl. Teil A). Der Patient widerspricht der Dolmetscherin und erklärt ihr, wie er in dieser Situation vorgeht: „ Nein, nein, das mache ich am Abend, wenn ich am Abend 16 spritze [ … ] “ . (50) Die Dolmetscherin bleibt noch einmal bei ihrer Version: „ Also das vor dem Essen [ … ] “ . (51) Sie lehnt sich vor und tippt auf die Tabelle. Sie tippt immer auf den gleichen Messwert, so dass unsicher ist, ob sich für den Patienten daraus ein Informationsgewinn ergibt. Die Ärztin zieht ihre linke Hand weg, um der Dolmetscherin für die Zeigehandlung mehr Raum zu geben. Der Patient widerspricht der Dolmetscherin zum zweiten Mal: „ Nach dem Essen [ … ] “ (52) und erklärt ihr wiederum, wie er vorgeht. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand deutet er wie die Dolmetscherin ebenfalls auf die Messwerte. Die Bewältigungsstrategie der Dolmetscherin besteht nun aus einer unvollständigen tentativen Dolmetschversion: „ Er macht das nach dem Essen, wenn er nach Hause [ … ] “ . (53) Sie lässt unter anderem die Zahl „ 16 “ aus, was darauf hinweist, dass sie die Zahl nicht einordnen kann. Da ihr das entsprechende Fachwissen über die Insulineinheiten fehlt, müsste sie diese Zahl memorieren können (Gile, 2015, p. 136; Mead, 2015a, p. 191; vgl. auch Kap. 3.2). Sie ist aber mit dem Verstehen des Zusammenhangs beschäftigt und kann die Zahl nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Sie unterbricht sich und vergewissert sich mit einer Nachfrage auf Türkisch beim Patienten selbst, ob sie den Zusammenhang richtig wiedergibt „ yemekten sonra evet do ğ ru “ (auf Deutsch „ nach dem Essen, ja richtig “ [55]). Der Patient nickt bestätigend. Im weiteren Verlauf lenkt die Ärztin die Aufmerksamkeit des Patienten und der Dolmetscherin durch die Zeigegeste auf die Tabelle, um das wechselseitige Verstehen interaktiv herzustellen (vgl. Bild 5.4.5 - 6). Bild 5.4.5 - 6: Der Patient und die Dolmetscherin stimmen sich mit ihren Gesten ab. 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 217 <?page no="218"?> Der Patient und die Dolmetscherin deuten beide mehrfach auf die Tabelle mit den Messwerten. Im gemeinsamen Bemühen um das wechselseitige Verstehen haben sie sich mehrmals nach vorne gelehnt, um die Zahlen auf der Messtabelle deutlich zu erkennen, und sie stimmen ihre Gesten interpersonell aufeinander ab (vgl. Clark, 1996; Deppermann & Schmitt, 2007; Stukenbrock, 2018b). Mit der Koordination von Sprache, Geste und Blickverhalten (Streeck, 2016, p. 58) wird versucht, zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen. Ob die Zeigehandlungen zu einem tieferen Verständnis der Dolmetscherin führen, bleibt für die Ärztin ungewiss. Ihr ist lediglich die zusammenfassende Wiedergabe der Dolmetscherin zugänglich, die sie ratifiziert (vgl. Teil A [54]). Sie zweifelt immer noch am Verständnis, möglicherweise weil die Dolmetscherin nur von der Injektion nach dem Essen spricht: „ Nach dem Essen ja richtig. “ (55) Die Ärztin kommt noch einmal auf ihre ursprüngliche Behandlungsanweisung zurück: „ Das ist nach dem Essen oder eben ohne Essen, also nicht abhängig vom Essen, und das ist vor dem Essen. “ (56) Die Paraphrasen mit dem alternativen Relationshinweis „ oder eben “ und dem explikativen Relationshinweis „ also “ der Ärztin bleiben unverdolmetscht. Solche Hinweise gehören zu den komplexen „ nicht-automatischen “ Aufgaben, die eine hohe Verarbeitungskapazität beanspruchen (Gile, 2009, p. 224). Mit dem momentanen Stand ihres medizinischen Hintergrundwissens und in der ihr zur Verfügung stehenden Zeit kann die Dolmetscherin diese komplexen Zusammenhänge nicht verarbeiten. Für den Patienten werden lediglich die deiktischen Pronomina und die temporalen Adverialien (das nach dem Essen “ [57] „ [ … ] und das vor dem Essen [ … ] “ [58]) gedolmetscht, die genaueren Ausführungen der Ärztin lässt die Dolmetscherin aus, so dass wieder nur eine fragmentarische Formulierung zustande kommt. Der Patient quittiert beide Teile der Verdolmetschung mit „ okay “ (59). Der Patient nimmt aktiver am Gespräch teil als zu Beginn des Gesprächs, er zeigt sich auch gestisch lebhafter als in den Sequenzen 1 und 2. 5.4.6 Sequenz 6: „ Ich habe das Gefühl, wir verstehen uns nicht ganz [ … ] “ Die Ärztin hat inzwischen die neuen Laborbefunde erhalten. Diese bestätigen, dass der Patient das Dosierungsschema allem Anschein nach verstanden und sich entsprechend verhalten hat. Gegen Ende der zehn Minuten, die vor allem den Erläuterungen für die Dolmetscherin gewidmet waren, wiederholt die Ärztin die entscheidende Aussage vor der Gesprächsbeendigung ein weiteres Mal. Offenbar ist sie nach wie vor unsicher, ob die Schlüsselbotschaft deutlich geworden ist. Es geht also am Ende des Gesprächs um die Absicherung der Verständigungsarbeit (vgl. Spranz-Fogasy, 2010, p. 44 f.; vgl. auch Kap. 4.3). [306] 559 [24: 55.4] (60) Ä [v] und WICHtig ist für mich EINfach dass Sie wenn Sie der ZUcker HOCH ist [307] 560 [25: 06.7] Ä [v] dass Sie NICHT zu VIEL insuLIN SPRITzen OHne zu ESsen. dass er NICHT zur [308] 561 [25: 08.7] 562 [25: 10.6] Ä [v] UNterZUCKerung KOMMT. P [v] benim için önemli olan diyo D [UE] Das was für mich wichtig ist sagt sie D [v] (-) EE wenn 218 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="219"?> [309] (61) 563 [25: 15.4] Ä [v] ALso er hat ich D [v] zucker zu HOCH ist nicht zVIEL SPRITzen haben Sie gesagt? [310] (62) 564 [25: 20.3] Ä [v] WEISS nicht ich habe das geFÜHL wir verSTEhen uns nicht GANZ em er hat [311] Ä [v] geSAGT er SPRITZT manchmal AUCH wenn der zucker HOCH ist insuLIN [312] 565 [25: 28.1] (63) Ä [v] weil der zucker zu HOCH ist OHne zu ESsen das haben Sie AUCH SO [313] 566 [25: 28.9] 567 [25: 30.4] Ä [v] verSTANden ODER? mhm und ich möchte dass er in DIEsen situaTIOnen D [v] ja geNAU ja [314] Ä [v] NUR die KLEIne DOsis insuLIN SPRITZT und NICHT EINfach IRgend [315] 568 [25: 40.5] (64) Ä [v] ETwas oder da OBEN weil DAS macht UNterzuckerung Ä [nv] ((zeigt auf die Messwerte)) D [v] wenns HOCH ist da [316] 569 [25: 42.3] (65) 570 [25: 44.8] Ä [v] geNAU also wenn er NICHTS daZU ISST. D [v] SOLL er NICHT? yemek yemeden D [UE] Ee wenn Ihr Zucker [317] (66) 571 [25: 47.7] 572 [25: 50.3] Ä [v] dann soll er NUR DIEse Ä [nv] ((zeigt auf die D [v] e ğ er ş ekeriniz yüksekse D [UE] ohne zu essen hoch ist dann soll er nicht viel spritzen. 318] 573 [25: 53.6] Ä [v] dosis hier UNten SPRITzen wenn er EINfach den ZUcker korriGIEren will weil Ä [nv] Messwerte)) [319] 574 [25: 57.2] (67) Ä [v] er zu HOCH ist D [v] ş eker e ğ er yüksekse kore korigiere yapmak istiyosan ı z kontrol D [UE] Wenn der zucker hoch ist Sie ihn korrigieren kontrollieren wollen [320] 575 [26: 02.7] (68) D [v] etmek istiyorsan ı z diyoki fazla i ğ ne vurmay ı n dosisini yükseltmeyin burdaki D [nv] ((zeigt auf die Messwerte)) D [UE] sagt sie spritzen Sie nicht zu viel sagt sie erhöhen Sie nicht die [321] 576 [26: 07.1] D [v] yaz ı lanlar ı ölçüleri burdakilerini yap ı n diyor. D [UE] Dosis machen Sie die Werte die hier geschrieben sind sagt sie P [v] ölçüler ölçüleri P [UE] die werte die werte 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 219 <?page no="220"?> [322] 577 [26: 09.6] 578 [26: 09.7] 579 [26: 10.9] (69) 580 [26: 12.1] 581 [26: 13.1] (70) Ä [v] hat er das verSTANden? haben Sie das D [v] tamam? anlad ı n ı zm ı ? D [UE] Okay Haben Sie verstanden? haben P [v] hm ja ja verstehen [323] 583 [26: 15.0] Ä [v] verSTANden GUT oKAY jetzt habe ich noch eine LETZte FRAge. D [v] anlad ı n ı zm ı ? D [UE] Sie verstanden? Tab. 5.4.6: Gesprächsausschnitt 6 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin betont noch einmal, dass die richtige Dosierung dazu beiträgt, eine Unterzuckerung zu vermeiden (60). Vor allem muss der Patient darauf achten, dass er zwischen den Mahlzeiten eine niedrigere Dosis Insulin spritzt als beim Essen. Bei der Wiedergabe dieser Anweisung fragt die Dolmetscherin erneut nach: „ [ … ] nicht zviel spritzen haben Sie gesagt? “ (61) Die Ärztin setzt zur Antwort an, unterbricht sich aber und äussert ernsthafte Zweifel daran, ob die Therapiemassnahmen verstanden worden sind (vgl. Teil B). An dieser Stelle verharrt sie mit dem Blick bei der Dolmetscherin und deutet dadurch an, dass sie das Verständnisproblem bei der Dolmetscherin ortet. Ohne aber auf eine Antwort zu warten, nimmt sie die Schilderung des Patienten nochmals auf, wonach er Insulin spritzt ohne zu essen, wenn die Blutzuckerwerte zu hoch sind (62). Im Anschluss daran bezieht sie interessanterweise wieder die Dolmetscherin in die Verantwortung mit ein, indem sie sich bei ihr versichert, ob sie die Äusserung des Patienten über die Insulin-Dosierung „ auch so verstanden [habe]? “ (63), obwohl der Patient bereits in den bisherigen Sequenzen deutlich gemacht hat, dass er ihren Ausführungen besser folgen kann als die Dolmetscherin. Im Anschluss daran weist sie darauf hin, dass es in diesen Situationen wichtig sei, nur „ die kleine Dosis “ zu injizieren, da sonst Unterzuckerung drohe. In diesem Redezug richtet sie sich wiederum an die Dolmetscherin, obwohl sie durch die Nachfragen der Dolmetscherin auf deren Verständnislücken aufmerksam gemacht worden ist, und sie spricht weiter zu ihr, was den Patienten erneut von der Interaktion ausschliesst. Nachfrage und Wiederholung der Erklärung, die nicht gedolmetscht werden, dauern fast eine Minute. Immerhin schaut die Ärztin während den Verdolmetschungen jeweils mehrfach von der Dolmetscherin zum Patienten, so dass er über den Blickkontakt an der Interaktion beteiligt bleibt. Am Ende der Sequenz 6 fragt sie erst die Dolmetscherin „ Hat er das verstanden? “ (69) und unmittelbar darauf den Patienten direkt, ob er die Erklärungen verstanden hat. Damit wird er wieder zum direkt Adressierten ( „ Haben Sie das verstanden? “ [70]). Dass die Ärztin sich alternierend an den Patienten und an die Dolmetscherin wendet, ist an der Adressierung ablesbar. Sie adressiert zunächst den Patienten in der 3. Person Plural und ihr Blick ist auf ihn gerichtet. Im weiteren Verlauf wendet sie den Kopf hin und her, bis sie im letzten Teil des ersten Redezugs zur Dolmetscherin schaut, über den Patienten spricht und zur 3. Person Singular wechselt: „ [ … ], dass er nicht zur Unterzuckerung kommt “ (60). Erst am Schluss der Sequenz adressiert sie ihn wieder direkt: Haben Sie das verstanden? “ (70). 220 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="221"?> B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Auch in dieser Sequenz zeigt das Muster der Adressierung, dass die Dolmetscherin sich alternierend an die Ärztin und an den Patienten wendet, zum Teil innerhalb desselben Redezugs. Der Wechsel von der 3. Person Plural zur 3. Person Singular spiegelt sich in ihrem Blickverhalten. Im ersten Teil der Verdolmetschung schaut sie beim Sprechen zum Patienten, im zweiten Teil wendet sie sich der Ärztin zu, um sich bei ihr abzusichern: „ [ … ] dann soll er nicht viel spritzen “ (66). Bei der Redewiedergabe fügt die Dolmetscherin mehrmals das verbum dicendi hinzu und kennzeichnet damit die Ärztin als Urheberin der Äusserung. Im letzten Redezug der Sequenz 6 verwendet die Dolmetscherin die Redemarkierung „ sie sagt “ zweimal am Ende der Sinneinheiten (67). Wie bereits an anderen Stellen beschrieben, kann die wiederholte Redemarkierung als Ausdruck eines Verarbeitungsproblems gesehen werden (vgl. u. a. Bot, 2005a, 2005b). Die Ärztin äussert die Sorge, dass man sich offenbar immer noch nicht richtig versteht: „ Ich habe das Gefühl, wir verstehen uns nicht ganz [ … ] “ (62) und schaut dabei die Dolmetscherin an, als ob sie von der Dolmetscherin eine Erklärung für die mangelhafte Verständigung erwarten würde. Nach der Verzögerungspartikel ( „ em “ ) fährt die Ärztin aber weiter, ohne eine Antwort abzuwarten (vgl. Teil A). Die Frage der Ärztin nach dem Verstehen bleibt unverdolmetscht; auf diese Weise kann die Dolmetscherin ihr Gesicht wahren. Ebenso unverdolmetscht bleibt die daran anschliessende Erklärung derÄrztin (62). Die Dolmetscherin fragt lediglich bei der Ärztin nach: „ Wenn ’ s hoch ist, da soll er nicht? “ (64). Die Ärztin setzt mit der Gesprächspartikel „ genau “ unterstützend ein: „ Genau, also wenn er nichts dazu isst. “ (65) So kann die Dolmetscherin dem Patienten die Anweisung zum ersten Mal innerhalb dieses Gesprächsausschnitts adäquat wiedergeben: „ Wenn der Zucker ohne zu essen hoch ist, dann soll er nicht viel spritzen. “ (66) Diese Wiedergabe stimmt nun, ist aber lückenhaft gegenüber den Ausführungen der Ärztin. Das Verständnis für das Dosierungsschema fehlt der Dolmetscherin nach wie vor. Nach der Paraphrase der Ärztin ( „ Dann soll er nur diese Dosis hier unten spritzen [ … ] “ [67]) folgt wieder eine unvollständige Formulierung: Wenn der Zucker hoch ist, [ … ] spritzen Sie nicht zu viel “ . (68), so dass ungewiss bleibt, ob die Dolmetscherin den Zusammenhang wirklich versteht, weil der Zusatz „ ohne Essen “ ein weiteres Mal fehlt. Der Patient muss die Verstehensleistung weitgehend selbst erbringen. 5.4.7 Zusammenfassung In den sechs ausgewählten Sequenzen des Fallbeispiels 4/ Teil I beschreibt die Ärztin mit einem hohen kommunikativen Aufwand den Zusammenhang zwischen der Nahrungsaufnahme und der Insulindosierung. A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung des Diabetes ist das Verständnis des Patienten für die je nach Situation unterschiedliche Insulindosierung. Die zwei zunächst formulierten Ziele der Insulintherapie - die Vermeidung der Unterzuckerung und der hohen Blutzuckerwerte - basieren auf den folgenden miteinander verbundenen zwei Botschaften: 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 221 <?page no="222"?> Wenn der Patient „ mit dem Essen “ Insulin spritzt, dann muss das Insulin in hohen Dosen verabreicht werden. Wenn der Patient bei hohen Blutzuckerwerten „ ohne Essen “ Insulin spritzt, dann muss das Insulin in niedrigen Dosen verabreicht werden. Die Ärztin wiederholt diese Schlüsselsätze im Lauf der Interaktion zwar mehrere Male, aber die Dolmetscherin bekundet bis zum Schluss der Konsultation Schwierigkeiten, den Fachzusammenhang zu verstehen. Sie macht ihr Verstehensproblem durch Nachfragen deutlich. Die Ärztin reagiert auf das Unverständnis der Dolmetscherin, indem sie sich ihr zuwendet und ihr die Zusammenhänge mehrfach erklärt. An diesem Verhalten ändert sich auch dann nichts, wenn der Patient sein Verstehen verschiedentlich mit Kopfnicken oder zum Teil sogar mit Backchannel-Signalen auf Deutsch deutlich macht. Die Ärztin nimmt diese Hinweise nicht wahr, wie dies auch Ngo-Metzger et al. (2007) für gedolmetschte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche aus der ärztlichen Praxis beschreiben: „ In language-discordant visits, patients were more likely to have their comments ignored by the providers, even in the presence of an interpreter. “ (Ngo-Metzger et al., 2007, p. 113) Selbst wenn sie mit den Laborwerten ein zusätzliches starkes Indiz dafür erhält, dass der Patient das Schema der Medikation verstanden hat, bleibt sie bis zum Schluss der Interaktion dabei, sich auf den Erklärungsbedarf der Dolmetscherin zu konzentrieren. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Charakteristisch für diese Konsultation sind die Zwiegespräche zwischen der Ärztin und der Dolmetscherin, die sich in den sprachlichen Formaten der Redewiedergabe und in den wechselnden Adressierungsformen spiegeln. Die Zwiegespräche führen zum Ausschluss des Patienten aus der Interaktion. Die Formen der Redewiedergabe und der Redewiedergabemarkierung Die Dolmetscherin verwendet verschiedene Formen der Redewiedergabe sowie die Redewiedergabemarkierung. 1. Person Sg. im AT Verwendung der 1. Person Sg. im AT durch den (P) Beibehaltung der 1. Person Sg. durch die (D) im ZT Auslassung/ 3. Person Sg. Fallbeispiel 4/ Teil I 6 - 2/ 4 Tab. 5.4.7-1: Redewiedergabe der Dolmetscherin im ZT Der Patient verwendet in 17 Redezügen 46 sechsmal das Personalpronomen „ ich “ . Die Dolmetscherin verwendet die 1. Person Singular in der Wiedergabe nie. Abgesehen von zwei Auslassungen ersetzt die Dolmetscherin die vom Patienten verwendete 1. Person Singular stets durch die 3. Person Singular. Die eine Auslassung betrifft ein Backchannel- Signal ( „ ich verstehe “ ). An der zweiten Stelle lässt die Dolmetscherin den ganzen Turn aus „ [ … ] das messe ich am Abend, wenn ich sechzehn spritze [ … ] “ . Die Verschiebung der 46 Die sprachlichen Backchannel-Singale ( „ mhm “ ) wurden mitgezählt. 222 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="223"?> 1. Person Singular zur dritten Person Singular erklärt sich durch die vier Gesprächssituationen, in denen die Dolmetscherin mit der Ärztin über den Patienten spricht. Das Personalpronomen „ ich “ im Redebeitrag der Ärztin, in dem die Ärztin ihren Zweifel am wechselseitigen Verstehen ausdrückt ( „ [ … ] ich habe das Gefühl, wir verstehen uns nicht ganz [ … ] “ ) bleibt ebenfalls unverdolmetscht. Auch in zwei weiteren Fällen bleibt das von der Ärztin verwendete Personalpronomen in der 1. Person Singular unverdolmetscht. Redewiedergabemarkierung vorgestellt integriert nachgestellt Fallbeispiel 4/ Teil I - 5 6 Tab. 5.4.7-2: Redewiedergabemarkierung: Häufigkeit und Position In Fallbeispiel 4/ Teil I kommt die Redewiedergabemarkierung wie in den Fallbeispielen 1 und 3 lediglich bei Verdolmetschungen der Redebeiträge der Ärztin vor. Die elf Stellen finden sich entweder in der Mitte des Redebeitrags (integriert) oder am Schluss (nachgestellt). Zweimal werden die Redewiedergabemarkierungen im gleichen Redezug wiederholt. In diesen Fällen rückt die Kennzeichnung der Urheberschaft in den Hintergrund. Die Markierung „ sie sagt “ weist eher auf eine „ Denkpause “ aufgrund von Verarbeitungsschwierigkeiten der Dolmetscherin infolge von mangelndem Fachwissen hin. Die Adressierungsformen der Beteiligten Neben der direkten Adressierung des Patienten verwendet die Ärztin die 3. Person Singular oder unpersönliche Formulierungen, wenn sie mit der Dolmetscherin über den Patienten spricht. Der Patient adressiert weder die Ärztin noch die Dolmetscherin. Die Dolmetscherin verwendet die 3. Person Singular, wenn sie mit der Ärztin über den Patienten spricht. Die Beteiligungsformate drücken den Wechsel in den Gesprächssituationen aus. Adressierung des (P) durch die (Ä) 3. Person Pl. (direkte Adressierung) 3. Person Sg./ unpersönliche Formulierungen mit „ man “ Fallbeispiel 4/ Teil I 8 9/ 4 Tab. 5.4.7-3: Adressierungsformen der Ärztin Die Ärztin spricht den Patienten in 31 Redezügen achtmal direkt in der 3. Person Plural an. In neun Fällen spricht sie mit der Dolmetscherin in der 3. Person Singular über den Patienten. Ausserdem kommen im Gespräch viermal unpersönliche Formulierungen mit „ man “ vor. In den Zwiegesprächen beantwortet die Ärztin die Fragen der Dolmetscherin oder fragt bei der Dolmetscherin nach, ob der Patient das Gesagte verstanden hat. Die Adressierungsformen repräsentieren die verschiedenen Beteiligungsformen. In diesen Adressierungswechseln manifestiert sich die Überlegung der Ärztin, wie sie die Verständigungsprobleme am besten löst. Sie wiederholt jeweils die medizinischen Zusammenhänge und koordiniert sie mit den fragmentarischen Äusserungen der Dolmetscherin, um ein gemeinsames Wissen zu etablieren. Ihr Interaktionsverhalten verdeutlicht, dass sie sich in erster Linie auf das Verständnis der Dolmetscherin verlässt. Am Ende der Sequenz 6 fragt sie die Dolmetscherin: „ Hat er das verstanden? “ Erst hinterher adressiert sie auch den Patienten: „ Haben Sie das verstanden? “ 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 223 <?page no="224"?> Das Alternieren zwischen verschiedenen Formen der Adressierung geschieht zum Teil innerhalb desselben Redebeitrags. Dieser Befund entspricht weitgehend den Beobachtungen in den von Bot (Bot, 2003, 2005a, 2005b) aufgezeichneten authentischen Gesprächen oder auch von Dubslaff/ Martinsen (2005) in simulierten medizinischen Gesprächen (vgl. Kap. 3.4.1). Die Ansicht von Dubslaff/ Martinsen (2005, p. 232), wonach die Adressierungswechsel der Expert: innen in einigen Fällen dem Verhalten der Dolmetscher: innen folgen, bestätigt sich in Fallbeispiel 4/ Teil I hingegen nicht. Der Adressierungswechsel der Ärztin ist situationsabhängig und die Folge von Verstehensproblemen und Unsicherheit über den Einsatz der Dolmetscherin. Die Adressierung der Dolmetscherin ist im Grunde fatal, da der Patient ein detaillierteres Wissen über die Diabetes-Erkrankung hat als die Dolmetscherin. Der regelmässige Blick zum Patienten mildert den Ausschluss des Patienten aus der Interaktion. Adressierung der (D) durch den (P) 2. Person Sg. (du) 3. Person Pl. (Sie) Fallbeispiel 4/ Teil I - - Tab. 5.4.7-4: Adressierungsformen des Patienten In den sechs Sequenzen spricht der Patient weder die Ärztin noch die Dolmetscherin an. Er sitzt während diesem Gespräch zunächst etwas teilnahmslos da, ausser wenn er auf die Messwerte deutet. Später beugt er sich vor und beteiligt sich verbal und gestisch an der Interaktion, vor allem um klarzumachen, welche Dosis er spritzt. Adressierung des (P) durch die (D) 3. Person Pl. (Sie) 3. Person Sg. Fallbeispiel 4/ Teil I 9 6 Tab. 5.4.7-5: Adressierungsformen der Dolmetscherin Charakteristisch für Fallbeispiel 4/ Teil I sind die pronominalen Wechsel von der 3. Person Plural zur 3. Person Singular. Die Dolmetscherin adressiert den Patienten neunmal in der 3. Person Plural. Sechsmal wechselt sie zur 3. Person Singular. Die Adressierungswechsel geben die Beteiligungsformen wieder. Sie richtet sich mit ihrer Adressierung nach ihren kognitiven Einschätzungen, mit wem sie das Verständigungsproblem interaktiv am besten löst. Sie versucht mit Hilfe der Ärztin mit den fachlichen Schwierigkeiten zurechtzukommen. Es kommt sogar vor, dass sie beim Patienten nachfragt, der aus seiner Erfahrung und seinem Wissen heraus die Verdolmetschungen berichtigt. Auch die körperlichen Handlungen verdeutlichen, dass die Dolmetscherin sowohl mit dem Patienten als auch mit der Ärztin alternierend im Gespräch ist. Die Adressierungswechsel sind von entsprechenden Veränderungen der Blickrichtung, der Kopfbewegungen und der Körperorientierung begleitet (vgl. Hartung 2001). Die 1. Person Singular wählt die Dolmetscherin, wenn sie sich mit ihren eigenen Fragen an die Ärztin wendet. Eine wichtige Rolle spielen in Fallbeispiel 4/ Teil I die Sitzposition, das Blickverhalten, die Gestik sowie die Backchannel-Signale. Die Sitzposition ist so gewählt, dass die Ärztin einen guten visuellen Kontakt sowohl zum Patienten als auch zur Dolmetscherin hat, aber sie hat nicht beide gleichzeitig im Blickfeld. Sie muss sich entweder dem Patienten oder der Dolmetscherin zuwenden. Gut sichtbar ist die Verknüpfung des Adressierungswechsels mit der körperlichen Aktivität zum Beispiel 224 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="225"?> am Schluss des Gesprächs, wenn sich die Ärztin bei der Dolmetscherin erkundigt, ob der Patient die Erklärung verstanden habe ( „ Hat er das verstanden? “ ) und sich darauf dem Patienten zuwendet ( „ Haben Sie das verstanden? “ ). Der Patient sitzt der Ärztin übereck gegenüber. Zur Rechten des Patienten sitzt die Dolmetscherin. Die Kamera ist auf die Ärztin fokussiert. Die Augenkommunikation der Ärztin wird für die Analyse gut sichtbar; die Blicke des Patienten und der Dolmetscherin sind von der Seite her nicht immer gut erkennbar. Immerhin ist an einigen Stellen wahrnehmbar, dass der Adressierungswechsel sich im Blickverhalten spiegelt. Wie in den vorausgehenden Fallbeispielen können trotz der zum Teil eingeschränkten Sichtbarkeit der Blickkontakte Regularitäten im multimodalen Verhalten der drei Beteiligten aufgezeigt werden: • Die Ärztin hat beim Sprechen alternierend Blickkontakt mit dem Patienten und der Dolmetscherin. • Während den Verdolmetschungen für den Patienten schaut sie vorwiegend den Patienten an, sucht aber auch beim Zuhören immer wieder den Blickkontakt mit der Dolmetscherin. • Auf die Einwürfe des Patienten reagiert sie mit dem Blick, geht aber verbal nicht darauf ein. • Sie übergibt der Dolmetscherin das Rederecht in der Regel qua Blick. • Der Patient schaut meist zur Ärztin, wenn sie spricht, oder blickt vor sich hin, soweit die Blickrichtung erkennbar ist. • Während der Verdolmetschung schaut er die Dolmetscherin an. Dieses Blickverhalten ist lediglich teilweise wahrnehmbar, weil er die Blickrichtung ohne Kopfbewegung wechseln kann (vgl. die Fallbeispiele 1 und 2). • Die Dolmetscherin blickt jeweils auf die Sprecher: innen. • In den Zwiegesprächen mit der Ärztin fokussiert die Dolmetscherin auf die Ärztin, um sich auf die Erklärungen zu konzentrieren, ohne den Patienten qua Blick einzubeziehen. In Bezug auf die Gesten ist das Nicken des Patienten am auffälligsten. Damit dokumentiert er sein Verstehen. Die Ärztin scheint das Nicken nicht als zustimmendes Signal zu erkennen. Sie konzentriert sich auf die Erklärungen für die Dolmetscherin. Die Ärztin begleitet die relevant gesetzten Erläuterungen mit Handgesten, zum Beispiel in Passagen, in denen von hohen und tiefen Messwerten gesprochen wird. So illustriert sie etwa die unterschiedliche Höhe der Blutzuckerwerte mit den flachen Händen, Handinnenflächen nach unten. Die Dolmetscherin reproduziert solche metaphorischen Gesten der Ärztin teilweise. Diese bildhafte Darstellung der hohen beziehungsweise der niedrigen Blutzuckerwerte übernimmt sie zum Beispiel. Abgesehen davon gestikuliert sie unabhängig von den Gesten der Ärztin (vgl. Adam & Castro, 2013). Eine besondere Rolle spielt die durch Zeigegesten und Blicke hergestellte interpersonelle Koordination, mit denen die drei Beteiligten sich an den Messwerten zu orientieren suchen, um den Verstehensprozess zu erleichtern (vgl. Bild 5.4.5 - 6). Der Patient versteht die Zusammenhänge, er bekundet es mit seinem verbalen Rückmeldeverhalten. Von den 17 Redezügen des Patienten bestehen zehn aus Backchannel- Signalen wie das ein- oder zweisilbige „ mhm “ „ mhmhm “ , „ ja, ja, ja “ oder „ okay “ . Auf diese Backchannel-Signale in Form von Zustimmungen wie „ mhm “ , „ ja, ja, ja, ja, natürlich “ oder 5.4 Fallbeispiel 4/ Teil I: Konsultation in der Diabetologie 225 <?page no="226"?> „ ich verstehe “ sowie auf das Nicken reagiert die Ärztin zwar mit ihrem Blick, aber ohne sich verbal dazu zu äussern. Die erklärenden Kommentare des Patienten sind auf Türkisch formuliert; sie sind deshalb für die Ärztin unverständlich. Die divergierenden Wissensvoraussetzungen verhindern das wechselseitige Verstehen bis zum Ende der Sequenz 6 trotz allen kommunikativen Bemühungen und trotz den beiden längeren Zwiegesprächen, die 35 beziehungsweise 30 Sekunden dauern. Es gelingt der Dolmetscherin nicht, die Gegensätzlichkeit in den Präpositionalgefügen „ mit Essen “ und „ ohne Essen “ in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen (vgl. Hofer et al. 2013b). Das entsprechende medizinische Wissen, mit dem sie ihre Lücken in einem top-down-Prozess hätte schliessen können, fehlt ihr. Sie kann die Inhalte auch nicht anhand von linguistischen Oberflächenphänomenen wie Pronominalisierungen, deiktischen Texthinweisen und anhand der konjunktionalen Verknüpfung ( „ wenn - dann “ ) in einem bottom-up-Prozess in der Zielsprache rekonstruieren. Schliesslich gelingt es der Dolmetscherin mit den unterstützenden Formulierungen der Ärztin und des Patienten, die Bedingung-Folge-Beziehung innerhalb von etwa 10 Minuten ansatzweise zu dolmetschen. Die Verdolmetschung der entscheidenden Redebeiträge bleibt jedoch bruchstückartig. Die kognitiven Probleme und das Wissensdefizit der Dolmetscherin sind mehrfach dokumentiert. Die fehlenden Wissensvoraussetzungen sowie die mangelnde analytische Kompetenz sind zweifellos entscheidend für das Misslingen der Kommunikation sowie für die Verlängerung der Konsultation. Für die missglückte Herstellung des Sinnbezugs ist die Dolmetscherin jedoch nicht alleine verantwortlich. Die Ärztin trägt mit ihrem Verhalten auf verschiedene Art und Weise dazu bei: Zum Teil sind ihre Formulierungen für die Dolmetscherin nur schon aus sprachlichen Gründen schwer verständlich, was das Problem des fehlenden medizinischen Wissens der Dolmetscherin noch verschärft. So formuliert die Ärztin in Sequenz 6 folgendes komplexe Satzgefüge: „ [ … ] er hat gesagt, er spritzt manchmal auch, wenn der Zucker hoch ist, weil der Zucker hoch ist, ohne zu essen [ … ] “ (60). Dass die Dolmetscherin den Zusammenhang in diesem komplexen Satzgefüge mit vier Nebensätzen hintereinander verstanden hat, kann als eher unwahrscheinlich gelten. Im Anschluss daran formuliert sie fragmentarisch: „ Wenn ’ s hoch ist, dann soll er nicht [ … ] “ (64). Die Inhalte wären für die Dolmetscherin besser verständlich gewesen, wenn die Ärztin Ellipsen, deiktische Marker und pronominale Substitutionen ausformuliert hätte. Ferner sind ihre Zeigehandlungen insofern von unsicherem Wert, als das Zeigeziel, die Tabelle mit den Messwerten, von der Dolmetscherin aufgrund ihrer Sitzposition vermutlich nur teilweise wahrnehmbar ist. Die Ärztin hätte sich ausserdem im Gespräch mehr auf den Patienten einstellen und bei ihm nachfragen können, statt der Dolmetscherin zu vertrauen, umso mehr als sie am gegenseitigen Verstehen zweifelt und dies auch formuliert. Trotzdem bleibt sie bei ihrer Strategie. Sie wiederholt die medizinischen Zusammenhänge, die sie mit den fragmentarischen Äusserungen der Dolmetscherin koordiniert. Ihre Entscheidung, die Dolmetscherin anstelle des Patienten in die Verantwortung einzubeziehen, bringt sie ihrem Gesprächsziel nicht näher. Die Situation ist in diesem Fallbeispiel besonders verfahren, weil der Patient im Gegensatz zur Dolmetscherin über einschlägiges Wissen verfügt. Die Ärztin lässt die Reaktionen des Patienten ausser Acht und versäumt es, auf seine Backchannel-Signale zu 226 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="227"?> reagieren, selbst dann, wenn er auf Deutsch deutlich macht, dass er die Therapiemassnahmen versteht. Sie unterlässt es zudem, nach dem Inhalt zu fragen, wenn ein Zwiegespräch auf Türkisch zwischen dem Patienten und der Dolmetscherin stattfindet. Damit entzieht sich ihr, was die Dolmetscherin dem Patienten wiedergibt und welche Anteile von ihren beziehungsweise seinen Äusserungen unverdolmetscht bleiben. Mit einer Nachfrage hätten die „ Wissensverhältnisse “ an mehreren Stellen offengelegt werden können. Auf die Bedeutung von Nachfragen in gedolmetschten Gesprächen weisen zum Beispiel Nicodemus et al. (2014) hin: Ein Kontrollmechanismus wie ( „ [ … ] checking with patients for understanding [ … ] “ ) (Nicodemus et al., 2014, p. 3) könnte die Verständigung verbessern. Die Kommunikation in Schleifen hemmt zwar die Verständigung in dieser Konsultation, aber letztlich verhindert der Patient mit seinem Wissen und mit seiner Krankheitserfahrung, dass die Kommunikation scheitert. Er greift verschiedentlich korrigierend ein. Trotzdem beeinträchtigt die Fokussierung der Ärztin auf die Dolmetscherin die Beziehung zum Patienten. Der Patient erhält durch die Verdolmetschung weniger präzise Informationen und seine Verstehensleistung muss grösser sein, als dies bei Patient: innen der Fall ist, die in ihrer Erstsprache mit den Expert: innen sprechen können (vgl. Menz, 2013b, p. 348). 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie Das folgende Fallbeispiel enthält die Gesprächsbeendigung der Diabetes-Konsultation, aus der bereits für Teil I ein Ausschnitt ausgewählt wurde. Die folgenden vier Sequenzen am Ende der Konsultation schliessen nahtlos aneinander an, sie umfassen 2: 02 Minuten des Gesprächs. Das aufgezeichnete Gespräch dauert insgesamt 29: 45 Minuten. Situierung des gesamten Gesprächs Die Gesprächsparteien sind eine Schweizer Ärztin (Ä), die Schweizer Standarddeutsch spricht, und ein türkischer Patient (P). Für die Verständigung wird eine Dolmetscherin (D) hinzugezogen. Die Ärztin bespricht mit dem Patienten das grundlegende Dosierungsschema und die Wirkungsmechanismen der für die Behandlung vorgesehenen Insuline (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I.) Inhalt der ausgewählten Sequenzen (1 - 4) Die Ärztin gibt dem Patienten die Möglichkeit, eine abschliessende Frage zu stellen und er greift mit dem Thema „ Schmerzen “ ein Anliegen auf, das er während des ganzen Gesprächs nicht einbringen konnte (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). Auswahl der Sequenzen Der Grund für die Auswahl der folgenden Sequenzen waren die Themen „ Schmerz “ und „ Emotionen “ . Erst in der Phase der Gesprächsbeendigung kann der Patient sein Anliegen vorbringen. Erfolgreich ist er damit jedoch nicht. Die Dolmetscherin stuft die Dringlichkeit der Schmerzen herunter und verfälscht eine bedeutsame Präposition. Die inadäquate Verdolmetschung mag dazu beitragen, dass die Ärztin das Thema „ Schmerz “ vermeidet und die Konsultation abschliesst. 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 227 <?page no="228"?> 5.5.1 Sequenz 1: „ Also er hat so ne kleine Probleme [ … ] “ Gut eine Minute vor Sequenz 1 hat die Ärztin mit der Ankündigung „ Jetzt habe ich noch eine letzte Frage “ bereits auf die Beendigung des Gesprächs hingewiesen (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). [343] 626 [27: 37.7] (1) 627 [27: 39.5] (2) Ä [v] haben SIE noch eine FRAge? D [v] sormak istedi ğ iniz bir ş ey varm ı ? D [UE] Gibt es etwas das Sie fragen möchten P [v] hay ı r P [UE] Nein (.) [344] (3) 629 [27: 44.9] (4) P [v] sormak istedi ğ im ne olur bu a ğ r ı ar ı soracam diyecek ş eker hastal ığı ndan P [UE] was gibt es was ich fragen wollte ich frage wegen diesen Schmerzen aber sie wird [345] (5) 630 [27: 50.7] (6) 631 [27: 53.9] Ä [v] mhm D [v] also er het so ne KLEIne ProbBLEme P [v] ötürü (xxx) P [UE] sagen wegen der Zuckerkrankheit [346] 632 [27: 54.5] (7) D [v] und EE denn würd sie sagen es ist wegem ZUCker aber frägt den ANderen ARZT [347] (8) 633 [28: 01.0] D [v] wo das opeRIERT het. Tab. 5.5.1-1: Gesprächsausschnitt 1 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin stellt die Frage, mit der sie die Gesprächsbeendigung ankündigt: „ Haben Sie noch eine Frage? “ (1) Mit dem Adverb „ noch “ signalisiert die Ärztin ihren Willen, das Gespräch zu beendigen. Sie adressiert den Patienten in der 3. Person Plural, ohne in seine Richtung zu schauen. Sie vertieft sich in ihre Schreibarbeit. Der Patient spricht nach einer kurzen Sprechpause über sein Anliegen: „ [ … ] ich frage wegen diesen Schmerzen “ (4). Mit seinem Blick adressiert er die Dolmetscherin. Die Ärztin bleibt ihrer Schreibarbeit zugewandt. Der Patient antwortet auf die abschliessende Frage der Ärztin, deutet mit dem rechten Unterarm auf sie, ohne seiner Geste mit dem Blick zu folgen. Die Ärztin wendet sich ab und widmet sich während der Verdolmetschung ihrer Schreibarbeit. Die Zeigegeste des Patienten hätte die Ärztin darauf hinweisen können, dass er sich auf sie bezieht, sie entgeht ihr aber. Die Dolmetscherin richtet ihren Blick bei der Wiedergabe auf die Ärztin, die ihr zunächst den Rücken zuwendet. Beim Wort „ Problem “ (6) wird die Ärztin aufmerksam, hebt den Kopf und wendet sich erst der Dolmetscherin, dann dem Patienten kurz zu, widmet sich aber gleich wieder der Schreibarbeit (vgl. Bild 5.5.1 - 1). 228 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="229"?> Bild 5.5.1 - 1: Der Patient wendet sich an die Dolmetscherin und deutet mit dem Heft, das er in der Hand hält, auf die Ärztin. Die Dolmetscherin führt anstelle der Reproduktion der Zeigegeste des Patienten eine eher unauffällige greifende Bewegung mit der linken Hand aus (vgl. Bild 5.5.1 - 2), eine so genannte Butterworth-Geste, mit der sie die Umsetzung des ausgangssprachlichen Redebeitrags ins Deutsche unterstützt (vgl. Adam & Castro, 2013, p. 72; Butterworth & Hadar, 1989, p. 173; McNeill, 1992, p. 77). Bild 5.5.1 - 2: Die Butterworth-Geste kann bei der Dolmetscherin als eher unscheinbare Greifbewegung beobachtet werden. 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 229 <?page no="230"?> B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Dolmetscherin gibt die Frage der Ärztin, mit der sie das Ende des Gesprächs ankündigt, im Wesentlichen adäquat wieder „ Gibt es etwas, das Sie fragen möchten? “ (2) Es fehlt allerdings das Signal für die Gesprächsbeendigung, das Adverb „ noch “ (vgl. Teil A). Die Frage der Dolmetscherin ist mit der inhaltlich unerheblichen Expansion weniger prägnant oder „ ökonomisch “ als die ausgangssprachliche Äusserung, aber auf die Verständlichkeit hat die etwas umständliche Wiedergabe keinen Einfluss. Bei seiner Antwort richtet der Patient den Blick auf die Dolmetscherin. Nach einem ablehnenden „ Nein “ , nach dem er kurz ins Stocken kommt, einem Blick an die Decke und anschliessend zum Boden, einem fast nur angedeuteten Kopfschütteln geht er doch noch auf die Frage der Ärztin ein. Seine Antwort kann als aus drei Teilen bestehend gesehen werden. Mit dem ersten Teil bringt er nach dem ersten „ Nein “ sein Zögern zum Ausdruck ( „ Was gibt es, was ich fragen wollte “ [3]), im zweiten Teil nennt er sein Anliegen ( „ diese Schmerzen “ [4]) und im dritten Teil nimmt er die Reaktion der Ärztin vorweg ( „ [ … ] aber sie wird sagen, wegen der Zuckerkrankheit “ [5]). Mit der 3. Person Singular verweist er auf die Ärztin. Auch mit der Zeigegeste in die Richtung der Ärztin deutet er an, dass er über sie spricht (vgl. Bild 5.5.1 - 1). Mit seiner Formulierung zeigt er sich wenig überzeugt davon, dass er von derÄrztin zu seinem am Ende der Konsultation vorgebrachten Anliegen neue Informationen erhält. Er geht offenbar davon aus, dass die Ärztin die Schmerzen lediglich seiner Zuckerkrankheit zuschreibt, ohne genauer darauf einzugehen. Sein der Ärztin gegenüber negativer Redebeitrag animiert die Dolmetscherin zu einer über die reine Verdolmetschung hinausgehende aktivere Rolle. Sein Blick bleibt während des ganzen Redezugs auf die Dolmetscherin gerichtet, auch dann, wenn er auf die Ärztin deutet (vgl. Teil A). Die Dolmetscherin greift mit ihren Modifikationen deutlich in den Redebeitrag des Patienten ein. Den ersten Teil der ausgangssprachlichen Äusserung - das Zögern des Patienten ( „ Was gibt es, was ich fragen wollte? “ [3]) - lässt sie aus. Bedeutsamer als die Auslassung ist die Modifikation im ersten Teil der Verdolmetschung. Die Dolmetscherin spricht statt von Schmerzen von kleinen Problemen. Der zweite Teil der Verdolmetschung ( „ [ … ] und ee denn würd sie sagen, es ist wegem Zucker. “ [7]) entspricht dem dritten Teil der ausgangssprachlichen Äusserung grundsätzlich schon ( „ [ … ] aber sie wird sagen, wegen der Zuckerkrankheit “ [5]). In der Verdolmetschung fehlt jedoch die Konjunktion „ aber “ . Der mit „ aber “ eingeleitete Einwand im ausgangssprachlichen Redebeitrag des Patienten über die Reaktion der Ärztin ist leichter verständlich als die Verdolmetschung, in der die Konjunktion „ aber “ fehlt ( „ [ … ] und ee denn würd sie sagen [ … ] “ [7]). Statt mit „ aber “ fährt die Dolmetscherin nach dem Hinweis auf die kleinen Probleme mit „ und ee denn “ weiter. Dadurch werden ein zeitliches Aufeinanderfolgen und eine Weiterführung des bisherigen Gedankengangs suggeriert. Im Anschluss an „ und ee denn “ folgt nun statt des Bezugs auf den Patienten das weibliche Personalpronomen, mit dem sich die Dolmetscherin auf die Ärztin bezieht. Ob die Ärztin die unvermittelte Verwendung der 3. Person Singular ( „ sie “ ) auf sich bezieht, ist fraglich. Sie reagiert jedenfalls nicht darauf. Zum Schluss fügt die Dolmetscherin aus eigener Initiative eine zusätzliche Information hinzu: „ aber frägt [sic] den anderen Arzt, wo das operiert het. “ (8) Der Hintergrund der Operation bleibt ungeklärt. Diese Hinzufügung steht in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der ausgangssprachlichen Äusserung des Patienten. 230 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="231"?> Die Verdolmetschung büsst gegenüber der originalen Äusserung an Verständlichkeit ein. Das kann die Ärztin aber nicht erkennen. Es stellt sich die Frage, wem die Ärztin die inkohärente Äusserung wohl zuschreibt. Wenn die Ärztin die Verdolmetschungen als 1: 1- Entsprechung der Formulierungen des Patienten versteht, wird der negative Eindruck kaum auf die Verarbeitung der Dolmetscherin bezogen, sondern sie sieht die Ursache der eingeschränkten Verständlichkeit vermutlich in den mangelnden kognitiven Fähigkeiten des Patienten. Eine ähnliche Problematik wurde bereits bei Auslassungen und bei der Verschiebung von kohäsiven Elementen beschrieben (vgl. insbesondere die Fallbeispiele 1 und 4/ Teil I). Die formale Uneinheitlichkeit der Redewiedergabe wirkt sich ebenfalls negativ auf die Verständlichkeit aus. Die Dolmetscherin adressiert den Patienten zunächst in der 3. Person Plural, wie die Ärztin es getan hat. Nach der einleitenden Frage in der 3. Person Plural spricht die Dolmetscherin in der 3. Person Singular über den Patienten. Unmittelbar darauf schliesst sie mit dem „ würde-Konjunktiv “ an und dolmetscht, was der Patient über die Ärztin sagt: „ [ … ] und ee denn würd sie sagen, es ist wegem Zucker “ (7). Im letzten Teil der Äusserung wechselt sie in den Indikativ zurück und fügt zum Schluss eine selbst-initiierte Äusserung an: „ [ … ] frägt den anderen Arzt “ (8). Für die Dolmetscherin ist die vom Patienten qua Blickkontakt an sie gerichtete Äusserung vor allem aus zwei Gründen anspruchsvoll. Der erste Grund liegt in der Verwendung des Pronomens „ sie “ , wenn der Patient unvermittelt in der 3. Person Singular über die Ärztin spricht. Der zweite Grund für die herausfordernde Umsetzung in die Zielsprache ist inhaltlicher Natur. Der Patient deutet mit dem Hinweis auf die von ihm vermutete Reaktion der Ärztin an, dass sich die Ärztin nicht auf seine Schmerzen einlassen will. Die Verdolmetschung dieser Vermutung könnte für die Ärztin gesichtsbedrohend sein. Wenn sich die Dolmetscherin als Beteiligte sieht und womöglich von der Ärztin als solche gesehen wird, ist sie für den Inhalt der Wiedergabe (mit-)verantwortlich. Damit sie der Ärztin den Vorwurf ersparen kann, die Schmerzen des Patienten nicht ernst genug zu nehmen, wählt sie im Sinne des recipient design eine ausgangstextferne Formulierung: „ also er hat so ne kleine Probleme “ (6). Dieses Beispiel illustriert das Konzept des recipient design besonders deutlich: Die Dolmetscherin sucht aufgrund ihrer eigenen Einschätzung eine für die Ärztin akzeptable Formulierung, indem sie die vom Patienten relevant gesetzten Schmerzen in den Füssen zu einem „ kleinen Problem “ herunterstuft. Damit passt die Dolmetscherin den Redebeitrag des Patienten der von ihr vermuteten Erwartungshaltung der Ärztin an und suggeriert ihr, dass das Anliegen des Patienten nichts Ernstes ist, dem nachgegangen werden muss. So entschärft die Dolmetscherin den Redebeitrag des Patienten, möglicherweise in der Absicht, eine für die Ärztin gesichtswahrende Formulierung aus Gründen der Höflichkeit und der Rücksichtsnahme zu präsentieren und einen Konflikt zwischen der Ärztin und dem Patienten zu vermeiden, wie dies Brown/ Levinson (1978/ 1987) im Sinne einer positiven Beziehungsgestaltung schildern (Brown & Levinson, 1978/ 1987, p. 113 f.). Allenfalls schützt die Dolmetscherin mit ihrem Vorgehen den Patienten (und/ oder sich selbst als Überbringerin? ) vor dem möglichen Unwillen der Ärztin. Mit ihrer Version fungiert die Dolmetscherin nicht nur als Dolmetscherin, sondern als Beteiligte der Interaktion, die ihre eigenen Interessen verfolgt. In der Folge fügt die Dolmetscherin von sich aus hinzu „ [ … ] aber frägt den anderen Arzt, wo das operiert het. “ (8) Mit dem Hinweis auf den „ anderen Arzt “ könnte die Dolmetscherin ebenfalls danach 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 231 <?page no="232"?> streben, die Weiterverfolgung dieses Themas aus diesem Gespräch „ auszulagern “ . Schliesslich könnte ein weiterer Grund für die Modifikation der patientenseitigen Äusserung sein, dass die Dolmetscherin eine Wiedereröffnung des Gesprächs als wenig sinnvoll einstuft und im Hinblick auf das Zeitbudget der Ärztin vermeiden will (by the way syndrome, vgl. Kap. 2.4). Dies im Sinne Davidsons (2002), der gatekeeping als eine der wesentlichen Verhaltensweisen von Dolmetscher: innen beschreibt ( „ to keep the medical interview on track “ (Davidson, 2002, p. 1295). Für den Patienten ist sein Anliegen gleichwohl wichtig. Aus der Perspektive der Patient: innen schreibt Spranz-Fogasy (2010): „ Frühere Untersuchungen zeigten, dass Patienten relativ häufig die Gesprächsbeendigung als ‚ letzte Chance ‘ wahrnehmen, um bisher noch nicht angesprochene Anliegen und Fragen einzubringen. Dies erzeugt Probleme im Zeitmanagement des Arztes und meist Unzufriedenheit mit dem Gesprächsverlauf auf beiden Seiten [ … ]. “ (Spranz-Fogasy, 2010, p. 45) Besonders gravierend ist die fehlende Verdolmetschung des eigentlichen Anliegens des Patienten, nämlich seine Schmerzen. Die Reduktion der Schmerzen des Patienten auf „ kleine Probleme “ in der Verdolmetschung kommt einer Zensur gleich. Dieses inhaltliche Eingreifen widerspricht dem Prinzip des beruflichen Ethos und verletzt die in der Dolmetschwissenschaft und -praxis angestrebten Grundsätze der Loyalität zu den originalen Äusserungen (vgl. Kap. 3.6.3). Die zielsprachliche Version entspricht dem ausgangssprachlichen Redebeitrag nicht, aber die Ärztin kann die Diskrepanz zwischen den beiden Versionen nicht wahrnehmen. In erster Linie entgeht der Ärztin aufgrund der vom Original abweichenden Verdolmetschung die entscheidende Tatsache, dass der Patient über seine Schmerzen klagt. Dem Patienten misslingt es, die Ärztin auf seine Schmerzen aufmerksam zu machen. Allerdings ist er an der Eigeninitiative der Dolmetscherin insofern mitbeteiligt, als er sich mit seinem Anliegen an sie statt an die Ärztin wendet. 5.5.2 Sequenz 2: „ Ja, Sie haben ja em Probleme mit den Gefässen [ … ] “ Die Ärztin nimmt zu den „ kleinen Problemen “ Stellung. [347] 633 [28: 01.0] (9) Ä [v] JA Sie haben ja em proBLEme mit den em geFÄSsen an [348] 634 [28: 07.5] (10) Ä [v] den BEInen. D [v] ayaklar ı n ı zda bu ş ey damarlar ı nda sorununuz var de ğ ilmi? D [UE] Sie haben an den Füssen an den Dings Adern Probleme nicht wahr? [349] 635 [28: 10.4] 636 [28: 10.7] (11) (12) 637 [28: 11.9] (13) Ä [v] und da WAren Sie auf der ANgiologie. P [v] ja ja ayakta onlar mesela ş uraya kadar P [UE] Am Fuss zum Beispiel bis hier P [nv] ((deutet auf seinen Fuss)) [350] 638 [28: 14.7] (14) 639 [28: 15.9] (15) 640 [28: 17.9] 641 [28: 18.4] Ä [v] (.)ja aber was es isch SO D [v] es isch so SCHLOF es isch P [v] ço ğ u hala uyu ş uk (xxx) P [UE] immer noch taub 232 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="233"?> [351] (16) 642 [28: 19.6] 643 [28: 20.3] (17) Ä [v] AH OKay D [v] SCHLÖFrig so Tab. 5.5.2-2: Gesprächsausschnitt 2 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Ärztin knüpft nach der Übernahme des Redezugs mit einem ratifizierenden „ ja “ an die „ kleinen Probleme “ an. Der Verweis der Dolmetscherin auf „ den anderen Arzt “ im Redebeitrag des Patienten bleibt unkommentiert (vgl. Teil B). Das Phänomen von unkommentierten Problemen beschreibt bereits Bot (2009) anhand ihrer authentischen psychotherapeutischen Sitzungen. Sie stellt fest, dass es sich in solchen Fällen möglicherweise um wenig relevante Stellen im Gespräch handelt, und geht davon aus, dass eine fehlende Nachfrage „ ökonomischer “ ist „ [ … ] in order to keep the communication going, one cannot dwell on every misunderstanding. “ (Bot, 2009, p. 123) Möglicherweise stellt die Ärztin aus zeitlichen Gründen keine Rückfrage. 47 Die für diese Konsultation anberaumte Dauer ist in der Gesprächsbeendigung besonders knapp geworden, weil die Ärztin zusätzliche Zeit investierte, um der Dolmetscherin die medizinischen Zusammenhänge zu erklären (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). Von den Schmerzen weiss sie aufgrund der defizitären Verdolmetschung nichts, sie bezieht sich auf die Probleme mit den Gefässen an den Beinen. Im Redebeitrag der Ärztin manifestiert sich verbal zweimal ein Zögern durch die Häsitationspartikel „ em Probleme mit den em Gefässen [ … ] “ (9) [Hervorhebung GH]. Die Häsitationspartikel weisen möglicherweise darauf hin, dass sie Zweifel hegt, ob die Dolmetscherin den fachsprachlichen Terminus kennt. Während der ersten Häsitationspartikel ( „ em “ ) schaut sie vor sich hin. Ein Absenken des Blicks bei Häsitationsphasen weisen Weiß/ Auer (2016) in monolingualen Gesprächen nach. Bei der zweiten Häsitationspartikel schweift ihr Blick zum Patienten hin. Die Ärztin führt zur Erklärung des Terminus mit beiden Händen eine Bewegung in die entgegengesetzten Richtungen aus und stellt damit visuell etwas Langes, eher Schmales dar (Bild 5.5.2 - 3). 47 An einer hier nicht abgebildeten Stelle schaut die Ärztin auf die Uhr und bemerkt, dass sie heute nicht viel Zeit hat. 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 233 <?page no="234"?> Bild 5.5.2 - 3: Die Ärztin führt zur visuellen Unterstützung eine bimanuelle Geste aus. Im Bild 5.5.2 - 3 sind die Endpositionen der Geste sichtbar, mit der die Ärztin den Terminus „ Gefässe “ illustriert. Während die Ärztin spricht, hat der Patient den Blick auf sie gerichtet. Er ratifiziert auf Deutsch mit „ ja, ja “ (11). Trotz code-switching schaut er die Dolmetscherin an. Auch an dieser Stelle zeigt der Patient, dass er gewisse Deutschkenntnisse hat (vgl. u. a. Bührig & Meyer, 2009, p. 190; vgl. auch Fallbeispiel 4/ Teil I). Da er die Beschwerden schon seit längerem hat, ist er auf der Diabetologie sowie auf der Angiologie in Behandlung, so dass der Terminus „ Gefässe “ ihm durchaus geläufig sein kann. Er deutet kurz auf seine Beine und folgt der Handbewegung mit seinem Blick. Die Ärztin wirft ein: „ Und da waren Sie auf der Angiologie “ (12). Diese Äusserung bleibt unverdolmetscht, der Patient fährt weiter, ohne auf ihre Frage zu achten. Anschliessend übernimmt die Dolmetscherin die Wiedergabe. Auf ihren Hinweis auf die Gefässe und ihre Frage nach der Angiologie erhält die Ärztin die für sie im Zusammenhang unverständliche Reaktion der Dolmetscherin „ es isch so schlof “ (14), die sie zunächst mit „ ja “ ratifiziert. Erst nach einer kurzen Denkpause bekundet die Ärztin mit ihrer Rückfrage ihr Unverständnis ( „ ja, aber was es isch so? “ [15]). Mit der Frage nach „ schlof “ veranlasst sie die Korrektur der Dolmetscherin „ es isch schlöfrig so “ (16). Nach der Korrektur der Dolmetscherin quittiert die Ärztin die Antwort mit „ Ah okay “ (17). Was es mit dem „ Schlaf “ genau auf sich hat, wird nicht erklärt. Ebenfalls ungeklärt bleibt, wie die Ärztin den Zusammenhang interpretiert und wem sie die mangelhafte Kohärenz zuschreibt. Die Aufforderung zur Klärung und derAnsatz zur Behebung des Verständnisproblems werden nur lokal behandelt (vgl. Selting, 1987), wie wenn es sich lediglich um ein auditives Problem handeln würde. Die Inkohärenz zwischen dem Hinweis auf die Konsultation in der Angiologie der Ärztin und der darauffolgenden Reformulierung der Dolmetscherin „ es isch so schlof “ (14) oder auch „ es isch schlöfrig so “ (16) bleibt bestehen. Damit unterbleibt die Behandlung des grundsätzlichen Kommunikationsproblems. Ob die Ärztin in Unkenntnis des genauen Gesprächsverlaufs versteht, dass der Fuss gefühllos ist, bleibt ungewiss. Das Auseinanderdriften der Äusserung der Ärztin ( „ und da waren Sie auf der Angiologie “ [12]) und der Wiedergabe der Dolmetscherin ( „ es isch 234 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="235"?> so schlof “ [14]) beziehungsweise ( „ es isch schlöfrig so “ [16]) wird erst anhand der Transkription und der dazu gehörigen Übersetzung ins Deutsche nachvollziehbar. Die Frage, ob die Ärztin davon ausgeht, dass der Patient für den undifferenzierten und nicht zur vorherigen Äusserung der Ärztin ( „ Und da waren Sie auf der Angiologie “ [12]) passenden Redebeitrag „ es isch so schlof “ verantwortlich ist, stellt sich einmal mehr. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen In der Redewiedergabe spricht die Dolmetscherin in der 1. Person Singular. Die Adressierung ist einheitlich. Sowohl die Ärztin als auch die Dolmetscherin adressieren den Patienten in der 3. Person Plural. Die Modifikationen sind in Sequenz 2 - anders als in Sequenz 1 - auf mangelhafte Terminologiekenntnisse und fehlendes Fachwissen der Dolmetscherin zurückzuführen. Der Dolmetscherin ist der Ausdruck „ Gefässe “ vermutlich unbekannt (es könnte sich andernfalls höchstens um ein akustisches Problem handeln). Sie schliesst jedenfalls - wohl aufgrund des Gleichklangs ( „ Gefässe “ ) - auf „ Füsse “ (10). Sie zweifelt allerdings selbst an der Adäquatheit ihrer Verdolmetschung und führt eine erste Selbst-Korrektur durch ( „ dings “ ). Das bedeutungsleere Wort „ dings “ verschafft ihr etwas Zeit für einen erneuten Wortfindungsprozess. Sie ersetzt „ dings “ durch „ Adern “ , bleibt aber unsicher, ob mit dieser Korrektur der zutreffende Ausdruck gefunden ist, und sucht sich beim Patienten abzusichern: „ nicht wahr? “ (10). Überlappend wirft die Ärztin an dieser Stelle ein, dass der Patient auf der Angiologie war (12). Die Dolmetscherin lässt diesen Hinweis unverdolmetscht und der Patient ignoriert ihn. Stattdessen greift er das Stichwort „ Füsse “ auf: „ Am Fuss zum Beispiel bis hier immer noch taub “ (13). Es scheint, dass er das fehlende Verständnis der Dolmetscherin für die Schilderung seiner Beschwerden nutzt. Er zeigt auf den Fuss, der bis zum Knöchel ( „ bis hier “ ) taub ist. Die Dolmetscherin versteht den türkischen Ausdruck „ uyu ş uk “ (taub), aber das entsprechende deutsche Wort ist ihr entfallen und sie behilft sich mit der Wendung „ es isch so schlof “ (14). Der Patient erzählt bereits weiter über die Gefühllosigkeit an den Füssen. Die Dolmetscherin konzentriert sich auf „ uyu ş uk “ (taub), alles andere ( „ am Fuss bis hier immer noch [ … ] “ [13]) blendet sie möglicherweise aus, weil ihre Kapazität mit dem Wortfindungsprozess ausgelastet ist: „ es isch so Schlof. “ (14) Auf die Nachfrage der Ärztin hin behilft sie sich mit „ schlöfrig “ (16). Es handelt sich eher um eine Wiederholung eines „ problematischen Elements “ (Rost-Roth, 2006) als um eine Erklärung (vgl. dazu Rost-Roth, 2006). Es wird nur auf ein einziges Element aus dem Zusammenhang fokussiert: Der Umstand, dass häufig nur kurze Ausschnitte der Bezugsäußerungen wiederholt werden, verweist auf die Tendenz, eine Einschränkung der Wiederholung auf die fokussierten Äußerungsteile vorzunehmen. (Rost-Roth, 2006, p. 193) Die Dolmetscherin gibt die Nachfrage der Ärztin und ihre dadurch initiierte Reparatur „ es isch schlöfrig so “ (16) dem Patienten nicht wieder, möglicherweise weil sie davon ausgeht, dass der Patient ihr Zwiegespräch mit der Ärztin auch ohne Verdolmetschung versteht. Vielleicht möchte sie über ihre mangelhaften Terminologiekenntnisse hinweggehen, oder sie vergisst zu dolmetschen, weil der Wortfindungsprozess sie zu sehr in Anspruch nimmt. Jedenfalls bleibt der Patient von der Interaktion zwischen derÄrztin und der Dolmetscherin ausgeschlossen. 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 235 <?page no="236"?> 5.5.3 Sequenz 3: „ Beim Laufen macht es Schmerzen, als ob ich auf Sand laufe. “ Zu Beginn dieser Sequenz lenkt der Patient die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er fährt mit der Schilderung seiner Schmerzen fort. [351] 643 [28: 20.3] (18) P [v] yürürken mesela kumda yürür gibi a ğ r ı yap ı yor. P [UE] Beim Laufen zum Beispiel macht es Schmerzen als ob ich [352] 644 [28: 21.9] 645 [28: 23.2] (19) D [UE] gefühllos und wenn er lauft het er sowieso denn Schmerze. P [v] P [UE] auf Sand laufe [353] 646 [28: 24.9] (20) 647 [28: 25.5] (21) Ä [v] geNAU wann WAren Sie das D [UE] und P [v] ş eker yükseldi ğ i zaman daha çok yap ı yor. P [UE] Wenn der Zucker hoch ist macht es das mehr [354] (22) D [UE] wenn Zucker hoch ist zu hoch ist dann hat er noch mehr Schmerzen. [355] 649 [28: 30.1] (23) 650 [28: 31.9] 651 [28: 32.9] (24) Ä [v] ALso mit dem ZUCker hat es SCHON etwas zu tun D [UE] macht Schmerzen und warm. P [v] a ğ r ı yor s ı zl ı yo yan ı yor (xxx) P [UE] schmerzt macht weh brennt [356] 652 [28: 34.2] 653 [28: 37.2] Ä [v] aber nicht im moMENT wo der zucker HOCH ist hat es eigentlich KEInen [357] .. 654 [28: 39.4] (25) Ä [v] EINfluss D [v] asl ı nda diyo ş ekerle bi alakas ı var ama ş eker yükseldi ğ i zaman bi ilgisi D [UE] Eigentlich sagt sie hat es mit dem Zucker zu tun aber es hat dann keinen [358] (26) 655 [28: 43.8] D [v] olmuyor ozaman diyor. D [UE] Zusammenhang wenn der Zucker steigt. Tab. 5.5.3-3: Gesprächssauschnitt 3 A. Interaktion als koordiniertes Handeln In Sequenz 3 beschreibt der Patient sein Leiden noch intensiver: „ Beim Laufen zum Beispiel macht es Schmerzen, als ob ich auf Sand laufe “ (18). Die Ärztin vernimmt von der Dolmetscherin zwar, dass der Patient über Schmerzen spricht, reagiert aber lediglich mit der Antwortpartikel „ genau “ , die an seinen Termin an der Abteilung der Angiologie in Sequenz 2 anknüpft. Es handelt sich nicht um eine Bestätigung des vorangegangenen Redebeitrags, sondern um ein Redeübernahmesignal. Unmittelbar darauf fährt sie weiter: „ Wann waren Sie das [ … ] “ (20). Die durch den Patienten unterbrochene Äusserung lässt sich mit Bezug auf Sequenz 2 so verstehen, dass die Ärztin nach der letzten Konsultation in der Angiologie fragen möchte. Der Patient fährt mit seiner Schmerzschilderung weiter, ohne auf die Ärztin zu achten. Eine der wenigen kompetitiven Turn-Übernahmen in diesem Datenmaterial. „ Wenn der Zucker hoch ist, macht es das mehr “ (21): Mit diesem Redebeitrag 236 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="237"?> bleibt der Patient inhaltlich auf der sachlichen Ebene, kommt aber unmittelbar im Anschluss an die Verdolmetschung auf die Intensität der Schmerzen zurück: „ Schmerzt, macht weh, brennt. “ (23) Mit diesem rhetorischen Dreischritt macht er eindringlich auf seine Schmerzen aufmerksam (vgl. Teil B). Die Ärztin nimmt nach der weniger bedrohlich wirkenden Verdolmetschung ausschliesslich zum sachlichen Aussagegehalt Stellung: „ [ … ] mit dem Zucker hat es schon etwas zu tun, aber nicht im Moment, wo der Zucker hoch ist [ … ] “ . (25) Wenn die Ärztin spricht, wendet der Patient sich mit seinem Blick ihr zu. Das Thema der Schmerzen übergeht die Ärztin kommentarlos, obwohl sie in der Verdolmetschung davon erfährt. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen In der Redewiedergabe spricht die Dolmetscherin in der 3. Person Singular über den Patienten. Wenn sie am Schluss der Sequenz die Äusserung der Ärztin wiedergibt, kennzeichnet die Dolmetscherin die Redewiedergabe durch das eingeschobene verbum dicendi: „ Eigentlich, sagt sie, hat es mit dem Zucker zu tun [ … ] “ (25). Es handelt sich um die Stelle, in der die Ärztin dem Patienten aufgrund ihres Expertenwissens widerspricht. Die Dolmetscherin macht dem Patienten mit der Verwendung des verbum dicendi „ sie sagt “ deutlich, dass sie nicht selbst spricht, sondern die Äusserung der Ärztin wiedergibt. Ausserdem mag die Redewiedergabemarkierung Ausdruck der Verarbeitungsschwierigkeiten infolge des mangelnden Fachwissens der Dolmetscherin sein. Wechsel in der Adressierung kommen in dieser Sequenz nicht vor. Die Ärztin verwendet die 3. Person Plural. Die Dolmetscherin adressiert den Patienten in dieser Sequenz nie. Im Gegensatz zu Sequenz 1 gibt die Dolmetscherin an dieser Stelle den Sachverhalt der Schmerzen wieder, aber den Vergleich des Patienten ( „ [ … ] als ob ich auf Sand laufe. “ [18]), mit dem er die Intensität des Schmerzes illustriert, lässt sie aus: „ Gefühllos und wenn er lauft, het er sowieso denn Schmerze. “ (19) Vielleicht kann sich die Dolmetscherin nicht vorstellen, warum das Gehen auf Sand schmerzen sollte. Der Verdolmetschung geht nun das Wort „ gefühllos “ voraus, das sie wenige Sekunden zuvor gesucht hat (vgl. Sequenz 2). Die Distanz zum vorherigen Redebeitrag beziehungsweise der Verdolmetschung ist wohl bereits zu gross, als dass die Ärztin den Sinn des etwas verspätet aus dem Gedächtnis abgerufenen Einschubs ( „ gefühllos “ ) erfassen würde, mindestens reagiert sie nicht darauf. Das Nachreichen des Wortes „ gefühllos “ zeigt, wie an dieser Stelle die Prozesse des Monitorings nach der Reproduktion einer Äusserung, die Korrektur der vorausgegangenen Verdolmetschung, die Rezeption und die Reproduktion der weiterlaufenden Kommunikation beim Dolmetschen ineinander verwoben sind. Diese Stelle zeigt ausserdem, dass eine zeitversetzte und „ nachgereichte “ Information kaum mehr zur Verständigung beiträgt. Die Ärztin reagiert weder auf das Wort „ gefühllos “ noch auf die Schmerzen des Patienten, die von der Dolmetscherin wiedergegeben werden. Sie übernimmt den Turn und fragt den Patienten, ohne an die Verdolmetschung anzuschliessen, nach der letzten Konsultation in der Angiologie ( „ Wann waren Sie das … ? “ ). Die unvollendete Frage wird wie der Hinweis auf die Angiologie in Sequenz 2 nicht verdolmetscht. Der Patient unterbricht die Ärztin und die Dolmetscherin konzentriert sich bereits auf den nächsten Redebeitrag des Patienten. Die auffallendste Modifikation in Sequenz 3 ist die Rückstufung der Relevanz bei den Schmerzen und den schmerzbegleitenden Emotionen ( „ Macht Schmerzen und warm. “ [24]) 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 237 <?page no="238"?> Im weiteren Verlauf setzt die Dolmetscherin die intensiveren Schmerzen zu einem zu hohen Blutzuckerwert in Bezug - der Patient hatte von einem allgemeinen hohen Wert gesprochen - und spricht am Schluss der Sequenz vom Ansteigen des Zuckers: „ [ … ], aber es hat dann keinen Zusammenhang, wenn der Zucker steigt. “ [26] Wie in Fallbeispiel 4/ Teil I lässt sich in der Interaktion erkennen, dass der Dolmetscherin der Stoffwechselmechanismus weniger klar ist als dem Patienten. Hingegen im Sinne einer besseren Verständlichkeit ist die Hinzufügung der Dolmetscherin „ [ … ] dann hat er noch mehr Schmerzen “ (22), mit der sie die etwas vage Formulierung des Patienten ( „ [ … ] macht es das mehr [ … ] “ [21]) in der Verdolmetschung präziser fasst. 5.5.4 Sequenz 4: „ Meins ist schlimm, es brennt so, schmerzt, es zerstört mich. “ Der Patient veranschaulicht kurz vor Ende der Konsultation die Dringlichkeit seines Anliegens noch einmal. [358] 655 [28: 43.8] (27) P [v] (xxx) benimki acayip böyle yan ı yor P [UE] Meins ist schlimm es brennt so schmerzt [359] 656 [28: 47.2] (28) 657 [28: 49.5] D [UE] also hat er so starke Schmmerzeeen und so irgendwie P [v] s ı zl ı yo mahvetti beni P [UE] es zerstört mich [360] 658 [28: 54.8] (29) Ä [v] ja (.) also es KANN D [UE] so warmes Gefühl sowie (.) ganz heiss denn am Fuess. [361] Ä [v] zum teil SIcher durch die ZUCkererkrankung und durch das probLEM mit [362] 659 [29: 01.4] (30) Ä [v] den geFÄSsen. Sie sind ja DESwegen (.) auf der ANgioloGIE (.) in [363] 660 [29: 05.6] (31) Ä [v] beHANDlung. D [v] ş ekerle bi alakas ı olabilir ama ayaklar ı n ı zda ba ş ka sorun olabilir. D [UE] Es kann einen Zusammenhang mit dem Zucker haben aber es kann [364] 661 [29: 10.8] (32) D [UE] auch ein anderes Problem an den Füssen sein. P [v] angiologie die bi yer oraya P [UE] Ich gehe an einen Ort der [365] 662 [29: 17.2] (33) D [UE] also er het (xxx) er geht auch regelmässig ins zum Angiologie untersuechig P [v] gidiyorum hep daha bundan iki ay önce orda iki defa termin vardi (xxx) düzenli P [UE] Angiologie heisst ich hatte vor zwei Monaten zwei Monaten einen Termin dort ich [366] 663 [29: 20.4] (34) 664 [29: 24.5] 665 [29: 25.0] Ä [v] GEnau das ist WICHtig. das ist ja D [UE] und er het au sowieso Termin in zwei Monat (xxx) nach em Operation P [v] olarak oraya gidiyorum. P [UE] gehe regelmässig dorthin. 238 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="239"?> [367] (35) 666 [29: 26.6] 667 [29: 27.5] Ä [v] geNAU D [UE] hat man ihn sowieso eingeladen zum Untersuchung und Kontrolle. [368] 668 [29: 30.4] (36) 669 [29: 33.1] Ä [v] denk ich sie sind spezialiSIERT für diese SCHMERzen D [v] yani o konularla ilgili D [UE] Also im Zusammenhang [369] (37) 670 [29: 35.5] (38) 671 [29: 37.4] (39) D [v] onlar tabiki uzmanlar ı d ı r. er KOMMT D [UE] mit diesen Themen sind sie natürlich die Spezialisten. P [v] mhm (xxx) [370] 672 [29: 38.5] 673 [29: 39.6] (40) Ä [v] okay GUT dann dürfen Sie Ihre SAchen bitte EINpacken(-). D [v] sowieSO DORT. Tab. 5.5.4-4: Gesprächsausschnitt 4 A. Interaktion als koordiniertes Handeln „ Meins ist schlimm, es brennt so, es zerstört mich “ (27). Der Patient steigert die Schilderung seiner Gefühlsempfindungen. Er versucht mit lexikalischen Mitteln steigender Intensität, mit einem Vergleich, mit Wiederholungen und mit Zeigegesten auf seine Schmerzen aufmerksam zu machen (vgl. Hofer et al., 2017). Dabei beugt er sich nach vorne zur Dolmetscherin hin und deutet auf sich. Mit seinen Schmerzen wendet er sich an die Dolmetscherin, nicht an die Ärztin. Er scheint von ihr mehr emotionale Unterstützung zu erwarten als von der Ärztin. Die Ärztin verfolgt seine Gesten mit ihrem Blick. Auffällig ist die Körperhaltung des Patienten, vor allem wenn man sie mit seiner unbeteiligten Haltung in Fallbeispiel 4/ Teil I vergleicht. Er beugt sich beim Sprechen nach vorn (vgl. Bild 5.5.4 - 4). Seine Gestik ist deutlich lebhafter als zuvor. Bild 5.5.4 - 4: Der Patient macht mit Körperhaltung und Gestik auf sein Anliegen aufmerksam. 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 239 <?page no="240"?> Der Patient berichtet von seinen Schmerzen und seinen Emotionen. Die Dolmetscherin stuft die emotionalen Anteile ein weiteres Mal hinunter: „ Er hat so starke Schmerzen und so irgendwie so warmes Gefühl [ … ] “ (28). Immerhin erfährt die Ärztin nun eindeutig von den Schmerzen; sie geht aber auch an dieser Stelle nicht auf das Anliegen des Patienten ein. Stattdessen weist sie erneut auf „ das Problem mit den Gefässen “ hin und bleibt bei ihrer zu Beginn der Beendigungsphase getroffenen Einschätzung, dass die Angiologie für die Behandlung dieser Schmerzen zuständig ist (30). Damit argumentiert sie am Anliegen des Patienten vorbei. Was sie nicht weiss: Der Termin in der Angiologie hat in Wirklichkeit bereits vor zwei Monaten stattgefunden (vgl. Teil B). In der Rolle der dominanten Expertin verwehrt sie dem Patienten eine aktive Beteiligung an der Interaktion. Sie bleibt bei der Richtigkeit ihrer Entscheidung, ihn an die Angiologie zu verweisen. Der Handlungsspielraum des Patienten ist im asymmetrischen Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräch stark eingeschränkt, während die Ärztin als dominante Gesprächspartei kraft ihrer Autorität die Entscheidungen trifft, wie das in anderen Studien ebenfalls dargestellt wird: „ [ … ] the doctor knows about medicine and the patient doesn ’ t; the doctor is in a position to determine how a health problem should be dealt with and the patient isn ’ t; it is right (and ‘ natural ’ ) that the doctor should make the decisions and control the course of the consultation and of the treatment, and that the patient should comply and cooperate [ … ] “ . (Fairclough, 1992, p. 2; vgl. auch Merlini, 2009) Der Diabetes-Patient muss schliesslich die Entscheidung der Ärztin akzeptieren, wie er es von Anfang an befürchtet hat. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen In der Redewiedergabe verwendet die Dolmetscherin in allen Äusserungen die 3. Person Singular, d. h. sie spricht über den Patienten, was eine gewisse Distanz zu ihm ausdrückt. Gleichzeitig entsteht eine deutliche Nähe der Dolmetscherin zur Ärztin, indem sie deren Ansicht stützt, wenn sie in einer selbst-initiierten Äusserung darauf hinweist, dass man den Patienten „ sowieso eingeladen [hat] zum [sic] Untersuchung und Kontrolle “ (35) in die Angiologie. Die Ärztin adressiert den Patienten direkt in der 3. Person Plural. Eine direkte Adressierung des Patienten durch die Dolmetscherin kommt in Sequenz 4 nie vor. Die Modifikationen in Sequenz 4 betreffen vor allem die Symptome, die der Patient schildert (vgl. Teil A). Die Klage des Patienten ( „ meins ist schlimm, es brennt so, schmerzt, es zerstört mich. “ (27) wirkt aufgrund der Wortwahl und der asyndetischen Aneinanderreihung eindringlich. Mit der Wiedergabe entfernt sich die Dolmetscherin vom Original: „ Er hat so starke Schmerzen und so irgendwie so warmes Gefühl sowie ganz heiss denn am Fuess. “ (28) Die verbale Struktur wird aufgelöst durch ein expandierendes Formulieren, die Genauigkeit in der Schilderung der negativen Empfindungen geht verloren und das psychische Erleben ( „ meins ist schlimm “ und „ es zerstört mich “ ) wird ausgelassen. In Sequenz 4 wiederholt die Dolmetscherin die bereits in Sequenz 2 genannte Version „ Füsse “ anstelle der „ Gefässe “ (31). Den Hinweis der Ärztin auf die Angiologie lässt die Dolmetscherin zunächst aus. Der Patient versteht die Ärztin offensichtlich; er geht davon aus, dass die Dolmetscherin den Terminus „ Angiologie “ nicht kennt und erklärt ihr, dass er regelmässig zur Angiologie geht (32). Wie bereits in Fallbeispiel 4/ Teil I zeigt er, dass er mit 240 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="241"?> der Terminologie, die seine Krankheit betrifft, vertraut ist (es ging an jener Stelle um den Namen des Medikaments „ Novorapid “ ). Er berichtet der Dolmetscherin weiter, dass er vor zwei Monaten (33) einen Termin in der Angiologie hatte und dort regelmässig zur Kontrolle geht [Hervorhebung GH]. Die Dolmetscherin kann die terminologische Lücke mit Hilfe der Erklärung des Patienten füllen und die Ärztin bestätigt die Wichtigkeit dieser Behandlung (34). Das Problem ist nun vielmehr, dass die Dolmetscherin sich in der Präposition irrt. In der Verdolmetschung findet der Termin auf der Angiologie in zwei Monaten statt [Hervorhebung GH] - eine möglicherweise folgenschwere Modifikation. 48 Die inadäquate Verdolmetschung der Präposition „ in “ statt „ vor “ mag weiter dazu beitragen, dass die Behandlung auf der Angiologie für die Ärztin prioritär wird und das Thema „ Schmerz “ von ihr unbehandelt bleibt, weil sie davon ausgeht, dass der Patient in zwei Monaten einen Termin hat. Ob der Patient das Problem erkennt, bleibt im weiteren Gesprächsverlauf unklar. Die Dolmetscherin betont der Ärztin gegenüber mit einem selbst-initiierten Redebeitrag, dass der Patient von der Angiologie aufgeboten wird: „ [ … ] nach dem Operation hat man ihn sowieso eingeladen zum Untersuchung und Kontrolle. “ (35) Davon hat der Patient kein Wort gesagt. Die Dolmetscherin betrachtet es offenbar als in ihrem Aufgabenbereich liegend, einem Redebeitrag des Patienten zusätzliche Information ohne Verdolmetschung für den Patienten hinzuzufügen. Die Ärztin pflichtet der Dolmetscherin bei: „ Genau, denk ich, sie sind spezialisiert für diese Schmerzen. “ (36) Die Dolmetscherin gibt die Ansicht ohne die epistemische Modalität, mit der die Ärztin die Äusserung einschränkt, an den Patienten weiter ( „ mit diesen Themen sind sie natürlich die Spezialisten “ [37]). Nach einer in der Videoaufnahme aus akustischen Gründen unverständlichen Äusserung des Patienten (38) versichert die Dolmetscherin „ Er kommt sowieso dort “ (39). Eine weitere selbst-initiierte Hinzufügung, mit der sie der Entscheidung der Ärztin ein grösseres Gewicht gibt als dem Anliegen des Patienten. Mit den abschliessenden Worten „ Okay, gut, dann dürfen Sie ihre Sachen einpacken. “ (40) gibt die Ärztin dem Patienten zu verstehen, dass sie alles ihr als notwendig Erscheinende bereits gesagt hat und die Konsultation zu Ende ist. Zum Zeichen, dass sie auch keine weiteren Fragen mehr beantworten will und er seine Sachen einpacken muss, wendet sie sich wieder ihrer Schreibarbeit zu. Der Patient kommt gar nicht mehr zu Wort. 5.5.5 Zusammenfassung Nach der Anleitung der Ärztin zur richtigen Insulindosierung nimmt der Patient in der Phase der Gesprächsbeendigung in Fallbeispiel 4/ Teil II die Gelegenheit wahr, seine Schmerzen zu schildern. A. Interaktion als koordiniertes Handeln Der Patient bringt sein Anliegen nach anfänglichem Zögern am Ende der Konsultation ins Gespräch ein. In der Häsitationsphase blickt er erst nach oben, dann nach unten (Weiß & Auer, 2016, p. 134 f.). 49 Er sucht mit Wiederholungen, kompetitiven Übernahmen des Rederechts, mit lebhafter Gestik, emphatischer Rede und Backchannel-Signalen auf 48 Ob sich daraus eine klinische Konsequenz ergibt, ist nicht Thema dieser Untersuchung im Fachbereich der Linguistik. 49 Der Blick nach unten an dieser Stelle mag damit zu tun haben, dass er einen Augenblick später auf die Füsse zeigt. 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 241 <?page no="242"?> Deutsch die Aufmerksamkeit der Ärztin auf sich zu lenken. Aber trotz seines im Verlauf der Sequenzen 1 - 4 höher werdenden kommunikativen Aufwands reagiert die Ärztin weder auf seine Einwürfe noch auf sein am Schluss des Gesprächs eingebrachtes Anliegen. Einer der Gründe für das Nichteingehen der Ärztin auf den Patienten ist der Zeitpunkt. Die Gesprächsbeendigung ist aus Sicht von Mediziner: innen ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt (by the way syndrome). Ausserdem ist ihr Zeitbudget bereits durch die Erklärungen für die Dolmetscherin über Gebühr belastet worden (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). Ein zweiter Grund für das Fehlschlagen der Kommunikation am Ende des Gesprächs sind die unterschiedlichen Anliegen der beiden Gesprächsparteien - der Patient spricht über seine Schmerzen und sein emotionales Erleben, die Ärztin möchte das Gespräch abschliessen und verweist ihn an die Angiologie, die sie für seine gefässbedingten Probleme für den zuständigen Ort hält. Sie steuert das Gespräch aufgrund ihres Behandlungskonzepts und aufgrund ihres „ rollenspezifischen Status “ (Tiittula, 2001, p. 1362). Der dritte Grund für das Misslingen der Kommunikation sind die inadäquate Verdolmetschung, die der Ärztin trotz den Diskontinuitäten verborgen bleibt, sowie die fehlende Einhaltung der dolmetsch-ethischen Regeln durch die Dolmetscherin. Auch in Fallbeispiel 4/ Teil II wird erst anhand der Transkription der ganzen Interaktion deutlich, dass die verschiedenen Faktoren in eine unbefriedigende Situation für den Patienten münden. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Fallbeispiel 4/ Teil II ist die Beendigungsphase des Fallbeispiels 4/ Teil I, d. h. die Konstellation ist dieselbe. 1. Person Sg. im AT Verwendung der 1. Person Sg. im AT durch den (P) Beibehaltung der 1. Person Sg. durch die (D) im ZT 3. Person Sg. Fallbeispiel 4/ Teil II 3 - 3 Tab. 5.5.5-1: 1. Redewiedergabe durch die Dolmetscherin im ZT Der Patient verwendet das Personalpronomen „ ich “ in drei von neun Redezügen. Wie in Fallbeispiel 4/ Teil I verwendet die Dolmetscherin das Personalpronomen „ ich “ nie. Die Dolmetscherin ersetzt die 1. Person Singular dreimal durch die 3. Person Singular und spricht damit über den Patienten. Redewiedergabemarkierung vorgestellt integriert nachgestellt Fallbeispiel 4/ Teil II - 1 - Tab. 5.5.5-2: Redewiedergabemarkierung: Häufigkeit und Position In Fallbeispiel 4/ Teil II kommt die Redewiedergabemarkierung lediglich einmal bei der Verdolmetschung eines Redebeitrags der Ärztin vor. Mit der Redewiedergabemarkierung wird die Funktion derÄrztin als Urheberin der Äusserung gekennzeichnet. Die Markierung „ sie sagt “ mag zudem auf die Verarbeitungsschwierigkeiten der Dolmetscherin hinweisen. 242 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="243"?> Die Adressierungsformen der Beteiligten Die Ärztin verwendet bei der Adressierung des Patienten die 3. Person Plural. Der Patient adressiert weder die Ärztin noch die Dolmetscherin, verweist aber im Gespräch mit der Dolmetscherin mit der 3. Person Singular auf die Ärztin. Die Dolmetscherin verwendet neben der direkten Adressierung die 3. Person Singular, wenn sie mit der Ärztin über den Patienten spricht oder wenn sie eigene Kommentare hinzufügt. Adressierung des (P) durch die (Ä) 3. Person Pl. (direkte Adressierung) 3. Person Sg. (indirekte Adressierung) Fallbeispiel 4/ Teil II 6 - Tab. 5.5.5-3: Adressierungsformen der Ärztin Die Ärztin adressiert den Patienten ausschliesslich direkt in der 3. Person Plural ( „ Sie “ ). Adressierung der (D) durch den (P) Adressierung der (D) bzw. der (Ä) durch den (P) 3. Person Sg. Fallbeispiel 4/ Teil II - 1 Tab. 5.5.5-4: Adressierungsformen des Patienten In den sechs Gesprächsausschnitten spricht der Patient weder die Ärztin noch die Dolmetscherin direkt an (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). Einmal spricht er mit der Dolmetscherin in der 3. Person Singular über die Ärztin (vgl. Fallbeispiel 1). Adressierung des (P) durch die (D) 3. Person Pl. direkte Adressierung (Sie) 3. Person Sg./ selbst-initiierte Hinzufügung Fallbeispiel 4/ Teil II 2 4/ 2 Tab. 5.5.5-5: Adressierungsformen der Dolmetscherin Wenn die Dolmetscherin den Patienten zweimal direkt adressiert, verwendet sie wie die Ärztin die 3. Person Plural. Die Adressierungsformen der Dolmetscherin repräsentieren die verschiedenen Beteiligungsformen. Die Dolmetscherin wechselt viermal in eine kommentierende Wiedergabe, statt im eigentlichen Sinn zu dolmetschen. Dabei verwendet sie die 3. Person Singular. Ebenso verwendet sie die 3. Person Singular bei zwei selbstinitiierten Hinzufügungen. Die Sitzposition ist so gewählt, dass die Ärztin einen guten visuellen Kontakt sowohl zum Patienten als auch zur Dolmetscherin hat. Die Kamera ist auf sie gerichtet. Die Augenkommunikation des Patienten und der Dolmetscherin sind weniger gut erkennbar als diejenige der Ärztin. Wie in den vorausgehenden Fallbeispielen können trotz der zum Teil eingeschränkten Sichtbarkeit der Blickkontakte Regularitäten im multimodalen Verhalten der drei Beteiligten aufgezeigt werden: • Wenn die Ärztin spricht, hat sie vor allem mit dem Patienten Blickkontakt. Ausserdem führt sie den Blick regelmässig zur Dolmetscherin, die sie damit in die Interaktion einschliesst. 5.5 Fallbeispiel 4/ Teil II: Konsultation in der Diabetologie 243 <?page no="244"?> • Während den Verdolmetschungen für den Patienten schaut sie ihn an, sucht aber immer wieder auch in diesen Situationen den Blickkontakt mit der Dolmetscherin. • Der Patient wendet sich der Dolmetscherin zu, wenn sie spricht, oder blickt vor sich hin, soweit die Blickrichtung erkennbar ist. • Während der Verdolmetschung schaut er die Ärztin an. Dieses Blickverhalten ist bei manchen Sprecherwechseln nicht wahrnehmbar, weil er die Blickrichtung beinahe ohne Kopfbewegung wechseln kann. • Bei der deutlichen Häsitationsphase zu Beginn des Redebeitrags in Sequenz 1 lässt sich ein Absenken des Blicks synchron mit dem Zögern beobachten, wie das Weiß/ Auer (2016) schildern. • Die Dolmetscherin blickt beim Zuhören auf die Sprecher: innen. • In den Zwiegesprächen mit der Ärztin fokussiert die Dolmetscherin auf sie, ohne den Patienten mit Blickkontakten in die Interaktion einzubeziehen. Die divergierenden Wissensvoraussetzungen erschweren die Interaktion. Die Nachzeichnung der Gesprächsbeendigung verdeutlicht, dass fehlende Kenntnisse und Terminologielücken der Dolmetscherin sich hemmend auf den Gesprächsverlauf auswirken (vgl. dazu Hale, 2007, p. 19). Die Dolmetscherin weicht bereits in Sequenz 1 stark vom Redebeitrag des Patienten ab - aus Schmerzen werden „ kleine Probleme “ . In drei Fällen sind mangelnde terminologische Kenntnisse und fehlendes medizinisches Wissen der Dolmetscherin die Ursache für Modifikationen. Deutlich wird das terminologische Problem beim Terminus „ Gefässe “ . Die Dolmetscherin setzt „ Füsse “ an der Stelle von „ Gefässen “ ein. Weitere Alternativen für „ Gefässe “ sind „ dings “ und „ Adern “ (Sequenz 2). Der Patient nutzt das potenziell gravierende Missverständnis „ Gefässe “ - „ Füsse “ als Ausgangspunkt, um seine Schmerzen zu schildern. Damit überbrückt er das Terminologieproblem der Dolmetscherin. Ein zweites Terminologieproblem, das ebenfalls der Patient auffängt, ist die Bezeichnung „ Angiologie “ , die er der Dolmetscherin aufgrund seiner Krankheitserfahrung erklären kann. Bei einem dritten Terminologieproblem, der Taubheit im Fuss, bleibt unklar, ob die Ärztin versteht, was der Patient sagt. Der Patient hat mit dem Wissen über seine Therapie und mit seinen terminologischen Kenntnissen wesentlich zum gegenseitigen Verständnis beigetragen. Wie weit seine Vertrauensbasis zur Dolmetscherin erhalten bleibt, wird nicht deutlich. Immerhin wendet er sich in Sequenz 1 verbal und gestisch an die Dolmetscherin. Er beteiligt sich deutlich mehr an der Interaktion als in Fallbeispiel 4/ Teil I, was sich sowohl verbal als auch in der expressiveren Gestik zeigt, während die Ärztin sich aus dem Gespräch zurückzieht und sich ihrer Schreibarbeit widmet. Das gegenseitige Verstehen wird durch verschiedene Modifikationen, vor allem durch Auslassungen, Relevanzrückstufungen und Hinzufügungen der Dolmetscherin beeinträchtigt. Sie greift mehrmals in die Interaktion ein, indem sie Teile von patientenseitigen Redebeiträgen auslässt oder selbst-initiierte Äusserungen hinzufügt. Entscheidend in Fallbeispiel 4/ Teil II sind zudem die Relevanzrückstufungen der Schmerzen. Aufgrund der Auslassungen und der Rückstufungen erfährt die Ärztin die Symptome sowie das Ausmass der emotionalen Belastung nur teilweise. Dieses fehlende Wissen mag zusätzlich zu ihrer eigenen Absicht, das Gespräch zu beenden, dazu beitragen, dass sie das Patientenanliegen ignoriert und stattdessen die Zuständigkeit der Angiolog: innen relevant setzt. 244 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="245"?> Abgesehen von den Auslassungen beziehungsweise der Relevanzrückstufung der Schmerzen und der Emotionen schafft die Dolmetscherin mit den wechselnden Formaten in der Redewiedergabe und in der Adressierung eine gewisse Distanz zum Patienten. Sie schliesst ihn damit wiederholt von der Interaktion aus. Sie spricht mehrfach in der 3. Person Singular über den Patienten. Zudem ergibt sich durch die eher positive Wiedergabe der Äusserungen der Ärztin über die Angiologie eine grössere Nähe zur Ärztin als zum Patienten. Trotz der fachlichen Lücken der Dolmetscherin kann die Verantwortung für die misslungene Kommunikation nicht allein ihr angelastet werden. In den besprochenen Auszügen wird deutlich, dass die Ärztin durch ihr Handeln zur Problematik der gedolmetschten Kommunikation beiträgt. Es gibt dafür mehrere Gründe: Sie scheint sich über die Bedeutung der visuellen Zugänglichkeit keine Gedanken zu machen. Weder über die räumliche Positionierung noch über die damit fehlende Sicht der Dolmetscherin auf die Tabellen fällt je ein Wort. Für die Kommunikation weiter erschwerend sind das Vertrauen der Ärztin in die Adäquatheit der Verdolmetschungen, das weitgehende Vermeiden von Nachfragen bei unverständlichen Äusserungen, bei manifesten Kommunikationsproblemen oder bei Kohärenzbrüchen in den Verdolmetschungen. Schliesslich hemmt ihre Präferenz für die institutionelle Organisationsroutine, vor allem im Hinblick auf die Zuständigkeit der Angiolog: innen, eine funktionierende Kommunikation. 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme Beim Fallbeispiel 5 handelt es sich um eine Pflegeanamnese. 50 Die folgende Sequenzanalyse umfasst drei Sequenzen, die nicht direkt aufeinander folgen, aber chronologisch aufgeführt sind. Die Dauer der drei Sequenzen ohne die dazwischen liegenden Gesprächsabschnitte beträgt 2: 05 Minuten. Das gesamte Gespräch dauert 34: 29 Minuten. Situierung des gesamten Gesprächs Die Gesprächsparteien sind eine Schweizer Standarddeutsch sprechende Pflegefachfrau (PF) und ein türkischer Patient (P). Für die Verständigung ist eine Dolmetscherin (D) hinzugezogen worden. Der Patient ist seit längerem krank, er hat Herzprobleme und ein urologisches Leiden. Nach einem Kollaps ist er notfallmässig ins Spital eingewiesen worden. Es handelt sich bei den folgenden drei Gesprächsausschnitten aus einer Pflegeanamnese um die einzige Videoaufnahme, in der vor dem Gespräch im Interesse einer optimalen Verständigung die Rolle der Dolmetscherin explizit ausgehandelt wird. Dieser Anfang widerspiegelt die Besonderheiten des gedolmetschten Gesprächs und zeigt die Unsicherheiten in Bezug auf die Funktion der Dolmetscherin aufseiten der Pflegefachfrau sowie der Dolmetscherin auf. 50 Dieses Fallbeispiel wurde bereits im Laufe des KTI-Projekts diskutiert. Vor allem die Anregungen des Linguisten Marcel Eggler sind in die Analyse dieses Fallbeispiels eingeflossen. 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme 245 <?page no="246"?> Inhalt der ausgewählten Sequenzen (1 - 3) Die Pflegefachperson und die Dolmetscherin legen in der einleitenden Sequenz die sprachlichen Verhaltensweisen fest, nach denen sie sich im Gespräch richten wollen. Ihre Vorgaben werden anhand von zwei Sequenzen mit ihren Handlungen im Gespräch verglichen. Sequenz 1 ist der Beginn des Gesprächs (die Videoaufnahme beginnt erst nach der Begrüssung). Sequenz 2 folgt unmittelbar auf Sequenz 1. Sequenz 3 setzt am Ende der 12. Minute ein. Auswahl der Sequenzen Der Grund für die Auswahl der folgenden Sequenzen war die der Pflegeanamnese unmittelbar vorausgehende explizite Aushandlung der Rollen der Pflegefachfrau und der Dolmetscherin. Im Fokus der Analyse stehen die Vorgaben im Vergleich zum anschliessenden Interaktionsverlauf in den Sequenzen 2 und 3. 5.6.1 Sequenz 1: „ Dann Wort für Wort, also möglichst. “ Die einleitenden Redezüge finden zwischen der Pflegefachfrau und der Dolmetscherin auf Deutsch statt, bevor die Pflegefachfrau mit der Befragung des Patienten einsetzt. Der Patient wird nicht in die Einleitung einbezogen. 51 [1] 0 [00: 00.0] (1) 1 [00: 02.9] (2) 2 [00: 03.9] PF [v] und em (.) KURze sätze denk ich okay und wenn Sie was nicht D [v] ja (.) kurze sätze [2] (3) 3 [00: 06.0] 4 [00: 07.5] (3) PF [v] verSTEhen dann würden Sie sich EINfach nochmal MELden D [v] ja okay und wünschen Sie [3] (4) 5 [00: 09.4] 6 [00: 10.7] 7 [00: 12.9] PF [v] hm: jaa MÖglichst ich verSUche dies D [v] dann WORT für WORT (.) also MÖglichst ja D [nv] ((nickt)) [4] (5) 8 [00: 13.7] 9 [00: 18.2] PF [v] die FRAgen e möglichst KURZ (.) zu zu FAssen so dass Sie dann (..) dass es D [v] oKAY geNAU [5] (6) 10 [00: 21.3] (7) PF [v] EINfacher wird JA D [v] oKAY mhm Tab. 5.6.1-1: Gesprächsausschnitt 1 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Das einleitende Gespräch findet zwischen der Pflegefachfrau und der Dolmetscherin statt. Sie handeln ihre Rollen aus, bevor die Pflegefachfrau zur Befragung des Patienten übergeht. Die Pflegefachfrau verspricht in kurzen Sätzen zu sprechen (1). Damit ist die Dolmetscherin einverstanden „ ja, kurze Sätze “ (2). Zudem weist die Pflegefachfrau die Dolmetscherin 51 Die erste Sequenz ist Teil einer früheren Publikation (vgl. Hofer, 2012). 246 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="247"?> darauf hin, dass sie jederzeit nachfragen darf (3). Die Dolmetscherin erkundigt sich anschliessend, ob sie „ dann Wort-für-Wort “ wiedergeben soll (4) und fügt nach einer kurzen Pause „ also möglichst “ hinzu. Die Pflegefachfrau bestätigt die Vorgehensweise der Dolmetscherin. Gleichzeitig wiederholt sie die Absicht, sich kurz zu fassen (5) und fügt den Grund dafür an: „ [ … ] dass es einfacher wird, ja. “ (6) Mit einem Nicken und verbalen Backchannel-Signalen ( „ okay genau “ und „ okay mhm “ [(7]) erklärt die Dolmetscherin ihr Einverständnis. Das Vorgehen scheint beiderseits geklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Kommunikation unter Ausschluss des Patienten stattgefunden. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Pflegefachfrau und die Dolmetscherin sitzen an einem runden Tisch, der Patient ist zwischen den beiden positioniert. Alle haben einen guten visuellen Zugang zueinander. Die Pflegefachfrau und die Dolmetscherin schauen sich während des Zwiegesprächs an, nur einmal wirft die Pflegefachfrau einen kurzen Blick zum Patienten. Die Dolmetscherin hat zuvor ihre Rolle als unbeteiligte Mittelsperson umschrieben, die der detailgetreuen Wiedergabe der ausgangssprachlichen Redebeiträge verpflichtet ist, was dem Grundsatz der conduit-Rolle entspricht (vgl. Kap. 3.4.3). Sie ist offenbar erfahren genug, um zu wissen, dass sie mit der Wort-für-Wort-Strategie an Grenzen stösst, und schränkt ihre geplante Vorgehensweise ein: „ also möglichst. “ (4) Die Wort-für-Wort- Strategie, auf die Dean/ Pollard (2009) verweisen, ist offenbar noch immer eines der Konzepte, das sowohl von Expert: innen als auch von Gesprächsdolmetscher: innen für praktikabel gehalten wird (vgl. die Kap. 3.2 und 3.6.2). 5.6.2 Sequenz 2: „ Okay, er hat so weit verstanden. “ Bis zu diesem Zeitpunkt haben die Pflegefachfrau und die Dolmetscherin Deutsch gesprochen, ohne dass für den Patienten gedolmetscht worden wäre. [5] 10 [00: 21.3] 11 [00: 22.2] 12 [00: 23.1] (8) P [v] hastal ı k üzerine hepsini söylesin neymi ş P [UE] Sie soll alles über die Krankheit sagen Sie [6] 13 [00: 27.7] (9) D [v] ş imdi söyliyecekler mhm D [UE] Sie werden es jetzt sagen P [v] bendeki hastalik anlat ı rlar de ğ ilmi P [UE] werden alles über meine Krankheit sagen nicht wahr [7] 14 [00: 30.5] 15 [00: 32.3] (10) PF [v] ((nickt)) okay (.) er D [v] ş imidi söyliyecek ben tercumanl ı k yap ı cam size oldumu mhm D [UE] mhm wird es sagen und ich werde für Sie übersetzen ist gut mhm P [v] sen tercüme yapars ı n P [UE] Du wirst übersetzen [8] 16 [00: 34.7] PF [v] hat so weit verSTANden. D [v] er hat EINfach gesagt er würde GERne über die KRANKheit 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme 247 <?page no="248"?> [9] .. 17 [00: 36.9] 18 [00: 37.8] (11) 19 [00: 39.8] PF [v] ja D [v] WISsen ich hab geSAGT jetzt kommt DAS dass e Sie werden dann einfach das [10] 20 [00: 44.3] (12) PF [v] also (.) ich muss vielleicht GRAD zum ANfang SAgen em (.) D [v] jetzt BALD sagen mhm [11] 21 [00: 47.9] PF [v] ich kann Ihnen über die KRANKheit und über mediZInisches (.) nicht so VIEL [12] 22 [00: 53.0] 23 [00: 55.1] PF [v] sagen DA (.) WÄre dann der ARZT ich muss dann NACHher dem ARZT noch [13] 24 [00: 58.5*] 25 [01: 00.9] PF [v] telefonIERen (.) dass ER (.) ALlenfalls noch VorBEIkommt D [v] mhm ş imdi ş u bu D [UE] Mhm diese Dame [14] (13) D [v] bayan hemi ş ire ee hastal ığı n ı zla ilgili sa ğığı n ı zla ilgilli olarak çok fazla bir ş ey D [UE] jetzt ist Krankenschwester sie wird in Zusammenhang mit Ihrer Krankheit mit Ihrer [15] 26 [01: 09.0] 27 [01: 16.0] D [v] sölemiyecek onu doktorun yapmas ı gerekiyor konu ş madan sonra D [UE] Gesundheit nicht viel sagen das muss der Arzt machen nach dem Gespräch wird sie P [v] i ş tirak eder ondan söylecek (xxx) P [UE] Wird sich nachher teilnehmen [16] D [v] zaten telefon açacak gerekirse doktor i ş tirak edecek i ş tirak edecek ondan sonra D [UE] ihn anrufen und wenn es nötig ist wird sich der Arzt teilnehmen und es danach [17] 28 [01: 18.9] 29 [01: 18.9] 30 [01: 19.3] 31 [01: 24.3] D [v] söyler oldumu? ama bu bayan ı n yani söylemek istedi ğ i ş eyler herhalde D [UE] sagen ist gut Aber die Dinge die die Dame jetzt sagen möchte hängt P [v] he hehe [18] (14) 32 [01: 25.0] 33 [01: 25.1] 34 [01: 27.5] D [v] kendi bak ı m ı n ı zla ilgili olarak oldumu? tabi tabi mhm D [UE] wahrscheinlich mit ihrer eigenen Pflege zusammen ist gut? natürlich Tab. 5.6.2-2: Gesprächsausschnitt 2 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Der Patient bringt sich nun selbst ins Gespräch ein und schliesst damit die der Befragung vorausgehende Sequenz ab. Er möchte alles über seine Krankheit wissen (8). Die Dolmetscherin bestätigt seine dringende Bitte aus eigener Initiative (9). Die Pflegefrau nickt während der Verdolmetschung bestätigend, als ob sie Türkisch verstehen würde, und wendet sich dem Patienten zu. Der Wechsel der Blickrichtung lässt sich an der Körperdrehung erkennen. Die Pflegefachfrau versteht den Austausch zwischen dem Patienten und der Dolmetscherin nicht und vergewissert sich bei der Dolmetscherin, ob der Patient sie verstanden habe. Sie spricht in der 3. Person Singular über den Patienten: „ Okay, er hat so weit verstanden. “ (10) Auf ihre Nachfrage erfährt die Pflegefachfrau von den selbstinitiierten Hinzufügungen der Dolmetscherin, mit denen sie dem Patienten von sich aus die 248 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="249"?> von ihm gewünschte Auskunft über seine Krankheit in Aussicht gestellt hat (11). Der Widerspruch zur unmittelbar zuvor vereinbarten Dolmetschstrategie manifestiert sich deutlich. Die Pflegefachfrau berichtigt die Aussage mit dem Hinweis auf ihre eingeschränkten Befugnisse (12). Wen sie adressiert, wird verbal nicht deutlich, aber sie richtet ihren Blick in diesem Redezug auf den Patienten, der den Blick gesenkt hält. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen In Sequenz 2 ist die Pflegefachfrau von der Interaktion ausgeschlossen wie zuvor der Patient. Mit ihrer Nachfrage bringt sie sich nun ihrerseits in dieses Zwiegespräch ein. Erst auf diese Nachfrage hin wiederholt die Dolmetscherin, was sie dem Patienten zugesagt hat (vgl. Teil A). Von einer detailgetreuen Wiedergabe ist die Dolmetscherin deutlich abgewichen. Nach der Intervention der Pflegefachfrau agiert die Dolmetscherin wiederum eigenständig und fügt für den Patienten Informationen über die Pflegefachfrau ein, ohne von ihr dazu legitimiert worden zu sein (13/ 14). Sie spricht in der 3. Person Singular über die Pflegefachfrau. Von den in dieser Sequenz selbst-initiierten Hinzufügungen der Dolmetscherin erfährt die Pflegefachfrau nichts. 5.6.3 Sequenz 3: „ Also ihr Deutsch ist sehr gut, wahrscheinlich. “ Die Pflegefachfrau hat inzwischen mit der Befragung begonnen und stellt in der folgenden Sequenz die Frage nach einer Bezugsperson. [158] 406 [12: 58.4] PF [v] haben Sie jetzt HIER in der [159] .. 407 [13: 03.6] 408 [13: 06.8] 409 [13: 07.5] PF [v] SCHWEIZ eine WICHtige beZUGSperson? die wir vielleicht em noTIEren D [v] mmhm mhm [160] .. (15) PF [v] sollten wenn IRGENDwas WÄre dass wir IRGEND jemandem beSCHEID geben [161] 410 [13: 10.9] 411 [13: 11.7] 412 [13: 11.8] (16) PF [v] könnten D [v] mhm ş imdi sizin çok yak ı n bir arkada şı n ı z yada çok yak ı n bir D [UE] Jetzt haben Sie einen engen Freund oder einen nahen Verwandten [162] D [v] akraban ı z varm ı sizinle ilgili olarak herhangi bir ş ekilde hastane e ğ er D [UE] falls das Spital in irgendeiner Weise mit jemanden über Sie sprechen müsste mit [163] 413 [13: 22.5] 414 [13: 23.0] D [v] birisiyle konu ş mas ı gerekirse kiminle konu ş sun sizin hakk ı n ı zda? D [UE] wem sollen sie sprechen über Sie? P [v] k ı z ı m var P [UE] Ich habe eine [164] 415 [13: 23.6] (17) 416 [13: 24.3] 417 [13: 25.0] 418 [13: 26.0] 419 [13: 26.6] 420 [13: 27.3] PF [v] mhm D [v] k ı z ıı n ı z var die TOCHter tamam D [UE] Sie haben eine tochter Okay P [v] o ğ lum var kizimla konu her P [UE] Tochter ich habe einen Sohn zu jedem Thema 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme 249 <?page no="250"?> [165] (18) 421 [13: 27.9] 422 [13: 29.0] 423 [13: 30.4] (19) 424 [13: 31.8] 425 [13: 32.9] (20) D [v] k ı z ı n ı z ı n ad ı n ı verelim a çok güzel hem ş iremi D [UE] geben wir den Namen Ihrer Tochter an a sehr schön ist sie auch P [v] (xxx) oda dün burdayd ı zaten be ş buçukta P [UE] (xxxx) sie war gestern auch hier sie kam um [166] (21) 426 [13: 33.6] 427 [13: 34.3] 428 [13: 35.3] (22) D [v] oda? hasta bak ı c ı a çok iyi D [UE] Krankenschwester? Krankenpflegerin a sehr gut P [v] geldi bi ş ey olduda yani altersheimde bu i ş ler üzerinde P [UE] halb sechs Sie ist etwas geworden also im Altersheim etwas in diesem [167] (23) 429 [13: 38.0] 430 [13: 38.1] (24) 431 [13: 39.2] (25) D [v] tamam, die Tochter arbeitet D [UE] okay P [v] bir ş eyler saat be ş buçukta gelecek. P [UE] Bereich etwas sie wird um halb sechs uhr kommen [168] 432 [13: 42.8] 433 [13: 43.0] 434 [13: 43.2] 435 [13: 43.6] (26) PF [v] aah mhm D [UE] im Altersheim und kommt jetzt so um fünf wollte er wollte sie auch [169] 436 [13: 47.3] 437 [13: 47.5] 438 [13: 47.7] (27) 439 [13: 49.6] 440 [13: 50.6] PF [v] ah und sie spricht DEUTSCH PF [nv] ((notiert sich die Antworten)) D [UE/ v] vorbeikommen. yani D [UE] Also ihr Deutsch P [v] (xxx) problem yok o problem yok P [UE] Kein Problem kein Problem [170] (28) 441 [13: 51.9] 442 [13: 52.4] D [v] almancas ı çok iyi herhalde. D [UE] ist sehr gut wahrscheinlich Tab. 5.6.2-3: Gesprächsausschnitt 3 A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Pflegefachfrau fragt nach einer Bezugsperson des Patienten, die man im Bedarfsfall benachrichtigen müsste (15). Die Dolmetscherin reagiert auf den Redebeitrag der Pflegefachfrau zweimal mit einem Backchannel-Signal ( „ mhm “ ). Damit signalisiert sie ihr Verständnis und etabliert sich als Beteiligte. Die Pflegefachfrau schaut bei ihren Fragen den Patienten an. Durch Blick und Körperhaltung ist sie jedoch in häufigerem Kontakt mit der Dolmetscherin, die den grössten Anteil am Gespräch hat. Das ist an sich nicht so erstaunlich (vgl. Menz, 2013b), aber die Dolmetscherin in diesem Gespräch prägt die Inhalte mit selbst-initiierten Formulierungen. Im weiteren Verlauf der Sequenz 3 verliert die Pflegefachfrau die Kontrolle über das Gespräch, ihre Redebeiträge beschränken sich auf Backchannel-Signale ( „ mhm “ oder „ aah “ ) 250 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="251"?> sowie auf die Frage mit fallender Intonation „ Und sie spricht Deutsch “ (27). Die Dolmetscherin kommentiert die Deutschkenntnisse der Tochter des Patienten (28). Die Pflegefachfrau führt die Antworten des Patienten in ihrem Formular nach und schaut dazwischen zum jeweils Sprechenden. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Die Dolmetscherin bestätigt den Redebeitrag der Pflegefachfrau zwar mit Backchannel- Signalen (vgl. Teil A), aber in der Wiedergabe verlieren die ausgangssprachlichen Formulierungen durch expandierendes Dolmetschen an Präzision: Statt „ Bescheid geben “ (15) heisst es in der Verdolmetschung „ mit jemandem über Sie sprechen “ und statt von der „ Bezugsperson “ spricht die Dolmetscherin von „ einem engen Freund oder einem nahen Verwandten “ , dessen Aufgabe weniger klar wird, als dies im ausgangssprachlichen Redebeitrag der Fall ist (16). Der Patient versteht die Grundbotschaft trotzdem. Er gibt seine Tochter und seine Söhne als Bezugspersonen an: „ Ich habe eine Tochter, ich habe einen Sohn zu jedem Thema. “ (17) Die Dolmetscherin entscheidet aus eigener Initiative, dass die Tochter des Patienten die Bezugsperson sein soll: „ Okay, geben wir den Namen Ihrer Tochter an [18]), was an dieser Stelle ambig ist. Sie mag damit eine „ wir-Beziehung “ mit der Pflegefachfrau vortäuschen und dem Patienten gegenüber eine Entscheidung suggerieren, die sie in Absprache mit der Pflegefachfrau getroffen hat. Der Patient ist abhängig vom sprachlichen Handeln der Pflegefachfrau sowie demjenigen der Dolmetscherin. Die Pflegefachfrau ist wiederum abhängig von der Wiedergabe der Dolmetscherin. Sie erfährt nur von der Tochter, aber nichts von den Söhnen. Solange die primären Gesprächsparteien keine gemeinsame Sprache sprechen, kann die Dolmetscherin ihre Machtposition nutzen, ohne dass die beiden Parteien etwas davon merken (vgl. Mason, 2009). Der Patient erzählt im weiteren Verlauf, dass die Tochter gestern im Spital war, was die Dolmetscherin metadiskursiv kommentiert ( „ sehr schön “ [19]), aber nicht dolmetscht. Er fährt fort und berichtet, dass sie gestern „ hier “ war und dass sie um halb sechs Uhr kam (20). Den Patienten lässt die Dolmetscherin in dieser Sequenz nicht immer ausreden. „ Ist sie auch Krankenschwester? “ fragt sie dazwischen (21). Er betont, dass sie im Altersheim „ etwas geworden “ ist (23) und dass sie um halb sechs kommen wird (24) Dazwischen fügt die Dolmetscherin wieder einen Kommentar ein: „ Krankenschwester? Krankenpflegerin, sehr gut. “ (22) Die Dolmetscherin lässt in der Wiedergabe aus, dass die Tochter gestern im Spital war, und verflacht die Äusserung des Patienten, dass die Tochter „ etwas geworden “ ist, zum blossen Sachverhalt: „ Sie arbeitet im Altersheim “ (25). Sie verändert ausserdem die genaue Zeitangabe des Patienten „ Sie wird um halb sechs kommen “ (24) zu einer unpräziseren Angabe „ [ … ] jetzt so um fünf [ … ] wollte sie auch vorbeikommen. “ (26). Die Unverbindlichkeit in der Zeitangabe mag an sich eine belanglose Modifikation des ausgangssprachlichen Redebeitrags sein, aber in der genauen Angabe des Vaters klingt der Gedanke „ sie kommt genau dann, ich kann mich auf sie verlassen “ mit. Ob die Pflegefachfrau den manipulativen Charakter der Verdolmetschung wahrnimmt, bleibt offen. Wenn die Pflegefachfrau den Patienten befragt, schaut er verhalten zu ihr, senkt jedoch den Blick immer wieder. Im Gespräch mit der Dolmetscherin bleibt sein Blick mit wenigen Unterbrechungen auf sie gerichtet. Wenn die Pflegfachfrau Notizen macht, schaut er auf ihre Unterlagen. 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme 251 <?page no="252"?> 5.6.4 Zusammenfassung Die vor dem Gespräch vereinbarte Rollenverteilung über den Kopf des Patienten hinweg entspricht dem Agieren der Dolmetscherin und der Expertin während der Pflegeanamnese in keiner Weise. Die Dolmetscherin verletzt mit ihrem manipulativen Vorgehen die dolmetsch-ethischen Regeln. A. Interaktion als koordiniertes Handeln Die Pflegefachfrau und die Dolmetscherin zeigen sich wechselseitig die Bedingungen auf, unter denen sie das gedolmetschte Gespräch führen wollen: Die Pflegefachfrau will kurze Sätze formulieren. Bei ihr kann man sagen, dass sie ihrer Vorgabe folgt. Der Grund ist institutionell bedingt. Ihre Fragen sind schriftlich fixiert und sie folgt bei der Gestaltung des Interviews dem Fragebogen, den sie vor sich hat - , so gut ihr dies bei den selbst-initiierten Redebeiträgen und beim Redefluss der Dolmetscherin möglich ist. Die Art der Kommunikaton, in der sie sich auf Backchannel-Signale und eine Zwischenbemerkung ( „ Und sie spricht Deutsch “ ) beschränken muss, entspricht ihrer Planung, soweit diese aus Sequenz 1 ersichtlich wird, in keiner Weise. Sie verliert die Gesprächsführung an die Dolmetscherin, interveniert aber nie. Immerhin nutzt sie ihren Status als Sozialdominante dazu, in den Sequenzen 1 und 3 das Zwiegespräch der Dolmetscherin mit dem Patienten zu unterbrechen, damit sie ihre Fragen nach dem Verständnis des Patienten und nach den Deutschkenntnissen der Tochter einbringen kann. Die Dolmetscherin hat der Pflegefachfrau zu Beginn des Gesprächs eine ausgangstextnahe Verdolmetschung in Aussicht gestellt. Die auf die Vorgaben in Gesprächsausschnitt 1 folgenden Sequenzen 2 und 3 zeigen jedoch deutlich, wie weit sich die Dolmetscherin von ihrer eigenen Vorgabe entfernt. Sie gesteht sich einen weitaus grösseren Spielraum zu, als die wortnahe Wiedergabe, die sie mit der Pflegefachfrau vereinbart hat, dies erlauben würde. B. Spezifische Phänomene und Problemquellen Dieses Gespräch verläuft wie alle anderen Fallbeispiele zügig. Im Gesprächsverlauf werden allerdings einige Problemquellen für die Pflegefachfrau nicht manifest. Die Formen der Redewiedergabe Das Personalpronomen „ ich “ kommt in den Redebeiträgen des Patienten lediglich einmal vor. Die Redewiedergabemarkierung durch die Dolmetscherin kommt in den drei Sequenzen des Fallbeispiels 5 nie vor. 1. Person Sg. im AT Verwendung der 1. Person Sg. im AT durch den (P) Beibehaltung der 1. Person Sg. durch (D) im ZT Auslassung Fallbeispiel 5 1 - 1 Tab. 5.6.4-1: Redewiedergabe durch die Dolmetscherin im ZT 52 52 Die Angaben zur Redewiedergabe sowie zur Adressierung beziehen sich lediglich auf die Gesprächsausschnitte 2 und 3, da die Redebeiträge im Gesprächsausschnitt 1 nicht gedolmetscht werden. 252 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="253"?> Der Patient verwendet in einem von acht Redezügen das Personalpronomen „ ich “ ( „ Ich habe eine Tochter, ich habe einen Sohn. “ [Zitat aus Sequenz 3]). Die Dolmetscherin gibt das Pronomen nicht wieder. Ausserdem lässt sie den ganzen Redebeitrag unverdolmetscht und formuliert selbst-initiiert eine Antwort ( „ Okay, geben wir den Namen Ihrer Tochter an. “ ), Damit zeigt sie an, dass sie sich als Beteiligte verhält und nicht als Dolmetscherin. Sie verwendet das Personalpronomen „ ich “ lediglich für sich selbst. Wenn die Pflegefachfrau das Personalpronomen „ ich “ für sich verwendet, gibt die Dolmetscherin die 1. Person Singular ebenfalls nicht wieder, sie spricht in der 3. Person Singular über die Pflegefachfrau. Die Adressierungsformen der Beteiligten Neben der direkten Adressierung des Patienten verwendet die Pflegefachfrau die 3. Person Singular, wenn sie mit der Dolmetscherin über den Patienten spricht. Der Patient adressiert weder die Pflegefachfrau noch die Dolmetscherin, verweist aber im Gespräch mit der Dolmetscherin mit der 3. Person Singular auf die Pflegefachfrau. Die Dolmetscherin verwendet die 3. Person Singular, wenn sie mit der Pflegefachfrau über den Patienten und mit dem Patienten über die Pflegefachfrau spricht oder wenn sie eigene Kommentare hinzufügt. Die Beteiligungsformate drücken den Wechsel in den Gesprächssituationen aus. Adressierung des (P) durch die (Pf ) 3. Person Pl. (direkte Adressierung) 3. Person Sg. (indirekte Adressierung) Fallbeispiel 5 2 1 Tab. 5.6.4-2: Adressierungsformen der Pflegefachfrau In acht Redebeiträgen verwendet die Pflegefachfrau zwei verschiedene Adressierungsformen. Sie adressiert den Patienten zweimal direkt, einmal wechselt sie zum indirekten Sprechen mit der Dolmetscherin über den Patienten. Adressierung der (D) durch den (P) Adressierung der (D) durch den (P) 3. Person Pl. 2. Person Sg. (Adressierung der (D)/ 3. Person Sg. (PF) Fallbeispiel 5 1 1/ 1 Tab. 5.6.4-3: Adressierungsformen des Patienten Der Patient spricht meist, ohne die Dolmetscherin oder die Pflegefachfrau direkt zu adressieren. Einmal adressiert er die Dolmetscherin in der 3. Person Plural und anschliessend einmal in der 2. Person Singular. Über die Pflegefachfrau spricht er in einem Redebeitrag in der 3. Person Singular. Adressierung des (P) durch die (D) 3. Person Pl. direkte Adressierung (Sie) 3. Person Sg. über (P)/ über (Pf)/ über die Institution Fallbeispiel 5 3 1/ 3/ 1 Tab. 5.6.4-4: Adressierungsformen der Dolmetscherin Die Dolmetscherin adressiert den Patienten dreimal direkt in der 3. Person Plural. In ihren selbst-initiierten Formulierungen spricht sie in der 3. Person Singular einmal über den 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme 253 <?page no="254"?> Patienten, dreimal über die Pflegefachfrau, einmal über die Vertreter: innen des Spitals in der Gesamtheit. In den selbst-initiierten Redebeiträgen kommentiert die Dolmetscherin die Redebeiträge der Pflegefachfrau sowie des Patienten und verhält sich damit als Beteiligte. Eine wichtige Rolle spielen in Fallbeispiel 5 die Sitzposition sowie das Blickverhalten. Die vorgegebene Sitzposition erlaubt den Beteiligten einen optimalen visuellen Zugang zueinander. Der Patient sitzt in der Mitte. Seine Augenkommunikation ist gut sichtbar. Meist lediglich an der Kopfbewegung erkennbar sind hingegen die Blickkontakte der Pflegefachfrau und der Dolmetscherin. Trotz der optimalen Sitzposition im Dreieck werden entweder die Pflegefachfrau oder der Patient von der Interaktion ausgeschlossen. Wie in den vorausgehenden Fallbeispielen können trotz der zum Teil eingeschränkten Sichtbarkeit der Blickkontakte zusammenfassend Regularitäten im multimodalen Verhalten der drei Beteiligten aufgezeigt werden: • Die Pflegefachfrau hat beim Sprechen vor allem mit der Dolmetscherin Blickkontakt. Zudem führt sie den Blick regelmässig zum Patienten, den sie damit in die Interaktion einschliesst. • Während den Verdolmetschungen für den Patienten schaut sie die Dolmetscherin an, wendet sich aber auch in diesen Gesprächssituationen mehrfach dem Patienten zu. • Der Patient wendet sich der Dolmetscherin zu, wenn sie spricht, oder er blickt vor sich hin. • Während der Verdolmetschung für die Pflegefachfrau hält er den Blick gesenkt. • Wenn die Pflegefachfrau spricht, dreht er ihr den Kopf leicht zu, hält den Blick in der Regel aber ebenfalls gesenkt. Er schaut höchstens auf ihre Unterlagen, während sie schreibt. • Die Dolmetscherin blickt jeweils auf die Sprecher: innen. Eine wichtige Rolle spielen in Fallbeispiel 5 in erster Linie das Rollenverständnis der Dolmetscherin und die Modifikationen. In Sequenz 1 erfolgt keine Verdolmetschung für den Patienten. Der Patient unterbricht schliesslich das Zwiegespräch zwischen der Pflegefachfrau und der Dolmetscherin von sich aus. Zu Beginn von Sequenz 2 wird zudem wahrnehmbar, dass zwischen der Dolmetscherin und dem Patienten zweimal ein Sprecherwechsel ohne Verdolmetschung stattfindet. Erst aufgrund des Eingreifens der Pflegefachfrau gibt die Dolmetscherin den Inhalt wieder. Die Modifikationen in den Redebeiträgen werden erst anhand des Transkripts erkennbar. Die Diskrepanzen sind unterschiedlich schwerwiegend und haben verschiedene Folgen. Die Verflachung des deutlichen Hinweises des Patienten „ [ … ] sie soll alles [ … ] sagen [ … ] alles über meine Krankheit sagen [ … ] “ (8) zu Beginn der Sequenz 2 wird durch die Auslassung der Wiederholung in der Verdolmetschung „ [ … ] er würde gerne über die Krankheit wissen [ … ] “ (11) zu einer weniger emphatischen Formulierung. Die mangelnde Loyalität zum Patienten wird noch sichtbarer, wenn die Dolmetscherin an anderer Stelle den originalen Inhalt mit einer Auslassung zensuriert und aus eigener Initiative eine Entscheidung zum Vorgehen trifft: „ Okay. Geben wir den Namen ihrer Tochter an. “ Den Hinweis des Patienten auf die Söhne gibt sie nicht an die Pflegefachfrau weiter. Die Dolmetscherin fühlt sich offenbar dazu legitimiert, die Inhalte zu modifizieren. Damit entspricht ihr Vorgehen in keiner Weise dem Rollenverständnis, wie sie es während des Eingangsgesprächs mit der Pflegefachfrau vereinbart hat. Sie hat versprochen, die 254 5 Auswertung der Fallbeispiele <?page no="255"?> Redebeiträge wortgetreu wiederzugeben, wie es dem Prinzip des conduit entspricht. Statt sich jedoch wie angekündigt an der conduit-Rolle zu orientieren, übernimmt die Dolmetscherin anstelle der Pflegefachfrau die Gesprächsführung und setzt sich über deren Äusserungen sowie die des Patienten mehrmals hinweg. Sie nimmt sich inhaltliche Freiheiten, die weit über die Funktion einer Dolmetscherin hinausgehen. Bei den weitreichenden Unterschieden zwischen den ausgangssprachlichen Redebeiträgen und den Verdolmetschungen stellt sich die Frage, wie weit die Dolmetscherin in der Lage ist, ihren Sprachentransfer während des Gesprächs selbst zu reflektieren und mit ihren „ theoretischen “ Überlegungen, wie sie sie am Anfang dieser Sequenzen formuliert, in Einklang zu bringen. Für den Patienten sind die Folgen der manipulativen Verdolmetschungen gravierend. Die Dolmetscherin dominiert das Gespräch mit selbst-initiierten Wiedergaben so weitgehend, dass die Kommunikation fehlschlägt. Ob oder wieweit dem Patienten die Dominanz der eigenständig und gegen die dolmetsch-ethischen Regeln agierenden Dolmetscherin aufgrund seiner Deutschkenntnisse bewusst wird, bleibt im Gespräch offen. Obwohl ihr Verhalten zu einer sehr unbefriedigenden Situation für ihn führt, richtet er sich mit seinem Blickverhalten und seiner Körperhaltung vor allem an sie, während er gegenüber der Pflegefachfrau ein sehr distanziertes Verhalten zeigt, indem er sich ihr kaum zuwendet und den Blick gesenkt hält, wenn sie spricht. 5.6 Fallbeispiel 5: Pflegeanamnese nach Notaufnahme 255 <?page no="256"?> 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse Ziel der vorliegenden Arbeit war die Untersuchung der Interaktion anhand von authentischen gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen. In der Studie wurde die Verständigungsarbeit zwischen den primären Gesprächsparteien und den Dolmetscher: innen, die Beteiligungsformen, das Zusammenwirken der sprachlichen Handlungen mit den anderen körperlichen Ressourcen, die sozialen Beziehungen sowie die Besonderheiten im Expert: innen-Laien-Gefüge beobachtet. Für die Detailanalyse wurden Methoden der Gesprächsanalyse und der Dolmetschwissenschaft verwendet. Zudem wurden Ergebnisse der medizinischen Gesprächsforschung herangezogen. Mit dieser Herangehensweise konnten trotz variantenreicher Ausprägungen über alle Fallbeispiele hinweg Muster und Gemeinsamkeiten spezifischer Phänomene identifiziert werden. 6.1 Organisatorische, strukturelle und thematische Gemeinsamkeiten Das analysierte Datenmaterial umfasst sechs Fallbeispiele aus fünf Gesprächen, die in verschiedenen Abteilungen der drei Universitätsspitäler in Basel, Zürich und Bern mit Videokameras aufgezeichnet wurden. Da Videoaufnahmen von gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen in der Forschungsliteratur bisher verhältnismässig selten sind, wurde mit der Absicht einer allgemeineren Gültigkeit der Ergebnisse auf eine gewisse Breite in der Auswahl der Gespräche Wert gelegt. Das Datenmaterial ist entsprechend heterogen. Die aus dem Datenmaterial für die vorliegende Arbeit ausgewählten 26 Gesprächsausschnitte unterscheiden sich vor allem hinsichtlich • der Erstsprache der Patient: innen, • der Krankheitsfälle, • der Räumlichkeiten, • der personellen Konstellation, • der Gesprächsphasen sowie • der Länge der ausgewählten Sequenzen. Trotz dieser Unterschiede sind organisatorische, strukturelle und thematische Gemeinsamkeiten die Basis für die systematische und vergleichende Analyse der Fallbeispiele. Organisatorische Gemeinsamkeiten • Alle Gespräche finden in Spitalabteilungen statt. Die Konsultationen haben damit weitgehend dieselben zeitlichen beziehungsweise gesprächsorganisatorischen Rahmenbedingungen: <?page no="257"?> • In allen Gesprächen sind drei Personen anwesend: eine Expertin/ ein Experte mit Deutsch als Erstsprache, eine Patientin/ ein Patient mit albanischer oder türkischer Erstsprache sowie eine Dolmetscherin/ ein Dolmetscher. Damit ist die personelle Konstellation in allen Gesprächen grundsätzlich dieselbe. • Die Expert: innen verstehen in den ausgewählten Fallbeispielen weder Albanisch noch Türkisch. • Die Patient: innen sind Langzeit-Patient: innen, die über eine gewisse Krankheitserfahrung verfügen. Zudem sind sie mit der Spitalroutine vertraut. • Sowohl die albanischen als auch die türkischen Patient: innen leben zwar schon länger in der Schweiz und haben gewisse Deutschkenntnisse, aber sie ziehen es trotzdem vor, das Gespräch mit der Unterstützung von Dolmetscher: innen zu führen. • Gedolmetschte Ärzt: nnen-Patient: innen-Gespräche sind Expert: innen-Laien-Gespräche. Weder die Patient: innen noch die Dolmetscher: innen verfügen über dieselbe fachliche Expertise wie die Expert: innen. Strukturelle Gemeinsamkeiten Eine gewisse Homogenität wird durch die Selektion der Gesprächsausschnitte hergestellt: • Durch die Auswahl von Gesprächseröffnungsbeziehungsweise Gesprächsbeendigungssequenzen werden strukturelle Gemeinsamkeiten etabliert. • Mit der Eröffnungsfrage setzen die Expert: innen nach einer (in den hier verwendeten Daten nicht abgebildeten) Vorphase in den Fallbeispielen 1 und 2 mit der Frage „ Wie geht es Ihnen? “ ein. Damit werden Beschwerdeschilderungen eingeleitet. In vier von sechs Fallbeispielen sind die Sequenzen auf die Beschwerdeschilderung durch die Patient: innen ausgerichtet (vgl. die Fallbeispiele 1, 2, 3, 4/ Teil II). Die Beschwerden werden mit unterschiedlich langen Frage-Antwort-Sequenzen exploriert. • Zwei Fallbeispiele schliessen mit dem Ende des Gesprächs ab. In Fallbeispiel 3 beendet die Beraterin die Interaktion mit der Vereinbarung des nächsten Termins. Die Ärztin in Fallbeispiel 4/ Teil II verabschiedet den Patienten am Schluss des Gesprächs mit der abrupten Aufforderung, seine Sachen einzupacken. • Sowohl Beschwerdeschilderungen als auch Gesprächsbeendigungen entsprechen den Aktivitätsstrukturen von Expert: innen, wie u. a. Byrne/ Long (1976), Heritage/ Maynard (2006a), Nowak (2010) oder Spranz-Fogasy (2010) sie beschreiben (vgl. Kap. 2.4). Thematische Gemeinsamkeiten Die Fallbeispiele sind zudem durch das Forschungsdesign insofern miteinander verknüpft, als Schmerzen und das damit verbundene emotionale Erleben der Patient: innen für die vorliegende Untersuchung als thematische Schwerpunkte definiert worden sind. • Körperliche Schmerzen sind in den Fallbeispielen 1, 2 und 4/ Teil II im Fokus. • Weiter sind Gesprächsausschnitte für die Analyse ausgewählt worden, in denen die Patient: innen schmerzbedingte Ängste und krankheitsbedingte Sorgen zum Teil überlappend thematisieren. In den Fallbeispielen 2 und 4/ Teil II sind die körperlichen Schmerzen verbunden mit emotionaler Belastung im Fokus, in Fallbeispiel 3 die kommunikative Darstellung der Ängste der Patientin, die auf einen Therapiewechsel zurückzuführen sind. 6.1 Organisatorische, strukturelle und thematische Gemeinsamkeiten 257 <?page no="258"?> • In allen Fallbeispielen wird deutlich, dass das gedolmetschte Gespräch Unsicherheiten im Interaktionsverlauf mit sich bringt, die sich negativ auf die Patient: innenzufriedenheit auswirken können (vgl. insbesondere die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil II). 6.1.1 Ausblendung von Schmerzen und krankheitsbedingten Ängsten In den Fallbeispielen thematisieren die Patient: innen mit Ausnahme von Fallbeispiel 5 ihre körperlichen Schmerzen und ihre damit verbundenen Ängste. Auffällig ist mehrfach das Ungleichgewicht zwischen medizinischen Sachverhalten und emotionalen Anteilen. Die symptomatischen Schmerzschilderungen der Patient: innen werden konsequent verdolmetscht (vgl. die Fallbeispiele 1, 2, 3 und 4/ Teil II). Das damit verbundene emotionale Erleben der Patient: innen bleibt in den Gesprächen hingegen mehrfach unverdolmetscht. Dadurch können die Expert: innen im weiteren Verlauf der Interaktion nur zum Teil darauf eingehen. Die eindringlichsten Beispiele finden sich in den Fallbeispielen 2, 3 und 4/ Teil II. In einigen Fällen werden die Klagen über Schmerzen, Ängste und Sorgen zwar gedolmetscht, aber von den Dolmetscher: innen in der Relevanz zurückgestuft. In diesen Situationen könnten die Expert: innen die emotionalen Themen eigentlich aufnehmen. Interessant ist nun, dass die Expert: innen - abgesehen von einer einzigen kurzen empathischen Bemerkung in Fallbeispiel 2 - trotz der (heruntergestuften) Verdolmetschungen ebenfalls lediglich auf die symptomatischen Beschwerden eingehen. Das Ausblenden der Emotionen sowohl aufseiten der Expert: innen als auch aufseiten der Dolmetscher: innen zeigt sich am ausgeprägtesten in den Fallbeispielen 2, 3 und 4/ Teil II. Die Vermeidung von sensiblen Gesprächsinhalten ist bei den Expert: innen offenbar gleichermassen verbreitet wie bei den Dolmetscher: innen. 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster Im Folgenden werden die Ergebnisse aufbauend auf den in Kapitel 1.2 beschriebenen Zielen zusammengeführt. Die Analysen der Fallbeispiele haben vielfältige Formen von fallübergreifenden sowie von disziplinübergreifenden Mustern zutage gebracht. Zunächst wird auf die Verständigungsprobleme aufgrund der Modifikationen, auf die verschiedenen Arten der Redewiedergabe und der Adressierung sowie auf die Dynamik der Rollen eingegangen. 6.2.1 Modifikationen Anhand der Transkripte können die originalen Redebeiträge, die Verdolmetschungen sowie die Unterschiede in den beiden Versionen nachverfolgt werden. Bei den vergleichenden Untersuchungen zeigen sich inhaltliche Unterschiede. Die häufigsten und folgenschwersten Modifikationen in den Verdolmetschungen der sechs Fallbeispiele sind Auslassungen, Relevanzrückstufungen und Hinzufügungen der Dolmetscher: innen. Wie weit den Patient: innen die Modifikationen durch die Dolmetscher: innen bewusst werden, lässt sich nicht systematisch belegen, aber es gibt einzelne Hinweise: So bittet die Patientin in Fallbeispiel 2 die Dolmetscherin, die inadäquate Verdolmetschung zu berichtigen. Aber die Konsequenzen solcher Modifikationen auf den Gesprächsverlauf werden manifest. Sie führen zu Missverständnissen, zu einem lokalen Stocken im Gesprächsfluss, zu Nachfragen und dadurch zu einem von inhaltlichen Schleifen geprägten Gespräch oder stellenweise sogar 258 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="259"?> zu einem gänzlichen Fehlschlagen der Kommunikation. Zudem zeigen sich in den Fallbeispielen mit grosser Deutlichkeit die durch die Modifikationen entstandenen gravierenden Nachteile für die Patient: innen. 6.2.1.1 Auslassungen In allen sechs Fallbeispielen fallen in erster Linie Auslassungen von emotionalen Anteilen ins Gewicht. Die Auslassungen von Klagen über Schmerzen, über schmerzbegleitende Ängste und krankheitsbedingte Sorgen führen in den Fallbeispielen 1, 2, 3 und 4/ Teil II dazu, dass die Expert: innen nicht auf die Anliegen der Patient: innen eingehen können (vgl. Kap. 6.1.1). Neben Schmerzen und Ängsten werden den Expert: innen verschiedene andere Beschwerden vorenthalten, auf die sie aus medizinischen und sozial-psychologischen Gründen angewiesen wären, wie etwa der Hinweis auf die Lähmung der Patientin in Fallbeispiel 1 oder auf mehrere Symptome und Beschwerden der Diabetes-Patientin in Fallbeispiel 3 und des Diabetes-Patienten in Fallbeispiel 4/ Teil II. Weiter beeinträchtigen die Dolmetscher: innen die Verständigung durch Auslassungen von Fachausdrücken und/ oder durch die unzureichende Wiedergabe von fachlichen Zusammenhängen. Gravierend sind die Auslassungen dieser Art in den Fallbeispielen 3 und 4/ Teil I. Auch Auslassungen von Wörtern wie etwa das in den allgemeinen Wortschatz gehörende Wort „ Ruhe “ können negative inhaltliche Konsequenzen haben. Dasselbe gilt für Namen und Zahlen, die von den Dolmetscher: innen ausgelassen oder inadäquat wiedergegeben werden. Weitere Beispiele für folgenreiche Auslassungen im vorliegenden Datenmaterial sind Verknüpfungshinweise, die im originalen Redebeitrag Zusammenhänge zwischen aufeinander folgenden Redebeiträgen aufzeigen. Die in den Verdolmetschungen fehlenden syntaktischen Bezüge können die Logik der patient: innenseitigen Redebeiträge und damit die Verständlichkeit beeinträchtigen, mit der Konsequenz, dass die Expert: innen an den kognitiven Fähigkeiten der Patient: innen zweifeln. Solche Zweifel können dazu beitragen, dass die Expert: innen anstelle der Patient: innen die Dolmetscher: innen als Gesprächspartei vorziehen. Ebenfalls schwerwiegende Folgen für die Verständigung können Verschiebungen von Verknüpfungsmitteln haben (vgl. vor allem die Verschiebung von einem kausalen zu einem finalen Bezug in Fallbeispiel 4/ Teil I). Ausgelassen werden zudem die Backchannel-Signale der Expert: innen „ gut “ , „ okay “ , „ genau “ , „ mhm “ beziehungsweise der Patient: innen wie „ mhm “ , „ ja “ , o. ä. (vgl. Amato, 2007, p. 30). Ob die Backchannel-Signale der Expert: innen von den Patient: innen oder umgekehrt die Backchannel-Signale der Patient: innen von den Expert: innen ohne Verdolmetschung tatsächlich wahrgenommen werden, bleibt in vielen Fällen unklar, aber es gibt eindeutige Beispiele für fehlende Reaktionen der Expert: innen auf Backchannel-Signale der Patient: innen (vgl. vor allem die Beispiele im Fallbeispiel 4/ Teil I). Bei Auslassungen von Backchannel-Signalen geht es nicht allein um Inhalte, es fehlt auch der beziehungsbildende Aspekt (vgl. Linell, 1998, p. 174). Der Vergleich zwischen ausgangs- und zielsprachlichen Äusserungen zeigt weiter, dass in den Verdolmetschungen auch rhetorische Strukturen der Expert: innen, zum Beispiel Heckenausdrücke und lexikalische oder syntaktische Wiederholungen, fehlen. Besonders deutlich wird die fehlende Umsetzung der auffälligen rhetorischen Strukturen in der 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster 259 <?page no="260"?> Verdolmetschung der Argumentation des Onkologen in Fallbeispiel 2, die er einsetzt, um die Patientin von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen. 6.2.1.2 Relevanzrückstufungen Ein mit den Auslassungen verwandtes Phänomen sind die Relevanzrückstufungen, die im vorliegenden Datenmaterial wie die Auslassungen vor allem Schmerzen und Emotionen betreffen. Die Rückstufungen durch die Dolmetscher: innen könnten dazu beitragen, dass die Expert: innen die von den Patient: innen relevant gesetzten Anliegen als weniger dringlich einstufen und möglicherweise zum Teil deshalb nicht darauf reagieren. Aber sie hätten die Möglichkeit, an Ängste und Sorgen der Patient: innen anzuknüpfen. Ebenso wie die Auslassungen sind die Relevanzrückstufungen von emotionalen Anteilen ein wesentlicher Teil des Misslingens der gedolmetschten Kommunikation in den sechs Fallbeispielen. 6.2.1.3 Hinzufügungen Die Dolmetscher: innen fügen mit selbst-initiierten Ergänzungen oder Erklärungen eigene Inhalte hinzu, die mit den Redebeiträgen der primären Gesprächsparteien nicht übereinstimmen (vgl. vor allem Fallbeispiel 5). Eine weitere Form der Hinzufügung sind verbale Bestätigungen der von den Expert: innen vertretenen Ansichten. Damit solidarisieren sich die Dolmetscher: innen mit den Expert: innen. Bei den Hinzufügungen der Dolmetscher: innen handelt es sich weiter um metadiskursive Kommentare oder um Wiederholungen von früheren Redebeiträgen der Patient: innen, manchmal in Kombination mit Auslassungen. Die Kombination von Auslassungen und Hinzufügungen kann den Dolmetscher: innen als Überbrückung von schwierigen Situationen dienen. Mit Wiederholungen von bereits früher gedolmetschten Inhalten verbergen sie fehlende fachliche Kenntnisse, terminologische Probleme, unverstandene Zusammenhänge, Wortfindungsprobleme oder die begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. So wiederholt etwa die Dolmetscherin in Fallbeispiel 2 die Informationen eines früheren Redebeitrags, mit denen sie Defizite der Speicherkapazität bei der Wiedergabe ausgleicht und eine Balance zwischen der Länge des originalen Redebeitrags und der Verdolmetschung herstellt. 6.2.1.4 Unauffälligkeit der Modifikationen im Gesprächsverlauf Solange die Verdolmetschungen einen Sinn ergeben und das Gespräch zügig verläuft, fallen den Expert: innen die Modifikationen nicht auf. Allerdings vertrauen sie den Dolmetscher: innen meist auch dann, wenn der Sinn der Wiedergabe durch fehlende Antworten, durch Schleifen beim Explorieren, durch thematische Wiederholungen sowie durch verbale Einwürfe oder Gesten der Patient: innen gestört wird und Zweifel angebracht wären. Explizite Hinweise auf Zweifel an den Verdolmetschungen gibt es in der vorliegenden Studie aufseiten der Expert: innen nur selten. Diese Beobachtung entspricht der Studie von Bot (2009, p. 123). Es gibt lediglich wenige Ausnahmen: In Fallbeispiel 2 misstraut der Arzt aufgrund seines medizinischen Wissens der von der Dolmetscherin genannten Anzahl der chemotherapeutischen Behandlungen. Eine grundsätzliche Skepsis der Dolmetscherin gegenüber scheint dadurch aber nicht zu entstehen. In Fallbeispiel 4/ Teil I werden die 260 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="261"?> Verständigungsprobleme für die Ärztin so evident, dass sie die Dolmetscherin darauf anspricht, jedoch erst 4: 21 Minuten vor dem Ende des Gesprächs. Dies, obwohl Diskontinuitäten sowie ein aufgrund von mangelhaften Wissensvoraussetzungen der Dolmetscherin beeinträchtigter, auffallend schwerfälliger Informationsfluss den Gesprächsverlauf von Anfang an prägen. Einzelne auffällige Wortschatzprobleme fallen den Expert: innen gelegentlich auf. Ein Beispiel dafür findet sich in Fallbeispiel 4/ Teil II, wenn die Ärztin bei der Dolmetscherin bei einer sinnstörenden Wiedergabe nachfragt, was sie mit „ Schlof “ meint. Die Dolmetscherin kann das Wort „ taub “ , das sie sucht, erst verzögert abrufen. Den Patient: innen werden inadäquate Verdolmetschungen vermutlich bewusster als den Expert: innen, vor allem wenn sie gewisse Deutschkenntnisse haben. Wieviel die einzelnen Patient: innen im Detail verstehen, bleibt ungewiss. Immerhin zeigen einige ihrer Reaktionen auf, wie sie die verdolmetschten Redebeiträge der Expert: innen verstehen. Die Patientin in Fallbeispiel 2 und der Patient in Fallbeispiel 4/ Teil I sowie in Teil II greifen korrigierend oder unterstützend in die Verdolmetschung ein. Das wiederholte Insistieren der Patient: innen auf ihren Anliegen in den Fallbeispielen 2, 3, 4/ Teil I sowie Teil II weist ebenfalls auf ihr Wissen um die Lücken in der Verdolmetschung hin. Die Wiederholung ihrer Anliegen ist in jedem einzelnen Fall eine Reaktion auf unbeantwortete Themen. Der Nutzen von Wiederholungen bleibt für die Patient: innen trotz ihres Eingreifens begrenzt. 6.2.1.5 Ursachen von Auslassungen, Relevanzrückstufungen und Hinzufügungen Zahlreiche im Gesprächsverlauf unbemerkt bleibende Auslassungen lassen sich anhand der Transkripte durch einen interlingualen Vergleich zwar eindeutig feststellen, die Ursachen aber sind den Interaktionen nur zum Teil zu entnehmen. Die Auslassungen von emotionalen Anteilen oder deren Relevanzrückstufungen durch Dolmetscher: innen ist im vorliegenden Datenmaterial zwar häufig (vgl. die Kap. 6.2.1.1 und 6.2.1.2), aber deutliche Hinweise auf die Ursache werden in den Interaktionen nur teilweise sichtbar. Aufgrund der Häufigkeit dieser Auslassungen lässt sich immerhin schliessen, dass beim Dolmetschen ein bewusster Selektionierungsprozess stattfindet. Möglicherweise richten sich die Dolmetscher: innen an den Verhaltensweisen der Expert: innen aus, die nicht auf emotionale Anteile in den Redebeiträgen der Patient: innen eingehen wollen. Zur Klärung dieses Vorgehens kann das konversationsanalytische Konzept des recipient design herangezogen werden (vgl. Kap. 2). Die Dolmetscher: innen gehen möglicherweise aufgrund von entsprechenden Erfahrungen davon aus, dass die Expert: innen nicht oder nicht wiederholt auf Klagen über Schmerzen oder auf Emotionen eingehen wollen. Die Konzepte des gatekeeping oder des recipient design dienen als plausible Erklärungen. Als Motiv für eine inhaltliche Verschiebung kommt auch die Vermeidung von gesichtsbedrohenden Formulierungen oder von konfliktbehafteten Themen in Frage (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil II). Insbesondere kann die Gesichtswahrung im eigenen Interesse (vgl. die Fallbeispiele 2 und 4/ Teil II) ein Beweggrund fürAuslassungen der Dolmetscher: innen sein. Eine weitere Quelle für die Entstehung von Lücken in der Verdolmetschung sind fehlende Wissensvoraussetzungen und terminologische Probleme (vgl. z. B. Crezee, 2013; Pöchhacker, 2007). Fehlendes Fachwissen wird vor allem in Fallbeispiel 4/ Teil I durch Nachfragen der Dolmetscherin manifest. Bei längeren narrativen Redebeiträgen kann auf kognitive 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster 261 <?page no="262"?> Probleme und Überlastung der Gedächtniskapazität (overload) geschlossen werden, aber eindeutig nachweisbar aufgrund des Kontexts sind die Ursachen der Gedächtnislücken nicht. Auch für Auslassungen oder Verschiebungen von Verknüpfungshinweisen in den Verdolmetschungen lassen sich aus den lokalen Kontexten keine eindeutigen Ursachen erkennen. Die Komplexität mancher Satzstrukturen legt allerdings die Vermutung nahe, dass ein Mangel an analytischer Kompetenz sowie an rezeptiver und/ oder produktiver Sprachkompetenz der Dolmetscher: innen die Ursache für die fehlenden oder die vom Originaltext abweichenden kohäsiven Strukturen in der Verdolmetschung ist. Im Vergleich mit den Auslassungen sind Hinzufügungen seltener als Indikatoren für kognitive Verarbeitungsprozesse zu sehen. Wenn Dolmetscher: innen Auslassungen mit Hinzufügungen von früheren Inhalten kompensieren (vgl. Fallbeispiel 2), ist dies möglicherweise eine Strategie oder eine Taktik, mit der eine Länge vorgetäuscht wird, die dem ausgangssprachlichen Redeanteil der Patient: innen etwa entspricht (vgl. Kap. 6.2.1.3). Hinzufügungen als Überbrückung von Erinnerungslücken oder von anderen Verarbeitungsproblemen hängen mit einem diffusen Rollenverständnis der Dolmetscher: innen zusammen (vgl. Pöllabauer, 2005, p. 454). In allen sechs Fallbeispielen sehen sich die Dolmetscher: innen dazu berechtigt, mit selbst-initiierten Hinzufügungen in das interaktive Geschehen einzugreifen, was dolmetsch-ethischen Grundsätzen widerspricht (vgl. u. a. Havelka, 2018; Hofer et al., 2017; Schäffner, 2016, p. 26; Sleptsova et al., 2015). Die durch die Dolmetscher: innen modifizierten Anteile der Gespräche werden bei der Analyse anhand des Transkripts in ihrem ganzen Ausmass wahrnehmbar. Zunächst scheinen Auslassungen, Relevanzrückstufungen und Hinzufügungen in der alleinigen Verantwortung der Dolmetscher: innen zu liegen. Aber die Ursachen für Modifikationen ausschliesslich den Dolmetscher: innen zuzuweisen, greift zu kurz. Alle Beteiligten sind zu jedem Zeitpunkt der Interaktion für eine gelingende Kommunikation verantwortlich. In den Redebeiträgen der Expert: innen lassen sich Sprachgewohnheiten erkennen, die den Verstehensprozess der Dolmetscher: innen beeinträchtigen können. Dazu gehören lexikalisch und/ oder syntaktisch unvollständige Redebeiträge, vor allem Ellipsen, die von den Dolmetscher: innen nach ihrem Verständnis und ihrem Wissen ergänzt werden (müssen). Das Misslingen aufgrund solcher Ergänzungen tritt vor allem in den Fallbeispielen 1 und 4/ Teil I zutage. Die Patient: innen geben mit Ausnahme von wenigen inhaltlich schwer verständlichen Formulierungen (vgl. die Fallbeispiele 2 und 4/ Teil II) kaum Anlass zu Verständigungsschwierigkeiten. Die Dolmetscher: innen ziehen vollständige und plausible Wiedergaben vor, weil sie damit sicherstellen möchten, dass sie von den Expert: innen ernst genommen werden. 1 Zusammengefasst kann fallübergreifend Folgendes festgestellt werden: Für die Patient: innen oder für die Expert: innen kann es zu weitreichenden Verständigungsproblemen kommen, wenn die Dolmetscher: innen ohne deren Wissen in die Inhalte der originalen Äusserungen eingreifen. Die Dolmetscher: innen entscheiden sich im Gesprächsverlauf verschiedentlich ohne unmittelbar erkennbaren Anlass zu Auslassungen von emotionalen Anteilen oder zu Relevanzrückstufungen. Verständigungsprobleme lassen sich dadurch in gedolmetschten Interaktionen weit weniger gut lösen als in monolingualen Gesprächen. 1 Verschiedene Teilnehmer: innen der Weiterbildungsprogramme äusserten sich in diesem Sinne. In den vorliegenden Daten scheint sich diese Ansicht zu bestätigen. 262 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="263"?> Mögliche Ursachen von Modifikationen kristallieren sich erst nach detaillierten Analysen von Transkripten heraus. 6.2.2 Redewiedergabe und Adressierung in den Fallbeispielen Die Dolmetscher: innen geben die Redebeiträge der primären Gesprächsparteien wieder. Damit gehört der Umgang mit der Redewiedergabe und den Adressierungsformen zu ihren spezifischen Handlungen, die in den vorliegenden Fallbeispielen systematisch behandelt werden. 6.2.2.1 Die sprachlichen Formen der Redewiedergabe Die Beibehaltung der 1. Person Singular ( „ ich “ ) in der Redewiedergabe gilt beim Gesprächsdolmetschen in Anlehnung an das Konferenzdolmetschen als ein Zeichen der Dolmetschkompetenz (vgl. z. B. Merlini & Favaron, 2005; vgl. auch Kap. 3.4.1). Der Forderung nach Beibehaltung der 1. Person Singular wird in den Fallbeispielen nur teilweise entsprochen; die Praxis gestaltet sich komplexer. In den sechs Fallbeispielen verwenden die Dolmetscher: innen folgende Muster der Redewiedergabe: a. 1. Person Singular: Die Dolmetscher: innen geben die Redebeiträge aus der Perspektive der Patient: innen in der 1. Person Singular wieder, wie das in der Dolmetschwissenschaft für die Praxis gefordert wird (vgl. Hale, 2007; Harris, 1990): „ Im linken Bein habe ich so starke Schmerzen. “ (Zitat aus Fallbeispiel 1). Formal sind die Dolmetscher: innen dadurch nahe an der Art und Weise, wie sich das Gespräch abspielen würde, wenn die primären Gesprächsparteien eine gemeinsame Sprache hätten (vgl. Hale, 2007, p. 44). b. Auslassung der 1. Person Singular: Auslassungen und Verkürzungen betreffen unter anderem narrative Anteile der patient: innenseitigen Redebeiträge. Damit entfallen die darin enthaltenen Pronomina - zum Beispiel die 1. Person Singular - je nach dem Ausmass der Auslassungen ganz oder zum Teil. c. Unpersönliche Formulierung: Die Dolmetscher: innen lassen die 1. Person Singular aus und formulieren unpersönlich: Zum Beispiel gibt die Dolmetscherin die Schmerzbeschreibung der Patientin ( „ Wenn ich aufstehe, schmerzt es. “ ) in einer unpersönlichen Form wieder: „ Beim Aufstehen schmerzt es. “ (Zitat aus Fallbeispiel 2) d. 3. Person Singular: Die Dolmetscher: innen wechseln von der 1. Person Singular in den originalen Redebeiträgen der Patient: innen in der Wiedergabe zur 3. Person Singular. Dabei fungieren sie nicht im eigentlichen Sinne als Dolmetscher: innen, sondern sie verhalten sich als Beteiligte und sprechen über die Patient: innen. Dass diese Befunde für das Gesprächsdolmetschen repräsentativ sind, wurde bereits in früheren Untersuchungen gezeigt (vgl. z. B. Bot, 2005a, 2005b; Merlini & Favaron, 2005; Sator & Gülich, 2013). Neu sind die vorliegenden Erkenntnisse m. W. einerseits insofern, als der pronominale Wechsel aufgrund der umfangreichen Videoaufzeichnungen in seiner Variabilität dargestellt werden kann. Andererseits kann aufgrund der Häufigkeit des pronominalen Wechsels in den einzelnen Fallbeispielen in Bezug auf die Redewiedergabe eine idiosynkratische Komponente aufgezeigt werden: 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster 263 <?page no="264"?> • In Fallbeispiel 1 bleibt die Dolmetscherin in acht von zehn Fällen bei der 1. Person Singular. Lediglich an zwei Stellen wählt sie eine unpersönliche Formulierung. • Die Dolmetscherin in Fallbeispiel 2 behält die 1. Person Singular in der Wiedergabe konsequent bei. • In Fallbeispiel 3 behält der Dolmetscher das Pronomen „ ich “ in den Redebeiträgen der Patientin lediglich in drei von elf Fällen bei. Dies teilweise aufgrund der mehrfachen Auslassungen von Teilen der narrativen Redebeiträge einschliesslich des Personalpronomens. • In den Fallbeispielen 4/ Teil I und Teil II lässt die Dolmetscherin die Pronomina der 1. Person Singular aus oder sie ersetzt sie durch die 3. Person Singular. • In Fallbeispiel 5 gibt die Dolmetscherin das vom Patienten einmal verwendete „ ich “ ebenfalls nicht wieder. 2 Zusammengefasst lassen sich aus diesen Beobachtungen folgende Schlüsse ziehen: • Die Patient: innen verwenden die 1. Person Singular in den originalen Redebeiträgen häufiger, als dies in den Verdolmetschungen angezeigt wird. Sie sprechen mehr aus ihrem eigenen Erleben, als die Dolmetscher: innen dies mit ihrer Wiedergabe offenbaren. • Die Beteiligung der Patient: innen wird eingeschränkt, wenn die Dolmetscher: innen anstelle der Patient: innen als primäre Gesprächsparteien auftreten und über die Patient: innen sprechen. • Der häufige Wechsel der pronominalen Formen verweist auf eine Unsicherheit der Dolmetscher: innen hinsichtlich ihrer Rolle. 6.2.2.2 Die Redewiedergabemarkierung Ein weiteres Kennzeichen der gedolmetschten Kommunikation ist die formale Markierung der Redewiedergabe durch die Dolmetscher: innen ( „ er, sie sagt “ ) (vgl. Bot, 2005b; Johnen, 2006; Merlini & Favaron, 2005; Van de Mieroop, 2012). Die Dolmetscher: innen ergänzen ihre Wiedergabe in unterschiedlicher Häufigkeit mit dem verbum dicendi. Dabei kommen drei syntaktische Muster vor: • Das verbum dicendi leitet die Äusserung ein (vorgestellt): „ Sie sagt, wenn es für Sie in Ordnung ist [ … ] “ . (Zitat aus Fallbeispiel 3) • Die Verwendung des verbum dicendi steht am Ende der Äusserung (nachgestellt), entweder in Kombination mit der direkten Rede und der 1. Person Singular: „ Ich bin immer hier, sagt sie. “ (Zitat aus Fallbeispiel 1) oder mit der indirekten Rede und der 3. Person Singular: „ [ … ] wichtig ist, dass er versteht, sagt sie. “ (Zitat aus Fallbeispiel 4/ Teil I) • Das verbum dicendi steht zwischen verschiedenen Teilen der Äusserung (integriert): „ Ja das kann wegen dings sein, sagt sie, im Moment bewegst du dich nicht viel. “ (Zitat aus Fallbeispiel 1) 2 Die Pronomina werden von den Patient: innen in unterschiedlicher Häufigkeit verwendet. Die Zahlen in den einzelnen Fallbeispielen sind aus diesem Grund ausschliesslich in Bezug auf die jeweiligen Sequenzen gültig. 264 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="265"?> Zusammengefasst zeigt die fallübergreifende Analyse in Bezug auf die Redewiedergabemarkierung hauptsächlich Folgendes: • Der Matrixsatz mit dem verbum dicendi wird in den vorliegenden Fallbeispielen lediglich bei der Verdolmetschung der Redebeiträge der Expert: innen verwendet. Dieser Befund widerspricht dem Resultat in den Daten Van de Mieroops (2012), in denen Redewiedergabemarkierungen auch in der Verdolmetschung von patient: innenseitigen Redebeiträgen vorkommen. • Mit dem verbum dicendi weisen die Dolmetscher: innen auf die Angabe der Informationsquelle hin (Matic et al., 2016, p. 57 f.). Damit zeigen sie ihre Distanz zu den ausgangssprachlichen Redebeiträgen (Van de Mieroop, 2012) und/ oder sie weisen auf die Autorität der Expert: innen hin ( Johnen, 2006, p. 44) (vgl. u. a. Fallbeispiel 3). • Im vorliegenden Datenmaterial bestätigt sich Bots (2005b) Befund, dass die Dolmetscher: innen die Redewiedergabemarkierung mehrmals hintereinander verwenden, zum Teil sogar innerhalb desselben Redezugs (vgl. Bot, 2005b). An solchen Stellen erscheinen alleinige Ursachen wie die Angabe der Informationsquelle oder der Urheberschaft für die Markierung wenig plausibel. Wiederholungen des verbum dicendi innerhalb desselben Redezugs deuten auch im vorliegenden Datenmaterial auf die Botsche Denkpause (Bot, 2005b, p. 188). Die Dolmetscherin in Fallbeispiel 4/ Teil I verwendet die Redewiedergabemarkierung elfmal. Damit zeigt sich die Unsicherheit der Dolmetscherin mehrfach, auch etwa in Verbindung mit Verzögerungssignalen wie „ dings “ oder mit Rückfragen. Bei solchen Anzeichen von Verarbeitungsproblemen kommt das mangelnde Fachwissen am deutlichsten zum Ausdruck. • Eine andere Facette der Redewiedergabemarkierungen ist die Verdeutlichung als Verständnishilfe für die primären Gesprächsparteien wie etwa in Fallbeispiel 1: In der Verdolmetschung „ Ich bin immer hier, sagt sie. “ macht die Dolmetscherin deutlich, dass mit „ ich “ die Ärztin gemeint ist. Die originale Version derÄrztin ist: „ Bin hier “ . Llewellyn/ Lee (2014) plädieren für ein Eingreifen der Dolmetscher: innen bei Unklarheiten. Die Strategie der beiden Gebärdendolmetscher wird in der Praxis spontan bereits vor der Veröffentlichung dieses Modells genutzt. 3 • In vier von sechs Fallbeispielen finden sich mehrfach Redewiedergabemarkierungen. Die Dolmetscher: innen in den Fallbeispielen 2 und 5 verwenden die Redemarkierung nie. • Ebenso wie bei der Wahl der pronominalen Formen zeigt sich neben den anderen genannten Ursachen eine idiosynkratische Verwendung der Redewiedergabemarkierungen bei den einzelnen Dolmetscher: innen. 6.2.2.3 Die sprachlichen Formen der Adressierung Als weiteres übereinstimmendes Merkmal in verschiedenen Untersuchungen wird ein mehrfacher Wechsel in der Adressierung festgestellt (vgl. Bot, 2005a, 2005b; Dubslaff & Martinsen, 2005; Sator & Gülich, 2013; Van de Mieroop, 2012). Diese Beobachtungen werden in den vorliegenden Daten bestätigt. Die namentliche Adressierung kommt in den vorliegenden Daten selten vor. 3 Die vorliegenden Gespräche wurden in den Jahren 2011 und 2012 aufgezeichnet, die Publikation dieses Modells erschien erst nach 2012. 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster 265 <?page no="266"?> Die Adressierungswechsel bei den Expert: innen, bei den Dolmetscher: innen und seltener bei den Patient: innen sind auffällig. Bei den Expert: innen finden sich folgende sprachliche Formen: a. 3. Person Plural: Die Expert: innen adressieren die Patient: innen direkt: „ Wie geht es Ihnen? “ (Zitat aus Fallbeispiel 2) b. 3. Person Singular: Die Expert: innen sprechen mit den Dolmetscher: innen über die Patient: innen: „ [ … ] wie oft sie den Blutzucker misst und wie oft sie Insulin spritzt. “ (Zitat aus Fallbeispiel 3) c. Unpersönliche Formulierung: Mit unpersönlich formulierten Redebeiträgen und/ oder elliptischen Nachfragen werden potenziell sowohl die Patient: innen als auch die Dolmetscher: innen angesprochen: „ Nützt Dafalgan und Zaldiar? “ (Zitat aus Fallbeispiel 1) d. Unspezifische Form der Adressierung: Die Expert: innen verwenden verallgemeinernde Pronomina: „ [ … ] warum man da müde sein kann. “ (Zitat aus Fallbeispiel 2) Die Adressierungsformen der Expert: innen ergeben über die sechs Fallbeispiele hinweg ein heterogenes Bild. Die wesentlichen Adressierungsformen sind die direkte Adressierung in der 3. Person Plural (a) sowie die indirekte Adressierung in der 3. Person Singular (b). Die unpersönliche Formulierung schliesst sowohl die Patient: innen als auch die Dolmetscher: innen ein (c). Bei unspezifischen Adressierungen lassen Expert: innen offen, wer als Adressat: innen (mit-)gemeint ist (d). Adressierungswechsel bei den Expert: innen sind je nach Fallbeispiel unterschiedlich häufig. Bedeutsam für die Beteiligungsformen ist in erster Linie der Wechsel von der direkten Adressierung in der 3. Person Plural zur indirekten Adressierung in der 3. Person Singular, da sich vor allem dieser Wechsel auf die Beteiligungsformen auswirkt. Im ersten Fall reden die Expert: innen mit den Patient: innen, im zweiten wenden sie sich hingegen an die Dolmetscher: innen und reden über die Patient: innen. Die Verwendung der 3. Person Singular führt zum Ausschluss der Patient: innen. Dies insbesondere in Kombination mit der Abwendung des Blicks (vgl. vor allem die Fallbeispiele 3, 4/ Teil II und 5). Die unpersönliche Formulierung sowie die unspezifischen Adressierungsformen werden selten verwendet. Für den Adressierungswechsel zur 3. Person Singular lassen sich verschiedene Ursachen erkennen: • Die Expert: innen verwenden die 3. Person Singular in Zwiegesprächen mit den Dolmetscher: innen, wenn sie mit ihnen über die Patient: innen sprechen und/ oder ihnen zusätzliche Erklärungen zu medizinischen Sachverhalten abgeben (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). • Der Adressierungswechsel kann durch ein für die Expert: innen wahrnehmbares Verständigungsproblem ausgelöst werden. Die Expert: innen sind entweder unsicher, ob sie die Patient: innen verstehen oder ob sie von den Patient: innen verstanden werden. Zur Sicherung des Verständnisses wenden sie sich an die Dolmetscher: innen. In den Fallbeispielen 2, 4/ Teil I, 4/ Teil II und 5 geben die Expert: innen ihrer Unsicherheit zusätzlich zum Adressierungswechsel explizit Ausdruck. 266 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="267"?> • In Fallbeispiel 3 ist die Verwendung der 3. Person Singular zur Regel geworden. Es scheint sich um ein vorgefestigtes Muster zu handeln. Die Beraterin zieht den Dolmetscher offenbar grundsätzlich als Gesprächspartner vor. Möglicherweise geht sie davon aus, dass er die Zusammenhänge besser versteht als die Patientin. Die Beziehung zwischen der Beraterin und der Patientin wird dadurch beeinträchtigt, diejenige zwischen der Beraterin und dem Dolmetscher gefestigt. • Verschiebungen von der 3. Person Plural auf die 3. Person Singular bei Fragen der Expert: innen stellen für die Dolmetscher: innen formal kein Problem dar, sie stellen eine direkte Frage. Die Frage derÄrztin „ Wann hat sie die Schmerzen? “ lautet in der Verdolmetschung: „ Haben Sie Schmerzen? “ (Zitat aus Fallbeispiel 1) • Die Adressierungswechsel können ohne kontextuelle Hinweise auf eine Ursache erfolgen. In Fallbeispiel 2 kann die Ursache höchstens vermutet werden: Der Wechsel zur 3. Person Singular könnte ein Signal für die Gesprächsbeendigung sein: „ Hat sie Fragen an mich? “ (Zitat aus Fallbeispiel 2) Bei den Patient: innen finden sich in den Übersetzungen aus dem Albanischen beziehungsweise aus dem Türkischen ins Deutsche folgende sprachliche Formen: a. 2. Person Singular: Die Patient: innen adressieren die Dolmetscher: innen in der 2. Person Singular: „ [ … ] ich möchte es nicht haben, weisst du [ … ], ich war früher auch krank [ … ] “ . (Zitat aus Fallbeispiel 3) b. 3. Person Singular: Die Patient: innen sprechen in der 3. Person über die Expert: innen: „ Sie kümmert sich sehr gut. “ (Zitat aus Fallbeispiel 1) c. Unspezifische Form der Adressierung: In einem einzelnen Fall verwendet die Patientin verallgemeinernd das Pronomen „ man “ : „ [ … ] ich warte darauf, dass man sagt, in deinem Körper ist kein Krebs [ … ] “ . (Zitat aus Fallbeispiel 2) Die Patient: innen adressieren die Expert: innen in keinem der Fallbeispiele direkt. In den Fallbeispielen 2 und 3 adressieren sie die Dolmetscherin beziehungsweise den Dolmetscher in der 2. Person Singular (a). Die Verwendung der 3. Person Singular beschränkt sich auf zwei Fälle (Fallbeispiel 1 und Fallbeispiel 4/ Teil II), in denen die Patient: innen in einer kurzen Episode über die Expert: innen sprechen und ihrer Haltung gegenüber den Expert: innen oder ihre Erwartungen an die Expert: innen Ausdruck geben (b). Die unspezifische Form kommt in den Gesprächssequenzen lediglich in Fallbeispiel 2 einmal vor (c). Für die Adressierungswechsel der Patient: innen lassen sich (abgesehen von der unpersönlichen Form) 4 vor allem zwei Ursachen erkennen: • Mit der 2. Person Singular knüpfen die Patient: innen an die Gepflogenheit ihrer Herkunftsländer an. 5 Möglich ist auch, dass eine persönliche Bekanntschaft mit den Dolmetscher: innen besteht. • Die Patient: innen sprechen mit den Dolmetscher: innen in der 3. Person Singular über die Expert: innen, um ihre Emotionen gegenüber den Expert: innen zu äussern; im positiven Sinn äussert sich die Patientin in Fallbeispiel 1 ( „ sie kümmert sich gut “ ), im eher 4 Die unspezifische Addressierungsform kommt in den ausgewählten Gesprächsausschnitten lediglich einmal vor. 5 Diese Auskünfte zur Usanz der Anrede stammen von Naser Morina (Albanisch) und Kenan Hochuli (Türkisch). 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster 267 <?page no="268"?> negativen Sinn der Patient in Fallbeispiel 4/ Teil II ([ … ] „ sie wird sagen wegen der Zuckerkrankheit. “ ). Bei den Dolmetscher: innen finden sich in den Verdolmetschungen und in den selbstinitiierten Redebeiträgen folgende sprachliche Formen: a. 3. Person Plural: Die Dolmetscher: innen verwenden für die direkte Adressierung der Patient: innen die im institutionellen Kontext übliche Form der 3. Person Plural. b. 3. Person Singular: Die Dolmetscher: innen sprechen mit den Expert: innen über die Patient: innen. c. 2. Person Singular: Die Dolmetscher: innen adressieren die Patient: innen in der 2. Person Singular. d. Unpersönliche Formulierung: Die Dolmetscher: innen formulieren unabhängig von der Adressierung der Expert: innen gelegentlich unpersönlich. Die Dolmetscher: innen verwenden für die Patient: innen die Anredeform „ Sie “ . Die überwiegende Häufigkeit der 3. Person Plural bedeutet, dass die Dolmetscher: innen mit der Usanz der Anrede in institutionellen Situationen und/ oder mit den im Gesprächsdolmetschen priorisierten Formen im Allgemeinen vertraut sind (a). Die Dolmetscher: innen sprechen in verschiedenen Situationen in der 3. Person Singular mit den Expert: innen über die Patient: innen oder mit den Patient: innen über die Expert: innen (zum Beispiel in Fallbeispiel 5) (b). Die Adressierung der Patient: innen in der 2. Person Singular kommt lediglich in den Fallbeispielen 1 und 3 vor (c). Die unpersönliche Formulierung ( „ Seit wann besteht der Schmerz? “ [Zitat aus Fallbeispiel 2]) ist vermutlich auf die Spontaneität der Textproduktion unter Zeitdruck zurückzuführen (d). Für den Adressierungswechsel bei den Dolmetscher: innen, in der Regel von der 3. Person Plural zur 3. Person Singular, lassen sich verschiedene Ursachen erkennen: • Die Dolmetscher: innen fragen bei Verständigungsproblemen bei den Expert: innen nach; am häufigsten sind die Nachfragen in Fallbeispiel 4/ Teil I. • In verschiedenen Situationen, in erster Linie im Anschluss an Nachfragen, kann es zu Zwiegesprächen mit den Expert: innen kommen, in denen in der 3. Person Singular über die Patient: innen gesprochen wird (vgl. die Fallbeispiele 3, 4/ Teil I und Teil II, 5). • Die Dolmetscher: innen wählen die 3. Person Singular bei Zusammenfassungen, d. h. wenn sie die vorangegangenen Redebeiträge kürzen (vgl. Fallbeispiel 3). • Die Dolmetscher: innen verwenden die 3. Person Singular in selbst-initiierten Hinzufügungen (vgl. zum Beispiel Fallbeispiel 2). • Als Verständnishilfe kann sich der Adressierungswechsel hingegen im Sinn des nach der Videoaufzeichnung der vorliegenden Gespräche publizierten Modells des role space von Llewellyn/ Lee (2013; 2014) auswirken (vgl. Kap. 3.4.1), wenn die Dolmetscher: innen verdeutlichen, wer gemeint ist, wie etwa in einem Beispiel in Fallbeispiel 2: „ [ … ] dass Sie mi, also dass Sie ihre säge [ … ]. “ • Die Dolmetscher: innen knüpfen mit der Verwendung der 2. Person an die Gepflogenheit ihrer Herkunftsländer an; möglich ist auch, dass eine persönliche Bekanntschaft besteht (wie das bei den Patient: innen der Fall ist). 268 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="269"?> Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass sich die Komplexität von gedolmetschten Gesprächen in den verschiedenen Adressierungs- und Beteiligungsformen darstellt. Das auffälligste Merkmal in den sprachlichen Formen der Adressierung ist wie bei den Expert: innen der Wechsel von der 3. Person Plural zur 3. Person Singular. Vor allem zeigt die Analyse, dass die Wahl der 3. Person Singular in der Adressierung mehr ist als ein Nebeneinander von grammatischen Formen in der dolmetschspezifischen Praxis, mehr als eine Besonderheit der Wiedergabe im gedolmetschten Gespräch und mehr als eine idiosynkratische Präferenz für die eine oder die andere Personalform. Die Wahl der 3. Person Singular ist in erster Linie Ausdruck einer lokalen interaktiven Situation. Das Beispiel einer Verdolmetschung eines Redebeitrags der Ärztin in der Diabetologie-Sprechstunden zeigt in den Videoaufzeichnungen den raschen Wechsel der Perspektiven und das Nebeneinander von pronominalen Formen besonders deutlich: „ Was für mich wichtig ist, dass er versteht, sagt sie, ist das ist mit dem Essen und das ist, wenn Sie also vor dem Essen messen und spritzen. “ (Zitat aus Fallbeispiel 4/ Teil I) Das Beispiel illustriert, wie die Dolmetscherin im ersten Teil in einer bottom-up-Wiedergabe die Worte der Ärztin mit der Adressierung abbildet und im zweiten Teil über den Patienten spricht, während sie anschliessend den Patienten mit der dritten Person Plural direkt adressiert, mit ihm spricht und gleichzeitig Blickkontakt mit ihm aufnimmt. Das eigentliche Problem für die Kommunikation liegt nicht im Adressierungswechsel an sich und nicht einmal in der Häufigkeit dieses Wechsels, sondern im Sprachwechsel, der mit dem Adressierungswechsel verbunden ist, sowie in den unverdolmetscht bleibenden Zwiegesprächen. Auf diese Weise wird der oder die dritte Beteiligte von der Interaktion ausgeschlossen. Hinzu kommt gleichzeitig der Ausschluss der nicht-Adressierten durch die Blickkontakte, die Gestik und die Backchannel-Signale (mehr dazu in den Kapiteln über die Multimodalität). 6.2.3 Wider statische Rollen im spontanen Gespräch Den Dolmetscher: innen werden in der Literatur mehrere Rollen zugeschrieben (vgl. Kap. 3.4.3). Bereits die verschiedenen sprachlichen Benennungen zeigen die Vielfalt der Aufgabenprofile (vgl. Kap. 3.2.2). Die Dolmetscher: innen werden in Befragungen etwa als Ko-Therapeut: innen, Helfer: innen, Kulturvermittler: innen oder gatekeepers gesehen. Das conduit-Modell, das auf einem ausgangstextnahen Transferprozess basiert, steht im Widerspruch zu diesen Rollenprofilen, die mit einem bestimmten sozialen Handeln für die Dolmetscher: innen assoziiert werden, wie zum Beispiel das Übernehmen einer Mitverantwortung bei der Gesprächsführung als Ko-Therapeut: innen, die Unterstützung für die Patient: innen als Helfer: innen, das interkulturelle Vermitteln zwischen den Gesprächsparteien oder das in erster Linie die institutionellen Interessen wahrende gatekeeping. Aussagekräftige empirische Daten, in denen die verschiedenen Rollen dokumentiert werden, sind allerdings selten. Die Dolmetscher: innen treten in den vorliegenden Fallbeispielen weder als Ko-Therapeut: innen noch als Helfer: innen der Patient: innen auf. Für eine solche Unterstützung fehlt ihnen das sprachliche und/ oder das fachliche Verständnis (vgl. vor allem die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil I). Vielmehr setzen die Patient: innen ihre Anliegen ohne Unterstützung durch die Dolmetscher: innen mit Wiederholungen selbst relevant, wenn sie von den Expert: innen keine Antworten erhalten. Auch das Selektionieren von Informationen im Sinne des 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster 269 <?page no="270"?> gatekeeping oder des recipient design lässt sich in den sechs Fallbeispielen nicht als konsequentes Handeln erkennen. In den sechs Fallbeispielen finden sich auch keine Belege für das „ interkulturelle Dolmetschen “ . Es zeigt sich also, dass die Skepsis von Fernandez et al. (2004) in Bezug auf die Nachweisbarkeit der Kulturvermittlung in empirischen Studien ihre Berechtigung hat (vgl. Kap. 3.6.3). Eine Notwendigkeit, den Patient: innen kulturelle Hintergründe zu erläutern, entsteht in keinem der Fallbeispiele. Das mag für dieses Datenmaterial folgende Ursachen haben: Die meisten Patient: innen, die sich im Rahmen des KTI-Projekts für die Videoaufzeichnungen zur Verfügung stellten, leben seit Jahren in der Schweiz. Überdies sind sie seit langem in der Schweiz in medizinischer Behandlung und als chronisch Kranke sind sie mit der Spitalroutine vertraut. Wie weit sie sich überhaupt noch mit ihrer albanischen und türkischen Herkunft identifizieren, kann in den Daten nicht schlüssig beurteilt werden. Im Kontext der gemeinsamen Kultur und der gemeinsamen Sprache kann hingegen die Hinwendung der Patient: innen zu den Dolmetscher: innen an verschiedenen Stellen in den sechs Fallbeispielen gesehen werden. Sie spiegelt sich in der Adressierung, in der Körperorientierung, im Blickverhalten sowie in den an die Dolmetscher: innen gerichteten emotionalen Formulierungen. Die möglicherweise mit der Hoffnung der Patient: innen auf die Unterstützung durch die Dolmetscher: innen verbundene Hinwendung der Patient: innen zu den Dolmetscher: innen wird vor allem in den Fallbeispielen 3, 4/ Teil II und 5 deutlich. Kulturell bedingt ist wohl auch die Wahl der 2. Person Singular in der Adressierung. Im Albanischen wie im Türkischen ist die Verwendung der 2. Person Singular im institutionellen Kontext durchaus üblich (vgl. Kap. 6.2.2.3). Ein anderer Grund für die 2. Person Singular könnte allerdings sein, dass sich die Patient: innen und die Dolmetscher: innen aus früheren Konsultationen kennen oder im privaten Umfeld miteinander Kontakt haben. Andere sprachliche Hinweise auf kulturelle Faktoren gibt es im ganzen Datenmaterial wenige. Eines der seltenen wahrnehmbaren Beispiele für die sprachlich-kulturelle Verankerung von Patient: innen im Herkunftsland ist die Beteuerungsformel „ valla “ (etwa „ ich schwöre “ ) in Fallbeispiel 3. Anzumerken ist, dass der Dolmetscher weder das Verb noch den damit verbundenen emotionalen Gehalt ins Deutsche überträgt. Die Dolmetscher: innen sind seit mehreren Jahren in der Schweiz, sie sind möglicherweise sogar in der Schweiz aufgewachsen. Es ist aufgrund der fehlenden biographischen Angaben ungewiss, wie weit sie mit den kulturellen Hintergründen ihres (ursprünglichen) Herkunftslandes vertraut sind und wie weit sie überhaupt imstande wären, den Expert: innen kulturelle Hintergründe zu erläutern, weil die Dolmetscher: innen in den Fallbeispielen um einige Jahre jünger sind als die Patient: innen. Sie verfügen also vielleicht gar nicht über das kulturelle Wissen, das in den Gesprächen allenfalls zum Ausdruck kommen könnte und den Expert: innen erklärt werden müsste. Die Frage, ob Dolmetscher: innen und Patient: innen aus derselben Region stammen und dieselben Varietäten sprechen, ist ebenfalls ungeklärt. Im gedolmetschten Gespräch widersprechen die Komplexität im laufend sich verändernden interaktionalen Geschehen (vgl. Krystallidou, 2016), die Unvorhersehbarkeit des Interaktionsverlaufs sowie die Prozessgeschwindigkeit des spontanen Gesprächs der Dominanz von statischen Rollenprofilen. Aber obwohl keines der in der Literatur gängigen 270 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="271"?> Rollenprofile der empirischen Realität in den sechs Fallbeispielen standhält, tragen die verschiedenen Rollenauffassungen zur Komplexität des Aufgabenprofils bei und sind in den hier analysierten Fallbeispielen in variierender Weise präsent. In den Sequenzanalysen wird deutlich, dass die Dolmetscher: innen sich über den sprachlichen Transfer hinaus an der Gestaltung von Inhalten und an der Gesprächsorganisation beteiligen. Damit manifestiert sich das „ erweiterte “ Rollenverständnis der Dolmetscher: innen in den Wiedergaben. Zudem können die Dolmetscher: innen punktuell eine bestimmte Rolle übernehmen, etwa indem sie für die Expert: innen Partei ergreifen, wenn sie deren Ansichten verbal und/ oder durch Nicken stützen (vgl. die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil II). In diesem Sinne bleibt die Rolle ein kritischer Aspekt des Gesprächsdolmetschens, wenn auch nicht in dem systematisierten Kontext, in dem es verschiedene Autor: innen beschreiben (vgl. z. B. Bischoff et al., 2012; Leanza, 2005). Anstelle der gängigen Rollenprofile sind an verschiedenen Stellen Verhaltensweisen der Dolmetscher: innen auszumachen, an denen sie gewisse Anteile von Redebeiträgen aus Rücksicht auf die vermuteten Wünsche der Expert: innen von sich aus zuschneiden, also dem Konzept des recipient design folgend (vgl. vor allem Fallbeispiel 4/ Teil II). Das Konzept des recipient design als gesprächssteuernder Aspekt wurde m. W. bisher noch nie in die Analysen von gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen einbezogen. Eine Absprache über die Rollen zwischen den Beteiligten findet lediglich in Fallbeispiel 5 statt. Die Dolmetscherin in Fallbeispiel 5 beschreibt in der ersten Sequenz, wie sie zu dolmetschen gedenkt. Ihr Handeln widerspricht dem selbstauferlegten Postulat allerdings aufs Deutlichste. Es steht darüber hinaus im Widerspruch zu jedem typisierten Rollenprofil und allen empfohlenen dolmetsch-ethischen Normen wie etwa denjenigen der „ Standards der California Healthcare Association “ (CHIA, 2002). Wenn die in den Befragungen beschriebenen unterschiedlichen Rollenprofile den Verarbeitungsprozessen der Realität so wenig entsprechen, wie sich dies in den sechs Fallbeispielen verschiedentlich zeigt, dann drängt sich die Frage auf, wie ernst die Antworten zu den Aufgaben und Rollen in Befragungen von Expert: innen und Dolmetscher: innen genommen werden können. Offenbar kann die Selbsteinschätzung von Dolmetschleistungen durch Expert: innen und Dolmetscher: innen in Befragungen vom sprachlichen Handeln in realen Gesprächen weit entfernt sein. Die Heterogenität der Ansichten und Erwartungen der Beteiligten belastet die gedolmetschte Kommunikation (vgl. vor allem die Fallbeispiele 4/ Teil I und Teil II sowie 5). Zusammengefasst zeigt sich in den Analysen, dass in keinem der sechs Fallbeispiele ein konsistentes Rollenprofil sichtbar wird. Ein Eingreifen in die Inhalte, wie es in allen Fallbeispielen häufig beobachtet wurde, ist nicht mit der Übernahme einer bestimmten Rolle gleichzusetzen. Fallübergreifend wird deutlich, dass kognitive Probleme, mangelhafte Fachkenntnisse sowie fehlende analytische Kompetenzen der Dolmetscher: innen die Verdolmetschungen und damit die Verständigung zwischen Expert: innen und Patient: innen in realen Gesprächen weit mehr beeinträchtigen als ein bestimmtes statisches Rollenprofil. Der analytischen Arbeit mit transkribierten und übersetzten authentischen Videoaufzeichnungen von Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen kommt auch daher eine weitreichende Bedeutung zu (vgl. Kap. 3.4.3). 6.2 Fallübergreifende dolmetschspezifische Muster 271 <?page no="272"?> 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster „ Interaktion ist immer multimodal “ , schreibt Schmitt (2015, p. 45). Die verschiedenen Modalitäten sind aufeinander bezogen und wirken zusammen (Fiehler, 2014, p. 23; Mondada, 2016). Die Analysen der vorliegenden Fallbeispiele illustrieren dieses systematische Zusammenwirken der sprachlichen Redebeiträge mit den anderen multimodalen Ausdrucksressourcen über längere Passagen hinweg. Sie bestätigen und ergänzen die Ergebnisse einzelner Studien zur Körperorientierung, zum Blickverhalten oder zur Gestik (vgl. Bot, 2005b; Davitti & Pasquandrea, 2017; Vranjes et al., 2018a). Die Dolmetscher: innen sind an sich mit der Aufgabe des sprachlichen Transfers betraut. Dabei sind sie alternierend mit je einer Gesprächspartei am Sprechen. Ihre Verdolmetschungen sind mit ihren körperlichen Ressourcen, der Körperorientierung, der Augenkommunikation, den Gesten sowie den sprachfreien Backchannel-Signalen verbunden. Die Dolmetscher: innen verhalten sich multimodal ebenso als Beteiligte der Interaktion wie die primären Gesprächsparteien. Die Beteiligten in den sechs Fallbeispielen gestalten die Interaktion sowie die soziale Beziehung zueinander, indem sie sich den Adressierten aus ihrer räumlichen Positionierung mit dem Körper zuwenden oder indem sie sich von ihnen abwenden, die Blicke aufeinander richten oder voneinander lösen, die sprachlichen Äusserungen mit Gesten begleiten (vgl. Hartung, 2001, p. 1350; Mason, 2012, p. 192) und mit sprachlichen ( „ mhm “ ) oder sprachfreien Backchannel-Signalen (vor allem Nicken) Verstehen, Akzeptanz oder etwa mit entsprechenden Einwürfen Widerspruch anzeigen. 6 Die multimodal basierte Analyse bezieht sich über den Zusammenhang zwischen verbalen und körperlichen Handlungen der einzelnen Beteiligten hinaus auf die Koordination des gemeinsamen Handelns aller Beteiligten. Mit körperlichen Handlungen im Sinne von interpersoneller Koordination stimmen sich die Beteiligten über verschiedene Modalitäten ab (vgl. Deppermann & Schmitt, 2007). Wahrnehmbar ist die interpersonelle Koordination am vorgebeugten Oberkörper der Beteiligten auf die Adressierten zu, an wechselseitigen Blickkontakten, an den Zeigegesten der Beteiligten, verbunden mit deiktischen Ausdrücken sowie mit multimodalen Backchannel-Signalen. Dass die interpersonelle Koordination als Verständnishilfe fungiert, zeigt sich zum Beispiel bei der Lokalisierung der Schmerzstelle der Patientin in Fallbeispiel 1 oder in Fallbeispiel 4/ Teil I beim Bestreben nach Optimierung des Therapieplans mit Hilfe des Zeigens auf die Messtabellen. Körperliche Handlungen, vor allem Berührungen, zeigen sich an Stellen, an denen die Aufmerksamkeit der Adressat: innen gesichert und/ oder die Beziehung gestärkt werden soll (vgl. vor allem die Fallbeispiele 1 und 3). Im Folgenden werden die Beteiligungsformen, die Organisation des Sprecherwechsels, der Stellenwert des Raums, Sitzpositionen, die Bedeutung der Körperorientierung und -bewegungen, des Blickverhaltens, der Gestik sowie der Backchannel-Signale dargelegt. 6 Die paraverbalen Phänomene wie etwa lautes Sprechen spielen im vorliegenden Datenmaterial lediglich eine geringe Rolle. 272 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="273"?> 6.3.1 Beteiligungsformen in den Fallbeispielen Da die Dolmetscher: innen im Wechsel mit den primären Gesprächsparteien sprechen, scheinen die Beteiligungsformen durch die Konstellation geregelt. Die Sequenzanalysen zeigen jedoch ein anderes Bild. In allen sechs Fallbeispielen sind die Beteiligungsformen in der realen Gesprächssituation vielfältiger, als dies aufgrund der Aufgabenverteilung in gedolmetschten Interaktionen erwartet werden könnte. In jedem Fallbeispiel kommt es zu Wechseln im „ Beteiligungsschema “ . Dabei kann es sich entweder um kurze Kommentare, Anweisungen und Fragen oder zum Teil sogar um längere Zwiegespräche handeln. Bei Zwiegesprächen sprechen die Dolmetscher: innen entweder mit den Expert: innen oder den Patient: innen ohne eine nachträgliche Verdolmetschung (vgl. Kap. 3.4.2). und positionieren sich damit als aktive Beteiligte. Als Beteiligte agieren die Dolmetscher: innen multimodal. Mitunter solidarisieren sie sich mit einer der beiden Gesprächsparteien. Ein Interagieren, das über das Dolmetschen hinausgeht. Zunächst würde man von den Dolmetscher: innen wohl eine Nähe zu den Patient: innen erwarten, die auf Hilfe angewiesen sind und mit denen die Dolmetscher: innen durch die gemeinsame Sprache verbunden sind. In der vorliegenden Untersuchung ist jedoch eine Tendenz der Dolmetscher: innen zur Solidarisierung mit den Expert: innen zu beobachten. Sie nutzen aufgrund des „ zugeschriebenen Status “ (Goffman, 1971, p. 17) ihren Einfluss, um sich den Expert: innen anzunähern. Die Nähe zu den Expert: innen und der dadurch entstehende Ausschluss der Patient: innen äussert sich in der vorliegenden Arbeit durch gelegentliche „ Wir- Strukturen “ , durch gesichtswahrende Formulierungen der Dolmetscher: innen zum Schutz der Expert: innen und/ oder zu ihrem eigenen Schutz ohne Rücksicht auf die Patient: innen (vgl. die Fallbeispiele 2 und 4/ Teil II), durch die explizite Priorisierung der Ansichten der Expert: innen gegenüber den Anliegen der Patient: innen, (vgl. die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil II) und durch Design-Aktivitäten (recipient design), mit denen die Dolmetscher: innen ihre Wiedergabe auf die von ihnen vermuteten Ansichten der Expert: innen zuschneiden (am ausgeprägtesten in Fallbeispiel 4/ Teil II), ohne dass die Expert: innen die Parteinahme wahrnehmen. Wenn die Dolmetscher: innen die Position der Expert: innen explizit bekräftigen, kommt die Stärkung der Beziehungen zwischen den Expert: innen und den Dolmetscher: innen besonders deutlich zum Ausdruck (vgl. etwa die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil II). Aber auch implizit verletzen die Dolmetscher: innen ihre Loyalität gegenüber den Patient: innen, etwa durch sprachfreie Backchannel-Signale wie Nicken, mit dem sie explizite Ansichten der Expert: innen unterstützend begleiten (vgl. Fallbeispiele 2 und 3). Damit wird die soziale Beziehung zwischen den Expert: innen und den Patient: innen beeinträchtigt. Die Dolmetscher: innen machen sich aber nicht nur selbst zu Beteiligten, sie werden sowohl von den Patient: innen als auch von den Expert: innen dazu gemacht. Die Patient: innen adressieren die Dolmetscher: innen verschiedentlich direkt, wenden sich ihnen zu und richten den Blick auf sie. Sie suchen das Zwiegespräch mit den Dolmetscher: innen besonders in emotionalen Belangen und bei Wiederholungen, wenn ihre Anliegen unbeantwortet geblieben sind (vgl. die Fallbeispiele 2, 3 und 4/ Teil II). Dies obwohl die Dolmetscher: innen zu einem grossen Teil für die Vermeidung von emotionalen Anliegen verantwortlich sind. Wenn die Expert: innen die Dolmetscher: innen als Gesprächspartner: innen wählen, werden die Patient: innen vom Gespräch ausgeschlossen. Die Dolmetscher: innen sind 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster 273 <?page no="274"?> besonders dann die präferierten Adressat: innen der Expert: innen, nachdem es zu Verständigungsschwierigkeiten (vgl. vor allem die Fallbeispiele 1, 3, 4/ Teil I) oder zu auffälligen Lücken in der Verdolmetschung gekommen ist (vgl. Fallbeispiel 5). Damit wird deutlich, dass die Expert: innen adäquate Erklärungen und Präzisierungen eher von den Dolmetscher: innen als von den Patient: innen erwarten. Ihre Ausrichtung auf die Dolmetscher: innen reicht so weit, dass sie Einwürfe der Patient: innen ignorieren, selbst wenn sie auf Deutsch formuliert werden (vgl. besonders Fallbeispiel 4/ Teil I), Gesten der Patient: innen nicht beachten (vgl. vor allem Fallbeispiel 3) oder door knob concerns in der Gesprächsbeendigungsphase überhören (vgl. Boyd & Heritage, 2006, p. 177). In Situationen, in denen die Expert: innen die Dolmetscher: innen als Gesprächsparteien behandeln, sind sie mit ihnen in intensivem Blickkontakt. Zusammengefasst ist die Dynamik durch eine starke Asymmetrie in der Gesprächsbeteiligung zuungunsten der Patient: innen gekennzeichnet. Den Patient: innen kommt mehrfach lediglich eine responsive Partizipationsrolle zu. Die Einschränkung der Beziehung zwischen Patient: innen und Expert: innen liegt nicht nur an den Dolmetscher: innen, sondern zum Teil an den Patient: innen sowie an den Expert: innen, die sich aus eigener Initiative den Dolmetscher: innen zuwenden. 6.3.2 Der Sprecherwechsel in der gedolmetschten Interaktion Im gedolmetschten Gespräch ist der Sprecherwechsel durch die Anwesenheit einer dritten Person komplexer als im Zweiergespräch. Die Methode der Videoaufzeichnung hat unter anderem den Vorteil, dass Sprecherwechselvorgänge im Dreiergespräch leichter zugeordnet werden können als in einer Audioaufnahme. Die Redebeiträge der primären Gesprächsparteien werden durch die Verdolmetschungen unterbrochen. Die Reihenfolge der Redebeiträge in gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen ist abgesehen von den Wechseln in den Beteiligungsformen, auf die in Kapitel 6.3.1 hingewiesen wurde, grundsätzlich vorgegeben. Die Sprecherwechsel sind in der Regel erwartbar. Die Expert: innen leiten einen Sprecherwechsel in der Regel durch sequenzinitiierendes Fragen oder durch Erläuterungen zu medizinischen Sachverhalten ein und erwarten von den Patient: innen eine Antwort (vgl. Robinson, 2001, p. 19; Spranz-Fogasy, 2010). Die Dolmetscher: innen schliessen zügig an die originalen Äusserungen an, so dass das Gespräch ohne Unterbrechung fliesst. Eine Anforderung der Dolmetschpraxis, der die Dolmetscher: innen in den untersuchten Gesprächen in hohem Masse nachkommen. Die primären Gesprächsparteien interagieren kaum je direkt miteinander. Ausnahmen sind etwa Antworten der Patient: innen auf eine einleitende Frage der Expert: innen nach dem Befinden der Patient: innen (vgl. Fallbeispiel 1) oder wiederholte Einwürfe, mit denen die Patient: innen auf sich aufmerksam machen möchten (vgl. vor allem Fallbeispiel 4/ Teil I). Mit dem Sprecherwechsel sind abgesehen von der Sprachwahl und der Adressierung systematisch auftretende körperliche Handlungen wie die Körperorientierung, die Kopfbewegungen und das Blickverhalten verbunden. Die Beteiligten drehen den Kopf in die Richtung der Sprecher: innen, beugen sich zu Beginn eines Turns nach vorn oder lehnen sich nach der Beendigung eines Turns zurück. Handgesten von Expert: innen von Dolmetscher: innen, mit denen die Sprecher: innen den Sprecherwechsel organisieren, sind innerhalb der ausgewählten Sequenzen hingegen kaum feststellbar und auch innerhalb des ganzen 274 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="275"?> Datenmaterials selten, wie das Bot (2005b) bei den Dolmetscher: innen in ihrem Datenmaterial ebenfalls festgestellt hat (vgl. Bot, 2005b, p. 137). Die primären Gesprächsparteien warten in der Regel das Ende der Verdolmetschungen ab, bis sie den Turn wieder übernehmen. Grundsätzlich könnten die Expert: innen von ihrem Status her das vorrangige Rederecht beanspruchen. Von einer vorzeitigen Turn-Übernahme machen sie jedoch kaum je Gebrauch. Entsprechend vollzieht sich die Organisation des Sprecherwechsels abgesehen von vier Besonderheiten reibungslos: 1. Unterbrechungen: Die Dolmetscher: innen unterbrechen die Patient: innen und in Ausnahmefällen die Expert: innen, vermutlich damit sie nicht Gefahr laufen, längere Tranchen dolmetschen zu müssen (vgl. Mason, 2012, p. 192). Ausserdem fällt vor allem in den Fallbeispielen 1 und 3 auf, dass die Dolmetscherin beziehungsweise der Dolmetscher die Patient: innen gelegentlich mit metadiskursiven Kommentaren unterbrechen oder sogar am Sprechen hindern, um bestimmte Inhalte im Sinne des gatekeeping und/ oder des recipient design auszublenden. 2. Überlappungen: Zu überlappendem Reden kommt es am ehesten in der Umgebung von Turn-Übernahmen. So kann wiederholt beobachtet werden, dass die Dolmetscher: innen bereits einsetzen, wenn die Patient: innen noch am Sprechen sind, oder dass die Patient: innen wieder anfangen zu sprechen, obwohl die Dolmetscher: innen ihre Wiedergabe noch nicht beendet haben. In solchen Situationen handelt es sich in diesem Datenmaterial eher um den Willen der Dolmetscher: innen, den Redebeitrag vor der Turn- Übergabe zu Ende zu führen und das Gedächtnis zu entlasten, beziehungsweise um die Konzentration der Patient: innen auf die eigene Äusserung als um kompetitive Übernahmen des Rederechts im eigentlichen Sinn. Überlappte Anteile zu wiederholen ist in der gedolmetschten Interaktion im Gegensatz zum monolingualen Gespräch meist unmöglich (vgl. Kap. 3.2). Wenn den Dolmetscher: innen entgeht, was überlappend geäussert wird, können sie es nicht hören und damit auch nicht wiedergeben. Die primären Gesprächsparteien haben bei Überlappungen allerdings auch nie nachgefragt. Anhand der Daten kann demonstriert werden, dass es zwischen Patient: innen und Dolmetscher: innen eher zu Unterbrechungen oder Überlappungen kommt als zwischen Expert: innen und Dolmetscher: innen. Der Aspekt der geringeren Höflichkeit gegenüber den Patient: innen als gegenüber den Expert: innen scheint bei den Überlappungen wie auch bei den Unterbrechungen eine Rolle zu spielen. Eine Ausnahme ist die Situation in Fallbeispiel 4/ Teil II, wenn der Patient die Ärztin mehrmals unterbricht, wenn sie ihn auf den nächsten Termin auf der Angiologie hinweisen will. 3. Pausieren: Pausierendes Sprechen kommt vor allem in Fallbeispiel 4/ Teil I vor. Die Ärztin pausiert, während sie selbst am Sprechen ist. Da die Pausen mit Blicken zur Dolmetscherin verbunden sind, kann man schliessen, dass die Pausen ihre Ursache in der Unsicherheit der Ärztin über die der Dolmetscherin zumutbare Länge der Redezüge haben. Die kurzen Redepausen führen zu bruchstückhaften Redebeiträgen. 4. Zwiegespräche: Die übliche Reihenfolge mit den zwischen den Redebeiträgen der primären Gesprächsparteien eingebetteten Verdolmetschungen wird vor allem bei Nachfragen und bei nachfolgenden Erklärungen aufgebrochen. In allen sechs Fallbeispielen führen die Dolmetscher: innen mindestens mit einer der beiden Gesprächsparteien Zwiegespräche. Die Dauer der Nachfragen der Dolmetscher: innen liegen im 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster 275 <?page no="276"?> vorliegenden Datenmaterial im Sekundenbereich, die längste Erklärung der Ärztin in Fallbeispiel 4/ Teil I dauert eineinhalb Minuten. Bei Zwiegesprächen zwischen den Dolmetscher: innen und den Expert: innen bleiben die Patient: innen von der Interaktion ausgeschlossen und zwar auf dreifache Weise. Die Dolmetscher: innen und die Expert: innen: - sind einander körperlich zugewandt, - schauen mehrheitlich einander an, - sprechen Deutsch ohne ausgangssprachliche Vorlage und ohne nachfolgende Verdolmetschung. Wenn die Dolmetscher: innen ein Zwiegespräch mit den Patient: innen führen, werden umgekehrt die Expert: innen aus der Interaktion ausgeschlossen. Die von den Expert: innen oder den Patient: innen ausgelösten Zwiegespräche zeigen deutlich, dass die Dolmetscher: innen von den primären Gesprächsparteien als Beteiligte behandelt werden. Die Expert: innen scheinen die Zwiegespräche zwischen den Dolmetscher: innen und den Patient: innen, die von den Dolmetscher: innen oder von den Patient: innen initiiert werden, ohne weiteres zu akzeptieren. Weder unterbrechen die Expert: innen das Zwiegespräch, noch bitten sie um eine nachträgliche Verdolmetschung. Diese Beobachtung bestätigt den Befund in den von Pasquandrea (2011) publizierten Daten (Pasquandrea, 2011, p. 467). Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass der Sprecherwechsel fallübergreifend in der Regel auf geordnete Weise abläuft. Allerdings zeigt sich, dass vor allem Zwiegespräche im gedolmetschten Gespräch den Fortlauf der Interaktion hemmen und die soziale Beziehung zwischen den Expert: innen und den Patient: innen beeinträchtigen. Wiederum zeigt sich eine Benachteiligung der Patient: innen, die auf Dolmetscher: innen angewiesen sind, gegenüber den Patient: innen, die mit den Expert: innen direkt sprechen können. 6.3.3 Die räumliche Positionierung Alle Gespräche finden in einem „ Sprechzimmer “ statt. Die Positionierung der Beteiligten ist von den räumlichen Gegebenheiten sowie von der Rolle der Beteiligten abhängig. Die Sitzordnung ist für die gegenseitige Wahrnehmung, für die Sicht auf die Unterlagen sowie für die Ausgestaltung der sozialen Beziehungen relevant. Die präferierte Konstellation im Raum ist in der dolmetschwissenschaftlichen Literatur das Dreieck (vgl. Pokorn, 2015; vgl. auch Kap. 3.5.2). Aus dolmetschwissenschaftlicher Perspektive müssten in erster Linie die Dolmetscher: innen direkten Augenkontakt mit den primären Gesprächsparteien haben. Die Sitzpositionen in den vorliegenden Gesprächen sind jedoch für die Expert: innen optimal, nicht aber in jedem Fall für die Dolmetscher: innen und die Patient: innen. Die räumliche Positionierung ist mit dem visuellen Zugang und dem Blickverhalten verbunden. In allen sechs Fallbeispielen sind die Expert: innen so positioniert, dass sie sowohl die Patient: innen als auch die Dolmetscher: innen im Blickfeld haben können, falls sie sich nicht abwenden, etwa für die Schreibarbeit. Sowohl für die Dolmetscher: innen als auch für die Patient: innen stellen die räumlichen Arrangements hingegen in unterschiedlichem Ausmass eine Problemquelle dar. 276 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="277"?> Sitzposition mit eingeschränktem visuellen Zugang: In den Fallbeispielen 1 und 3 ist die Sitzposition für die Patientinnen problematisch. Sie sitzen unmittelbar neben der Dolmetscherin beziehungsweise neben dem Dolmetscher und müssen den Kopf nach links oder rechts wenden, um die jeweiligen Sprecher: innen beziehungsweise Adressat: innen im Sichtfeld zu haben. Die für die Patientinnen ungünstigen Positionierungen in Fallbeispiel 1 und 3 wirken sich unterschiedlich aus. Die Patientin in Fallbeispiel 1 scheint sich trotz dieser Positionierung wohlzufühlen, während in Fallbeispiel 3 durch verzögerte Blickwechsel der Eindruck entsteht, dass es für die Patientin einen Aufwand bedeutet, sich entscheiden zu müssen, ob sie den Kopf in die Richtung der Diabetes-Beraterin oder des Dolmetschers drehen soll. Für die Dolmetscherin beziehungsweise den Dolmetscher ist die Situation in diesen beiden Fallbeispielen einfacher, weil sie in leicht abgewinkelter Position zu den zwei Patientinnen sitzen. Sie können die Patientinnen anschauen und durch leichte Kopfbewegungen mit den Expert: innen Blickkontakt herstellen. In Fallbeispiel 2 sitzen die Beteiligten zwar im Dreieck, aber die Patientin sitzt näher beim Arzt und muss den Kopf stärker drehen, wenn sie sich der Dolmetscherin zuwendet. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Patientin die für sie eher ungünstige Sitzposition als negativ wahrnimmt. Der Arzt und die Dolmetscherin haben einen guten Sichtkontakt sowohl zueinander als auch zur Patientin; für den Blickkontakt zur Patientin reicht bei beiden eine kleine Kopfdrehung. In den Fallbeispielen 4/ Teil I und Teil II sitzen die Beteiligten wiederum im Dreieck. Der Patient hat einen guten Sichtkontakt zur Ärztin sowie zur Dolmetscherin, die Dolmetscherin ist hingegen so positioniert, dass sie nur dann einen direkten visuellen Zugang zur Ärztin hat, wenn diese sich ihr zuwendet. Zudem sitzt die Dolmetscherin auf einer Liege ohne Zugang zu einer Tischfläche. Sie hat also kaum die Möglichkeit, sich etwas zu notieren - allerdings bleiben die Tischflächen in den vorliegenden Gesprächen auch in den Situationen ungenutzt, in denen eine Notizennahme möglich gewesen wäre. In Fallbeispiel 4/ Teil I zeigt die Ärztin auf die Tabelle mit den Messwerten des Patienten, die von der Dolmetscherin erst richtig gesehen werden kann, wenn sie aufsteht und zum Schreibtisch der Ärztin hingeht. Der Patient sitzt näher bei der Tabelle und sieht die Messwerte im Sitzen; ausserdem versteht er den Zusammenhang zwischen den Messwerten und dem Essen. Trotz der im Vergleich zur Dolmetscherin besseren visuellen Sicht des Patienten auf die Beteiligten wird die Interaktionsachse Ärztin - Dolmetscherin mehrfach priorisiert. In Fallbeispiel 4/ Teil II entzieht sich die Ärztin in der Phase der Gesprächsbeendigung den Blicken sowohl der Dolmetscherin als auch des Patienten, indem sie sich wegdreht und sich ihrer Schreibarbeit zuwendet. Sitzposition mit optimalem visuellen Zugang: In Fallbeispiel 5 haben alle Beteiligten einen guten Sichtkontakt zueinander. Trotz der optimalen Sitzposition im Dreieck wird der Patient vor allem in Sequenz 1 aus der Interaktion ausgeschlossen. Die Dolmetscherin und die Pflegefachfrau sprechen zu Beginn miteinander, ohne den Patienten einzubeziehen. Der Patient hält den Blick währenddessen gesenkt. In den darauffolgenden zwei Sequenzen bleibt der Patient aus eigenem Willen weitgehend auf sich zurückgezogen. Wie die unterschiedlichen Sitzpositionen der Beteiligten in den sechs Fallbeispielen zeigen, garantiert eine optimale visuelle Zugänglichkeit nicht notwendigerweise eine gute Verteilung von Partizipationsrechten. Selbst wenn die Patient: innen sich gut sichtbar mit verbalen Einwürfen, Gesten oder Backchannel-Signalen gesprächssteuernd an der Inter- 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster 277 <?page no="278"?> aktion zu beteiligen suchen, gelingt es ihnen nicht, Themen oder Anliegen relevant zu setzen, die mit den Gesprächszielen der Expert: innen (vgl. dazu Lalouschek, 2013, p. 385) oder mit den Inhalten der Verdolmetschung nicht übereinstimmen. Mitverantwortlich für die Vernachlässigung der körperlichen Handlungen ist das grössere Vertrauen der Expert: innen zu den Dolmetscher: innen als zu den Patient: innen (vgl. vor allem die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil I). Zusammengefasst kann darauf hingewiesen werden, dass die Sitzposition der Patient: innen im Regelfall vorgegeben ist. Für die Dolmetscher: innen trifft das nicht zu. In den vorliegenden Daten hängt das räumliche Arrangement in keinem Fall von den Bedürfnissen der Dolmetscher: innen ab, sondern es ergibt sich in erster Linie aus der Position des Schreibtischs und aus den weiteren örtlichen Gegebenheiten. Weder über die räumliche Positionierung der Dolmetscher: innen noch über die optimale Sicht zum Beispiel auf die Unterlagen auf dem Schreibtisch der Expert: innen wie etwa Messtabellen wird je ein Wort verloren. Der Bedeutung der Positionierung und der visuellen Zugänglichkeit der Beteiligten zueinander wird keine Aufmerksamkeit geschenkt. Für die Patient: innen ist das Partizipationsrecht unabhängig von der Sitzposition und dem visuellen Zugang eingeschränkt. 6.3.4 Körperorientierung Im Regelfall wenden sich die Sprecher: innen den direkt Adressierten zu. Die Körperorientierung ist mit dem Blickverhalten koordiniert. Folgende Beobachtungen können für die in dieser Studie diskutierten Fallbeispiele als Muster identifiziert werden: • Eine ungünstige Sitzposition verursacht vor allem bei den Patient: innen einen häufigen Wechsel der Körperorientierung im Gesprächsverlauf (vgl. vor allem Fallbeispiel 3). • In emotionalen Anteilen zeigt sich, dass sich die Patient: innen vermehrt den Dolmetscher: innen zuwenden und nicht den Expert: innen (vgl. vor allem die Fallbeispiele 3, 4/ Teil I sowie Teil II). • Die körperliche Abwendung ist ein Ausdrucksverhalten, das mit der Blickabwendung und einer verbal enthaltsamen Beziehungsgestaltung verbunden ist. Die Abwendung kann zusammen mit dem „ Wegblicken “ ein Ausdruck des völligen Rückzugs aus der Interaktion bedeuten. So signalisiert die Ärztin in Fallbeispiel 4/ Teil II mit ihrer Abwendung das Gesprächsende mit aller Deutlichkeit. Die Abwendung kann sogar als eine stumme Ablehnung gedeutet werden. Das deutlichste Beispiel dafür ist der Patient in Fallbeispiel 5, der sich von der Pflegefachfrau meist abwendet und die Dolmetscherin priorisiert. Zusammengefasst lässt sich fallübergreifend feststellen, dass die Wechsel in der Körperorientierung mit der nicht freiwillig gewählten Sitzordnung zusammenhängen und mit dem Sprecherwechsel einher gehen. Verbunden mit dem Blickverhalten kann die Körperorientierung Zubeziehungsweise Abwendung signalisieren. 6.3.5 Blickverhalten Die Ergebnisse der Analysen belegen, dass dem Blickverhalten eine zentrale Bedeutung zukommt. Wenn die Beteiligten einander anschauen, bedeutet dies Aufmerksamkeit. Grundsätzlich sind Blickkontakte mit der Körperorientierung, mit den Kopfbewegungen, 278 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="279"?> mit den Gesten sowie mit dem Sprecherwechsel koordiniert (vgl. dazu Bot, 2005b, p. 140 f.; Krystallidou, 2014, p. 414). Die Blickwechsel sind mit der Körperorientierung Ausdruck einer sozialen Handlung, indem die Beteiligten einander in die fortlaufende Interaktion einbeziehen. Blickabwendungen können Desinteresse, Rückzug, Gesprächsverweigerung sowie Ausschluss einer/ s Beteiligten signalisieren. Die Augenkommunikation ist auch unabhängig von den positionsbedingten Faktoren aussagekräftig. In zwei Fallbeispielen ist ein bestimmtes Blickverhalten der Beteiligten durchgehend dominant. So ist das Blickverhalten ebenfalls teilweise Ausdruck von idiosynkratischen Formen. In Fallbeispiel 3 wird aufgrund der Kameraeinstellung vor allem durch die Kopfbewegungen deutlich, dass die Beraterin vorwiegend auf den Dolmetscher blickt. Damit schliesst sie die Patientin weitgehend von der Interaktion aus. Der Ausschluss wird zudem durch die fast durchgehende Verwendung der 3. Person Singular und das damit verbundene Sprechen über die Patientin deutlich. Es scheint sich bei der Beraterin um ein vorgefestigtes Muster zu handeln (vgl. Kap. 6.2.2.3). Erst in der Phase der Gesprächsbeendigung richtet sie ihren Blick in erster Linie auf die Patientin, wenn sie von ihr eine Antwort erwartet (vgl. Rossano, 2013, p. 317). In Fallbeispiel 5 zeigt sich ebenfalls ein Blickmuster, das in den drei präsentierten Gesprächsausschnitten dominant ist. Der Patient hält den Blick mehrheitlich gesenkt, er vermeidet den Blick zur Pflegefachfrau fast ganz. Seine seltenen Blickkontakte gelten mehr der Dolmetscherin. Gleichzeitig signalisiert er mit der Körperorientierung eine grössere Nähe zur Dolmetscherin als zur Pflegefachfrau (vgl. Kap. 6.3.4). Aufgrund der Kameraeinstellung sind in den Fallbeispielen 1, 2, 3 und 5 die Patient: innen gut sichtbar, in den Fallbeispielen 4/ Teil I und Teil II ist die Ärztin im Fokus der Kamera. Das Blickverhalten der Beteiligten über die sechs Fallbeispiele hinweg ist teilweise nur eingeschränkt erkennbar und deshalb nur bedingt vergleichbar. Trotzdem zeigen sich in der Analyse beim Blickverhalten der Expert: innen fallübergreifende Regelmässigkeiten: • Die Expert: innen richten ihren Blick beim Sprechen in allen Gesprächen alternierend auf die Patient: innen und auf die Dolmetscher: innen. In den Fallbeispielen 1, 2 und 3 ist lediglich an den Kopfbewegungen erkennbar, ob sie die Patient: innen oder die Dolmetscher: innen als Rezipient: innen priorisieren. • Auch während der Verdolmetschung ist das Hin- und Herschweifen des Blicks zur Kontrolle ein mehrfach vorkommendes Blickverhalten. Damit können die Expert: innen die Reaktionen der Patient: innen beobachten, das Verständnis einschätzen und gleichzeitig den Kontakt zu den Dolmetscher: innen aufrechterhalten. • Blickabwendungen kommen in erster Linie bei anderweitiger Beschäftigung vor (etwa bei Schreibarbeiten oder beim Blick in den Computer oder in die Akten), auf die bereits Heath (1984) hingewiesen hat, weiter bei Häsitationen, eine Beobachtung, die dem Befund von Weiß/ Auer (2016) entspricht, und schliesslich bei Verständigungsschwierigkeiten. In solchen Situationen schauen die Expert: innen zur Absicherung weg von den Patient: innen zu den Dolmetscher: innen oder in die Unterlagen. Das Wegblicken gehört zur Routine des ärztlichen Gesprächs. Mit dem Rückzug aus der Interaktion fördern die Expert: innen überdies die Zwiegespräche der Dolmetscher: innen mit den Patient: innen (vgl. vor allem Fallbeispiel 4/ Teil II). 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster 279 <?page no="280"?> Fallübergreifende Regelmässigkeiten beim Blickverhalten der Patient: innen: • Sofern es in den Gesprächen um die Lokalisation von Schmerzen geht, verfolgen die Patient: innen ihre Zeigegesten mit dem Blick und fordern damit gleichzeitig den Blick der Adressat: innen ein (vgl. Stukenbrock, 2015). • Die Patient: innen richten den Blick bei der Schilderung ihrer Anliegen nach anfänglichen Blickabwendungen auf die Dolmetscher: innen, besonders wenn sie emotionale Anliegen formulieren beziehungsweise wiederholen. Dieses Verhalten wird vor allem in den Fallbeispielen 3 und 4/ Teil II deutlich. • Blickabwendungen der Patient: innen kommen mit Ausnahme des Patienten in Fallbeispiel 5 am ehesten am Anfang der Redebeiträge vor. In den Daten wird in diesen Gesprächssituationen ein Absenken des Blicks nach unten festgestellt (vgl. Weiß & Auer, 2016). • Während der Verdolmetschung für die Expert: innen richten die Patient: innen den Blick in den Fallbeispielen 1 bis 3 auf die Expert: innen, obwohl die Expert: innen nicht die Sprecher: innen sind. Diese Beobachtung entspricht der Beschreibung Bots (2005b, vgl. auch Kap. 3.5.3). In den Fallbeispielen 4/ Teil I und Teil II ist die Blickrichtung des Patienten nur teilweise zu erkennen. Fallübergreifende Regelmässigkeiten beim Blickverhalten der Dolmetscher: innen: • Das dominante Blickverhalten der Dolmetscher: innen in der Rezeptionsphase ist die Konzentration auf die Sprecher: innen. • Wenn sie in der Textproduktionsphase die originalen Redebeiträge in der Zielsprache wiedergeben, wechselt der Blick zu den Adressierten. Sie lösen den Blick jedoch mehrfach von ihnen, um die nicht-Adressierten in die Interaktion einzubeziehen. Zusammengefasst ergibt sich aus den Ergebnissen der verschiedenen Fallbeispiele folgendes Gesamtbild: • Die Blickzuwendung sowie die -abwendung ist mit der Körperorientierung und den -bewegungen koordiniert. • Der Blickwechsel ist mit dem Sprecherwechsel koordiniert, soweit die Blickrichtung erkennbar ist (vgl. Vranjes et al., 2018b, p. 442). • Bei nicht-expliziter Adressierung blicken die primären Gesprächsparteien sowie die Dolmetscher: innen auf die Beteiligten, von denen sie (emotionale) Unterstützung (vgl. die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil II), eine Antwort (vgl. Fallbeispiel 3) oder das benötigte Wissen erwarten (vgl. Fallbeispiel 1). • Der Blickkontakt zwischen den Beteiligten ist für die Sicherung des Verständnisses zentral. Das gilt etwa für die „ Kontrollblicke “ , mit denen die Sprecher: innen die nicht- Adressierten streifen. • Eine besondere Situation entsteht in den Zwiegesprächen der Dolmetscher: innen mit einer der beiden Gesprächsparteien: Die an einem Zwiegespräch Beteiligten halten den Blickkontakt vorwiegend zueinander, was zum Ausschluss der Patient: innen oder seltener der Expert: innen führt. Der Wechsel der Blickkontakte ist mit dem Wechsel der 1. Person Singular zur 3. Person Singular synchron. Als nachteilig wirkt sich die Verwendung der 3. Person Singular vor 280 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="281"?> allem dann aus, wenn das Sprechen über die Patient: innen mit der Körperorientierung und mit den Augenkontakten koordiniert wird. Dadurch werden die Patient: innen mit sprachlichen sowie mit körperlichen Handlungen von der Interaktion ausgeschlossen. 6.3.6 Gestik Im Einklang mit dem inhaltlichen Schwerpunkt der Schmerzen fallen bei der Analyse der körperlichen Ressourcen in erster Linie die Zeigegesten der Patient: innen auf. Mit Zeigegesten auf ihre Schmerz- oder Problemstellen fordern die Patient: innen in den Fallbeispielen 1, 2, 3, 4/ Teil II die Aufmerksamkeit der Expert: innen und der Dolmetscher: innen ein (Streeck, 2016, p. 58; vgl. auch Stukenbrock, 2018). Sie deuten mit dem Zeigefinger beziehungsweise mit der ganzen Hand auf die entsprechende Körperstelle. Die eindrücklichste Zeigegeste fällt in Fallbeispiel 3 auf, in dem die Patientin gestikulatorisch auf die für sie relevanten Einstichstellen der Insulin-Injektionen zeigt. Die Beraterin in Fallbeispiel 3 verfolgt diese deutlichen Zeigegesten zwar mit dem Blick, geht aber nicht darauf ein und fragt auch nicht nach, obwohl der Dolmetscher die auffälligen Zeigegesten weder reproduziert noch verbalisiert. Die Zeigegesten sind mit dem Blickverhalten sowie mit deiktischen Ausdrücken intrapersonell und interpersonell koordiniert. Für die Patient: innen könnte die Reproduktion von Gesten der Expert: innen und der Dolmetscher: innen als Ausdrucksmittel von Belang sein, umso mehr als sie zeitweise aus sprachlichen Gründen von den Redebeiträgen ausgeschlossen sind. Eindeutige positive Auswirkungen im Sinne von Verständnishilfen durch die bildhaften Gesten der Expert: innen beziehungsweise der Dolmetscher: innen sind in diesem Datenmaterial selten zu verzeichnen. In Fallbeispiel 4/ Teil I etwa versuchen alle drei Beteiligten, sich mit Zeigegesten und mit Blick auf die Messtabelle zu verständigen (vgl. Bild 5.4.5 - 6). Ein deutlich wahrnehmbarer Erfolg bleibt jedoch aus. Die Expert: innen nehmen einen Teil der Gesten wahr, wenn sie sich zum Beispiel mit kurzen „ Kontrollblicken “ einen Eindruck über die Reaktion der Patient: innen verschaffen. Interessanterweise verfällt allerdings die Wirkungskraft der Gesten bei den Expert: innen in den Fällen, in denen die Dolmetscher: innen diese Gesten weder verbal noch multimodal abbilden, selbst wenn sie die Patient: innen gerade in diesen Augenblicken beobachten. Die Dolmetscher: innen gehen in den sechs Fallbeispielen unterschiedlich mit den Zeigegesten der Patient: innen um. Entweder reproduzieren sie die Zeigegesten der Patient: innen oder sie verwenden eine deiktische Formulierung (vgl. zum Beispiel „ von hier bis zum Knie “ [Zitat aus Fallbeispiel 1]). Die Dolmetscher: innen verbalisieren die Gesten vor allem dann, wenn sie sehen, dass die Expert: innen mit anderem beschäftigt sind, zum Beispiel mit dem Nachführen der Krankengeschichte (vgl. die Fallbeispiele 1 und 4/ Teil II), ähnlich wie Heath (1984) dies bei Aufmerksamkeitsforderungen von Patient: innen in der monolingualen Kommunikation beobachtet hat, wenn die Ärzt: innen sich anderweitig beschäftigten (Heath, 1984, p. 332). Über die Zeigegesten der Patient: innen hinaus übernehmen die Dolmetscher: innen gelegentlich bildliche Darstellungen (ikonische oder metaphorische Gesten) von sprachlichen Inhalten. Dabei handelt es sich meist um Gesten der Expert: innen, zum Beispiel gestisch markierte Aufzählungen (vgl. Fallbeispiel 2) oder gestisches Zeigen von Dimensionen und Grössenverhältnissen (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster 281 <?page no="282"?> Bei der Reproduktion der Gesten sind die Dolmetscher: innen allgemein zurückhaltend. Tendenziell werden die bedeutungstragenden Zeigegesten der Patient: innen häufiger wiedergegeben als Gesten der Expert: innen. So reproduziert die Dolmetscherin zum Beispiel in Fallbeispiel 2 die Schmerzstelle der Patientin, die Schlaggesten des Arztes mit ihrer rhetorischen Bedeutung aber nicht. Bei der Komplexität der Argumentation des Arztes ist es allerdings möglich, dass die Speicherkapazität der Dolmetscher: innen für die Gesten in solchen Situationen neben der Konzentration auf die Inhalte nicht ausreicht. Die von den Dolmetscher: innen reproduzierten Gesten sind überdies insgesamt weniger deutlich ausgeprägt als diejenigen der Expert: innen und der Patient: innen. Ob die Dolmetscher: innen davon ausgehen, dass die Gesten ohnehin sichtbar werden oder irrelevant sind, lässt sich in den Daten nicht feststellen. Im Allgemeinen lässt sich bei den Dolmetscher: innen eine deutliche Verschiebung hin zu Butterworth-Gesten beobachten, mit denen sie den auf die sprachliche Umsetzung konzentrierten Verarbeitungsprozess begleiten. Sie folgen mit ihren Gesten tendenziell den eigenen Sprachrhythmen und dem eigenen Wortfindungsprozess, wie dies Adam/ Castro (2013) für das Simultandolmetschen der Konferenzdolmetscher: innen beschreiben. Der Grund dafür mag sein, dass sie (abgesehen von selbst-initiierten Hinzufügungen) nicht die eigentlichen Urheber: innen der Redebeiträge sind und die Gesten möglicherweise eher für sich als Gedächtnishilfe verwenden denn als relevantes Phänomen im Sinne einer optimalen Verständigung. Zusammengefasst ergibt sich aus den Ergebnissen der verschiedenen Fallbeispiele das folgende Gesamtbild: • Generell konnte demonstriert werden, dass sowohl Expert: innen als auch Dolmetscher: innen das Potenzial der patient: innenseitigen Gesten zu wenig nutzen. • Das fehlende Eingehen der Expert: innen auf die Gesten der Patient: innen erweist sich nicht nur für die Verständigung, sondern auch für die soziale Beziehung zwischen den Expert: innen und den Patient: innen als Nachteil. • Die Art der Gesten repräsentiert in diesem Datenmaterial in systematischer Weise die spezifischen Beteiligtenrollen: Die Patient: innen weisen in ihren Beschwerdeschilderungen mit Zeigegesten auf Schmerzstellen hin, um ihre Anliegen zu verdeutlichen, die Expert: innen illustrieren mit ihren Gesten Sachverhalte oder versuchen mit Hilfe von Schlaggesten ihrer Überzeugung vom Nutzen der Therapie Ausdruck zu verleihen und die Dolmetscher: innen unterstützen den Verarbeitungs- und Wortfindungsprozess mit Butterworth-Gesten (Greifgesten). 6.3.7 Backchannel-Signale In allen Fallbeispielen reagieren sowohl die primären Gesprächsparteien als auch die Dolmetscher: innen in erster Linie mit sprachlichen Backchannel-Signalen wie „ mhm “ , „ okay “ , „ ja “ oder „ gut “ sowie mit dem sprachfreien Nicken. Sie bringen damit ihr Verstehen oder ihre Zustimmung zum Ausdruck. Verschiedentlich ist eine lokale Häufung von Backchannel-Signalen der Beteiligten für die Funktion bestimmend. Mit der mehrmaligen Wiederholung von „ mhm “ wird eine Übernahmebereitschaft des nächsten Turns ausgedrückt. Diese Wiederholungen sind von der Stimmung der Ungeduld geprägt. Die Expert: innen setzen Backchannel-Signale gelegentlich zur Ermunterung der Patient: innen zum Weitersprechen ein. Dabei werden sprachliche Signale mit der Körperorien- 282 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="283"?> tierung und/ oder mit einem Nicken verbunden. Bei verschiedenen Signalen können idiosynkratische Präferenzen beobachtet werden. Wenn zum Beispiel die Beraterin in Fallbeispiel 3 ihre Redebeträge mehrfach mit „ genau “ oder „ okay “ einleitet, scheint sie auf diese Weise einen Konsens mit dem vorher Gesagten auszudrücken, aber im Grunde markiert sie die Turn-Übernahme ohne Anschluss an das vorher Gesagte. Im weiteren Fortlauf führt sie jeweils ihre eigene, manchmal sogar gegenteilige Ansicht aus. Die Backchannel-Signale der Patient: innen in Form von kurzen Zwischenbemerkungen werden zum Teil auf Deutsch formuliert. Die sprachlichen Signale sind zum Beispiel „ Ja “ , „ Ich verstehe “ oder „ Ich weiss “ . Mit Rückmeldungen, zusätzlich zu Einwürfen oder Gesten, machen sie auf ihr Verstehen und/ oder auf eine inadäquate oder fehlende Verdolmetschung aufmerksam. Aufgrund von solchen Backchannel-Signalen sind gewisse Deutschkenntnisse der Patient: innen zu erkennen. Die Expert: innen sowie die Dolmetscher: innen ignorieren diese Rückmeldungen im Allgemeinen. In Fallbeispiel 4/ Teil I zum Beispiel reagiert die Ärztin mehrfach nicht auf die Einwürfe des Patienten. Aufgrund ihrer fehlenden Achtsamkeit entgeht ihr, dass der Patient ihre medizinischen Erläuterungen besser versteht als die Dolmetscherin. Die Dolmetscher: innen geben die Backchannel-Signale in der Regel nicht wieder. Sie gehen offenbar davon aus, dass Backchannel-Signale von den Gesprächsparteien entweder ohnedies wahrgenommen und verstanden werden oder irrelevant sind. Es kann auch der Fall sein, dass sie den Dolmetscher: innen mindestens teilweise entgehen, da die sprachlichen Rückmeldungen meist kurz sind und auch von den nicht-Adressierten geäussert werden, auf die sie in diesem Moment nicht fokussiert sind. Die häufigsten Backchannel- Signale der Dolmetscher: innen “ , die sie in Reaktion auf die Redebeiträge der Patient: innen beziehungsweise der Expert: innen produzieren, sind „ mhm “ oder „ ja “ . und/ oder Bekräftigungen durch multimodale Handlungen wie Nicken (vgl. die Fallbeispiele 3, 4/ Teil I und Teil II). Wenn die Dolmetscher: innen die Expert: innen mit multimodalen Handlungen unterstützen, solidarisieren sie sich mit den Expert: innen und verletzen ihre Loyalität zu den Patient: innen (vgl. Kap. 6.3.1). Zusammengefasst sind fallübergreifend folgende Phänomene zu nennen: • Die sprachlichen Rückmeldungen scheinen in den Verdolmetschungen nicht auf. Dadurch geht der beziehungsbildende Aspekt verloren (vgl. Linell, 1998, p. 174). • Die sprachlichen Rückmeldungen aller drei Beteiligten sind tendenziell mit sprachfreien Handlungen synchron; das häufigste sprachfreie Backchannel-Signal ist das Nicken, das neben Zustimmung auch Ungeduld ausdrücken kann, vor allem wenn es (mehrmals) wiederholt wird. • Die Expert: innen schenken den sprachfreien Backchannel-Signalen der Patient: innen in der gedolmetschten Gesprächssituation kaum Beachtung. Die zwischen den Dolmetscher: innen und den Patient: innen hin und her schweifenden Blicke sowie die zeitliche Versetztheit beim konsekutiven Dolmetschen erschweren es den Rezipient: innen, die körperlichen mit den sprachlichen Ressourcen zur Deckung zu bringen. • Die Patient: innen, die das Gespräch im Spital mit Dolmetscher: innen führen müssen, erhalten durch die Nichtbeachtung von Backchannel-Signalen weniger Aufmerksamkeit als Patient: innen, die direkt mit den Expert: innen sprechen können. 6.3 Fallübergreifende multimodale Muster 283 <?page no="284"?> 6.4 Gedolmetschte Expert: innen-Laien-Kommunikation Asymmetrien und Ungleichheiten in Bezug auf das Wissen, die Gesprächsbeteiligung oder die soziale Beziehung beeinflussen die monolingualen Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche (vgl. u. a. Brünner, 2005; Spranz-Fogasy, 2010). Asymmetrien des Fachwissens, der Gesprächsbeteiligung sowie der Beziehungsgestaltung sind ebenfalls Merkmale der gedolmetschten Kommunikation, die im Folgenden hervorgehoben werden sollen. 6.4.1 Divergierende Wissensvoraussetzungen Das Expert: innen-Laien-Verhältnis wird durch die Anwesenheit der Dolmetscher: innen komplexer. Dies einerseits für die Patient: innen, die ihre Anliegen aus sprachlichen Gründen nicht direkt vorbringen können, andererseits für die Expert: innen, die durch die Vermittlung von Laien (Dolmetscher: innen) zu Laien (Patient: innen) sprechen und dabei einen Teil der Kommunikation nicht verstehen. Die Expert: innen sind nach einer mehrjährigen Ausbildung und der daran anschliessenden Spezialisierung dazu befähigt, im Spital mit Patient: innen medizinische Gespräche zu führen. Ihre Aufgabe in den sechs Fallbeispielen aufgrund ihres fachlichen Wissensvorsprungs und ihres Status ist es u. a., die Befragung einzuleiten und die Beschwerden der Patient: innen zu explorieren wie in den Fallbeispielen 1, 2 und 5, Therapiepläne oder Einnahmemodalitäten für Medikamente festzulegen wie in den Fallbeispielen 3 und 4/ Teil I sowie Kontrollkonsultationen anzuordnen wie in Fallbeispiel 3. Zu ihrer Routine gehört schliesslich auch die Gesprächsbeendigung wie in Fallbeispiel 4/ Teil II. Die Patient: innen sind durch ihre subjektive Krankheitserfahrung und ihr „ semiprofessionelles “ medizinisches Wissen wichtige „ Wissensträger: innen “ (vgl. Löning, 1994). Sie wissen bereits mehr über ihre Krankheiten, die Therapien oder die Medikation als die Dolmetscher: innen, was vor allem in Fallbeispiel 4/ Teil I deutlich wird. Zudem haben sie die krankheitsbegleitenden Umstände schon mehrfach überdacht und zum Beispiel zu Hause oder bei anderen Konsultationen erzählt. In gedolmetschten Interaktionen können sie ihr Wissen den Expert: innen in der Regel jedoch nur so weit vermitteln, als die Dolmetscher: innen in der Lage oder willens sind, den Expert: innen diese Anliegen adäquat zu schildern. In den sechs Fallbeispielen erreichen die Patient: innen ihr Ziel mit Ausnahme von Fallbeispiel 1 nicht, obwohl sie ihre Anliegen (wiederholt) formulieren, den Dolmetscher: innen zusätzliche Erklärungen abgeben, den Versionen der Dolmetscher: innen widersprechen und/ oder ihre Anliegen mit teilweise expressiven Gesten unterstützen. Die Dolmetscher: innen ihrerseits stehen im ständigen Fortlauf der Interaktion unter dem konstanten Druck, die Inhalte zu verstehen, zu analysieren, zu speichern, in die Zielsprache zu übertragen und ihre Verdolmetschung inhaltlich sowie sprachlich zu monitoren. Sie müssen ihre Entscheidungen unter grossem Zeitdruck fällen. Sowohl für die Rezeption als auch für die Textproduktion benötigen sie ein hohes Mass an Aufmerksamkeit nur schon für den alltagssprachlichen Wortschatz in beiden Sprachen. Der fachsprachliche Anteil in den Redebeiträgen der Expert: innen erhöht die Ansprüche an die Dolmetscher: innen zusätzlich, wie das etwa in den Beispielen mit den Termini „ Verschleiss “ (Fallbeispiel 1) oder „ Angiologie “ (Fallbeispiel 4/ Teil II) verdeutlicht wurde. Die Dolmetscher: innen werden zu Gesprächen in den verschiedensten Bereichen einbestellt. Damit wird wie in den vorliegenden Fallbeispielen Wissen aus unterschied- 284 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="285"?> lichen Fachgebieten verhandelt, d. h. die Gespräche schliessen die Wiedergabe von relevantem Fachwissen ein, das die Dolmetscher: innen vermitteln müssen, zum Teil auch dann, wenn sie die Zusammenhänge nicht verstehen. In den Fallbeispielen zeigt sich, dass die Dolmetscher: innen bei Verstehensproblemen in der Regel bei den Expert: innen nachfragen. Mit Nachfragen mögen die Dolmetscher: innen den Expert: innen ein Zeichen von Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit vermitteln. Grundsätzlich eignet sich der konsekutive Modus zwar für Nachfragen, aber sinnvolle Korrekturen im Anschluss an Nachfragen sind lediglich in den Situationen möglich, in denen die Dolmetscher: innen die Erklärungen der Expert: innen in ihr bereits bestehendes Wissen integrieren können. In den Fallbeispielen 1, 2, 3 sowie 4/ Teil I und Teil II wird ersichtlich, dass es den Dolmetscher: innen an fachlichem Wissen fehlt. 7 In einzelnen Fällen können Nachfragen eine Klärung von Sachverhalten herbeiführen, wie am Beispiel mit dem Terminus „ Verschleiss “ gesehen werden kann. Einzelne Termini können im Laufe der Interaktion geklärt werden, aber die Integration von neuem Wissen gelingt bei der Dynamik der Gespräche nur eingeschränkt. Vor allem das Fallbeispiel 4/ Teil I illustriert, wie schwierig es für Dolmetscher: innen ist, fachliche Zusammenhänge ohne ein entsprechendes Fachwissen adäquat wiederzugeben. Wenn den Dolmetscher: innen das erforderliche Fachwissen fehlt, ist ihnen höchstens eine bottomup-Verdolmetschung möglich, d. h. sie setzen einzelne Wörter in die Zielsprache um, ohne in der Lage zu sein, aus einem (medizinischen) Verständnis heraus top-down den Zusammenhang herstellen zu können (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). Zusammengefasst zeigt sich, dass die Umsetzung von fachlichen Zusammenhängen und der entsprechenden Fachterminologie bei Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen zu den wesentlichen Anforderungen an die Dolmetscher: innen gehört. Die ungleiche Wissensverteilung verursacht kommunikative Schwierigkeiten, die von den Expert: innen in den Fallbeispielen oft nicht wahrgenommen werden können. Aufgrund der fachlichen Lücken und der damit zusammenhängenden kognitiven Probleme der Dolmetscher: innen werden die Patient: innen weniger umfassend informiert als Patient: innen, die den Expert: innen ihre Anliegen in einem monolingualen Gespräch vorbringen können. 6.4.2 Asymmetrie in der Gesprächsbeteiligung Die Asymmetrie manifestiert sich in den vorliegenden Fallbeispielen auch durch ungleiche Beteiligungsrollen. Die Expert: innen steuern die gedolmetschten Gespräche trotz Verständigungsproblemen mit kommunikativer Routine, während sich die Grenzen der Patient: innenbeteiligung in allen Fallbeispielen zeigen: • In Fallbeispiel 1 exploriert die Ärztin mit Routinefragen die Schmerzen der Patientin ohne ein schlüssiges Resultat. Schliesslich kommt sie zu einer Diagnose, die stärker von der Wiedergabe der Dolmetscherin beeinflusst ist, als dies der Ärztin bewusst wird. Immerhin zeigt sich die Patientin in den ausgewählten Gesprächsausschnitten mit der Entscheidung der Ärztin zufrieden. • In Fallbeispiel 2 bekundet die Patientin Skepsis gegenüber der medizinischen Behandlung. Die Auslassungen sowie die Relevanzrückstufung durch die Dolmetscherin, die der 7 Dass Gesprächsdolmetscher: innen über zu wenig Fachwissen verfügen, wird weltweit beklagt (vgl. u. a.Crezee, 2013). 6.4 Gedolmetschte Expert: innen-Laien-Kommunikation 285 <?page no="286"?> Arzt nicht wahrnehmen kann, sind ein Grund dafür, dass der Arzt die emotionalen Anteile nicht bearbeitet. Der Arzt bleibt trotz zunehmend intensiveren Schilderungen der Patientin und trotz der teilweisen Wiedergabe der Ängste durch die Dolmetscherin aus seinem Situationsverständnis bei seiner Überzeugungsarbeit. • In Fallbeispiel 3 äussert die Patientin während der Beschwerdeschilderung wiederholt Zweifel an der neuen Therapievariante. Auch sie kann ihr emotionales Anliegen nicht präsentieren. Wiederum trägt der Dolmetscher einen Teil der Verantwortung für das Fehlschlagen der Kommunikation, aber die Verständigung scheitert ebenso daran, dass die Beraterin wenig auf die Wiederholungen der Angstthematik achtet und das multimodale Handeln der Patientin nicht in ihr Handeln einbezieht. • In den Fallbeispielen 4/ Teil I und Teil II führt der kommunikative Aufwand des Diabetes- Patienten ebenfalls nicht zu einer zufriedenstellenden Interaktion. Die Diabetologin fokussiert deutlich auf die Dolmetscherin und versäumt es, auf die Einwürfe oder die sprachfreien Backchannel-Signale des Patienten zu achten. In Fallbeispiel 4/ Teil II hat die Diabetologin die Konsultation innerlich bereits abgeschlossen und geht nicht auf die Anliegen des Patienten ein. • Der Pflegefachfrau in Fallbeispiel 5 schliesslich entgleitet die Kontrolle über das Gespräch gänzlich. Sie lässt zu, dass die Dolmetscherin das Gespräch dominiert. Zusammengefasst kann als zentrales Studienergebnis eine deutliche Asymmetrie zuungunsten der Patient: innen in allen Fallbeispielen genannt werden. In den Fallbeispielen zeigt sich mehrfach, dass die Expert: innen patient: innenseitige Gesprächsbeiträge nicht bearbeiten oder sogar ignorieren. Den Patient: innen kommt trotz ihrem zum Teil hohen Kommunikationsaufwand im Wesentlichen eine responsive Gesprächsbeteiligung zu. Die Ursache der Ungleichheit sind zum Teil die Verdolmetschungen, die auf Kosten der Patient: innen mehr Redezeit beanspruchen, da für gedolmetschte Konsultationen kaum mehr Zeit zur Verfügung steht als für nicht-gedolmetschte. Frageaktivitäten seitens der Patient: innen werden kaum beantwortet. Die Asymmetrie in der Gesprächsbeteiligung schränkt die Gesprächsagenda der Patient: innen ein. 6.4.3 Ungleichheit der Vertrauensbedingungen In allen sechs Fallbeispielen zeigt sich, dass die Expert: innen die Dolmetscher: innen zum Nachteil der Patient: innen in den Gesprächsmittelpunkt rücken, wenn es zu Unsicherheiten in der Verständigung kommt. Nach Verdolmetschungen, die etwa bei Fragen keine zufriedenstellenden Antworten enthalten, sind bei den Expert: innen folgende Reaktionsmuster wahrnehmbar: • Die Expert: innen wiederholen ihre Fragen beziehungsweise Erklärungen ohne grosse Änderungen (vgl. die Fallbeispiele 1 und 4/ Teil I). • Sie wechseln nach Abbruch der Frage(n) abrupt zu einem neuen Thema (vgl. Fallbeispiel 1). • Sie adressieren die Dolmetscher: innen und suchen das Zwiegespräch mit ihnen, in dem sie über die Patient: innen sprechen, ohne dass dieses Zwiegespräch nachträglich gedolmetscht wird (vgl. die Fallbeispiele 4/ Teil I und 5). 286 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="287"?> • Die Expert: innen vermuten die Probleme offenbar bei den Patient: innen und vertrauen darauf, dass sich das Verständnis besser sichern lässt, wenn sie bei den Dolmetscher: innen nachfragen, als wenn sie die Patient: innen direkt adressieren (vgl. die Fallbeispiele 1, 3, 4/ Teil I sowie Teil II und 5). Dafür, dass die Expert: innen den Dolmetscher: innen mehr Vertrauen schenken als den Patient: innen, mag es verschiedene Ursachen geben: • Im allgemeinen sind den Expert: innen die Verarbeitungsprobleme der Dolmetscher: innen in konkreten Gesprächssituationen kaum bewusst (vgl. u. a. Bot, 2005b). Sie unterschätzen die Komplexität und die Fehleranfälligkeit des Dolmetschprozesses. Sie halten die Dolmetscher: innen für sachkundig und messen dem Krankheitswissen der Patient: innen zu wenig Bedeutung zu. • Die Expert: innen halten die Dolmetscher: innen für Sprachexpert: innen, denen sie eine detailgetreue Abbildung der Redebeiträge einschliesslich der medizinischen Sachverhalte ohne weiteres zutrauen. Dieses Vertrauen mag den Verzicht auf Nachfragen bei Zwiegesprächen zwischen den Dolmetscher: innen und den Patient: innen erklären. • Die Tatsache, dass man von „ professionellen “ Dolmetscher: innen spricht, wenn sie keine spitalinternen Mitarbeiter: innen sind und bei Vermittlungsstellen akkreditiert sind, mag dazu beitragen, dass die Expert: innen die erforderlichen Kompetenzen grundsätzlich eher den Dolmetscher: innen als den Patient: innen zuschreiben. • Die gemeinsame Sprache erleichtert den Expert: innen den Zugang zu den Dolmetscher: innen. Die Patient: innen reagieren im vorliegenden Datenmaterial bei fehlender Reaktion der Expert: innen mit Beharrlichkeit. Sie kommen auf die unerledigten Themen zurück, was zur mehrfach dokumentierten „ Schleifenbildung “ in den Fallbeispielen führt. Aus eigener Initiative suchen sie vor allem mit thematischen Wiederholungen, Erklärungen und Relevanzhochstufungen oder mit Gesten zu erreichen, dass ihr Anliegen doch noch thematisiert wird. Insbesondere bei emotionalen Redebeiträgen adressieren die Patient: innen die Dolmetscher: innen (vgl. die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil I). Sie haben möglicherweise den Eindruck, von ihren Landsleuten mehr Beachtung zu erhalten als von den Expert: innen. Manchmal wenden sie sich mit nicht-personalisierten Einwürfen, Backchannel- Signalen und Berichtigungen gleichzeitig an die Dolmetscher: innen und an die Expert: innen. Sie adressieren die Expert: innen nie explizit auf Deutsch, selbst wenn sie gewisse Deutschkenntnisse haben. Lediglich vereinzelt machen sie mit Einwürfen auf sich aufmerksam, die Zustimmung oder Widerspruch markieren So wendet sich der Patient in Fallbeispiel 4/ Teil I mehrfach sowohl an die Dolmetscherin als auch an die Expertin. Er gibt mit seinen zum Teil sogar auf Deutsch formulierten kurzen Einwürfen zu verstehen, dass er die Verarbeitungsprobleme der Dolmetscherin erkennt, ohne jedoch das Rederecht zu beanspruchen. Eine Bitte der Expert: innen an die Patient: innen, ihren Stand des Verstehens zu spiegeln, kommt in den sechs Fallbeispielen nie vor, höchstens eine Frage nach dem grundsätzlichen Verstehen, die an die Dolmetscher: innen (vgl. die Fallbeispiel 5) und an die Patient: innen gerichtet wird (vgl. Fallbeispiel 4/ Teil I). 6.4 Gedolmetschte Expert: innen-Laien-Kommunikation 287 <?page no="288"?> Das ungleich verteilte Vertrauen der Expert: innen hat Konsequenzen: • Die sozialen Beziehungen zwischen den Patient: innen und den Expert: innen, ihren eigentlichen Gesprächspartner: innen, wird eingeschränkt. Die Reaktionen der Patient: innen weisen in erster Linie in den Fallbeispielen 2, 3, und 4/ Teil I sowie Teil II deutlich darauf hin, dass keine vertrauensvolle Beziehung etabliert werden kann. Die Patientin in Fallbeispiel 2 konsultiert nach ihren eigenen Aussagen einen zusätzlichen Arzt (doctor shopping). • Ein Vertrauensverlust kann über die Kommunikationsprobleme hinaus die Weiterführung der medizinischen Behandlung gefährden. Die Diabetes-Patientin in Fallbeispiel 3 blockiert die Terminfindung und vernachlässigt zu ihrem eigenen Nachteil die Kontrolle der Therapiemassnahmen. In Fallbeispiel 4/ Teil I bleibt das Gespräch an Verständnisproblemen hängen, da die Dolmetscherin die Anweisungen derÄrztin nicht versteht. Der Patient kann sein Anliegen erst am Ende des Gesprächs einbringen (Fallbeispiel 4/ Teil II). An dieser Stelle verbalisiert er seine Zweifel am Verständnis der Ärztin für seine Ängste. Am Ende der Konsultation entsteht der Eindruck, dass er aufgrund der inadäquaten Verdolmetschung dringend notwendige Behandlungen verpasst. Der Patient in Fallbeispiel 5 macht deutlich, dass er den Arzt der Pflegefachfrau vorziehen würde, indem er sich von der Pflegefachfrau meist abwendet und den Blick auf die Dolmetscherin gerichtet hält. Einen zufriedenen Eindruck hinterlässt in den sechs Fallbeispielen einzig die Patientin in Fallbeispiel 1. Aufgrund der stärkeren Hinwendung der Expert: innen zu den Dolmetscher: innen entsteht eine singuläre Position der Dolmetscher: innen mit einem gewissen Machtpotenzial. Dies kann folgende Auswirkungen haben: • Die Dolmetscher: innen weisen die Patient: innen gelegentlich an, den Expert: innen diesen oder jenen Sachverhalt zu berichten oder eben nicht zu berichten (vgl. vor allem die Fallbeispiele 1 und 3). • Sie weichen teilweise deutlich von den ausgangssprachlichen Redebeiträgen ab. Gemeint sind hier inhaltliche Eingriffe der Dolmetscher: innen im Sinne des recipient design (vgl. vor allem die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil II). • Sie entscheiden von sich aus, wessen Argumentation sie stützen. Sie schliessen sich in diesem Datenmaterial mit Worten oder mit Nicken verschiedentlich den Ansichten der Expert: innen an (vgl. vor allem die Fallbeispiele 3 und 4/ Teil II). Wie weit dieses Verhalten wiederum zur Stärkung des Vertrauens der Expert: innen zu den Dolmetscher: innen beiträgt, ist den Daten nicht zu entnehmen. Zusammengefasst muss festgestellt werden, dass die Ungleichheit der Vertrauensbedingungen die Gestaltung der Beziehung zwischen den Expert: innen und den Patient: innen prägt. 288 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="289"?> 6.5 Disziplinübergreifende Phänomene In der vorliegenden Untersuchung wurden hauptsächlich empirische Daten aus der Dolmetschwissenschaft und der linguistischen Gesprächsanalyse verwendet. Ausserdem wurden Forschungsergebnisse aus der medizinischen Gesprächsforschung sowie aus dem Gebärdensprachdolmetschen herangezogen. Die verschiedenen Fachrichtungen wurden bisher weitgehend unverbunden behandelt. Bei aller Heterogenität der Phänomene und Probleme in den sechs Fallbeispielen können mehrfach gesprächs- und disziplinübergreifende Ergebnisse identifiziert werden. Für die Generalisierung von Analyseergebnissen der vorliegenden Untersuchung werden im Folgenden verschiedene Resultate aus mehreren Fachbereichen herangezogen. Zu diesen Fachbereichen gehören das Konferenzdolmetschen sowie das Gebärdensprachdolmetschen, die linguistische Gesprächsanalyse und die darauf fussende Multimodalität sowie die medizinische Gesprächsforschung mit verschiedenen Herangehensweisen. In die Analysen werden Studien mit dolmetschwissenschaftlichen Methoden und Modellen sowie Studien mit methodischen Ansätzen in der Tradition der Interaktionsforschung einbezogen. Für den folgenden Überblick werden Ergebnisse von Studien eingebracht, in denen neben gedolmetschten auch nicht-gedolmetschte Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche und/ oder andere Alltagsgespräche untersucht wurden. Gemeinsamkeiten im Bereich Dolmetschen Publikationen zum Dolmetschen behandeln in der Regel Aspekte des Konferenzdolmetschens, des Gesprächsdolmetschens oder des Gebärdensprachdolmetschens getrennt. Wie sich im Analyseteil verschiedentlich zeigt, gibt es einige übereinstimmende Merkmale. Beispiele für signifikante disziplinübergreifende Übereinstimmungen von Phänomenen der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche mit verschiedenen Aspekten der dolmetschwissenschaftlichen Forschung: • Für alle drei in diesem Überblick genannten Bereiche des Dolmetschens müssen Dolmetscher: innen über spezifische Wissensvoraussetzungen verfügen, wenn sie in Fachbereichen wie der Medizin dolmetschen (Crezee, 2013). • Die Verarbeitungsprozesse und die Bedeutung der Gedächtnisfunktion haben für die Konferenzdolmetscher: innen (Albl-Mikasa, 2007), für Gesprächsdolmetscher: innen (Tiselius, 2022) sowie für Gebärdensprachdolmetscher: innen Gültigkeit (Napier, 2002). • In allen Dolmetscharten entzieht sich den Auftraggeber: innen die Qualität der Verdolmetschung im laufenden Gespräch weitgehend der Beurteilung, so dass verschiedene Evaluationsmethoden angewendet werden müssen (Bühler, 1986; Pöchhacker, 2016, p. 173). • Für die Beurteilung der Qualität werden die Hauptkriterien der Auslassungen und Hinzufügungen angewendet (vgl. Kap. 3.3). Der Fokus auf Auslassungen verbindet das Gesprächsdolmetschen mit dem Konferenzdolmetschen (Kalina, 2011) sowie mit dem Gebärdensprachdolmetschen (Napier, 2002). • Im Bereich des Gebärdensprachdolmetschens ist die Dolmetschwissenschaftlerin Napier (2002) in ihrer Studie zu Auslassungen zum Resultat gekommen, dass Dolmetscher: innen bestimmte Sachverhalte aufgrund von Verstehensproblemen in der Ausgangssprache 6.5 Disziplinübergreifende Phänomene 289 <?page no="290"?> oder von Wortfindungsproblemen in der Zielsprache mit Absicht auslassen (vgl. Kap. 3.3) - ein Befund, der den Resultaten dieser Studie entspricht. • Bei Verstehensund/ oder Wiedergabeproblemen halten sich Dolmetscher: innen mit einer bottom-up-Verarbeitung von Redebeiträgen eng an die Formulierung des Ausgangstextes. In Forschungsarbeiten belegt ist die bottom-up-Verarbeitung bei Konferenzdolmetscher: innen (Kalina, 2007; Kurz & Gross-Dinter, 2007). In den Fallbeispielen handelt es sich um Gesprächssituationen, in denen das notwendige Fachwissen für den Verstehensprozess für den Umsetzungsprozess nicht abgerufen und für eine top-down- Verarbeitung herangezogen werden kann (vgl. Van Dijk & Kintsch, 1983). • Im gedolmetschten Gespräch hat die Butterworth-Geste eine besondere Bedeutung. Sie stellt eine greifende Handbewegung dar, die dann vorkommt, wenn die Dolmetscher: innen nach einem Wort suchen. Diese Beobachtung zum Gebrauch der Butterworth- Gesten sind auch in einer Studie zum Simultandolmetschen beschrieben worden (Adam & Castro, 2013). Konferenzdolmetscher: innen sowie Gebärdensprachdolmetscher: innen werden in der Schweiz an Hochschulen ausgebildet, die Aus- und Weiterbildung für Gesprächsdolmetscher: innen wird von Berufsverbänden und einzelnen Institutionen übernommen (Haug & Hofer, 2021). Die Ergebnisse dieser Untersuchung belegen nun mit grosser Deutlichkeit, dass der Ausbildungsstand der in den Fallbeispielen eingesetzten Gesprächsdolmetscher: innen mit Erstsprachen wie Albanisch oder Türkisch, für die es an Schweizer Hochschulen keine dolmetschspezifische Ausbildung gibt, nicht ausreicht. Die Ausbildungsmöglichkeiten für Gesprächsdolmetscher: innen müssten deutlich erweitert und etwa den Hochschul-Lehrgängen für Gebärdensprachdolmetscher: innen angepasst werden. Gemeinsamkeiten aus dem Bereich der linguistischen Gesprächsanalyse Mit dem Einbezug des Visuellen rücken die körperlichen Ressourcen bei der Analyse von Gesprächen in den Vordergrund. Im theoretischen Teil der vorliegenden Untersuchung ist auf den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Modalitäten in der Linguistik (vgl. u. a. Mondada & Schmitt, 2010a; Norris, 2004) sowie in der Dolmetschwissenschaft (Dabi ć 2021; Krystallidou, 2014) hingewiesen worden. Die Multimodalität öffnet den Blick auf die einzelnen Ressourcen sowie auf die Koordination der verschiedenen Ausdrucksebenen mit dem Sprechen; im Vordergrund stehen die Augenkommunikation sowie die Gestik. Systematische Beobachtungen lassen spezifische Muster in der Koordination der verschiedenen Ressourcen, insbesondere bei den Gesten sowie in den Blickkontakten erkennen. Beispiele für signifikante disziplinübergreifende Übereinstimmungen von Phänomenen der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche mit verschiedenen Aspekten der linguistischen Gesprächsforschung sind u. a. die folgenden: • In einer wachsenden Anzahl von linguistischen Studien werden gestische Praktiken im Zusammenspiel mit anderen Modalitäten anhand von empirischen Daten untersucht. Die Beteiligten richten ihren Blick zum Beispiel auf eine Tabelle und mit Zeigegesten stimmen sie ihre Verstehensprozesse aufeinander ab (vgl. Deppermann & Schmitt, 2007; Stukenbrock, 2018a) 290 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="291"?> • Die Patient: innen zeigen bei der Lokalisierung von Schmerzen auf die entsprechenden Körperstellen. Dabei folgen sie den Zeigegesten mit ihrem Blick oder ergänzen die Gesten mit einem lokaldeiktischen Ausdruck wie zum Beispiel „ hier “ . Die Ergebnisse von Stukenbrock in monolingualen Gesprächssituationen bestätigen sich im gedolmetschten Gespräch (Stukenbrock, 2008). • Ein rekurrentes Blickverhalten zeigt sich bei den Expert: innen. Übereinstimmend richten die Expert: innen ihren Blick während der Verdolmetschungen immer wieder auf die Patient: innen. Ähnliche Ergebnisse stammen aus linguistischen Untersuchungen von gedolmetschten psychiatrischen Therapiesitzungen (Vranjes et al., 2018a). 8 • Ebenfalls bestätigt haben sich in den hier diskutierten Fallbeispielen übereinstimmende Befunde zum Blickverhalten in nicht-gedolmetschten monolingualen Gesprächen. Blickzu- und Blickabwendungen folgen in bestimmten Situationen einem Muster. Insbesondere sind Blickabwendungen beim Beginn von lautlichen Häsitationen oder am Anfang von Redeeinheiten als Regelmässigkeiten zu erkennen, wie Weiß/ Auer (2016) beobachten. • Die Anliegensexploration in interaktiven Schleifen, die in der hier vorliegenden Untersuchung der Verständnissicherung dienen, wird auch für monolinguale Gespräche beschrieben (Groß, 2018; Spranz-Fogasy, 2010). Die Ergebnisse zeigen, wie bedeutsam Videoaufzeichnungen als Datengrundlage für die Erfassung von visuellen Handlungen sind. Die Beobachtung insbesondere der Körperbewegungen, der Augenkontakte, der Gestik sowie der Backchannel-Signale erweitern das Verständnis für die Dynamik des Gesprächs, für die Beteiligungsformen und die sozialen Beziehungen. Gemeinsamkeiten aus dem Bereich der medizinischen Gesprächsforschung Die Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche werden sowohl im Rahmen der linguistischen Gesprächsanalyse als auch der Medizin untersucht. Beispiele für signifikante disziplinübergreifende Übereinstimmungen von Phänomenen der gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräche mit verschiedenen Aspekten der medizinischen Gesprächsforschung sowie der linguistischen Gesprächsforschung sind u. a. die folgenden: • Die inhaltlichen Eingriffe der Dolmetscher: innen verändern die ausgangssprachlichen Redebeiträge häufig, zum Teil in hohem Mass und mit gravierenden Folgen. Dies zeigen etwa Studien von den Mediziner: innen Butow (2013) oder Flores (Flores et al., 2003). • Auslassungen von emotionalen Anteilen, die in linguistischen Studien anhand von Daten transparent gemacht werden, sind Thema in der medizinischen Gesprächsforschung (Pollak et al., 2007) sowie in der vorliegenden Studie. • Verständigungsprobleme sind verhältnismässig häufige Themen in dolmetschwissenschaftlichen Studien (u. a. Amato, 2007; Davitti & Pasquandrea, 2013). In empirischen Untersuchungen aus der medizinischen Gesprächsforschung spielen inadäquate Ver- 8 Es handelt sich bei diesem Beispiel nicht um ein durchgehendes Muster. Bei Patient: innen und Dolmetscher: innen finden sich sowohl in den Daten dieser Untersuchung als auch in Daten anderer Autor: innen unterschiedliche Blickmuster (vgl. Bot, 2005b; Vranjes et al., 2018a). 6.5 Disziplinübergreifende Phänomene 291 <?page no="292"?> dolmetschungen ebenfalls eine zentrale Rolle (vgl. u. a. Aranguri et al., 2006; Butow et al., 2011b; Fatahi et al., 2010). Expert: innen sind für die Diagnose auf möglichst ausgangstextnahe Verdolmetschungen angewiesen. • Die Beziehung zwischen Expert: innen und Patient: innen kann durch die Anwesenheit von Dolmetscher: innen beeinträchtigt werden. Aranguri et. al (2006) betonen die Unsicherheit über den Grad der Beteiligung der Dolmetscher: innen an den Inhalten sowie über die Auswirkungen von Ausslassungen auf die Diagnose. Davitti und Pasquandrea (2013) demonstrieren anhand von empirischen Daten aus dem Gesundheitswesen, dass sich die Expert: innen bei Verständigungsschwierigkeiten an die Dolmetscher: innen wenden, denen sie mehr Vertrauen entgegenbringen als den Patient: innen. • Die Prägung durch die Kultur ist im Gesprächsdolmetschen sowie in linguistischen und medizinischen Studien ein umstrittenes Thema. In den vorliegenden Daten zeigt sich, dass der kulturelle Aspekt im Gegensatz zu anderen Problemen, zum Beispiel den Anforderungen der Fachlichkeit, eine geringere Bedeutung hat, als aufgrund von Selbstäusserungen in Befragungen oder aufgrund von theoretischen Konzepten häufig angenommen wird. Der Stellenwert der Kultur wird in der Linguistik (Hausendorf, 2007a; Menz, 2013c) sowie in medizinischen Studien (Fernandez et al., 2004) hinterfragt. • Ebenfalls im Fokus von verschiedenen Studien sind die heterogenen Rollenprofile der Dolmetscher: innen, etwa in Gesprächen mit Expert: innen und Dolmetscher: innen über die gesundheitliche Ungleichheit von Migrant: innen (Origlia Ikhilor et al., 2017) oder in psychotherapeutischen Settings (Morina et al., 2010) • Aus der Perspektive des Gesprächsdolmetschens (Felberg & Skaaden, 2012) sowie aus der Perspektive der medizinischen Gesprächsforschung zeigt sich, dass die Unsicherheit hinsichtlich der Aufgaben von Dolmetscher: innen die Kommunikation weit mehr belastet als die kulturellen Unterschiede (Mc Dowell 2012). Insgesamt werden die Beobachtungen dieser Untersuchung gestützt durch Forschungsergebnisse anderer Autor: innen, die Ärzt: innen-Patient-innen-Gespräche zu ihrem Thema machen. Bemerkenswert ist, dass die gemeinsamen Phänomene aus Studien stammen, in denen unterschiedliche Methoden verwendet und unterschiedliche Ziele verfolgt wurden. Die hier zitierten Studien unterscheiden sich auch in Bezug auf die Rahmenbedingungen, die Schwerpunkte sowie auf den Umfang der Datenmengen. Eine objektive Vergleichbarkeit der gemeinsam durch die Beteiligten hergestellte Interaktion egibt sich durch diese Übereinstimmungen nicht. Sie mögen aber als Leitlinien bei der Entwicklung für eine den Bedürfnissen der Praxis angepasste Ausbildung von Gesprächsdolmetscher: innen und Expert: innen dienen. 6.6 Gedanken zur Aus- und Weiterbildung von Dolmetscher: innen und Expert: innen Die hier diskutierten 26 Gesprächsausschnitte sind Auszüge aus Routinegesprächen im Schweizer Spitalalltag. Man muss also davon ausgehen, dass ein unbemerktes Fehlschlagen der Kommunikation in gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen ein gängiges Ereignis ist. Die Expert: innen, denen die Transkripte normalerweise nicht zur Verfügung 292 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="293"?> stehen, können die (In-)Adäquatheit kaum einschätzen. Aufgrund der Ergebnisse ist ersichtlich, dass die gedolmetschte Kommunikation in vielerlei Hinsicht fehleranfällig ist. In früheren Untersuchungen von gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen lag der Fokus mehrfach auf den von ad hoc-Dolmetscher: innen erbrachten Leistungen (vgl. Menz, 2013c; Meyer, 2004; Pöchhacker, 2007). Die vorliegende Untersuchung hat in der Zusammenarbeit von Expert: innen mit professionellen Dolmetscher: innen identische Phänomene und Probleme aufgezeigt, wie sie bei Gesprächen mit ad hoc-Dolmetscher: innen geschildert werden. Die Resultate ergeben insgesamt ein weitgehendes Eingreifen in die ausgangssprachlichen Redebeiträge durch die Dolmetscher: innen, das die Ergebnisse früherer Studien bestätigt (vgl. u. a. Bot, 2005b; Pöchhacker, 2007). 9 Die Einteilung zwischen ad hoc-Dolmetscher: innen und professionellen scheint kein entscheidendes Kriterium zu sein (vgl. Kap. 3.2.4). Sie wurde bereits früher nicht nur von Dolmetschwissenschaftler: innen, sondern auch von Mediziner: innen kritisch beurteilt (vgl. Butow et al., 2011b; Flores et al., 2003). Bei all den Problemen, die in der Verantwortung der Dolmetscher: innen liegen und die Verständigung zwischen den primären Gesprächsparteien erschweren, mag man sich fragen, ob es nicht besser wäre, wenn die Expert: innen sich ohne Dolmetscher: innen behelfen würden. Diese Fragen stellen sich u. a. verschiedene Fachpersonen aus dem medizinischen Bereich, die am Projekt „ Barrierefreie Kommunikation in der geburtshilflichen Versorgung allophoner Migrant: innen “ teilgenommen haben: „ Die Fachpersonen schienen also diese Art von Kommunikation widersprüchlich zu taxieren: Einerseits erkannten sie deren Unzulänglichkeit, andererseits erklären sie sie für angemessen. “ (Origlia Ikhilor et al., 2017, p. 69). Die gegensätzlichen Ansichten über die Dolmetschkompetenzen hängen mit den inadäquaten Leistungen der Dolmetscher: innen zusammen. Auch wenn der Fokus dieses Berichts nicht auf dem Dolmetschen liegt, sondern auf der Ungleichheit der gesundheitlichen Versorgung von Frauen, die sich nicht auf Deutsch verständigen können, bringen die befragten Dolmetscher: innen Problemquellen zum Ausdruck, wie sie in den Sequenzanalysen deutlich werden - vielleicht ist gerade dieser andere Fokus der Grund dafür, dass sie nicht darüber nachdenken, wie sie ihre Tätigkeiten als Dolmetscher: innen nach aussen darstellen sollten, sondern darüber sprechen, welches ihre Bedenken sind. So empfinden sie die (zu) hohen Anforderungen an ihr Fachwissen als belastend (Origlia Ikhilor et al., 2017, p. 50). Zudem bringen sie in ihren Voten zum Ausdruck, dass ihr Rollenverständnis von widersprüchlichen Konzepten beeinflusst ist (vgl. Kap. 3.4.3). Als „ neutrale Personen “ befürworten sie einerseits eine „ wortwörtliche Übersetzung “ , und andererseits halten sie sich gleichzeitig für berechtigt eine „ adressatengerechte[n] Umwandlung der Gesprächsinhalte “ vorzunehmen (Origlia Ikhilor et al., 2017, p. 48). Ausserdem weisen sie auf die Vermeidung von sensiblen Inhalten hin, die in den Fallbeispielen mehrfach manifest wurde: Sie [die Dolmetscher: innen] beschrieben, dass aus ihrer Perspektive manchmal erkennbar gewesen sei, dass die Erwartungen, die die Nutzer: innen an das Gespräch mit den Fachpersonen hatten, den von den Fachpersonen verfolgten Zielen entgegengesetzt gewesen seien. Die Diskrepanz sahen sie darin, dass die Frauen oft den Wunsch hatten, mehr über ihre Sorgen und Probleme sprechen zu 9 In Bots (2005b) Studie wurden „ professionelle “ Dolmetscher: innen zu den Gesprächen hinzugezogen, in Pöchhackers Untersuchung (2007) handelt es sich um ad hoc-Dolmetscher: innen. 6.6 Gedanken zur Aus- und Weiterbildung von Dolmetscher: innen und Expert: innen 293 <?page no="294"?> können, während die Fachpersonen bestrebt waren, möglichst viele Fachinformationen abzugeben und Entscheidungen treffen zu können. (Origlia Ikhilor et al., 2017, p. 48) Wenn man sich weiterhin auf Gesprächsdolmetscher: innen verlassen will, ist eine fundierte Optimierung der Ausbildung unumgänglich. Im Gesprächsverlauf entgehen den Expert: innen die Probleme häufig. Um verdeckten Verstehensproblemen auf den Grund zu gehen, ist der Einblick in den Gesprächsverlauf anhand von Transkriptionen unabdingbar. Die Offenlegung der Transkripte bietet einen empirisch gesicherten Anhaltspunkt für Bestrebungen zur Professionalisierung. Wenige Gelegenheiten für Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Gesprächsdolmetscher: innen bestehen bereits (vgl. Driesen, 2012). In solchen Veranstaltungen wird die Lehrverantwortung von Dolmetschdidaktiker: innen, Mediziner: innen (oder anderen Fachexpert: innen) und Sprachexpert: innen (zum Beispiel fürAlbanisch oder Türkisch) getragen. Falls die Sprachen durch die Dolmetschdidaktiker: innen nicht abgedeckt werden können, werden Theorie und Praxis sprachenübergreifend vermittelt, so dass Teilnehmer: innen mit den verschiedensten Erstsprachen in den zum Beispiel in der Schweiz gängigen Sprachen wie Englisch, Französisch, Italienisch oder Spanisch unterrichtet werden können. 10 In einer solchen Ausbildung werden die Komplexität der kognitiven Anforderungen an die Dolmetscher: innen, die Bedeutung des Fachwissens, der fachsprachlichen Terminologie und der systematischen Koordination der multimodalen Ressourcen, der Umgang mit emotionalen Anteilen sowie die Diskrepanz der verschiedenen Rollenerwartungen thematisiert und mit Übungsmodulen verknüpft. Für die Gesprächsdolmetscher: innen ohne spezifische Dolmetschausbildung gehören in ein solches Programm die Notizennahme sowie das ethische Bewusstsein für die Loyalität zu den primären Gesprächsparteien. In den Fallbeispielen zeigt sich deutlich, dass die Expert: innen nachweislich eine Mitverantwortung für die unbefriedigenden Gesprächsverläufe tragen. Wesentlich ist deshalb, dass sich medizinische Fachkräfte ebenfalls der Aufgabe der Aus- und Weiterbildung stellen, um mit der Funktion und den Aufgaben der Dolmetscher: innen besser vertraut zu werden. Sie benötigen Kenntnisse insbesondere über die Komplexität der Verarbeitungsprozesse beim Dolmetschen, über die Rolle und die Funktion der Dolmetscher: innen, über die ethische Dimension sowie ein Verständnis für die Anforderungen, die das Fachwissen sowie die Terminologie an die Dolmetscher: innen stellen. Eine gemeinsame Schulung weist Dolmetscher: innen und Expert: innen unter anderem auf konkrete Probleme sowie auf die Bedeutung der divergierenden Rollenauffassungen, der multimodalen Handlungen und der Beteiligungsstrukturen hin. Die Analysen haben ausserdem verdeutlicht, dass das Potenzial der körperlichen Signale sowohl von den Dolmetscher: innen als auch von den Expert: innen in ungenügendem Mass genutzt wird. Die Studie ist deshalb auch ein Appell an die Expert: innen in der Praxis sowie an die Ausbilder: innen, die Koordination der multimodalen Kommunikationsressourcen in ihre Untersuchungen miteinzubeziehen und die Sensibilität dafür zu fördern. Forderungen nach gemeinsamen Lernprogrammen bestehen seit längerem: „ Effective training for interpreters and care providers is needed to reduce social distance and to facilitate patients ’ involvement [ … ] “ (Seale et al., 2013, p. 125). 10 Diese Methode wurde vornehmlich von Seleskovitch initiiert und von Driesen (2012) unter der Bezeichnung „ Tandem-Lehrmethode “ weiterentwickelt (Driesen, 2012, p. 153). 294 6 Übersicht und Diskussion der Ergebnisse <?page no="295"?> Als Lehrmaterial sind Videoaufzeichnungen von authentischen Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen erfolgversprechend. Allerdings müssen Videoaufzeichnungen transkribiert werden, damit die verschiedenen Phänomene und Problemquellen anhand der Transkriptionen einschliesslich der Übersetzungen dokumentiert und der Analyse zugänglich gemacht werden können. Darauf aufbauende Rollenspiele dienen den Teilnehmer: innen von Aus- und Weiterbildungsseminaren als Diskussionsplattform und als Ausgangspunkt von Rollenspielen. Solche Ausbildungsprogramme sind in der Vorbereitung zeitlich aufwändig und kostspielig. Um die Verständigung mit Patient: innen mit den verschiedensten Erstsprachen im Spital zu optimieren, ist im Kanton Zürich vor wenigen Tagen ein dreijähriges Pilotprogramm bewilligt worden (NZZ vom 24.11.2022). Abschliessend kann Folgendes festgehalten werden: Es kann davon ausgegangen werden, dass die am Gespräch Beteiligten sich grundsätzlich verstehen wollen. Sowohl aufseiten der Dolmetscher: innen als auch aufseiten der Expert: innen fehlt jedoch eine Reflexion über das eigene Tun und über die Entstehung und Auswirkungen von Verstehensschwierigkeiten. Damit ist insbesondere ein Nachdenken auf der Metaebene gemeint, das über das Agieren in spezifischen Dolmetschsituationen hinausgeht. Aufgrund der Ergebnisse dieser Untersuchung müsste in die Konzeption von Kursen das Bewusstsein für die Funktion der Dolmetscher: innen, für die multimodalen Ressourcen sowie für die verschiedenen Formate der Adressierung und ihre Konsequenzen auf die Beteiligungsformen einfliessen. Die Analysen der Fallbeispiele bieten reichlich Ansatzpunkte für die zukünftige Forschung, um über Veränderungen und Verbesserungen dieser spezifischen institutionellen Kommunikationssituation nachzudenken. Möglicherweise könnten die in der Analyse identifizierten Muster dazu beitragen, den Expert: innen sowie den Institutionen und Behörden die Komplexität der gedolmetschten Kommunikation bewusst zu machen. Ein letzter Punkt betrifft den Einbezug der Patient: innen. Den Patient: innen sollte die Funktion und die Rolle der Dolmetscher: innen sowie der Stellenwert ihrer Beteiligungsrechte klar gemacht werden. Sie haben auch in einem gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gespräch das Recht, eine aktive Rolle wahrzunehmen und im Mittelpunkt des Handlungsgeschehens zu stehen. 6.6 Gedanken zur Aus- und Weiterbildung von Dolmetscher: innen und Expert: innen 295 <?page no="296"?> 7 Literaturverzeichnis Adam, C., & Castro, G. (2013). Schlaggesten beim Simultandolmetschen - Auftreten und Funktionen. Lebende Sprachen, 58(1), 71 - 82. Ahrens, B. (1998). Nonverbale Phänomene und Belastung beim Konsekutivdolmetschen. TEXTcon- TEXT, 12(3/ 4), 213 - 234. Ahrens, B. (2012). Praxis, Didaktik und Qualität - eine dolmetschwissenschaftliche Reise. In B. Ahrens, M. Albl-Mikasa, & C. Sasse (Eds.), Dolmetschqualität in Praxis, Lehre und Forschung. Tübingen Narr. Ahrens, B. (2015). Body Language. In F. Pöchhacker (Ed.), Routledge Encyclopedia of Interpreting Studies (36 - 38). London/ New York: Routledge. Ahrens, B. (2016). Konsekutivdolmetschen. In M. Kadri ć & K. 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Dieser Frage geht die vorliegende Studie nach. Die Basis für die Analysen sind 26 Ausschnitte aus authentischen gedolmetschten Ärzt: innen-Patient: innen-Gesprächen. Die theoretische Grundlage bilden die Interaktionale Linguistik, die Multimodalitätsforschung sowie die Dolmetschforschung. Die Videoaufzeichnungen beziehen die multimodalen Handlungen aller Beteiligten mit ein. Die Ergebnisse zeigen, dass zentrale Anliegen der Patient: innen von medizinischer Relevanz wie Schmerzen oder krankheitsbedingte Ängste oft ausgeblendet werden. Außerdem demonstriert die Studie erstmals in diesem umfassenden Ausmaß, wie eng die Redebeiträge sowie die Verdolmetschungen mit Blickkontakten, mit der Gestik und der Körperposition verknüpft sind. Gertrud Hofer-Falk Gedolmetschte Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräche Gedolmetschte Ärzt: innen- Patient: innen-Gespräche Gertrud Hofer-Falk Phänomene und Probleme aus gesprächsanalytischer und aus dolmetschwissenschaftlicher Perspektive